Begriff und Theorie der Moderne: Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002 9783495820421, 9783495490624

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Begriff und Theorie der Moderne: Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002
 9783495820421, 9783495490624

Table of contents :
Cover
Inhalt
Einleitung des Herausgebers
Tabula amicorum
Editorischer Bericht
Begriff und Theorie der Moderne
[Ordner SS 1998]
[Ordner SS 1998]
1. Vorlesung: Einleitung
[Ordner SS 1998]
2. Vorlesung
[Ordner SS 1998]
3. Vorlesung: »Die Jungen, die Moderne und die Antike«
[Ordner SS 2000]
19. 4. 2000 = 3. Vorl[esung]
[Ordner SS 1998]
4. Vorlesung: Einheit und Fragmentierung der Kultur
[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 5. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98]
5. Vorlesung
[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 7. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98]
6. Vorlesung
[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 8. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98]
7. Vorl[esung]
[Ordner SS 1996 – überarbeitet zur Wiederverwendung im WS 1998/99; zum großen Teil übereinstimmend mit der 9. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98]
8. Vorlesung
[Ordner SS 2000]
6. Vorlesung: Der Flaneur und die Anderen
[Ordner SS 1996]
7. Vorlesung
[Ordner SS 1996]
8. Vorlesung: Der Epochenübergang/systematisch
[Ordner SS 1998]
[Ordner SS 1996]
[Ordner Kulturelle Identität II, SS 2002]
9. Vorlesung »Postmoderne Identität«
[Ordner SS 1996]
10. Vorlesung: Das Ende der Geschichtsphilosophie
[Ordner SS 1996]
10. Vorlesung: Der Relativismus der Wertungen und die Individuen
[Ordner SS 1996]
10. Vorlesung: Der Einzelne, das Individuum und die Persönlichkeit
[Ordner Kulturelle Identität II, SS 2002]
[Ordner SS 2000]
10a. Vorlesung: Probleme einer Theorie der Gegenwart
[Ordner SS 1996]
11. Vorlesung: Handlungs- und Verantwortungs- und Informationshorizont
[Ordner SS 1996]
11. Vorlesung: Der Begriff der Gegenwart
[Ordner SS 2000]
12. Vorlesung 5. 7. 2000 Delegitimierung einer ganzen Weltordnung: Begriff der Gegenwart
[Ordner SS 2000]
13. Vorlesung 12. Juli 2000
Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff
[Ordner WS 1997/98 u. WS 1998/99]
1. Vorlesung
1. Vorlesung:
2. Vorlesung
3. Vorlesung:
4. Vorlesung
5. Vorlesung
6. Vorlesung
7. Vorlesung
8. Vorlesung
9. Vorlesung
10. Vorlesung
Anhang: Verzeichnis der Lehrveranstaltungen
SS 1996
WS 1996/97
SS 1997
WS 1997/98
SS 1998
WS 1998/99
SS 1999
WS 1999/2000
SS 2000
WS 2000/01 Forschungs-Freisemester
SS 2001
WS 2001/02
SS 2002
WS 2002/03
SS 2003
WS 2003/04
SS 2004
WS 2004/05
SS 2005 Forschungs-Freisemester
WS 2005/06
SS 2006
WS 2006/07
SS 2007
WS 2007/08
SS 2008
WS 2008/09
SS 2009
WS 2009/10 Forschungs-Freisemester
SS 2010
WS 2010/11
SS 2011
WS 2011/12
Personenregister

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Kulturphilosophische Studien

Klaus Christian Köhnke

Begriff und Theorie der Moderne Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820421

.

B

Klaus Christian Köhnke Begriff und Theorie der Moderne

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Kulturphilosophische Studien Band 6

Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock †

Beirat Gerald Hartung, Ernst Wolfgang Orth, Frithjof Rodi, Jörn Rüsen, Gunter Scholtz

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Klaus Christian Köhnke

Begriff und Theorie der Moderne Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002 Aus dem Nachlaß herausgegeben von Jörn Bohr

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Klaus Christian Köhnke Concept and theory of modernity Lectures on the Introduction to Cultural Philosophy 1996–2002 The purpose of Klaus Christian Köhnke’s edition of Lectures on Introduction to Cultural Philosophy is to make a number of previously unknown theoretical texts accessible to the continuing interest in cultural philosophy. The lecture On the concept and theory of modernity provides a conceptual-historical and systematic foundation for cultural philosophy as a medium of reflection on modernity around 1900, which still concerns us today as an epoch. The lecture on Second Nature, Objective Spirit and the Modern Concept of Culture provides the tools for the systematic further development of the classical philosophical cultural theories of Moritz Lazarus, Georg Simmel, Ernst Cassirer and others. The Author: Klaus Christian Köhnke (1953–2013) was most recently Professor of Cultural Philosophy at the University of Leipzig. Doctorate with Michael Landmann, after his death in 1984 with Karlfried Gründer on ›The Origin and Rise of New Kantianism‹. 1987–1989 he headed the Department of Cultural Studies at the Faculty of Economics of the Nordischen Universität Flensburg. From 1990–1996 he worked as a research assistant at the Institute for the History of Philosophy and the History of the Humanities at Freie Universität Berlin, where he habilitated in 1995 with a thesis on the ›young Simmel‹. He was appointed at the University of Leipzig in 1997. The Editor: Jörn Bohr (born 1977), after studying art history and cultural studies in Leipzig (with Klaus Christian Köhnke, among others) worked on the editions of Simmel and Cassirer’s estate. 2007 PhD with Köhnke. Since autumn 2014 research assistant at the Philosophical Seminar of the Bergische Universität Wuppertal; since 2015 there in a DFGfunded philosophical-historical edition project about Wilhelm Windelband.

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Klaus Christian Köhnke Begriff und Theorie der Moderne Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie 1996–2002 Die Edition der Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie von Klaus Christian Köhnke verfolgt den Zweck, dem anhaltenden Interesse für Kulturphilosophie eine Reihe bisher unbekannter Theorietexte zugänglich zu machen. Die Vorlesung zu Begriff und Theorie der Moderne liefert eine begriffsgeschichtliche und systematische Grundlegung der Kulturphilosophie als Reflexionsmedium der Moderne um 1900, die uns heute noch als Epoche betrifft. Die Vorlesung über Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff bietet das Rüstzeug zur systematischen Weiterentwicklung der klassischen philosophischen Kulturtheorien von Moritz Lazarus, Georg Simmel, Ernst Cassirer u. a. Der Autor: Klaus Christian Köhnke (1953–2013) war zuletzt Professor für Kulturphilosophie an der Universität Leipzig. Promotion bei Michael Landmann, nach dessen Tod 1984 bei Karlfried Gründer über ›Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus‹. 1987–1989 leitete er den Studienbereich Kulturwissenschaft an der Fakultät Wirtschaftswissenschaft der Nordischen Universität Flensburg. 1990–1996 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophiegeschichte und Geschichte der Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin, wo er sich 1995 mit einer Arbeit über den ›jungen Simmel‹ habilitierte. 1997 wurde er nach Leipzig berufen. Der Herausgeber: Jörn Bohr (Jg. 1977), nach Studium der Kunstgeschichte und der Kulturwissenschaften in Leipzig (u. a. bei Klaus Christian Köhnke) Mitarbeiter der Simmel-Gesamtausgabe und Cassirer-Nachlaß-Edition. 2007 bei Köhnke promoviert. Seit Herbst 2014 wiss. Mitarb. am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal; seit 2015 dortselbst in einem DFG-geförderten philosophiehistorischen Editionsprojekt über Wilhelm Windelband.

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49062-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82042-1

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Inhalt

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabula amicorum

9

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Begriff und Theorie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . .

19

Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff .

227

Anhang: Verzeichnis der Lehrveranstaltungen an der Universität Leipzig 1996–2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

7 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Einleitung des Herausgebers

Mit dem Untertitel »Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie« sind zwei Zielrichtungen dieser Edition angesprochen. Mit dem hiermit Vorgelegten kommt erstens ein eminent kulturphilosophischer Denker – philosophiehistorisch, geschichts- und sozialwissenschaftlich geschult – zu Ehren, wie zweitens die Tradition der Kulturphilosophie, an die bis heute angeknüpft wird und die allem weiteren Bemühen um kulturphilosophische Reflexion in der Kultur der Gegenwart ihre Stichworte gibt. »Kulturphilosophie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur überhaupt: nach der ›Kulturalität‹ des Menschen, wie diese in Sprache, Mythos, Religion, Ethik, Kunst und Wissenschaften, aber auch in technischer und materieller Kultur zum Ausdruck kommt«, hat Köhnke dieses Projekt einmal selbst für das kommentierte Vorlesungsverzeichnis des Instituts für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig charakterisiert. 1 »Sie berührt sich darin einerseits allenthalben mit der (mehr soziologisch inspirierten) ›Theorie der Moderne‹, geht aber auch bis in die Antike zurück. Denn der noch kaum 100 Jahre alte Begriff Kulturphilosophie meint – wie der Begriff Kultur – ebenfalls zweierlei: einerseits die ganze Tradition der Philosophie, angesehen unter dem Aspekt der Frage nach der Kultivierung des Menschen – wie andererseits die Frage nach den spezifisch modernen Bedingungen unseres Lebens überhaupt: d. h. Kulturphilosophie knüpft ebenso an Simmels ›Philosophie des Geldes‹ (1900), Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (1923–29) und Horkheimer/Adornos ›Dialektik der Aufklärung‹ (1947) an, wie sie über Nietzsche, Hegel, Humboldt, Fichte, Schiller, Herder und Kant bis auf Cicero, den Stoizismus und Platon zurückgeht. ›Kulturphilosophie‹ bezeichnet deshalb – wie der Studiengang ›Kulturwissenschaften‹ insgesamt – vor allem eine

1

Vgl. das Verzeichnis der Lehrveranstaltungen im Anhang.

9 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Einleitung des Herausgebers

Aufgabe und nicht so sehr einen abgeklärten, fertigen Wissens- oder Theoriebestand, den man aus Lehrbüchern entnehmen könnte.« 2 Klaus Christian Köhnke, geboren am 14. 6. 1953 in Flensburg, war seit 1997 Professor für Kulturphilosophie an der Universität Leipzig. 3 Er starb am 24. 5. 2013. Bereits als Schüler 4 führte er sich selbst: durch Lektüren von Kant bis Hegel, durch das 1973 im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig abgelegte Abitur am Alten Gymnasium Flensburg 5, das sich anschließende Studium in Berlin, die Promotion bei Michael Landmann, nach dessen Tod 1984 bei Karlfried Gründer. 1985 schloß er seine Promotion mit dem höchsten erreichbaren Grad ab und widmete seine Arbeitskraft fortan einer doppelten, zugleich philosophiehistorischen wie im Hinblick auf Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften systematischen Aufgabe. Als Forscher zu Georg Simmel und Ernst Cassirer sowie zu Moritz Lazarus hat er nicht zuletzt durch die Herstellung von Editionen dafür gesorgt, daß für alle nachfolgenJa, mehr noch, wie Köhnke in einer weiteren seiner Lehrveranstaltungsankündigungen konzediert, ist Kulturphilosophie »für die ›fachphilosophisch Eingeweihten‹ ein dezidiert komischer Titel. Ist denn nicht alle Philosophie ›Kulturphilosophie‹? Freilich: Wenn denn die Philosophen, zumal des 19. Jahrhunderts, sich für’s Ganze interessiert hätten – und viele nicht nur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, oder aber allerlei (meist wilhelminisch-normative) Ethik resp. sog. ›Wertphilosophie‹ getrieben hätten – dann gäbe es diese Subdisziplin der Philosophie wohl noch heute nicht. Die philosophische Aneignung der Gegenwart – i. d. S. der ›Kultur‹ – war und ist deren Anliegen, und dieses Anliegen hat seine klassischen Autoren – Lazarus, Simmel, Cassirer – und eine Vielzahl weiterer, m. E. weniger bedeutsamer. Aber hinzu gehören auch diejenigen Autoren, die sich deren Disziplin nicht unterwarfen, aber darum nicht weniger wichtig sind: Freud, Horkheimer, Plessner, usw., die letztlich allesamt den ›blinden Fleck‹ der Fachphilosophie, die Gegenwart – und in vielerlei Sinne ›soziale‹ Gegenwart – ignorierten und weiterhin ignorieren zu dürfen glauben. ›Kulturphilosophie‹ ist eben – letztlich – der noch immer (wohl) unglückliche Versuch, die Gegenwart in einem eminenten Sinne ›auf den Begriff zu bringen‹. Aber das versuchte – früher – alle nennenswerte Philosophie, nicht weniger unglücklich.« 3 Vgl. Bio-Bibliographisches Jahrbuch 1994. Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Hg. v. N. Richter unter Mitarb. v. W. Smidt. Berlin 1994, S. 37–38; dass. 1997, S. 39–41 – jeweils mit Bibliographie; http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/ kuwi/mitarbeiter/prof-dr-klaus-christian-koehnke-†/ (24. 1. 2018); https://de.wiki pedia.org/wiki/Klaus_Christian_Köhnke (24. 1. 2018); außerdem die nachgelassene Textdatei KCK Vita etc. (3. 3. 2012, 20:47). 4 Über den jungen Köhnke berichtet Frank-Peter Hansen: http://www.philosophieerforschen.de/wissenschaft/der-junge-koehnke.html (12. 1. 2018). 5 Vgl. Altes Gymnasium Flensburg 1566–1991. Festschrift. Flensburg 1991, S. 201; Altes Gymnasium Flensburg 1566–1966. Eine Festschrift. Flensburg 1966, S. 209. 2

10 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Einleitung des Herausgebers

den Wissenschaftsgenerationen der Text festgestellt ist: in einer Größenordnung von mehreren tausend Seiten, über zwei Jahrzehnten ungemessener und gemessener Forschungsarbeit, zeitweise allein, zeitweise mit Mitarbeitern, als deren letzter sich Unterzeichneter leider nennen muß. Köhnke, der an der Freien Universität Berlin und der Berliner Hochschule der Künste Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik (zeitweise auch Skandinavistik und Kunstgeschichte, ferner Geschichte und Ethnologie) studiert hat, erhielt ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Die Dissertationsschrift über ›Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus‹ erhielt nicht bloß das Prädikat summa cum laude, sondern die Dissertation führte auch zur Verleihung des Ernst-Reuter-Preises. Das Buch ist ein mehrfach übersetztes Standardwerk der Forschung geworden. 1986–1990 war Köhnke Bearbeiter etlicher philosophiehistorischer Forschungsprojekte an der Universität Bielefeld, 1987–1989 leitete er den Studienbereich Kulturwissenschaft an der Fakultät Wirtschaftswissenschaft der Nordischen Universität Flensburg. 1990–1996 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophiegeschichte und Geschichte der Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin, wo er sich 1995 mit einer Arbeit über den ›jungen Simmel‹ habilitierte. 1996–1997 vertrat er die Professur für Kulturtheorie und Kulturphilosophie an der Universität Leipzig, Institut für Kulturwissenschaften und wurde 1997 dorthin berufen. Für viele Kommilitonen war seine Funktion als Vertrauensdozent der Studienstiftung des Deutschen Volkes sehr wichtig und bedeutsam für eigene Karrierewege. Es gehört zur schmerzlichen Ironie der Lebensgeschichten, daß derjenige, dem der ungleich versiertere, erfahrungs- und kenntnisreich Überlegene das Handwerk des (philosophischen) Edierens überhaupt erst beigebracht hat, dessen nicht zur Veröffentlichung vorgesehene und insoweit unautorisierten Vorlesungsmanuskripte editorisch traktiert. Diese Schieflage läßt sich wohl nur damit entschuldigen oder einigermaßen geraderücken, daß Köhnke seine Vorlesungen für die Öffentlichkeit seiner Lehrveranstaltungen verfaßte und deshalb sein Herausgeber meint, daß die Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie keine für einen exklusiven Kreis reservierten Reflexionen sind, v. a. aber nicht bleiben dürfen, sondern weiterhin an die – akademische wie außerakademische – Öffentlichkeit gerichtet sind und darein gehören. Was hier im Manuskript vor11 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Einleitung des Herausgebers

liegt, ist zugleich das, was Generationen Leipziger Studenten angezogen hat und anziehen mußte: denn es war im eminenten Sinne für sie alle gedacht. Es ging in den Vorlesungen Köhnkes nicht um Köhnke, nicht um seine Ansichten, ›seine Kulturphilosophie‹ oder dergleichen, sondern um die Unterrichtung, die Einführung der Wissenslustigen in ein Gebiet des Denkens, dessen Grenzen immer noch unbestimmt sind. Gerade deswegen aber steckt umgekehrt so viel Persönliches in diesen Vorlesungsmanuskripten, die an jeder Stelle den für Sache und Hörer engagierten Universitätslehrer zeigen. Der Grad der Ausarbeitung der Manuskripte – der einerseits eine Edition erst möglich und vertretbar macht – ist andererseits Ausweis dafür, wie gründlich sich Köhnke auf seine Aufgabe und sein Thema einließ und vorbereitet hat. In der Vorlesungsstunde selber pflegte er hin und her zu wandern und seine Gedanken und Erläuterungen in der Bewegung zu entwickeln, darin seinem Gewährsmann Simmel nicht unähnlich. Die tiefe, klangvolle, Witz und Spott mit charakteristischem und bezeichnendem Räuspern gekonnt transportierende Stimme kann nicht wiedergegeben werden 6 – da Köhnke aber sprechförmig schrieb, ist sein Duktus den hier vorgelegten Blättern immerhin zu entnehmen und auch für diejenigen in gewissen Grenzen nachvollziehbar, die nicht in Köhnkes Auditorium saßen. Köhnke besaß im herausragenden Maße die Gabe der lehrhaften Rede – er breitete redend neue Zusammenhänge aus, er dachte im Austausch mit seinen Hörern und er ließ sie am Prozeß seines Denkens teilhaben. Es war ein durch und durch kraftvolles Erlebnis, bei dem jeder merkte, ja, Denken ist anstrengend – also eine höchst respektable Tätigkeit. Seine Wirkung lag in seiner Lehre – im umfassenden Sinne. Dabei war Köhnke kein Didaktiker, v. a. kein ›Hochschuldidaktiker‹ (bei Köhnke stets in der pejorativen Bedeutung des Wortes, als jemand, der seine Hörer oberlehrerhaft von eigenem Denken abhält): besonders in den Seminaren waren die Voraussetzungen allemal so hoch, daß eine Teilnahme sich erst recht lohnte. Es ging Köhnke nicht darum, Wissen zu vermitteln, sondern Wissen zu schaffen – und das ist eben tatsächlich ›schwer‹, wie er schlicht sagte. Vor allem ist es

Es gibt einen Tonträger, auf dem Köhnke einen eigenen Text »Landschaftserleben eines beifahrenden Ehemannes« vorliest: Lebensaspekte der Moderne. Hörbuch, hg. v. Cultiv (Gesellschaft für Internationale Kulturprojekte). Idee und Projektleitung: Stefan Höhne. Musik: Thomas Deittert u. Andreas Möllenkamp. Sprecherin: Lydia Hibbeln. Dresden: Voland und Quist 2005. Spielzeit 72 min.

6

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Einleitung des Herausgebers

schwer, zu verstehen – aber gerade darum lohnt ja die Anstrengung, von ›Inseln des Verstehens‹ (Köhnke) aus weiter zu lernen – als ein unabschließbares Projekt. Es ging um nichts anderes als »geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung«. Er selbst hat sein Programm für die Forschungsberichte des Instituts für Kulturwissenschaften mit den folgenden Worten umrissen: »Mein Anliegen ist die historische und systematische Profilierung der ›Kulturphilosophie‹ in Form einer: a. Rekonstruktion der weithin vergessenen Tradition der klassischen Kulturphilosophie u. a. durch Editionen von Schriften von Moritz Lazarus, Georg Simmel und Ernst Cassirer (7 DFG-Projekte seit 1996). b. Erarbeitung einer Theorie symbolischer Prägnanz (in Anknüpfung an Cassirer), die durch Analyse der Medialität der symbolischen Formen (Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Technik, Recht) die kulturelle Vermitteltheit von Wahrnehmung aufklären will (Kulturalismus). Dazu gehört auch die Theorie der (Alltags-)Wahrnehmung von im Alltag begegnenden bzw. benutzten ›Bildern‹ unterschiedlichster Art.« 7 Das im Anhang beigegebene Verzeichnis der Lehrveranstaltungen gibt mit der Wiedergabe der Ankündigungstexte Köhnkes einen Überblick über das Themenspektrum und die Anliegen seiner Leipziger Lehrveranstaltungen, die alle in dem einen Imperativ gipfeln, die akademische Jugend immer wieder aufs Neue aufzuklären. Aufklären zunächst über ihr eigenes Potential, und dann aufklären über die ›Kategorie des möglichen Wissens‹ (Köhnke). Damit hat er nicht bloß die Wissenschaft befördert, sondern v. a. seine Studenten dazu gebracht. Ein letztes Wort noch zur Dignität von Nachlaßtexten gegenüber dem veröffentlichten Werk. Der Verfasser dieser Vorlesungen hat sie selbst nicht zum Druck gegeben und hätte einer Veröffentlichung in ihrer vorliegenden Form wohl kaum ohne gründliche Überarbeitung zugestimmt. Aber da Köhnke selbst aberhunderte Blätter aus Nachlässen entweder selbst zum Druck gebracht oder ihre Veröffentlichung verantwortet hat, ist es – durchaus als Denkmal – vielleicht doch angemessen, eine Edition aus seinem eigenen Nachlaß zu wagen. Ich danke Wera Köhnke für die Erlaubnis, aus den nachgelassenen Manuskripten ihres Mannes zu publizieren. Gewidmet ist die vorgelegte Edition den Leipziger Kommilitonen – sowie allen Mitstreiterinnen, Weggefährten und Hinterbliebenen, ohne deren groß7

Vgl. die nachgelassene Textdatei: Köhnke Forschung (30. 6. 2009, 00:36).

13 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Einleitung des Herausgebers

herziges Engagement dieser Band nicht hätte erscheinen können. Die Namen einiger von ihnen finden sich auf der hier folgenden Tafel der freundschaftlichen Erinnerung. Denjenigen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht aufgeführt sind, gebührt derselbe tiefe Dank, den ich mit dem vorliegenden Band abstatte. Leipzig, im Frühjahr 2019

Jörn Bohr

Tabula amicorum

Elvira Barnikol-Veit; Johannes Duschka; Regine Ehleiter; G. Faehndrich; Dr. Jutta Faehndrich; Dr. Anne Friedrichs; Thielko Grieß; Dr. Rainer Hufnagel; Martin Peters; Axel Philipps; Dr. Sabine Sander; Melanie Sachs; Dr. Michael Schramm; Philipp Seitz; Burkhard Schwenker; Dr. Dorothea Trebesius; Götz Wiedenroth – und viele andere. 8

8

Das Crowdfunding ermöglichte die Plattform Betterplace – vielen Dank!

14 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Editorischer Bericht

Die nachgelassenen Unterlagen Köhnkes zu Lehrveranstaltungen wurden vom Herausgeber im September 2013 im Zuge der Auflösung des Dienstbüros im Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig gesichert und am 27. 5. 2014 an die Universitätsbibliothek Leipzig zur Anreicherung des dort verwahrten Nachlasses von Klaus Christian Köhnke (NL 330) übergeben. Es handelt sich bei den edierten Texten hauptsächlich um Ausdrucke ansonsten nicht, etwa in elektronischer Form überlieferter Microsoft-Word-Dateien, die vielfach handschriftliche Ergänzung erfahren haben. Diese handschriftlichen Ergänzungen sind durchweg eigenhändige. Der Wechsel von Typoskript zu handschriftlichen Passagen ist in editorisch-philologischen Anmerkungen nachgewiesen. Signifikante Streichungen von Textstellen werden in den Anmerkungen mitgeteilt. Hervorhebungen werden nach dem Befund der Vorlagen gesetzt. Dabei werden Unterstreichungen, Fettdruck und Kursivierungen, da ein System nicht sichtbar ist, zu Kursivierungen normalisiert. Vereinzelte vertippte Stellen wurden, wo sie eindeutig sind (z. B., obwohl dies kein eigentlicher Vertipper ist, außerhalb von Zitaten regelmäßig »Gesammtheit«), stillschweigend korrigiert. Bei größeren Eingriffen des Herausgebers folgt eine Anmerkung, die den Textbefund mitteilt. Es geht prinzipiell darum, den überlieferten letzten Stand der jeweiligen Ausarbeitungen abzubilden. Dazu war eine Rekompilation der in mehreren Ordnern verstreuten, aber zusammengehörigen und vollständigen Vorlesungstexte erforderlich, außerdem die gelegentliche Zurücknahme umfangreicher Streichungen. Auch diese Eingriffe des Herausgebers in den Text sind stets gekennzeichnet. Varianten und neue Texte, oft lediglich als handschriftliche Konzepte, Stoffsammlungen und stark interpretationsbedürftige Gedankenstützen, die in späteren Wiederholungen dazu traten, sind in die Anmerkungen ausgegliedert. Ziel der Edition ist, eine Leseversion herzustellen, die der Aus15 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Editorischer Bericht

sageabsicht und Folgerichtigkeit der beiden präsentierten Vorlesungen Köhnkes am nächsten kommt. Die Rekompilation oder Rekonstruktion stützt sich dabei auf die Manuskripte selbst, erhebt aber nicht den Anspruch, einen Urtext oder eine Urfassung zu bieten. Das würde auch dem zu Grunde liegenden eigenhändig überarbeiteten Material nicht gerecht werden. In einem speziellen Sinne stellt das editorische Artefakt der beiden Vorlesungen zur Einführung in die Kulturphilosophie, wie es nunmehr der Öffentlichkeit vorliegt, so etwas Ähnliches wie eine Fassung letzter Hand dar. Dabei bleiben Redundanzen, Lücken und Sprünge, wie sie in der Natur der Sache liegen (dem wöchentlichen Vortrag und der Wiederaufnahme des Fadens nach Semesterpausen) bestehen. Ein im strengen Sinn fortlaufender Text war also von vornherein nicht zu erwarten. Eine durchgehende Nummerierung ließ sich ebenfalls nur bedingt herstellen. Aber es wäre schließlich kaum zweckmäßig gewesen, das Material in der Ordnung – oder besser: Umordnung und Verstreuung – zu präsentieren, in der es im Nachlaß überliefert ist. Die anhangsweise beigegebene Vorlesung über objektiven Geist, zweite Natur und den modernen Kulturbegriff stellt eine Ergänzung, zum Teil eine wörtliche Wiederholung des in der Vorlesung über Begriff und Theorie der Moderne Gesagten dar. Da sie aber eine stringente Darstellung von Köhnkes Forschungsweg und Forschungsergebnissen zur Geschichte des modernen Kulturbegriffs bietet, meinte der Herausgeber sie für diese Edition bei aller nicht zu vermeidenden Redundanz nicht weglassen zu dürfen. Das gleiche gilt für die im Anhang mitgelieferte Liste der Leipziger Lehrveranstaltungen Köhnkes, die zugleich Aufschluß darüber gibt, welche weiteren Unterlagen im Nachlaß Köhnkes überliefert sind – v. a. aber darüber, welche nicht. 9 Der Edition liegen die folgenden Nachlaßkonvolute zugrunde (Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlaß Klaus Christian Köhnke, NL 330): NL 330/3/3/1 – Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne SS 1996. 204 Bl. NL 330/3/3/2 – Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne SS 1998. 77 Bl.

Vgl. grundsätzlich die Datenbank http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/eac? eac.id=110639200 (der Nachlaß ist unter »Bestände« nachgewiesen).

9

16 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Editorischer Bericht

NL 330/3/3/3 – Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne SS 2000. 76 Bl. NL 330/3/3/4 – Vorlesung: Einführung in die Kulturphilosophie SS 2002. 40 Bl. Enthält sowohl Teile der Vorlesung Begriff und Theorie der Moderne als auch der Vorlesung Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff. NL 330/3/3/12 – Vorlesung: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1996/97. 115 u. 124 Bl. NL 330/3/3/13 – Vorlesung: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff [= Einführung in die Kulturphilosophie, vgl. Vorlesungsverzeichnis] WS 1998/99. 84 Bl. NL 330/3/3/19 – Hauptseminar: Kulturelle Identität II SS 2002. 60 Bl. Enthält Teile der Vorlesung Begriff und Theorie der Moderne. Weiterführende Literatur von Klaus Christian Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Der Kulturbegriff von Moritz Lazarus – oder: die wissenschaftliche Aneignung des Alltäglichen. In. Andreas Hoeschen/Lothar Schneider (Hg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 39–50. Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. »Kulturwissenschaften heute?« In: Orte der Kulturwissenschaft. Hg. v. Hans-Christian von Herrmann u. Matthias Middell. Leipzig: Universitätsverlag 1998, S. 99–112. Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hg., mit einer Einleitung u. Anm. versehen v. Klaus Christian Köhnke. Hamburg: Meiner 2003. Moritz Lazarus: Über Gespräche. Hg. u. mit einem Nachwort v. Klaus Christian Köhnke. Berlin: Henssel 1986. Zum Problem des Begriffs der Moderne – ein Lösungsvorschlag. In: Hans-Jürgen Lachmann u. Uta Kösser (Hg.): Kulturwissenschaftliche Studien. Heft 2. Leipzig: Passage 1997, S. 3–15.

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Editorischer Bericht

Verwendete Zeichen und Abkürzungen (soweit nicht konventionell, vgl. Duden): | bedeutet Seitenwechsel in der Vorlage [] eckige Klammern in Zitaten markieren Hinzufügungen des Verfassers; im sonstigen Text Auflösungen ungebräuchlicher Abkürzungen durch den Herausgeber Kursivsatz Herausgeberrede, im Text des Verfassers Hervorhebungen ] dient der Abgrenzung des Lemmas a. M. am Main Bl. Blatt, Blätter dass. dasselbe ders. derselbe DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft gedr. gedruckt gestr. gestrichen GSG Georg Simmel Gesamtausgabe (Frankfurt a. M.: Suhrkamp) GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten hs. handschriftlich i. d. S. in diesem Sinne i. w. S. im weiteren Sinne m. E. meines Erachtens Ms. Manuskript NS Nationalsozialismus Rd. Rand SS Sommersemester Ts. Typoskript WS Wintersemester

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 1998] Leseliste 10 zur Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne 11 Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal. Aus d[em] Französ[ischen] übertragen, hg. u. kommentiert v. Friedhelm Kemp. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. Leseliste] darüber: Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke SS 1998. In diesem und dem Konvolut für das SS 1996 Gliederungsentwürfe (am Kopf der Seite hs.: neues Inhaltsverzeichnis!): 1. Einleitung über die Probleme des Begriffs ›die Moderne‹ 2. Die Jungen, die Moderne und die Antike (Moderne Literatur, Kunst, Bildung, … Kultur) 3. Einheit und Fragmentierung der Kultur (Differenzierung in der – und – im Begriff der Kultur, Lebensstilen … modernem Leben) 4. Die Großstädte und das Geistesleben (Tuzzi … Das Moderne Leben) 5. Der Flaneur und der Fremde und die Anderen (Tuzzi; Der Jude) 6. Erlebter Epochenübergang (Philosophie/Theorie und Leben) 7. Probleme einer Theorie der Gegenwart (Philosophie des Geldes – Phänomenologie) 8. Relativismus der Wertungen (Das Problem der Geltung: Wert oder Intuition?) 9. Der Einzelne, das Individuum und die Persönlichkeit (Individuelles: Seele – Schnittpunkt (Soziologismus) – Individuelles Gesetz) 10. Das Ende der Geschichtsphilosophie (Kollektives: Untergang des Abendlandes/Risikogesellschaft) 11. Postmoderne? (Epochales: Lyotard) 12. Handlungs- und Verantwortungshorizont (Ethik und Wissenschaft) 13. Resümee über kollektive Entfremdung; 2. Bl.: Klaus Christian Köhnke Vorlesung: Begriff und die Theorie der Moderne 1. Vorlesung: Einleitung (10. 4. 96) 2–28 2. Vorlesung: Die Jungen, die Moderne und die Antike (17. 4. 96) 29– 54 3. Vorlesung: Einheit und Fragmentierung der Kultur (24. 4. 96) 55–77 4. Vorlesung: Die Großstädte und das Geistesleben (8. 5. 96) 5. Vorlesung: Der Flaneur, der Fremde und die Anderen (15. 5. 96) 6. Vorlesung: Die Moderne als Epochenbegriff (22. 5. 96) 7. Vorlesung: Probleme einer Theorie der Gegenwart (5. 6. 96) 8. Vorlesung: Der Begriff der Gegenwart [Verweis mit Pfeil auf hs.: Konstruktivimus] (26. 6. 96) 9. Vorlesung: Lyotards ›Postmoderne‹ (3. 7. 96) 10. Vorlesung: Postmoderne als Ästhetik der Moderne (10. 7. 96); SS 1998, hs. Entwurf: Klaus Christian Köhnke Vorlesung Begriff und die Theorie der Moderne 1. Einleitung/Allegorie der Moderne 2. Das jüngste Deutschland 3. Die Jungen, die Moderne und die Antike 4. Einheit und Fragmentierung der Kultur 5. Die Großstädte und das Geistesleben 6. Der Flaneur und die Anderen 7. Soziale Distanzierung 8. »Die Moderne« als Epochenbegriff; Ts.: 1. Vorlesung: Einleitung (10. 4. 96; 15. 4. 1998) 2. Vorlesung: 3. (2.) Vorlesung: Die

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Begriff und Theorie der Moderne

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986. Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft. Aus d[em] Amerikan[ischen] Frankfurt/New York: Campus 1989; zuerst 1973. Benjamin, Walter: [Das Passagen-Werk]. Gesammelte Schriften Bde. V. 1 und V. 2. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt: Suhrkamp 1982. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Hamburg: Felix Meiner 1996 (zuerst 1944). Etzioni, Amitai: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie. Aus d[em] Engl[ischen] Frankfurt/New York: Campus 1997. Frisby, David: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück: Daedalus 1989. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 5. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp 1996. Hanstein, Adalbert von: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. 3., unv[eränderter] Abdr[uck] Leipzig: R. Voigtländer 1905. Jauß, Hans Robert: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt: Suhrkamp 1970. S. 11–66. Köhnke, Klaus Christian: Zum Problem des Begriffs der Moderne – ein Lösungsvorschlag. In: Hans-Jürgen Lachmann, Uta Kösser (Hg.): Kulturwissenschaftliche Studien. Heft 2. Leipzig: Passage 1997. S. 3–15. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt: Suhrkamp 1996.

Jungen, die Moderne und die Antike (17. 4. 96) 4. Vorlesung: Einheit und Fragmentierung der Kultur (24. 4. 96) 5. Vorlesung: Die Großstädte und das Geistesleben (8. 5. 96) 6. Vorlesung: Der Flaneur, der Fremde und die Anderen (15. 5. 96) 7. Vorlesung: Die Moderne als Epochenbegriff (22. 5. 96) 8. Vorlesung: Probleme einer Theorie der Gegenwart (5. 6. 96) 9. Vorlesung: Der Begriff der Gegenwart (26. 6. 96) 10. Vorlesung: Lyotards ›Postmoderne‹ (3. 7. 96) 11. Vorlesung: Postmoderne als Ästhetik der Moderne (10. 7. 96) 11 Moderne] darunter: Übung: Texte zur Theorie der Moderne; am linken Rd. hs. Namen von Referenten einzelnen Texten zugeordnet

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Ordner SS 1998

Lübbe, Hermann: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York etc.: Springer 1994. Lübbe, Hermann: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz/Wien/Köln: Styra 1983 (= Herkunft und Zukunft 1). | Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. 1982 u. ö. Marquard, Odo: Zeitalter der Weltfremdheit? Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwart. In: Hans-Ludwig Ollig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991. Münch, Richard: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp 1995. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970 u. ö. Ollig, Hans-Ludwig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991. Piepmeier, R.: Modern, die Moderne. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 6. Darmstadt 1984. Sp. 54–62. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York: Campus 1992. Schutte, Jürgen/Peter Sprengel (Hg.): Die Berliner Moderne. 1885– 1914. Stuttgart 1987. Schwemmer, Oswald: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin: Akademie-Verlag 1997. Sennett, Richard: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt: S. Fischer 1991. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung = Jahrbuch der Gehe-Stiftung 9/1903, S. 185–206. – Jetzt in: GSG 7 S. 116– 131. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Hg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke. Frankfurt 1989 u. ö. (= Georg Simmel Gesamtausgabe 6). Thies, Christian: Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1997.

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Begriff und Theorie der Moderne

Weber, Max: Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung. Hg. v. Johannes Winkelmann. 2 Bde. 5. erneut überarb[eitete] Aufl. Gütersloh: 1979 u. ö. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart: Reclam 1985. Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt: Suhrkamp 1985 u. ö. Welsch, Wolfgang: Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst. In: Philosophisches Jahrbuch 97/1990. S. 15 ff.

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Ordner SS 1998 · 1. Vorlesung: Einleitung

[Ordner SS 1998] 1. Vorlesung: Einleitung 12 Meine sehr geehrten Damen und Herren! I. Eine Vorlesung über den ›Begriff und die Theorie der Moderne‹ – dessen bin ich mir natürlich auch bewußt – ist ein ziemlich waghalsi-

Einleitung] am Kopf der S.: 1315–1425; hierzu zwei nicht einer bestimmten Vorlesung zugeordnete Bl., paginiert als 1/2: Kulturwissenschaft – nicht der Pluralis: Kulturwissenschaften, denn das wäre der Klassifikationsbegriff, der auf derselben Ebene wie Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften eine Gruppe von Wissenschaften umschließt – Kulturwissenschaften, singularis, als eigene Wissenschaft zu qualifizieren, könnte von einem Gegenstand resp. Gegenstandsbereich her versucht werden: Kultur in ihrer ganzen Mehrdeutigkeit wäre dann dieser ›Gegenstand‹ und man verdoppelte so die diversen ›Kulturwissenschaften‹. Es sei denn, man formulierte ein eigenes Erkenntnisinteresse resp. eine eigene Perspektive, unter der ›Kultur‹ betrachtet werden soll. Kulturwissenschaft könnte aber auch durch eine eigene ganz theoretische Fragestellung kreiert werden, und zwar durch die Frage: »Wie ist X überhaupt möglich?« – mit X = Manifestationen des objektiven Geistes. Das setzt also voraus, daß man diese Mnaifestationen des obj[ektiven] Geistes näher bestimmt. Warum sollte man so fragen? Wem läge daran? Stellen wir einmal eine konkrete Frage: Wie ist Theater überhaupt möglich? d. h. welches sind die Bedingungen der Möglichkeit (die Voraussetzungen) davon, daß Theater stattfindet? Was braucht man, um Theater zu machen? Sie sehen, diese Frage hat, resp. zieht einige Konsequenzen nach sich, denn sie ist: 1. eine Frage, die bisher keiner Wissenschaft zugehört. 2. weil sie eine Frage ist, die auf vielfältigste Bedingungen abzielt: -anthropologische Voraussetzungen -soziale Voraussetzungen -historisch-literarische Voraussetzungen -theatergeschichtliche Voraussetzungen -traditionelle Voraussetzungen 3. es handelt sich also um eine Frage, die nur zu beantworten ist, wenn man sich völlig von jeglicher wissenschaftlicher Disziplinbegrenzung fernhält. 4. sie ist die Frage, die unmittelbar diejenigen angeht, die z. B. Theater machen, machen wollen oder managen wollen. Denn auch sie müssen wissen, welches sind die Voraussetzungen, die ich für die Veranstaltung ›Theater‹ schaffen muß. 5. Es ist also die Frage des Kulturwissenschaftlers, der ausgebildet wurde, um in vielfältigsten ›Kultur‹bereichen die Voraussetzungen zu schaffen, daß ›Kultur‹ gemacht wird. 6. Aber es geht nicht ohne professionelle Erforschung der Voraussetzungen und Bedingungen vielfältigster Kulturtatbestände: -soziologischer Sachverhalte -historischer (kulturhistorischer) … -psychologischer … -philosophischer … 7. Deshalb braucht man ein Studium, das | -stark exemplarisch orientiert ist, aber -im Interesse methodischer Schulung -und kulturelle Sachverhalte in Gänze zum Thema macht. ›Kulturwissenschaft‹ wäre also eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich dadurch von anderen unterscheidet, daß sie nach den Voraussetzungen von Tatbeständen oder Projektiertem fragt: nach den Bedingungen der Möglichkeit: -einerseits angesichts des Existenten: Voraussetzungen -andererseits bei Projektiertem: Ermöglichung von etwas.

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Begriff und Theorie der Moderne

ges Unterfangen. 13 Ich habe deshalb im Titel dieser Vorlesung die unscheinbare, aber alles entscheidende Eingrenzung des Themas untergebracht, und immerhin anzudeuten versucht, daß es mir in erster Linie um den ›Begriff‹ und nur in zweiter um die vielen verschiedenen ›Theorien‹ der Moderne – um den pluralis – gehen soll. Mir geht es darum, eine Verständigung darüber anzubahnen, was denn unter dem ominösen Titelwort ›die Moderne‹ überhaupt zu verstehen ist: was dieser Begriff meint, ohne daß dies uns immer sogleich in den Sinn käme. Es ist zu fragen: welche sachlich-historischen und semantischen Voraussetzungen die Rede von ›der Moderne‹ beinhaltet. Denn von ›der Moderne‹ – das wissen Sie – ist nunmehr schon seit über hundert Jahren die Rede. Und noch immer ist dieser Ausdruck aus den Tages- und Wochenzeitungen nicht wegzudenken, zumindest überall dort nicht, wo es sich um Fragen und Diskussionen über die jeweilige ›Gegenwart‹ 14 – ihre Probleme und ihre neuesten Entwicklungen – dreht. Was einige weitreichende Folgen hat, unter anderem die unangenehme, daß dieser Begriff etwas bloß Modisch-vorübergehendes, jedenfalls mehr oder minder Unscharfes und Schwammiges auszudrücken scheint, so daß folgerichtig, aufgrund eines allfälligen und inflationären Gebrauches des Wortes, zunehmend jeder bestimmte Begriffssinn verbraucht und vernutzt scheint. Um dafür nur einige Beispiele zu geben: »Modern (franz.), im gewöhnlichen Sprachgebrauch alles, was der eben herrschenden Mode gemäß ist« heißt es in Meyers Konversationslexikon von 1906, »im höheren Sinne, vornehmlich auf dem Gebiete | der Kunst und Wissenschaft, gebraucht man das Wort von dem, was im Gegensatz 15 zum antiken, zum mittelalterlichen und zum Renaissancestil den eigentümlichen Charakter der Kunstschöpfungen der neuern Zeit (vornehmlich des 19. Jahrh[underts]) ausmacht, zu dem sich die neueste Zeit, namentlich auf dem Gebiete der bildenden Künste und Literatur, wiederum in Gegensatz 16 stellt, indem ihre Vertreter die Bezeichnung m[odern] für sich in Anspruch nehmen und ihre unmittelbaren Vorgänger als unmodern erklären. Daher das (als Gegensatz

Eine … Unterfangen.] spätere Streichung dieses Satzes für die vorliegende Edition zurückgenommen 14 jeweilige ›Gegenwart‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 15 im Gegensatz] mit grünem Textmarker hervorgehoben, am Rd.: modern 16 wiederum in Gegensatz] mit grünem Textmarker hervorgehoben, am Rd.: Moderne 13

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Ordner SS 1998 · 1. Vorlesung: Einleitung

zur ›Antike‹) von den Naturalisten […] gebildete Wort: die ›Moderne‹.« Und dann erfolgt hier (wie allenthalben) ein Hinweis auf einen Buchtitel von Hermann Bahr ›Zur Kritik der Moderne‹ von 1890, wo wohl tatsächlich dieser Begriff erstmals in einem Buchtitel 17 auftauchte, aber wie inzwischen bekannt ist, nicht seine erstmalige Verwendung fand. Man kann auf diese frühe Begriffsbestimmung zurückgehen. Oder man kann zum Beispiel sagen, was das neueste Lexikon zur Soziologie – in 3. Auflage 1994 – auszudrücken versucht: »Moderne […] Terminus für die Epoche 18 im Anschluß an die oder innerhalb der Neuzeit. Soziologisch läßt sich die M[oderne] durch die funktionale Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen kennzeichnen« – was man übersetzen muß und was auf deutsch heißt: Epoche, die sich durch funktionale statt ständische Gesellschaftsgliederung auszeichnet. Aber: ›Moderne, Epoche im Anschluß an die – oder – innerhalb der Neuzeit‹? Das verrät bereits die ganze Verwirrung, in die dieser Termninus durch immer neue Versuche geraten ist, einer Epochenbildung 19 aufgrund verschiedenster Kriterien habhaft zu werden. ›Die Moderne‹ beginnt dann irgendwann zwischen Renaissance, Aufklärung und ausgehendem 19. Jahrhundert – ganz wie man will und wie es gerade in den Theorierahmen paßt, wird der Begriff gebraucht oder vielmehr mißbraucht. | Hinzu kommt: Nach hundert Jahren noch erweckt dieser Ausdruck gewisse konservative Aversionen oder aber Neugier und Erwartungen, – er ruft Assoziationen hervor, die teils einen positiven Gefühlston annehmen, wo das moderne Leben, ein bestimmter lifestyle oder das Moderne überhaupt bejaht werden – oder auch einen negativen, indem inzwischen z. B. durch den Begriff der ›Postmoderne‹ ›die Moderne‹ abgelöst und überwunden scheint, und Diskussionen um pro und contra Moderne und Postmoderne geführt werden. Und das heißt: der Begriff ist nicht nur ziemlich unterbestimmt, sondern sogar wissenschaftlich umstritten, und von sich aus bereits ein Streitbegriff. Denn er dient nicht in erster Linie der Bezeichnung von etwas gleichsam Objektivem, er ist vielmehr immer auch – oder immer noch – ein chiffrierter Ausdruck einer bestimmten Einstellung

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erstmals in einem Buchtitel] am Rd.: nein → Berliner Moderne S. 17 1888 Epoche] am Rd.: Epochenbegriff Epochenbildung] am Rd.: Frage des Epochenbeginns

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Begriff und Theorie der Moderne

zur jeweiligen ›Gegenwart‹ 20: je nachdem, wie man vor 100 Jahren zu Vergangenheit und Gegenwart stand, oder: ob man heute z. B. ›die Moderne‹ überwunden glaubt oder nicht, sowie schließlich: ob man den Begriff überhaupt für wissenschaftsfähig erachtet oder nicht, – immer kommen mit dem Begriffsgebrauch (oder Nichtgebrauch) die eigenen Anschauungen über Welt und Leben ins Spiel. Denn ›die Moderne‹ und genauso ›die Postmoderne‹ bezeichnen immer jeweils bestimmte und durchaus umstrittene Auffassungen vom Charakter der sogenannten ›Gegenwart‹, einer freilich so unglaublich vieldeutigen Gegenwart. Aber diese Mehrdeutigkeit der Begriffe von Moderne und Gegenwart läßt sich noch steigern, sogar bis zur Paradoxie: Denn das, was vor 100 Jahren – erstmals – als ›modern‹, als ein Inbegriff der modernen ›Gegenwart‹ beklagt oder gefeiert wurde, ist nunmehr vielleicht nicht weniger überholt und antiquiert, – denken Sie nur an die moderne Literatur der Jahrhundertwende, die Gerhart Hauptmann und Hermann Sudermann, um nur die Gefeiertsten zu erwähnen, die heute ebenso in die Literaturgeschichte verwiesen sind, wie ihre Vorgänger Emile Zola und Victor Hugo. Diese Moderne in der Literatur ist überwunden, aber auch die der Zwanziger Jahre, | die der Nachkriegszeit – und so fort – ja: die ›Moderne‹ ist überwunden, modern scheint jetzt ›die Postmoderne‹. Selbstverständlich handelt es sich hier nur um eine rein sprachliche Paradoxie, aber nicht unbedingt eine sachlich-historische, denn die vor hundert Jahren gefeiertsten Gegenwartsphänomene der Literatur, der Kunst oder des Lebensstiles mußten wohl irgendwann einmal zu Vergangenem werden, auch wenn diejenigen, die vor hundert Jahren ›die Moderne‹ proklamierten, ganz offensichtlich an eine solche Möglichkeit nicht gedacht haben. – Tatsächlich nicht: Diejenigen, die den Begriff der ›Moderne‹ proklamierten, haben nicht mit ihrem Überwundenwerden gerechnet – der Begriff hat das Veralten der Gegenwart, seiner Gegenwart, nicht vorhergesehen. – Was auf den Sinn der Begriffe von Modernität, Mode und ›Gegenwart‹ zurückgeht, denn mit ›Gegenwart‹ ist nicht etwa der jetzige Moment und das jeweilige Heute gemeint, sondern eine ganze Epoche, und zwar diejenige Epoche, die gerade jetzt begonnen hat. Modernität diagnostiziert nur, wer in dem Bewußtsein eines epochalen Umbruches lebt, nur der, der buchstäblich im Hier und Jetzt das Abrücken von dem 20

Einstellung … Gegenwart] mit rotem Textmarker hervorgehoben

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Vergangenen sieht und betreibt, der also die Distinktion – die Absetzung – gegenüber dem Vergangenen meint. 21 Ganz gleichgültig also, ob wir uns dafür entscheiden, entweder noch in ›der Moderne‹ zu leben oder zu stehen – oder sie durch die Postmoderne – oder was immer – überwunden glauben – es läßt sich unschwer absehen, daß der Begriff der Moderne schwerlich auf einen, und nur einen, klaren Begriff zu bringen sein wird. Aber genau darum geht es: um den sinnvollen und rationellen Kern und eine bestimmte Struktur des Begriffs und der verschiedenen Theorien der ›Moderne‹. Darum, diesen Kern und diese Grundstruktur des begrifflichen Sinnes der Rede von der Moderne herauszuschälen, soll es in dieser Vorlesung gehen. II. Damit will ich beginnen, mit Ausführungen ›Zum Problem des Begriffs der | Moderne‹, und mit einem Lösungsvorschlag, den Sie auch nachlesen können – siehe die Leseliste: Köhnke, Klaus Christian: Zum Problem des Begriffs der Moderne – ein Lösungsvorschlag. In: Hans-Jürgen Lachmann, Uta Kösser (Hg.): Kulturwissenschaftliche Studien. Heft 2. Leipzig: Passage 1997. S. 3–15. Zuerst lassen sich drei einfache Feststellungen treffen: erstens die, daß man in Wörterbüchern, Theorien und Darstellungen der Moderne Aufschluß findet über Modernität, Mode und das Moderne, aber keine Erklärung für dieses eigenwillige Femininum: ›die Moderne‹. Zweitens: Der Ausdruck ›die Moderne‹ wird, seit um die ›Postmoderne‹ gestritten wird, immer deutlicher zu einem Epochenbegriff, einer Epoche, über deren Ende man streitet. Aber auch über den Anfang dieser Epoche ist man nicht einig: völlig beliebig scheint es, daß man sie mit der Renaissance, mit der Aufklärung oder der Französischen Revolution, im Paris des 19. Jahrhunderts – oder auch erst um die Jahrhundertwende beginnen läßt. Drittens zeigt sich das Problem des Begriffs darin, daß von ›Theorie der Moderne‹ immer dann die Rede ist, wenn es darum geht, hervorstechende oder wesentliche Züge einer ›Gegenwart‹ hervorzuheben, – einer ›Gegenwart‹, deren zeitliche Bestimmungen, Anfang und Ende und deren Charakter naturgemäß immer umstritten Aber … meint.] Streichung der beiden Absätze für die vorliegende Edition zurückgenommen

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Begriff und Theorie der Moderne

ist: »Unsere Zeit hat viele Namen« – sagt beispielsweise Odo Marquard, »sie gilt als ›Industriezeitalter‹ oder ›Spätkapitalismus‹ oder ›Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation‹ oder ›Atomzeitalter‹ ; sie gilt als Zeitalter der ›Arbeitsgesellschaft‹ oder ›Freizeitgesellschaft‹ oder ›Informationsgesellschaft‹ ; sie gilt als Zeitalter der ›funktionalen Differenzierung‹ … ›Epoche der Epochisierungen‹ … oder einfach als ›Moderne‹ oder auch schon als ›Postmoderne‹ und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität: unsere Zeit | und Welt befindet sich – scheint es – auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muß.« 22 Auch das gehört zum Problem des Begriffs der Moderne: diese sogenannte ›Vielnamigkeit‹, die nur dann und nur dadurch entsteht, daß bestimmte einzelne Charakteristika der Gegenwart 23 eine Hypostasierung erfahren – und dies, insoweit sie den dogmatischen Anspruch machen, das allein Wesentliche der Gegenwart auszusprechen. Diese drei Beobachtungen verdeutlichen vielleicht, daß der Begriff ›die Moderne‹ – was seine ungeklärte Herkunft, – was seine Bedeutung als Epochenbegriff oder als Begriff einer Theorie der Gegenwart angeht – einigermaßen problematisch ist und zu allerlei Mißverständnissen Anlaß geben kann. An sich völlig zu Unrecht, denn alle diese Probleme lassen sich m. E. schließlich auf ein einziges zurückführen: darauf, daß man ihn mit verschiedensten Inhalten, Gefühlswerten und Nebensinn auflädt – statt ihm eine ausschließlich bezeichnende Funktion zuzuweisen: ›die Moderne‹ meint, resp. sollte meinen – den Inbegriff aller Phänomene unserer Lebens- oder Umwelt und der spezifisch neuen Lebensformen, die in unserer Gegenwart beobachtbar sind, – d. h. der Begriff ›die Moderne‹ bezeichnete dann eine bloße Aufgabe 24, eben diese Welt und Gegenwart theoretisch zu begreifen, vorzugsweise vergleichend herauszuarbeiten, was sie – als spezifisch ›moderne‹ – von anderen oder auch früheren Lebenswelten unterscheidet. – Aber das wäre dann bereits mein Lösungsvorschlag, und soweit sind wir noch nicht. – muß.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Odo Marquard: Zeitalter der Weltfremdheit‹? Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwart. In: Hans-Ludwig Ollig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991. S. 81. 23 einzelne … Gegenwart] mit grünem Textmarker hervorgehoben 24 Aufgabe] am Rd.: Appellfunktion 22

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Ordner SS 1998 · 1. Vorlesung: Einleitung

Einer ausschließlich bezeichnenden Funktion des Begriffs ›die Moderne‹ stehen zunächst die Entstehung und die Ursprungsbedeutung dieses Ausdrucks entgegen: Soweit ich sehe, hat dieser Begriff die ersten Jahrzehnte seines Gebrauchs in | erster Linie ein neues Ideal der Literatur und Kunst bezeichnet, wovon noch heute sein programmatischer Nebensinn und uneinheitlicher Gefühlswert zeugen: Die ›moderne Kunst‹ ist bis heute nicht unumstritten, und sie war es nicht, seit dieser Begriff überhaupt zum ersten Mal auftauchte, und zwar als Gegenbegriff zu – und grammatisch abgeformt an – der Antike: – die Antike und die Moderne stoßen im ausgehenden 19. Jahrhundert zuerst als Kunstideale und dann auch als Bildungsideale aufeinander. 25 Den wenigsten von Ihnen wird diese so allegorische wie peinliche Geschichte bekannt sein, die alle Wörterbücher verschweigen oder ganz einfach nicht kennen: Im literarischen Verein ›Durch!‹ in Berlin hält 1886 26 ein heute unbekannter Literaturwissenschaftler, Eugen Wolff, eine Rede, in der er das neue, naturalistische gegen das alte Kunstideal zu profilieren sucht, indem er als Bild drei Göttinnen bemüht: »Treten wir Dichter in einen Tempel vor das Bild der antiken Göttin hin, alsbald werden wir in Andacht niederknieen, wortlos, wunschlos, gedankenlos. – Da aber tönt von außen ein Tosen und Brausen an unser Ohr, überall Bewegung, Handlung und das Bild des modernen Lebens. – Nein, die stille kalte Antike ist nicht mehr unser höchstes Ideal. Aber, wie es finden? – Dort weist einer auf die Dirne, – Aber dann wehe! Dann gehe der Jünger der Kunst in den antiken Tempel zurück, lieber bei den göttlichen Toten zu sterben, als bei den entgötterten Lebenden zu leben. – Aber da eilt ein andres Weib durch das Gewühl, ein junges Weib – und keine Jungfrau, denn sie trägt nicht die harmlosen Züge der Nichtwissenden, sondern die einer ›Wissenden‹. Eine junge Arbeiterin ist es, eine alleinerziehende Mutter – von wilder Schönheit, und ihr jagt nun der idealsuchende Dichter-Jüngling nach: ihr muß er folgen, … wie wenn ein lang Gesuchtes gefunden, ein lange nach Gestaltung Ringendes sich gestaltet, und es flüstert in ihm: ›die Moderne‹ !« 27 | – die … aufeinander] mit grünem Textmarker hervorgehoben 1886] mit Bleistift umrahmt, am Rd.: 3. 9. 1886 Hinterzimmer einer Kneipe am Spittelmarkt in Berlin 27 Moderne‹ !«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Adalbert von Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. 3., unv[eränderter] Abdr[uck] Leipzig: R. Voigtländer 1905. S. 79. 25 26

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Begriff und Theorie der Moderne

Was will man mehr? ›Die Moderne‹ heißt es im Deutschen – Femininum – nicht etwa nach Baudelaire, wie oft fälschlich behauptet worden ist, – sondern nach dieser Göttin und Muse der Kunst der ›Moderne‹. Und nicht anders! Nicht ›Modernität‹, nicht ›das Moderne‹ – nein partout ›die‹ Moderne, nach jener alleinerziehenden Fabrikarbeiterin, einem Opfer sozialen Wandels, das der ›modernen‹ Literatur – auf Grundlage neuer Moral – ein Programm geben will: nicht mehr antikisierende Stoffe und klassizistische Ideale, – nicht die ›kalte‹ Antike, sondern ›die Moderne‹ verkörpert das Ideal der sozialen Kunst der Berliner Naturalistenkreise der 1880er Jahre, die nicht mehr ›harmlos‹, sondern ›Wissende‹ sein wollen – in einer Welt »entgötterter« Lebender! Es kann sogar sein, daß der Student Max Weber diese Zeilen in der ›Akademischen Rundschau‹ vom 12. September 1886 gelesen hat und daß sein Diktum von der ›Entzauberung der Welt‹ von hierher erste Inspirationen empfing. – Festzuhalten bleibt: Seit dieser Begriff im Hinterzimmer einer Kneipe am Spittelmarkt in Berlin, wo die literarische Vereinigung ›Durch!‹ am 3. September 1886 28 tagte, von Eugen Wolff geprägt wurde, seitdem ist ›die Moderne‹ erstens ein programmatischer und durchaus provokativ gemeinter Begriff, der zweitens jahrzehntelang Gefühlswert und Nebensinn vom Streit um die ›moderne Lit[eratur] und Kunst‹ und von der heute vergessenen erbitterten Debatte um die ›moderne Bildung‹ 29, d. h. die Einführung von Real- und Reformgymnasien, also Abschaffung der antiken Bildung herbezog. – Und so bereits ist es eigentlich ganz selbstverständlich, daß dieser Ausdruck sich den Zeitgenossen weder als Theorienoch als Epochenbegriff empfahl. Und damit sind wir beim zweiten Komplex von Problemen, die in unserem Begriff stecken – bei seiner Vagheit als vermeintlicher Epochenbegriff, auf die schon Walter Benjamin 30 in einer seiner Reflexionen zum Passagenwerk hingewiesen hat: ›es habe keine Epoche gegeben, die sich nicht im exzentrischen Sinne ›modern‹ gefühlt habe und die nicht unmittelbar vor dem Abgrund gestanden zu haben glaubte‹. »Das | verzweifelt helle Bewußtsein«, so sagte Benjamin, »inmitten einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist der Menschheit 3. September 1886] mit grünem Textmarker hervorgehoben. Am Kopf der Seite ist ein Haftnotizzettel (ohne Aufschrift) zur Markierung angebracht. 29 moderne Bildung] mit grünem Textmarker hervorgehoben 30 Walter Benjamin] mit grünem Textmarker hervorgehoben, am Rd.: 1.3 28

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chronisch. Jede Zeit erscheint sich ausweglos neuzeitig. Das ›Moderne‹ aber ist in genau dem Sinne verschieden wie die verschiedenen Aspekte ein und desselben Kaleidoskops.« 31 Die Modernen gruseln oder erfreuen sich – wie die Kinder – an den immer neuen Bildern, die das Kaleidoskop oder andere Medien zeigen, ohne daß dabei etwas wirklich Neues sichtbar würde: Die Erscheinungen der Modernität wechseln, aber das Wesen der Modernität bleibt immer das nämliche, denn dieser vermeintliche Wandel reflektiert nur unsere jeweilige Aufmerksamkeit aufs jeweils Neue. Was auf die Reaktionsweise der Menschen zurückgehe – daß sie immer und immer wieder glauben, Zeugen solch tiefgreifender Wandlungen zu sein – weist auf ihr Problem der Wahrnehmung der Gegenwart 32 hin: Die Meinung, daß jederzeit wir es sind, die von etwas Neuem herausgefordert werden – stelle eine bloße Täuschung, – einen subjektiven Reflex des Wandels bloßer Erscheinungen dar: eines Wandels, den wir fälschlich als einen der gesamten Wirklichkeit, als einen Epochenübergang interpretieren. Dabei wird völlig verkannt, daß die Medien es sind, die das ›Neue‹ produziert haben, indem sie uns – wie den Kindern durchs Kaleidoskop – nur einen sehr begrenzten Ausschnitt von Welt zeigen – unablässig und immer wieder ›aufs Neue geschüttelt‹. Aber auch dann, wenn nicht nur ›geschüttelt‹ wird, – und wir statt dessen mit mehr oder weniger geschichtsphilosophisch gemeinten Epochenbegriffen konfrontiert werden, wenn beispielsweise von einer nach-modernen ›Risikogesellschaft‹ die Rede ist, gerät der Begriff der ›Moderne‹ in eine zwiespältige Funktion: sowohl das Ende einer Epoche – als auch alles das charakterisieren zu sollen, was Lebenswelt und Lebensformen an diesem Übergang – als Jetzt – ausmachen. Was uns dann wiederum in Fragen nach Anfang und Ende der entsprechenden Epoche resp. der ›Moderne‹ und ›Nach-Moderne‹ verwickelt, in an sich geschichtsphilosophische und | geschichtstheo-

Kaleidoskops.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Walter Benjamin Ges[ammelte] Schriften V, 2. Bd. S. 677.; darunter hs.: Allegorie → Literalität etc. Medialität: das zeitgenössische Umfeld: Selektivität, Intentionalität (des Einzelnen); Zeitalter der Religion, Wiss[enschaft], Kunst; »symbol[ische] Form«: Diskussionsmedien öffentl[icher] Meinung; Wandel von Dominanzen der Wahrnehmung: mündliches/schriftliches Bild Empfinden Ratio Visualität 32 Problem … Gegenwart] am Rd.: d. i. das philosophische Problem: wir müssen es entfalten 31

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retische Fragen also, die zu lösen wohl nicht das Anliegen einer ›Theorie der Moderne‹ sein kann. Diese nämlich verfolgt, so glaube ich, mehrheitlich eine andere Strategie des Umgangs mit dem Begriff der Moderne, eine, die ich im Gegensatz zu dieser ontologisch-geschichtsphilosophischen als transzendentalphilosophische resp. konstruktivistische bezeichnen möchte: denn hier wird nicht versucht, das ganze Sein einer Epoche auf nur einen Begriff zu bringen, sondern es soll der Begriff der Moderne oder des Modernen lediglich die Funktion erfüllen, diese Gegenwart in einer bestimmten Hinsicht zu charakterisieren. So, indem beispielsweise die Dominanz des Dienstleistungssektors oder der Freizeitkultur aufgewiesen wird, – indem diese Phänomene als Resultate von sozialem Wandel ausgewiesen werden, als Resultate, die jetzt sichtbar sind und also unsere Gegenwart beleuchten, ohne daß man sicher sagen könnte, seit welchem Zeitpunkt diese Dominanz bereits bestehe. Die Analyse der Gegenwart führt dann auf Bezeichnungen wie ›Dienstleistungs-‹ oder ›Freizeitgesellschaft‹, aber es ist damit keine Epochenbezeichnung geschaffen, sondern signifikante Merkmale der Gegenwart sind auf diese Begriffe gebracht worden. Was sehr wichtige Konsequenzen nach sich zieht. Denn: ›Theorie der Moderne‹ in diesem Sinne bezeichnet eine ständige Aufgabe der Sozialwissenschaften, und der Begriff der ›Moderne‹ bezeichnet dann gleichsam nur den Rahmen für alle sozialwissenschaftlich orientierten Gegenwartsanalysen, – und dabei für ein bestimmtes, ein selbstreflexives Verfahren: von der Gegenwart ausgehend deren Vorgeschichte, d. h. den gesamten Wandlungsprozeß, in die Analyse der sog. Gegenwart mit einzubeziehen. In etwa so, wie Max Weber es beispielhaft vorführte, indem er einen Begriff der modernen okzidentalen Kultur vergleichend durch Bestimmung der Differenzen zu allen übrigen Kulturen gewann – und dann als das spezifisch ›Moderne‹ alles das gelten sollte, was Weber unter der Kategorie der ›Rationalität‹ zu versammeln wußte: in dem doppelten | Sinne, damit sowohl das Wesen der Gegenwart begrifflich zu fassen, wie auch die spezifische Differenz dieser okzidentalen Kultur andren Kulturen gegenüber sichtbar zu machen. Diese transzendentalphilosophische Auffassungsweise des Problems einer Theorie der Moderne wird bereits äußerlich daran erkennbar, daß Epochenbegriffe weithin vermieden werden. Denn hier erschließt vielmehr nur eine bestimmte Frage – in diesem Falle die nach der Rationalisierung – einen Vergangenheitshorizont und 32 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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bringt z. B. eine Theorie der modernen Lebensführung hervor, – wobei es jederzeit klar ist, daß wir auch von der Geschichte nur das erkennen, was wir selbst durch unsere Fragen, Kategorien und Methoden hervorbringen, wie man mit Kant – oder dem modernen Konstruktivismus sagen könnte. Ich glaube dieses Verfahren ist vorbildlich, denn das hieße für den Begriff der ›Moderne‹, daß man ihn eigens und ausschließlich zu dem Zweck designierte, einen Inbegriff der ›modernen‹ Erscheinungen, also der erkennbaren Resultate von sozialem Wandel zu meinen, all das also, was diese Gegenwart ausmacht. Aber man verbände damit keineswegs den Anspruch, einen abschließenden, eindeutig definierten Begriff von dieser Gegenwart zu geben, weder in zeitlicher Hinsicht noch in sachlicher, denn Unabschließbarkeit charakterisiert sowohl jede ›Gegenwart‹, wie auch die Möglichkeiten von deren theoretischer Erfassung unter diesem Begriff der ›Moderne‹. 33

›Moderne‹.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vorl[esung] vom 15. 4. 1998 17.15– 18.15; ca. 70 Hörer.

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[Ordner SS 1998] 2. Vorlesung 34 Ich habe beim letzten Mal versucht zu zeigen, wie vieldeutig der Gebrauch des Begriffs der ›Moderne‹ ist oder sein kann, und die auf den ersten Blick etwas kuriose Geschichte von jenen ›idealsuchenden Jünglingen‹ erzählt, die nicht mehr der ›kalten Antike‹ und freilich auch nicht der Dirne 35, sondern nun eben ›der Moderne‹ nachstellen, von welcher Göttin also unser Thema den Namen erhalten hat. ›Die Moderne‹ tritt als Allegorie 36 und typische 37 ›Männerphantasie‹ 38 in Erscheinung, die wir uns kurz näher anschauen müssen: »ein junges Weib mit jenem Glanze der Keuschheit, wie er keine Jungfrau 39 zieren kann, denn es ist nicht der harmlose Zug der Nichtwissenden, es sind die schmerzverklärten Züge der Wissenden 40, die überwunden hat. Nicht Ebenmaß der Glieder 41 schmückt dies Weib, in wilder Schönheit 42 umrahmt ihr Haar Stirn und Nacken, und in wilder Hast stürmt sie dahin. … Daheim harrt wohl ein geliebter Sprößling ihrer, für den sie tagüber arbeitet 43; nun wird sie mit ihm vereint den Lohn der Arbeit genießen, darum verdoppelt sie ihre Schritte. Und wer, gefesselt an ihren Anblick, ihr folgt, der idealsuchende Jüngling, wagt auch dieses Weib nicht zu berühren 44, wie jene Göttin, aber er mag auch nicht vor ihr niederknieen, ihr muß er folgen, mit Eifer nachstreben, um ihr nahe zu sein, wortlos, wunsch2. Vorlesung] darüber hs.: Allegorie; bezieht sich auf ein beigeheftetes Doppelblatt, Kopie auf Telefaxpapier aus: Eine Geschichte der deutschen Literatur in Beispielen, 1992, S. 108–109 über Goethes Die Leiden des jungen Werther, mit Randbemerkungen: Allegorie der Moderne Allegorie des pantheistischen Lebensgefühls (Werther) Form der Allegorie → Medialität dasselbe Reflexionsmedium der Selbstverständigung über die Gegenwart und eigene Empfindungen; am Kopf der S.: Aufeinandertreffen von → humanistischer Bildung (Provinz) — ständische Gesellschaft → moderne Großstadt – funktionale Gesellschaftsgliederung; 35 Dirne] am Rd.: Konfliktfelder Student + Prostitution 36 Allegorie] statt gestr.: Mythos 37 typische] darüber in Großbuchstaben: Intentionalität 38 ›Männerphantasie‹] darüber: Studenten, ledige junge Männer 39 keine Jungfrau] am Rd.: Uminterpret[ation] des »gefallenen« Mädchens 40 Wissenden] am Rd.: Dirne?! 41 Nicht … Glieder] am Rd.: Mensch von Fleisch + Blut 42 wilder Schönheit] am Rd.: best[immter] Typus von Frau 43 arbeitet] am Rd.: Blaustrumpf 44 Jüngling … berühren] am Rd.: andres Geschlechterverhältnis 34

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los … aber nicht gedankenlos, vielmehr lebt es in ihm auf, wie wenn ein lang Gesuchtes gefunden, ein lange nach Gestaltung Ringendes sich gestaltet, und es flüstert in ihm: ›Die Moderne!‹« 45 Das alles sind nicht nur Jung-Männer-Phantasien – die knieenden Jünglinge vor jener Göttin, und alleinerziehenden ›Moderne‹, der männlich ritterliche Hilfe zuteil werden soll. Es stellt dies ganze Szenario einen wahren Mummenschanz dar – ein Tanz Maskierter – ähnlich jenen Fasnachtsspielen und jenen Maskeraden, mit denen das Frühjahr begrüßt und der Winter vertrieben zu werden pflegt: denn abrupte | Neuerungen – Neujahr, Fasnacht, Geburtstage – schmerzen und werden als Drama erlebt und verlangen nach mythischer Symbolisierung dieses gerade stattfindenden dramatischen Gegenwartsgeschehens, das jeder Übergang für den Menschen darstellt: überpointiert und zugleich gelindert durch Symbolisierungen, durch Feuerwerk und Maskerade, und so tritt buchstäblich am ersten Tage seiner Prägung am 3. September 1886 auch der Begriff der ›Moderne‹ als Allegorie 46 in diese Welt, nicht anders als andere ästhetische Erscheinungen derselben Zeit. Denken Sie nur an all die Faune, Putten und Engel der Gründerzeitarchitektur und zugehöriges antik-christlich verbrämtes Interieur. Oder daran, daß auch Richard Wagner, gefeiert einerseits als Schöpfer des Inbegriffs ›moderner Musik‹, andererseits mit an sich unerträglichen Libretti, diesmal mittelalterlicher und minnelicher Maskierung, daherkam: denn auch hier wollten die Heraufkunft des Neuen und der harte Bruch mit der Tradition doch immerhin abgemildert sein: durch Vermummung des Neuen mittels wirklich ganz lose übergehängter nunmehr ganz alter Gewänder. Ich hatte beim letzten Mal gesagt 47, daß ich den Versuch unternehmen will, diejenigen historischen und assoziativen Verbindungen auszumachen, in denen der Begriff der ›Moderne‹ – im positiven wie negativem Gebrauch – seit seinem ersten Aufkommen gestanden hat. Viele dieser Verbindungen sind durchgängig festzustellen, haben stärker oder abgeschwächt den Begriff mit Gefühlsbedeutungen und Nebensinn aufgeladen, – andere solcher Verbindungen sind kaum noch zu verspüren und scheinen bloß noch historische und also überwundene und fremdgewordene Assoziationen. Geblieben sind z. B. die Verweisungszusammenhänge von Mo45 46 47

›Die Moderne!‹] folgt Fußnotenzeichen und -text: Hanstein S. 79. Allegorie] statt gestr.: Mythos letzten Mal gesagt] letzten gesagt

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derne und Großstadt, zur Geldwirtschaft und zu industriellem Fortschritt. Andere Assoziationen sind kaum noch zu spüren und auch z. T. überhaupt nicht mehr allgemeiner bekannt: z. B. die Verbindung des Modernen mit Entwicklungstheorie und Darwin, mit Fortschritt, Positivismus und Empirismus, mit dem Aufmerksamwerden auf soziale Probleme, auf Elendsquartiere und den Schmutz der Straße, d. h. mit dem | ›Naturalismus‹ in der Literatur und Kunst, der Ä[sthetik] des Häßlichen. Dritte wiederum sind gänzlich aus dem Bewußtsein verschwunden: die Assoziation mit dem Streit um die Einführung von Realgymnasien, also um die Frage antiker oder eben ›moderner‹ Bildung, – weiterhin die mit dem Aufkommen jugendlicher Protestbewegungen einerseits, – andererseits mit neuen sozialen Bewegungen, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert von der Frauen- und Friedensbewegung bis hin zum Vegetarismus reichten: Lauter Bewegungen, die zugleich Ausdruck der Moderne sind, wie sie in diesen Begriff semantisch auch eingegangen sind und ihm einen so umfassenden und wohl auch aufgebläht unspezifischen Sinn verschafft haben. Denn 48 auch diese Bestrebungen prägen nach wie vor das Verständnis oder mindestens doch den Gefühlswert, – rufen zahllose Assoziationen hervor, die mehr oder minder unbewußt jedenfalls dafür gesorgt haben, daß der Begriff der Moderne bis heute nicht unumstritten ist, daß er nicht fraglos zum wissenschaftlichen Thema taugt, daß er nicht zum sprachlichen Allgemeingut – auch nicht der Gebildeten – gehört, sondern noch immer einen programmatischen, nicht selten sogar annähernd politischen Sinn und Charakter trägt, und entsprechend gelegentlich deshalb auch auf Ablehnung stößt. Das Problem des Begriffs der Moderne: läßt sich deshalb meines Erachtens nur lösen, wenn man - absieht von all den Konnotaten und Gefühlswerten, die seine Herkunft eingebracht hat, - absieht auch von jeglicher Epochenbildung und zeitlichen Fixierung – sowie schließlich auch - absieht von jeglicher Verabsolutierung der Ergebnisse der Gegenwartsanalyse, wie die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien mittels Kompositabildung mit ›-gesellschaft‹ dies betreiben oder doch suggerieren. | 48 Denn] ab hier dreieinhalb S. gestr. Für die vorliegende Edition wurde diese Streichung zurückgenommen.

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Und das bedeutet positiv, daß man den zu analysierenden Gegenstandsbereich, den der Begriff der ›Moderne‹ bezeichnen soll, als bloßen Inbegriff aller für unsere moderne Lebenswelt spezifischen Phänomene und aller darauf aufruhenden Lebensformen auffaßt, also die ›moderne Kultur‹ – ihre Grundlagen und ihren Wandel – zum Thema der Theoriebildung macht, wie dies im übrigen ja nicht erst heute, sondern spätestens seit dem 19. Jahrhundert geschieht: denn seitdem wuchs mächtig auf und wucherte zwischen Mensch und Natur das, was man als ›zweite Natur‹, als ›objektiven Geist‹, ›Zivilisation‹ oder ›Kultur‹ im modernen Sinne bezeichnet hat. Der Mensch sah sich nicht mehr zuerst der Natur gegenüber, mit ihr im Kampf, von ihr lebend und sie als seine Umwelt begreifend, wie noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein. Irgendwann sah er sich vor allem der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt, d. h. den vom Menschen selbst geschaffenen Bedingungen gegenüber, die ihm zunehmend wichtiger erschienen als die alte, erste Natur. – Aus diesem – selbstverständlich undatierbaren – Wandel versteht man die Entstehung des modernen Kulturbegriffs: er ist nicht mehr der wertende einer ›cultura animi‹, nicht mehr Gegenbegriff zu Natur, denn es geht nicht mehr um eine ›Kultivierung‹, ›Pflege der Seele und des Geistes‹, höhere Bildung, Künste und Wissenschaften, wie noch in Aufklärung und deutschem Idealismus, – sondern ›Kultur‹ wird zum Inbegriff der vom Menschen selbst geschaffenen ›zweiten Natur‹, d. h. seiner gesamten Lebenswelt und Lebensformen. Dieser Bedeutungswandel des Begriffs der Kultur drückt einen Wandel des Selbstverständnisses des Menschen aus: nicht mehr zuerst der Natur, sondern vielmehr der Kultur gegenüberzustehen, und dies ist der Grund dafür, daß wir heute zwei verschiedene, koexistierende Kulturbegriffe besitzen: jenen alten, der Kultivierung meint, – Kultivierung des bloß Natürlichen, – und demgegenüber den neuen, der rein deskriptiv unsere selbstgeschaffene Lebenswelt, die ›zweite Natur‹, | bezeichnet. Und dieser rein deskriptive Kulturbegriff im Sinne der ›zweiten Natur‹, der ›natura altera‹ aus Ciceros ›De natura deorum‹ und den Tusculanen, bezeichnet den gemeinsamen historischen und systematischen Ausgangspunkt der ›Theorie der Moderne‹ und der modernen ›Kulturphilosophie‹. Denn beide gehen zurück auf eine Theorie des ›objektiven Geistes‹, wohlgemerkt eine im nichthegelschen Sinne, und zwar diejenige, die Moritz Lazarus 1865 als Theorie der Lebens-

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welt und Lebensformen der Gegenwart 49 formuliert hatte: Der ›objektive Geist‹ oder die ›objektive Kultur‹, wie dann Lazarus’ Schüler Georg Simmel sagen wird, ist das gemeinsame Thema der ›Philosophie der Kultur‹ und der ›Theorie der Moderne‹ – dies ganz in dem Sinne, wie Simmel sie in Form der ›Philosophie des Geldes‹ als Phänomenologie der durch die Geldwirtschaft veränderten Lebenswelt und Lebensweise vorlegte. Aber auch in dem Sinne, daß damit die Frage nach der gelingenden oder mißlingenden Aneignung dieser Lebenswelt und Lebensweise – dieser ›objektiven Kultur‹ – durch die Subjekte zu dem Zentralproblem der neu entstehenden ›Kulturphilosophie‹ wurde. Denn ›Kulturphilosophie‹, dieser Begriff ist gerade einmal hundert Jahre alt, wurde nicht zufällig zuerst von einem anderen Lazarus-Schüler – von Ludwig Stein – aufgebracht, basiert auch auf dem von Lazarus geschaffenen rein deskriptiven Kulturbegriff, dem des ›objektiven Geistes‹, denn die Objektivationen des Geistes kommen vor: 1. im rein geistigen Sinne: als Sprache, Gesinnungen, Religion und Mythos, 2. in einem institutionellen Sinne: in Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und bis hin zu den ›Formen der Geselligkeit‹, wie schon Lazarus sagte, 3. im habituellen Sinne: in Geschicklichkeiten und anthropologischen resp. psychophysischen Dispositionen, denn auch das ist ›zweite Natur‹ – | 4. im instrumentellen Sinne: in Werkzeugen, Maschinen und der Technik, 5. schließlich im materiellen Sinne: in Kunstwerken, Monumenten und bis hin zu Produkten aller Art: die ganze Sachkultur, wie sie z. B. heute Gegenstand der ›Konsumgeschichte‹ ist. Diese fünf Teilbereiche des ›objektiven Geistes‹, resp. der ›zweiten Natur‹ oder ›Kultur‹ im modernen Sinne, bezeichnen die Gegenstandsbereiche sowohl der modernen ›Kulturphilosophie‹ wie auch der ›Theorie der Moderne‹ : Gegenstandsbereiche, die Lazarus’ Schü-

49 Gegenwart] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Moritz Lazarus: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3/1865. S. 1–94.

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ler oder Enkelschüler, Ludwig Stein und Georg Simmel, – Ernst Cassirer – und eine Unzahl von Nachfolgern bearbeitet haben. 50 | II. Damit kehre ich zurück – nach diesen m. E. notwendigen Vorklärungen – zum Thema der heutigen Vorlesung – ›Die Jungen, die Moderne und die Antike‹ 51. Dieser Titel könnte dazu verleiten zu sagen: Generationenkonflikte hat es immer gegeben, eine Absetzung der Jungen von den Alten ist so alt wie die Menschheit selber – denn damit ist an sich nicht mehr umschrieben als der Ablauf von Erziehung, in dem es dann doch irgendwie zu einem Selbständigwerden der Jungen und eventuellen Konflikten mit den Alten kommt. So weit so gut, – so scheint es. Aber so ist es nicht. Denn man muß unterscheiden und fragen: was geschieht, wenn Autorität und Erziehung nicht mehr ausschließlich in der Hand der Familie, speziell des Vaters liegen, es also nicht zu üblichen VaterSohn-Konflikten 52 kommt, sondern sich zunehmend andere – außerfamiliäre – Instanzen einmischen: Schule und Staat oder auch geistige haben.] danach Fußnotenzeichen und -text: Dabei/hier trennen sich die Wege der ›Kulturphilosophie‹ und der ›Theorie der Moderne‹ : Denn ›Kulturphilosophie‹ meint zwar – zunächst nicht anders als ›Theorie der Moderne‹ – Theorie des spezifisch ›modernen Lebens‹, wie sie erstmals sichtbar wurde um die Jahrhundertwende in Literatur und Kunst, in Lebensstilen, Reformbewegungen – ebenso wie den sozialen Bewegungen. Aber die Aufgabenstellung der ›Kulturphilosophie‹ liegt nicht so sehr darin, die Wandlung und Modernisierung einer Kultur zu beschreiben, als vielmehr darin, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur überhaupt zu fragen: nach der ›Kulturalität‹ des Menschen in Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaften. Also all das, was insbesondere Ernst Cassirer als ›symbolische Formen‹ interpretiert, bildet ihr Hauptthema, – wenngleich man hinzufügen muß, daß auch sie dabei immer auch auf die Spezifica der ›modernen Kultur‹ abzielt. Darin berührt sie sich allenthalben mit der ›Theorie der Moderne‹ im engeren Sinne, die wohl immer eine Domäne der Sozialwissenschaften bleiben wird. Aber sie beide gehen nicht ineinander auf, können es nicht und sollen es nicht, weil die ›Theorie der Moderne‹ nach der ›Kultur der Gegenwart‹ fragt – während die ›Kulturphilosophie‹ die Bedingungen der Möglichkeit aller Kultur überhaupt zum Thema macht, – und also nur insofern auch die Kultur der Gegenwart zum Gegenstand hat. Ich komme damit zu dem, was mir als ungelöste Aufgabe erscheint: dem veränderten Selbstverständnis des Menschen seit dem – natürlich undatierbaren – Übergang zur Moderne nachzugehen, d. h. vor allem der Frage, inwiefern und wie die moderne Lebenswelt und die modernen Lebensformen – die moderne Kultur – bricht ab 51 Thema … Antike‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 52 Vater-Sohn-Konflikten] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Kröner 1980. S. 690–707: Vater-Sohn-Konflikt. 50

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Strömungen, – wenn beispielsweise Schriftsteller und Philosophen Autorität überhaupt unterminieren – und nicht nur die Autorität der Erzieher infragegestellt wird? Dann haben wir es nicht mehr mit den klassischen, nur individuell verursachten Vater-Sohn-, sondern mit sozusagen modernen, jedenfalls mit kollektiven Prozessen, mit Generationenkonflikten zu tun, und diese können | also erst dann entstehen, wenn es zu einer Art Formierung der ›Jugend‹ 53 (resp. theoretisch auch der ›Alten‹ 54) kommt, wenn insbesondere Wertvorstellungen oder Ideologien typisch werden für bestimmte Generationen, und dazu führen, daß Gruppen oder noch so lose, gruppenähnliche Vereinigungen gebildet werden, resp. sich in der Geschichte nachweisen lassen, wie dies in der naturalistischen Bewegung der Fall war: »Ja, die Geschichte der ›jüngstdeutschen‹ Literatur stellt sich […] dar als eine Geschichte beständiger Gruppenbildungen, die in immer neu begründeten Vereinen und Zeitschriften sich immer neue Kampfesorgane zu schaffen suchen.« 55 Sicher kann man die viel früheren geistigen ›Bewegungen‹ und ›literarischen Strömungen‹, wie man sie zu nennen pflegt, den Sturm und Drang, die Romantik und das junge Deutschland des Vormärz – immer auch als generationentypische Bewegungen verstehen wollen, als Bewegungen, die einen philosophisch-literarischen naturalistischen Ausdruck fanden 56 und insofern völlig zurecht der Form nach als Vorläufer der naturalistischen Bewegung der 1880er Jahre des 19. Jahrhunderts angesehen worden sind. Zweifellos sind sie das, aber mir scheint, dies doch mit einem – vielleicht entscheidenden – quantitativen und deshalb auch qualitativen – Unterschied. Denn die früheren Bewegungen – soweit es sich tatsächlich um Bewegungen der Jugend handelte – konnten zum einen noch nicht auf die Verbreitungsmöglichkeiten zurückgreifen wie die jungen Naturalisten: auf Tageszeitungen und das billige Buch, – und so konnten deshalb denn auch die früheren Bewegungen noch nicht dasselbe – ein nationales – Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit – aber auch an Kritik – erregen

Formierung der ›Jugend‹] darüber: Selbsttypisierung; am Kopf der S.: Polarisierung auch der ›Alten‹] darüber: 2. Typisierung 55 suchen.«] folgt Fußnotenzeichen und-text: Adalbert von Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. 3., unv. Abdr. Leipzig: R. Voigtländer 1905. S. V f. 56 Sicher … fanden] am Rd. 1. Generationszugehörigkeit 2. Generationsspezifik 3. Generationstypik 53 54

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wie dies dem Naturalismus gelang oder wiederfuhr, ganz wie man will. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht zum 57 Prozeß der Herausbildung der | sogenannten ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹, deren Medien und anderen Bedingungen der Möglichkeit solcher Breitenwirksamkeit Stellung nehmen, aber möchte Ihnen doch immerhin Habermas’ ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ zur Lektüre empfohlen haben, wo Sie dies alles nachlesen können. Stellung nehmen muß ich aber zum hier von mir verwendeten Ausdruck ›geistiger Strömungen‹, der freilich eine bloße Metapher darstellt für ganz verwickelte und ganz verschiedene geistige ›Bewegungen‹, die jeweils ineinanderliefen. Die Kultur- oder Geisteswissenschaften haben sich immer damit beholfen, exemplarisch zu arbeiten: das Dichter- oder Philosophenwort für einen Ausdruck einer allgemeineren Tendenz zu benutzen, um diese allenthalben beobachtbaren, aber schwer faßbaren und noch schwerer meßbaren Prozesse durchaus aber quantitativen Wachstums in irgendeiner Weise in ihre Argumentationen einzubeziehen. Aber vielleicht doch 58 soviel über Zeitungen in Deutschland 59: Gab es um 1850 etwa 100, so stieg ihre Zahl bis 1871 auf fast 1000, bis 1881 ca. 2400 und 1907 bis auf über 7000 60 – in einem Lebensalter eine Versiebzigfachung 61. Und parallel entwickelte sich die Buchproduktion: »Man muß sich […] die Tatsache vergegenwärtigen, daß die deutsche Bücherproduktion im Jahre 1870 zum erstenmal die Zahl 10.000 überschritt, daß sie aber vor dem Weltkriege schon 35.000 [Titel jährlich] erreichte«. 62 Das waren also auch Anfänge der ›Informationsgesellschaft‹ 63: »Die literarische Wandlung der achtziger Jahre, eine der einschneidensten, die wir überhaupt erlebt haben« heißt es in der Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Börsenvereins, betitelt ›Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre‹ (Leipzig 1925), – zum] auf den Ich … doch] Streichung dieser beiden Abschnitte für die vorliegende Edition zurückgenommen 59 Zeitungen in Deutschland] mit grünem Textmarker hervorgehoben 60 7000] folgt Fußnotenzeichen und -text: Meyer Lex[ikon. 6. Aufl. 1907] Bd. 20, S. 873. 61 in … Versiebzigfachung] mit grünem Textmarker hervorgehoben 62 erreichte.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Friedrich Schulze: Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre. Leipzig: Börsenverein 1925. S. 197. 63 Anfänge der ›Informationsgesellschaft‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 57 58

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diese einschneidende Wandlung der 1880er Jahre brachte viele neue Verlage hervor, »zahlreiche Gründungen entstehen, von | denen nur einzelnen dauernder Erfolg beschieden ist« 64, insbesondere dem S. Fischer Verlag, wo u. a. Ibsen, Tolstoi und Dostojewski, aber eben auch Max Kretzer, Gerhart Hauptmann und ein bedeutender Teil der jüngeren Künstlergeneration erscheinen. Das vom Naturalismus erreichte hohe Maß an Publizität jedenfalls verlieh dem Naturalismus als Bewegung – verglichen mit früheren geistigen Strömungen – einen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ neuen Charakter. III. Bei den Naturalisten handelte es sich um eine junge Generation von Literaten und Literaturfreunden, die fast alle nach 1860 geboren waren und nunmehr 1885, Mitte bis Ende Zwanzig, aus der Vereinzelung poetischen Schaffens heraustraten. In der sehr nützlichen Dokumentation der ›Berliner Moderne‹ von Jürgen Schutte und Peter Sprengel (erschienen beim Reclam Verlag, also erschwinglich), auf die ich mich hier vor allem stütze, wird sehr gut gezeigt, daß und wie sich diese literarische Bewegung formierte. Ja, es läßt sich sogar eine Illustration dafür finden, daß die gleichsam erste Bewegtheit und ein ›Aufbruch‹ bereits daraus entsteht, daß man seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation erkennt. Gerhart Hauptmann 65 hat dieses Erlebnis seiner Jugend rückblickend geschildert: »Aber nun merkte ich plötzlich, ich sei nicht allein. Jahre hindurch wußte ich nichts anderes, als daß mein vereinzeltes, absonderliches Streben mich hoffnungslos vereinsamte. Der Gedanke, es könne andere geben, die ein ähnliches Schicksal zu tragen hätten, kam mir nicht. Mit einem Male aber tauchten solche Naturen an allen Ecken und Enden in Deutschland auf. Sie begrüßten einander durch Zurufe, Leuten ähnlich, die auf Verabredung einen Marsch zu einem bestimmten Treffpunkt unternommen haben und nun angekommen sind.« 66 Dieser Treffpunkt war Berlin, wohin man zumeist zum Zweck eines Studiums | ging, wo aber nicht selten schon sehr bald andere Beschäftigungen an dessen Stelle traten. Treffpunkt war die Stadt Berlin, genauer gesagt, es waren ihre 67 Zirkel, literarischen und gesel-

ist«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 223. Gerhart Hauptmann] mit grünem Textmarker hervorgehoben 66 sind.«] folgt Fußnotenzeichen und-text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S[.]; gefolgt von einem schwarzen Quadrat, dem Zeichen des Verfassers für: noch zu ermitteln 67 ihre] seine 64 65

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ligen Vereinigungen, zu denen eben auch die freie literarische Vereinigung ›Durch!‹ 68 gehörte. Hier wurde in jenem Hinterzimmer einer Kneipe 1886 am Spittelmarkt erstmals der Begriff ›die Moderne‹ geprägt, und diese Vereinigung war es auch, die mit den 1888 in der ›Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung‹ veröffentlichten ›Thesen‹ 69, den Begriff der Moderne allgemeiner bekannt machte 70: »Die unter dem Namen und Wahlspruch ›Durch!‹ zusammengetretene freie literarische Vereinigung junger Dichter, Schriftsteller und Literaturfreunde hat keinerlei bindende Satzung«. – Aber sie hat stattdessen – wie sich zeigt – ein um so schärfer ausgeprägtes Selbstbewußtsein: »Die 71 deutsche Literatur ist gegenwärtig allen Anzeichen nach an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche« eröffne, die dem »Dichter der Gegenwart« ganz neue Aufgaben stelle, nämlich: »alle bedeutungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schattenseiten poetisch zu gestalten und der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen. Demnach sind soziale, nationale, religiös-philosophische und literarische Kämpfe spezifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung, ohne daß sich dieselbe tendenziös dem Dienste von Parteien und Tagesströmungen hingibt. […] Unsere Literatur soll ihrem Wesen, ihrem Gehalte nach eine moderne sein; sie ist geboren aus einer trotz allen Widerstreits täglich mehr an Boden gewinnenden Weltanschauung, die ein Ergebnis der deutschen idealistischen Philosophie, der siegreich die Geheimnisse der Natur entschleiernden Naturwissenschaft und der alle Kräfte aufrüttelnden, die Materie umwandelnden, alle Klüfte überbrückenden technischen Kulturarbeit 72 ist. Diese Weltanschauung ist eine humane im reinen Sinne des Wortes und sie macht sich geltend zunächst und vor allem in der Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft, wie sie unsere Zeit von verschiedenen Seiten her | anbahnt. […] Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit bezeichnen … um durch die Größe der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen. 6. Unser

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literarische … ›Durch!‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 1888 … ›Thesen‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben Begriff … machte] mit grünem Textmarker hervorgehoben »Die] hs. am Rd.: Zitat viel zu lang! technischen Kulturarbeit] am Rd.: sic!

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höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.« 73 Das sind die wesentlichen Programmpunkte, und wir müssen sie ansatzweise systematisieren: 1. Es wird ein ›Wendepunkt‹ der Entwicklung der deutschen Literatur 74 konstatiert, der Beginn einer neuen Epoche namens ›die Moderne‹ 75. 2. Diese ›Moderne‹ will die Licht- und Schattenseiten des ›gegenwärtigen Lebens‹ thematisieren 76, um damit ›der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen‹, wie es heißt, was also auf Fortschritte zunächst noch nicht absehbarer Art abzielt. 3. Deshalb beteiligt sich diese Literatur prinzipiell zwar an allen Streitfragen der Gegenwart – ›Kämpfe‹ sagte man damals – genauer sind dies: soziale, nationale, religiös-philosophische und literarische Streitfragen. Aber diese Beteiligung an diesen ›Kämpfen der Gegenwart‹ soll keine parteiliche, tendenziöse oder nur modische 77 sein, d. h. man zielt auf ›Wahrheit‹ 78 in der modernen Literatur – und ist nicht bereit, diesen Anspruch, der gerade die ›moderne Literatur‹ genuin auszeichnet, irgendeinem anderen unterzuordnen. D. h. man will sich nicht nur keinem politisch-parteilichen, sondern nicht 79 einmal sogenannten ästhetischen 80 Ansprüchen unterordnen. 4. Diese Literatur entspringt nicht innerliterarischem Wandel, etwa neuen ästhetischen Zielsetzungen – sie begreift sich vielmehr als einen Ausdruck – einen unter mehreren – als einen Ausdruck der täglich mehr an Boden gewinnenden modernen Weltanschauung. Eine Weltanschauung, die anzuknüpfen behauptet an idealistische Philosophie – also nicht wie wenig später fast alle Naturalistenkreise an | die moderne Entwicklungslehre von Darwin, Spencer, an Frühsozialismus und Materialismus. Sie knüpft – dem Programm nach – zweitens an die Naturwissenschaften und deren technische Nutzung an, was besagen will, daß sie sich methodisch an die NaturwissenModerne.«] folgt Fußnotenzeichen und- text: D[ie] B[erliner] M[oderne] 186. f. ›Wendepunkt‹ … Literatur] mit grünem Textmarker hervorgehoben; darüber: »jüngstes Deutschland« 75 ›die Moderne‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 76 Licht- … thematisieren] mit grünem Textmarker hervorgehoben 77 keine … modische] mit grünem Textmarker hervorgehoben 78 ›Wahrheit‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 79 nicht] mit grünem Textmarker hervorgehoben 80 ästhetischen] mit grünem Textmarker hervorgehoben 73 74

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schaften anlehnt: daß Beobachtung der Wirklichkeit, Experiment und induktives Schließen den literarischen Text konstituieren sollen. Diese Weltanschauung bezeichnet sich als ›im reinsten Sinne des Wortes humane‹ weil und indem sie sich der Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft verpflichtet weiß. 5. So will sie keine idealisierten Menschen und Verhältnisse darstellen, und insofern setzt sie sich vom ›antiken Kunstideal‹ ab, sondern will vielmehr Menschen aus Fleisch und Blut und mit all ihren Leidenschaften darstellen resp. zeigen, ja dies mit ›unerbittlicher Wahrheit‹, und so zählt als höchster Wertmaßstab eben auch die ›Größe der Naturwahrheit‹ und ihr allein wird eine dann auch ›ästhetische Wirkung‹ zugetraut. IV. Die literarischen Folgen sind bekannt: bevorzugte Stoffe der naturalistischen Literatur und Dramatik sind deswegen: »Dirne, Bettler, Alkoholiker, Brutalität, Familienzerrüttung, Verbrechertum, Suizid«. Sie stellen die bevorzugten Themen der Naturalisten 81 dar, 82 ja, »stört ihn [den Dichter] das Unangenehme und Crasse, die stärksten Ausbrüche der Thierheit am Menschen nicht, schwelgt er gar in Lastern und ekelerregenden Dingen, so pflegt man ihn einen Naturalisten zu nennen«, 83 bringt der damals berühmteste deutsche Germanist, der in Berlin lehrende Wilhelm Scherer diese Auffassung von ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ auf den Punkt. Und ein anderer Zeitgenosse erkannte schon wenige Jahre später: »Das revolutionäre junge Geschlecht [der Naturalisten], das damals gegen die Epigonenliteratur [gegenüber der Klassik] Sturm lief, war gar nicht in | erster Reihe von ästhetischen Bedürfnissen ausgegangen. Die ausgeleerte und in angeblicher ›Schönheit‹ erstarrte oder vielmehr verniedlichte Form der Butzenscheibenpoeten jener Tage wurde nicht etwa der Epigonenkunst jener Tage, sondern der Kunst schlechthin auf Rechnung geschrieben«, 84 so daß folgerichtig die ganze Kunst vor der Moderne 85 Dirne … Naturalisten] mit grünem Textmarker hervorgehoben dar,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Günther Mahal: Naturalismus. 2. Aufl. München 1975. S. 126. 83 nennen«,] folgt Fußnotenzeichen und -text: vgl. Wilhelm Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse. Hg. v. Gunter Reiss. Tübingen 1977 (zuerst 1888). S. 151. 84 geschrieben«,] folgt Fußnotenzeichen und -text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S. 110 f. 85 ganze … Moderne] mit grünem Textmarker hervorgehoben 81 82

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gradezu gewaltsam unter nur ein Kunstideal 86, nämlich das seit der Antike 87 gültige subsumiert wurde. Samuel Lublinski 88, einer der frühesten Kritiker dieser modernen Literatur, sprach zutreffend aus, worum es sich bei dieser Absetzung der ›Jungen‹ von allen ›Alten‹ handelte: um eine Bausch und Bogen-Ablehnung aller Literatur und Kunst vor ihr 89, die eben nicht dem Primat der 90 gleichsam naturwissenschaftlich-beobachtenden Abschilderung der ›Wirklichkeit‹ 91 folgte. Man 92 brach mit der Kunst und nicht nur mit einigen bestimmten Richtungen oder Vorgängern, man brach mit einem Prinzip der Auffassung und einer Verständnisweise von Kunst überhaupt, ein Bruch, der in der Tat epochemachend war, und es wurde der Kunst eine prinzipiell neue Funktion zuerkannt: »Wenn wir von dem modernen Kunstwerk verlangen, daß es die Wirklichkeit unmittelbarer reflektiere, als der Idealismus es that, so entstammt dies der Erkenntnis, daß die vorgeblich ›höhere Wahrheit‹ des letzteren, daß seine unpersönlichen ›Typen‹ im Grunde nur eine Hülle für die Subjektivität des Künstlers mit all ihren ungehemmten Zufälligkeiten waren.« 93 Zwar war man sich nicht ganz sicher, ob diese junge literarische Bewegung nun besser als ›Naturalismus‹ oder als ›Realisimus‹ bezeichnet werden solle, aber in jedem Falle hatte man Abschied vom Idealismus genommen. Denn der »Idealismus ist eine Richtung der künstlerischen Phantasie, welche die Natur nicht, wie sie ist, darstellt, | sondern wie sie irgendeinem Ideal gemäß sein sollte ([z. B. gemäß dem] Anstandsideale der alten Griechen, des höfischen Rittertums, des modernen Salons).« Das wollte man auf keinem Fall. Aber auch nicht unbedingt den krassesten Naturalismus, denn: »Naturalismus ist die entgegengesetzte Geschmacksrichtung, welche die Natur darstellen will, wie sie ist, dabei aber in tendenziöse Färein Kunstideal] mit grünem Textmarker hervorgehoben Antike] mit grünem Textmarker hervorgehoben 88 Samuel Lublinski] mit grünem Textmarker hervorgehoben 89 Ablehnung … ihr] mit grünem Textmarker hervorgehoben 90 Primat der] mit grünem Textmarker hervorgehoben 91 naturwissenschaftlich-beobachtenden … ›Wirklichkeit‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 92 Man] ab hier eine S. gestr., Streichung für die vorliegende Edition zurückgenommen. 93 waren.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S.: Ein Weg zum Frieden. In: Deutschland. Wochenschrift für Kunst, Litteratur, Wissenschaft und soziales Leben. Hg. v. Fritz Mauthner. 1. Jg. Nr. 8 (= 23. 11. 1889). S. 144. 86 87

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bung verfällt und mit Vorliebe das auswählt, was nicht so ist, wie es sein sollte, also das ästhetisch und moralisch Beleidigende.« Eine durchaus treffende Definition, von der man dann noch den 94 Begriff des ›Realismus‹ abzusetzen suchte, der das eigene Ideal und Programm bezeichnen sollte, aber in der Praxis vom Naturalismus zu unterscheiden war: »Realismus 95 ist diejenige Geschmacksrichtung, welche die Natur darstellen will, wie sie ist, und dabei nicht in Übertreibung verfällt. Der Realist weiß, daß die Wahrheit allein frei macht; sein Ideal ist daher Wahrhaftigkeit in der Darstellung. Durch die objektive Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird ferner der moderne Realist in eine Gemütsverfassung geraten, welche ihn über die Stoffe seiner Darstellung eine eigentümliche Beleuchtung ausgießen läßt (Gerechtigkeitsgefühl und Erbarmen). Der Realismus ist also ideal, aber nicht idealistisch; er stellt ideal dar, aber nicht Ideale.« Denn er ist von jener humanen Weltanschauung geprägt, die auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, auf ein naturwissenschaftliches Erkenntnisideal setzte, deren sinnfällige Erfolge im technischen Fortschritt sichtbar wurden – gesagt im Jahre 1887, in dem Jahre, indem man allenthalben in Berlin die Straßenbeleuchtungen anbrachte, so daß denn auch dieser Realismus über seine Stoffe »seine eigentümliche Beleuchtung« auszugießen schien, dies aber auch nicht unverbrämt, weihevoll und sakral appellierend an »Gerechtigkeitsgefühl und Erbarmen«. Diese »Gegenwart 96 sei die Wahrheit. Unsere keuchenden Lokomotiven, unsere rastlos hämmernden Maschinen, unsre Technik und Naturwissenschaft – da haben wir ganz ohne Frage die Wahrheit,« polemisierte wiederum Lublinski: »Dieses Dogma, dieser tölpelhaft naive Rausch stand einem Geschlecht sehr gut an, das im neuen | Reich 97 [seit 1871] zusammen mit der neudeutschen Industrie und Technik aufgewachsen war. Die industrielle Revolution hatte mit den früheren kleinwirtschaftlichen Verhältnissen rücksichtslos aufgeräumt und war immer noch im siegreichen Vorschreiten begriffen.

den] vom Realismus] mit grünem Textmarker hervorgehoben 96 Gegenwart] mit grünem Textmarker hervorgehoben 97 Geschlecht …Reich] am Rd.: [entspricht] Jugend; am Kopf der S.: d. i. »Präsentismus« – nicht in Fremdwörterduden → H[istorisches] W[örterbuch der] P[hilosophie]!; diese hs. Notizen sind mitkopiert, was die ganze Seite als Fotokopie der entsprechenden S. der 2. Vorlesung ausweist. 94 95

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Es konnte nicht ausbleiben, daß sie in den Augen einer Jugend 98, die mit den bisherigen Autoritäten gebrochen hatte, als die einzige moderne Macht erschien, als das moderne Leben schlechthin.« 99 Dieser Generation entstand also die Forderung nach einer bis dato ganz unbekannten Objektivität an den Dichter und Künstler, und nur dieser Wahrheit sollte er sich verpflichtet wissen: »und so begehrte man keineswegs einen neuen Stil, sondern neue Stoffmassen, neues Blut, überhaupt eine völlige Auffrischung von Literatur und Leben. Die Schönheit wurde mit Bannstrahlen förmlich überschüttet, und Wahrheit lautete jetzt das Schlagwort, Wahrheit um jeden Preis, mochte darüber auch die ganze bisherige Kunst und Kultur zum Teufel gehen. Man fühlte sich mit Wonne und wohl auch etwas mit Pose als urwüchsige Barbaren, die alte Götzenbilder zerschlugen …« 100

Jugend] am Rd.: !!! schlechthin.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S. 111. 100 zerschlugen …«] folgt Fußnotenzeichen und -text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S. 111. Zitat mit grünem Textmarker hervorgehoben. Danach folgt noch: V. Diesem »kulturrevolutionären Gestus« (dem »Pess[imismus]« will ich mich das nächste Mal zuwenden) lohnt es sich etwas näher zuzuwenden. Und damit kehren wir zurück in die Anfänge der naturalistischen Bewegung, das heißt in die Mitte der 1880er Jahre. Denn dieser Gestus war alles andere als etwa nur ein Ausdruck »erheblicher weltanschaulicher und ästhetischer Unklarheiten in dieser frühesten Phase der Berliner Moderne«, wie dies die Herausgeber der von mir zitierten Sammlung aus dem Reclam Verlag annehmen. Denn die in den Anfängen der jüngstdeutschen Literatur zu beobachtenden »pessimistischen Töne, in denen Daseinsekel und Verunsicherung, Erfahrungen der Sinnlosigkeit, der Verworfenheit bricht ab; vgl. zur Fortsetzung die Parallelstelle in der 3. Vorlesung. Am Rd.: 22. 4. 98 2 Vorl[esung] 1715–1830 ca. 70 [Hörer]. Im SS 2000 lautet das Konzept zur Vorlesung: 2. Vorlesung »Problem der Wahrnehmung der Gegenwart 12. 4. 2000 → Kategorien → Dichotomien Konfliktlinien (Sichtbarwerden »Prägnanz«) Moderne — Antike (Paradigma Bildung) Stoff Inhalt Form Kunstideal + Wirklichkeit Stil Bildungsideal Häßlichkeit »Schönheit« Realismus Naturalismus — Idealismus Pessimismus — Optimismus (Generationenkonflikt) Präsentatismus — Historismus (2. Vorlesung = Zusammenfassung aus 2 u. 3. von 1998!; gefolgt von einer Literaturliste (übereinstimmend mit der den vorliegenden Vorlesungstexten vorangestellten). 98 99

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[Ordner SS 1998] 3. Vorlesung 101: »Die Jungen, die Moderne und die Antike« Charakteristisch für die Moderne insgesamt ist ihr Präsentismus — oder wie Benjamin es ausdrückte, das Gefühl → S. 9 102 Präsentismus 103 – den Ausdruck finden Sie nicht im Fremdwörterduden, sondern nur im Historischen Wörterbuch der Philosophie – Präsentismus ist ein ziemlich neuer Terminus aus der Geschichtstheorie und er besagt: »daß wissenschaftliche Objektivität für den Historiker nicht erreichbar sei, vielmehr alle Geschichtsschreibung subjektiv und relativ und der gesamte Forschungsprozeß durch die Gegenwart des jeweiligen Historiker bestimmt sei«. 104 er ist von Charles McArthur Destler 1950 und das heißt nichts anderes als auch Lublinski gesagt hatte: »Die Gegenwart ist die Wahrheit. Unsre keuchenden Lokomotiven, unsre rastlos hämmernden Maschinen, unsre Technik und Naturwissenschaft – da haben wir ganz ohne Frage die Wahrheit, und das ist der einzige Stoff, der eines modernen Dichters würdig wäre. Dieses Dogma, dieser tölpelhaft naive Rausch stand einem Geschlecht sehr gut an, das im neuen Reich zusammen mit der neudeutschen Industrie und Technik aufgewachsen war. Die industrielle Revolution hatte mit den früheren kleinwirtschaftlichen Verhältnissen rücksichtslos 3. Vorlesung] darüber: V 1–3; am Kopf der S.: -Zitate in Vor[esung] – offene Enden – Colorit -»Erzählung«: Baudelaire …? Vollbegriff »Moderne« 102 S. 9] Seitenverweis nicht aufgelöst. Vgl. die bereits zuvor zitierte Stelle bei Benjamin: »Das verzweifelt helle Bewußtsein«, so sagte Benjamin, »inmitten einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist der Menschheit chronisch. Jede Zeit erscheint sich ausweglos neuzeitig. Das ›Moderne‹ aber ist in genau dem Sinne verschieden wie die verschiedenen Aspekte ein und desselben Kaleidoskops.« 103 Präsentismus] am Rd.: 6. Vorlesung = 2000 | Raoul Hausmann 104 sei«.] Zitat auf einer Fotokopie aus Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7, Sp. 1257–1259 (Lemma Präsentismus) mit grünem Textmarker hervorgehoben. Dort am Rd.: kritische Funktion dieser These ?!; weitere markierte Textstellen: Vorwegnahme durch den deutschen Expressionisten R. Hausmann [am Rd.: Dada! 1921], für den der »Presentismus« zum Ziel hat, »die entsprechenden Wirklichkeiten des geistigen Lebens […] auf den Stand der Gegenwart zu bringen«; sowie: lexikalischen Erfassung […] als »Auffassung, daß sich der Wert alles Geschichtlichen durch seine Gegenwartsbezogenheit bestimmt« 101

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aufgeräumt und war immer noch im siegreichen Vorschreiten begriffen. Es konnte nicht ausbleiben, daß sie in den Augen einer Jugend, die mit den bisherigen Autoritäten gebrochen hatte, als die einzig moderne Macht erschien, als das moderne Leben schlechthin.« 105 Der in all den Quellen zur Moderne unausweichliche Verweisungszusammenhang (Kategorien, Topoi — Grundbegriffe) von: Gegenwart – Vergangenheit und Geschichte, Tradition Jugend – die Autoritäten, Vorläufergeneration Modernität – antike, alte Bildung beinhaltet je auch die abgelehnten Gegenteile. Nicht nur aus Theorietexten, sondern aus Literatur ist zu entnehmen, was Moderne zunächst vor allem meint – und was sie wirklich bedeutet – im Sinn völlig veränderter natura altera. Und das heißt eben, nicht etwas hat sich verändert, sondern soz[usagen] alles. Alles was Bedeutung trägt für die »Modernen«. Theorie d[er] Moderne pflegt aber diese Dialektik zu übersehen und übergehen. Deshalb bleibt ihr Begriff unterbestimmt, affirmativ – weil die Dialektik von Moderne und Antimoderne gar nicht gesehen wird. Aber der »Pess[imismus]« ist die erste große antimoderne Bewegung und Strömung, die man zur Kenntnis nehmen muß, um den Vollbegriff von Moderne immerhin zu erahnen. 106 | V. 107 Diesem »kulturrevolutionären Gestus« (dem »Pess[imismus]« will ich mich das nächste Mal zuwenden) lohnt es sich etwas näher schlechthin.«] Zitat als Fotokopie aus: Die Berliner Moderne, S. 111. der …erahnen.] 2 Absätze hs. 107 V.] davor Doppelung des Textes der Schlußpassage der 2. Vorlesung: Reich [seit 1871] zusammen mit der neudeutschen Industrie und Technik aufgewachsen war. Die industrielle Revolution hatte mit den früheren kleinwirtschaftlichen Verhältnissen rücksichtslos aufgeräumt und war immer noch im siegreichen Vorschreiten begriffen. Es konnte nicht ausbleiben, daß sie in den Augen einer Jugend, die mit den bisherigen Autoritäten gebrochen hatte, als die einzige moderne Macht erschien, als das moderne Leben schlechthin.« Dieser Generation entstand also die Forderung nach einer bis dato ganz unbekannten Objektivität an den Dichter und Künstler, und nur dieser Wahrheit sollte er sich verpflichtet wissen: »und so begehrte man keineswegs einen neuen Stil, sondern neue Stoffmassen, neues Blut, überhaupt eine völlige Auffrischung von Literatur und Leben. Die Schönheit wurde mit Bannstrahlen förmlich überschüttet, und Wahrheit lautete jetzt das Schlagwort, Wahrheit um jeden Preis, mochte darüber auch die ganze bisherige Kunst und Kultur zum Teufel gehen. Man fühlte sich mit Wonne und wohl auch etwas mit Pose als urwüchsige Barbaren, die alte Götzenbilder zerschlugen«. 105 106

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zuzuwenden. Und damit kehren wir zurück in die Anfänge der naturalistischen Bewegung, das heißt in die Mitte der 1880er Jahre. Denn der kulturrevolutionäre Gestus des jüngsten Deutschland war alles andere als etwa nur ein Ausdruck »erheblicher weltanschaulicher und ästhetischer Unklarheiten in dieser frühesten Phase der Berliner Moderne«, 108 wie dies die Herausgeber der von mir zitierten Sammlung aus dem Reclam-Verlag annehmen. Denn die in den Anfängen der jüngstdeutschen Literatur zu beobachtenden »pessimistischen Töne, in denen Daseinsekel und Verunsicherung, Erfahrungen der Sinnlosigkeit, der Verworfenheit | und Vereinsamung sich aussprechen« 109 sind keinesfalls Ausdruck individueller pessimistischer Stimmungen von Einzelnen, von jungen Dichtern oder Jugendlichen der Gründerjahre. Sondern sie sind ein Ausdruck eines kollektiven Phänomens, der Mode des ›Pessimismus‹, und insofern Ausdruck einer philosophisch-weltanschaulichen Bewegung, die sich zwar ursprünglich an die Namen Schopenhauers und vor allem Eduard von Hartmanns anknüpfte, die aber weit über ihre philosophischen Ursprünge hinausging. Denn dieser ›Pessimismus‹ von Hartmanns stellt ein umfangreiches philosophisches System dar, das weitschweifig in vielen Bänden ausführt, »unser Dasein trage den Charakter einer Tragödie, einer Verirrung, einer Schuld. Jugend, Freiheit, Gesundheit gewähren keine positive Lust, was aber sonst als Glück aufgefaßt werde, sei bloße Illusion. Die Unlust überwiege bei weitem die Lust« und so ist diese Philosophie folgerichtig eine des Entsagens. Aber das ist nur die eine Seite, denn in dieser Fragestellung nach Lust und Unlust, und in allen hiervon ausgehenden Bewertungen der Gegenwart erweist sich der ›Pessimismus‹ als eine Weltanschauung, die sämtliche modernen Tendenzen der Gegenwart der Gründerzeit – von der Verstädterung, der Industrialisierung und der sozialen Frage bis zur zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen, als Verfallserscheinungen und Verlust vermeintlich »natürlicher« Zweckbestimmungen 110 ansieht. Ein ›Pessimismus‹ 111 also, der als »Philosophie der Gegenwart« 112 vor allem die Verlusterfahrungen und die VerunsicheModerne«,] folgt Fußnotenzeichen und-text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S. 14 f. aussprechen] folgt Fußnotenzeichen und -text: D[ie] B[erliner] M[oderne] S. 15. 110 vermeintlich … Zweckbestimmungen] am Rd.: an sich ein Unding: vgl. sub specie aeternitatis aber: Historismus → W[ilhelm] W[indelband]: ›Sub [specie aeternitatis‹ (Eine Meditation). In ders.: Präludien seit 1. Aufl. 1884.] 111 ›Pessimismus‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 112 als … Gegenwart«] mit grünem Textmarker hervorgehoben 108 109

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rung über alle modernen Tendenzen ausspricht, und der rein äußerlich betrachtet, so gar nicht in das gängige Bild der ›Gründerzeit‹ und ersten Jahre nach der Reichsgründung passen will, und der deshalb schon Zeitgenossen der 1870er Jahre erstaunen ließ: »Es kann durchaus keine Frage sein«, stellte 1876 der Philosoph Wilhelm Windelband fest, »daß unter denjenigen Richtungen der allgemeinen Geistesbewegung, welche das Vorstellungsleben und die Charakterbildung des Einzelnen […] bestimmen und beherrschen, in unserer Zeit der Pessimismus einen breiten und immer breiteren | Raum für sich in Anspruch nimmt: gleichviel, ob man ihn bekämpft oder vertritt, ob man ihn verketzert oder preist, ob man in ihm einen Wahn oder eine Religion sieht, man muß mit ihm rechnen. Der Pessimismus ist zweifellos eine der am weitesten, wenigstens in den Grenzen des deutschen Kulturlebens verbreiteten Moden.« 113 Auf diesen ›Pessimismus‹ geht zweifellos auch jener zuerst pessimistische, dann eher »kulturrevolutionäre Gestus« der frühen Naturalisten zurück. Denn zu dieser Mode gehört es, den Wert des Lebens pessimistisch zu beurteilen, – zumal die ›Jugend‹ der 1870er Jahre ist ›pessmistisch‹, wohl auch, weil es chic ist, ›pessimistisch‹ zu sein und dem ›Weltschmerz‹ zu frönen. Rein theoretisch versteht sich – denn so ernst ist es in praxi mit diesem ›Pessimismus‹ dann durchaus nicht. Vielmehr »sind die Werke, die dieser melancholischen, ernsten Weltanschauung Ausdruck gegeben haben, zur beliebtesten und […] amüsantesten Lectüre für ein grosses Publicum geworden. Bücher, die alle Reize des Lebens leugnen, haben für das grösste Publicum die grössten Reize entfaltet. Gerade an der Philosophie der Unerfreulichkeit des Lebens haben sich die Lebenden genug erfreut, um sie zu ihrer Unterhaltungslectüre zu machen«. Denn – so weiß dieser zeitgenössische gerade 30jährige Psychologe des Pessimismus diese Paradoxie zu deuten: »Was den Pessimismus zunächst in allgemeiner, ich möchte sagen charakterologischer Hinsicht bezeichnet, ist die oppositionelle Stellung, die er der Wirklichkeit 114 gegenüber einnimmt, der Geist der Skepsis und der Negation, aus dem er geboren ist und den er gebirt. […] da wird denn die blosse Negation wegen ihrer ins Unendliche hinaussehenden psychischen Begleiterscheinungen mit um so grösserer Vorliebe ergriffen, als dem LeModen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Präl[udien] II. S. 218. oppositionelle … Wirklichkeit] mit grünem Textmarker hervorgehoben, am Rd.: Generationenkonflikt

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bensalter der beginnenden Reflexion die Epoche der Abhängigkeit von äusseren Autoritäten vorhergeht, denen gegenüber nun oft die Momente des Kritisirens und sich Befreiens sich zunächst als wesentlicher Lebensinhalt aufthut. […] Negation 115 ist die Form, in der auch der untergeordnete Geist Urtheile über die Allgemeinheit des Seins fällen kann, der nicht den Umfang | und die Energie des Denkens besitzt, um Positives über sie zu urtheilen. […] Es ist […] der Mangel an positiven Inhalten der Jugend, der sie zum Weltschmerz und Pessimismus führt«. Und so entsteht eine rein ideologische Auffassung des Lebens, falsches Bewußtsein, die aufgrund einer freilich rein rhetorischen Bilanzierung von Lust und Unlust einen negativen Schluß auf den Wert des Lebens glaubt ziehen zu können, der etwa nach folgendem Muster verlief: »Es ist das Einfachste und Natürlichste auf der Welt, daß jeder Mensch so glücklich wie möglich sein will und daß er alle Dinge seiner Erfahrung zunächst auf das Interesse hin prüfe, welches er an ihnen nehmen könne; er betätigt dies immer mehr und gewinnt dadurch immer mehr Instanzen für das verallgemeinernde Urteil, daß alles überhaupt nur für diese Glückseligkeit da sei. […] Kommt er aber einmal zu dieser Verallgemeinerung, so verlangt er auch, daß die Welt diesen ihren Zweck erfüllt, und tut sie’s nicht, so ist sie ›schlecht‹. […] Das Interesse, welches unsere Zeit an den Streitfragen des Optimismus und Pessimismus nimmt, ist […] ein […] Verlangen, die Welt aus dem Triebe der Genußsucht zu beurteilen.« 116 Dieser mehr oder minder philosophisch inspirierte ›Pessimismus‹ der Gründerzeit ist also kein Pessimismus der tatsächlichen Lebenseinstellung oder gar Hoffnungslosigkeit, sondern nur ein verkappter oder maskierter ›Hedonismus‹ bestimmter Kreise 117: »Es gibt ganze gesellige und gesellschaftliche Kreise, in denen es als unfein betrachtet wird, mit dem Zustande der Welt zufrieden zu sein, und in denen es zum guten Ton geworden ist, das Elend des Daseins im gemeinsamen Gefühl überlegener Beurteilung und in freundlicher | Mitteilung resignierender Gefühle zu ertragen.« 118 – »Die Zeit, in der wir leben, ist wieder einmal eine solche, in der alles ›Aparte‹, Excen-

Negation] zusätzlich mit grünem Textmarker hervorgehoben beurteilen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Präl[udien] II, 235 f.; am Rd.: Ablösung von – Pflichten – Konventionen – Glauben 117 kein … Kreise] mit grünem Textmarker hervorgehoben 118 ertragen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Präl[udien] II, S. 218. 115 116

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trische, Exceptionelle von vornherein Beifall findet und Anziehungskraft ausübt. […] Besonders in den Kreisen feiner und überfeiner Bildung findet sich die Sucht nach dem Barocken 119, Aparten, von der Norm auf allen Gebieten Abweichenden; und diese sind es nun auch gerade, in denen der Pessimismus über das Bestehende besonders verbreitet ist«. Ob dieser damals breit diskutierte ›Pessimismus‹ resp. ›Hedonismus‹ 120 des Kaiserreiches und diese allverbreitete ›Genußsucht‹, womöglich eine gewisse Vorläuferschaft zur heute sogenannten ›Freizeitgesellschaft‹ oder auch ›Erlebnisgesellschaft‹ beanspruchen kann und darf, will ich nicht entscheiden. Viel wichtiger ist, daß der Pessimismus als Mode und Jugendideologie bereits der frühen Kaiserzeit eine Reihe von Kennzeichen trägt, wie den Geist der Skepsis und Negation, die ›oppositionelle Stellung‹ und ›Befreiung‹ von ›äußeren Autoritäten‹, zwischen ›Weltschmerz‹ und ›Genußsucht‹, – Kennzeichen, die allesamt den Bruch mit den Wertmaßstäben der Vorgängergenerationen 121 zeigen. Denn so befremdlich es auf den ersten Blick scheint, eine Bilanz des Lebens durch Verrechnung des Angenehmen und des Widrigen ziehen zu wollen, – gerade damit weist der Pessimismus als Mode und als Ideologie der besseren Kreise und zumal ihrer »Jugend«, also der männlichen, also der akademischen Jugend, auf das hin, was man in unserer Zeit einen Wertewandel nennen würde. Und es sind durchaus hochmoderne Bewertungsmaßstäbe, die zur Verneinung und Entsagung im Pess[imismus] führen: diese Werte des Glücks, der Lust und des Wohlbefindens, die allesamt im positiven Sinne zeigen, welche Wertvorstellungen diese Jugend präferierte. Diese Bewertungen zeigen aber vor allem, um welche Fragen es nicht mehr ging und welche Werte für sie weitgehend bereits außer Geltung waren. Diese Jugend der Gründerzeit, soweit sie ›pessimistisch‹ war, hing keinen nationalen Idealen an, wie | man vermuten könnte, und auch nicht mehr religiösen oder idealistisch-ethischen Idealen, wie man ihr zutrauen könnte. Nein, diese Jugend scheint völlig säkular und ›modern‹ auch in der Hinsicht, daß sie überhaupt keine transzendenten, sondern ausschließlich immanente Ziele und Wertvorstellungen gehabt zu haben scheint. 122 119 120 121 122

Barocken] am Rd.: Neobarock?! ›Pessimismus‹ resp. ›Hedonismus‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben Bruch … Vorgängergenerationen] mit grünem Textmarker hervorgehoben scheint.] danach gestr.: Und das war auch zu Beginn der 1880er Jahre noch der Fall,

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VII. Der Begriff ›der Moderne‹ war, so hatten wir bereits gesehen, – unter dem Gesichtspunkt der Kunstideale – an der Substantivierung ›Die Antike‹ abgeformt worden. Aber auch die ›antik-klassische Bildung‹ insgesamt steht in diesen Ende 1880er und frühen 1890er Jahren zur Disposition. Jedenfalls für die ›Jungen‹. Es geht um die Reform der Gymnasialbildung, um die Einrichtung von Realgymnasien und deshalb dann auch um die sehr umstrittene Zugangsberechtigung dieser Realgymnasiasten zum Universitätsstudium. Die Frage war: kann oder soll darauf verzichtet werden, Griechisch und Lateinkenntnisse als unabdingbare Voraussetzung eines Universitätsstudiums bestehen zu lassen, oder kann man Ausnahmen machen, beispielsweise bei einem Studium der Naturwissenschaften oder neueren Philologien? Das waren Fragen, die die Bildungsträger, Bildungspolitiker und viele Zeitgenossen von 1890 am meisten beschäfals das ›jüngste Deutschland‹ auf den Plan trat: als sie – wie der junge Gerhart Hauptmann – aus der Vereinzelung heraus und aus [der] Provinz nach Berlin kamen, um Naturalisten zu werden und den Kampf gegen das so genannte antike Kunstideal aufzunehmen. [Am Rd.: Ed[uard] v. Hartmann 199 f.] Es handelt sich um ein völlig neues – und den Zeitgenossen von 1880 völlig unerklärbares, geradezu paradoxes Phänomen. Ed[uard] v. H[artmann] hat 1889 diese Paradoxien der Gegenwart auf den Begriff gebracht: Danach ein Absatz gestr.: VI. Und es waren fast ausschließlich junge Männer, die sowohl diesen »Kampf […] gegen die überlebte Epigonenklassizität« der Gustav Freytag, Gottfried Keller, Friedrich Spielhagen, Felix Dahn, u. s. w. aufnahmen, wie nicht weniger auch gegen das sich spreizende Raffinement der Salonschriftstellerei, gegen den »blaustrumpfartigen Dilettantismus«. – Ein hübsches Wortspiel, denn ›Blaustrümpfe‹ sind immer ›artig‹ und ›brav‹, und diese ›moderne Literatur‹ ist deshalb eben nicht ›blaustrumpf-artig‹. Aber es handelt sich auch in einer anderen Hinsicht um eine bezeichnende Metapher, denn sie verknüpft Eduard von Hartmanns Diktum, daß ›diese Zeit nur noch verschrobene Blaustrümpfe, aber keine wirklich bedeutenden Frauen mehr hervorbringe‹, mit der Abkehr von der sog. ›Salonschriftstellerei‹ und einem ›Dilettantismus‹, der also der »auf blendenden Schein berechneten Halbbildung der Mädchen« zugeordnet wird. [Folgt Fußnotenzeichen und -text: Eduard von Hartmann: Das sittliche Bewusstsein. Eine Entwickelung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem Zusammenhange mit besonderer Rücksicht auf brennende sociale und kirchliche Fragen der Gegenwart. 2., durchges[ehene] Aufl. Leipzig: Wilhelm Friedrich o. J. (= 1886). (= Ders.: Ausgewählte Werke. Zweite wohlfeile Ausgabe. Bd. II). S. 561.] Und dies nicht nur von Eduard von Hartmann, sondern auch von den jungen Herren des ›Durch!‹, denn auch das gehört zur Soziologie dieser – im eminenten Sinne – ›modernen‹ jungen Männer, daß ihre | Literatur sich programmatisch nicht nur von den Alten, sondern auch von der damals massenhaft verbreiteten mehr oder minder dilettantischen und süßlichen Salonschriftstellerei absetzte, – womit denn die äußerst erfolgreiche Hedwig Courths-Mahler und viele tausend andere Schriftstellerinnen gemeint sind, die hier denn unter blaustrumpfartigem Dilettantismus zusammengefaßt werden.

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tigten, und es nimmt nicht wunder, daß gleichzeitig – im Namen der Moderne – nicht nur gegen das antike Kunstideal, sondern auch gegen die antik-klassische Bildung insgesamt gestritten wurde. Auch hier wurden ›Thesen‹ produziert, diesmal Gegenthesen – z. B. von Adolf Lasson, dem letzten Hegelianer Deutschlands: Sint ut sunt! So lautete der Titel: So ist es und so soll es bleiben! – »Für das alte Gymnasium wider die Neuerer« (Berlin 1890) dieser Kampfschrift, eine von zahllosen ähnlichen, aber eine, die in einer Literaturzeitschrift ein moderner junger Mann, ein gewisser S. alias Georg Simmel, später selber Theoretiker der Moderne, in höchst ironischer Weise rezensiert hat. Simmel sagt: »Gerade in dem Augenblick, wo die Regierung endlich dem ungestümen Anpochen der Neuerer soweit nachgegeben hat, | die Reformbedürftigkeit unserer höheren Schulen […] feststellen zu lassen, kommt diese Schrift mit ihrem strengen ›Laßt alles beim alten!‹ Die Hauptsache bleibt doch die ›Trainierung des Schülers‹, und dazu verhilft nur ›der ganz unvergleichliche Wert des ciceronianischen Latein‹ ! Nur die in unseren Schulen gebräuchlichen lateinischen Autoren und Schriften sollen das denkbar idealste Material für die Schulung und Bereicherung des jugendlichen Geistes bilden; wer das bestreitet, wird als voreingenommen und einsichtslos bezeichnet. Die Zahl dieser Leute hat sich in den letzten Jahren erfreulicherweise sehr gemehrt. […] Ob der antik-klassische Gehalt unserer Bildung dem Riesenansturm des modernen Lebens standhalten wird, muß sich […] zeigen 123; wenn er hochmütig sich davon abwendet und sich fröstelnd in die Fetzen« – also wieder alte Gewänder – »einer stark mitgenommenen Idealität hüllt, wird er sich am wenigsten behaupten. Unvergessen sei es dem alten humanistischen Gymnasium, was es für unser Volk geleistet hat; doch der Bau ist morsch, […] Die Verteidiger des »Sit ut sunt« [laßt alles beim alten!] sind trotz ihres Heldenmutes über kurz oder lang dem Untergang geweiht.« 124 Nicht nur das vermeintlich antike Kunstideal, sondern auch die gesamte antik-klassische Bildung hatte sich überlebt und war bloß noch historisch von Interesse, weil sie ihre früheren Funktionen verloren hatte: »Im Mittelalter und beinahe noch um 1600 gab es in Ob … zeigen] mit grünem Textmarker hervorgehoben geweiht.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Quelle: Deutschland. Wochenschrift für Kunst, Litteratur, Wissenschaft und soziales Leben. Hg. v. Fritz Mauthner. 2. Jg. Nr. 4 (= 25. 10. 1890). S. 56.

123 124

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Europa keine andere Philosophie und Wissenschaft, als die des Altertums. Dem wissenschaftlichen Unterricht war damit das Ziel gegeben: zuerst die | Sprachen des Altertums zu lehren, dann in seine Philosophie und Wissenschaft einzuführen. Seit dem 16. Jahrhundert hat sich diese Lage völlig verändert. Die wissenschaftliche Forschung ist mehr und mehr selbständig geworden; die großen Entdeckungen auf der Erde und am Himmel machten noch im 16. Jahrhundert den Anfang; es folgten im 17. Jahrhundert die moderne Kosmologie, Physik, Chemie und Physiologie, woran sich die moderne Philosophie mit Metaphysik und Erkenntnistheorie, Psychologie und Geisteswissenschaften anschloß. Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte man in Frankreich und England, im 18. Jahrhundert auch in Deutschland die Empfindung, daß man in den Wissenschaften von den Alten nichts mehr zu lernen habe. 125 Und gegenwärtig sieht alle Welt die Sache so an, daß die wissenschaftliche Literatur der Alten zwar einen großen geschichtlichen Wert als Denkmal des Ursprungs unserer Philosophie und Wissenschaft hat, daß sie aber für den Bestand unserer wissenschaftlichen Forschung nirgends unentbehrlich ist […] Im übrigen würde ihr vollständiger Verlust unsere Mathematik und Naturwissenschaft, unsere Staats- und Gesellschaftswissenschaft in ihrem Bestande auf keine Weise bedrohen.« So schildert Friedrich Paulsen 126 in seiner großen ›Geschichte des gelehrten Unterrichts‹ noch vor dem ersten Weltkrieg die Lage der klassischen Bildung. Und er prognostiziert, »daß Latein um das Jahr 2000 nicht mehr in demselben Umfang notwendig sein werde, wie im Jahre 1800 … Ich weiß wohl« sagt er dann, »eine solche Perspektive erscheint heute noch vielen als eine überaus betrübende: muß denn das Schöne [die antike Bildung] dem Nützlichen [der modernen Bildung] geopfert werden? – Ich kann diese Gefühle durchaus nachfühlen; ich bin gar kein so großer Enthusiast für das Moderne, als manche aus mir gemacht haben. Es gab eine Zeit, wo Plato und Aristoteles mein tägliches Studium waren, wo Homer und Horaz dazwischen zur poetischen Erquickung gelesen wurden«. Aber diese Zeiten sind nun – in der ›Moderne‹ – vorüber, die klassische Bildung ist bereits damals seit hundert | Jahren auf dem Rückzug, in den Einzelwissenschaften ist sie funktionslos geworden

125 126

Am … habe.] mit grünem Textmarker hervorgehoben Friedrich Paulsen] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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Begriff und Theorie der Moderne

und nur in der Philosophie und für die Allgemeinbildung hat sie sich erhalten. Deshalb hat denn genau zu dieser Zeit und genau in diesen Auseinandersetzungen nicht nur der Begriff der Moderne, sondern auch der Begriff Antike eine inhaltliche Erweiterung erfahren: Jetzt bezeichnen ›die Antike‹ und ›die Moderne‹ nicht mehr nur Antipoden in bezug auf die Kunstideale, sondern in dem auf die ›Bildung‹ 127 überhaupt. Die moderne Bildung löst die antike ab 128: weniger Latein und Griechisch – mehr Mathematik und Naturwissenschaften – bedeutet das, und so erweitert sich der Begriffssinn und -gebrauch des Ausdrucks ›die Moderne‹ über den Kreis der Berliner Literaten und Literaturfreunde hinaus, indem jetzt alle an der Gymnasial- und Schulreform beteiligten Lehrer, Universitätsprofessoren und Kultuspolitiker, aber auch alle »Gebildeten« mit jenen Neuerungen befaßt sind, die ›die Moderne‹ mit sich bringt. Aber das hat auch noch eine andere Folge. Denn gleichzeitig bezeichnet ›die Antike‹ jetzt nicht mehr länger nur die ›Antiken‹, d. h. die antiken Kunstwerke ein Kunstideal, sondern ›die Antike‹ wird erst kurz nach der Jahrhundertwende zum Epochenbegriff erhoben 129, – was sich schlichtweg dem Umstand verdankt, daß sie erst jetzt vollständig historisiert und eigentlich sogar museal geworden ist. So kommt es denn, daß ›die Antike‹ und ›die Moderne‹ gemeinsam und als Gegensatzpaar Hand in Hand jeweils dieselbe Bedeutungserweiterung erfahren: sie bezeichnen nicht mehr nur einen Gegensatz der Kunstideale, sondern nunmehr einen Gegensatz aller Bildungsinhalte zweier grundsätzlich verschiedener »Großepochen«. Denn darin hatten die ›Jüngstdeutschen‹ doch richtig gesehen, daß die moderne Literatur, Kunst und Bildung, nicht nur mit den unmittelbaren Vorgängern gebrochen hatte, sondern mit der ganzen Tradition und Kultur, die auf der klassischen Bildung aufruhte, – einschließlich Schiller, Goethe und Hölderlin, einschließlich gründerzeitlicher Salonmalerei, Klassizismus in der Architektur und Kunst. Das alles gehörte jetzt nur noch der Vergangenheit an und so entstand das Dilemma wohl aller moderner Bildung, nämlich: wie wir sowohl diese bis in die Antike zurückreichende | Vormoderne als ›Bildung‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben Die … ab] mit grünem Textmarker hervorgehoben 129 ›die … erhoben] mit grünem Textmarker hervorgehoben; am Rd.: vorher sprach man von »Altertum« den »Alten« etc. 127 128

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auch die Moderne in uns aufnehmen könnten. Denn seitdem gilt: »Wer will die großen Leistungen unserer klassischen Literatur verstehen, der nicht zu dem innersten Wesen des griechischen Altertums eine persönliche Beziehung gewonnen hat? Und andererseits, wer will dem vielgestaltigen Wesen der heutigen Literatur mit seinem Verständnis und seiner Wertung gerecht werden, der nicht mit dem Lebensinhalt der heutigen Zeit, mit den schweren Problemen ihres Fühlens und Begehrens vertraut wäre?« 130 Das war ein Dilemma, ist ein D[ilemma] und bleibt ein D[ilemma], und dieses Dilemma soll uns das nächste Mal 131 beschäftigen. Und zwar unter dem Titel: Einheit und Fragmentierung der Kultur. 132 Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! 133

130 131 132 133

wäre?«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Windelband Präl[udien] II, 277. nächste Mal] mit grünem Textmarker hervorgehoben Einheit … Kultur.] mit grünem Textmarker hervorgehoben Aufmerksamkeit!] darunter hs.: ca. 70 [Hörer] 1715–1820

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 2000] 19. 4. 2000 = 3. Vorl[esung] 134 Konfliktlinien

Sichtbar als:

»Moderne«

»Antike«

Epochenscheide?

›die Jungen‹ Pessimismus (Hedonismus)

›die Alten‹ (Optimismus)

Generationenkonflikte als ›Jugendkultur‹ Pflichtenethik

Moderne

Antike

Streit um Bildungsideale und den Bildungskanon

Realgymnasien, Latinität Technische Hochschulen – Inhalt – Form – ›Natur‹ – Stil das Häßliche – Schönheit Naturalismus

›Idealismus‹

Realismus Impressionismus

natura altera Zivilisation

Klassik Historien- u. Salonmalerei

cultura amimi ›Kultur‹

Streit um Kunstideale

Kulturwissenschaftliche Epochenbegriffe – Literatur – ›Sezession‹

… dasselbe mehr theoretisch Differenzierungen – Leitvorstellungen des Kulturbegriffs

19. 4. 2000 = 3. Vorlesung] hs.; am Rd.: Datei »Bild«; dieses Einzelblatt ist unter den Papieren des SS 2002 überliefert. Die Zugehörigkeit ist durch die eigenhändige Datierung und die zweite Überlieferung als Fotokopie in den Mitschriften des Hg. vom SS 2000 festgestellt. Text des Bl. maschinenschriftlich.

134

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2 ›Kulturen‹

Einheit der Kultur

– ›Subkulturen‹, Milieus

3 ›Kulturen‹ Natur- und

Geisteswissenschaften – der Leitwissenschaften Sozialwissenschaften – – Klassifikationen der Wissenschaften Präsentismus

Historismus

– Bedeutung der ›Geschichte‹ – – Tradition

›Gegenwart‹ soziale Frage Soziologie

wissenschaftliche Neuerungen

Sozialphilosophie Phänomenologie Kulturphilosophie Stadt

Land

Lebensweltliches dominante Lebensweisen

Landflucht Großstadt Geldwirtschaft industriell

(Naturaltausch) … agrarisch

funktionale

… ständische

Wirtschaftsweisen … geprägte Gesellschaft … Gesellschaftsgliederung

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 1998] 4. 135 Vorlesung: Einheit und Fragmentierung der Kultur 136 I. In den bisherigen Vorlesungen hatte ich versucht, Ihnen die Umstände näher zu schildern, unter denen unser Begriff der ›Moderne‹ aus der Taufe gehoben wurde. Die Moderne und die Antike stießen aneinander: als Kunstideale und als Bildungskanon. Und obgleich der Begriff ursprünglich von den modernen Literaten der 1880er Jahre geprägt wurde, verschaffte ihm doch erst der Streit um die antikklassische und die moderne Bildung eine größere Verbreitung. Denn die Reformen des Bildungswesens um die Jahrhundertwende, aber eigentlich in den ganzen letzten hundert Jahren, bedeuteten eine beschleunigte Anpassung des Bildungswesens an die Erfordernisse des modernen Lebens und veränderten die Gymnasialund Universitätsausbildung von Grund auf: die Vielzahl der naturwissenschaftlichen Fächer und eine Verlagerung des Spracherwerbes von den »toten« Sprachen auf Englisch und Französisch an den Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen, – sie zogen auch wegen der Lehrerausbildung eine ständige Erweiterung dieser Fächer als Universitätsfächer nach sich. Hinzu kam: auch die Ausbildung in technischen Berufen wurde akademisiert, d. h. mehr und mehr an Technischen Hochschulen, oder auch an Universitäten vorgenommen. Dasselbe gilt verstärkt in unserem Jahrhundert auch für die wirtschaftlichen Berufe, die zudem gegenüber dem 19. Jahrhundert eine ungeheure Ausweitung erfahren haben und die noch fortwährend und immer mehr zu akademischen Berufen werden: Ein Studium der Betriebswirtschaft oder Volkswirtschaft braucht heute, wer z. B. nur Abteilungsleiter werden will, usw., usf. Das alles sind Phänomene und Teilaspekte einer Entwicklung, die bereits um die Jahrhundertwende erkannt wurde als das, was sie ist: eine ungeheure Ausweitung höherer und akademischer Ausbildung, bei gleichzeitiger Spezialisierung – und damit wird ein 137 fast vollständiger Bruch in der Bildungsgeschichte, in Schul- und Univer-

4.] statt gestr.: 3. Kultur] daneben hs.: »Kulturverluste«; am Kopf der S. Hinweis auf das SS 2000: 19. 4. 2000 = 3. Vorlesung → Spickzettel!; d. i. die oben wiedergegebene Aufstellung über Konfliktlinien 137 damit wird ein] damit ein 135 136

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sitätswesen 138 sichtbar, ein Bruch mit der | traditionellen, auf Latein und Griechisch basierenden, humanistischen Bildung: »Wir stehen ja in der Tat nun schon [1908] durch mehr als zwei Jahrzehnte auf dem ganzen weiten Boden des deutschen Kulturlebens in einer Art von Bildungsbewegung, die sich […] als eine Reform unseres Unterrichtssystems […] entwickeln mußte« 139 sagte Windelband – »Die deutsche Kulturentwicklung hat vor 100 Jahren in der Schöpfung des ästhetisch-historischen Bildungssystems gegipfelt, das zugleich ein philosophisches Bildungssystem gewesen ist, und dieses hat lange Jahrzehnte hindurch unserem Volke den einheitlichen inneren Halt und die Gemeinschaft der geistigen Nationalität gegeben.« 140 Dieses Bildungssystem und diese Nationalkultur – eine Kultur nicht etwa nur einer dünnen Oberschicht – war bereits um die Jahrhundertwende sichtbar beschädigt oder sogar überlebt und die ›Einheit der Kultur‹ 141 war dahin. Und das schon auf der Ebene des Bildungs- und Ausbildungswesens, denn die keinesfalls nur wissenschaftstheoretischen 142 Gegensätze zwischen Geisteswissenschaften (als der zumindest teilweisen Fortführung der alten Bildungsideale) einerseits und den Naturwissenschaften andererseits – was Tradition und Denkstil anbetrifft – wurden bereits jetzt in ganzer Schärfe als versch[iedene] Milieus sichtbar. Was man viel später als Gegensatz und Differenzierung in »zwei Kulturen« 143, literarische und technisch-wiss[enschaftliche] Geistes- und Naturwissenschaften bezeichnet hat (C. P. Snow), ist eine Erscheinung bereits der Jahrhundertwende, aber eigentlich waren es damals bereits ›drei Kulturen‹, denn auch die Sozialwissenschaften sind seitdem zu einer selbständigen Bildungsmacht geworden, wie dies Wolf Lepenies in seinem Buch über die Entwicklung der Soziologie bezeichnet und dargestellt hat. Dieses Buch: ›Die drei Kulturen‹ sei denjenigen wärmstens empfohlen, die die Entwicklung der Soziologie und die Eigenarten der spezifisch sozialwissenschaftlichen Bildung und Kultur näher kennenlernen wollen.

ein … Universitätswesen] mit grünem Textmarker hervorgehoben mußte«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Quelle: Windelband: Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben Präl[udien] II, 244–269. S. 245. 140 gegeben.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Präl[udien] II, 249. 141 ›Einheit der Kultur‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 142 wissenschaftstheoretischen] wiss. th. 143 »zwei Kulturen«] am Rd.: Milieus vgl. Klassifikation der Wissenschaften 138 139

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Begriff und Theorie der Moderne

In geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Bildung spaltete sich die vormals mehr oder minder einheitlich ästhetisch-historische-philosophische | Bildung und Nationalkultur 144 auf – und von einer Nationalkultur kann und konnte immer weniger die Rede sein. ›Einheit der Kultur‹ und ›Nationalkultur‹ sind allerdings Begriffe, mit denen man vorsichtig umgehen muß. Sie suggerieren etwas, was es so wohl nie und nirgends je pur gegeben hat: tatsächliche ›Einheit‹ und tatsächliche Integration einer Nation in und unter einer einheitlichen Kultur. Aber es ist doch etwas Richtiges damit gemeint, wenn auch nicht so sehr positiv Vorhandenes, so doch das Negative, nämlich diejenigen Verlusterfahrungen, die sich aus den vielfältigen Vorgängen von soziokultureller Differenzierung ergeben hatten und noch fortwährend verschärften: - Differenzierung und Spezialisierung der Arbeit und damit der Berufe, die sich zunehmend verwissenschaftlichten und akademisierten, – und das war der Motor auch für die - Differenzierung des Ausbildungswesens, auf allen Ebenen: Schulausbildung, Fachschul- und Hochschulausbildungen, mit der Folge der Entstehung mindestens dreier nebeneinanderstehender ›Kulturen‹. Diese Prozesse der Differenzierung und Spezialisierung führten zu der Erfahrung eines Verlustes, der zwar nur sehr unscharf mit der Behauptung einer vormals ›einheitlichen Kultur‹ und ›Nationalkultur‹ bezeichnet wurde. Aber diese inzwischen verlorene ›Einheit der Kultur‹ des 19. Jahrhunderts läßt sich doch daran festmachen, daß Institutionen und Medien kultureller Integration so nicht mehr fortexistierten: die für alle Eliten verbindliche, einheitliche Gymnasialbildung, von der auch eine soziale Integrationskraft ausging, indem die Eliten des 19. Jahrhunderts zugleich mit dieser gymnasialen Vorbildung einen nahezu einheitlichen Bildungskanon 145 in sich aufgenommen hatten, mit bestimmten Wertvorstellungen – in ethischer, ästhetischer und kultureller Hinsicht. II. Diese Einheit, eine relative Einheitlichkeit, brach auf oder wurde aufgebrochen – und man muß sich diesen Verlust genauer ansehen 144 Nationalkultur] mit grünem Textmarker hervorgehoben; dieser und der folgende Absatz am Rd. angestrichen 145 Bildungskanon] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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und ins Gedächtnis | rufen: »Wer will die großen Leistungen unserer klassischen Literatur [Schiller, Goethe und Hölderlin] verstehen, der nicht zu dem innersten Wesen des griechischen Altertums eine persönliche Beziehung gewonnen hat?« 146 fragte Windelband, und bezeichnete hiermit sehr treffend den tiefgreifendsten Traditionsbruch in der Bildungsgeschichte Deutschlands, den es überhaupt je gegeben hatte. Seit der Renaissance bildeten Latein und Griechisch die Grundlage aller höheren Bildung – zuerst eingerichtet in den sogenannten Lateinschulen des 16. Jahrhunderts, um sich die wissenschaftlichen Leistungen der Antike aneignen zu können, – aber ebenso wesentlich gefördert durch die Reformation, die nicht bloß den Bruch mit der katholischen Kirche, lateinischem Gottesdienst etc. bedeutete, sondern positiv eine Bildungsbewegung darstellte, die zur Einrichtung von Schulen, Universitäten und Bibliotheken führte, weil insbes[ondere] Griechisch und Lateinkenntnisse gefordert waren, um Bibel und antike wiss[enschaftliche] Autoren überhaupt lesen zu können. Denn es war die Zahl der Bücher, die in deutscher Sprache gedruckt wurden, noch sehr gering, und die Sprache der Wissenschaft, einer prinzipiell internationalen Wissenschaft war seit dem Mittelalter 147 und blieb noch lange das Latein 148: ohnehin wichtig als die Sprache der damaligen Christenheit 149, aber auch nach der Spaltung der Kirche, immer noch bis ins 18. Jahrhundert die internationale Sprache der Wissenschaft. 150 Anders das Griechische: es war seit der Reformation wichtig als Sprache des Neuen Testaments 151, und seit der Renaissance als Sprache der Philosophie und Dichtung vergleichsweise immer nur viel wenigeren bekannt gewesen, wurde aber – und wird heute noch – an jetzt sogenannten altsprachlichen Gymnasien zumal in der Oberstufe gelehrt – und an manchen Universitäten verlangt man von Philosophiestudenten noch immer ein kleines ›graecum‹, damit jedenfalls die Deutung und Übersetzung der philosophischen Terminologie ermöglicht wird. Mit der Verbindlichkeit von Latein und Griechisch für die Universitätsausbildung war es um die Jahrhundertwende vorbei, und nur 146 147 148 149 150 151

»Wer … hat?«] mit grünem Textmarker hervorgehoben Mittelalter] MA Sprache … Latein] mit grünem Textmarker hervorgehoben Sprache … Christenheit] mit grünem Textmarker hervorgehoben 18. … Wissenschaft] mit grünem Textmarker hervorgehoben Neuen Testaments] NT

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noch in einigen bestimmten Fächern, zumal in den Geisteswissenschaften verlangte man mindestens das Latinum. Noch mein späterer Doktorvater fragte mich, als ich zu ihm ging, | um ihn zu sagen, ich wolle promovieren, als erstes nach dem ›großen Latinum‹ – und erkundigte sich dann erst nach meinem Dissertationsthema. 152 Der Abschied vom Lateinischen als notwendiger Voraussetzung für ein Universitätsstudium begann um die Jahrhundertwende, und dieser Prozeß zieht sich bis heute hin. Was zur Folge hatte, daß das gesamte Schrifttum der Wissenschaften, das bis ins 18. Jahrhundert fast ausschließlich in lateinischer Sprache verfaßt war, heute nur noch den allerwenigsten zugänglich ist und daß sich auf diese Weise stattdessen zahlreiche nationale Kulturen etablieren konnten, mit Wissenschaft, Philosophie und Dichtung in der jeweils eigenen Landessprache. 153 So ist denn nicht nur die wissenschaftliche Literatur der Antike und des Mittelalters, die der Renaissance, der Barockzeit und der Frühaufklärung insgesamt nur noch sehr wenig bekannt und wird nur noch von hochspezialisierten Fachgelehrten gelesen, sondern es ist auch die ›geistige Tradition‹ weitestgehend abgebrochen 154 worden. Abgebrochen seit der Jahrhundertwende dadurch, daß wir nicht mehr fließend Latein lesen, und abgebrochen in dem Sinne, daß wir dasjenige, was vor Kant und Lessing und Schiller 155 geschrieben worden ist, kaum noch zur Kenntnis nehmen. Das Zeitalter der Aufklärung, die Einführung der deutschen Sprache als Sprache der Philosophie, Wissenschaft und Dichtung, bildet die einschneidendste Zäsur in der deutschen Geistesgeschichte der Neuzeit 156 – was allzuleicht übersehen wird, wenn mal wieder unsre Moderne gefeiert werden soll: Der Verlust der Latinität 157 beinhaltet zunächst, um nur ein Bei-

152 Dissertationsthema] danach gestr.: Und das an der Freien Universität, die sich jetzt wohl auch mit einem ›kleinen Latinum‹ von 2–3 Jahren statt 6 Jahren Latein begnügt. Die Rede ist von Michael Landmann. 153 Landessprache.] danach gestr.: Sicher: man übersetzt sehr viel, aber eben doch all das nicht, was als veraltet und wenig interessant gilt. 154 ›geistige … abgebrochen] mit grünem Textmarker hervorgehoben 155 Schiller] statt gestr.: Klopstock 156 Neuzeit] danach gestr.: Und dafür sind nicht Aufklärung und Französische Revolution verantwortlich zu machen, sondern das Überbordwerfen des Lateinischen als Wissenschaftssprache hat diesen Graben zu allem, was vor der Aufklärung war, aufgerissen. 157 Verlust der Latinität] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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spiel zu bringen: eine Nationalisierung von Wissenschaft und 158 Literatur – ja von Kultur 159 überhaupt, und das gilt selbstverständlich nicht nur für Deutschland. 160 | Die Aufklärungsphilosophie seit Thomasius, Christian Wolff und Kant, und zumal die populäre Aufklärungsliteratur haben sich der deutschen Sprache bedient und mußten sich der deutschen Sprache bedienen, wenn sie überhaupt wirken wollten. Denn seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird Bildung nach und nach demokratisiert, d. h. es sollen und wollen immer mehr an der Lesekultur, den Wissenschaften und Literatur teilhaben, und so wird auch die Zahl derer immer größer, denen jene Vorbildung im Lateinischen fehlt, die einen Zugang zur vor-aufklärerischen Lit[eratur] u[nd] Wiss[enschaft] eröffnet. III. Einer von denen, die des Lateinischen nicht mächtig waren, war interessanterweise kein geringerer als König Friedrich der Große. Er hatte nach adliger Sitte des 18. Jahrhunderts eine französische Ausbildung genossen, denn Französisch war damals die Sprache der Diplomatie und des Adels. So kam es, daß ein von ihm hoch geschätztes Werk der lateinischen Literatur: Ciceros ›de officiis‹ – vom pflichtgemäßen Handeln – ihm nur in französischer Übersetzung zugänglich war – und so kam es, daß er den populären Aufklärer Christian Garve anregte, das Buch aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen. 1783, drei Jahre vor Friedrichs Tod, legte Garve seine Übersetzung nebst Kommentarbänden vor und er widmete das Werk ganz artig ›seiner Majestät dem König‹ : »Sire, eine Übersetzung ist an sich keine Arbeit, die werth wäre, euer Majestät öffentlich überreicht zu werden«, beginnt Garve seine devote Widmung, »Aber Eure Majestät haben der gegenwärtigen dadurch größere Rechte gegeben, indem Sie selbst sie mir aufgetragen haben.« – Aber Garve hat noch eine andere Wissenschaft und] Wiss. + Nationalisierung … Kultur] mit grünem Textmarker hervorgehoben 160 Deutschland.] folgt eine Fotokopie aus: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (zuerst 1948), S. 16–17: Das Geschichtsbild der Schule ist immer der treue Spiegel des akademischen Geschichtsunterrichtes. […] In England und Frankreich wird das Verhältnis nicht anders gewesen sein. Aber Deutschland hatte eine Niederlage und eine Revolution gehabt. Es hätte daraus Nutzen ziehen und den Geschichtsunterricht reformieren können … Ist man heute dabei? Europäisierung des Geschichtsbildes ist heute politisches Erfordernis geworden, und nicht nur für Deutschland. 158 159

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Begriff und Theorie der Moderne

Legitimation parat, diese Widmung auszusprechen, – eine, die das Publikum angeht: »Euer Majestät zeigen durch den Auftrag, welchen sie einem deutschen Gelehrten geben, dieses Werk vor allen andern des Alterthums zu übersetzen, das Sie demselben einen vorzüglichen Werth zuschreiben. Und was könnte wohl dem Unterrichte, […] mehr Eingang und | Aufmerksamkeit verschaffen, als dieser Beyfall eines der größten Fürsten und Männer unseres Jahrhunderts?« Ciceros Schrift ›Von den menschlichen Pflichten‹ in der Garveschen Übersetzung wurde in der Tat zu einem sehr erfolgreichen Bildungs- und Schulbuch, ist in vielen Auflagen erschienen, und es hat – weil es von seiner Majestät gleichsam in den Adelsstand erhoben war – und weil es so erfolgreich war, dann Immanuel Kant bewogen, gegen Cicero und dessen Übersetzer Garve seine Ethik und seinen Begriff von Pflicht herauszuarbeiten. Ursprünglich geplant als ein AntiCicero und Anti-Garve, hat Kant 1785 in seiner kleinen, für 161 seine Ethik aber wichtigsten Schrift ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹ jenen berühmt-berüchtigten Kategorischen Imperativ formuliert, den Sie alle kennen: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 162 Was bedeutet das? Zuerst, daß wir niemanden gebrauchen oder mißbrauchen dürfen. Ihn also niemals instrumentalisieren und als bloßes Mittel behandeln dürfen. Das ist an sich nicht problematisch, denn etwas andres wäre doch, leicht erkennbar, eine unmoralische Handlung. Aber wir sollen den Menschen immer zugleich als Selbstzweck ansehen, als autonomes Wesen, – uns selber wie alle anderen, – als ein Wesen mit Würde, das Achtung verdient, Achtung, wie wir selbst sie beanspruchen – so soll auch jeder andere von uns geachtet werden. Das heißt, unangesehen der Person, komme jedem Menschen diese Würde zu und diese Würde, die allen Menschen zugesprochen wird, ist gesellschaftlich und politisch gedacht, will die zivilisierte Gesellschaft und zielt auf die Kultivierung der Menschheit als ganzer. Kant will keine Ethik oder Moralphilosophie einzelner bestimmter Pflichten aufstellen, was man zu tun oder zu lassen habe, er will das Verhalten der Menschen nicht moralisch bewerten, nicht eigent-

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kleinen, für] kleinen, der für brauchst.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 52

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lich schlechtes von gutem Handeln unterscheiden lehren – Kants Ethik will einen Leitsatz und Imperativ begründen, der geeignet ist, die Menschheit als ganze | voranzubringen. Denn Kants Ethik – die nur allzu oft doch als materiale Pflichtenethik 163 mißinterpretiert und mißbraucht worden ist, indem man ihr unterschob, sie erziehe zu sklavischem Gehorsam und zur unbedingten Pflichttreue, ist in Wahrheit eine verkappte Geschichtsphilosophie. Denn um die Geschichte und den Fortschritt der Menschheit geht es bei diesem Kategorischen Imperativ: die Würde des Einzelnen und jedes Menschen, die Freiheit und Autonomie seiner Persönlichkeit wird zur Richtschnur für alle moralischen Beurteilungen überhaupt. Kant geht es um den Fortschritt der Menschheit – und zwar durch »Kultur der Vernunft« 164 – d. i. Kultivierung der menschlichen Vernunft – und mit dieser Zielsetzung widerspricht er aufs schärfste dem ›Prinzip der eigenen Glückseligkeit‹ 165 und dem Ideal der nur individuellen Vervollkommnung. Er widerspricht Cicero und seinem König Friedrich d. Gr. – jeder solle auf seine Façon selig werden – Kant widerspricht damit allen Theoretikern der individ[uellen] Nützlichkeit und stoischen Vervollkommnung – denen, die nur ihr eigenes ›gutes Leben‹ im Sinn haben und keinerlei Verantwortung für das Ganze: für die Menschheit zu übernehmen bereit sind. – Deshalb ein ›Anti-Cicero‹, deshalb ein Kategorischer Imperativ, der den Fortschritt in der Geschichte befördern will: durch Kultivierung der Menschheit. Das ist die Zielsetzung Kants – und damit ist sein Begriff von Kultur bestimmt: Kultur noch rein als Kultivierung, im Sinne des lateinischen cultura vom Verb colere, einen Acker bebauen, pflegen. Im Deutschen hatte sich das lateinische Wort zwar schon seit dem 17. Jahrhundert eingebürgert, aber seine spezifische Bedeutung als Zielsetzung der Aufklärung als Bildung, Geistesbildung und Höherbildung des Einzelnen wie der ganzen Menschheit, diese Bedeutung hat sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet.

Pflichtenethik] am Rd. (unterstrichen): wegen M[etaphsik der] S[itten] Vernunft«] folgt Fußnotenzeichen und -text: G[rundlegung zur] M[etaphysik der] S[itten] S. 14. 165 Glückseligkeit‹] folgt Fußnotenzeichen und -text: G[rundlegung zur] M[etaphysik der] S[itten] S. 67. 163 164

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IV. Mit der Aufklärung beginnt die Geschichte und Karriere des Begriffs ›Kultur‹ und beginnt auch | der Differenzierungsprozeß der verschiedenen Begriffe von ›Kultur‹. – Und zwar zunächst innerhalb einer Polemik und Debatte zwischen Johann Gottfried Herder, dem abtrünnigen Schüler Kants, Kant selber und Moses Mendelssohn. Diese Debatte begann mit einem Mißverständnis. Denn Herder glaubte sich gegen eine Vereinnahmung durch die Aufklärung wehren zu müssen, dagegen, er habe mit seiner kleinen Schrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ (1774) 166 eine »Geschichte der Kultur« oder gar »die Philosophie der ganzen Menschengeschichte« darzulegen beansprucht. 167 Das weist er scharf zurück. Das wäre äußerste Vermessenheit, da von einem linearen Fortschrittsprozeß der Menschheitsentwicklung unter dem alles zusammenfassenden Titel ›Kultur‹ keine Rede sein könne. Denn das beinhalte eine ganz unzulässige Bewertung anderer Völker und anderer Kulturen: »Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Kultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem, was wir Kultur nennen, … jedes Individuum [jedes Volk] des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts ist unbestimmter als dieses Wort [Kultur] und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten.« Es ist ein bloßes »Scheinwort, das sich auf den ersten Blick als ein solches bloßgibt«, so heißt es in Herders Vorrede, – jetzt seiner ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹, unterzeichnet im April 1784. 168 | Bereits im September desselben Jahres 1784 versucht sich – ohne Herder zu erwähnen – Moses Mendelssohn 169 an einer Bestimmung dieses Begriffs: »Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in un-

166 (1774)] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort v. Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/M. 1967, wo der Begriff ›Kultur‹ in verschiedenen Wendungen – ohne nähere Bestimmung – vorkommt, z. B.: S. 22: »Kultur des Bodens«, S. 29: Griechenland »Zwischenland der Kultur«, S. 32: »Daß Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anders woher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar«, S. 83: »Letternkultur«, S. 86: »Papierkultur«. 167 beansprucht.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. vermutlich: Adelung: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, 1782. 168 1748.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Zitiert nach: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort v. Gerhart Schmidt. Wiesbaden o. J. S. 39. 169 Moses Mendelssohn] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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serer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern.« 170 D. h.: Bereits im ersten Moment also, da der Begriff Kultur als Neuankömmling in der deutschen Sprache begrüßt wurde, hatte er keine genauer bestimmbare Bedeutung, sondern wurde vielmehr synonym mit den Begriffen Bildung und Aufklärung verwendet. Und dies, weil diese gleicherweise auf eine höchste Kultivierung und Ausbildung abzielen, – denn immer geht es um das Ideal höchstmöglicher Kultivierung der Menschheit durch Vernunft und Aufklärung. Dadurch wurde der Begriff Kultur mit einem wertenden Sinn – mit Aufklärung, Bildung und Geisteskultur – aufgeladen und er erlebte um 1800 eine erste Hochkonjunktur. Dieser Sprachgebrauch geht ursprünglich auf Cicero zurück, eigentlich auf nur eine ganz bestimmte Stelle aus dessen ›Gesprächen in Tusculum‹, wo Cicero sagt: »wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele [cultura animi] ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus, bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, übergibt sie ihnen und sät … was dann, wenn es ausgewachsen ist, die reichste Frucht | bringt«. 171 Pflege der Seele – cultura animi – genau wie die Pflege und Bestellung des Ackers – so lautet das Gleichnis von Ackerbau und Geisteskultur in Ciceros ›Gesprächen in Tusculum‹. Diese Stelle steht für dieses Kultur- und Bildungsideal von 1800 und für diesen – und genau nur diesen – Begriff von Kultur, der ganz einfach derjenige der ›Spätaufklärung‹ resp. des ›Frühidealismus‹ ist, und von dem dann

170 verbessern.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? (zuerst Berlinische Monatsschrift, September 1784). Zitiert nach: Bahr, E. (Hg): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974. S. 3 f. 171 bringt«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: 10 Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum a. a. O. 2,13. S. 124–125.

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Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, 172 Schiller, Humboldt 173 und Fichte 174 und damit auch alle | späteren begrifflichen Kopplungen von Bildung und Kultur ausgehen werden: ›cultura animi‹, Geistesbildung meint das. V. Von diesem ›Kulturideal‹ also setzte sich bereits Herder ab als er noch im selben Jahre 1784 in der zweiten Lieferung seiner ›Ideen‹ (freilich auch ohne Namensnennung) auf Mendelssohn Bezug nahm. Und zwar, indem er den Begriff der ›Tradition‹ ins Feld führte: »denn kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch geworden«: 175 er ›bildet sich heraus‹ in einer – wörtlich – »geistigen Genesis«, in Erziehung, in Nachahmung und Übung: »Wollen wir diese zweite Genesis [neben der organischen], die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur, oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der KaliUrteilskraft‹,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. bes[onders] § 83: Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems: »Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur. Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat (nicht seine Glückseligkeit auf Erden, oder Wohl gar bloß das vornehmste Werkzeug zu sein, Ordnung und Einhelligkeit in der vernunftlosen Natur außer ihm zu stiften).« [Kant:] A[kademie-]A[usgabe] 5, S. 431. 173 Humboldt] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über Religion. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. S. 1–32; z. T. eingegangen in dessen ›Ideen zur einem Versuch, die Gränzen des Staats zu bestimmen‹ (1792), verwendet ›Kultur‹ in charakteristischen Zusammenhängen: S. 4: Cicero (!), S. 12: »Geisteskultur«; S. 17: »Stufen [der] Kultur«, S. 19 ff.: »geistige Kultur« im Zusammenhang Garves (vgl. dazu dessen Übersetzung von Ciceros ›De officiis‹ (1783) und dessen ›Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten‹. 1.–3. Buch. Breslau 1783); S. 31 f.: »Keiner steht auf so niedriger Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre«, vgl. dies mit Herder ›Ideen‹ S. 128. 174 Fichte] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Fichte a. a. O. S. 8: »Die Erwerbung dieser Geschicklichkeit, theils unsre eigenen vor dem Erwachen unsrer Vernunft und des Gefühls unsrer Selbsthätigkeit entstandenen fehlerhaften Neigungen zu unterdrücken und auszutilgen; theils die Dinge ausser uns zu modificiren und sie nach unsern Begriffen abzuändern, – die Erwerbung dieser Geschicklichkeit, sage ich, heißt Kultur; und der erworbene bestimmte Grad dieser Geschicklichkeit wird gleichfalls so genennet. Die Kultur ist nur nach Graden verschieden; aber sie ist unendlich vieler Grade fähig [vgl. Herder!]. Sie ist das letzte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen, …«; vgl. Kant K[ritik der] U[rteilskraft]. 175 geworden«:] folgt Fußnotenzeichen und -text: Herder a. a. O. S. 226. 172

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fornier und Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen 176 und sie gebrauchen; er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich kultiviert und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise«. 177 Was bedeutet das? Zuerst, daß die Begriffe ›Kultur‹ und ›Aufklärung‹ hier erstmals ausdrücklich relativ wertfrei, und eher deskriptiv gebraucht werden. ›Kultur‹ meint nicht mehr ein Ideal der Entwicklung der Menschheit, nichtmehr das Ziel ›höchster Kultiviertheit‹ und Verfeinerung, – weil Herder es ausdrücklich ablehnt, den wertenden »Begriff der europäischen Kultur« als Maßstab zugrundezulegen. 178 Es gibt für ihn nur noch verschiedene ›Grade‹ und ›Stufen‹ der Kultur (resp. der | Aufklärung), 179 weil der Mensch sich – nach Cicero, Auch … machen] mit grünem Textmarker hervorgehoben gradweise«.] mit grünem Textmarker hervorgehoben; danach gestr.: Und deshalb lehnt Herder es ausdrücklich ab, »willkürliche Unterschiede zwischen Kultur und Aufklärung« zu machen. Folgt Fußnotenzeichen und -text: Herder a. a. O. S. 227. 178 zugrundezulegen] folgt Fußnotenzeichen und-text: Ebd. 179 Aufklärung),] danach gestr.: wie denn umgekehrt der Mensch seinerseits in eine Stufenleiter der Schöpfung und des Organischen eingestellt ist. VI. Hier ist zu fragen, weshalb Herders Begriff von Kultur sich von vornherein von jedem wertenden Sprachgebrauch absetzt, jenem, den Mendelssohn – stellvertretend für die Aufklärung – auf den Begriff gebracht hatte. Und damit komme ich zu einem zweiten Gesichtspunkt – einer ganz anderen Leitvorstellung, die dann auch zu einem zweiten Begriff von Kultur geführt hat, einer Leitvorstellung, die ebenfalls auf Cicero zurückgeht. Cicero fragt in der uns schon bekannten über die Pflichten – in der Übersetzung Garves: »Ist es […] nöthig, alle die mannigfaltigen Arten der Künste [und Kenntnisse] zu nennen, ohne welche das menschliche Leben gar nicht bestehen könnte [? …] Wo würde der Kranke Hülfe, der Gesunde Vergnügen, der Mensch überhaupt, Nahrung, Kleidung und Geräthe finden, wenn nicht so viele Künste [Handwerke] beschäftiget wären, ihm alles dies zu verschaffen?« Und an andrer Stelle sagt er: »Die Beyspiele sind unzählig, welche zeigen, wie viel ein Mensch dem andern nütze. Denn […] die leblosen nützlichen Dinge, werden nützlich, erst durch die Arbeit der Menschen. Wir würden sie gar nicht besitzen, wenn nicht Kunst und Fleiß sie uns verschaffte; und wir würden sie nicht gebrauchen können, wenn uns nicht andre Menschen in der Anwendung derselben beystünden. Ohne die vereinigte Arbeit mehrer Menschen würden weder unsere Krankheiten geheilt, noch unsere Äcker gebauet, noch die See beschifft, noch die Feld- und Gartenfrüchte eingesammelt … Man denke hier noch an die Wasserleitungen; an die gegen die Gewalt der Ströme aufgeführten Dämme; an die durch Kunst erbauten Häfen; und man frage sich selbst, was von allem diesen ohne die Arbeit einer großen Menge von Menschen, würde haben zu Stande kommen können? Aus diesen und vielen andern Beyspielen ist klar, daß aller Nutzen, den wir von den 176 177

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und daran knüpfte auch Herder an, nicht primär durch seine Vernunft, sondern auch durch den aufrechten Gang und seine kunstfertigen Hände auszeichnet 180 – und diese Auffassungsweise hat einen eigenen Begriff von Kultur begründet – Kultur als Zivilisation, als ›zweite Natur‹, als die vom Menschen geschaffene Welt, seine Lebenswelt. 181 Dieser Begriff von Kultur – der Inbegriff aller Dinge, Gegenstände und Einrichtungen, die wir zum Leben brauchen, stammt aus dem zweiten Buch von ›De natura deorum‹ – über das Wesen der Götter, wo sich ein ›Loblied auf die Hand‹ findet, – ein Loblied auf ihre Geschicklichkeit und all die Vielfalt der Sachen, die wir ihr verdanken. Ich muß jetzt ausführlicher zitieren, denn von dieser Beschreibung der ›natura altera‹, von dieser Textstelle erhielt der moderne wissenschaftliche Kulturbegriff seinen Sinn: »Was für geschickte und für wieviel Künste geeignete Dienerinnen aber hat die Natur dem Menschen […] in seinen Händen geschenkt! 182 Denn die leichte Beugung und die ebenso leichte Streckung der Finger verursacht … bei keiner Bewegung auch nur die geringste Mühe. Deshalb eignet sich die Hand zum Malen, zum Formen und zum Schnitzen, aber auch zum Saiten- und Flötenspiel … Und dies dient nur dem Vergnügen, während das Folgende zu den notwendigen Erfordernissen des Lebens gehört, ich meine damit das Bestellen der Felder, den Bau von Häusern, | die Herstellung von gewebter oder genähter Kleidung und jede Art von Verarbeitung von Erz und Eisen; daraus aber läßt sich erkennen, daß wir [zusätzlich] zu dem, was der Geist ersonnen und was die Beobachtung erfaßt hat, durch die Hände der Künstler [Handwerker!] alles erhielten, so daß wir ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Schutz haben können und Städte, Mauern, Häuser und Heiligtümer besitzen. … wir ziehen Nutzen aus ebenem und bergileblosen Dingen ziehen, uns nur durch der Menschen Hände und Beschäftigungen zu Theil wird.« Folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 110.; sowie im Text: VII. der Mensch zeichnet sich 180 auszeichnet] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Herder a. a. O. S. 114 f. – Vgl. dazu Kants Rezension, wo dieser eigens moniert: »Nicht weil er zur Vernunft bestimmt war, ward ihm zum Gebrauch seiner Gliedmaßen nach der Vernunft die aufrechte Stellung angewiesen, sondern er bekam Vernunft durch die aufrechte Stellung« (S. 48) und: »Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf, er bekam freie und künstliche Hände« vgl. [Kant:] A[kademie-]A[usgabe Bd.] 8, S. 49. 181 Kultur … Lebenswelt.] mit grünem Textmarker hervorgehoben 182 »Was … geschenkt!] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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gem Gelände, uns gehören die Flüsse und Seen, wir säen Getreide und pflanzen Bäume; wir leiten Wasser auf unsere Ländereien und machen sie dadurch fruchtbar, wir dämmen Flüsse ein, bestimmen ihren Lauf und leiten sie ab;« – und jetzt kommt es: »ja wir versuchen, mit unseren Händen inmitten der Natur gleichsam eine zweite Natur [natura altera] zu schaffen.« 183 ›Natura altera‹ 184 – sie genau bezeichnet diejenige Vorstellung von Kultur, die | Herder vor Augen hatte. Es ist derjenige Begriff von Kultur, der wie schon erwähnt im 19. Jahrhundert dann durch die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus 185, von Dilthey, Simmel und anderen als ›objektiver Geist‹ bezeichnet wurde, den Hans Freyer in seiner Theorie des objektiven Geistes zugrundelegte, 186 und an den schaffen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. M. Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. Lateinisch-deutsch. Hg., übers[etzt] u. erl[äutert] v. Wolfgang Gerlach und Karl Beyer. 3. Aufl. München/Zürich 1990. S. 322–327. – Eine zugehörige und ähnlich wichtige Stelle findet sich in ›De officiis‹ 2,15: »Was soll ich die Vielzahl der Kenntnisse aufzählen, ohne die das Leben überhaupt nicht möglich wäre? Wie nämlich käme man den Kranken zu Hilfe, welches Ergötzen der Gesunden gäbe es, welche Unterhaltung und Gestaltung des Lebens, wenn nicht so viele Kenntnisse uns die Gegenstände, durch die das Leben der Menschen verschönert ist und sich so sehr von der Unterhaltung und Lebensgestaltung der Tiere unterscheidet, zur Hand gäben? Städte könnten doch ohne das Zusammenkommen der Menschen weder gebaut noch bevölkert werden. Infolgedessen haben sich die Gesetze und Herkommen gebildet, sodann gleiche Verteilung des Rechts und eine bestimmte Ordnung zu leben. Diesen Einrichtungen folgte geistige Kultur und Anstand, und es ergab sich, daß das Leben besser gesichert war und daß wir durch Geben und Nehmen, durch Austausch von Mitteln und Vergünstigungen keinerlei Entbehrung leiden.« – Zitiert nach: Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert u. hg. v. Heinz Gunermann. Stuttgart 1976. S. 154 f. 184 altera‹] folgt Fußnotenzeichen und -text: Es gibt eine zweite Steile bei Cicero, die jedoch einen ganz anderen Sinn hat und im H[istorischen] W[örterbuch der] P[hilosophie]-Artikel ›Natur, zweite‹ von G. Funke nicht genügend von der hier zitierten abgehoben worden ist. Vgl. Cicero ›De finibus‹ 5,74: »Ja selbst die Anhänger der Lust sind auf der Suche nach Ausflüchten und führen die Tugend den ganzen Tag im Munde; die Lust, so sagen sie, erstrebe man nur anfangs, dann bilde sich durch die Gewöhnung gleichsam eine Art zweiter Natur, durch die die Menschen veranlaßt würden, vieles zu tun, ohne nach irgend einer Lust zu suchen.« – Zitiert nach: Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Lateinisch/deutsch. Übersetzt u. hg. v. Harald Merklin. Stuttgart 1989. S. 471. 185 Lazarus] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. die ausführlichste Bestimmung in dessen: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. 3/1865. S. 1–94; §§ 6 ff. 186 zugrundelegte] folgt Fußnotenzeichen und -text: Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. 2. durchges. u. teilw. veränd. 183

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auch Arnold Gehlen 187 anknüpfte, der geradezu lapidar feststellte, daß »genau an der Stelle, wo beim Tiere die ›Umwelt‹ 188 steht, … beim Menschen die ›zweite Natur‹ 189 oder die Kultursphäre« stehe. 190 Die Herkunft dieses Begriffs vom ›objektiven Geist‹ von Ciceros ›natura altera‹ ist unbekannt oder wird verschwiegen, ja unterschlagen, weil sie, wie man annehmen darf, im 19. Jahrhundert allbekannt war und nicht zitiert zu werden brauchte – jeder Gymnasialschüler hatte in der Oberstufe Cicero gelesen, und im 20. Jahrhundert waren die Begriffe des ›objektiven Geistes‹ oder der ›objektiven und materiellen Kultur‹, wie man dafür auch sagte, schon so selbständig geworden, daß man nach der Ursprungsbedeutung gar nicht mehr fragte. Jedenfalls geht dieser Begriff des ›objektiven Geistes‹ auf Moritz Lazarus zurück – ausdrücklich bezeichnet als ›zweite | Natur‹, 191 zwar ohne einen direkten zitierenden Verweis auf Cicero, aber mit um so deutlicherer Betonung der Unterschiede gegenüber Hegels Trias von subjektivem, objektivem und absolutem Geist, 192 denn damit hat diese Tradition wenig gemein. 193 Lazarus’ Begriff des ›objektiven Geistes‹ – und daran wird dessen genaue Cicero-Kenntnis erkennbar – meinte die ›Objektivationen‹ des ganzen »Systems von Anschauungen, Vorstellungen, Begriffen und Ideen«: »In Büchern und Schriften aller Art, in Bau- und anderen Denkmälern, in Kunstwerken und den Erzeugnissen des Gewerbefleißes, in den Werkzeugen (und in den Werkzeugen zur Erzeugung der Werkzeuge), in den Verkehrsmitteln zu Lande und zu Wasser, auch in den Vorkehrungen des Handels sammt der Erstellung allgemeiner Aufl. Berlin 1928 (zuerst 1923). S. 33: »Treten wir der Welt des objektiven Geistes gegenüber, so sehen wir eine Fülle heterogener Wirklichkeiten: Sprachen, Schrifttümer, Staaten, Bauformen, Kirchen, Sitten, Künste und Systeme der Wissenschaft«. 187 Gehlen] mit grünem Textmarker hervorgehoben 188 Tiere die ›Umwelt‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 189 Menschen die ›zweite Natur‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben 190 stehe.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Aufl. Wiesbaden 1986 (zuerst 1940). S. 80; vgl. 382. Danach 2 S. gestr., die Streichung ist für die vorliegende Edition zurückgenommen. 191 Natur‹] folgt Fußnotenzeichen und -text: Lazarus a. a. O. S. 52, 56 f. 192 Geist,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Der ›objektive‹ (Recht, Moralität, Sittlichkeit) und der ›absolute‹ Geist (Kunst, Religion, Philosophie) gehören gleicherweise unter das, was diese Tradition unter ›objektivem Geist‹ versteht. 193 gemein.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Bemerkungen zum Begriff des ›objektiven Geistes‹ bei Hegel, Lazarus und Dilthey. In: Reports on Philosophy 9/1985. S. 49–62; 49 ff.

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Tauschmittel, in den Waffen und Kriegsgeräthen, in Spiel- und Kunstwerkzeugen, kurz in der Herstellung von allen körperlichen Dingen zum realen oder symbolischen Gebrauch findet der objective Geist eines Volkes seinen bleibenden Ausdruck«. 194 Sie sehen, das ist fast eine Paraphrase von Ciceros Lob der Hand – und diese ›Verkörperungen‹, ›Objektivationen des Geistes‹ resp. ›Manifestationen des Lebens‹, wie Dilthey sie bezeichnet, 195 wurde in ihrem Neben- oder in ihrem Nacheinander zum Gegenstand vielfältiger Wissenschaften: in der Völkerpsychologie, Volkskunde, Ethnologie, Soziologie, als ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ oder in der Kulturgeschichtsschreibung – je nachdem mehr mit Blick auf die ›materielle Kultur‹ oder mehr auf die ›geistigen‹ oder ›sozialen | Formen‹, die jene zustandebringen. Sie wissen, daß all diese Wissenschaften erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind, resp. sich als eigene Wissenschaften zum Teil erst in diesem Jahrhundert etablieren konnten, und sie weisen die Gemeinsamkeit auf, das Alltägliche, und das bis dato trivial erscheinende erstmals zu Gegenständen wissenschaftlicher Betrachtung zu machen. Diese Wissenschaften faßt man heute unter dem Namen ›Kulturwissenschaften‹ zusammen – und es ist jetzt nicht mehr verwunderlich, daß der erste, der diesen Begriff gebraucht hat, eben derselbe Moritz Lazarus war: »Es kann auffällig erscheinen, daß immer nur von der ›Cultur-Geschichte‹, selbst da die Rede ist, wo es sich nicht um eine Wandelung, sondern um eine bloße Beschreibung gewisser Culturerscheinungen handelt« schrieb Lazarus schon 1860, und er führte dies auf darauf zurück, daß »man von dem Gedanken durchdrungen [sei], wie sehr alle Elemente und Erscheinungen der Cultur ein durchaus und wesentlich historisch Gewordenes sind. In der That aber muß es neben der Geschichte der Cultur … auch eine eigentliche Cultur-Wissenschaft geben«. 196 Und diese, die sogenannte »Völkerpsychologie« oder »Sozialpsychologie« sollte »den Formen und Sitten der Gesellschaft« nachgehen und sie sollte all das geAusdruck«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Lazarus a. a. O. S. 44 u. 45. bezeichnet,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 7. unv. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1979. S. 146 u. passim. 196 geben …«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Moritz Lazarus: Geographie und Psychologie. Auf Anlaß von K. Andree, Geographische Wanderungen. Dresden 1859. In: Z[eitschrift für] V[ölkerpsychologie und] S[prachwissenschaft] 1/1860. S. 212– 221, insbes. S. 214 f. 194 195

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schichtlich Gewachsene, Dinge wie Alltagsphänomene aller Art, – den ›objektiven Geist‹ als Resultat der Arbeit der Weltgeschichte auffassen und auf seine Gegenwartsbedeutung hin analysieren. VII. Wir haben damit zwei grundsätzlich verschiedene Kulturbegriffe: den aufklärerisch-idealistischen einer höheren Bildung und Geistesbildung, der all das umfassen will, was Philosophie, die Künste, Literatur, bildende und darstellende Kunst, Musik für die Bildung des Menschen bereitstellen. Dieser Begriff geht auf Ciceros Wort und Begriffsprägung cultura animi, Pflege des | Geistes, Geisteskultur zurück. 197 Und dieser Begriff ist es, von dem aus allein eine Einheit der K[ultur] behauptet werden kann. 198 Wir haben zweitens einen Begriff von der ›zweiten Natur‹, ›natura altera‹, jenem von Menschen geschaffenen Bereich, die Lebenswelt und Lebensformen des Menschen – die sie auffaßt als ein Resultat seiner Arbeit, von Handarbeit und Werkzeuggebrauch, und dabei diese Lebenswelt immer auch ansieht als ›Objektivierung des menschlichen Geistes‹. Diese Auffassung und dieser Begriffssinn stammt ebenfalls ursprünglich von Cicero, ist aber erst 1860 von Moritz Lazarus als der eigentliche Gegenstand der ›Kulturwissenschaft‹ erkannt und bestimmt worden: Dieser Begriff von K[ultur], K[ultur] als technischer, wiss[enschaftlicher] K[ultur] u[nd] Sachkultur ist erkennbar nicht national zu fassen, sondern will die Bedingungen des (modernen) Lebens insges[amt] auf den Begriff bringen: Lebenswelt und Lebensformen, alles was zur Natur des Menschen wurde. 199 | zurück.] am Rd.: Illusion der Aufklärung + des 19. Jahrhunderts kein Fortschritt kann.] danach folgt: Fortschritt der K[ultur] meinte im 19. Jahrhundert vor allem einen nationalen Fortschritt, und mit dem Verlust des Fortschrittsglaubens und der Einheit der Nationalkultur um die Jahrhundertwende bricht ab 199 Dieser … wurde.] hs. am Rd. statt gestr.: ›Objektiver Geist‹ meint dabei zum einen alles, was als materielle Kultur oder Sachkultur bezeichnet werden kann – zum anderen aber auch alle institutionellen und sozialen Formen, die die Lebensweise des Menschen bestimmen: Sitte und Recht, Religion, Mentalitäten und Wertvorstellungen, sie umfassen einen eigenen, einen dritten Gebrauch des Begriffes ›Kultur‹, der später dann vor allem zum Gegenstand der ›Soziologie‹ geworden ist. Zum Beispiel bei Georg Simmel, dem wichtigsten Schüler von eben jenem heute völlig zu unrecht vergessenen Juden Moritz Lazarus. ›Kultur‹ ist als Wort zwar ursprünglich von der Bebauung des Ackers hergeleitet, und in dieser Form tritt der Begriff allenthalben noch dort auf, wo von Agrikultur, von Kultivierung die Rede ist. Kultur im wissenschaftlichen modernen Sinne aber ist entweder Geistesbildung ›cultura animi‹, oder Lebenswelt im Sinne der ›natura altera‹, der zweiten oder sie ist Lebensweise resp. ›cultus vitae‹, wie man mit Cicero sagen könnte. [Folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Mar197 198

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Damit komme ich zum Schluß: X. ›Einheit und Fragmentierung der Kultur‹ – dieser Titel und diese Formel bezeichnet an sich genau die parallel ablaufenden Differenzierungsprozesse, die die Moderne charakterisieren: Differenzierung der Geistesbildung in mindestens ›drei Kulturen‹ 200, aber doch weit darüber hinausgehend durchaus auch eine viel weitergehende Fragmentierung insofern, als einheitliche Standards und ein auch nur minimaler Bildungskanon heute nicht mehr vorausgesetzt werden können. Die ›Einheit‹ der klassischen Bildung ist ebenso dahin wie wohl auch die ästhetisch-historische Bildung der Klassik der deutschen Philosophie und Literatur. ›Kultur‹ in diesem Sinne kann nur noch als »Restposten« und nur noch in den cus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes. Lateinischdeutsch. Mit ausf[ührlichen] Anm. hg. v. Olof Gigon. 6., durchges[ehene] Aufl. München/Zürich 1992. 1,62. S. 60–61: »Alle diese waren große Menschen, … die die Feldfrüchte, die Kleidung, die Behausungen, die Lebensformen [cultus vitae] und den Schutz gegen die wilden Tiere entdeckten und die uns zähmten und erzogen und von den bloß notwendigen Künsten zu den kultivierteren führten.« – Verf[asser]: Der junge Simmel i[n] V[orbereitung] Kap. III.6.] Weiter gestr.: IX. Diese Verschiedenheit der Lebensweisen aber stellt eine Folge oder ein Kennzeichen des spezifisch modernen Lebens dar – ein Resultat der Differenzierung der Bildungen und Ausbildungen, die Berufe und der Wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung. Dieser Begriff von Kultur als cultus vitae und Lebensweise stellt daher den sozusagen jüngsten Begriffssinn dar. Zwar staunte schon Cicero darüber »Wie sehr sich die Menschen in ihren Bemühungen, ihren Sitten und ihrer ganzen Lebensweise unterscheiden«, [Fußnote: Hortensius Nr. 71] – aber diese Unterschiede wurden erst in dem Moment eigens zum Thema wissenschaftlicher Bearbeitung gemacht, als die vielfältigsten Folgen der sozialen Differenzierung handgreiflich vor Augen standen und dem Begriff der ›Kultur‹ einen inflationären Gebrauch bescherten, um die Jahrhundertwende. Es war eben die Zeit, wo ein wahrer Kultus um die Kultur der Individuen getrieben wurde, – in ästhetischer Wohn-, Eß- oder Freikörperkultur, als eben auch jene ›Institute für Schönheitskultur‹ gegründet wurden, die sich umfassend z. B. der Nagelpflege hingaben. [Fußnote: Vgl. Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. 30., umgearb[eitete] u. verm[ehrte] Aufl. 47.–57. Tsd. Leipzig 1922. S. 200. – Engel war ein gemäßigter Purist, denn, vgl. z. B. S. 259: »Kultur ist keins der schlechtesten und überflüssigsten Fremdwörter; aber ich hoffe, meine Leser haben den Ersatz: Sitten(geschichte), Bildung und Bildungsvölker oder Geistes(entwicklung) in diesem Buche ohne Weiteres verstanden und gebilligt.«] Da wurde der Begriff ›Kultur‹ mit allerhand Sinn und Unsinn aufgeladen und wohl auch mißbraucht, – zu einem Modewort, [Fußnote: Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zürich 1980 (zuerst 1910–11). Bd. 2 S. 38–43, der eine sehr nachdenkenswerte Polemik bietet.] aber auch zu einer Beschreibungsformel mit soziologischem Sinn, denn alle diese Phänomene deuteten darauf hin, daß eine Pluralität der Lebensstile sich zu etablieren begann, daß verschiedene ›Lebensarten‹ und besondere Lebensstile von Individuen oder Gruppen, z. B. Subkulturen, sich in dieser Weise artikulierten. 200 Differenzierung … Kulturen‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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Geisteswissenschaften überleben, Geistesbildung ist völlig zur Sache jedes Einzelnen geworden, bezeichnet aber keinerlei verbindlichen Bildungskanon, keine Transzendenz … ist kein Mittel zum Zweck geschichtlichen Fortschritts. 201 Analoges gilt für die soziale Differenzierung, denn auch ›Kultur‹ als Lebenswelt und Lebensweise verstanden, kennt keinerlei ›Einheit der Kultur‹ mehr: Sitten, Wertvorstellungen, Religion und Recht unterliegen einerseits ständigem Wandel und andererseits haben sie jede Art von Einheitlichkeit, die noch im 19. Jahrhundert mehr oder minder bestanden hatte, verloren. So wenig wie es in bezug auf die Geistesbildung einheitliche Standards gibt, die eine Homogenität und Integration der ›Gebildeten‹ bewirken könnte, so wenig kann auch von einer integrierenden Wirkung der tradierten sittlichen und religiösen Wertvorstellungen die Rede sein. Die Verschiedenheit der Lebensweisen und der Individualismus 202 scheinen allgegenwärtig sichtbar zu sein. Aber das bedeutet nicht unbedingt, daß auch die Wertvorstellungen der Menschen in gleichem Maße differieren oder gar auseinanderdriften, wie es manchmal den Anschein hat. Vielmehr spricht vieles dafür, daß die behauptete ›Einheitlichkeit‹ des 19. Jahrhunderts in bezug | auf Moral und Religion, aber ebenso auch in dem auf Bildung und Rechtsvorstellungen eine optische Täuschung 203 darstellt. Denn wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, ›Übereinstimmung‹ und ›Homogenität‹ einer Gesellschaft zu überprüfen, dann wohl doch nur die, daß ein bestimmter Grad von sozialer Integration in ihr verwirklicht ist. Ich kann nicht sehen, daß die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts, daß der Kulturkampf der 1870er Jahre als man in Preußen katholische Bischöfe und Priester einsperrte, daß dies ein höhere Integration als die heute verwirklichte sein sollte. Gewiß, innerhalb der Führungsschicht, innerhalb der Gebildeten mochte eine weitaus größere Homogenität bestanden haben – aber das bedeutet in bezug auf die Gesamtgesellschaft und die ›Kultur‹ zunächst eben nicht sehr viel. Nein, ›Einheit der Kultur‹ oder Nationalkultur, wenn denn überhaupt je ein annähernd treffender Sinn mit diesen Begriffen verbunden werden konnte, bezeichnet nur und ausschließlich all die Verluste an Glaubwürdigkeit und normativer Kraft, die die traditionellen mo201 202 203

kein … Fortschritts.] mit grünem Textmarker hervorgehoben Individualismus] mit grünem Textmarker hervorgehoben eine … Täuschung] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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ralischen, ästhetischen, religiösen und sozialen Wertvorstellungen und die Eliten, die diese propagierten, seit dem 19. Jahrhundert erlitten haben. Die Geltung dieser oder ähnlicher Wertvorstellungen wiederherstellen zu wollen, eine einheitliche Nationalkultur oder eine sonstwie geartete ›Einheit der Kultur‹ wiedererrichten zu wollen, das haben die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts versucht und sind damit gescheitert. Und dies letztlich wohl immer an den Erfordernissen der natura altera, der modernen Lebenswelt und deren Eigendynamik. Denn Wirtschaft, Industrie und Technik sind von einer solchen Dynamik und widerstreben jeder Restauration vormoderner normativer Werte und überhaupt jedem Versuch, Werte gleichsam künstlich erzeugen zu wollen, so sehr, daß man gerade von dieser Sphäre der ›Kultur‹ sagen muß, sie ist das eigentlich dynamische Element und der Motor, von dem die Veränderungen im Bereich der Bildung und der Lebensweisen ausgegangen sind, – und noch fortwährend ausgehen. Der spezifisch modernen Lebenswelt, der natura altera – wo sie am sichtbarsten ist – will ich mich das nächste Mal zuwenden: der Großstadt. Für diejenigen, die’s vorweg lesen wollen, sei Georg Simmels »Die Großstädte und das Geistesleben« bestens empfohlen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 204

204 Der … Aufmerksamkeit.] statt gestr.: XI. Ich glaube, daß wenn man diese drei Bereiche, in die sich der Kulturbegriff gliedert, im Auge behält und sich anschaut, wie die Wandlungen der Bildung, der Lebensweise und der Lebenswelt sich vollziehen, dann hat das ›Institut für Kulturwissenschaften‹ [an der Universität Leipzig] einen wichtigen, aber auch sehr anspruchsvollen Arbeitsplan. Philosophie, Soziologie und Geschichte der Kultur der Moderne wäre dann der Kern und das gemeinsame Band, das die drei wissenschaftlichen Arbeitsbereiche zusammenhält. Ich habe mir – und Ihnen – diese Vielfalt einmal in eine Ordnung zu bringen versucht und bitte Sie dieses Blatt [liegt nicht bei] als eine Anregung zum Gespräch zu verstehen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Am Rd.: 6. 5. 98 ca. 70 [Hörer] 1715–1810

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[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 5. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98] 5. Vorlesung 205 I. Beim letzten Mal habe ich die Geschichte des Begriffs ›Kultur‹ versucht, auf die einfache Formel zu bringen: der moderne Kulturbegriff – sei der Ausdruck der modernen Kultur. Das sollte heißen, daß der Kulturbegriff, sofern er auch die Kulturgüter umfaßt, neueren Ursprungs ist, wie Walter Benjamin völlig zu Recht vermutet hat, 206 Ausdruck des spezifischen Kulturverständnisses der Moderne ist: Denn wir haben gesehen, daß Lazarus in seinen Begriff des ›objektiven Geistes‹ auch alle materiellen Objektivationen des Geistes und der Arbeit aufgenommen hat – und daß der Begriff des ›objektiven Geistes‹ also genau all das umfaßt, was der moderne, rein deskriptive Begriff von Kultur bedeutet. Lazarus spricht diesen Begriff von Kultur so zwar noch nicht explizit aus, – das wird erst Georg Simmel tun, der dann ›objektiven Geist‹ und ›objektive Kultur‹ synonym verwenden wird, – aber der Sache nach hat Moritz Lazarus dem Begriff der Kultur den Sinn verliehen, alles zu meinen und zu umfassen, was – wie er dann auch an einer Stelle sagt: die ›Cultur des Zeitalters‹ ausmacht. Also all das – was, mit Cicero gesagt – zur ›zweiten Natur‹ gehört: nämlich sowohl die ›Lebenswelt‹ oder ›Umwelt‹ im materiellen oder instrumentellen Sinne, die gesamte vom Menschen gestaltete gegenständliche Welt – wie zweitens auch in dem Sinn einer ›zweiten Natur‹ des Menschen, die seine gesamte Lebensweise ebenfalls durch den ›objektiven Geist‹ bestimmt sein läßt: | durch Sprache, Religion und Sitten, Rechtsver205 Davor eingelegter Text zum großen Teil übereinstimmend mit der 3. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98; siehe dort. Hier wegen mangelnder thematischer Passung für die vorliegende Edition nicht wiedergegeben. Am Kopf des ersten Bl. Notiz: 4. 11. Sitzung Bibliothekskommission sowie die Ziffernfolge 01019. Auf der Rückseite des letzten Bl. nicht zugehörige schematische Stoffsammlung zu den Begriffen Globalisierung und Transnationalisierung. – Die hier wiedergegebene 5. Vorlesung liegt in zwei korrigierten und überarbeiteten Computerausdrucken vor. Die Edition folgt der der Reihenfolge der Ablage nach ersten, allem Anschein nach (Zustand des Papiers etc.) älteren, intensiver überarbeiteten Fassung, ergänzt um die wenigen signifikanten hs. Änderungen der zweiten Fassung. Diese Ergänzungen sind stets gekennzeichnet. 206 neueren Ursprungs … vermutet hat,] am Rd.: verliert soziale Exklusivität!

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hältnisse und Institutionen, wie auch durch habituell gewordene Verhaltensweisen, die das Leben in der Gesellschaft mit sich bringt, dadurch hat der sozusagen ursprüngliche, ›natürliche‹ Mensch ein zweites, neues Wesen, – eine ›zweite Natur‹ – erworben, die es freilich noch näher zu betrachten gilt. Davon später. Wenn man also einen Urheber des modernen Kulturbegriffs benennen will, kann man sagen: Moritz Lazarus sei dieser Urheber gewesen. Aber man muß dann doch hinzusetzen, daß er sich dennoch einreiht in eine Entwicklungslinie und Geschichte, die von Panaitios, und zumal dessen Enkelschüler Cicero ausgeht – und über Herder zu 207 Lazarus’ ›Völkerpsychologie‹ verläuft – hin zur modernen Kulturphilosophie und den verschiedensten Nachfolgetheorien über den ›objektiven Geist‹. Ich betone dies eigens – und natürlich nicht, weil ich etwa Lazarus’ Leistung schmälern wollte – das werden Sie mir glauben. Nein, nur einfach deshalb, weil solche Urheberschaften selten – oder eigentlich nie – in diesem Sinne als Leistung eines Einzelnen angesehen werden können. Vielmehr müßte man das Ganze, diese sog. »Entwicklung« 208, geradezu umgekehrt lesen und zu verstehen suchen; z. B. so: Wir, Sie und ich, beschäftigen uns mit der modernen Kulturphilosophie, weil – weil Sie Kulturwissenschaften studieren. Und Sie studieren damit ein – als solches neues – Fach, ein Fach, das i. w. S. veränderten historischen Bedingungen Rechnung zu tragen sucht, sichtbar insbesondere in Form eines neuartigen Anforderungsprofils des Berufslebens, das eine 209 nicht mehr so sehr fachspezifische, als vielmehr breitere Ausbildung im Bereich der Kenntnisse von der ›Kultur‹ verlangt. Was immer damit denn gemeint sein mag. – Und da kommt nun sozusagen meine Chance: als einer, der sich lange bevor dieses neue Fach existierte, mit diesem Thema befaßte – lehre ich deshalb jetzt eben hier. Aber nicht nur das: weil jetzt ein allgemeinerer Trend u. a. dahin geht, ›Kulturphilosophie‹ zu betreiben, weil man sich wieder für ›Kultur‹ in ihrer Gesamtheit interessiert, nachdem in der Philosophie 207 208 209

Herder zu] hs. im 2. Ausdruck eingefügt diese sog. »Entwicklung«] hs. im 2. Ausdruck eingefügt Berufsleben, das eine] Berufsleben, eine

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jahrzehntelang erst ›die Gesellschaft‹, und dann mit ähnlicher Einseitigkeit ›die Ethik‹ die philosophische Szene dominieren, – weil man sich wieder für die Kultur interessiert, deshalb macht ein Graben in der Vorgeschichte und nach den eigenen Vorläufern der Kulturphilosophie überhaupt erst einen Sinn. – Was man nun freilich noch weitergehend aufgliedern kann: Georg Simmel und Ernst Cassirer beispielsweise erleben seit einem Jahrzehnt eine sogenannte ›Renaissance‹, eine Wiedergeburt, weil eben der Trend zur ›Kultur‹ ging. Sie werden nicht mehr, wie die Jahrzehnte zuvor, als ›tote Hunde‹ angesehen, sondern stehen neuerdings ganz hoch im Kurs. Dies u. a. auch bei Verlegern, und so gibt es Neuausgaben, Gesamtausgaben – aber auch Tagungen und Zeitungsartikel werden ihnen gewidmet usw. Erst im Zuge dieser Publikations- und Herausgebertätigkeiten | und der wissenschaftlichen Erforschung kommt es dann zu weiteren Ausgrabungen: wer war denn eigentlich der Lehrer von …? – woher haben denn diese sogenannten ›Wiedergeborenen‹ ihre Ideen? und ähnliche andere Fragen stellen sich jetzt. Das führt dann hochgerechnet zu einem veränderten Blick auf die Geschichte der Philosophie und Wissenschaften – und hier also mit einem Male dazu, daß nicht mehr nur kritische Gesellschaftstheoretiker oder Ethiker der Vergangenheit Interesse finden, sondern nun auch alle früheren ›Kulturphilosophen‹. So kommt man z. B. auf Moritz Lazarus, den an sich kein Mensch mehr kennt – und den auch niemand kennen – und kaum ein Verlag drucken – wollte. Nun aber ist, resp. wird das anders: wir interessieren uns für Kulturphilosophie und den Kulturbegriff. Und überhaupt, wir müssen dieses neue Universitätsfach erst hervorbringen, – d. h. wir können nicht, wie andere Fächer, auf einen altehrwürdigen, abgesicherten Kanon von Klassikern und ebenso klassische Lehrbücher zurückgreifen. Neusichtung der gesamten Geschichte ist deshalb angesagt. Das heißt auch, wir verfolgen Probleme zurück – ich die Entwicklung beispielsweise des Begriffs Kultur und wir stoßen da schließlich auf Cicero, Panaitios, Stoizismus und Pantheismus. Also: die Entwicklung hat eigentlich nicht – wie man glauben könnte – von Panaitios bis zur heutigen Kulturwissenschaft geführt – sondern umgekehrt: weil wir Kulturwissenschaften treiben wollen 84 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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– gehen wir auf diese Quellen zurück. Weil wir Kulturwissenschaften | treiben wollen, in einem neuen, nicht-fachspezifischen Sinn, wie dies die traditionellen Geisteswissenschaften tun – weil wir ›Kulturwissenschaften‹ in mehr generalistischer Weise treiben wollen, deshalb wird die ganze Vorgeschichte unseres Tuns mit einem Male interessant. Vielleicht befremden Sie diese Ausführungen etwas. Aber es stellt eine ebenso naive wie weitverbreitete Meinung dar, daß Geschichte nur einfach das sei, was gewesen ist, etwas, was von sich aus vorwärtsgeht, sozusagen immer weiter wächst und immer einen neuen Jahresring ansetzt – und dicker und breiter wird und auslädt – Geschichte in diesem Sinne wäre dann ein bloßes Mehr und Meer 210 an Vergangenem, Aufgehäuftes aus beliebig Vermehrbarem – im Sinne des tatsächlichen Geschehens, das deshalb noch längst nicht in unser Bewußtsein eingeht, jedenfalls nicht darin in allen Einzelheiten aufbehalten wird. Nein, Geschichte – als auch erinnerte Geschichte – entsteht im Grunde genommen dadurch, daß uns, die heutigen Historiker und Zeitgenossen, etwas Bestimmtes interessiert, und wir daraufhin die Vergangenheit durchsuchen und neu anschauen, um diejenigen speziellen Tatsachen aufzufinden, die gleichsam aufs Heute hinzudeuten scheinen – was uns bis in die Antike zurückführte, während in andrer Richtung – von der Antike bis zur Gegenwart – durchaus kein gradliniger Weg führt, jedenfalls keiner, der ununterbrochen und als solcher überhaupt nur beobachtbar wäre. Man kann dafür auch sagen: ›Geschichte ist eigentlich immer | die Vorgeschichte eines Gegenwartsinteresses‹. Zumindest aber jene unreflektierte Geschichtsschreibung verhält sich so. Und unser Gegenwartsinteresse macht es möglich, diese Sprünge in die Zeit der Jahrhundertwende und zu Lazarus, von da zu Herder und zu Cicero zu vollführen. – Eine ›Entwicklung‹ jedoch, im Sinne eines ›Auswickelns‹ von etwas in der Antike sozusagen einmal ›eingepackt‹ und eingewickelt 211 wordenen, liegt hier und auch sonst gewiß nicht vor. Vielmehr ist es umgekehrt so, daß wir die Vorgeschichte unserer heutigen Studien regelrecht ›erzeugen‹ müssen. –

210 211

und Meer] hs. im 2. Ausdruck eingefügt und eingewickelt] hs. im 2. Ausdruck eingefügt

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II. Ich weise darauf eigens und nachdrücklich hin, weil diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zumal auch das eigene Tun, die ›Kulturwissenschaften‹, betreffen sollte, – ebenso, wie selbstverständlich auch all das, was in dieser Vorlesung zum Thema gemacht wird: d. h. warum und wie die wissenschaftlichen Gegenstände konstitutiert werden, und wie es also dazu kommt, daß wir uns unter einem sehr bestimmten Blickwinkel mit der Geistesgeschichte, genauer gesagt: mit der ›Geschichte‹ dieses speziellen ›Gegenwartsinteresses‹ beschäftigen. Mit Hinblick darauf hatte ich in der letzten Vorlesung die Vermutung ausgesprochen, daß es eine spezifische Lebensweise und eine ganz spezifische Stellung zu Welt und Dingen sei, die dafür verantwortlich sein könnte, daß wir die Wirklichkeit unter dem Blickwinkel ›Kultur‹ – und nicht etwa mehr unter dem der ›Gesellschaft‹ und ›Politik‹ oder auch der ›ethischen Probleme der Gegenwart‹ wahrnehmen. Nicht, daß ich Ihnen oder mir damit absprechen will, auch diese | Dimensionen zu beachten und vielleicht sogar sehr intensiv in solchen Fragen zu stecken. Nein, ich meine eigentlich nur den deutlich erkennbaren allgemeinen Boom, – die Tatsache also, daß weitverbreitet das Thema ›Kultur‹ die Menschen beschäftigt – und dies vielleicht tatsächlich weil – wie ich beim letzten Mal die Vermutung aussprach: heute die Menschen in allem Alltäglichen und Erlebbaren das Bedeutsame und das allein Wertvolle sehen und suchen: weil sie in Konsumgütern, Vergnügungen und sozialen Einrichtungen, in der ›Kultur‹ ihre Wertvorstellungen verwirklicht finden – weil diese Werte in hohem Maße das ganze Gegenwartsleben – das Leben in der Moderne bestimmen, deshalb hat »Kultur« wieder Konjunktur. 212 Das heißt: die von Benjamin bereits beobachtete 213 Erweiterung des Kulturbegriffes auch auf die Kulturgüter wäre ein, und durchaus prägnanter, Ausdruck eines völlig veränderten Wertbewußtseins – ein Ausdruck der Kultur der Moderne also. Charakterisierbar ist die Kultur der Moderne vielleicht als ein neuer ›Stoizismus‹, oder vielleicht auch als ›Hedonismus‹, jedenfalls ein Streben nach innerweltlich erlebbarer Glückseligkeit – statt daß etwa transzendente oder überindividuell-weltliche Zielsetzungen die Kultur und die Menschen bestimmten: nicht religiöse Implikationen 212 213

deshalb … Konjunktur.] hs. im 2. Ausdruck eingefügt von … beobachtete] hs. im 2. Ausdruck eingefügt

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und Interessen, nicht politisch-gesellschaftliches Engagement bestimmen den modernen, rein deskriptiven Kulturbegriff – sondern ein überaus diesseitiges Interesse an der erlebbaren Welt: »Das ist die Seinslage der Menschen heute« schrieb aber bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal: die Menschen »sind in das Elend ihrer Blindheit und ihrer Gelüste gesenkt, das ihre zweite Natur geworden ist«. – Die Menschen sind ganz ihren sinnlichen | Gelüsten ergeben, – sie sind, seit sie das Paradies verlassen haben, ihres guten Kerns und ihrer ersten, eigentlichen Natur verlustig gegangen: durch den Sündenfall – und dieser Sündenfall wiederholt sich in jedem Tun, das nicht der Vernunft entspringt und also nicht dem Glanz Gottes dient. 214 Was hier ein religiöser Denker wie Pascal als Verderbtheit seiner Zeitgenossen beklagt und unter ›zweiter Natur‹ abbucht: die Diesseitigkeit, ja gewissermaßen Tierähnlichkeit des Menschen, insofern er vor allem nach Befriedigung seiner sinnlichen Gelüste strebt und keine transzendenten Ziele zu haben scheint, – macht auf die reine Formalität des Begriffs einer zweiten Natur aufmerksam: je nachdem, wie man den Menschen als ursprünglich gewesenen ansieht, wie man also seine ›erste Natur‹ beurteilt: - unschuldig im Paradies im Christentum – - unschuldig, im Zustande der Natur auch bei Rousseau – auch darüber entscheidet, wie man seine ›zweite Natur‹ beurteilt: - als Ausdruck von Verderbtheit – oder aber: - als Errungenschaft ständiger Höherentwicklung in der und durch die Kultur. Bei Lazarus liegt der Fall klar, weil er im Gegensatz zu z. B. Pascal den natürlichen Zustand als den einer Tierheit auffaßt, aus der sich der Mensch emporgearbeitet hat: und zwar in menschlicher Gesellschaft, immer als Teil der Gesamtheit, hat der Mensch es vermocht, sich zu zivilisieren, sich eine Lebenswelt und Lebensweise zu schaffen, die ihm das Leben verbessert und erleichtert. ›Zweite Natur‹ ist hier eindeutig positiv gemeint, und wird verstanden als Resultat eines langen Prozesses der Arbeit und der Kultivierung der ursprünglich tierähnlichen ersten Natur. | Nur so – und nur deshalb kann Lazarus Kultur als Positivum auffassen, weil er den Weg der Entwicklung der Menschheit im Gan-

214

dient.] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 193 f. Hs. am Rd.: Ruhm und Ehre

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zen als eine Kultivierung begreift – und nur so kann überhaupt ein positiver Begriff – von Kultur einen Sinn machen: ›Cultur des Zeitalters‹ heißt dieser Begriff – und dieser Begriff meint einen ständigen Fortschrittsprozeß, in dem die Menschheit sich entwickelt habe – und in der sich die Menschheit weiterentwickeln werde. ›Zweite Natur‹, ›objektiver Geist‹ und der moderne Kulturbegriff – wie Lazarus diese Begriffe verwendet, beinhalten also den Fortschrittsoptimismus, gleichsam den Optimismus des ›Leibniz‹, ›in der besten aller Welten zu leben‹, – dies zumindest auf längere Sicht hin. – Diese Einstellung nun aber bleibt nicht folgenlos, sondern gibt zugleich der Welt, den Dingen und Menschen, ihren Wert und ihre Sinnhaftigkeit, und das macht es erst möglich, sich mit all diesem Guten und Nützlichen dieser Welt zu beschäftigen; mit dem objektiven Geist. Nicht all die Übel und alltäglichen Mißlichkeiten, nicht das moralische Versagen von Staaten und Individuen, nicht die extremen existentiellen Situationen – nicht Krankheit und Tod, nicht Furcht und Angst, nicht die Gewalttaten der Geschichte und Gegenwart – und auch nicht die früheren Kämpfe der jeweiligen Gegenwart werden hiermit zum Thema, sondern letztlich genau dasjenige 215 Leben, das bereits die stoischen Philosophen zu leben, jedenfalls aber zu loben verstanden: eins, ohne große Leidenschaften und ohne große Ängste und Hoffnungen, ganz diesseitig und sozusagen behaglich, ein ›gutes Leben‹ und ein angenehmes – so lange es eben dauert. ›Gesellschaft‹, ›Politik‹, ›ethische Probleme der Gegenwart‹ – zudem all das, was die Existenz des einzelnen Menschen bedroht | und vernichten kann und tatsächlich immer gefährdet – all das wird hier gar nicht erst thematisch – es bleibt in der Ferne. – Und allenfalls einmal in mildes Licht gehüllt, erkennt man doch den einen oder anderen weniger freundlichen Zug dieser Wirklichkeit: Kultur wird also auf eine sehr spezielle Weise als sinnhaft erlebt und genossen – und ist deshalb umgekehrt zugleich auch ein sehr prägnanter Ausdruck für eine ganz bestimmte Lebensweise: man mag sie Wohlstands- oder Freizeitgesellschaft nennen, darauf kommt es nicht an – entscheidend ist, daß die Lebensweise rein innerweltlich und gänzlich individuell ihre Wertbezüge herstellt, daß also keinerlei Transzen-

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letztlich … dasjenige] hs. im 2. Ausdruck eingefügt

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denz diese Glückseligkeit zu stören vermag. – So jedenfalls könnte man vermuten. III. Damit komme ich zum eigentlichen Thema der heutigen Vorlesung: zum Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist – zu § 14: »Der subjective und objective Geist« und hier ist klar, daß es um das Problem der Aneignung des ›objektiven Geistes‹ durch den ›subjektiven Geist‹ geht, – oder, wie Lazarus bereits im Inhaltsverzeichnis zum Aufsatz über die ›Verdichtung‹ als Anweisung ausspricht: »Die objective, in der Cultur des Zeitalters gegebene Verdichtung ist vom Individuum zu einer subjectiven umzugestalten«. D. h. die individuelle Verdichtung, das Lernen, die zu einer ›Cultur des Individuums‹ führen soll – muß sich das, was der geschichtliche Prozeß der Verdichtung in einer bestimmten ›Cultur | des Zeitalters‹ bereitstellt, aneignen. Der ›objektive Geist‹ also muß angeeignet werden – und hier wird sofort klar, daß dies in ganz verschiedener Weise und in ganz unterschiedlichen Graden der Fall sein wird. Was bedeutet Aneignung gegenüber der Sprache und der Religion im Vergleich zu einer Aneignung gesellschaftlicher Formen, was in Bezug auf Arbeitswerkzeuge und was in dem auf materielle Güter? Lazarus hat keine Theorie der unterschiedlichen Grade und Weisen der Aneignung des ›objektiven Geistes‹ geschrieben, – er hat ›Aneignung‹ vor allem im geistigen oder ›rein geistigen‹ Sinne vor Augen – so, wenn er an dem Beispiel des Kunstwerkes zeigt, was Aneignung meint. Er sagt: »Wenn ich einen künstlerischen Gegenstand auffasse, so ist allerdings meine subjective Thätigkeit des Anschauens wesentliche Bedingung dafür, daß das Bild desselben zum Inhalt meiner Seele wird; durchaus von meiner Thätigkeit ist die Existenz des Bildgedankens in meinem Geiste abhängig; das Bild kommt nicht durch seine active Erregung in meine (passiv gedachte) Seele hinein, sondern meine, des Geistes active Thätigkeit faßt es auf. Aber der specifische Werth und Inhalt ist mir dennoch in dem Kunstwerk gegeben; ich habe den Gedanken desselben, den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an der Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv – nicht geschaffen, sondern – angeeignet.« | 89 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Ich habe mir also den Wert und Inhalt des Kunstwerkes zueigen gemacht – d. h. ich habe aktiv, durch meine subjektive Thätigkeit des Anschauens, den Gedanken oder Geist des Kunstwerks 216 in mir ›wiedererzeugt‹, ›nachgebildet‹ – was geht, weil das Kunstwerk als solches nichts Zufälliges, sondern Ausdruck objektiver Gedanken ist: nur insofern und insoweit kann ich mir das Kunstwerk – in diesem Sinne – aneignen. Aneignung bedeutet also nicht, daß ich etwas völlig Subjektives des Künstlers mir zueigen mache, sondern daß das Kunstwerk resp. der Künstler objektiven Inhalt mit seinem Kunstwerk transportiert – und das ich, weil ich dieses Objektive – nicht das bloß Subjektive! – nachbilden und wiedererzeugen kann, deshalb mir das Kunstwerk aneignen kann. Man kann dafür auch sagen – sowohl der Künstler als auch ich: wir nehmen Anteil an derselben objektiven Welt – an demselben ›objektiven Geist‹ – und weil wir beide gleicherweise an ihm teilhaben – partizipieren –, deshalb überhaupt ist eine Aneignung möglich. – Was bedeutet das? Zuerst natürlich, daß wir es hier mit einer Auffassung des Kunstwerkes zu tun haben, die das Kunstwerk als eine Art Symbol für einen Gedanken sieht – und das zudem noch für einen gleichsam ›objektiven‹ Gedanken – und daß also ein ganz anderer Kunstbegriff hier zugrundeliegt als ihn die Moderne hat. – Kunst ist Ausdruck des Allgemeinen und Objektiven – und demgegenüber ist alles Subjektive allenfalls als Beiwerk und Ranke, als etwas Überflüssiges und Qualitätsminderndes anzusehen. | Und das heißt zugleich auch, daß – indem der Künstler und ich an demselben ›objektiven Geist‹ partizipieren – keines der drei Glieder: weder Künstler, Kunstwerk noch Betrachter wirklich qualitative Subjektivität aufweisen und an sich tragen, wie Lazarus dann in den folgenden Sätzen unumwunden ausspricht: »Danach nun kann man den durchaus überwältigenden Einfluß des geistigen Zusammenlebens ermessen. Denn … diese Art nachahmender Gedanken [wie das Kunstverstehen bildet] in unserer geistigen Thätigkeit ein so großes numerisches Uebergewicht, daß als ein verschwindend kleiner Bruchtheil die Gedanken erscheinen, welche wirklich schöpferische sind, also auch nach ihrem Wert und Inhalt aus unserer subjectiven Thätigkeit hervorgehen und dann die Bereicherung des objectiven 216

Kunstwerk] statt gestr.: Künstlers

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Geistes ausmachen« – und er geht noch weiter: »Nur dies sei sogleich noch bemerkt, daß auch unsere schöpferischen Gedanken vielfach aus Elementen des nachahmenden zusammengesetzt sind und also immer wieder auf die Macht und den Einfluß des objectiven Geistes zurückweisen.« Wir werden noch sehen, was es mit dem Schöpferischen auf sich hat. Hier ist zunächst etwas ganz andres wichtig: Denn es gibt sozusagen zwei Möglichkeiten mit solchen Aussagen umzugehen: - eine intelligente – und: - eine weniger philosophische. – Zuerst die weniger philosophische: Man kann beklagen und kritisieren, daß Lazarus teils den Künstler und sein Kunstwerk in derart ohnmächtiger und subjektloser Weise darstelle, daß die | Individualität hier gänzlich verschwinde und er von Kunst und Künstlertum nicht das Mindeste verstehe. – Oder aber man sagt – und das kann man ganz allgemein tun: Jede theoretische Aussage ist letztlich eine Antwort auf eine Frage – ohne daß jedoch die Frage, die jeweils beantwortet wird, immer ausdrücklich gestellt würde. – Ich muß also zuerst die Frage ausfindig machen, denn dann erst kann ich die theoretische Aussage als Antwort verstehen – voll verstehen. 217 Zurück zu unserem Beispiel: Auf welche Frage antwortet Lazarus, wenn er erklärt: »ich habe den Gedanken … [des Kunstwerks und] den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv – nicht geschaffen, sondern – angeeignet«? Lazarus antwortet auf die Frage: wie kommt es, daß ich das Kunstwerk ›verstehe‹, daß ich es mir ›zueigen‹ machen kann, – es gut, schön oder bedeutend finden kann. Das bedeutet: Lazarus Absicht ist ja garnicht, etwas über das Schöpferische, Geniale und eine besondere, womöglich singuläre Fähigkeit eines Individuums auszusagen. Er will vielmehr darauf aufmerksam machen, in welchem Maße alle Arten von KommunikaOder … verstehen.] am Rd. markiert und Notiz: Dessau; Hinweis auf die Überarbeitung des Vorlesungsms. auf der Zugfahrt von Berlin nach Leipzig, s. u. die weiteren Stationen.

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tionsprozessen davon abhängig sind, daß ein ›geistiges Zusammenleben‹ einen ›objektiven Geist‹ herausgebildet hat, an dem | wir alle partizipieren. Nur durch die Partizipation an einem Dritten – am objektiven Geist – kommt Verstehen zustande, – kann Kommunikation gelingen und überhaupt sinnvoll stattfinden. 218 Wir verstehen ein Kunstwerk nur – und nur insoweit, jedenfalls nur insoweit richtig – wie wir und das Kunstwerk am objektiven Geist partizipieren. Das heißt: die Frage, die Lazarus sich stellte, – und die er uns beantwortete, ist die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Aneignung eines Kunstwerkes, stellvertretend für die Aneignung allen objektiven Geistes. Die Antwort: daß nur in dem Maße der Partizipation des Betrachters am Kunstwerk dieses sich offenbare und zur Aneignung offenstehe – diese Antwort kann eigentlich nicht verwundern, weil hier das Individuum gefragt ist und das Individuum in einen Kontakt ganz eigener Art zum Kunstwerk tritt. Ungewohnt ist allenfalls die von Lazarus zwischengeschobene Instanz des ›objektiven Geistes‹ : nicht das Individuum tritt sozusagen unmittelbar dem Kunstwerk gegenüber, – nein: sowohl der Künstler als auch der Betrachter partizipieren an demselben objektiven Geist – und nicht etwa der Betrachter einfach direkt am Kunstwerk – dieses vermittelte Verhältnis eben macht das Kunstwerk verstehbar und überhaupt erst zu einem Kunstwerk. D. h.: nur diese Objektivität – dieses Dritte, das der ›objektive Geist‹ darstellt – reiht den vom Künstler geschaffenen Gegenstand in die Reihe der Kunstwerke ein, – und schafft die Verbindung zum Betrachter, indem auch der Betrachter an demselben ›objektiven Geist‹ partizipiert. Nur so überhaupt ist Kunst möglich. – Indem Kunst ein Ausdruck von etwas Objektivem ist, kann der Betrachter das Kunstwerk als Kunstwerk identifizieren und ›verstehen‹. – Ein wichtiger Gedanke, wie ich glaube. – | Das Objektive muß sich freilich nicht wie bei Lazarus auf die Darstellung oder bloß allegorische Verbildlichung des Gedankens reduzieren – wie Lazarus dies ganz offenbar vor Augen hat – sondern genauso gehören – oder könnten gehören – zu diesem Objektiven der Bezug auf z. B. Sehgewohnheiten und optische Reduktionen – Empfindungen, die sich zu bestimmten Materialeigenschaften einstellen 218

Nur … stattfinden.] hs. im 2. Ausdruck eingefügt

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usw. Dann nämlich wäre die Antwort, die Lazarus auf das Verstehen eines Kunstwerk gibt, durchaus noch heute aufrechtzuerhalten – Kunst wird zur Kunst dadurch, daß sie als Kunst erkannt wird – sagt die Moderne. Was man übersetzen kann und muß, – etwa so: nur, was sich diesem Begriff und Verständnis von Kunst eingliedert, also insofern ein auch Objektives darstellt: nämlich Kunstwerk zu sein, oder auch nur sein zu wollen, – ist dann auch Kunstwerk. – Aber alles Weitere ist dann ein weites Feld. – Der Kunstcharakter des Kunstwerks – wenn er sich denn an einem Objektiven festmacht – muß also keineswegs zu einer Beschränkung auf die versprachlichte Gedankenwelt führen – wichtig ist nur der Vorgang und die Tatsache der Partizipation, mittels derer das ›Verstehen‹ des Kunstwerkes geklärt werden soll. Wenn wir also diese Aussagen von Lazarus als Antwort auf eine Frage verstehen wollen, dann kommen wir hier auf die allgemeine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zurück – hier nach den Bedingungen der Möglichkeit des geistigen Zusammenlebens im allerweitesten Sinne: indem wir alle an etwas | Objektivem partizipieren – so lautet die Antwort – kann geistiges Zusammenleben überhaupt funktionieren: Und das auf verschiedenen Ebenen: - auf der Ebene der Sprache, die als etwas Objektives jedem einzelnen Sprecher dieser Sprache gegenübersteht – ganz gleichgültig, wie vollkommen jeder Einzelne sie beherrscht – und ob er in irgend einer Weise schöpferisch an ihr mitwirken will oder kann – - auf der Ebene der Religion, die ebenfalls als etwas Objektives von den Gläubigen ausgeübt wird, gleichgültig wie sich der Einzelne zu dieser Religion auch immer stellen mag – - auf der Ebene des gesellschaftlichen Lebens, dessen Institutionen und Verkehrsformen dem Einzelnen als etwas Objektives gegenüberstehen – ganz gleich, wie der Einzelne sie beurteilen mag – - auf der Ebene auch des Gebrauchs der Maschinen und Werkzeuge, die sich ganz zweifellos als etwas Objektives dem einzelnen Benutzer gegenüberstellen. – Das alles ist ›objektiver Geist‹ und der Einzelne steht hier allenthalben einem Objektivem gegenüber, das nur so lange ›objektiver Geist‹

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ist, wie die Einzelnen ihn ausüben, gebrauchen und in Funktion erhalten. So lange, – so lange sie an ihm partizipieren. Lazarus kommt – das kann man hier m. E. sehr gut erkennen – von der Sprache und anderen Kultursphären wie der Religion und | Wissenschaft her, also von Kultursphären, in denen die Rolle, die der Einzelne einnimmt oder überhaupt einnehmen kann, tatsächlich eine außerordentlich bescheidene ist: An der Sprache kann man an sich nichts oder kaum etwas ändern: – auch die deutschen Schriftstellerverbände der Gegenwart können dies nicht. Man kann sie sich nur ›aneignen‹ – und er ist der Auftrag der ›subjektiven Geister‹, sich die Sprache, und das heißt sehr viel mehr als nur eine bestimmte Lexik, anzueignen. Denn ›Sprache‹ meint zugleich die gesamte Semantik – alle Bedeutung, die wir überhaupt denken und empfinden, – denn für Lazarus ist jedes Denken gleichbedeutend mit Sprache. – Allgemeiner sagt Lazarus – und spricht damit den Gedanken einer ausschließlich 219 passiven Partizipation aus: »Die … rein geistige Form des objectiven Geistes hat ihre Existenz in der Gesammtheit der einzelnen Geister, in deren Leben und geistigem Thun der objective Geist lebt und sich vollzieht.« »Aber dennoch sind die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes; sie erzeugen ihn nicht, sie erhalten ihn nur; ihr geistiges Thun ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Erfolg desselben.« – Das ist also ein Verhältnis tatsächlich weitestgehend bloß passiver Partizipation, ohne wirklich schöpferische Möglichkeiten für das Individuum. Und man muß zugestehen, daß jedenfalls in Bezug auf die Sprache an sich überhaupt keine solchen Möglichkeiten für das Individuum bestehen: eine halbe Million Bedeutungserklärungen enthält beispielsweise der | neue, reformierte Rechtschreibduden – vom Grimmschen Wörterbuch ganz zu schweigen – was sollte oder könnte da irgendeine individuelle Sprachschöpfung noch ausrichten? Nein, das ungeheure Übergewicht des Objektiven über das Subjektive ist in diesen Fällen leicht nachvollziehbar, – so, wenn Lazarus sagt: »Die Einzelnen … lernen ihre Thätigkeit aus dem Bestehenden und vollziehen es eben deshalb, weil es das Bestehende ist, dem sie sich nicht entziehen können; nicht aus der Kraft ihrer individuellen

219

ausschließlich] hs. im 2. Ausdruck eingefügt für gestr.: nahezu bloß

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Subjectivität wirken sie, sondern aus der Macht der Objectivität, in welcher sie entstanden sind und stehen.« Das wollen wir gelten lassen – für die Sprache und einige andere Fälle. Wir machen jetzt – etwas verspätet – wieder die obligatorische Pause. – Und nach der Pause geht’s dann weiter mit dem Problem der Individualität, dem wir uns noch näher zuwenden müssen. | Dieser zweite Teil der Vorlesung gilt also wieder dem Problem der Individualität, – aber eigentlich vor allem dem Widerstand gegen die Anerkennung von so etwas wie Individualität: Der »überwältigende Einfluß des geistigen Zusammenlebens«, d. h. die Macht des ›objektiven Geistes‹ über die Menschen, hatte ich vor zwei Wochen mit jüdischer Ethik, jüdischem Antiindividualismus in Verbindung gebracht und gesagt, daß diese Lazarussche Theoriebildung ganz entschieden mit jüdischem Ethos zu tun habe. Aber eben habe ich – vor der Pause – solche Fälle wie Sprache, Religion und Wissenschaft für gleichsam legitime Fälle eines solchen Übergewichtes des Objektiven erklärt. – Darin liegt kein Widerspruch, wie man meinen könnte: denn ich habe mit der biographischen Erklärungsweise: daß Aneignung und daß das Übergewicht des Objektiven sich aus der jüdischen Herkunft – nicht aber die Theorie als solche – erklären – nicht kausal erklären wollen, sondern nur die besonderen Veranlassungen kennzeichnen wollen, die m. E. wohl dazu beigetragen oder geführt haben mögen, daß gerade Lazarus, ein Jude, die Theorie des ›objektiven Geistes‹ begründet hat. 220 Die Theorie als solche hingegen halte ich für sehr fruchtbar, für im allgemeinen zutreffend und sozusagen richtig – und dabei ist mir dann alles Biographische und auch die Herkunft von Lazarus an sich völlig gleichgültig. Was biographisch und individuell veranlaßt oder entstanden ist, das kann sehr wohl das Richtige treffen – darin liegt nichts Widersprüchliches. | Der Widerspruch entsteht vielmehr erst dadurch und dann, wenn man das Individuelle und Biographische für eine vollständige Erklärung der Theorie hält, den dann hätte Lazarus nur etwas über

220

Darin … hat.] hs. am Rd.: Bitterfeld

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ein spezifisch jüdisches Empfinden und spezifisch jüdische Probleme ausgesagt. Das aber hat er nicht, sondern er hat – auch das habe ich bereits angedeutet – als Jude durch die ganz intensiv erlebte Erfahrung der kulturellen Differenzen ein feines und feineres Gespür als andere dafür gehabt, was alles eine Kultur, – was eine Sprache eigentlich alles ausmacht – und er hat so eine weitaus größere Prägekraft in allem Kulturellen erkennen können, als andere dies getan haben. Und das ist der ganze Sinn meines Rückgriffes aufs Biographische. Die Individualität bezeichnet so gleichsam nur den Ort des Geschehens – nicht aber wird so eine Erklärung des Geschehens angestrebt oder gar geboten. – Und nur dieser Ort hieß Lazarus. – Und wenn also Lazarus sagt: »Der Mensch, der in irgend welcher historischen Zeit und Stellung in das Leben eintritt, findet neben der objectiv gegebenen Welt der Natur zugleich in dem objectiven Geist eine zweite, eine Welt des Gedankens« – dann ist das eine Erfahrung, die voraussetzt, daß man seine Erziehung und die Welt der Gedanken nicht wie selbstverständlich hinnimmt, sondern darüber Grund hat, nachzudenken – und zu theoretisieren: Diese ›zweite Welt‹ oder ›Natur‹, – dieses Reich des Geistes, die der Menschen und ihrer Schöpfungen – sagt Lazarus – | »dringen auf jeden Neugeborenen in einem Culturlande mit einer beglückenden Zudringlichkeit so gewaltig ein, weil sie … mit tausend Zungen laut und vernehmlich in den neuen Menschen hineinreden. In einem unsäglich viel weiteren Sinne als das Wort sonst genommen wird, kommt die Erziehung, als Repräsentantin der Geschichte und des objectiven Geistes, der auffassenden Thätigkeit des Epigonen [des Neugebornen] von der ersten Stunde seines Daseins entgegen,« denn der ganze Umfang, – »der eigentliche Inhalt, der Schatz von Anschauungen, Vorstellungen und Ideen, … die Denkformen … welche im objectiven Geiste enthalten sind, wirken bestimmend auf die Thätigkeit des individuellen Geistes ein … indem sie die Organe der Thätigkeit und die Richtung derselben ihr überliefern.« Erziehung in diesem weiteren Sinne – die gesamte Sozialisation, würden wir heute sagen – bestimmt das Individuum in einem Ausmaße, das niemand sich selbst je begreiflich macht – und nicht machen kann: »die eindringende Macht des objectiven Geistes zeigt sich deshalb nicht bloß in der Erhaltung und Wiederholung des bereits Ge96 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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gebenen,« – in der mehr oder minder bloß passiven Partizipation: »in der feineren Umbildung und Ausgestaltung dessen, was schon als ein Fertiges immer vorhanden ist, wie in der Sprache und den Sitten, dem Rechtsbaue u. s. w.,« – denn das alles muß mehr oder minder einfach nur angeeignet werden. | Die Macht des Geistes zeigt sich nicht nur in der Sozialisation, sondern auch darin, wie Innovationen – Neuschöpfungen von ›objektivem Geist‹ – überhaupt möglich sind. Gerade da zeigt sich, daß: »eine Schöpfung [eines] Geistes, etwa eine Erkenntniß, überhaupt nur in einer Reihe von Jahrhunderten zu Stande kommen kann. Wie gleichmäßig muß da im Volke der Zug des Geistes, wie ausdauernd das Interesse, wie treu und bewußt muß der ideale Sinn sein, wo die geistige Arbeit von Generation zu Generation so sicher und einheitlich fortschreitet,« denn nur dadurch, daß der Einzelne dann ausführt, was als Problem seit Generationen zur Lösung vorbereitet wird, kann eine Innovation des ›objektiven Geistes‹ zustande kommen. Der Einzelne ist nur der Ort, wo Innovation stattfindet. – Wir sehen hier, daß solche Kategorien und Ansinnen, daß Lazarus die Möglichkeiten der Individualität gleichsam unberücksichtigt gelassen hätte, oder unterschätzt hätte, – letztlich auf uns zurückfallen – wir glauben in einer Welt zu leben, die von permanenter Erneuerung, von ständig neuen Erfindungen und Entdeckungen geprägt sei – weil wir – nicht berücksichtigend, in welch hohem Maße wir auf den Schultern der vergangenen Entwicklungen stehen, uns als schöpferische Individuen begreifen – oder doch begreifen wollen. Lazarus hingegen sagt: Besinnt euch auf das Ganze der Kultur – auf alle vorhergegangenen Generationen und ihr werdet sehen, daß diese die Vorarbeiten geleistet haben. Erst wenn diese geleistet sind – | dann erst kann das Individuum eingreifen und ein bestimmtes Problem vielleicht sogar lösen – aber nur stellvertretend für die Gemeinschaft. – Denn sogar »das Genie [kann] nicht nach Belieben schaffen und denken, … auch das Genie [hat] Schranken nicht bloß in der schaffenden Kraft, sondern vor Allem in der ausbreitenden Gewalt, deren Bedingungen auch außer ihm liegen« – und diese sind bezeichnet durch die ›gegebene Geschichte‹ und ›objectiven Ideen‹, aus denen auch sie schöpfen – und in die sie, sogar die Genies sich einpassen müssen. Das Problem der Individualität – Lazarus sieht es, aber er kann es nicht in den Griff kriegen – jedenfalls keine qualitative Individualität 97 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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denken – und er bekennt dies durchaus freimütig: »Die letzte Ursache der Individualität ist bis jetzt und vielleicht für immer in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. Die Thatsachen aber, welche die Individualität einschließt, sind offenbar. Sie besteht allerwege in einer [intellektuellen] Zusammenfassungskraft, deren Maß, bei Allen verschieden, fast ein unendliches ist«. Individualität beläuft sich also vor allem auf die enormen geistigen Fähigkeiten z. B. des Genies und der hervorragenden Individualität, – aber dennoch sagt er, gleich wieder einschränkend: »ihr Gegenstand … sind [jedoch] die allgemeinen, in allen Menschen wirkenden Ideen, welche das Gleiche und den Gehalt des Menschenthums ausmachen. Nicht in der Einzelheit schlechthin, nicht in der Absonderung und Absonderlichkeit besteht das Wesen | und die Würde der Individualität; nein!« Lazarus triumphiert! – Er hat den Subjektivismus und den Individualismus gleichsam im theoretischen Würgegriff: »vielmehr besteht sie [die Individualität] in der Strahlenbrechung der allgemeinen Menschheitsideen, in dem Maße und der Art, wie sie und ihre historischen Erfolge zusammengefaßt, wie sie dadurch neu gestaltet und zu neuen geistigen Erfolgen befruchtet werden.« – Was zunächst ein wenig dunkel klingt, aber meint: Auch das Genie hat sich der Gesamtheit unterzuordnen. 221 Aller Individualismus ist verpönt – und die theoretische und praktische Stellung des Individuums bleibt die einer vollständigen Subsumption des Einzelnen unter die Gesamtheit. Und das auch in den folgenden Fällen, wo man eigentlich Anderes erwartete, wenn er sagt: »Die schöpferische Thätigkeit des Geists entspringt meist immer im Kopfe eines oder einiger Einzelnen, und es gewinnt deshalb leicht den Anschein, als ob die Individualität der einzige Factor wäre, den wir als Ursache der fortschreitenden und erhebenden Production anzunehmen hätten.« – Aber dieser Anschein trügt, – dies zumal wenn man vor allem die materiellen Objektivationen des objektiven Geistes ins Auge faßt: »In der That geschieht eine jede bedeutsame Schöpfung zunächst für die Gesammtheit; … die Religiosität eines Einzelnen baut | keine Kirche und gießt keine Glokken, für den Einzelnen bedarf es keines Rathauses. Die monumentale Kunst überhaupt schafft Denkmale nicht für das Individuum und seine Familie, sondern für eine Stadt oder einen Staat, und wo etwa für einzelnen Geschlecht monumentale Kunstwerke geschaffen sind, da 221

Gesamtheit unterzuordnen.] Gesammtheit unzuordnen.

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haben diese Geschlechter in ihrem Leben nicht private, sondern öffentliche Bedeutung. Wenn aber die Werke des Geistes in Wahrheit für die Gesammtheit geschaffen sind, so geschieht es auch durch die Gesammtheit. 222 Nicht bloß, daß die materiellen Bedingungen solcher Schöpfungen mannigfaltige Kräfte in Anspruch nehmen, welche unmittelbar mitwirken oder mittelbar beisteuern müssen, sondern … die geistige That selbst entspringt zwar an einem einzelnen Punkt, aber doch gleichsam aus der Kraftquelle der Gesammtheit.« Wofür er verschiedene Beispiele bringt, u. a. dies: »Der Gedanke, den ein monumentales Kunstwerk darstellt, ist niemals der eines individuellen Beliebens, sondern ein im weitesten Sinne historischer, allgemein verbreiteter geistiger Inhalt;« | und deshalb kommt er zu dem Schluß: »Was nun für die Gesammtheit geschaffen ist, das muß sie erfassen, begreifen können; man begreift aber nur das, wovon die Elemente schon in Einem liegen.« – Das ist also wieder der Gedanke der Partizipation, ja eigentlich sogar der der Assimilation. Denn – so sagt Lazarus, und das ist eine Art Selbstbekenntnis: »Blickt man nun auf die freie Entfaltung des Individuums in einer cultivierten Gesellschaft, … dann scheint es freilich, als ob das Einzelleben ganz im Vordergrund stände, so daß man das andere Element, nämlich die Einheit [das geistige Zusammenleben] kaum zu erkennen vermag. Um dies zu sehen, muß man aus eigener, innerer Erfahrung Etwas von der Zusammenschließung mit Anderen und mit dem Ganzen wahrgenommen haben. Bloßes Demonstriren [wissenschaftliches Beweisen] wird demjenigen gegenüber fruchtlos sein, welcher niemals gefühlt hat, was es heißt: mit seinem Volke, seinem Staate Eins zu sein, sich hinzugeben und zu vergessen und erst im Ganzen sich wiederzufinden.« Zwar weiß auch er: »Man soll wissenschaftliche Untersuchungen Niemandem ins Gewissen schieben; aber hier wie bei aller Erkenntniß in idealen Dingen ist es unleugbar, daß Tiefe der Einsicht von der Größe der Gesinnung abhängig ist.« – »Wer aber jemals von dem Gedanken und dem Interesse etwa | des Vaterlandes durchglüht gewesen ist, der weiß, daß in allen Gebilden der Natur eine solche untrennbare Einheit des Vielen nicht gefunden wird, wie die Gemeinschaft der Geister sein kann und sein soll; man kann das Blatt vom Zweige, man kann eine Glied vom Leibe reißen und es, vom Ganzen getrennt, einem eigenen Schicksal preisgeben; wer aber jemals in sei222

Wenn aber … Gesammtheit.] hs. am Rd.: Das ist der entscheidende Satz!

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nem Inneren gefühlt hat, was es heißt: Einer für Alle, und Alle für Einen, der weiß auch wenigstens von sich selbst, daß er von dem Leben und Geschick des sittlichen, politischen Ganzen, dem er angehört, für alle Zeit und für alle Fälle innerlich untrennbar ist.« Dieses geradezu emphatische Gemeinschaftserlebnis – oder doch Erlebenwollen – läßt sich in der ›Völkerpsychologie‹ durchgehend konstatieren – ich hatte hiermit bereits den Wunsch und die bestimmte Phase in Lazarus’ Leben verbunden, in der er vom Moses zum Moritz wird – seine Assimilation ihn bestimmt. Aber es gibt – und das ist nicht unwichtig, doch auch bei ihm eine kleine Ahnung davon, daß auch der ›objektive Geist‹ Grenzen setzt – ungerechte und solche, die den Fortschritt der Entwicklung nur noch hemmen. Er sagt gegen Schluß der ›Synthetischen Gedanken‹ : »Erst wenn der durch die Form vermittelte, von der Form durchaus bedingte Fortschritt des menschlichen Geistes es bis zu einer gewissen Erfüllung desselben gebracht, wenn eine Art von Natur- und Weltanschauung so sich gebildet, religiöse Vorstellungen das sinnliche Dasein ergänzen, Sitten das Leben ordnen und in den Zierden desselben, in Kleid und Geräth ein gewisser Geschmack sich | ausgeprägt hat, erst dann entsteht für die Beobachtung die Frage: ob diese Formen des geistigen Lebens nicht zu eng, ob sie die Innere Thätigkeit nicht fesseln, anstatt sie zu führen, ob nicht die Regel zum Zwang, dadurch das Mittel zum Zweck, und der Zweck unerreichbar wird. Dann aber leiden nicht bloß die Völker, welche dadurch überhaupt auf einem niedrigen Stand der Cultur festgehalten sind, von der lebensvernichtenden Gewalt der Form, sobald nämlich die Formen jeder neuen Regung des Lebens entgegenstehen 223 und sie in ihre eisernen Arme schließen, alles aber, was sich nicht fügen will, eben keinen Eingang findet – sondern auch in viel späteren Zeiten und auf viel höheren Stufen der Cultur erleben wir in historischer Zeit denselben wahrhaft tragischen Erfolg der Form, indem die Gestaltung zur Verhärtung, die Bildung zur Versteinerung wird.« Diese Seite des ›objektiven Geistes‹ hat sein Schüler Georg Simmel unter dem Begriff der ›Tragödie der Kultur‹ zu seinem Thema gemacht – und damit der Frage nach dem Verhältnis des subjektiven und objektiven Geistes eine ganz andere Wendung gegeben: Simmel 223 entgegenstehen] hs. korrigiert aus: entgegengehen; am Rd.: ? Bei Lazarus heißt es: entgegengehen.

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sieht auch die Macht des Objektiven, aber gerade darum fragt er nach 224 der Möglichkeit der Ausbildung von Individualität – gleichsam dieser Macht des Objektiven zum Trotz. Damit wollen wir uns das nächste Mal beschäftigen – in zwei Wochen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 225

fragt er nach] fragt nach Bezug durch Einfügung verändert Aufmerksamkeit.] der Entwurf für die 5. Vorlesung im SS 2000 lautet auf einem hs. Bl.: 5. Vorl[esung] 3. 5. 2000 bis 1400 das typisch ›Moderne‹ 3 Schutzorgane: 1. Verstandesmäßigkeit (rechnende Wesen der Neuzeit) 2. Blasiertheit 3. Reserviertheit (Antipathie) Lebensweise: Schillers Spaziergang: »in die freie Natur« im Gegensatz zur beengenden Stadt → E. T. A Hoffmann: schon Flaneur → Wahrnehmung der Stadt als Landschaft: Flaneur Lebenswelt: Stadtparks, Grünanlagen Integration von Grün in die Stadt 224 225

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[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 7. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98] 6. Vorlesung 226 Ich hatte beim letzten Mal versucht, das völlig säkulare Selbst- und Weltverständnis des spezifisch modernen Menschentypus in die Form zu bringen: der »moderne Kulturbegriff ist der Begriff der modernen Kultur«, d. h. Kultur als Inbegriff aller Dinge und Leistungen, die vom Menschen geschaffen sind resp. erbracht werden, zu umreißen. Alles, 227 was den modernen Menschen wahrhaft »interessiert« – ihn, der ganz Individuum, ganz diesseitig und ohne Transzendenz – ohne Gott und ohne jede Zielstellung in überindividuellen Zwecken lebt. Als so Vereinzelter steht er der Welt gegenüber – der Welt der gesamten Kultur, als radikal subjektiver Geist dem Faktum brutum, der kalten Tatsache objektiver Geist gegenüber. Sie merken: 228 Simmels Kulturphilosophie und Theorie des objektiven Geistes soll uns nun bis Weihnachten beschäftigen. Ich habe irgendwann bereits einmal angedeutet, daß Simmels Theorie des objektiven Geistes nicht so einheitlich ist, wie die von Lazarus, und daß es eigentlich eine frühe Theorie gibt, die sich direkt an Lazarus anschließt – und eine späte, die unter dem Titel der ›Tragödie der Kultur‹ bekannt und berühmt geworden ist. Wir verfolgen diese Geschichte Schritt für Schritt und beschäftigen uns zuerst mit der frühen Theorie, wie sie vor allem in der Philosophie des Geldes (1900!) zum Ausdruck kommt. Genauer gesagt im 6. Kapitel: Der Stil des Lebens – 2. Abschnitt – wo die einzelnen Untertitel lauten: Der Begriff der Kultur. Steigerung der Kultur der Dinge, Zurückbleiben der Kultur der Personen. Die Vergegenständlichung des Geistes. Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und objektiven Kultur. Bereits aus dieser Titulatur erkennt man deutlich, daß sich der Akzent bei dieser Theoriebildung verschoben hat: es geht bei Simmel 6. Vorlesung] hs. über nicht gestr.: 7. Vorlesung; darüber: 28 Teiln[ehmer] + 8 werden, zu umreißen. Alles,] werden, umreißen ALLES, 228 das … merken:] statt gestrichen: den Übergang von Moritz Lazarus zu Georg Simmel zu schaffen. Denn 226 227

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nicht mehr um eine Theorie wirklich nur des objektiven Geistes wie bei Lazarus, sondern eigentlich um eine Theorie des Spannungsverhältnisses zwischen objektivem und subjektivem Geist. 229 Lazarus’ Leistung war die, darauf hingewiesen zu haben, daß die Kultur – der Inbegriff der Kultur, den er als ›objektiven Geist‹ bezeichnete – den Einzelnen bestimmt, viel mehr bestimmt als alle Theoriebildung vor ihm gesehen hatte: der Mensch ist so durch und durch von den ihn umgebenden kulturellen | Verhältnissen abhängig und geprägt – daß darüber das Individuum geradezu zu verschwinden drohte. Der einzelne Mensch wurde positiv ganz auf diese Kultur, auf die Gesamtheit hinorientiert, als Ideal stand das einer vollständigen Integration, Einordnung und auch wohl Unterordnung des Einzelnen unter diese Gesamtheit jederzeit vor Augen – ein für uns heute einigermaßen unerträglicher Gedanke, sich ganz der Gemeinschaft einund unterordnen zu sollen, gleichsam aus »Dankbarkeit«. Was man im Falle Lazarus’ mit dem Willen und Bedürfnis der Assimilation in Verbindung bringen kann, ohne daß damit die Bedeutung dieses theoretischen Entwurfs im Mindesten vermindert 230 würde. Denn wie immer die Veranlassungen ausgesehen haben mögen, wichtig ist Lazarus dadurch, daß er so konsequent und bis zum Anschlag die Bedeutung der umgebenden, objektiven Kultur für den Einzelnen hervorgehoben hat. Und nicht nur hervorgehoben, sondern auch gezeigt und zu einer eigenen Theorie verarbeitet hat. Denn daran konnte – und hat man – angeknüpft, sei’s wie der junge Simmel, der beispielsweise höchst kulturkritisch sogar auch Antisemitismus, Folter und Schandtaten aller Art diesem objektiven Geist einordnete, oder sei es auch in dem Sinne, daß man den ›objektiven Geist‹ vor allem als ordnende und normierende Macht – Macht der Kultur dem Einzelnen gegenüber, versteht und begrüßt, wie dies bei Lazarus selber oder dann auch bei Dilthey, Hans Freyer und anderen zum Ausdruck kommen wird. Für uns ist wichtig, daß mit der Theorie des ›objektiven Geistes‹ eine Theorie der Kultur ermöglicht wurde, eine Theorie der Kultur, die man nach zwei Richtungen hin ausbauen und zu eigenständigen Wissenschaftsentwürfen machen kann:

229 230

Bereits … Geist.] am Rd. hervorgehoben u. mit einem Pfeil markiert vermindert] statt gestr.: entwertet

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- Theorie der Kultur als Theorie der Prägekraft, oder sogar des Übergewichtes des objektiven Geistes, der Objektivationen des Geistes und der kulturellen Formen – in ihrem sachlichen und materiellen Bestand als Theorie der Sprache, der Religion, der Sitten und der Sachkultut – das ist der Weg, den die Kulturphilosophie insbesondere dann bei Ernst Cassirer genommen hat - oder aber Theorie der Kultur wird verstanden als eine Theorie des | Verhältnisses von subjektivem und objektivem Geist, d. h. als jenes Spannungsverhältnis, das wir schon bei Lazarus unter dem Thema der Aneignung kennen gelernt hatten, das aber dann bei Simmel zu einer zuerst mehr soziologisch inspirierten Theorie ausgebaut wird, indem jetzt die Frage nach den Möglichkeiten der Aneignung der modernen intellektuellen, technischen und Sachkultur gestellt wird und in den Vordergrund tritt – während dann später Simmel diesen Ansatz dahingehend verändert, daß er nach den Lebensbedingungen des Einzelnen fragt, wenn denn diese moderne Welt so viele immer neue und nicht mehr anzueignende Tatsachen dem Einzelnen gegenüberstellt, daß der Einzelne davon geradezu erdrückt zu werden droht. Lazarus’ Theorie des objektiven Geistes beinhaltet eigentlich also zwei verschiedene Theorien der Kultur, die seine Nachfolger dann auch aus ihr gemacht haben: - die Theorie der Zivilisation, d. h. der kulturellen Mächte und symbolischen Formen, die der Einzelne als Einzelner an sich kaum oder gar nicht beeinflussen kann: Sprache – Religion – Kunst – Wissenschaft – Geschichte – - zweitens aber auch die Theorie des Lebens des Einzelnen in der Moderne unter den spezifisch modernen Bedingungen einer immer breiter aufwachsenden Sach- und technischen Kultur. Hier ist die Frage zwar auch die nach der Aneignung, aber deren Möglichkeit wird schließlich verneint: Tragödie der Kultur. Ich hätte beim letzten Mal gern einen Rückgriff auf Hegel vorgenommen, um zu zeigen, daß Hegel zwar einen ganz anders gearteten Begriff des objektiven Geistes besaß als Lazarus, daß sich aber auch für ihn das Problem stellte, wie und warum denn die Einzelnen dem allgemeinen oder Volksgeist gleichsam entlaufen waren. Was bedeutet es für den Volks- oder allgemeinen Geist eines Volkes, wenn die subjektiven Geister stärker werden, wenn also Individualisierung und Individualismus das Leben einer Nation prägen – wenn sich in diesem 104 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Sinne der Geist der Nation und die Geister der Einzelnen entzweien? Wenn also die vormalige Einheit kaputtgeht. – Und ich hätte zu zeigen versucht, daß Hegel die Heilung dieses | Zustandes von einer künftigen Höherentwicklung des Geistes erwartet, wo diese subjektiven Geister, die nur noch ihre eigenen Zwecke verfolgen, die sich der Wirklichkeit gegenüber reflektierend verhalten, d. h. nicht einfach bruchlos und fraglos mittun, sondern sich widerspenstig erweisen – daß Hegel diesen Zwischenzustand der Weltgeschichte als einen bloß defizitären deutet, der nach Aufhebung verlange: Aufhebung in dem Sinn, daß er aufhört – Aufhebung auch in dem Sinne, daß etwas auf eine höhere Stufe gehoben wird, aufbehalten und zugleich doch partiell vernichtet wird. Aufhebung bedeutet die Lösung eines Widerspruches, – eines Widerspruches, der sich darin deutlich macht, daß die subjektiven Geister sich von dem allgemeinen Geist entzweit haben. Und als Modell dieses Vorganges dient Hegel das Beispiel der Griechen: Er sagt: »Die Entzweiung enthält, führt mit sich das Bedürfnis der Vereinigung, weil der Geist einer ist. Er ist lebendig und stark genug, die Einheit hervorzubringen. Der Gegensatz, worein der Geist mit dem niederen Prinzip [der Individualisierung] tritt, der Widerspruch führt zum höhern. So hatten die Griechen in ihrer blühenden Periode, in ihrer heitern Sittlichkeit, nicht den Begriff der allgemeinen Freiheit; sie hatten wohl das … Geziemende, aber keine Moralität oder kein Gewissen. Moralität, was Rückkehr des Geistes in sich, Reflexion, Flucht des Geistes in sich hinein 231 ist, war nicht da; das fing erst mit Sokrates an. Sobald nun die Reflexion eintrat und das Individuum sich in sich zurückzog und sich von der Sitte trennte um in sich und nach eigenen Bestimmungen zu leben, da entstand das Verderben, der Widerspruch.« 232 Daß das Individuum eigene Freiheit beansprucht, sich von der fraglos gelebten Sitte trennte, also von dem fraglos vollzogene Leben in den Formen der Tradition und Gewohnheit, – daß das Individuum ausschert, die Sitten jetzt reflektiert und problematisiert, dies und das – bemängelt und auf Distanz geht – d. h. reflektiert – über Gut und Böse reflektiert und so eine eigene Theorie der Moral entsteht – bei Sokrates – daß man sich ein Gewissen macht, inwieweit man von der Sitte Abstand nehmen kann und darf, inwieweit man sich einzuord231 232

Flucht … hinein] zusätzlich mit grünem Textmarker hervorgehoben Widerspruch.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 71 f.

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nen | hat – dies alles beschreibt denjenigen Zustand, der eintritt, wenn die subjektiven Geister sich von dem allgemeinen Geist lossagen und auf eigene Faust ihre persönlichen Zwecke verfolgen, wenn sie nach individueller Freiheit verlangen, ein individuelles Leben jenseits der Gesamtheit, der Sitte, des Staates und der Religion zu leben beanspruchen. Das ist der Zustand, den Hegel als den des Verderbens bezeichnet, des Verderbens nicht etwa der Einzelnen, sondern des Verderbens des Volksgeistes oder der Gesamtheit, – bei Hegel ist insbesondere das Verderben des Staates gemeint. Dies ist übrigens an sich derselbe Gedanke wie im 1. Buch Moses: 233 Sündenfall, Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, d. h. Moralität; Entzweiung von Mensch und Gott: auch da wird die unfragliche Gemeinschaft aufgegeben. Ein Staat oder ein Volksgeist kann nicht fortleben und überleben, wenn die Einzelnen sich individualistisch von ihm absondern – und deshalb müsse eine Reintegration der Einzelnen in den Gesamtgeist angestrebt werden: bei Hegel geschieht dies im Prozesse der Geschichte, indem sich andere Völker- und Staatswesen diesen einmal geschaffenen Geist aneignen und ihn insofern aufheben – die Griechen werden durch die Römer – die Römer werden durch die christlich-germanischen und romanischen Staaten beerbt und i. d. S. »widerlegt« – so geht der Gang der Weltgeschichte weiter – in einer Stufenfolge bis hin zur Gegenwart, und durch sie hindurch zur Versöhnung – das ist das Ziel der Weltgeschichte. Aber diese Aufhebungen der früheren Stationen der Weltgeschichte beinhalten zugleich eine Aufhebung in intellektueller und geistiger Hinsicht, indem jede spätere Stufe nicht nur neue Staaten, sondern wiederum neue Volksgeister erzeugt: Religion, Recht und Sitten, so daß die jeweils letzte erreichte Stufe den Höhepunkt der geschichtlichen – wie auch der geistigen Entwicklung repräsentiert: die Philosophie Hegels hebt auch alle Philosophie vor ihm auf, und zwar auf die Stufe des absoluten Geistes, der sich weiß als Resultat der ganzen Weltgeschichte, die hier sich ihrer gesamten Geschichte bewußt ist. Das alles nun macht Lazarus nicht mit – und einen absoluten Geist gibt es bei ihm gar nicht – kein Ziel der Weltgeschichte und keinen linearen Fortschrittsprozeß von einem zum anderen Volksgeist. Lazarus hat keine Philosophie der Geschichte geschaffen, son-

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1. Buch Moses:] 1. Moses:

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dern eine Theorie der Gegenwart des objektiven Geistes, eine Theorie der jetzigen Kultur. Aber es gibt auch bei ihm – nicht anders als bei Hegel – das Problem des | Auseinanderfallens von subjektivem und objektivem Geist – das Problem des Individualismus – und nicht anders als Hegel beurteilt Lazarus dieses Auseinanderfallen, diese Entzweiung als etwas Negatives. Hegel sieht die Heilung im Fortschritt der Weltgeschichte durch Aufhebung auf eine höhere Stufe – Lazarus reagiert auf die im Prinzip ebenso wie von Hegel verstandene Situation indem er den Auftrag an den Einzelnen formuliert, sich den vorhandenen, objektiven Geist anzueignen, d. h. sich der Kultur zu assimilieren. Beide kommen darin überein, die den Einzelnen übergeordnete Einheit: den Staat, die Nation oder die ›Gesammtheit‹ – als den Zielpunkt und absoluten Maßstab der Bewertung des Einzelnen zu fassen: der Einzelne besitzt überhaupt nur einen Wert – insofern er diese übergeordneten Einheiten fördert. Was zugleich auch heißt, daß für die Individualität im modernen Sinne, ein Abgesondertsein und eine Herausbildung von Besonderheiten, Unverwechselbarkeit des Einzelnen, in diesen Theorien kein Platz ist. Völlig anders denkt und wertet Simmel, denn für ihn steht das Problem der Individualität im Vordergrund, und damit eigentlich die Frage, inwieweit Individualität überhaupt möglich ist, wenn denn die Kultur und dieser objektive Geist derart mächtig und übermächtig sind, wie dies die Theorie des objektiven Geistes von Lazarus gezeigt hatte. Wie ist Individualität in der Moderne überhaupt möglich 234 – lautet Simmels Frage – und die Antwort wird lauten: dadurch, ›daß der moderne Mensch unter günstigen Umständen 235 eine Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichen Seins‹ (GSG 6, S. 52) erreicht und verwirklicht – lebt – eine gewisse Reserve alledem gegenüber, was die Kultur darbiete. Dadurch, daß der Einzelne sich selbst zu einem Wert und Wertmaßstab wird, daß er sein ›individuelles Gesetz‹ zu verwirklichen sucht, – »Selbstverwirklichung« lautet dafür das moderne Schlagwort. Was heißt das? – Das heißt zunächst, daß die individuellen Ansprüche, Regungen und Empfindungen in völlig neuartiger Weise 234 235

Wie ist … möglich] mit grünem Textmarker hervorgehoben Umständen] am Rd.: s. u.

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ernstgenommen werden – und daß demgegenüber die Ansprüche, die von Außen an uns herantreten, | all die Erwartungen, die man an uns hat, ohne daß wir sie selbst wollen – daß zunächst eine ganz scharfe Unterscheidung des Innen und Außen vorgenommen werden muß. D. i. die Reflexion – dann Aufhebung zugunsten des Individuums. Die individuelle Persönlichkeit kann sich nur dadurch herausbilden und erhalten, daß sie auf Distanz zu dieser übermächtigen Welt der sozialen und kulturellen Anforderungen geht, daß sie sozusagen – mit Hegels Begriff gesagt – die Entzweiung bejaht und eben nicht aufzuheben sucht, – eben nicht den Traum von der Einordnung in die Gesamtheit weiterträumt, um daran schließlich zugrunde zugehen. Simmel steht – und sieht sich – in einer prinzipiell veränderten Situation der Kultur – und er sieht das Problem der Individualität unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als Hegel und Lazarus es getan hatten: er hat es mit dem spezifisch modernen Leben zu tun. ›Das moderne Leben bricht mit solcher Gewalt auf den Menschen ein und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere. Alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert‹. – So hat Simmel selbst einmal versucht, dieses Gefühl zu beschreiben und was damit in concreto gemeint ist, kann man einem Brief entnehmen, in dem er noch deutlicher wird: »Ich erfahre am eigenen Leibe, eine wie schwere und eigentlich unlösbare Aufgabe es selbst unter meinen relativ günstigen Lebensbedingungen [gerade 236 Professor geworden] ist, nach dem ›individuellen Gesetz‹ zu existieren u. zu der Continuität im Gestimmtsein u. Denken zu kommen, die doch schließlich die Bedingung des geistigen u. produktiven Lebens ist, wenn es werden soll, was es werden kann; ich bin über die Zersplittertheit des Tages, über das Durchreißen der eben angesponnenen Fäden oft bis zur Raserei, ja, bis zur Resignation verzweifelt.« 237 Der Mangel an »Continuität im Gestimmtsein u. Denken« – »Zersplittertheit des Tages« – das sind die beiden Hauptprobleme des modernen Lebens, unter denen Simmel auch ganz persönlich leidet – und diese beiden Probleme zeigen andeutungsweise, was mit dem sogenannten ›individuellen Gesetz‹ und mit sowas wie ›Selbstverwirklichung‹ hier überhaupt gemeint sein kann: eigene Individualität zu bewahren, resp. sie immer wieder herzustellen. gerade] davor Verweis ohne Adresse: s. o.; verzweifelt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Simmel an Margarete Susman. Westend 20. 12. 1913: L[eo] B[aeck] I[nstitute] New York.

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– Dies resultiert aus der Erfahrung – vielleicht besonders der des Großstädters, der in vielfältigen Lebenszusammenhängen steht: | »es ist noch gar kein Beispiel besonderer Häufung, wenn jemand innerhalb seines Berufes verschiedenen Verbindungen angehört, Mitglied eines wissenschaftlichen Vereins und Reserveoffizier ist, im Ehrenamt einem kommunalen Kollegium zugehört und ausser alledem einen geselligen Verkehr besitzt, der sehr verschiedenartige soziale Schichten berührt.« Ganz verschiedene Rollen und entsprechend Rollenerwartungen wollen miteinander vereinbart sein – aber auch der Tag ist bereits durch Termine und diese verschiedenen Zugehörigkeiten ›zersplittert‹ in all das, was im einzelnen der Terminkalender anzeigt, so daß eine einheitliche Stimmung, eine Kontinuität des Wollens und Handelns, durchgängig zielgerichtetes Handeln überhaupt immer schwerer durchzuhalten ist. Und nicht nur das: diese verschiedenen Rollen und Rollenanforderungen treten unzweifelhaft miteinander in Konflikt, denn sie sind nicht immer vereinbar, Konflikte der Pflichten entstehen – und zusätzlich dann noch solche Konflikte zwischen 238 den eigenen Absichten und jenen Forderungen, die von Außen an einen herantreten. Das macht das moderne Leben aus – jedenfalls in weit höherem Maß als frühere Generationen von solchen Vielseitigkeiten betroffen waren – hat der moderne Mensch und Großstädter doch ein immer komplexer werdendes Leben zu meistern. Und dies nicht nur, indem er seine verschiedenen Rollen wahrnimmt. Auch wird er in immer höherem Maße in »das schnelle Tempo und den unruhigen Rhythmus modernen Lebens« hineingerissen – auch wird der moderne Mensch durch die hochgradig arbeitsteilige Gegenwart der modernen Welt immer häufiger und jederzeit zum entweder Konsumenten – oder Produzenten – und er wird als solcher immer abhängiger davon, daß er Geld verdient – wie er denn umgekehrt sein Geld durch immer speziellere und einseitigere Tätigkeit zu verdienen hat – kurz: der moderne Mensch hat es immer schwerer, etwas wie eine subjektive, sich selbst bestimmende Lebensweise auszuprägen, weil die ihn umgebende Kultur in immer höherem Maße komplex wird. Der objektive Geist wird immer mächtiger – und geradezu übermächtig – das ist gemeint, wenn Simmel sagt, ›das moderne Leben breche mit solcher Konflikte zwischen] Konflikte, die zwischen irrtümliche Korrektur zurückgenommen

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Gewalt auf den Menschen ein, und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere, alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert‹. | Objektiviert und sozialisiert wird der moderne Mensch also in dem Sinne, daß er sich allenthalben vergesellschaftet: ob nun in all den Formen, wo er Funktionen einnimmt, die ihm bestimmte Rollen zuerteilen – oder in der Weise, daß er Geld gebraucht – als einer, der für Geld arbeitet und dafür Geld erwirbt, tritt er mit anderen in einen Kontakt, der es unmöglich macht, sich als Einzelner zu betätigen. Sicher ist der moderne Mensch in gewissem Sinne unabhängiger von bestimmten Einzelnen, von den Familienmitgliedern oder vom Clan und der Sippe geworden, – auch ist er in dem Sinne unabhängiger geworden, daß er politische Freiheiten erworben hat und daß er als Geldbesitzer die Freiheit hat, zu kaufen und zu wählen: zwischen Waren und Dienstleistungen – und letztlich auch zwischen verschiedenen Lebensstilen. Aber die Kehrseite dieser Unabhängigkeit ist die, daß er sich in immer höherem Maße vergesellschaftet, sozialisiert und damit objektiviert. Simmel hat diesen Gedanken einmal zugespitzt damit ausgedrückt, daß er sagte: »Nicht abhängig ist der einsame Siedler im germanischen oder amerikanischem Walde; unabhängig, im positiven Sinne des Wortes, ist der moderne Großstadtmensch, der zwar unzähliger Lieferanten, Arbeiter und Mitarbeiter bedarf und ohne diese ganz hilflos wäre, der mit ihnen aber nur in absolut sachlicher und durch das Geld vermittelter Verbindung steht, so daß er nicht von irgend einem Einzelnen als diesem bestimmten abhängig« ist. 239 Das ist der entscheidende Unterschied: der Einzelne war – oder ist noch – nur dort im eigentlichen Sinne von bestimmten Personen und persönlichen Verbindungen abhängig, wo damit zugleich gefühlsmäßige 240 Bindungen verbunden sind, wo die Abhängigkeit sozusagen jederzeit die gesamte Persönlichkeit ergreift und umschließt – wo die Magd oder der Knecht auf dem Hofe arbeiten und leben, wo noch keine persönliche Freiheit – z. B. keine Freizeit definiert ist, wo alle Bindungen also noch eine absolute Abhängigkeit ausmachen: letztlich bei allen Arbeitsverhältnissen, die nicht auf reiner Geldentlohnung beruhen, wo deshalb auch keine Arbeitszeit definiert ist, und wo | das Leben z. B. des Dienstboten oder Landarbeiters sich noch ganz unter den Augen des Herrschaften vollzieht. Da überall hat noch 239 240

ist.] folgt Fußnotenzeichen und -text: [GSG 6, S.] (400) gefühlsmäßige] mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben

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keine wirkliche, sozusagen noch keine moderne Unabhängigkeit statt – sie erst tritt mit steigender Durchsetzung der Geldentlohnung für eine bestimmte Leistung und Arbeitszeit ein – als eine Unabhängigkeit von bestimmten Bindungen an andere Menschen. Aber diese Unabhängigkeit wird nun begleitet von einer neuen Abhängigkeit, nämlich vom Funktionieren des Ganzen, der Abhängigkeit von den ›Lieferanten, Arbeitern und Mitarbeitern‹, ohne die das moderne Leben gar nicht funktionieren könnte. Zumal nicht, wenn all die Dinge, die man zum Leben braucht – aber auch diejenigen Dinge, die das großstädtische Leben in Sonderheit noch zusätzlich erfordert, – wenn all diese Dinge nicht bereitstünden für den käuflichen Erwerb. Simmel sagt: »Durch die rapide Vermehrung der Warenvorräte einerseits, durch die eigentümliche Herabsetzung und Verlust an Betonung, die die Dinge in der Geldwirtschaft erfahren, andrerseits, wird der einzelne Gegenstand gleichgültiger, oft fast wertlos.« Wie also eine Unabhängigkeit von bestimmten Personen eingetreten ist – in der modernen Geldwirtschaft – so auch tritt eine Unabhängigkeit gegenüber den bestimmten Gegenständen ein, die bloß noch Waren, also beliebig austauschbar sind. Aber auch hier zeigt sich die Kehrseite: denn nicht die einzelnen Dinge, sondern die Gesamtheit all dieser Waren, die als einzelne austauschbar sind, ist für den modernen Menschen in immer höherem Maße unverzichtbar: »mit steigender Kultur werden wir immer mehr von den Objekten und von immer mehr Objekten abhängig; so ist … die einzelne Stecknadel so gut wie wertlos, aber ohne Stecknadeln überhaupt kann der moderne Kulturmensch nicht mehr auskommen« – sagt Simmel – und das ist beileibe kein Witz. Denn ohne Stecknadeln ist die Änderung von Kleidern, ja nicht einmal die Herstellung von Kleidung, Mode und Selbstdarstellung möglich, die doch in der modernen Gesellschaft eine so große Rolle spielen. Man weiß vielleicht nicht sicher, ob tatsächlich in wie viel größerem Maße als in früheren Zeiten, aber soviel ist doch unzweifelhaft, daß die | korrekte Kleidung, der korrekte Sitz eines Anzuges z. B. in Bewerbungssituationen im Bankfach oder als Verkäufer darüber entscheiden kann, ob man die Stelle kriegt oder nicht. Das ist freilich nur symptomatisch gemeint – und auch hierin steckt die hohe Komplexität des modernen Lebens, wie sich umgekehrt darin die erhöhte Abhängigkeit von den allerdings beliebigen

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Schneidern oder Konfektionären – und von den beliebigen Kleidungsstücken, die man erwerben kann und muß – ausdrückt. Also einerseits eine neue Freiheit und Unabhängigkeit für den Einzelnen unter den Lebensbedingungen der modernen Geldwirtschaft in der Großstadt – andererseits eine ganz neue und sozusagen ungeahnte und freilich auch kaum je bewußt werdende Abhängigkeit vom Funktionieren des Ganzen und von den Warenangeboten. Wie lange könnten wir überleben, wenn es nichts zu kaufen gäbe? – Oder anders gefragt: wie oft zücken Sie an einem ganz normalen und beliebigen Tage Ihr Portemonnaie? D. h.: wie oft treten Sie als Käufer auf – ganz ohne, daß Ihnen bewußt wird, daß die allermeisten dieser Kaufakte nicht willkürlich und nicht beliebig ersetzbar sind, sondern Ihre Abhängigkeit von den Anderen und den Waren ausdrückt – eine Abhängigkeit nicht aber von bestimmten Personen, bestimmten Verkäufern und auch nicht bestimmten Waren, sondern nur davon, daß überhaupt etwas zu kaufen ist – und d. h.: der »Andere« wird zum bloßen Funktionsträger, austauschbar und uns also – fremd. »Entfremdung« heißt dieses Phänomen, daß 1. uns die Dinge austauschbar werden, bloße Waren, die wir im Falle eines Verlusts beliebig ersetzen können – 2. daß uns die Produzenten dieser Dinge oder Leistungen unbekannt – fremd – bleiben, wie ihnen ihre Abnehmer – 3. daß wir damit – und das eigentlich ist Entfremdung – wir allenthalben nur noch in bloßen Funktionsbeziehungen stehen – also im Verhältnis zu den Dingen, zu den Menschen – und so auch zu allen Lebensgrundlagen. Zu erster wie auch zweiter Natur: aber letztere, von Menschen geschaffen steht immerhin einer Aneignung 241 offen – und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit – die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Aneigung sind das Thema moderner Kulturphilosophie – seit Simmel. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 242

Aneignung] in Großbuchstaben Aufmerksamkeit.] dem Vorlesungsmanuskript sind noch weitere 8 Bl. beigelegt, enthaltend das Thema betreffende Auszüge aus Köhnke: Der junge Simmel, S. 511– 514, 506 u. 202–204, sowie Kopien aus Texten von Moritz Lazarus.

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[Ordner SS 1996; zum großen Teil übereinstimmend mit der 8. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98] 7. Vorl[esung] 243 Ich 244 habe beim letzten Mal versucht, den von Simmel vollzogenen Übergang von einer Theorie des bloß objektiven Geistes zu einer Theorie des Spannungsverhältnisses zwischen subjektivem und objektivem Geist zu umreißen. Und ich hatte gesagt, daß nunmehr Simmels Aufsatz ›Der Begriff und die Tragödie der Kultur‹ zum Thema gemacht werden soll 245 – der wohl wichtigste Aufsatz und Text, den es überhaupt zu diesem Thema gibt. 246 – ›Zu diesem Thema‹, – d. h.: über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der ihn umgebenden Kultur, das als ein Spannungsverhältnis gedeutet wird, als eine Spannung, Konkurrenz und Lebensaufgabe, die schließlich vom Einzelnen dann doch nicht erfolgreich ausgehalten und bemeistert werden kann: was schließlich zu einer ›Tragödie der Kultur‹ führe. Aber soweit sind wir noch nicht. Soweit sind wir längst noch nicht, – denn wir müssen diesen Text sehr genau lesen, um zu verstehen und hervorzuheben, welche Aussagen und welche Voraussetzungen in ihm gemacht werden. 247 Simmel geht gleich in medias res – und macht eine ganze Reihe von Voraussetzungen: »Daß der Mensch sich in die natürliche Gebenheit der Welt nicht fraglos einordnet wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß | zwischen dem Subjekt und dem Objekt.« Und es ist damit 248 gleichsam die primitivste Stufe menschlichen Da7. Vorlesung] statt gestr.: 8. Vorlesung; am oberen Rand: 77 Min ca. 40 Hörer Ich] davor: Guten Abend zusammen – 245 Und … soll] statt gestr.: Und ich hatte Sie gebeten, nunmehr Simmels Aufsatz ›Der Begriff und die Tragödie der Kultur‹ zu lesen, 246 den es … gibt.] am Rd.: Konersmann-Zitat 247 werden.] danach gestr.: Ich werde deshalb heute – und in der nächsten Woche – den Text lesen und die wichtigsten Partien kommentieren. 248 Und es ist damit] statt gestr.: Die »natürliche Gegebenheit der Welt« und der Mensch, sie bilden den ersten großen Dualismus, den von Subjekt und Objekt. Wobei dieser Dualismus nicht statisch gedacht, sondern als unablässiger, »endloser Prozeß« gedacht werden soll. Es ist freilich ein Prozeß in dem der Mensch – und nur der 243 244

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seins bezeichnet: das bloße Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, und dieses Auseinandertreten ist nichts anderes als das Auftreten des ›Geistes‹. Deshalb kann Simmel ganz einfach fortfahren, ohne diesen Satz ausgesprochen zu haben: »Innerhalb des Geistes findet er [der Mensch] seine zweite Instanz.« Indem der Mensch prinzipiell Träger jener verschiedenen Eigenschaften ist, und seien diese noch so roh und unausgebildet, hat er bereits Geist und unterscheidet sich ganz prinzipiell vom Tier, das eben nur jener ›ersten Instanz‹ angehört: der hier sogenannten »natürlichen Welt« für die man einfacher und schlichter ›Natur‹ sagen kann. Denn es ist hier 249 insgesamt nichts anderes gemeint als die uns schon vertraute | Unterscheidung von erster und zweiter Natur – Begriffe, die in diesem Text allerdings überhaupt nicht auftauchen. Die ihm aber zugrundeliegen, weil Simmel nun einmal an Lazarus anknüpft, genauer gesagt: an dessen Begriff des ›objektiven Geistes‹, wie die nun folgenden Bestimmungen unübersehbar zeigen; wenn Simmel sagt: »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.« Damit ist nicht nur der ›objektive Geist‹ als solcher bezeichnet, sondern auch die spezielle Fragestellung bereits angerissen, um die es hier im folgenden gehen soll: was bedeutet diese »eigentümliche Selbständigkeit« der Objektivationen des Geistes für die subjektiven Geister oder Individuen? 250 »So sieht sich das Subjekt der Kunst wie Mensch steht, und der Mensch wird hier geschildert anhand von Tätigkeiten, die man gleichsam als Chronologie der Kulturgeschichte lesen kann: zuerst reißt sich der Mensch los von einem quasi noch tierischen Dasein – und stellt sich der natürlichen Welt gegenüber, d. h. er betrachtet sie, betrachtet sie als ein Objekt und damit ist der Dualismus nicht nur geschaffen, sondern zugleich gesagt: daß es den Menschen als solchen auszeichnet, Welt betrachten, sich in diesem Sinne losreißen zu können. – Mit der Folge, daß er der natürlichen Welt fordernd gegenübersteht, und mit ihr »ringt«, die natürliche Welt »vergewaltigt«, wie sie den Menschen »vergewaltigt«. 249 es ist hier] es hier 250 was … Individuen?] am Rd. doppelt angestrichen. Danach gestr.: Was bedeutet diese Selbständigkeit ganz unabhängig davon, ob wir diese Objektivationen nun ›aufnehmen‹, d. h. ›aneignen‹ wollen oder es vorziehen, sie abzulehnen? – Sie sehen, das, was Simmel an späterer Stelle schlicht als »Kulturtatsache« bezeichnen und konstatieren wird, wird hier schon ausgesprochen: die Kultur resp. all die Objektivationen des ›objektiven Geistes‹ stellen eine für den Menschen unausweichliche ›Tatsache‹ dar, ganz gleichgültig, wie immer der einzelne Mensch sich zu dieser Tatsache stellen mag,

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dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte – nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des | Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.« Diese Passage ist schon sowas wie eine Zusammenfassung des ganzen Textes. 251 Darauf kommt es an: diese eigentümliche Festigkeit, das Geronnensein und die beharrende Existenz des ›objektiven Geistes‹, sie geben ihm seinen ganz eigenartigen Charakter, der in krassem Widerspruch zum ›Leben‹ steht; zum ›Leben‹ in einem ganz | emphatischen Sinne, das hier beschrieben – oder besser gesagt – umrissen wird mit den zunächst wenig greifbaren Formulierungen von »der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele«. 252 Die Tragödie besteht darin, daß sich nicht nur irgendwie subjektiver und objektiver Geist gegenüberstehen, sondern daß das Formprinzip des Lebens – und die Form des ›objektiven Geistes‹ resp. der Kultur prinzipiell verschiedene – entgegengesetzte – sind. Denn nur daraus erklärt sich wie immer er damit umgehen mag. Denn der Geist hat immer schon unzählige Gebilde erzeugt – und deshalb gilt: 251 Textes.] danach gestr.: Wir müssen sie zergliedern: Es »sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte« und das Subjekt sieht sich also damit verschiedenen Sphären des ›objektiven Geistes‹ gegenüber, zu denen es in ganz unterschiedlich Verhältnisse tritt: »– nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie;« – auf so verschiedene Weisen kann sich das Subjekt den Sphären des ›objektiven Geistes‹ gegenüberstellen. Das aber ist sozusagen noch gar nicht das Bedeutsamste dieses Dualismus, »sondern« – sagt Simmel – »es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt«. – 252 Seele«.] danach gestr.: Aber darauf geht Simmel dann wenig später noch näher ein. Hier kommt es ihm auf die vollständige Problemdisposition an, d. h. darauf, ›sein‹ philosophisches Problem zu markieren: die Tragödie, der darin erblickt,

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jene ›Tragödie‹ – und nur insofern kann überhaupt von einer ›Tragödie‹ wirklich die Rede sein, weil Leben (Subjekt) und Form (Objekt) einen Gegensatz bilden. Es ist dieser Formgegensatz, der ihn interessiert, der Umstand, daß der subjektive Geist »als Geist dem Geiste [jetzt dem objektiven Geist] zwar innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz [erlebt]: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die, einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.« Dieser sogenannte ›Formgegensatz‹ wird noch näher ausgearbeitet. Denn: 253 | »Mitten in diesem Dualismus [jetzt des Formgegensatzes von Leben und Objektivationen des Geistes] wohnt die Idee der Kultur« – sagt Simmel, und man merkt bereits hier, daß der Begriff ›Kultur‹ also nicht mehr Bezeichnung für das Ergebnis des gesamten Kulturprozesses sein | soll, wie der Begriff ›objektive Kultur‹, – daß also ›Kultur‹ hier nicht mehr ›nomen acti‹ 254 ist. Vielmehr bezeichnet der Begriff ›Kultur‹ jetzt bloß noch eine Idee, einen Vorgang und ein Ziel, das sonst auch mit dem Begriff ›Kultivierung‹ beschrieben wird, 253 Denn:] statt gestr.: Hier wird er nun erstmals bezeichnet durch ein ›rastloses Dahinströmen des Lebens‹, – eines Lebens, das überdies auch ›endlich‹ ist, einerseits, ein Leben, das als solches also mit der ›Form‹ des ›objektiven Geistes‹ nicht vergleichbar ist, denn dieser objektive Geist ist demgegenüber vergleichsweise ›unbeweglich‹ und von ›zeitloser Gültigkeit‹. Damit endet nicht nur der erste Absatz dieses Textes, sondern auch die Exposition, die ›Ausstellung‹ dessen, was hier behandelt werden soll. – Es folgt eine zweiter Absatz, der in der Originalfassung über zweieinhalb Seiten geht, und in diesem zweiten Absatz versucht Simmel das Verhältnis von individueller Seele und Kultur zu klären – indem er zuerst seinen Begriff von der Seele, genauer gesagt vom ›Leben‹ der Seele zu erklären sucht – und indem er andererseits seinen Begriff von ›Kultur‹ darlegt, der hier nicht einfach mit dem des ›objektiven Geistes‹ zusammenfällt, sondern auf eine ›subjektive Kultur‹ abzielt, und damit eigentlich die alte ›Kultivierung‹, die ›cultura animi‹ meint. Denn ihm geht es hier zunächst darum, vom Leben der Seele her die Bedeutung der Kultur für die Seele zu bestimmen – und diese Bedeutung der Kultur besteht eben darin, daß sie in irgendeiner Weise in die individuelle Seele eingehen oder in ihr wirksam werden muß. Simmel vermeidet deshalb jetzt sogar – anders als in der ›Philosophie des Geldes‹ – das Wort ›Aneignung‹, denn das mit ›Aneignung‹ gemeinte Ideal des Verhältnisses des Einzelnen zu Kultur ist nicht mehr sein Ideal. Ihm geht es nur noch darum, wie sich die Seele überhaupt neben der immer weiter wuchernden Welt des ›objektiven Geistes‹ behaupten kann – wie sich das Leben der Seele so organisieren kann, daß echte Individualität entstehen und überleben kann. Ich bitte diesen Unterschied von ›Philosophie des Geldes‹ und dieser späteren, lebensphilosophischen Konzeption im Auge zu behalten, wenn wir uns jetzt der Kultur unter der Prämisse des Überlebens von Individualität nähern: 254 ›nomen acti‹] zusätzlich mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben

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wobei ›Kultur‹ also ›nomen actionis‹ 255 ist, indem hier ein Geschehen, die Kultivierung, beschrieben werden soll. »Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst«. Der Idee der Kultur, einer Kultivierung, liegt eine Tatsache zugrunde, behauptet Simmel, die nur gleichnisweise mit der Formel ›Weg der Seele zu sich selbst‹ beschrieben werden könne. Was es mit diesem ›Weg der Seele zu sich selbst‹ auf sich hat, das habe ich ja bereits beim letzten Male angedeutet, als ich über jene Kontinuitäten und einheitlichen Formen des Empfindens und sichGebens einer Persönlichkeit sprach – und ich hatte diese Auffassung mit Simmels Theorie eines individuellen Gesetzes in Verbindung gebracht, weil dieses individuelle Gesetz als Forderung des Individuums an sich selbst solche Kontinuitäten hervorbringt, so daß sich eine Einheit der Seele oder Persönlichkeit daraus ergibt, daß also sowohl in der Sicht auf das Vergangene, als auch auf das Zukünftige dieser Persönlichkeit so etwas wie eine durchgängige Einheitlichkeit erreicht oder angestrebt wird – wenngleich sie letztlich auch nie im vollen Sinne erreicht werden mag. Der ›Weg der Seele zu sich selbst‹ bezeichnet in diesem Sinne also ein Ideal – das Ideal der sich behaupten wollenden Individualität gegen jenen übermächtigen ›objektiven Geist‹. 256 Und dieses Sich-Behaupten-Wollen schafft überhaupt erst eine Seele in diesem Sinne – Wiedergewinnung der Seele i. d. S., daß nur Aufhebung der Fragmentierung, Stiftung neuer Einheitlichkeit, Seele schafft resp. wiederherstellt – eine Seele, so muß man sagen, unter den Bedingungen des modernen Lebens, d. h. hier muß die Seele überhaupt erst wiedergewonnen werden, – als Begriff, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ›out‹ war – und als Tatsache, denn ›Seele‹ | meint und ist immer ›Einheit der Seele‹, meint immer eine personale Geschlossenheit und Einheitlichkeit (ganzer Mensch), die das moderne Leben an sich gar nicht zuläßt, die das moderne Leben in der großstädtischen Lebenswelt – wie wir bereits gesehen hatten – als solche gar nicht zuläßt: Arbeitsteilung, Spezialisierung, soziale Differenzierung → eigene Logik der

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›nomen actionis‹] zusätzlich mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben Der … Geist‹.] am Rd. markiert

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Sphären des objektiven Geistes, Verselbstständigung, Formgegensatz. 257 Es geht um die Selbstbehauptung des Individuums, die Wiedergewinnung 258 des Begriffs und der Sache Seele, wenn es heißt: »denn keine solche [– Seele ist hier gemeint] ist jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden.« – ›Seele‹ ist von sich aus der Ausdruck für einen Kernbestand der Persönlichkeit, der nicht in einem einzelnen Augenblick einfach nur da und konstatierbar ist – die ›Seele‹ kann man nicht ›fixieren‹ und nicht auf dem Seziertisch des Mediziners zeigen – denn Seele ist nur ein Wort und bloß ein Ausdruck dafür, daß die individuelle Persönlichkeit existiert. Und deren Existenz, die man nur gleichnisweise beschreiben kann, besteht eben darin, daß »ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden« ist, – d. h. daß erstens eine solche Einheitlichkeit in alle den Kontinuitäten dessen besteht, wie ein Mensch ist und sich ausdrückt – im umfassendsten Sinne ist das gemeint: Gerichtetheit, Tendenz, Wollen, Ziele, Abwehrmechanismen; alle Grade der Konkretion durchlaufend! Zweitens gibt es immer so etwas wie ›Zielsetzungen‹ und ›Gesetzmäßigkeiten‹, unter denen die Persönlichkeit steht oder zu stehen scheint – womit nicht etwa nur bewußte Ziele, irgendetwas Bestimmtes zu erreichen, gemeint sind. Sondern die Formeln und der Verweis auf ›Höheres‹ und ›Vollendeteres‹ beschreiben das resp. ein jeweils aktuelles Ungenügen, das wir fast immer und an jedem Tage empfinden – und daß wir es empfinden, daß wir ständig unzufrieden sind, das bedeutet doch umgekehrt, daß wir so etwas wie ›Ziele‹, ›Wünsche‹ oder eben etwas ›Vollendeteres‹ vor Augen haben als wir jeweils zu erreichen vermögen. Denn unzufrieden kann man nur sein, nachdem man das Erreichte an jenem ›Höheren‹ und ›Vollendeteren‹ gemessen hat. So lautet Simmels Schluß. – Die Überwindung dieser unleugbaren Differenz heißt »Leben« bei Simmel. Das bedeutet 259: | Der ›Weg der Seele zu sich selbst‹ besteht insoweit also → … Formgegensatz.] hs. eingefügt Individuums, die Wiedergewinnung] Individuums Wiedergewinnung 259 Denn … bedeutet] statt dreier gestr. S.: ›Seele‹ in diesem Sinne gibt es also nicht – sondern wir nennen ein ganzes Bündel von Phänomenen und die einheitliche Richtung dieser Phänomene: die Seele. Weiter heißt es: »Nicht ein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal ist hier gemeint; sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, 257 258

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darin, daß eine einheitliche Persönlichkeit behauptet wird, – daß die bis jetzt geschehene Realisierung dieser Persönlichkeit jederzeit vorausweist in eine Zukunft und daß doch das, was wir die Persönlichkeit

einem inneren Formtrieb gehorsamen Keimes« – das ist diese Seele. Nachdem dies klargestellt ist, hat Simmel dennoch das Bedürfnis, diese Seele und zumal ihr Leben näher zu erläutern, und diese ganze Passage, die jetzt folgt, dient schließlich dem Zweck auszusprechen, daß es einer Kultivierung der Seele bedarf, damit es überhaupt zu so etwas wie einer Einheitlichkeit der Seele kommt. Zunächst aber muß diese ›Einheitlichkeit‹ herausgearbeitet werden: »Wie das Leben – und zuhöchst seine Steigerung im Bewußtsein – seine Vergangenheit in einer unmittelbareren Form in sich enthält als irgend ein Stück Unorganisches, wie das Vergangene nach seinem ursprünglichen Inhalt und nicht nur als mechanische Ursache späterer Umsetzungen im Bewußtsein weiterlebt, so umschließt es auch seine Zukunft in einer Weise, zu der das Unlebendige keine Analogie besitzt.« D. h.: Leben – egal, ob menschliches oder sonstiges organisches Leben, zeichnet sich prinzipiell gegenüber der unorganischen Welt dadurch aus, daß Vergangenheit weiterwirkt und daß die ganze Vergangenheit und Gegenwart dieses Lebens auch auf Zukünftiges vorausweist, d. h.: »In jedem Daseinsmoment eines Organismus, der wachsen und sich fortpflanzen kann, wohnt die spätere Form mit einer so innerlichen Notwendigkeit und Vorgebildetheit, die etwa derjenigen gar nicht zu | koordinieren ist, mit der die gespannte Feder ihre Gelöstheit enthält.« – Das Leben des Organismus ist etwas prinzipiell Nicht-Mechanisches und sozusagen ›physikalisch‹ nicht zu erklären. Aber nochmehr: »Während alles Unlebendige schlechthin nur den Augenblick der Gegenwart besitzt, streckt sich das Lebendige in einer unvergleichlichen Art über Vergangenheit und Zukunft. All diese seelischen Bewegtheiten vom Typus des Wollens, der Pflicht, des Berufenseins, des Hoffens« – zeugen davon, daß das ›Leben‹ solche Kontinuitäten aufweist, solche ›Einheitlichkeit‹ der Seele, die sich letztlich an der ›Einheitlichkeit‹ des Wollens, Hoffens oder anderer Eigenschaften festmacht – denn sie sind umgekehrt nur »die geistigen Fortsetzungen der fundamentalen Bestimmung des Lebens: in seiner Gegenwart seine Zukunft, in einer besonderen, eben nur am Lebensprozeß bestehenden Form zu erhalten.« – Selbsterhaltung – heißt das einfache Wort, das Simmel hier offenbar deshalb vermeidet, weil man dann an Triebe – und nicht an Seele denkt. ›Seele‹ – darauf kommt es Simmel an – soll hier als Inbegriff von etwas ausgewiesen werden, was eine biologische Grundlage hat, die sich nicht weiter zergliedern läßt, – eine biologische Grundlage, die der Mensch nicht nur nicht verliert, solange er lebt, sondern die auch in allen seinen sogenannten ›kulturellen‹ Tätigkeiten und Bedürfnissen wirksam bleibt, wie denn auch umgekehrt eben diese kulturellen Betätigungen und Resultate des gesamten Kultur- und Zivilisationsprozesses immer auch als Resultate der biologisch verbürgten Eigenschaften des Menschen angesehen werden müssen. ›Leben‹ meint also nicht nur das ›äußere‹ und ›sichtbare‹ des gelebten Lebens eines Menschen, sondern es gibt in ihm, und es zeichnet | ihn als Einzelnen aus, daß er ›sein‹ Leben lebt, sein ganz bestimmtes Leben, weil und insofern man auch berücksichtigt, daß der Einzelne seine auch biologischen Eigenschaften besitzt. Aber Simmel kommt es dabei nicht auf einzelne biologische Eigenschaften, sondern auf deren Ursprünglichkeit an, darauf, daß die ›Einheitlichkeit‹ der Seele ihren Grund findet und daß insofern jede Gegenwart

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nennen, eigentlich schon eine | Verwirklichung dessen voraussetzt, was da noch alles realisiert werden soll. Ich gebe zu, daß scheint ziemlich dunkel, ist aber eigentlich 260 gar nicht so schwierig nachzuvollziehen: Wenn wir von Persönlichkeit sprechen, so meinen wir damit nicht nur diesen Augenblick, und nichtmal meinen wir damit nur die ganze Vergangenheit dieser Person, selbst wenn wir sie so gut kennten, sondern wir meinen immer auch einen Zukunftsaspekt, meinen also eine Art Prognose erstellen zu können, wie sich diese Persönlichkeit in Zukunft verhalten werde: überspitzt gesagt! diese Prognostizierbarkeit, das ist Persönlichkeit! Diese allerwärts praktisch geübte Meinung, eine Persönlichkeit auch in Zukunft als dieselbe noch ansehen zu können, kehrt Simmel theoretisch ganz einfach um und bezieht diese Prognose bereits in den Begriff dieser Persönlichkeit ein. Er tut gewissermaßen so, als ob das alles, was von einer Persönlichkeit noch zu erwarten ist, jetzt und hier alles schon mitgedacht wird und werden muß, um überhaupt den Vollbegriff einer Persönlichkeit fassen zu können. 261 | des Lebens auch eine Zukunft präformiert, wie denn bereits diese Gegenwart durch die Vergangenheit in gewissem Maße als präformiert angesehen werden muß. »Und dies« – diese Vorausweisungen von der Gegenwart auf die Zukunft – betreffen »nicht nur einzelne Entwicklungen und Vollendungen, sondern die Persönlichkeit als ganze und als Einheit trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich, mit dessen Realisierung sie sozusagen statt ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre.« Nicht nur einzelne Eigenschaften des Individuums zeigen solche Gleichförmigkeiten und solche Einheitlichkeit, sondern auch die Persönlichkeit als Ganze einen – in diesem Sinne – einheitlichen ›Charakter‹. – Ein Wort, das Simmel wiederum meidet, weil der Begriff des Charakters einerseits sofort guten oder schlechten Charakter meinen könnte – andrerseits, weil die Vorstellung vermieden werden muß, daß er etwa biologisch veranlagtes Verhalten meine. Nein, diese ›Einheitlichkeit‹ ist zunächst völlig wertfrei gedacht – und auch ist nur die Grundlage des Lebens überhaupt biologisch zu verstehen, nicht aber das bestimmte Leben eines Einzelnen, sein Verhalten und seine Lebensäußerungen biologisch zu verstehen. 260 ist aber eigentlich] aber eigentlich 261 können.] danach gestr.: Wenn Ihnen das immer noch zu subtil oder sophisticated scheint, dann kann ich noch auf einen anderen Sachverhalt verweisen: auf Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein. Was denn andres als ein Vorgriff auf Zukünftiges ist damit gemeint? Ist nicht sowohl das Selbstvertrauen wie das Selbstbewußtsein eine solche zukunftsheischende Form, die über das Hier und Jetzt hinausstrebt und gleichsam die Vergangenheit und Gegenwart ›hochrechnet‹ ! – Auch hier haben wir es, auch wenn Simmel diese Beispiele nicht bringt, mit Formen der ›Einheitlichkeit‹ der Seele resp. mit jenen Kontinuitäten zu tun, die es gestatten, eine solche Einheitlichkeit zu behaupten. Nur machen wir uns diese Kontinuitäten selten klar, ja, wir schauen zumeist nur auf die einzelnen Situationen und glauben im Grunde nicht, daß solche

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»So sehr auch das Reifen und Sich-Bewähren der seelischen Kräfte sich an einzelnen, sozusagen provinziellen Aufgaben und Interessen vollziehen mag, so steht irgendwie darunter oder darüber die Forderung, daß mit alledem die seelische Totalität als solche ein mit ihr selbst gegebenes Versprechen erfülle, und alle Einzelausbildungen erscheinen damit doch nur als eine Vielheit von Wegen, auf denen die Seele zu sich selbst kommt.« – Und jetzt kommt es: »Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unsres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens –« d. h.: Wir sind es, die dieses Kontinuitäten voraussetzen oder annehmen, daß sie eintreten werden, – ganz unabhängig davon, ob nicht doch noch etwas ›dazwischenkommt‹. Ja, man könnte die These von der ›Einheitlichkeit‹ der Persönlichkeit, die aus unserem Gefühlsmäßigen und praktischen Wesen hervorgeht, auch so formulieren, daß man sagt: selbst wenn ständig etwas ›dazwischenkommt‹, wenn es Persönlichkeiten gibt, die uns immer wieder enttäuscht haben, die eine solche ›Einheit‹ allemal vermissen lassen – dann aber – ja gerade dann bekunden wir mit diesen Negationen doch immer noch die Erwartung, es hätte eigentlich anders sein müssen! Und weiter: selbst dann, wenn wir jene Metaphysik unseres Wesens | nicht mitmachen wollten, wenn wir also solche Urteile über Mitmenschen niemals äußern würden, so gibt es einen guten Grund dafür, daß wir, als Menschen ständig darauf angewiesen sind, daß unsere Erwartungen erfüllt werden. – Natürlich nicht solche Erwartungen, wie die von einem Lottogewinn und auch nicht solche, die tatsächlich dann sich als Enttäuschung erweisen, sondern all die Erwartungen, die nicht enttäuscht werden sind es, die jenen Zukunftshorizont und das praktisch-gefühlsmäßige Wesen des Menschen bestätigen. Ich meine die Erwartung, daß ich, wenn 262 ich nach dem Weg frage, Antwort erhalte. Daß ich, wenn ich jemanden anspreche, er mich nicht nur verstehen wird, sondern mir ebenfalls antworten wird. Die Erwartung, daß der Zug fahrplanmäßig abfährt, daß über-

Kontinuitäten auch in die Zukunft hinein fortzuschreiben sind. Denn wir nehmen an, daß Zufälle aller Art, Veränderungen der Umstände und Glücks- und Unglücksfälle ›dazwischenkommen‹ können, daß also die Kontinuitäten sich gar nicht erhalten können – und, daß es auch keineswegs wünschenswert wäre, daß sie sich erhalten würden. Das ist richtig – und natürlich von Simmel sowohl mitgedacht, wie auch beantwortet worden. Er sagt: 262 daß ich, wenn] daß, wenn

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haupt das Ganze des modernen Lebens irgendwie funktioniert – das alles zeigt den Menschen (und zumal den modernen) eingesponnen in ein unendlich kompliziertes Netz von ›Erwartungen‹, das ihm als solches keineswegs bewußt wird. – Bewußt werden allenfalls die fehlgeschlagenen Erwartungen, die Verspätung, die unfreundliche Antwort, das Versagen des einmal eingeprägten Musters, daß es klappen werde. Dies alles hat Simmel im Auge, wenn er das gefühlsmäßige und praktische Wesen des Menschen in seinen Erwartungen gegenüber anderen Menschen dahingehend bestimmt, daß ein solches gleichsam vorgezeichnetes Bild der Person oder Seele des anderen uns jederzeit in unserem Verhalten bestimme. 263 | »Und hier zeigt sich« – sagt Simmel – »die erste und vorläufig nur dem Sprachgefühl folgende Bestimmung des Kulturbegriffs. Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können ins uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebunden, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient.« Kultiviertheit, ›cultura animi‹ entsteht erst dann, wenn es auch zu jener ›seelischen Zentralität‹ kommt – und vice versa. Denn alle einzelnen Fertigkeiten und Fähigkeiten empfinde das Sprachgefühl noch längst nicht als ausreichende Grundlage für die Bezeichnung eines Menschen als ›kultiviert‹. 264 | bestimme.] bestimme, danach gestr.: – und: »Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens – in wie weitem Abstand von dem realen Verhalten sich auch dieser symbolische Ausdruck halte: daß die Einheit der Seele nicht einfach ein formales Band ist, das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte in immer gleicher Weise umschließt, sondern daß durch diese Einzelkräfte eine Entwicklung ihrer als eines Ganzen getragen wird und dieser Entwicklung des Ganzen das Ziel einer Ausgebildetheit innerlich vorangestellt ist, zu der alle jene einzelnen Vermögen und Vollkommenheiten als Mittel gelten.« Damit haben wir das erste Argumentationsziel dieses langen Absatzes erreicht: die Einheit der Seele ist keine Summenformel für einzelne Entwicklungen, sondern alle Einzelentwicklungen sind von dieser Einheit getragen, wie sie diese Einheit überhaupt erst zu einer solchen machen. Das zweite Argumentationsziel besteht nun darin, diese Einheit der Seele mit der Kultur und der Kultiviertheit so zu verknüpfen, daß klar wird, daß die ›Einheit der Seele‹ nur aufgrund von Kultur entstehen kann – und daß umgekehrt wir von ›Kultur‹ einer Person überhaupt nur dann sprechen, wenn ein bestimmtes Vermittlungsverhältnis zwischen dem Individuum und der Kultur hergestellt worden ist. Ich lese: 264 ›kultiviert‹.] danach 3 S. gestr.: »Unsere bewußten und angebbaren Strebungen [Bestrebungen] gelten | zwar den partikularen Interessen und Potenzen, und darum 263

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Simmel geht auch hier auf den Sprachgebrauch zurück – und es ist charakteristisch für ihn, daß er die Begriffe nicht normativ bestimmt, sondern ihnen so, wie sie nun einmal im Gebrauch sind, | gewissermaßen ihr Geheimnis ablauschen will. Diese folgende Passage weist erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeiten hin angesehen, als ein Bündel von Wachstumslinien, die sich nach recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen erstrecken.« Nicht jedes Bild gelingt – dieses ist besonders abstrus. Gemeint ist wohl, das wir unterscheiden müssen zwischen unseren ›angebbaren‹, bewußten Bestrebungen und solchen, die sich erst nachher herausstellen oder ganz unausgesprochen nur vollzogen werden. Die angebbaren und bewußten, das Handeln in diesen benennbaren Bahnen, verleihen keineswegs den Eindruck von Einheitlichkeit der ›Einheit‹ der Seele; viel zu viele und viel zu unterschiedliche Aktivitäten füllen jeden Tag aus – und jede dieser Aktivitäten wird noch in ganz unterschiedlicher Intensität ausgeführt. Von daher läßt sich keine ›Einheit der Seele‹ her erkennen. »Aber«, sagt Simmel, »nicht mit diesen in ihren singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch. Oder anders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« Und damit erstmal Pause! »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« Dieser Satz, oder besser: diese These Simmels ist von ihm nicht ganz vollständig hergeleitet worden und sie verdankt sich wohl auch der Freude an einer gelungenen Formulierung. Denn inwiefern von einer »geschlossenen Einheit« gesprochen werden kann, bevor es überhaupt zu einer Kultivierung | kommt, ist doch sehr fraglich. Wenn die ›Einheit der Persönlichkeit‹ gemeint sein sollte, so haben wir uns diese doch immer als Resultat der Kultivierung vorgestellt – und völlig zurecht sie uns nur so vorgestellt. Man muß diesen Zweifel an Simmels Formulierung nur einmal aussprechen, um zu bemerken, daß er den hier beschriebenen Weg keineswegs als einen ›historischen‹ und überhaupt nicht im Zeitsinne meint, sondern daß vielmehr jederzeit dieser Weg als Aufgabe vor uns steht: immer schon haben wir, und sei dies noch so gering entwickelt, so etwas wie eine Einheit der Seele, – jederzeit auch ergeht an diese der Auftrag, durch die »entfaltete Vielheit« hindurchzugehen, d. h. durch die lebenspraktisch verursachte Vielheit all jener Situationen der ›Bewährung‹ der Seele und ihrer Einheit – um dann schließlich, gleichsam reicher als zuvor, eine »entfaltete Einheit« zu bilden: kultivierter zu sein als zuvor. So ungefähr ist dies gemeint – und also wird keine Entwicklung im Zeitsinne, sondern eine im systematischen Sinne damit beschrieben: der einfache Vorgang, daß jederzeit die Einheit der Seele (als Voraussetzung) ihre ›Bewährung‹ an der Vielfalt der Dinge und Menschen vollziehen muß, um dann als reicher gewordene ›Einheit der Seele‹ gleichsam höherkultiviert daraus hervorzugehen, und diesen Prozeß wieder und wieder zu vollführen. Das wird deutlicher, wenn Simmel sagt: »Unter allen Umständen aber kann es sich nur um die Entwicklung zu einer Entscheidung hin handeln, die in den Keimkräften der Persönlichkeit angelegt, als ihr ideeller Plan in ihr selbst gleichsam skizziert ist« – die in einem unablässig ablaufenden Prozeß vollzogen werden muß. D. h.: auch dann wenn wir Simmels These nicht akzeptieren wollten, so meint er doch, müßten wir jedenfalls zugestehen, daß dieser Prozeß der Kultivierung ein Prozeß sei, der ein gewisses Maß von vorhandener | Persönlich-

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auf den eigentümlichen Austausch und jene Spannung zwischen Subjekt und Objekt, die ihn schließlich auf die ›Tragödie der Kultur‹ führen wird. – Ich übergehe den Rest des Absatzes und beginne mit dem nächsten: »Und hier tritt nun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch die sie eine Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des seelischen Zentrums empfunden wird;« – wo also, wie in dem inzwischen gebrachten Beispiel, aus einem Baumstamm, etwas völlig ihm Heterogenes geschaffen wird, wie z. B. ein Schiffsmast. Ein Baum – so Simmel – tendiere und verwirkliche sich keinesfalls in diese Form, ein Schiffsmast zu werden – es liege hier keinerlei Präformation vor – und so spreche man in einem solchen Falle nicht von einer ›Kultivierung‹. Eine Kultivierung setze vielmehr voraus, daß – wie beim Apfelbaum ein Pfropf – ein ursprünglich angelegtes Potential des wilden Baumes durch eine Handlung des Menschen zu höherer Kultur geführt werde, die den Baum nur modifiziere und sein eigenes Wachstumsgesetz und seine eigene Wesenheit nur überforme – aber nicht umforme. – Ich lese noch mal: »Und hier tritt nun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch sie sie eine Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des seelischen Zentrums empfunden wird; aber er trifft auch nicht zu, wo sie nur als

keit, d. h. Einheitlichkeit, voraussetze, damit eine Weiterentwicklung dieser Persönlichkeit denkbar sei und stattfinden könne, die in ihr selbst bereits in irgend einer Weise vorgezeichnet sein muß. ›Vorgezeichnet‹ ist wieder ein etwas schiefes oder ein überzeichnetes Bild. Simmel hat dies keineswegs in dem absoluten Sinne gemeint, daß damit eine Festlegung gemeint wäre, so, wie etwa eine Art Schablone etwas vorzeichnet. Aber er hat doch gemeint, daß in weitaus höherem Maße, als es bewußt zu werden pflegt, die ›Einheit der Seele‹ oder der Persönlichkeit darüber entscheidet, wie das Leben verläuft – gemeint ist, innerhalb gewisser Fluchtlinien verläuft, welcher Zielkorridor gleichsam nur zur Verfügung steht für eine persönliche Entwicklung. Und er konnte dies meinen, weil er davon ausging, daß die Persönlichkeiten aufgrund ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart durchaus bereits in hohem Maße als Geprägte anzusehen seien – womit er freilich nur erwachsene Menschen meinte, bei denen dann gilt, daß, je älter sie sind, ein desto enger umrissener Zielkorridor sich überhaupt noch für die weitere Entwicklung darbiete. Aber noch etwas anderes muß man hinzufügen: nämlich, daß hier immer schon vorausgesetzt wird, daß es sich um eine Persönlichkeit – und Individualität handele, die dann noch weiter und höher kultiviert werden soll, daß also ein bereits relativ hohes Niveau von Einheitlichkeit durch die Vielheit zu reicherer Einheit hindurchgehen müsse und werde. Und das ist eben jener ›Weg der Seele zu sich selbst‹ – zu einem immer höher kultivierten Selbst.

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eine solche Eigenentwicklung auftritt, die keiner objektiven oder ihr äußeren Mittel und Sanktionen bedarf.« Also: Von Kultivierung und Kultur sprechen wir nicht, wenn einerseits etwas ganz einfach nur völlig verformt und zurechtgemacht | wird, wenn mit etwas etwas geschieht, das keineswegs durch Präformation in ihm angelegt war. Aber wir sprechen auch beim Gegenextrem nicht von einer Kultivierung, wenn nämlich etwas eher nur natürlich so weiterwächst und sich entwickelt – und komme dabei auch das Wertvollste heraus. Alles hängt hier an dem Hindurchgehen durch die Vielfalt zurück zu einer neuen Einheit – resp. an der kultivierenden Überformung – Sie haben das Prinzip bereits bemerkt und verstanden, worauf Simmel hinauswill. Er gibt ein Beispiel für den Fall, daß der Weg nicht durch die Kultur zu sich selbst führe: »Vielerlei Bewegungen führten die Seele wirklich, wie jenes Ideal [Weg der Seele zu sich selbst] es erfordert, zu sich selbst, das heißt zur Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden, vollen und eigensten Seins. Aber indem oder insoweit sie dies rein von innen her erreicht: in religiösen Aufschwüngen, sittlicher Selbsthingabe, beherrschender Intellektualität, Harmonie des Gesamtlebens – kann sie doch noch des spezifischen Besitzes der Kultiviertheit entbehren. Nicht nur, daß ihr dabei jenes ganz oder relativ Äußerliche fehlen mag, das der Sprachgebrauch als bloße Zivilisation qualifiziert. Darauf käme es durchaus nicht an. Aber Kultiviertheit in ihrem reinsten, tiefsten Sinne ist da nicht gegeben, wo die Seele jenen Weg von sich selbst zu sich selbst, von der Möglichkeit unseres wahrsten Ich zu seiner Wirklichkeit, ausschließlich mit ihren subjektiv personalen Kräften zurücklegt – wenngleich vielleicht von einem höchsten Blickpunkt aus gerade diese Vollendungen die wertvollsten sind« – und er setzt hinzu: »womit nur bewiesen wäre, daß Kultur nicht das einzige Wertdefinitivum der Seele ist.« Es geht hier nicht um ›die Kultur‹, sondern um die Kultivierung der Persönlichkeit, – es geht also nicht um den Bestand dessen, was eine | Kultur bereitstellt, sondern um Aussagen darüber, wie ein bestimmtes Kulturideal: eine höchst kultivierte Persönlichkeit gedacht werden muß, resp. was wir unter einer solchen und einem solchen ›Ideal‹ zu verstehen haben. Der Religionsstifter und das mathematische Genie – sie sind darum noch längst keine ›kultivierten‹ Menschen, bloß weil sie Kulturschöpfer und dies vielleicht in einem kaum zu überbietenden Maße 125 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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sind. Nein, ›kultiviert‹ ist man dadurch, daß man eine Einheit der Persönlichkeit ›lebt‹ und daß man diese Einheitlichkeit der Persönlichkeit durchhält – in einem freilich doch unter einer bestimmten Norm stehenden Sinne: sich ständig zu vervollkommnen: »Weg der Seele zu sich selbst« heißt ›Vervollkommnung‹. Wobei ausdrücklich gesagt wird: ›Kultiviertheit‹ in diesem Sinne ist keineswegs der einzige definitive Wert, den die Gesellschaft – oder wir – kennen. Es gibt andere, von denen aber hier nicht die Rede sein soll; Religionsstifter, Künstler und andere Heroen waren nicht – und müssen auch nicht ›kultiviert‹ sein. – Kultur aber – in dem Sinne, wie sie der Sprachgebrauch – und das heißt die Konvention jemandem zuspricht, gehorcht anderen Gesetzen und Kriterien. Simmel sagt: »Ihr spezifischer Sinn … ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind.« – Und damit schließt sich der Kreis, wenn er fortfährt: »Jene objektiv geistigen Gebilde, von denen ich im Anfang sprach: Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen – sind Stationen, über die das Subjekt gehen muß, um den besonderen Eigenwert, der seine | Kultur heißt, zu gewinnen. Es muß diese in sich einbeziehen, aber er muß sie auch in sich einbeziehen, darf sie nicht einfach als objektive Werte bestehen lassen. Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichem Strome fühlen, und das von sich aus auf eine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht – und das ist schlechthin das Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.« Kultur 265 entsteht nur in und aus dem Spannungsverhältnis zwischen subjektivem und objektivem Geist. Hier zeigt sich, daß und wie sehr Simmel sich von seinem früheren Konzept von subjektiver und objektiver Kultur inzwischen entfernt hat – und wie weit auch von Lazarus’ Theorie des objektiven Geistes. Jetzt treten zwar subjektiver und objektiver Geist auch als 265

Kultur] ab hier bis Ende der vorliegenden Vorlesung hs.

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Begriffe wieder in den Vordergrund, aber dies freilich nur, weil gezeigt werden soll, daß Kultur eben nur das Ineinander beider Seiten bezeichnet und ist. – Jetzt eben gedacht unter der lebensphilosophischen Prämisse, daß alles auf die individuelle Kultur ankomme, der gegenüber jene allgemeine oder objektive letztlich nur ein Material und Durchgangsmedium darstellt, das jener zu dienen habe. Denn »Kultur« als bloßes Material hat für Simmel keinen Wert an sich 266 und repräsentiert bloß noch jene moderne Übermacht des objektiven Geistes, eines Geistes, der eben prinzipiell nicht mehr anzueignen ist – auch weil er nicht mehr im eigentlichen und wahren Sinne Geist ist. 267 | Objektive Kultur als bloßes Material und als bloßer Bestand dessen, was alles objektiviert worden ist, ist zum reinen Negativum geworden. Zu einem Negativum weil, und insofern diese objektive Kultur den Inbegriff einer Überforderung und wohl auch Vergewaltigung der Individualität darstelle – gegen die Simmel seine »Theorie des« wenn man so will »subjektiven Geistes« richtet. So heißt sie zwar nicht, sie heißt vielmehr »Philosophische Kultur«, diese Konzeption, und so auch das Buch, in dem dieser Text Erstveröffentlichung fand, – aber diese »Philosophische Kultur« betreibt, sucht und beschreibt den »Weg der Seele zu sich selbst«, – den Weg der Simmelschen Seele zu sich selbst, wie man hinzusetzen muß. Ich bitte nochmal diesen Text zuende und als ganzen zu lesen – und danke für Ihre Aufmerksamkeit. 268

266 267 268

keinen Wert an sich] statt gestr.: jeden Wert verloren ist.] danach gestr.: Ich wünsche gute Weihnachten und ein gesundes neues Jahr – und … Aufmerksamkeit.] darunter: und wünsche schöne Weihnachtsferien

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[Ordner SS 1996 – überarbeitet zur Wiederverwendung im WS 1998/99; zum großen Teil übereinstimmend mit der 9. Vorlesung aus: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff WS 1997/98] 8. Vorlesung 269 Wir waren in der letzten Woche 270 bis zu der Stelle gekommen, wo Simmel es als das »Paradoxon der Kultur« bezeichnet, daß das individuelle Leben überhaupt nur dadurch vervollkommnet werden kann, daß es – durch Kultur, durch die Kultur hindurch – geschehen muß. Wobei die Paradoxie darin liegt, daß die Kultur zwar von den menschlichen Geistern geschaffen wurde, selber aber eine Art Eigenleben führt und sich verselbständigt hat. Dieser Formgegensatz von individuellem Leben und Kultur führte auf diese Paradoxie, aber Simmels Zielstellung von Kultur, sie müsse der Vervollkommnung des Individuums dienen, bringt hier ein Problem und einen ›Konflikt‹ hervor. Ich lese die Stelle nochmal: »Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strome fühlen, und das von sich aus auf eine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht – und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.« Das heißt: das individuelle Leben, das aus inneren Gründen genötigt ist, seine Vervollkommnung zusuchen, kann diese nur im Medium der Kultur finden, und kann also insofern nicht aus ›eigener Kraft‹ seine Vervollkommnung erreichen. Nur indem das Individuum jene »objektiv geistigen Gebilde, … Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte | Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen« als Medien der Vervollkommnung er8. Vorlesung] datiert 6. 1. 99; statt gestrichen: 9. Vorlesung; am Rd.: 29 Teiln[ehmer] 5 davon im Seminar 19.12 9 Teiln[ehmer]; aus thematischen Gründen an dieser Stelle eingefügt bzw. belassen, folgt auch im Ms. der direkt vorhergehenden 7. Vorlesung. 270 in der letzten Woche] für das WS 1989/99 gestr. und ersetzt mit: vor den Weihnachtsferien 269

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kennt, nutzt oder durchläuft, erfüllen diese verschiedenen ›Stationen‹ der ›Kultur‹ ihren Zweck. – Soweit waren wir gekommen – und wenn Sie Simmels Aufsatz 271 nachgelesen haben, dann haben Sie gesehen, daß auch die Redefigur und Formel: ›Kultur bedeute: den Weg der Seele zu sich selbst‹ eigentlich nichts anderes aussagt: »die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis«, diese beiden Elemente in Wechselwirkung geben dem dezidiert lebensphilosophischen Begriff der Kultur seinen vollen Sinn. Denn nicht der bloß ›objektive Geist‹, das bloße Vorhandensein von z. B. Kunst, Wissenschaft oder Religion bedeutet für das ›Leben‹ schon an sich etwas, sondern diese Bedeutung, eine sachgemäße Funktion des ›objektiven Geistes‹ wird nur dadurch möglich, daß die Individuen nun auch Kunst, Wissenschaft und Religion zum Zwecke ihrer Vollendung ausüben resp. in Anspruch nehmen. Simmel hat dies näher zu erläutern versucht und dabei diesem Prozeß eine ›metaphysische Bedeutung‹ zuerkannt. Das sollte heißen, daß hier ein elementarer und prinzipiell unhintergehbarer Prozeß beschrieben sei: das ›Leben‹ und die ›Kultur‹ stehen in dem prinzipiell selben Verhältnis wie ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ zueinander, indem der Begriff des einen wie des andren ohne seinen jeweiligen Gegenpart völlig sinnlos wäre: wie die ›Kultur‹ als ›objektiver Geist‹ aus dem Schaffen der ›subjektiven Geister‹ hervorgeht, so gilt doch | umgekehrt auch, daß sich diese Subjekte überhaupt nur durch diesen ›objektiven Geist‹ vervollkommnen, und in diesem Sinne ›kultivieren‹, können. Dieses Wechselspiel von Subjekt und Objekt, das wir als Erkenntnisbeziehung und als Arbeit, aber in mancher Hinsicht auch in der Ausübung von Kunst und Religion konstatieren können, läßt sich auf den 272 Begriff der ›Partizipation‹ bringen. Und das heißt zunächst ganz einfach: der Einzelne partizipiert an der Kultur indem er das in Anspruch nimmt, was die umgebende Kultur ihm zur Verfügung stellt. Partizipation oder Teilhabe besteht dann darin, daß jeder Einzelne etwas vom Ganzen nimmt. Aber, das hatten wir bei Lazarus schon gesehen: der Einzelne ›nimmt‹ oder übernimmt nicht nur z. B. die Sprache, – die Sprache als solche befindet sich in ständiger Entwicklung und diese Entwick271 272

Simmels Aufsatz] statt gestr.: fleißig auf den] statt gestr.: wieder auf den schon früher mal bemühten

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lung wird von all den Einzelnen getragen. Das heißt: der Einzelne, vor allem, aber alle Einzelnen zusammengenommen, ›geben‹ der Sprache auch etwas, und dies nicht nur im Rahmen einer bescheidenen Hinzufügung, sondern sie, die Einzelnen in der Summe erhalten und entwickeln die Sprache ständig auch weiter, Sprache als gesprochene ist in ihrem Bestand davon abhängig, daß sie ›ausgeübt‹, d. h. gesprochen wird. ›Partizipation‹ bezeichnet also sowohl passive ›Übernahme‹ wie auch aktives ›Hinzutun‹ – aber drittens eben auch noch: daß eines ohne das andere gar nicht existieren kann: Sprache ist nicht ergon, Werk – sondern vielmehr energeia, Tätigkeit, wie W. v. Humboldt dieses Verhältnis und diesen besonderen Status von Symbolsystem klassisch auf den Punkt gebracht hat. Simmel nun interessiert sich – in diesen lebensphilosophischen Überlegungen – eigentlich nur für den Aspekt der Partizipation, wo das Individuum ›nimmt‹. Und seine Frage ist eigentlich die, welche Widerstände und Probleme sich diesem ›Nehmen‹ oder ›Aufnehmen‹ von | Kulturinhalten dem Individuum entgegenstellen. Die erste Schwierigkeit 273 (›Fremdheit‹ oder gar ›Feindschaft‹) für jegliche Partizipation des Individuums an der Kultur liegt, wie wir bereits wissen, schon darin, daß diese Objektivationen eine prinzipiell andere, nämlich starre und fertige Form aufweisen, – oder, wie Simmel sagt: »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber«, – was wiederum zur Folge habe, daß die gleichsam »natürliche« ›Bewegtheit der Seele‹ hier eine Festlegung, eine Erstarrung und gleichsam eine Bremsung der ihr eigenen Aktivität erfahre. Das, was weitgehend festgeworden ist, was einigermaßen unverrückbar als Objektivationen des Geistes vor uns steht, kann nicht so ohne weiteres wieder in das Leben aufgenommen werden: »Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen« – fördern eben nicht nur, und schon garnicht immer das Individuum, sondern bremsen jederzeit auch die individuelle Aktivität. Die Objektivationen des Geistes weisen also von vornherein einen Doppelcharakter auf: sowohl den Subjekten in gewissem Sinne helfend oder unterstützend zur Verfügung zu stehen, als auch den 273

Schwierigkeit] Schwierigkeit, danach hs. Klammersetzung

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andern Charakter, ihnen ›fremd‹ und völlig selbständig gegenüberzustehen, als etwas, das sich der einfachen Aneignung widersetzt. Dabei aber tritt zusätzlich noch, wie Simmel sehr schön herausarbeitet, ein besonderer Effekt ein, eine Art Überlegenheit des Objektiven gegenüber dem bloß Subjektiven, was die Wertung und unsere Wertvorstellungen angeht: »Das äußere oder immaterielle Werk, in dem das seelische Leben sich niederschlägt, wird als ein Wert besonderer Art empfunden;« – der ›objektive Geist‹ wird als ein | ›spezifisch menschlicher Reichtum‹ angesehen, indem »die Produkte des subjektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung von Werten angehören, einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen«. – Das heißt: weil die ursprünglich individuellen oder subjektiven Leistungen eben nicht nur subjektbezogene und subjektgebundene bleiben, – weil sie immer zugleich auch mit objektiven Wertsphären korrespondieren, partizipieren wir jederzeit mit unseren subjektiven Leistungen auch 274 am Wert der objektiven. Freilich klingt dies, so gesagt, zunächst mächtig abstrakt. Aber wenn wir uns beispielsweise vorstellen, daß jedes noch so dilettantische Zeichnen und Malen, jede noch so kleine erfolgreiche Bemühung um die Lösung technischer Probleme, zumal aber jede Erfüllung sittlicher und rechtlicher Normen und Ideale uns ein ›gutes Gefühl‹ und etwas wie ein Erfolgserlebnis vermittelt, so können wir vermuten, daß solche, noch so kleinen, ›Erfolgserlebnisse‹ Erfolge nicht nur innerhalb unserer ganz individuell-subjektiven Wertskalen darstellen, sondern daß sie einige Wert- oder Pluspunkte auch von der Verwirklichung der allgemeineren, objektiven und gesellschaftlichen Wertvorstellungen her beziehen. Gute Gefühle entstehen ursprünglich sozusagen dadurch, daß man kongruiert, Übereinstimmung erreicht. Simmel will sagen: Wenn wir überhaupt – und wo immer wir – in diesem Sinne kulturell partizipieren, da sind unsere Wertungen nicht rein subjektive und in diesem Sinne auch nicht völlig frei – sondern sie stehen in einer – positiven oder negativen Beziehung zu all denjenigen objektiven, kulturellen Wertungen, die wir kennen, was denn auch heißt, wir partizipieren in jedem solchen Moment an anderen ›Ordnungen‹ objektiver Art, auch dann, wenn wir selbst glauben, nur individuell gehandelt und bewertet zu haben.

274

Leistungen auch] Leistungen jederzeit auch Wortwiederholung getilgt

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Auf diese Weise wird die eingangs konstatierte Fremdheit gegenüber der Kultur von den Einzelnen jedenfalls etwas weniger hart empfunden und weniger schroff ausfallen, weil die objektiven kulturellen Wertungen z. B. sittlicher, religiöser oder künstlerischer Art, bis zu einem gewissen Grade schon prinzipiell von uns mitvollzogen worden sind – wir also eher nur in den Nuancen oder in Bezug auf Teilbereiche der Kultur anders bewerten als andere. Aber im Großen und Ganzen doch übereinstimmen. – Man könnte vielleicht sogar sagen: Indem wir uns – als Menschen – | also nicht nur als Geschöpfe, sondern immer auch als Schöpfer der Kultur empfinden können und müssen, und dies selbst dann, wenn unser eigener Anteil an der ›Kultur‹ unendlich gering ausfällt, partizipieren wir nicht nur irgendwie und unspezifisch an der ›Kultur‹, sondern auch den Bewertungsmaßstäben für alle 275 Kulturleistungen, so daß schließlich auch unser individuelles Tun einen höheren Wert dadurch gewinnt, daß es denn mit solchen ›Kulturwerten‹ in Beziehung gerät. – Simmel entwickelt diesen Gedanken weiter und sagt abschließend: »In dem Glück des Schaffenden an seinem Werk, so groß oder gering das sei, liegt neben der Entladung der inneren Spannungen, dem Erweise der subjektiven Kraft, der Genugtuung über die erfüllte Forderung wahrscheinlich immer noch eine sozusagen objektive Befriedigtheit darüber, daß dieses Werk nun dasteht, daß der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist. Ja vielleicht gibt es gar keinen sublimeren persönlichen Genuß des eigenen Werkes, als wenn wir es in seiner Unpersönlichkeit und seiner Gelöstheit von all unserem Subjektiven empfinden.« Wertvoll sind die Objektivierungen des Geistes indem und weil die subjektiven Lebensprozesse in sie eingegangen sind – aber wertvoll seien sie auch an sich, und zwar bereits bloß dadurch, daß sie da sind: »Wir mögen die Organisationen der Gesellschaft und die technische Formung der Naturgegebenheiten, das Kunstwerk und die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit, die Sitte und die Sittlichkeit noch so sehr, noch so überwiegend auf ihre Ausstrahlung in das Leben und die Entfaltung von Seelen ansehen« – wie Simmels Lebensphilosophie es zu tun geneigt ist, – »es ist oft und vielleicht immer darein eine Anerkennung dessen gewebt, daß diese Gebilde überhaupt da | sind, daß die Welt auch diese Gestaltung des Geistes umfaßt; es ist eine Direktive in unseren Wertungsprozessen, die an 275

für alle] statt gestr.: allerhöchster

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dem Eigenbestand des Geistig-Objektiven haltmacht, ohne über das Definitive dieser Dinge selbst hinaus nach ihren seelischen Folgen zu fragen«, d. h., unabhängig davon, ob ein geistiges oder kulturelles Erzeugnis tatsächlich auch unsere Kultur bereichert, unsere individuelle Kultur zu bereichern vermag, geben wir ihm zunächst immer diesen Kredit und anerkennen seine bloß objektive Existenz. – Aber verständlicher ist dann das Beispiel, das Simmel bringt: »Neben allem subjektiven Genuß, mit dem z. B. das Kunstwerk sozusagen in uns eingeht, wissen wir als einen Wert besonderer Art, daß es überhaupt da ist, daß der Geist sich dieses Gefäß geschaffen hat.« Und wir bleiben bei diesem Beispiel – dem Kunstwerk – denn Simmel erklärt anhand der Unterscheidung des Naturschönen und Kunstschönen das, was er als Kulturwert bezeichnet. Kulturwerte sind – einfach gesagt – diejenigen Werte, durch die die individuelle Seele hindurch muß oder kann, damit sie jene Vervollkommnung und Kultivierung erfährt, die der Kultur – im objektiven wie im subjektiven Sinne erst den ihr eigenen Wert gibt. D. h.: Kulturwerte sind genau diejenigen kulturellen Objekte und Gegebenheiten, wo beides, das Bedürfnis nach Kultivierung – und das Objektive, ein geistiges Erzeugnis und eine Manifestation des objektiven Geistes zu sein, zusammentreffen. Das führt zunächst auf den wesentlichen Unterschied gegenüber dem Naturschönen: »das Meer und die Blumen, die Alpen und der Sternenhimmel« – sie besitzen einen ästhetischen Wert nicht dadurch, daß sie einfach da sind, sondern nur dadurch, daß ein Betrachter sie erblickt und in seinem Inneren entsteht dann diese Schönheit. Schönheit dieser Art wird von Simmel ganz als ein Produkt unserer ästhetischen Einbildungskraft interpretiert, d. h. die Natur als solche bietet nicht das Schöne dar, sondern wir sind es, die das Schöne anhand eines Natureindruckes produzieren. | Warum diese scheinbare Verrenkung – mag man fragen? Ich glaube nicht, daß es sich tatsächlich bloß um eine Verrenkung handelt, sondern es handelt sich vielmehr um einen Hinweis darauf, daß die Kategorie der ›Schönheit‹ selber und von sich aus etwas darstellt und anspricht, das ein Produkt des Geistes ist – nicht anders als all der andere ›objektive Geist‹ auch. Denn die bloße Tatsächlichkeit als solche – d. h. ohne daß ein Mensch sie sieht, sie empfindet und sie damit in ein Bezügesystem von Bedeutungen einbezieht – dieses bloße Dasein einer Blume oder des Sternenhimmels ist nichts, was das Attribut der Schönheit von sich aus trägt. 133 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Schönheit ist keine Zuständlichkeit eines Dinges, sondern stellt eine Funktionsbezeichnung für eine Leistung des menschlichen Subjektes dar – eine Leistung insofern, als auch in solchen Fällen, wo ein rein naturhaftes Objekt dem Menschen gegenübersteht – erst durch die Bedeutungen, die der Mensch diesen Objekten verleiht, eine solche Schönheit entsteht. Das wird am Unterscheid von Naturschönem und Kunstschönem von Simmel noch deutlicher herausgearbeitet. Er sagt: »Ein Sonnenaufgang, den kein Mensch sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk … für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt; die Welt erscheint uns sozusagen in ihrer Existenz würdiger, ihrem Sinne näher, wenn die Quelle alles Wertes, die menschliche Seele, sich in eine solche, nun gleichfalls der objektiven Welt angehörige Tatsache ergossen hat … Der natürliche Sonnenaufgang und das Gemälde stehen beide als Realitäten da, aber« – der bloß | wirkliche Sonnenaufgang ist nur wertvoll für das Subjekt, das ihn erblickt, während das Gemälde von dem Sonnenaufgang einen eigenen Wert darstellt, einen Teil der Kultur, der symbolischen Form Kunst darstellt 276, der objektiven Wert besitzt. Mir scheint, daß Simmel an dieser Stelle nicht ganz konsequent ist, denn auch das Gemälde bedarf eines Betrachters – und wenn man sich einmal ein modernes Kunstwerk vorstellt, dann ist sogar um so notwendiger, daß ein Betrachter das Bild oder Kunstwerk als ein solches ansieht, daß also auch in Bezug auf das Gemälde gilt, was Simmel nur für den Sonnenaufgang in der Natur gelten lassen wollte: nur der betrachtende Mensch verleiht ihm Schönheit oder Bedeutung. Denn auch das Kunstwerk erhält seinen Kunstwerkcharakter erst durch das Betrachtetwerden – wenngleich man zugeben muß, daß dennoch ein Unterschied besteht: das einmal geschaffene Kunstwerk steht jedenfalls immer bereit als ein solches betrachtet zu werden – auch wenn es aktuell vielleicht nicht als solches angesehen wird. – So oder so ähnlich könnte man diese kleine Inkonsequenz Simmels vielleicht beheben. 277 darstellt] dar Mir … beheben.] hervorgehoben durch einen mit blauem Tintenschreiber um den gesamten Absatz gezogenen Kasten 276 277

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Simmel will aber auf die Kultivierung, die durch das Werk hindurch zu einem anderen Selbst führe, hinaus. Er sagt: »Indem diese Wertungen des subjektiven und des objektiven Geistes einander gegenüberstehen« – indem also einerseits ganz radikal subjektiv der Einzelne z. B. Schönheit angesichts eines Sonnenaufganges empfindet und diese Schönheit nur für diesen Einzelnen bestehen bleibt, so lange er diese Empfindung oder die Erinnerung an sie in sich wachhält – und indem andererseits das Kunstwerk als ein objektives und als eine Manifestation des objektiven Geistes sich ganz unabhängig von dem unmittelbaren Betrachtetwerden gemacht hat – und gleichwohl einen Wert repräsentiert – indem also diese subjektiven und objektiven | Wertungen einander gegenüberstehen, »führt nun die Kultur ihre Einheit durch beide hindurch: denn sie bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjektes gelegenen Gebildes vollziehen kann.« – Was wir schon wissen: Kultivierung vollzieht sich nur dort und nur dadurch, daß diese kulturellen Gegebenheiten und Objekte ›aufgenommen‹ und ›benutzt‹ werden, daß also der Einzelne an der Kultur partizipiert. – Was denn umgekehrt, bezogen auf unser Beispiel, bedeutet, daß nicht das bloße Anschauen eines Sonnenaufganges zu einer Kultivierung führt, wohl aber das Anschauen eines Bildes vom Sonnenaufgang dazu taugen kann. Auch das scheint wieder etwas zugespitzt oder überspitzt, ist aber ganz konsequent und wohl auch richtig gesehen: wenn ich die Natur anschaue, dann produziere ich Bedeutsamkeit – Schönheit oder Erhabenheit – dadurch, daß ich diese Empfindungen produziere, resp. dadurch, daß sie in mir entstehen. Ich habe in diesem Falle mittels meiner Wahrnehmungsfähigkeiten – und vor allem: – mittels meiner Kompetenz einen Eindruck im Kopf, den ich als Schönheit o. Ä. bezeichne. Was nicht naiv verstanden werden darf, als durch die Natur verursacht, sondern verstanden werden muß als ein Bedeutungen in die Natur hineinverlegen. Das ist der ganze Witz dieser Auffassung von Welt und Wirklichkeit – wir sehen die Welt nicht wie sie an sich ist, sondern wir, die wir ganz bestimmte Fähigkeiten besitzen, und nur ganz bestimmte Fähigkeiten besitzen, erkennen von der Welt nur das, was unser Erkenntnisvermögen hergibt und zu leisten vermag. Genauso auch in der Betrachtung des Schönen: das Schöne ist nicht außen und ist nicht ein absolut Schönes, das objektiv, selbständig und 135 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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naturhaft vor uns steht, | sondern auch hier entscheiden unsere Fähigkeiten darüber, ob und daß wir etwas als schön, bedeutsam oder unschön ansehen. Sie wissen, daß dies Folgerungen aus der kantischen Erkenntnistheorie sind: immer sich der Möglichkeiten des erkennenden resp. auch des empfindenden Subjektes zuerst zu versichern – und jederzeit sich bewußt zu sein, daß das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, prinzipiell unsere Wirklichkeit ist – 278 daß also die sogenannte Naturschönheit des Sonnenaufganges nur ein Produkt ganz individuellen Empfindens darstellt und nur solange dieser individuelle Eindruck sich erhält, existiert diese Naturschönheit – wohingegen die Schönheit eines Gemäldes auch dann, wenn es gerade nicht angeschaut wird, erhalten bleibt. 279 Und nicht nur erhalten bleibt sie, – das wäre ein ziemlich trivialer Unterschied – nein, auch die bereits geleistete Arbeit der Darstellung des Sonnenaufganges, die Wiedergabe und all das, was weit über die bloße Wiedergabe hinaus durch den Künstler an Formung dieses Kunstwerkes in das Bild investiert ist, kann von uns gleichsam ›gelesen‹, nachempfunden und in uns jedenfalls leichter hervorgerufen werden, – leichter, als es dies die bloße Naturschönheit kann. Was man bestreiten könnte: auch wirkliche Sonnenuntergänge – so kann man etwa sagen – lassen sich mit gleicher Leichtigkeit als ›schön‹ ansehen – ebenso leicht, wie dies bei Bildern von Sonnenaufgängen | möglich und der Fall ist. – Aber, – so würde ich entgegenhalten – hat jemals ein Mensch einen Sonnenaufgang als ›schön‹ angesehen, bevor es Kunst, d. h. das Kunstschöne, die symbol[ische] Form Kunst – nicht aber materielle Kunstwerke gab? – Und das ist keine Spitzfindigkeit. – Ich denke, diese Frage ist, so einfach sie scheint, genau der Schlüssel zu Simmels Verständnis von Kultur als eines Weges der Seele zu sich selbst: selbst wenn ich behaupten wollte, ich könnte einen natürlichen Sonnenaufgang in gleicher Weise ›lesen‹ und als schön empfinden, wie ich dies in Bezug auf ein Bild von einem Sonnenaufgang kann, – so bleibt doch die Tatsache der Kunst, d. h. auch 278 ist –] danach gestr.: daß beispielsweise ein Adler anderes und mehr oder jedenfalls anders sieht – daß aber genauso auch wir uns in bezug auf alle Empfindungen stärker unterscheiden, das läßt uns auch Kunstwerke in unterschiedlichem Maße als schön empfinden und bezeichnen. Und hier greift denn doch die Differenz, die Simmel zwischen Naturschönem und Kunstschönem setzt: 279 bleibt.] danach gestr. Verweis auf: symbol[ische] Existenz! Potenz

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die Tatsache, daß wir überhaupt etwas in der Natur gemäß Kategorien bezeichnen, die nur aus der Entwicklung von Kunst und Ästhetik gewonnen worden sind, heißt 280 notwendig, daß ein Betrachten von Natur als ›schön‹ sich bereits auf die Tatsache Kunst bezieht. Wenn wir also etwas als ›schön‹ betrachten, egal, ob ein Kunstwerk oder einen Naturvorgang, so haben wir dieses als schön Betrachtete bereits in einen Zusammenhang eingestellt, der eben nicht der natürliche – sondern eben der kulturelle ist. Das ist der ganze Sinn dieses »durch« »hindurch« zu sich selbst: wir mögen noch so sehr meinen, daß wir es als Einzelne sind, die etwas denken und empfinden, – wirklich individuell ist wohl letztlich nur das, was wir nicht aussprechen können. Wenn wir aber sprechen, dann vergesellschaften wir uns, – wenn wir etwas als schön ansehen, dann stellen wir uns in den Zusammenhang der Kunst und Ästhetik ein – ganz gleichgültig, ob wir dieses bemerken oder nicht. Wenn wir nun also die Bedeutung der ›Kultur‹ erwägen für uns – und nach unserer Partizipation an der Kultur fragen, so müssen wir 281 | konsequenterweise feststellen, daß nichts, was sagbar ist, nichts, was wir als ›schön‹ empfinden oder ansehen, völlig außerhalb und unabhängig von der Kultur zu sagen oder anzusehen ist: Immer partizipieren wir damit an der Sprache, resp. an der Kunst. Das heißt, wir gehen dann in jedem dieser Fälle ›durch die Kultur hindurch‹ zu einer neuen Stufe unseres ›Selbst‹, – eines kultivierteren ›Selbst‹ insofern, als wir nunmehr nicht mehr nur unseren unmittelbaren Eindruck haben und individuell im Gedächtnis festhalten: das Naturschöne, – sondern indem wir am ›Schönen‹ des Bildes partizipieren und insofern jetzt von der ›Kultur‹ und dem ›objektiven Geist‹ etwas in uns aufnehmen: das – und nur das – führt zur Kultivierung. So kommt es in Simmels Theorie der Kultur dazu, daß auch die Frage gestellt wird, was denn einerseits das Objektive ist und bedeutet, was nicht geeignet ist – oder jedenfalls nicht in Anspruch genommen wird – für dieses Hindurchgehen – und andererseits erkennt Simmel, daß der Umgang mit Kultur nicht prinzipiell auch zu einer Höherkultivierung führen müsse. –

heißt] gestr.; Streichung zurückgenommen Das … wir] darüber Haftnotizzettel geklebt mit der hs. Aufschrift: Und damit sind wir bereits mitten in Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen – ich bitte Sie nochmals, sich in seinen »Versuch über den Menschen« einzulesen und danke für Ihre Aufmerksamkeit 280 281

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Zuerst zu diesem letzteren: damit sind gemeint »gewisse Formalien und Verfeinerungen des Lebens, wie sie namentlich in überreife und müde gewordene Epochen gehören. Denn wo das Leben in sich hohl und sinnlos geworden ist, da ist alle willens- und werdensmögliche Entwicklung zu seiner Höhe nur noch eine schematische, und nicht mehr imstande, aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und Förderung zu ziehen … Hier kann sich die individuelle Entwicklung beispielsweise aus den sozialen Normen nur noch das gesellschaftlich gute Benehmen, aus den Künsten nur noch den unproduktiven Genuß, aus den technischen Fortschritten nur noch das Negative der Mühelosigkeit und Glätte des | Tagesverlaufs herausholen – es entsteht eine Art formal-subjektiver Kultur, ohne innere Verwebung mit dem Sachelement, durch die der Begriff einer konkreten Kultur sich erst erfüllt.« Diese nur noch formal-subjektive Kultur ist eine, die nicht auf die Vervollkommnung der Individuen zielt, wie sie sichtbar wird in bloß gutem Benehmen nach eingespielten Formen, dem bloßen Unterhaltungsbedürfnis ohne darüber hinausgehende Ansprüche an die Kunst, in einem Gebrauch der Technik, ohne daß diese Freisetzungen von mühseliger Arbeit zugunsten höherer und d. h. produktiver Tätigkeiten bedeutet, – diese bloß noch formal-subjektive Kultur ist sinnentleert und bedeutungslos und ein Kennzeichen ›überreifer‹ und müde gewordener Kulturen, weil hier allenthalben der Begriff ›Kultur‹ nichts Transzendentes mehr bezeichnet, jeden Mittelcharakter verloren hat und also bloßen Hedonismus und Konventionalismus bedeutet. Hier haben sich die sogenannten ›Kulturwerte‹ verselbständigt zu bloßen Riten und leeren Formalismen, haben jeden Bezug auf ihre ursprünglich zugrundeliegenden Sachgehalte verloren: Sachgehalte, die man heute – anders als zu Simmels Zeit – eigens wieder benennen muß, denn sonst versteht niemand, was hier gemeint ist. Gemeint ist, daß Kultur und die besonderen Kultursphären, die in diesen Beispielen angesprochen sind, ihren Sinn überhaupt nur von der Zielsetzung der Vervollkommnung des Menschen her bezieht: nicht äußerlicher Benimm ist gefragt, sondern Ideale von besserem Menschsein, gerechtere Gesellschaft und die Utopie einer ›moralischen Welt‹ ist hier gemeint – genauso ist auch Kunst noch gedacht als ›ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts‹ wie bei Schiller, und nicht als völlig sinnentleerter ›Kulturbetrieb‹ zum Zweck der Erhaltung von guter Laune und | Augenblicksgenüssen – 138 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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und sogar die Technik ist hier noch gedacht als jenes Hilfsmittel für den Menschen, sich der schwierigsten und schmutzigsten, der schwersten und mühevollsten Arbeiten zu entledigen, damit mehr freie Zeit – nicht Freizeit! – ihm ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, – ein Dasein, das jedenfalls die Möglichkeit bietet, sich zu vervollkommnen – als Mensch. – So oder so ähnlich hat Simmel Kultur verstanden und gedacht – immer als Mittel zum höheren Zweck, zum Zweck der Vervollkommnung, – und nie, und ganz gewiß nicht, jenen faulen Budenzauber gemeint, der für Unterhaltung und Ablenkung sorgt, und ebenso wenig diejenigen geschätzt, die – wie gewisse Leute – sich als ›gebildet‹ und ›kultiviert‹ empfinden und deshalb auf Andere herabblicken. Hier überall ist ›Kultur‹ sinnentleert und wertlos geworden. Aber auch auf der anderen Seite droht der Kultur eine Gefahr, nämlich die, zu einem reinen Sachgehalt zu werden, der nicht mehr angeeignet werden kann: etwa, weil die kulturellen Produkte und Angebote immer feiner und ›überspezialistisch‹ geworden sind, weil sie sich letztlich ganz versachlichen und insofern den Individuen unzugänglich geworden sind, – weil sie also keinen Weg bahnen: für die Seele zu sich selbst. Simmel sagt über diese sich völlig verselbständigt habenden Kulturprodukte: »Sehen wir den andern Faktor der Kultur: jene zu einer ideellen Sonderexistenz, unabhängig … von aller psychischen Bewegtheit, gereiften Erzeugnisse des Geistes … Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen … das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab, das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insofern keinen anderen als | den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an. Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung, und ob und mit welchem Werte sie sich in jene Entwicklung subjektiver Seelen einsetzen lassen, geht ihre an rein sachlichen und für sie allein gültigen Normen gemessen Bedeutung durchaus nichts an.« Hier wird, ebenso wie bei den eben erwähnten Phänomenen einer sinnleeren und nur noch formalen Kultur, der eigentliche Sinn der Schöpfungen des Geistes verfehlt oder doch zumindest durch die eigene Logik dieser kulturellen Sphären gefährdet – hier ist eine Selbständigkeit und Isoliertheit des objektiven Geistes aufgewachsen, die 139 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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jede Form von Aneignung, ja selbst sogar von bloßer Partizipation von vornherein ganz unwahrscheinlich macht. Kultur bedeutet eben – sagt Simmel – immer nur die Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes – und jede Art von Verselbständigung auf der Seite der Subjekte in äußerem Zelebrieren von Kultur – und jede Verselbständigung der einzelnen Objekte und Kultursphären führt dahin, daß diese Kultursphären ihren eigentlichen Sinn verlieren – ihren Kulturwert einbüßen. Damit kommen wir endlich zur titelgebenden Behauptung einer ›Tragödie der Kultur‹, die sich allerdings im bisherigen schon mehrfach angedeutet hat: - einmal, als von dem Paradoxon der Kultur die Rede war, das darin besteht, daß nur durch die objektive Kultur hindurchgehend das Subjekt sich vervollkommnen kann, - zweitens, jetzt hier, indem von jenen Verselbständigungen sowohl die subjektiven Geister – als auch der objektiven Kulturprodukte die Rede ist. | Denn diese beiden Grundtendenzen der Kultur kehren jetzt wieder als tragische Verhältnisse, weil und insofern es dem Einzelnen immer weniger gelingt und gelingen kann, durch die Kultur hindurchzugehen – und dies, zweitens, eben deshalb, weil die eigene Logik des ›objektiven Geistes‹ es zunehmend unmöglich macht, daß die Individuen in einen für sie selbst produktiven Kontakt mit den Erzeugnissen des ›objektiven Geistes‹ treten. – Beides will näher erklärt sein. Zunächst, um mit dem einfacher zu erklärenden Aspekt zu beginnen, ist uns nicht schwer nachzuvollziehen, daß alle Bereiche des ›objektiven Geistes‹ nach so etwas wie nach einer eigenen Logik sich entwickeln, einer Logik, die Simmel ja bereits darin angedeutet hatte, daß er aufzählte, wie Kunst der Norm der Kunst, Wissenschaft nur der Wahrheit und Religion nur dem Heil der Seele dienen wolle. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu – der geschichtliche Zweckzusammenhang: »Wenn gewisse erste Motive des Rechtes, der Kunst, der Sitte geschaffen sind – vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität –, so haben wir es garnicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich weiter entfalten« – d. h. es differenzieren sich diese Kultursphären weiter aus, völlig unbekümmert um diejenigen Zwecksetzungen, die ursprünglich zu ihrer Schaffung geführt haben. 140 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Aber auch in einem noch mehr aufs Historische weisenden Sinne, weisen die verschiedenen Kulturbereiche eine eigendynamische Entwicklung auf, die sich zum Teil aus ihrem Funktionszusammenhang aller Kultursphären untereinander, zum anderen Teil aus dem Wandel der Zwecksetzungen ergeben, die im Verlaufe des gesamten Kulturprozesses auftreten. | Starke Binnendifferenzierungen einzelner Kultursphären, veränderte Außenverhältnisse zu den anderen Kultursphären und ein Wandel der Zwecksetzungen innerhalb der einzelnen Kultursphären – das sind m. E. die drei wichtigsten Formen, die dazu führen, daß sich die Einzelnen nicht mehr, oder doch nicht immer, in gleichem Maße mit den Objektivationen des objektiven Geistes ›identifizieren können‹. Sicher: der Mensch an sich – den Simmel immer herbemüht – hat das Recht, die Sitte und die Wissenschaft geschaffen – aber das freilich heißt noch längst nicht, daß sich der einzelne Mensch auch in ihnen verwirklicht sehen muß. – Ich glaube, daß eine gewisse theoretische Schwäche dieser Argumentationsweise Simmels darin zu sehen ist, daß er sehr allgemein und geradezu anthropologisch argumentiert – und einfach vom Menschen spricht – unangesehen von Zeit, Raum und divergierenden Interessen, die doch auch unter Menschen jederzeit beobachtbar sind. – Aber das will ich hier nicht weiter und nicht kritischer ausführen. Wichtig ist für Simmels Theorie, daß sowohl objektiver als auch subjektiver Geist je eine eigene innere Logik aufweisen – und daß diese beiden ›Logiken‹ divergieren. Die innere Logik der Individuen ist dabei schwerer nachzuvollziehen, jedenfalls, wenn man sie nur diesem Text entnehmen will. Aber ich hatte ja bereits auf Simmels Konzept von Individualität, jene Kontinuitäten und einheitlichen Forderungen sowie auf das sogenannte ›individuelle Gesetz‹ hingewiesen, die zu kennen unerläßlich ist für das Verständnis der hier vorgetragenen Erklärung einer inneren Logik der Subjekte. Simmel sagt hierüber: »Seit der Mensch zu sich ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte aus | dieser Form ihr das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei«. Das heißt, die Einheit des Ich ist sowohl Form der Seele als auch ihr Ideal – und diese Einheit droht ständig daran zu zerbrechen, daß die Umwelt – die Mitwelt, und auch alle Kultur – eigene und dem individuellen Ich ganz fremde Anforderungen an es stellt. 141 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Das bebeispielt Simmel an dem religiösen Konflikt zwischen Selbstgenugsamkeit und Freiheitsverlangen – an den sozialen Konflikten zwischen dem Menschen als abgerundeter Individualität und dem bloßen Gliede des gesellschaftlichen Organismus – und sagt allgemein: »Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das all seinen Lebensinhalte harmonisch und gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich 282 herum ordnet« – wobei dann eine Tendenz bestehe, daß die äußeren und ganz unvereinbaren Inhalte, die überdies ja, wieder je eigenen Gesetzlichkeiten gehorchen, in dem Individuum zu einer zweiten Kollision aller Ansprüche führen. Äußere kulturelle und auch gesellschaftliche Konflikte spiegeln sich und reproduzieren sich so innerhalb der Persönlichkeit wieder: äußere Konflikte werden zu inneren Konflikten der Persönlichkeit. Dazu kommt nun aber – in der Gegenwart der Moderne – noch etwas prinzipiell Neues – wie Simmel sagt – dann: »wenn das Objektive durch seine formalen Bestimmungen: der Selbständigkeit und der Massenhaftigkeit – sich seiner Bedeutung für das Subjekt entzieht.« Wenn also die kulturellen Gegebenheiten und Objekte immer spezieller und in diesem Sinne immer selbständiger werden – und wenn in | immer größerem Maße und mit immer schnellerer Innovationsgeschwindigkeit neue Objekte sich anbieten, – dann, ja dann erst stehen wir vor der Situation, die die Tragödie der Kultur herbeiführt – und zwar – indem die Brücken zwischen den Subjekten und der objektiven Kultur abgebrochen werden: Dies geschieht insbesondere – durch die Arbeitsteilung, deren Folgen Simmel ja bereits in der Philosophie des Geldes geschildert hatte. Indem immer mehr Leute immer mehr speziellere Arbeiten verrichten, kann auch das schließliche Produkt nicht mehr als ein einheitliches von den Subjekten verstanden und angeeignet werden – weil die in dem Produkt manifeste geistige Arbeit die Arbeit vieler ist – und der Geist eben nur den Geist begreifen kann – nicht aber jene Resultate der modernen, hochgradig arbeitsteiligen Produktion und ihrer Kooperationsformen. Sie haben die Beispiele gelesen: die Stadt – die Fabrik – die Tageszeitung – sie weisen die Gemeinsamkeit auf, daß hier nicht der Geist den Geist versteht, sondern wir vielmehr vor hochkomplizierten 282

sich] sich sich

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Komplexen stehen, in denen der Einzelne als solcher sich nicht wiedererkennen kann. 283 Simmel sagt: »Der Typus dieser Erscheinungen ist, absolut ausgedrückt, der: durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjekts hervorgegangen ist« – und diese allgemeine Tendenz der gegenwärtigen Kultur zur Zeit Simmels, wie zu unserer Zeit – sie ist die Ursache für immer geringere Chancen der Re-subjektivierung des objektiven Geistes. Die »verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturobjekte wächst und wächst« – sagt Simmel – »als triebe | eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem anderen hervor« – dieses Wachstum des Reiches der Kulturprodukte bekümmert sich weder um die Produzenten noch um die Konsumenten. 284 Und weiter heißt es: »Der ›Fetischcharakter‹, den Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen – und mit steigender ›Kultur‹ immer mehr – unter der Paradoxie, daß sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung und ihrem Zweck entfremden.« Und er gibt wiederum Beispiele für eine bloße Logik der Objekte, diesmal unter dem Gesichtspunkt ihrer bloß technischen Perfektion, 285 sichtbar z. B. als: - Nebeneffekte von wirtschaftlicher Produktion - sichtbar als verselbständigte philologische Technik: Editionstechnik, die leerläuft, wenn nur noch um des Edierens willen diese Techniken auf alles nur erdenkliche angewendet wird - sichtbar als künstlerische und rein artifizielle Perfektion, die nicht mehr ein Mittel der Darstellung, sondern Selbstzweck ist - schließlich ganz generell gesagt, die Spezialisierung überhaupt, denn sie führt dazu, daß der Mensch jetzt zum bloßen Träger und Mitarbeiter jener Eigenlogik dieser Entwicklungen wird. – Statt der Schöpfer der Dinge zu sein, ist er bloß noch ihr Erfüllungsgehilfe, 283 284 285

kann.] kann: Konsumenten.] Konsumenten: Perfektion,] Perfektion:

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Begriff und Theorie der Moderne

wenn denn und soweit denn diese kulturelle Eigenlogik sich einmal so weit entwickelt hat. »Dies ist« – sagt Simmel dann – »die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges 286

286 trauriges] bricht ab. Bei Simmel heißt es weiter (Begriff und Tragödie der Kultur): »oder von außen her zerstörendes bezeichnen wir doch wohl dies: das die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist.«

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[Ordner SS 2000] 6. Vorlesung 287: Der Flaneur und die Anderen Meine Damen und Herren! Wenn wir uns vorstellen, wir gehen spazieren, so stellen wir uns 288 entweder etwas Typisches oder aber etwas Konkretes vor. Etwas Typisches, das wäre z. B. ein oft wiederholter Spaziergang an immer demselben Ort, und die Vorstellung zieht dann verschiedene Erinnerungselemente zu einem assoziativen Bild zusammen. Oder aber, Sie stellen sich einen bestimmten Spaziergang, einen gleichsam einmaligen vor, dann richtet sich Ihre Erinnerung so ein, daß Sie schrittweise mehr und mehr wiedererinnern, Einzelnes zusammenknüpfen und die Vorstellung langsam reicher und vielfältiger wird. Wir haben es also mit prinzipiell zwei verschiedenen Weisen des Erinnerns zu tun: einer, die entlang dem Typus, der Themenstellung ›Spaziergang‹ 289 eine mehr oder minder assoziativ verknüpfte Ereignis- oder Bildwelt aufbaut. Das wären dann um den 290 ›Spaziergang‹ gruppierte Einzelvorstellungen. – Oder zweitens, wir haben es mit einem eher konkreten Ereignis zu tun, dessen Einmaligkeit vielleicht sogar ein ›Erlebnis‹ für Sie war, an das Sie sich gern – oder aus irgendwelchen besonderen anderen Gründen – erinnern. Sollten Sie ein Tagebuch führen, komplizierte sich die Sache um Einiges. Denn dann werden Sie alle näheren Bedingungen weggelassen haben, wie z. B. Theodor Fontane in seinen Tagebüchern, z. B. im März 1882, wo es heißt: »25. März, Sonnabend. Besuch von Herrn Toberentz; fatale Geschichte. Gearbeitet: Hoppenrade. An A. v. Heyden geschrieben. Besuch von Frau W. Gentz. Abendspaziergang. Gelesen.« – So lautet der vollständige Eintrag vom 25. März: Posteingang und Postausgang, Besucher, woran er ›gearbeitet‹ hat, dann nur knapp: ›Abendspaziergang‹, danach ›gelesen‹. Das genügt dem Tagebuchschreiber zur Erinnerung 291, und so kehren solche kargen Einträge immer und immer wieder: Im März verzeichnet das Tagebuch an 22 6. Vorlesung] aus thematischen Gründen hier eingeordnet 6. Vorlesung … uns] statt gestr.: 5. Vorlesung: Der Flaneur, der Fremde und die Anderen. Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, Sie gehen spazieren. Ich meine das ernst. Versuchen Sie das bitte einmal! Sie sehen, Sie stellen sich 289 ›Spaziergang‹] danach gestr.: synthetisierend 290 den] danach gestr.: Typus 291 Erinnerung] umkreist; mit Strich am Rd.: ? 287 288

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Tagen mindestens einen Spaziergang, ohne, daß auch nur ein einziges Mal Näheres mitgeteilt würde. Der Spaziergang gehört – so dürfen wir schließen – zum hochgradig ritualisierten Tagesablauf 292 des Dichters, und so haben wir hier eine dritte Weise der Erinnerung oder vielmehr Nichterinnerung, nämlich 293 den Spaziergang institutionalisiert im Phasenablauf des Tages; ohne ein einziges Wort über Sinnliches, wahrgenommenes Geschehen und Empfinden, stattdessen schriftlich, tot und durchaus einigermaßen bürokratisch festgehalten. | Was 294 man jedoch auch ganz anders verstehen oder deuten kann: nämlich als Ausdruck einer bestimmten Lebensweise, spezifisch für den Großstädter, ja vielleicht spezifisch für den Dichter, den Intellektuellen und Journalisten. Der Ablauf und Rhythmus des Tages wird bestimmt durch eine Abwechslung von Arbeit und Anspannung einerseits – Phasen der Regeneration und Entspannung andererseits. Das wäre dann sozusagen eine Deutung, die eine quasi medizinische Rücksicht auf den Menschen nimmt: Arbeit und Entspannung im selbstbestimmten Wechsel, jedenfalls was die Zeiten angeht. Anders als Berufsarbeit sonst, die ein Zeitschema vorschreibt, das definitiv befolgt werden muß. Aber man muß weitergehen: Denn diese sog. Spaziergänge tragen nicht nur eine gesundheitserhaltende Funktion: sie haben soziale Funktion. Denn Fontane geht im Tiergarten (innerstädtischer Park) »spazieren«, wie Bekannte und Berufsgenossen, Verleger und Freunde eben auch. Man trifft sich – ähnlich wie es das Caféhaus oder die Kneipe gestattet – ungezwungen auf einem gleichsam neutralen Terrain. Und weil alle dasselbe Verhalten zeigen, geschehen diese Treffen keinesfalls zufällig, sondern bezeichnen vielmehr eine sogar sehr bestimmte Lebensweise. 295 Es ist die Lebensweise des Flaneurs. Desjenigen, der (zumindest) zeitweise sich dem Müßiggang hingibt, sich treiben läßt, teils von seinen momentanen Eindrücken, der zusieht und guckt, der für die Zeit seines Spazierganges ganz Auge ist – der aber andererseits auch getrieben wird von jenem ganz undefinierbaren Bedürfnis, Anregungen zu gewinnen oder nur um seine Arbeitseinsamkeit jedenfalls

ritualisierten Tagesablauf] am Rd.: Routinen nämlich] denn 294 was] ab hier 3 Bl. hs. eingeschoben; jeweils auf den Rückseiten dreier Bl. der Ts.Fassung der Vorlesung. 295 Lebensweise.] daneben: Typische Situation 292 293

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zeitweise aufzuheben. Aufzuheben in Begegnungen und bloßen Grüßen, die vielleicht nur auf eine bessere Stimmung hinwirken. In der Wahrnehmung von Chancen jemanden zu treffen – und diese Chancenwahrnehmung 296 ähnelt dem Pubertierenden, der sich immer und immer wieder an Orte begibt, wo er etwas erwartet, etwas, das freilich ganz undefinierbar ist. Denn viel mehr, als von bestimmter Erwartung, ist er getrieben von der | Befürchtung oder Angst, im Falle seines Nicht-Da-Seins, etwas zu versäumen, Chancen nicht wahrgenommen zu haben. Denn warum sonst verhält man sich so wie Fontanes Dichterkollege E. T. A Hoffmann, der schon 50 Jahre zuvor durch Berlin tigerte[:] »E. Th. A. Hoffmann als Typ des Flaneurs; ›Des Vetters Eckfenster‹ ist dessen Testament. Und daher Hoffmanns großer Erfolg in Frankreich, wo man für diesen Typ besonderes Verständnis hatte. In den biographischen Bemerkungen zur fünfbändigen Ausgabe seiner letzten Schriften heißt es: ›Von der freien Natur war Hoffmann nie ein besonderer Freund. Der Mensch, Mittheilung mit, Beobachtungen über, das blose Sehen von Menschen, galt ihm mehr als Alles. Ging er im Sommer spazieren, was bei schönem Wetter täglich gegen Abend geschah, so … fand sich nicht leicht ein Weinhaus, ein Conditorladen, wo er nicht eingesprochen, um zu sehen, ob und welche Menschen da seyen.‹« Benjamin hat dieses Verhalten in seinem Passagenwerk wie folgt gedeutet: S. 537 f. 297 | Dieser Markplatz, auf dem sich der Flaneur, der Journalist oder Dichter, der Intellektuelle anbietet, ist die Stadt, genauer gesagt sind es die Straßen und Plätze der Großstadt – jeder beliebigen Großstadt, denn jede fördert und fordert diese Lebensweise heraus. Im Übrigen nicht nur beim Journalisten, Dichter und Pubertierenden, sondern Flaneur kann jeder sein, der einfach ’raus muß und i[n] d[iesem] Sinne dabeisein will: in Geschäfte, Cafés und Kneipen, Stadtparks und all die anderen städtischen Landschaften, die wir bevölkern. Für den Flaneur, wie Benjamin ihn uns schildert, ist gerade dies’ charakteristisch: daß er die Stadt als Landschaft ansieht – will sagen: eigentümlich ambivalent sie teils in der Distanz bloßer Natur hält –

Chancenwahrnehmung] am Rd.: Erreichbarkeit per Handy Befürchtung … 537 f.] auf Fotokopie des zitierten Textes (aus Walter Benjamin: Passagen-Werk Bd. 5 (Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp), Aufzeichungen und Materialien, S. 536) geschrieben. Gemeinte Deutung nicht mitkopiert, vgl. das Folgende. 296 297

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hier greifen die Fertigkeiten des Großstädters zur Distanzierung, Blasiertheit, inneren Reserve etc. – teils also die Distanz wie gegenüber der bloßen Natur, andererseits aber doch ständig auf der Suche, auf dem Markt der Sensationen und der Eitelkeiten: wer grüßt mich, spricht mich an? Wer mit wem? Denn all das kann über meine Chancen auf dem Markt mitentscheiden oder gar entscheiden. So ist der Flaneur – und so sind wir – getrieben von undefinierbarer und auch garnicht zu befriedigender Unruhe und Bedürfnissen – wiederholen unablässig dieses selbe Verhalten – und so wird es zu einer durchaus für den Großstädter charakteristischen Lebensweise. Mit einer weiteren wichtigen Konsequenz: denn nicht nur wird so die Großstadt einerseits bloße Landschaft und andrerseits der beliebige Ort der Wahrnehmung eben dieser Funktion – die Großstadt und die Spaziergänge, alle Örtlichkeiten 298 | und Begebenheiten verlieren ihren spezifischen Charakter und sind bloß noch durch ihre Funktion 299 bestimmt – wie in Fontanes Tagebuch, wie bei E. T. A. Hoffmann – wie überhaupt beim Flaneur. Sinnliches 300, Geschehen und Empfinden lassen sich nicht festhalten und sie lassen sich nicht wiederherstellen, es sei denn in der 298 Dieser … Örtlichkeiten] auf der Rückseite des Bl. maschinenschriftlicher Text, paginiert als 1: In jedem Falle gilt: »Der Relativismus ist die ›Philosophie‹ des Blasirten, der an Nichts mehr glaubt, oder des weltstädtischen Gamins, der achselzuckend über Alles sein freches Witzchen macht« (Präl[udien S.] 265), wie Windelband 1884 feststellt, und er hat durch alle Auflagen seiner ›Präludien‹ an diesem Verdikt festgehalten. Und auch Georg Simmel scheint dies zu bekräftigen, wenn 1903 in seinem Vortrag über ›Die Großstädte und das Geistesleben‹ sagt: »Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit« (B[egriff] u[nd] T[ragödie der Kultur, S.] 232) – was er dann aber, anders als Windelband, näher begründet, indem er ausführt, daß es die »völlig durchgedrungene Geldwirtschaft«, zumal in den Großstädten sei, die zu dieser Blasiertheit führe: »indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus« (B[egriff] u[nd] T[ragödie der Kultur, S.] 232 f.). Und freilich scheint es nur so, als ob Simmel, der hier an Windelband anknüpft, dessen Ansicht bekräftigen wolle, denn das Gegenteil ist der Fall, Simmel wird sich – wohl überhaupt als erster – zu einem philosophischen Relativismus von sich aus bekennen. Relativismus als Lebensauffassung, als Erkenntnisprinzip oder als philosophischer Richtungsbegriff – je nachdem, wo man die Akzente setzt, wird man bei Simmel fündig: bricht ab 299 Funktion] mit grünem Textmarker hervorgehoben 300 Sinnliches] Fortsetzung des Textes wieder als Ts.

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eigenen Erinnerung. Das gilt für Tagebücher ebenso wie für alles Geschriebene überhaupt. | Versucht man hingegen Witterung und die genaueren Örtlichkeiten zu schildern, versucht man die Begleiter und eventuelle Begebenheiten zu schildern, so verliert alles seine bestimmte Färbung, die Zwischentöne und Empfindungen, die mit alledem verbunden waren: und zwar bevor man sie zu schildern begann. Das ist kein Dilemma von Literatur oder der Kunst überhaupt, die nichts wiederherstellen kann, sondern nur Alltagserfahrung, wenn man einmal den Versuch einer plastischen und umständlichen Schilderung versucht. Wenn man versucht, das schöne Wetter zu versprachlichen 301, wenn man die Gegend und Örtlichkeiten beschreibt und sogar wenn man Augenzeuge eines Ereignisses war, so ist es nicht möglich, all die Verallgemeinerungen, die alle sprachlichen Fixierungen immer mit sich bringen, zu durchbrechen. Denn berichtete und im Text stehende ›Autos, die um die Ecke fahren‹, haben keine bestimmte Farbe mehr beipielsweise, sie blitzen nicht in der Sonne oder glänzen im Scheinwerferlicht entgegenkommender, sie sind allenfalls laut aber man erkennt ihr besonderes Motorengeräusch nicht, und auch der Benzinoder Dieselgestank bedürften eingehender Erläuterungen. Die freilich unterbleiben, da es doch nicht darum zu tun ist, dieses oder diese Autos zu schildern, sondern nur angedeutet sein sollte, daß man sich in einer Großstadt befinde, irgendwann an einem schönen Augusttag des Jahres 1913, mit dem Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ seinen Roman beginnt. II. Ich will Ihnen den Anfang des 1. Kapitels vorlesen, und bitte Sie darauf zu achten, wie wir gleich mit den ersten Sätzen in eine sprachliche Welt geführt werden, die keinerlei empfindbare Wirklichkeit, ja überhaupt keine andere als eine bloß noch sprachliche Wirklichkeit 302, beinhaltet. Musil beginnt: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur Wenn … versprachlichen] mit grünem Textmarker hervorgehoben sprachliche Wirklichkeit] mit grünem Textmarker hervorgehoben. Das nachfolgende Zitat ist am rechten Rd. ebenfalls mit Textmarker angestrichen 301 302

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des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.« Wir lernten in der Schule, daß der Dichter hier die Wirklichkeit ›verfremdet‹ habe und mit grandioser ›Ironie‹ einen Wetterbericht absetze, der dort plaziert werde, wo sonst die blumenreiche Schilderung des schönen Augusttages den Roman zu | beginnen hätte. Aber das ist nicht richtig und greift viel zu kurz. Denn Musil wollte freilich nicht jenen ›altmodischen‹ Romananfängen einen ›modernen‹ entgegensetzen, sondern auf eine faktische Entfremdung der ›Tatsächlichkeit‹ gegenüber hinweisen. Sie liegt in der Entzauberung des empfundenen schönen Augusttages und der brutalen Ersetzung des Augusthimmels mit seinen vielleicht schon blau-weißlichen Wärmeund Dunstschlieren. Ja es ist doch klar, daß wir – genauer zu sagen – Mitte August in die Geschichte eintauchen, denn es kommen die atlantischen Tiefdruckgebiete noch nicht gegen die kontinentalen Hochs auf, die zu dieser Zeit über Rußland liegen. Man kann die Großwetterlage rückübersetzen in eigene, in diesem Falle Segelerfahrungen Ende August auf der Ostsee, denn wie anders soll man den Ausdruck eines ›schönen Augusttages‹ empfinden, der doch kaum weniger karg ist als der meteorologische? Die meteorologischen Angaben entzaubern zwar die ›Schönheit‹ eines Augusttages, aber ein gewisses meteorologisches Wissen, literarische Erfahrung und einige Phantasie ermöglichen einiges mehr, als nur ein Verständnis des Gemeinten. Das wird viel schwieriger, wenn Musil nun fortfährt und den Blick vom Himmelsgeschehen auf das ganz Irdische lenkt. Und daß und warum überhaupt der Himmel durch Wetterberichte entzaubert werden kann, das haben Sie aus meinen Ausdrücken entnehmen können: denn Meteorologie steht hier für die Entzauberung 303 des Göttlichen und der ›Schönheit‹ – durch naturwissenschaftliche Erklärung Entzauberung] Satz am Rd. mit grünem Textmarker angestrichen; daneben hs.: Rechende Wesen der Neuzeit

303

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– und dessen Auflösung in Minima, Maxima, Isobaren und Durchschnittswerte: das heißt ins Meßbare und Rechenbare. Musil schildert dann, zuerst gleichsam ein gezeichnetes Bild, eins in expressiven Strichen, und schließt dann seine Augen zu hören, indem er fortfährt: »Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine | bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts. Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte.« Städte haben je ihren eigenen Rhythmus, an ihrer Bewegung erkenne man sie, wie man Menschen ganz aus der Ferne, längst noch bevor man die Physiognomie erfaßt, an ihrer Art sich zu bewegen, als Bestimmte identifizieren kann. Es gibt charakteristische Abläufe der Laute der Werk- oder Schiffssirenen, des Glockenschlages und des Rauschens der Durchgangsstraßen, – aber es gibt auch die Geräusche bestimmter Mülltonnen, die gerade entleert werden, die Rhythmen von Ampelschaltungen und das charakteristische Schienenquietschen, das jede S- und U-Bahn an jedem Ort von allen anderen Orten unterscheidbar macht. ›Die Augen öffnend‹ zeichnete sich diese Bewegung in gleicher Weise als charakteristisch ab, und dieser charakteristische lautliche und bildhafte Rhythmus der Stadt bezeichnet sie treffender als nur irgendeine Einzelheit, ein Gebäude und selbst ein sogenanntes Wahrzeichen 304. Und dies gilt auch dann, wenn man sich nur einbildete, so 304

Wahrzeichen] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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die Stadt wiedererkennen zu können, denn das Bedürfnis einer Kenntnis des Ortes an dem man sich befinde, stamme noch aus den archaischen Hordenzeiten. – Was man also auch umkehren kann, denn die Höchstkultivierten mag man daran erkennen, daß sie dieses Gewicht auf ›Orte‹ und ›Futterplätze‹ nicht mehr so wichtig nehmen. Musil spielt im folgenden auf die ›rote Nase‹ des Clowns, des Landbewohners oder Sommerfrischlers, vielleicht auch die dem Säufer nachgesagte an – auf Signaturen existentiellen Ausmaßes wenn er sagt: »Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikrometer genau ausdrücken ließe; wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wichtigerem ab.« 305 Unter dem meteorologisch entzauberten Himmel und in einer beliebigen Residenz- oder Großstadt sind wir nach zwei langen Absätzen angekommen – in der durch Wissenschaft und Technik entgötterten Welt und an einem insofern ganz unwirklichen Ort sind wir inzwischen angelangt. – Einem gleichsam nur noch geographischen Ort, mit Längen- und Breitengraden, aber ohne alle Eigenschaften 306, die ihn zu einem einmaligen machten. Der Typus 307 Großstadt ist es, nicht aber eine bestimmte Großstadt – völlig austauschbar sind Wien oder Berlin oder München in dieser Sichtweise, so, wie wir heute überall die Einkaufsstraßen und dieselben Gehwegplatten, ob in Wuppertal oder Aarhus, in Berlin oder auf dem Dorf finden. Derselbe Asphalt, dasselbe Gepräge allenthalben, wohin man nur fährt. | In diesem Typus von Stadt und unter einem dementsprechend meteorologisch entzauberten Himmel sind wir nach zwei langen Absätzen angekommen: ›Entzauberung der Welt‹ ist das Signum der ›Moderne‹ – sagt Max Weber: »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine (wirkliche) Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unbe305 306 307

»Es … ab.«] mit grünem Textmarker hervorgehoben ohne alle Eigenschaften] mit grünem Textmarker hervorgehoben Typus] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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rechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.« 308 Kein Gott, keine Natur im Sinne einer unberechenbaren Schicksalsmacht, keine Geheimnisse: das bestimmt das Grundgefühl des modernen Menschen, wie Weber es sah. Und Robert Musil hat durch die meteorologische Darstellung des schönen Augusttages in literarischer Form genau das verwirklicht, was Max Weber zum Signum der Moderne erklärte und das ganz buchstäblich, indem hier die Mächte auch des Himmels ihre Unberechenbarkeit verlieren – oder doch zu verlieren scheinen. 309 Der Spaziergang der Protagonisten könnte nun eigentlich beginnen, aber ein Name ist gefallen: ›Wien‹ und der könnte von Wichtigerem ablenken, gar Wienerisches erwarten lassen. Was ganz falsch wäre bei einem Roman, der am Kurfürstendamm in Berlin geschrieben wurde – über dieselben Verhältnisse aller Großstädte: »Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht. Die beiden Menschen, die darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen, hatten natürlich nicht diesen Eindruck. Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach | außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden.«

308 Welt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr 1988. S. 582–613; 594. 309 ›Entzauberung … scheinen.] am Rd. mit grünem Textmarker angestrichen, daneben hs.: »Rechnende Wesen der Neuzeit« sagt früher schon sein Freund Simmel

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Die Perspektive des Erzählers und die der beiden Menschen sind verschiedene. Feine Leute in ihrer ganzen Haltung und Art, wuschen ihre Wäsche nicht selbst, die feine nicht und auch keine andere, ›sie wußten wer sie seien‹ und daß sie sich auf ihrem richtigen Platze in Status, Stellung oder Klasse befanden. Sozial Ausgezeichnete, aber durch den Erzähler gleichsam auch soziologisch Gezeichnete, – wir aber kennen sie noch nicht und wir lernen sie im folgenden als bloßen Typus 310 beliebiger Individualität, d. h. in ihrer Nicht-Individualität kennen. Sie sind die Menschen, wie sie die Soziologie betrachtet, die ganz in denjenigen Kategorien und Begriffen aufgehen, die die Wissenschaft der sozialen Formen und Interaktionen, die Soziologie für sie bereithält: auch das ist eine ›Entzauberung‹, eine des Individuums in jenem alten Sinne einer unvergleichlichen Persönlichkeit. 311 – Persönlichkeit ist ja von vornherein zweistufig gedacht: personare 312: hindurchklingen, ertönen – das heißt: es gibt da noch etwas anderes als das Äußere und Sichtbare, als Status und gesellschaftliche Staffage, soziale Zugehörigkeit und so weiter. Es kommt eigentlich auf jenen inneren Menschen an, auf das, was eigentliche Individualität ausmacht, das Dahinter, das, was man altmodisch ›Seele‹ genannt hat – durchaus mit Anklängen an das Gottesähnliche darin, an das, was nicht verlorengeht: die Seele nämlich ist unsterblich: sie geht ein in den Himmel, freilich nicht in den nur noch meteorologisch verstandenen. Diese Menschen jedoch, mit denen wir es jetzt zu tun haben – haben keine Eigenschaften – keine Seele. – Eine unnachahmliche Charakteristik folgt bei Musil: »Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien.« Menschen, zwar mit Namen, aber ohne wirklich persönliche Eigenschaften – in Sätzen, die ihnen nichts geben als einen hohen sozialen Status und gewisse Accessoires, die allenfalls auf allerlei rückbloßen Typus] mit grünem Textmarker hervorgehoben Sie … Persönlichkeit] am Rd. mit grünem Textmarker angestrichen, daneben hs.: Soziologismus! 312 personare] mit grünem Textmarker hervorgehoben 310 311

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schließen lassen. Denn mehr vermögen auch wir kaum von den Vorübergehenden wahrzunehmen: »Lebhafte Menschen empfinden solche Rätsel oft in den Straßen. Sie lösen sich in bemerkenswerter Weise dadurch auf, daß man sie vergißt, falls man sich nicht während der nächsten fünfzig Schritte erinnern kann, wo man die beiden schon gesehen hat.« III. Damit sind wir also wieder bei den Großstädten und den spezifischen Techniken der | Distanzierung, derer wir uns bedienen und bedienen müssen, wollen wir nicht von der Vielzahl und Vielfalt übermannt werden, die durch die Unzahl Menschen mit denen wir in irgendeinen Kontakt treten. 313 Und sei es auch jener nur flüchtige, der 50 Schritte weiter ohne jede Erinnerung bleibt. Zitat Ph[ilosophie des] G[eldes]: 664 f. 314: | »Auf diese Weise entsteht […] eine innere Damit … treten.] der Satz könnte mit den Worten verursacht werden geschlossen werden. 314 664 f.] danach gestr.: Benjamin: danach Absatz, ebenfalls gestr.: Ich erwähnte bereits das Gegenteil: daß Sie oder daß man grüßt wird, ganz unvermittelt auf einer Dorfstraße, wo es eine Selbstverständlichkeit darstellte, daß man einander grüßte. Auch die Ortsfremden. Und das zumal als Junge, der ohnehin zu grüßen hatte: alles, was älter war – und nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt. Dann aber als Sohn des Zeitungshändlers, den man kannte, und der von so vielen gekannt wurde, daß er gar nicht wissen konnte, wen alles er grüßen müsse. Und ich muß zugeben, auch heute noch auf Sonntagsspaziergängen in der Umgebung Berlins ein Unbehagen zu spüren, wenn mir auf Feldwegen Fremde entgegenkommen, mit denen ich keinen Gruß wechsle. – Wenn diese mich jedoch grüßen – oder wenn sie mir spontan sympathisch erscheinen – so grüße ich allemal und durchaus eifrig. Das freilich genauso auch in der Stadt, in Läden bei mir [im] Kietz, auf der Straße, in meiner Stammkneipe, Personal und gewisse Gäste, mit denen irgendetwas, ein unausgesprochenes Einverständnis, verbindet. Und sei’s nur das, einander zu begrüßen und eben nicht fremd zu sein. Nun erst sind wir endgültig und wiederum angekommen, in den Großstädten, nämlich bei den vielfältigen Differenzen gegenüber dem dörflichen oder kleinstädtischen Leben. Denn natürlich geht es in der Moderne nicht um die Großstädte als solche. An ihnen hängt eigentlich niemand. Sie sind nur Symbole und Orte des Bekenntnisses und die so emphatische Rede von den Großstädten symbolisiert nur die Verteidigung einer zwar faszinierenden, erregenden und begeisternden, aber letztlich wohl doch ungeliebten Lebensweise. Der man zweifellos vieles abgewinnen kann, aber auch vieles nur dann abgewinnt, wenn man denn in ihnen wohnt oder Arbeit gefunden hat, – wenn man sich akkommodiert hat. Wenn man sich angepaßt hat – in irgendeiner Form – Zum Zweck der Selbsterhaltung. Das muß freilich nicht gleich in Blasiertheit ausarten, aber es ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß auch die Unaufmerksamkeit auf die Umgebung etwas ist, was wie Blasiertheit wirkt: wir beachten die anderen nicht – und daß wir nicht beachten könnte immer auch so ausgelegt werden, als legten wir auf sie keinen Wert: als seien wir – in diesem Sinne also – 313

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Schranke zwischen den Menschen, die aber allein die moderne Lebensform möglich macht. Denn das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich. Daß man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, wie die jetzige Stadtkultur mit ihrem kommerziellen, fachlichen, geselligen Verkehr es bewirkt, würde den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich brächte. Die entweder offenbare oder in tausend Gestalten verkleidete Geldhaftigkeit der Beziehungen schiebt eine unsichtbare, funktionelle Distanz zwischen die Menschen, die ein innerer Schutz und Ausgleichung gegen die allzugedrängte Nähe und Reibung unsres Kulturlebens ist.« 315 | Und damit kehren wir zurück zu Frau Tuzzi und Dr. Arnheim: zu ihren Schutzorganen, – und zur Entzauberung der Welt. Wie verstehen wir die moderne Welt, das erkennt man nur, wenn man genauer fragt: wie verstehen wir sie, wenn etwas Unvorhergesehenes, z. B. ein Unfall geschieht – wie verstehen wir – oder besser: wie gehen wir damit um? Musil führt das beispiellos vor – uns führt er vor: 316 »Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf 317 bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe 318 gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas 319 hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen 320 um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. Von seinem Wagen herblasiert. Ich will diesen Gedanken nicht weiterführen, möchte aber noch einmal auf Simmels Vortrag zurückkommen, um Ihnen den eigentlichen – kulturphilosophischen – Kern und Witz der Sache nicht vorzuenthalten: bricht ab. Das Folgeblatt besteht aus einer Fotokopie aus Georg-Simmel-Gesamtausgabe Bd. 6, Philosophie des Geldes, S. 664–665 mit dem Zitat. 315 ist.«] in der folgenden Zeile des Simmelschen Textes sind die Worte Distanzierung […] gegen die Sachgehalte des Lebens mit grünem Textmarker hervorgehoben 316 Und … vor:] hs. auf einer Kopie aus Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (S. 10–11), mit als zu zitierend markierter Textstelle 317 Auflauf] hs. am Rd.: bedroht 318 aus der Reihe] hs. am Rd.: tanzen 319 etwas] hs. am Rd.: ein Mensch; gegenüber: die reine Verstandesmäßigkeit 320 Wie die Bienen] hs. am Rd.: Masse

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abgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpaper, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Loches, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteiges gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit 321 zu Schaden gekommen, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen; man öffnete seinen Rock und schloß ihn wieder, man versuchte ihn aufzurichten oder im Gegenteil, 322 ihn wieder hinzulegen, eigentlich wollte niemand etwas anderes als die Zeit ausfüllen, bis mit der Rettungsmannschaft sachkundige befugte Hilfe käme. Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: ›Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.‹ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen 323; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging. Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe. ›Nach den amerikanischen Statistiken‹, so bemerkte der Herr, ›werden dort jährlich durch Autos 190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt.‹ ›Meinen Sie, daß er tot ist?‹ durch seine eigene Unachtsamkeit] hs. m Rd.: sic! Abwechselnd … Gegenteil,] hs. am Rd.: Hilflosigkeit der »Spezialisten« Stadtmenschen 323 wissen] hs. am Rd.: ff. Weber 321 322

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fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. ›Ich hoffe, er lebt‹ erwiderte der Herr. ›Als man ihn in den Wagen hob, sah es ganz so aus.‹« 324 Diese vielfache Distanzierung durch Verstandesmäßigkeit, Mitleidlosigkeit, Entzauberung will ich beim nächsten Mal näher erläutern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 325

324 aus.‹«] hs. am Rd.: Existenzialien: Momente der Theologie und ihre Refugien – nach der Entzauberung der Welt. 325 Diese … Aufmerksamkeit.] hs.; Folgeblatt Fotokopie aus Robert Musil: Die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1901. Stuttgart: Reclam 1995, S. 105–106. Danach folgt noch ein Bl. Typoskript, paginiert als 1: die Legende von der Entstehung des Begriffes der Philosophie, daß Pythagoras es gewesen sei, der das Leben des Menschen mit einem Markt verglichen habe: »wie dort die einen mit trainierten Körpern den Ruhm und die Ehre eines Kranzes erstrebten, andere mit Aussicht auf Gewinn und Profit durch Kauf und Verkauf angelockt würden und es endlich eine besondere Gruppe gebe, die die vornehmste sei und weder nach Beifall noch nach Gewinn strebe, sondern um des Schauens willen [hs. am Rd.: Flaneur] gekommen sei … die alles Andere verachteten und die Natur der Dinge aufmerksam betrachteten. Diese nennten sich Liebhaber der Weisheit, eben Philosophen.« [Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes. Lateinisch-deutsch. Mit ausf[ührlichen] Anm. hg. v. Olof Gigon. 6., durchges [ehene] Aufl. München/Zürich 1992. V,9. S. 323 (Hervorhebungen von mir, KCK).] – So habe Pythagoras gesagt – wie Cicero in seinen Gesprächen in Tusculum uns überliefert, bricht ab

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Ordner SS 1996 · 7. Vorlesung

[Ordner SS 1996] 7. Vorlesung 326 In den letzten beiden Vorlesungen habe ich versucht, Ihnen die Großstädte und das Geistesleben anhand einiger typischer Phänomene zu charakterisieren. Insbesondere waren das die typisch gewordenen Erscheinungen des Blasierten, des Flaneurs, vor allem aber zeigte sich eine allgemeine Veränderung der Sichtweise der Anderen: und zwar in Form von Distanzierungen, die der moderne Mensch oder eben der Großstädter vornimmt und vornehmen muß. Indem wir nicht die Vielen und Vielzuvielen, mit denen wir zusammentreffen, genauer gesagt: auf die wir treffen, ohne daß wir Herr darüber wären, ob und wann wir auf sie treffen wollen, – indem wir zusammentreffen, gebietet es die Selbsterhaltung, sie in der Distanz zu halten. Was der Blasierte als eigenen Habitus ausgeprägt hat, eignet so eigentlich jedem Großstädter: aus Selbstschutz muß 327 er sich vor der Überforderung durch die Andern schützen. Ohne ein Bewußtsein davon und ohne einen Willen zu dieser Selbsterhaltung, verhält er sich so, wie er eben muß, gleichsam naturhaft: zweite Natur des modernen Menschen. Dann hatten wir anhand der Musilschen Schilderung des Unfalls auch gesehen, daß diese Distanz zwischen den Menschen nicht nur keine bewußte und willentliche darstellt, sondern gewissermaßen auch institutionelle Form annimmt. Und dies gleich | auf mehreren Ebenen: Die Länge des Bremsweges und die Statistik über die Unfallhäufigkeit scheinen den Unfall in eine eigene Ordnung einzustellen,

7. Vorlesung] darüber: ab hier (frei!); davor gestrichen: 7. Vorlesung; darüber 6.) 10. Mai 2000 »Soziale Distanzierungen« + Präsentismusbegriff / + Raoul Hausmann / ca. 70 Hörer bis 1830; Text beginnt unvermittelt (S. paginiert mit 6): Geld ebenso wie vom Funktionieren des Ganzen, denn man braucht Geld und braucht Anbieter von Waren und Dienstleistungen aller Art, um eben diese Freiheit von den Anderen zu genießen. Das Individuum ist also befreit – von den Anderen – und dies zumal im emotionellen Sinne – und es ist in gleichem Maße abhängig geworden von allen Anderen, indem das Ganze funktionieren muß: von der innerstädtischen Versorgung ausgehend genauso wie von der des ganzen Landes, heute sogar Europas und der Weltwirtschaft, denn alle wirtschaftlichen Verhältnisse stehen seit längst in globaler Verflechtung. Das Individuum ist befreit – und ist zugleich doch in eine andere Abhängigkeit geraten. Das muß ich näher erklären: 327 Selbstschutz muß] Selbstschutz hat er und muß Satzbau korrigiert 326

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die gleichsam objektiv ist und keinerlei weitere Erklärung zu fordern scheint. Weil der Bremsweg der LKW so lang oder zu lang ist, deshalb ist der Unfall geschehen. So erscheint es Frau Tuzzi – und indem Dr. Arnheim ihr und uns diese Erklärungen gibt, hat alles seine Ordnung. Diese Ordnung ist eine objektive Ordnung, wenn man so will die Ordnung des modernen öffentlichen Lebens, der modernen Lebenswelt. 328 Unfälle haben ihre technischen Ursachen, Unfälle geschehen in einer von Statistikern erfaßten 329 Häufigkeit und damit ist es gut. Sogenanntes ›menschliches Versagen‹ oder ›Materialermüdung‹ mögen hinzukommen oder die eigentliche Veranlassung gewesen sein – in jedem Falle aber ist es gut damit. Wir leben in einer aufgeklärten und informierten Welt, übernehmen diese vermeintlichen Erklärungen der Medien und geben uns zufrieden. Jedenfalls soweit wir nicht selbst davon betroffen sind. Denn dann interessieren uns alle Umstände und Veranlassungen sehr viel genauer: als bestimmte und konkrete Fälle – und da hilft es uns gar nichts, wenn wir stattdessen darauf verwiesen werden, daß ›dasselbe‹ hunderte oder tausende Male in aller Welt täglich geschehe. Sie sehen: durch die Statistik, durch die technische Erklärung, wie uns die Medien die Unfälle berichten, hat sich eine Distanzierung etabliert, die uns über alle näheren Umstände hinwegsehen läßt: wir sind nicht betroffen – und wir leben in einer modernen Welt, die in aller Regel darauf verzichten muß, sich um nähere Umstände – und Eigenschaften! – zu bekümmern. Diese Distanzierung beruht auf Kommunikationsformen und Versprachlichung: indem wir es und mit Worterklärungen genug sein lassen, haben wir bereits den entscheidenden Akt der Distanzierung vollzogen, haben wir z. B. jedes menschliche Mitleid und Mitgefühl ausgetilgt, das man doch von einem Menschen erwarten sollte, der zufällig Zeuge eines Straßenverkehrunfalls geworden ist. 330 Daß genau auf dieser Art der Distanzierung durch Versprachlichung (Typisierung von Situationen: Unfall → Statistik) auch die | immer wieder öffentlich beruhigende Tatsache beruht, daß man Nachrichten- und Magazinsendungen mit Bildern und Schilderungen Lebenswelt.] am Rd.: Deutung! – nicht aber des Geschehens Statistikern erfaßten] Statistern erfaßt 330 Diese … geworden ist.] geworden ist: Tuzzi bricht ab; am Rd.: Verwissenschaftlichung der Interpretation alltäglichen Geschehens! 328 329

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z. B. des Hungers in der 3. Welt, mit Kriegen und Kriegsgräueln vollpacken kann – und die Zuschauer damit umgehen wie mit Werbesendungen oder Unterhaltung – das eben gehört im Kern zum modernen Leben – zur Mitleidslosigkeit des modernen Medienkonsums – und ist von Musil in seiner einfachsten Form geschildert worden. Distanzierung durch Versprachlichung – Versachlichung und Verwissenschaftlichung – schneidet die besonderen Umstände und Verhältnisse ab, ganz so wie der Begriff nur einen Oberbegriff für den Gegenstand oder Sachverhalt hergibt, aber die konkreten wirklichen Dinge nicht als Einzelne benennt. Und mit dieser Art von Distanzierung hängt eine andere eng zusammen, die Musil uns in der Schilderung der beiden Figuren vorgeführt hatte: Frau Tuzzi und Dr. Arnheim, die wir nicht als Menschen mit bestimmten Eigenschaften kennen lernten, sondern als zwei Rätsel: »Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien.« 331 Es sind zwei Menschen, zwar mit Namen, aber ohne wirklich persönliche Eigenschaften – in Sätzen, die ihnen nichts geben als einen hohen sozialen Status und gewisse Accessoires, die auf allerlei rückschließen lassen. Auch darin liegt eine Form der Distanzierung, jetzt zwar durch den Schriftsteller vorgetragen, aber unendlich oft wird von uns genau in dieser Weise verfahren: daß wir jemanden nicht als Persönlichkeit charakterisieren, sondern bloß mittels eines oder zweier sozialer Merkmale: eine Studentin, ein Dozent – ein Rentner und ein Kind. Vielleicht werden Sie dies als etwas ganz Selbstverständliches – und deshalb mich etwas überspannt empfinden 332: wie soll man denn anders verfahren als mittels solcher Bezeichnungen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: ich beklage dies ja gar nicht und klage es schon | gar nicht an – aber daß es so ist, das ist keineswegs trivial oder bloß selbstverständlich, sondern hat vielmehr eine große Bedeutung und immer auch Folgen für unsere Wahrnehmung der Anderen. 331 Rätsel: … wer sie seien.«] am Rd.: Menschen in der Distanz der sozialen Rolle sind Rätsel 332 Vielleicht … empfinden] mittels Einfügungen umformuliert aus: Vielleicht werden Sie dies als etwas überspannt empfinden

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Denn die eben von mir gewählten Bezeichnungen: Studentin, Dozent, Rentner und Kind sind gerade diejenigen, und zwar von den ganz wenigen, die man gleichsam völlig wertneutral gebrauchen kann: an denen kein negativer und allenfalls ein positiver Gefühlswert hängt – ganz anders ist dies mit Bezeichnungen wie: Arbeiter, Deutscher, Christ und Jude – damit sind schon andere Bedeutungsnuancen verbunden: – vielleicht sogar Ablehnung oder das Gefühl der Zugehörigkeit und Solidarität. Was also mit solchen mehr oder minder konfessionellen, ethnischen und ähnlichen sozialen Einordnungen gemeint ist, und was sie bedeuten sollen oder können, das differiert sehr stark und es ist fast überflüssig zu sagen, daß das Attribut Deutscher oder Jude alles andere als wertneutral gebraucht zu werden pflegte – vielmehr genügte eine Bezeichnung als ›Jude‹ eine ganze Bevölkerungsgruppe in Gaskammern zu schicken. – In der vermeintlichen Eigenschaft als ›Deutscher‹ wurde man kurz nach dem Krieg beim Grenzübertritt unter Umständen angespuckt, und auch im heutigen Deutschland sind Menschen wegen ihrer nationalen, ethnischen oder politischen Zugehörigkeit ermordet worden. – Ich ärgere mich immer in der Großen Cafeteria über die dort hängenden Plakate, z. B. »Ich bin Ausländer – na und?« D. i. Rechts- und Verwaltungssprache – sonst nur die von Rechtsradikalen resp. Dummköpfen. Einübung solcher Kategorien hat wohl nie andere als negative Auswirkungen. Und wenn sie auch noch so gut gemeint sind. Denn es ist m. E. einfach inhuman, seinen Tischnachbarn als Ausländer zu perzipieren, – prinzipiell. 333 Jedenfalls ist die soziale Zuordnung – soziale als Sammelbegriff für jede Art von Zuordnung eines Einzelnen zu einer größeren Gruppe 334 – ist die soziale Zuordnung eine spezifische Form der Distanzierung: indem ich von jemandem sage: er ist Mohammedaner und nicht sage – er stammt aus dem Iran und ist ein prima Kerl, studiert Medizin und hat eine nette Familie, sondern mich darauf beschränke, ihn nur damit zu charakterisieren: er sei Mohammedaner oder Iraner – lasse ich so unendlich vieles weg, was in fast jedem Falle viel bedeutsamer ist, als die bloße Aussage, er sei ›Mohammedaner‹ es anklingen läßt.

333 334

Ich … prinzipiell.] hs. hinzugefügt Zuordnung … Gruppe] am Rd.: Berger/Luckmann: Typisierung

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Hören Sie fünf Minuten Nachrichten und Sie können sich überzeugen, daß dort andauernd von anonym bleibenden Menschen in genau dieser Weise geredet wird – die | Serben haben wieder – und die Bosnier – und so weiter. … Diese Formulierungen im KollektivSingular sind definitiv nicht nur intelligenzzerstörend und dumm – diese Formulierungen 335 trainieren Weltbilder und üben Stereotypen ein, die immer geschichtlich wirksam, »geschichtsmächtig« waren und sind. Was haben Sie – ganz persönlich – mit allen Deutschen gemein? Fragen Sie sich das doch bitte einmal! 336 Jedenfalls sind dies alles Äußerungsformen, die ganz nachrichtlich scheinen, die man vielleicht gar nicht anders erwartet – wie sollte das gehen? Alle Namen nennen? – Ich weiß, das geht nicht – aber so geht es auch nicht. Denn alle diese Äußerungsformen haben objektiv die Funktion, unser Bild von den Serben, den Bosniern mitzuprägen, oft sogar definitiv zu bestimmen. Diese Sprache – die Sprache der Nachrichten und der Politik überhaupt – ist eine gewalttätige, wenn man es ganz genau nimmt – wenn man nämlich zuende denkt, welche Folgen es hat, daß wir zu wissen meinen, wer Schuld sei und wie die Verantwortlichkeiten für das Kriegsgeschehen usw. liegen. Und welche politischen und realen Folgen das dann hat usw. usf. – das will ich hier nicht ausdenken. Nur soviel, daß derartige Sachverhalte wie Nachrichten sie zu berichten pflegen, prinzipiell nicht in wenigen Minuten abzuhandeln sind: anständigerweise. So stellt sich die Frage, welche Funktion und welchen Sinn hat es, daß sie gemeldet werden – wenn nicht einen politischen und potentiell also gewalttätigen? 337 Hinzu kam dann in Musils Schilderung als weitere Distanzierung die, daß allein der offizielle Rettungsdienst berufen ist, mit solchen Fällen adäquat umzugehen: die Passanten können das Opfer umdrehen und aufrichten, wieder hinlegen oder aufsetzen – sie sind der Situation gegenüber völlig hilflos. Und daran hat, wie jeder weiß, der einmal Zeuge eines schweren Unfalls geworden ist, auch der obligatorische ›Erste-Hilfe-Kurs‹ nichts zu ändern vermocht. Aber darum geht es auch gar nicht. Vielmehr macht Musils ironisches Lob der sozialen Einrichtungen deutlich, daß diese Ersatzein335 336 337

Formulierungen] Formungen Diese … einmal.] hs. hinzugefügt Nur …gewalttätigen?] hs. hinzugefügt

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Begriff und Theorie der Moderne

richtungen darstellen: Ersatz für anderweitig nicht mehr beherrschbare Situationen – das sie Träger von Leistungen sind, auf die das moderne Leben nicht mehr verzichten kann: die also unbedingt notwendig zum modernen Leben gehören: Rettungsdienste, Unfallaufnahme, ärztlicher Bereitschaftsdienst, Totenschein und Leichenwäscher, Bestattungsunternehmen und Trauerredner, – das alles ist nicht nur bis ins kleinste fest geordnet und institutionalisiert. Es ist auch auf eine Vielzahl von Spezialisten verteilt worden, die nun allesamt jemanden vom Unfallort – dann gegebenenfalls unter die Erde bringen: »Bewundernswert sind diese sozialen | Einrichtungen«, sagt Musil – und er macht doch im gleichen Atemzuge deutlich, daß sie den Charakter von bloßen Ersatzleistungen tragen, auf die das moderne Leben jedoch nicht verzichten kann. Mann kann deshalb nicht für oder gegen derartige soziale Einrichtungen sein oder sich aussprechen – sie sind einfach nur notwendig und wenn nur ein einzelnes Glied aus dieser Kette herausbräche, so wäre das Leben als Ganzes gefährdet oder sogar unmöglich. Aber auch diese Spezialisierung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten und umgekehrt: das ›sich nicht angesprochen fühlen‹ – stellt eine eigene Form der Distanzierung dar. Eine Distanzierung, die schon ganz früh und weit im Vorfeld jedes Unfalles, den man mitkriegt, geschehen ist – nämlich darin und in den Moment wo man sich eigentlich gar nicht für z. B. den Erste-Hilfe-Kurs interessiert. 338 Denn wenn wir in einer Hinsicht sehen, daß wir durch solche Situationen – wie beispielweise Unfälle – überfordert sind, so sind wir in anderer Hinsicht auch gefordert, wenn etwas in unseren speziellen Zuständigkeitsbereich fällt. Als zufällig vorbeikommender Arzt zum Beispiel, den der Eid des Hippokrates, aber auch der Gesetzgeber sogar dazu verpflichtet, die berufsmäßige Kompetenz sofort in den Dienst der Bewältigung des Problems zu stellen. Was wichtig ist: berufsmäßig muß er helfen – also nicht als bloßer Mitmensch, sondern ständisch und juristisch dazu verpflichtet, ganz jenseits einer irgendwie persönlich empfundenen Veranlassung – wie beispielsweise eine Mitgefühles.

338 den Erste-Hilfe-Kurs interessiert.] den 1. Hilfekurs interessiert, wo hs. Einfügung bricht ab

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Diese so wunderbaren sozialen Einrichtungen sind genau genommen nicht zu bewundern, sie müssen ganz einfach funktionieren. Denn sonst geht nichts mehr. Und das hat einige Folgen für das moderne Bild vom Menschen: Denn um so weniger werden wir diejenigen bewundern, die völlig hilflos mit dem Verunglückten allerlei anzufangen suchen, aber doch nur ihre Kompetenz- und Hilflosigkeit damit offenbaren. Wir werden sie ansehen als Leute, die über äußerst beschränkte Fähigkeiten verfügen, als Leute, die nichts tun können – was auch immer sie tun wollen. Und wir werden uns selbst bei solchen Situationen als solche empfinden, werden wissen, wie | wenig wir vermögen, wie hilflos wir dem wirklichen Leben gegenüberstehen: 339 falls einmal ein Unfall geschieht, falls etwas Unvorhergesehenes eintritt, falls wir zufällig einmal die einzigen Anwesenden sein sollten, die überhaupt helfen könnten. Das wiederum bleibt nicht ohne Folgen für unser Selbstbewußtsein, für unser Sicherheitsbedürfnis, für unsere Ängste und Hoffnungen. Denn wir wissen uns abhängig vom allumfassenden Funktionieren und deren Ineinandergreifen der Rettungs- und Sicherheitsmechanismen, an deren Funktionieren wir gar nicht zweifeln dürfen, wenn wir am modernen Leben teilnehmen wollen. Nein, wir glauben an die Lebens-, Kranken-, Feuer- und Sterbeversicherungen, an Vorsorge und Altersvorsorge, Rentensystem und wer weiß was noch, denn wir leben in einer modernen Gesellschaft, die alles dies (mehr oder weniger) notwendig macht. Wir haben es also mit mindestens drei verschiedenen Distanzierungsmechanismen zu tun: - jene, die Anderen gar nicht erst als Individuen wahrzunehmen und ihr Anwesendsein gar nicht erst auf uns zu beziehen: d. i. Intellektualisierung; Blasiertheit, Reserviertheit - jene durch Versprachlichung und Abstraktion von einzelnen und konkreten Menschen und Fällen – und nur zum Beispiel Unfällen – in Wahrheit aber allenthalben wo wir den Einzelnen als Teil eines Ganzen, einer Gruppe o. Ä. begreifen – ihn also soziologisch ansehen: Typisierung des Anderen - jener dritten, die durch die Spezialisierung der berufsmäßigen Zuständigkeiten zustandekommt, und die so geregelt ist, daß eine wirk339

hilflos … gegenüberstehen:] mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben

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Begriff und Theorie der Moderne

liche Situation des Lebens: ein Unfall – von einem Einzelnen gar nicht in Griff zu kriegen ist: Typisierung der Situationen und Rollen. Das alles zusammengenommen charakterisiert das spezifisch ›moderne Leben‹, und dieses ›moderne Leben‹ zeichnet sich dadurch aus, daß unsere moderne Lebenswelt uns umfassend prägt – und zwar besonders, indem sie uns die genannten Formen der Distanzierung aufgenötigt hat – und was noch bedeutsamer ist: daß sie uns diese Distanzierungen völlig selbstverständlich scheinen läßt: | - Selbstverständlich 340 können wir die Anderen nicht beachten und sie uns nichtmal näher anschauen. - Selbstverständlich müssen wir die Welt um uns herum durch sprachliche Abstraktionsakte handhabbar machen – müssen Unfälle Unfälle sein lassen – ohne Mitleid 341: alle paar Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an Unterernährung. Genauso müssen wir die Ereignisse und Nachrichten in der abkürzenden Form bloßer Gruppenzugehörigkeiten und Parteibenennungen dargeboten erhalten – sonst könnten wir uns überhaupt nicht informieren. Aber wozu tun wir das? Um bei diesen Gewalttätigkeiten dabei zu sein? mit zu tun? 342 - Selbstverständlich leben wir in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, die ihre Spezialisten für alles und jedes hat und haben muß – weil eben die moderne Berufsarbeit – wie Simmel früh erkannte 343 – nicht als Kampf des Menschen um sein Überleben, um Nahrung, Wohnung und Kleidung gegen die Gewalten der Natur – sondern vielmehr als Verteilungskampf und Konkurrenz sich abspielt 344: um höhere Löhne ebenso wie um neue Produkte, um sie zu verkaufen und so seinen Arbeitsplatz etc. zu erhalten. Das alles hat die Geldwirtschaft – im Unterschied zur Naturalwirtschaft – zu Selbstverständlichkeiten werden lassen.

340 Selbstverständlich] darüber am Kopf des Bl. neben nach unten weisendem Pfeil: was heißt das aber umgekehrt? – Distanzlosigkeiten (aus schlechtem Gewissen) Symbolisierungen, Betroffenheiten Archaismen 341 ohne Mitleid:] am Rd. u. am Fuß des Bl.: Werte des Nahseins: Werte des menschlichen Nahseins: … Mitleid, Anteilnahme, … Solidarität nicht von Klassen, sondern gegenüber Personen … … Heimat … → entweder → Kirche oder ganz in die Privatsphäre; am Kopf des Bl. für die Zuordnung wiederholt: Werte des Nahseins → W 342 Aber … tun?] hs. hinzugefügt 343 wie … erkannte] am Rd.: F[uß]n[ote] vgl. in Großstädte 344 sondern … abspielt:] am Rd.: »soziales Überleben« → Cassirers Ausgangspunkt: animal symb[olicum]

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Diese Selbstverständlichkeiten haben dem modernen Leben einen ganz unverwechselbaren Charakter verliehen. Und diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten sind es denn auch, die dem Begriff der ›Moderne‹ einen realen, historischen und epochalen Sinn verleihen. 345

345 verleihen.] danach Strich quer über die S., am Rd. Zuordnungshinweis: 8. Der Epochenübergang: histor[isch] wäre 8a! Fortsetzung des Textes: Ich möchte diese These jetzt noch vertiefen. Und zwar indem ich den Versuch unternehme, zu zeigen, daß und wie dieser Epochenübergang durchaus reflektierend begleitet wurde. Ich meine damit natürlich nicht jenen literarischen Wandel, sondern das frühe Bewußtsein, Teilnehmer an einer viel weitergreifenden und allumfassenden historischen Umwälzung zu sein, einer die den ›ganzen Menschen‹ ergreift. Wilhelm bricht ab. Das hs. Konzept für die 7. Vorlesung für das SS 2000 lautet: 7. Vorlesung 17. Mai 2000 2 Optionen: I. Systemform aufweisen Diltheys Kultursysteme Cassirers symbolische Formen II. Wechselwirkungen aufweisen Simmels Großstädte u[nd] d[as] Geistesleben Simmels Begriff u[nd] Tragödie der Kultur. Beim letzten Mal … Distanzierungsmechanismen -Simmel: Intellektualisierung, Blasiertheit, Reserviertheit -Musil dasselbe (veranschaulichend) + Verbalisierung, Typisierung des Anderen u[nd] d[er] Situationen → Ismen: Weltanschauungen Naturalismus, Soziologismus, Stereotypen (hier nicht: Psychologismus) Materialismus Idealismus Delegation an »soziale Einrichtungen« Spezialisierung, »berufsmäßige« soziale Differenzierung d. i. »Arbeitsteilung« Rekurs auf das Ganze! Analogie 1900 – heute. »Lebens«, das Pathos des – Heute: »Kultur«, »Globalität« -Leben, Lebendigkeit, Erleben oder Erlebnis → Lebensphilosophie u. A.! gesteigert im Präsentismus → R[aoul] Hausmann → Geschichtswiss[enschaft] und Theorie der Geisteswissenschaften; läßt fragen nach der Funktion von »Geschichte« heute. »Verbot des Präsentismus« läßt fragen nach … Funktion von Geschichte heute – Primat der Politik: Legitimationsinstrument (schließt auch Mißbrauch ein) – III. Reich, Faschismus, Holocaust als negative Folie – das beinhaltet: – Fokussierung der dt. Geschichte aufs III. Reich hin: teleologische Gesch[ichts]betrachtung; Telos 1871 – negatives telos → negative Identität = Antinational; – paßt gut zu Bindungslosigkeit gegenüber sozialen Aggregaten jeder Art → Freizeitgesellschaft Hedonismus – ist höchst selektives Bild von »Universalgeschichte« u[nd] selber an sich »ungeschichtlich«, d. h.: historisiert nicht, sondern sucht Gegenwart mittels Vergangenem zu erklären; sichtbar an Parolen wie Haider = Hitler etc.; d. h. wir stünden jederzeit vor neuem III. resp. IV. Reich; erzeugt Klima der Demagogenverfolgung (Walser-Buhrs »geistige Brandstiftung«) und inquisitorische Erforschung »eigentlich« dahinterstehender Motive – realistisches Bild – geistige Unabhängigkeit! resp. Indifferenz … Abwehr dieser Sichtweise + Provokation der Mächtigen durch NS-Symbole – III. Reich ist eigentliche »Gegenwart« d. i. epochale Gegenwart; d. h. »wir« leben insoweit noch vor der Epochenschwelle. Lyotard behauptete: nein: Abbrechen der großen Erzählungen – ich werde darauf zurückkommen – oder gibt es schon, kündigt sich schon eine neue Auffassung von Gegenwart an? -in neuen Konfliktlinien, wie um 1900? → deshalb ist »Analyse der Gegenwart« wichtig → Graf Yorck | Problem ist Augenzeugenschaft – Benjamins Kaleidoskop. Man braucht »Kriterien«, eine Folie oder ein Vergleichsbeispiel = Yorck [danach 6 Zeilen freigelassen]

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 1996] 8. Vorlesung: Der Epochenübergang/systematisch 346 Dabei 347 haben wir es mit einem nicht ganz einfachen methodischen und historischen Problem zu tun. Denn die Frage ist jetzt die nach der Legitimität der Rede von ›der Moderne‹, und zwar im Sinne eines Epochenbegriffes. Wenn der Begriff der ›Moderne‹ mehr sein soll und meinen will als eine bloß literarische Programmformel jener modernen naturalistischen Dichter, und wenn er mehr meinen soll als eine ständige Abwechslung von bloßen Moden, wenn er eine bestimmte Periode und Epoche im geschichtlichen Verlauf bezeichnen soll, dann stellt sich die Frage nach dem spezifischen Charakter der ›Moderne‹, ihrer Eigenart, die man dann erst gegen andere Epochen wird abheben können. Aber es stellen sich dann auch Fragen nach dem Anfang, der Dauer oder eventuellem noch heutigen Andauern, resp. nach dem Ende dieser Epoche, Fragen, die ich allerdings heute noch ausklammern will. »Epoche« nur als geistesgesch[ichtliches] Konzept / Konstrukt – nur für Mitteleuropa – »ist«? ist »Versprachlichtes«, »Erkanntes«, »Empfundenes«, »Gewolltes« oder »Vorgestelltes« ist also »Geschichtliches« und »Gesellschaftliches« - Nacheinander - Nebeneinander

▶ negative Teil-Identität ertragen nur diejenigen, die auch positive Teil-Identitäten besitzen 346 8. Vorlesung … systematisch] davor Zuordnungshinweise: 7. Vorl[esung]: »Soziale Distanzierung« ab S. 6 [statt gestrichen: 6. Vorlesung: Die Moderne als Epochenbegriff] 7a Musil-Deutung → Distanzierungen [7]b Werte des Nah-Seins, der Unmittelbarkeit; darüber Notizen: 7. Vorl[esung]: ca. 70 Hörer bis 1830 8. Vorl[esung] ca 60 Hörer bis 1820: Der Epochenübergang system[atisch] – Simmels Apriorika → Dis [?] – Notiz im 98er Kalender 30. Jan. 98 [der entspr. Kalender ist laut Auskunft Wera Köhnkes vom 15. 7. 2015 nicht überliefert] am Rd. nochmals Zuordnungshinweise: 8. Vorlesung 7. → ab S. 6 → 8. Vorl[esung] 17. 6. 98 347 Dabei] am Rd.: 1

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Ordner SS 1996 · 8. Vorlesung

als Beispiel: Verstädterung seit 1750 bis 1970 aber: wann wird’s bewußt?! → Simmel: Großstädte als Beispiel 348 Walter Benjamin hat in einer seiner Reflexionen zur Theorie der Moderne die bemerkenswert skeptische Ansicht ausgesprochen, ›es habe keine Epoche gegeben, die sich nicht im excentrischen Sinne ›modern‹ gefühlt habe und die nicht unmittelbar am Abgrund zu stehen glaubte‹. »Das verzweifelt helle Bewußtsein«, so sagte er, »inmitten einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist der Menschheit chronisch. Jede Zeit erscheint auswegslos neuzeitig. Das ›Moderne‹ aber ist in genau dem Sinne verschieden wie die verschiedenen Aspekte ein und desselben Kaleidoskops.« 349 Das heißt: die Modernen sind wie die Kinder, die sich an den vermeintlich | immer neuen Bildern erfreuen, die das Kaleidoskop zeigt, ohne daß wirklich und tatsächlich etwas Neues sichtbar würde. Immer dieselben Steine werden durch immer erneutes Schütteln in immer anderen Spiegelungen und also als immer andere Bilder und Konfigurationen gezeigt. Aber es bleiben doch dieselben Steine, die immer nach demselben Prinzip der Spiegelung nur immer neue Bilder sichtbar werden lassen. Benjamin sagt: »Es handelt sich [jedoch] nicht darum, daß ›immer wieder dasselbe‹ geschieht, geschweige daß hier von der ewigen Wiederkunft die Rede wäre. Es handelt sich vielmehr darum, daß das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies Neueste in allen Stücken immer das Nämliche bleibt.« 350 Wie ist das zu verstehen? Oder genauer gefragt: wie geht das zusammen, daß einerseits immer dieselben ›Stücke‹ und Elemente den Begriff der Modernität bilden, während doch andererseits das ›Gesicht‹ und der Anblick des Modernen immer wechselt und in die-

»Epoche« … Beispiel] auf einem beigelegten Notizzettel, mit Zuordnungshinweis: 2; Nummerierung wiederholt am Rd. des Vorlesungsms. mit Verweis auf Epoche – nur als geistesgesch[ichtliche] Konstruktion 349 Kaleidoskops.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Benjamin Ges[ammelte] Schriften V 2. Bd. S. 677. Das Benjamin-Zitat ist mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben 350 bleibt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Benjamin Ges[ammelte] Schriften V 2. Bd. S. 676. 348

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Begriff und Theorie der Moderne

sem Sinne immer neu und ›modern‹ ist oder zu sein scheint? 351 Die Abwechslung und der Wandel bleiben immer dasselbe – als deren Prinzip – wohingegen die Erscheinungsweisen immer und immer wieder andere werden. Auch die Wahrnehmungsweise der Menschen, daß sie immer und immer wieder glauben Zeugen solcher tiefgreifenden Wandlungen zu sein – das stellt ein Prinzip der Wahrnehmung der Gegenwart dar: Die Meinung 352, daß wir jederzeit von etwas Neuem herausgefordert werden – und daß jederzeit gerade wir es sind, die der größten Wandlungen der Welt- und Menschheitsgeschichte teilhaftig werden: diese Meinung ist nichts anderes als eine Täuschung – nichts anderes als ein Reflex des Wandels der Erscheinungen dieser ständigen Neuerungen: weil eben die Erscheinungen wandeln und wir sie nicht als solche zu erkennen und nicht zu relativieren vermögen, deshalb entstand und entsteht jeder Zeit aufs neue die Suggestion, Zeitzeuge ganz ungeheurer Wandlungen zu sein. Man kann dafür auch ganz einfach sagen: wir schauen nur, oder wir starren geradezu auf das Neue – und sagen dann, daß so viel Neues allenthalben aufwächst. Und wir vergessen uns klarzumachen, daß wir ja nur auf das Neue geschaut haben – und so ist denn unsere Täuschung perfekt. Sie ist also genau genommen ein Problem der Selbsterkenntnis – auch der wissenschaftlichen Selbsterkenntnis (Wissenschaftskritik insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften) 353 – denn wir vermögen nicht – oder doch jedenfalls nicht immer – zu erkennen, daß etwas Bestimmtes unsere Aufmerksamkeit erregt – und daß deshalb alles übrige ausgeblendet bleibt. Es ist fast wie mit unserem Verhältnis zum eigenen Körper: unseren Fuß spü351 scheint?] danach gestr.: Man muß diese Frage nur einmal stellen und sieht sogleich, daß die Modernität von Benjamin gedacht ist unter der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung: die Erscheinungen der Modernität wechseln allemal, aber das Wesen der Modernität bleibt immer das nämliche. So gibt es immer neue Kleideroder Hutmoden, immer schneller wechseln die Moden auch der künstlerischen und literarischen Neuerungen. Aber die Tatsache als solche, daß überhaupt diese Abwechslung stattfindet, daß also die zeitliche Abfolge in der Form der aufeinander folgenden Moden erfolgt, das ist das Wesentliche der Modernität. Soweit, so gut. Aber es geht außer der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung noch eine zweite Grundvoraussetzung in diese skeptische Ansicht über die Modernität ein: nicht nur das Wesen: 352 Meinung] Meinungen 353 ein … Sozialwissenschaften)] statt z. T. gestr., z. T. stehengeblieben: eine unserer Selbstwahrnehmung

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ren wir nur dann, wenn wir einen Stein im Schuh haben – wenn also etwas wehtut. Dann erst werden wir aufmerksam. Sie wissen, daß Benjamin seine Theorie der Moderne – das sog. Passagen-Werk – nur als Fragment hinterlassen hat, und man kann nicht einmal sicher sein, ob dieser von mir zitierte skeptische Blick auf die Behauptung von Modernität und ihren nur scheinhaften Charakter das letzte Wort dieser Theorie gewesen wäre. Aber man kann doch sagen, daß diese Reflexion typisch ist für eine Skepsis gegen jegliche Modernität, jegliche Behauptung von Modernität, die sich nicht ausweisen kann als etwas tatsächlich auch qualitativ Neues. Aber darauf käme es an: Wenn ›die Moderne‹ | als Epochenbegriff taugen soll, so muß eine wesentliche Änderung bestimmt werden, 354 | ein Epochenübergang oder Einschnitt ausgemacht werden können, der zweifelsfrei einen qualitativen Unterschied 355 von Vorher und Nachher erkennen läßt. 356 Und um die Bestimmung dieses qualitativen Unterschieds eines Vor-Modernen und dem darauf folgenden ›Modernen‹ muß es also gehen. Wir können uns nicht damit begnügen, aus all den Schriften zu zitieren, die einen solchen Epochenübertritt behaupten, – die also wie jene Kinder in ihr Kaleidoskop schauen und uns sagen: hier, das ist modern, das ist alles ganz neu, das ist der Anfang einer neuen Epoche. – Eine Skepsis, die im übrigen natürlich genauso angebracht ist für unsere gegenwärtige Situation und die Behauptungen, daß der Epoche der ›Moderne‹ jetzt und nunmehr eine ›Nach-‹ oder ›Postmoderne‹ nachgefolgt sei. Auch da ist nach dem Rechtsgrund dieser Behauptung, also nach dem qualitativen Unterschied zu fragen und des näheren zu erwägen, ob es sich tatsächlich um einen Epochenübergang handelt. Die bloße Behauptung von Modernität oder Postmodernität repräsentiert gleichsam nur eine erste Stufe, und zwar eine Stufe mangelnder Reflexion. Diese erste Stufe hat Benjamin durchschaut und auf einer zweiten Stufe des Reflexionsprozesses die Aussage erreicht oder doch nahegelegt, die Modernität nicht an den bloßen Erscheinungen, sondern am Wesen, der Form des Ablaufes all der Behaupals … werden,] 1 S. zur Einfügung des Halbsatzes eingelegt qualitativen Unterschied] zusätzlich mit gelbgrünem Textmarker hervorgehoben 356 läßt.] am Kopf der S. unvollständige Aufzählung: 1. Alles neu: entspricht [hier aufgelöstes Kürzel] Wahrnehmung aktuell 2. Relativierungen entsprechen 3. 354 355

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Begriff und Theorie der Moderne

tungen von Modernität festzumachen und deshalb die Aussage zu treffen, jede Epoche habe sich in diesem Sinne ›modern‹ empfunden und angesehen. Wir haben inzwischen also die Ausgangsfrage nach der Legitimität des Begriffes der Moderne als eines Epochenbegriffes zugespitzt. Daß Modernität empfunden und behauptet wird, genügt keinesfalls, und so hat der Begriff der Modernität zunächst nur den Sinn, das jeweils neue Gesicht, die immer neuen Erscheinungen in der Gegenwart (und von den Zeitgenossen als solche empfunden) zu bezeichnen. Ob aber ein Epochenübergang stattfindet, resp. stattgefunden hat, darüber läßt sich zunächst gar nichts aussagen. Im Gegenteil: Gerade Benjamin warnt vor einer naheliegenden Verwechslung von Modernität und einem | Begriff der Epoche namens ›die Moderne‹. 357 Ich glaube, daß man hierauf aufbauend ganz anders ansetzen kann und daß die Kriterien für die Ausmachung einer eigenen Epoche namens ›Moderne‹ in unserer Vorlesung durchaus bereits zutreffend bestimmt und genannt worden sind. Ich meine die verschiedenen spezifisch modernen Phänomene, die von einer definitiv neuen Lebenswelt (1. Stufe) hervorgebracht worden sind: zumal von den Großstädten – und die dann zu spezifisch neuen Lebens- und Erfahrungsweisen (2. Stufe) geführt haben, die die Menschheit so (oder doch zumindest in dieser Verbreitung) noch nicht gekannt hat. 358 Das Verhältnis des Einzelnen, des Individuums zum Anderen und sein Verhältnis zu sich selbst haben sich durch die oder/und gleichzeitig mit der veränderten 359 Lebenswelt grundlegend gewandelt. 360 Ich stehe den anderen als Einzelner gegenüber – das tue ich unter den modernen allgemeinen Lebensumständen in ganz anderer 357 Moderne‹.] am Kopf der S.: Epochaler Übergang in drei Transformationen: Moderne als Epoche 1. Transformation: Lebenswelt – Lebensformen → Kulturgeschichte, Affinität zu ← Lazarus – ästhetisch 2. Transformation: Selbst- u. Fremdwahrnehmung → [Kultur-]Soziologie, Affinität zu ← Simmel – theoretisch 3. Transformation: Symbolische Formen = andere »Kultur« → Kulturphilosophie, Affinität zu ← Cassirer – Philosophie! Ausdrucksphänomene 358 hat.] am Fuß der S. Anm.: 1. Stufe nicht »Ursache« für 2. Stufe – vielmehr: Wechselwirkung 359 durch … veränderten] durch oder/ und gleichzeitig mit die veränderte 360 gewandelt.] am Rd. Verweis mit Pfeil auf 8. Vorl[esung] Einschub S. 1–4; am Kopf der Seite: 17. 6. 98 im Görs [Lokal am Stuttgarter Platz, Berlin-Charlottenburg; heute nach Betreiberwechsel unter anderem Namen]: rot auf dieser Seite; bezieht sich auf die Ergänzungen an den Seitenrändern

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Weise als früher. – Dies nicht nur in einem quasi materialistischen Sinne der veränderten Lebenswelt und Lebensformen, die darauf aufruhen, sondern in Bezug auf meine Selbst- und meine Fremdwahrnehmung. – Das ist das Entscheidende! Epochale! 361 Moderne – d. i. eine Epoche (wie jede Epoche) bestimmter Selbst- und Fremdwahrnehmung. 362 Damit verändert sich nicht nur das Verhältnis zu den nahestehenden Anderen, sondern zu allen Anderen. 363 – Erkannt wird jedoch nicht die veränderte Selbst- und Fremdwahrnehmung, sondern deren verändertes Verhältnis: »Gegenwart«, »Leben« etc. sind nur Metaphern dafür. Soziologie ist auch 364 nur eine wissenschaftliche Metapher für dasselbe! Deshalb wird sie damals »erfunden«. »Kultur«, »Kulturphilosophie« – alles Metaphern … Ich stehe den Anderen als Einzelner gegenüber 365 – das ist die erste große Neuerung – und da hilft es garnichts auf die Geschichte der Befreiung des Individuums seit der Renaissance, seit Petrarca und vielleicht schon Dante zu verweisen: das Individuum als Individuum im modernen Sinne kann erst in einer Lebenswelt existieren, die ihm all das gibt, was ihm vormals die Familie und der Familienverband, die Sippe oder der Stamm gegeben hat: umfassende Befriedigung seiner Bedürfnisse – früher immer mit stärksten Bindungen an die Sippe verbunden – wird heute zur Frage des Geldes, und damit zu einer prinzipiell individuellen Angelegenheit. Entsprechend verändert sich nicht nur das Verhältnis des Individuums zu den Anderen – indem es auf geldwirtschaftliche Basis gestellt ein Verhältnis von Tauschbeziehungen wird – die ablaufen ohne persönliche Beziehungen und ohne persönliche Bindungen der Menschen aneinander. Es ändert sich in gleichem Maße auch das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, denn indem es die Freiheit von den anderen genießt, ist es erst das eigentlich moderne Individuum, befreit von allen stammes-, sippschaftlichen und familiären Banden – aber dafür umgekehrt bis ins letzte abhängig von dem Funktionieren der geldwirtschaftlich organisierten Gesellschaft: d. h. vom Geld als dem universellen Medium, durch das aller »Verkehr« mit Welt und Menschen hindurch muß. | Epochale!] EPOCHALE! Selbst- und Fremdwahrnehmung.] Selbst/ Fremdwahrnehmung. 363 Anderen.] folgt Verweis von hier aus siehe Yorck! bezieht sich auf die hs. Fortsetzung am linken Seitenrand, markiert mit (Yorck!!!) 364 etc. … auch] etc. nur Metaphern dafür. Soziologie auch 365 Ich … gegenüber] Bezug nach Einschub wiederhergestellt 361 362

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Man 366 kann die bisherigen Bezugnahmen auf literarische Quellen - Samuel Lublinski - Robert Musil bis zu einem gewissen Grade systematisieren, indem man die Frage stellt, was ist denn eigentlich mit dem »modernen Leben« gemeint? Was heißt das: ›modernes Leben‹? Denn so handelt es sich nur um einen völlig abstrakten Ausdruck, unter dem sich jeder irgendetwas vorstellen mag, wobei dann aber nicht klar wird, was denn tatsächlich gemeint ist und diesen Sprachgebrauch legitimiert. Die Antwort – auf die Frage, was ist modernes Leben – fällt nach dem bisher erarbeiteten Begriff von Kultur – als natura altera – nicht mehr ganz so schwer: modernes Leben ist gekennzeichnet durch und meint: moderne Lebenswelt und moderne Lebensweisen 367, denn beides ist natura altera. – So gliedert sich unsere Frage in zwei Einzelaspekte: - Welche Veränderungen der Lebenswelt werden berichtet? - Welche Veränderungen der Lebensweisen werden berichtet? 368 Diese Fragen interessieren insbesondere die Kulturgeschichte und Kultursoziologie: Kulturgeschichte fragt nach 369 den Veränderungen der Welt und Umwelt, | Kultursoziologie vor allem nach den Veränderungen der Lebensweisen, sozialen Formen und allem, was an Verhaltensweisen der Menschen sich verändert hat. Nebenbei: 370 man kann die gesamte Literatur und das Feuilleton seit Baudelaire, Flaubert – und aller Realisten und Naturalisten auch deutscher Zunge mittels dieser Fragen untersuchen – man findet dann die Themen und sachlichen Veränderungen, wie Sie sie in der Kulturgeschichte und in 371 der Kultursoziologie ja ohnehin ständig vorgeführt kriegen.

366 Man] Wechsel zu einem älteren, stichpunktartigen Ms. (womöglich mit Schreibmaschine, jedenfalls in einer Schreibmaschinenschrift – das vorgehende alles in Times New Roman), das durch den Zuordnungshinweis 8. Vorl[esung] und weitergeführte Zählung sowie gemeinsame Heftung mit dem vorhergehenden verbunden ist 367 moderne Lebenswelt … moderne Lebensweisen] am Rd. jeweils mit Pfeilen hervorgehoben 368 berichtet?] danach nicht näher ausgeführte Erinnerungsstützen: Dann lauten die Antworten z. B.: … Was wir auf diese Weise erreichen ist ein erster materialer Begriff dessen was die bricht ab 369 Kulturgeschichte fragt nach] Kulturgeschichte nach 370 Nebenbei:] (nebenbei: Klammer nicht geschlossen 371 Kulturgeschichte und in] Kulturgeschichte in

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Die Kulturphilosophie fragt nun weiter auch danach, ob und wie 372 diese Veränderungen eventuell die gesamte Kultur verändert haben – ob es sich also um Veränderungen im Einzelnen oder Veränderungen des Ganzen handelt. Ganze Kultur, d. i.: einerseits selbstverständlich der Inbegriff von Künsten, Literatur, Musik und Architektur (alles, was die cultura animi befördert), andererseits selbstverständlich ebenso auch: Wissenschaft und Bildungswesen, Sprachgebrauch und Spracherwerb, Berufswesen und Wirtschaftsweise; Rechtssystem und Politik sowie schließlich auch alles das, was materielle Kultur heißt – wozu u. a. auch Konsum und Konsumgewohnheiten gehören usw. usf. (Das alles müßte sich ›verändert‹ haben, wenn eine Epoche die andere hätte abgelöst haben sollen!) 373 – Die ganze Kultur! Wenn die ganze Kultur i. d. S. sich gewandelt hat – so lautet die These – dann hat sich unweigerlich auch das Leben im Prinzip jedes einzelnen Menschen gewandelt – dann sind nicht nur Dinge und Menschen um ihn herum verändert, auch er selbst ist ein anderer geworden. Das scheint fruchtbar abstrakt – ist es aber nicht wirklich. Denn wir fragen Schritt für Schritt ganz einfach nach denjenigen Veränderungen, die auf der Basis einer veränderten Lebenswelt und nachfolgenden oder begleitend veränderten Lebensweisen - das Selbstbild und Selbstverständnis des Menschen annehmen? - Welche Veränderungen daraus im Hinblick auf den Anderen hervorgehen? Auch hierauf haben wir schon Antworten erhalten, die uns resp. Ihnen von mir aber nicht als Antworten auf bestimmte Fragen dargeboten worden sind – Antworten, die mittels dieser Fragen jetzt jedoch systematisierbar sind. 374 Es genügt nicht, daß wir konstatieren, diese oder jene Ausschnitte aus der Welt hätten sich verändert – es genügt nicht, daß wir konstatieren, das Verhalten der Menschen habe sich daraufhin in dieser oder jener Weise verändert – das wären sozusagen immer nur die Anderen, ja es wären nur äußere Sachverhalte, die ohne jeden inneren Reflex, ohne Konsequenzen für das Selbstbild des Menschen blieben – ohne Konsequenzen für die Interaktionen unter Menschen

Die … wie] am Rd.: d. i. 3. (Das … sollen!)] am Rd. hervorgehoben 374 systematisierbar sind.] am Rd.: Interpretation von Verhalten und Handlung – idealist[isch] – Darwin – Freud – Hedon[ismus] + Milieu; mit Verweis von Handlung mit Pfeil auf Interpretation des eigenen Verhaltens – und das der Anderen 372 373

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– was ja ganz undenkbar ist! Das Leben in einer veränderten Welt wird immer auch zu einer Veränderung des Lebensweise führen – nicht immer bei jedem einzelnen, | aber aufs Große und Ganze gesehen eben doch und zwar unausweichlich, indem der Einzelne sich immer wieder der Anforderung ausgesetzt sieht, sich anzupassen. 375 Wenn wir also den Versuch unternehmen, zu systematisieren, so kommen wir anhand unserer bisherigen vier Fragen auf Grundsachverhalte, die der Moderne spezifisch sind. Die Vokabel ›modernes Leben‹ zerlegt sich so in eine Vielzahl von Phänomenen historischer, soziologischer und psychologischer Art – oder kurz: sachlicher und psychischer Art, 376 die allesamt Beschreibungselemente des spezifisch ›Modernen‹ darstellen: eine Art Phänomenologie der Moderne entsteht auf diese Weise – nicht viel anderes als Walter Benjamin sie mit seinem ›Passagenwerk‹ versucht hat, als umfängliche Sammlung von literarischen Fundstücken und Einzelbeobachtungen etc. Und diese Elemente sind es letztlich nur, die Sie allenthalben in Theorietexten über die Moderne beschrieben finden – dort allerdings abstrakt resp. sogar künstlich ›hochabstrahiert‹. 377

anzupassen.] am Rd.: zentrale Vokabel – Simmels Herkunft von Darwin! Art,] danach nicht näher ausgeführte Aufzählung Sachen: Psychisches: 377 hochabstrahiert.] hochabstrahiert –; danach folgt: Ich will am Beispiel einer Vorlesung [Diltheys] von 1898 über »Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie« Ihnen diese vier Fragen – die Funktion dieser vier Fragen deutlicher machen: und Sie werden sehen, daß Benjamin Recht hat, wenn er sagt, daß jede Epoche sich vor etwas grundsätzlich Neuem stehend gefühlt habe. Am Rd, markiert u. mit der Anm. versehen: habe ich in 8. Vorl[esung] weggelassen; auch Yorck insges[amt] das wäre Vorl[esung] 8a! = 9. Vorl[esung] 375 376

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[Ordner SS 1998] VIII. Das Thema der 8a. 378 Vorlesung schließt hieran unmittelbar an. Sie steht unter dem Titel: Die Moderne als Epoche Diese Frage zielt darauf, zu entscheiden, ob ein solcher Epochenübergang stattgefunden 379 habe oder nicht. Und dies mit hermeneutischen Mitteln. Denn ich möchte den Versuch unternehmen, zu zeigen, daß und wie dieser Epochenübergang durchaus reflektierend begleitet wurde. Ich meine damit natürlich nicht jenen literarischen Wandel, sondern das frühe Bewußtsein, Teilnehmer an einer viel weitergreifenden und allumfassenden historischen Umwälzung zu sein, die den ›ganzen Menschen‹ ergreift. Wilhelm Diltheys Freund, der Graf Yorck von Wartenburg, der m. E. wichtigste Geschichtsphilosoph Deutschlands im ausgehenden 19. Jahrhundert, beschrieb in den Jahren 1891–92 in mehreren Briefen an Dilthey diesen historischen Übergang, z. B., wenn es heißt: »Nach meiner sich befestigenden Überzeugung stehen wir an einem historischen Wendepunkte ähnlich wie das 15. Jahrhundert. Im Gegensatz zu der Art des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der in verschärfter Abstraktion und Isolation besteht, bildet sich ein Neues dadurch, daß der ganze Mensch wieder einmal Stellung nimmt und hinzutritt zu dem Probleme des Lebens. Jedesmal ist es eine neue Lebensstellung und [Lebens-]Auffassung, welche eine neue Epoche einleitet und bestimmt, nicht irgend eine Einzelentdeckung oder [Einzel-]Erfindung und seien sie auch von der größten Tragweite. Der Faden der Wissenschaft ist so lang und immer dünner gesponnen, daß er nunmehr der impetuosen Frage: Was ist Wahrheit? gegenüber reißt«. 380 Dieser Faden, diese Wechselwirkung nämlich zwischen Philosophie oder Wissenschaft und Leben ist gerissen, denn wenn – wie Yorck an anderer Stelle sagt – Philosophieren Leben ist, wenn Philosophie den vollen Gehalt des geschichtlichen Lebens in sich aufnimmt, dann ist eine Philosophie entweder ihre Zeit in Gedanken

8a.] statt gestr.: 6.; am Rd.: 8a. Vorlesung solcher Epochenübergang stattgefunden] solcher stattgefunden 380 reißt«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: D[ilthey]-Y[orck] Nr. 88; 22. 7. 1891.; am Rd.: Yorcks Buch S. 3 bzw. 33 »empirische Philosophie« Epochenübergang 378 379

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gefaßt – oder der Faden zwischen Leben und Philosophie resp. Wissenschaft ist gerissen. 381 Und das gilt natürlich auch umgekehrt: In einer Zeit, da die idealistischen Geschichtsphilosophien transzendentalphilosophisch destruiert waren, als ganz klar schien, daß es das erkennende Subjekt sei, das den Sinn in die Geschichte lege und deshalb eine philosophische Erkenntnis der Geschichte nicht möglich sei, – zu dieser Zeit hält Graf Yorck nicht nur eine Philosophie der Geschichte für möglich – sondern sogar für geboten. Ja, der schlesische Majoratsherr, der konservative Graf, der Abgeordnete im Preußischen Herrenhaus ist vorurteilslos genug, einzig der | Sozialdemokratie zuzugestehen, nur sie habe noch einen Willen und das Potential zur Geschichtsmächtigkeit: »Sie macht Ernst, weil sie ernsthaft ist und bleibt nicht bei skeptischen Spielen.« – Wie dies ihm die Philosophie und Wissenschaften seiner Zeit zu tun scheinen. Denn sie bemerken nicht – oder wollen nicht wahrhaben, daß eine neue Epoche heraufgekommen ist, – und so gilt wiederum: Wenn Philosophieren Leben repräsentieren soll, dann ergeht die zwingende Frage an die Philosophie, ob sie imstande ist, das Leben voll in sich aufzunehmen und auf den Begriff zu bringen. – Das genau intendierte Yorck und versuchte den miterlebten Epochenübergang theoretisch zu formulieren. Obwohl er freilich von ganz anderer Begrifflichkeit und von ganz anderen Optionen ausging als seine ›modernen‹ Zeitgenossen, ist es doch lehrreich, sich genauer anzuschauen, wie im einzelnen er dem Problem dieses Epochenüberganges philosophischen Ausdruck zu geben sucht, – und wie er die vielfältigen Anhaltspunkte ans konservativer Sicht – und also immer auch als Verlusterfahrungen – beschreibt: dies freilich in der Sichtweise eines durch und durch Anti-Modernen. Aber gerade hier zeigt sich, daß erst ein Einblick in auch diese Sichtweise dem Begriff der ›Moderne‹ zu seinem wirklichen und vollen Sinn verhilft. Denn erst die moderne und anti-moderne Sichtweise zusammengenommen machen es überhaupt erst möglich, daß wir in ›der Moderne‹ einen historischen Epochenbegriff erkennen: weil hier »der ganze Mensch wieder einmal Stellung nimmt und hinzutritt zu dem Probleme des Lebens«. – Was im übrigen alles andre als bloße Phrase ist, denn der Großvater des Philosophen unterzeichnete 1812 die Konvention von Tauroggen, jenen Separatfrieden mit Rußland – was an sich einen

381

gerissen.] am Rd.: »Philosophie« »Wissenschaft«

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Hochverrat darstellte – und der Enkel des Philosophen gehörte zu den hingerichteten Verschwörern des 20. Juli 1944. 382 | Daß 383 der ganze Mensch Stellung nimmt zu dem Probleme des Lebens – in dieser Aussage steckt alles, was nötig ist, um einen Epochenübergang als solchen zu begreifen. Denn: Der ganze Mensch, das ist der Mensch in alle dem, was seine Vorstellung, sein Wille und sein Empfinden 384 dieser Wirklichkeit gegenüberbringen. Er bezieht Stellung. 385 D. h.: es geht hier wirklich ums Ganze des Lebens, die gesamte Lebenswelt und alle Lebensweisen der Menschen wandeln sich und er bezieht in diesem Sinne Stellung. Graf Yorck sieht und bemerkt, daß die Gegenwart der 1890er Jahre allenthalben neue Lebensweisen und neue Lebensauffassungen zeigt, daß also etwas prinzipiell Neues hier anbricht – und daß also sehr viel mehr an Veränderungen geschieht als selbst die größten Triumpfe von Wissenschaft und Forschung sie bewirken können, aber er sieht vor allem daß die Menschen »andere« werden. Ein Epochenübergang zeichnet sich seiner Ansicht nach gerade dadurch aus, daß sich das Leben ändert – in einem ganz emphatischen und umfassendsten Sinne – von allenthalben zu beobachtenden Veränderungen der Lebenswelt und der Lebensweisen. | Das ›Leben‹, dieser scheinbar so vieldeutige und eher schwammig erscheinende Begriff, ist hier alles andere als vage. Er ist vielmehr als Inbegriff von Wirklichkeit – eigener wie umgebender Wirklichkeit gemeint: nämlich als Ausdruck dafür, daß ineinandergreifend Bewußtsein, Wollen und Empfinden der Menschen sich grundlegend gewandelt haben: epochal gewandelt. Großvater … 1944.] mit grünem Textmarker hervorgehoben Daß] davor Wiederholung des vorhergehenden Textes: Diltheys Freund, Graf Yorck von Wartenburg beschrieb in den Jahren 1891–92 in mehreren Briefen an Dilthey sein Empfinden und seine Erfahrung dieses historischen Übergangs, z. B. wenn es heißt: »Nach meiner sich befestigenden Überzeugung stehen wir an einem historischen Wendepunkte ähnlich wie das 15. Jahrhundert. Im Gegensatz zu der Art des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der in verschärfter Abstraktion und Isolation besteht, bildet sich ein Neues dadurch, daß der ganze Mensch wieder einmal Stellung nimmt und hinzutritt zu dem Probleme des Lebens. Jedesmal ist es eine neue Lebensstellung und [Lebens-]Auffassung, welche eine neue Epoche einleitet und bestimmt, nicht irgend eine Einzelentdeckung oder [Einzel-]Erfindung und seien sie auch von der größten Tragweite«. 384 Empfinden] Empfingen 385 Stellung.] am Rd.: »Bewußtseinsstellung« 382 383

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Leben und Lebensphilosophie haben also den Sinn auszusprechen, daß wir es hier nicht mit beschränkten Veränderungen, nicht mit einzelwissenschaftlichen, philosophischen, sozialen oder technischen Fortschritten, nicht mit neuen Moden in der Literatur oder auf dem Theater, nicht mit irgendwelchen Neuerungen zu tun haben: sondern das Leben insgesamt – alle diese Bereiche haben einen anderen Charakter angenommen: alle die genannten einzelnen Bereiche: Wissenschaften, Literatur und Theater, Moden und Lebensstile haben einen anderen oder neuen Charakter gewonnen – und in genau diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn von dem ›modernen Leben‹ die Rede ist. Diese Auffassung Graf Yorcks geht auf eine philosophische Voraussetzung zurück, die durchaus schon einige Jahre älter ist und die er während seiner zwanzigjährigen engen Freundschaft mit Dilthey oft diskutiert hat. Es ist die Auffassung, daß Philosophie, jede Theoriebildung nicht etwa eine Sache des Bewußtseins, der bloßen Vernunft sei, sondern Philosophie ist resp. sollte sein die Manifestation und ein Ausdruck des – ›Lebens‹ selber. Ja, Yorck sagt sogar einmal, daß Philosophieren Leben sei – womit gemeint ist, daß in eine Philosophie alles eingehen und in ihr alles zusammengehen muß, was nur an ›Leben‹ den Philosophen umgibt. Wenn in diesem Sinne also Philosophieren Leben ist, wenn Philosophie den vollen Gehalt des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens in sich aufnimmt, dann ist eine Philosophie entweder ihre Zeit in Gedanken gefaßt – wie schon Hegel dies gesagt hat – oder sie ist eine sinnlose und bloß scholastische Angelegenheit. Aber auch alle spezifisch philosophischen Phänomene gewinnen unter diesem Gesichtswinkel einen | ganz anderen Charakter: philosophische Dispute und Streits sind entweder Ausdruck von Lebenskämpfen und -widersprüchen – oder aber: sie sind völlig müßige Veranstaltungen purer Rechthaberei von abgehobenen Gelehrten. Leider ist das Werk Yorcks nur sehr schmal und leider ist nicht alles überliefert, was er geschrieben hat. Aber er hat auf seinen Freund Dilthey und auf dessen Werk den allergrößten Einfluß gehabt – und ich möchte Ihnen deshalb abschließend einen Text Diltheys vorstellen, der alle diese Grundüberzeugungen Yorcks noch einmal im Zusammenhang zur Geltung bringt. ›Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie‹ ist er betitelt, 180 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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ebenfalls nur als Fragment überliefert und stammt wohl von etwa 1900. Es handelt sich um ein Manuskript einer Vorlesung, das ich Ihnen jetzt ausführlicher zitieren – und kommentieren – will: 386 | Dilthey 387 beginnt seine Vorlesung: 388 »Was ich Ihnen bieten möchte, ist nicht eine bloße Kathederphilosophie. Nur aus dem Verständnis der Gegenwart kann das rechte philosophische Wort an Sie hervorgehen. Versuchen wir also, die Grundzüge der Gegenwart zu erfassen, welche die heutige Generation bestimmen und ihrer Philosophie das Gepräge geben. 389 Der allgemeinste Grundzug unseres Zeitalters ist sein Wirklichkeitssinn und die Diesseitigkeit seiner Interessen.« Dieser Wirklichkeitssinn und die Diesseitigkeit seiner Interessen – d. h. der Abschied von Glaube, Religion und Metaphysik, sind gewachsen seit Goethezeit, Romantik und Idealismus. Und zwar ist dieser Wirklichkeitssinn »durch das Fortschreiten der Wissenschaften […] beständig gesteigert worden.« Was uns nicht neu ist. Freilich haben die Wissenschaften diese »Wirklichkeit« in vielfältiger Hinsicht erforscht. Aber hinzukommt, daß nicht allein die Wissenschaften sondern auch die Künste diesen Wirklichkeitssinn zeigen: |

386 will:] Fortsetzung der Vorlesung auf einer Fotokopie im Ordner für das SS 1996 aus, wie Köhnke am oberen Rand notiert, Dilthey Ges[ammelte] Schr[iften] VIII, S. 190–205 u. 207–209: 6. Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie, bei der die jeweils linke Hälfte des Bl. den Diltheyschen Text bietet, während die rechte Hälfte zunächst frei geblieben ist, um von Köhnke hs. mit dessen Interpretation beschrieben zu werden. Die zum Vortrag bestimmten Zitate aus Diltheys Text sind mit orange Textmarker hervorgehoben, der intendierte Textverlauf mittels verweisender Pfeile angezeigt. Im Folgenden werden lediglich die Dilthey-Zitate und der verbindende Kommentar Köhnkes wiedergegeben. In den editorischen Anmerkungen der Herausgeber des Dilthey-Textes ist von Köhnke außerdem die folgende Stelle markiert, ein Zitat aus Diltheys Entwürfen für seine Vorlesung: »Die Vorlesung behandelt zunächst in einer Einleitung die Stellung der Philosophie in der Kultur der Gegenwart, dann das Wesen der Philosophie, endlich die Gliederung derselben nach ihren Teilen. Die Philosophie zerfällt in drei Teile. Die philosophischen Grundlagen bilden den ersten Teil, sie ist allgemeine Wissenschaftslehre und umfaßt Logik und Erkenntnistheorie; den zweiten Teil bildet der hierauf gegründete Zusammenhang der Wissenschaften und ihrer Methoden; der dritte enthält die Lehre von den Formen der philosophischen Weltanschauung und Metaphysik.« 387 Dilthey] der Abschnitt über Diltheys Text wurde für die vorliegende Edition hierher zurückversetzt aus der 11. Vorlesung: Der Begriff der Gegenwart. 388 Vorlesung:] darüber: vor 100 Jahren Ms. einer Vorl[esung]: W[alter] B[enjamin]: »Jede Zeit erscheint sich ausweglos neuzeitig«; daneben doppelt umrahmter Zuordnungshinweis: 11. Vorlesung; am Rd. um 90° gedreht: 11. Vorl[esung] ca. 40 Hörer 389 Nur … geben.] am Rd.: vgl. Yorck-Brief Nr. 108! gegenüber am Rd.:, umkreist: 1.

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»Eine 390 […] charakteristische Folge dieses Wirklichkeitssinnes macht sich bei Dichtern und Schriftstellern geltend. Das idealistische Pathos ist wirkungslos geworden. […] Wir wollen allem auf den Grund sehen und uns nichts mehr vormachen lassen. 391 Unser Lebensgefühl steht dem von Voltaire, Diderot oder Friedrich dem Großen in dieser Beziehung näher als dem von Goethe und Schiller. Wir fühlen das Problematische des Lebens, und die ganze Literatur und Kunst der Gegenwart, die Bilder der großen französischen Wirklichkeitsmaler, der Realismus unseres Romans und unsere Bühne entsprechen diesem modernen Bedürfnis.« »Ein zweiter Grundzug unserer Zeit bestimmt die Philosophie derselben. 392 Die naturwissenschaftlichen Methoden haben einen Kreis allgemeingültigen Wissens hergestellt und dem Menschen die Herrschaft über die Erde verschafft. Das Programm Bacos: Wissen ist Macht, die Menschheit soll durch die Kausalerkenntnis der Natur zur Herrschaft über sie fortschreiten, wird immer mehr von den Naturwissenschaften verwirklicht. Sie sind die Macht, welche den Fortschritt auf unserem Planeten in einer am wenigsten diskutablen Art gefördert haben.« Und ich will das auch nicht in Zweifel ziehen. 393 | Viel interessanter ist nämlich der 3. Grundzug der gegenwärtigen Kultur: »Der Glaube an eine unveränderliche Ordnung der Gesellschaft ist geschwunden, wir stehen mitten in der Umgestaltung dieser Ordnungen nach rationalen Prinzipien.« Und noch interessanter ist, wie er diesen Grundzug dann näher ausführt: »Allmählich wuchs von Land zu Land der Einfluß der Industrie und des Handels. So entstand eine Verschiebung der wirtschaftlichen Kräfte; sie hatte dann auch eine Veränderung in der sozialen Stellung der Klassen zur Folge, neue politische Machtansprüche machten sich geltend. Zuerst kam das Bürgertum hervor, dann verlangte die arbeitende Klasse eine bessere wirtschaftliche Lage und größeren politischen Einfluß und diese Forderungen 394 bestimmen heute die innere Politik der Staaten. 395« Eine] davor öffnende eckige Klammer lassen.] danach schließende eckige Klammer 392 Ein … derselben.] am Rd.: 2. 393 ziehen.] am Rd.: -Lebensbild -Selbstbild -Wissenschaft 394 diese Forderungen] wellenförmig unterstrichen, am Rd.: sic! 395 Allmählich …Staaten.] am Rd.: Lebensweisen soziale Formen; im fortlaufenden gedruckten Text Diltheys ist im unmittelbar darauf folgenden Satz das Wort Einzelperson mit rosa Textmarker hervorgehoben: »2. Ein anderes Moment liegt dann darin, daß das Bewußtsein vom Rechte der Einzelperson unendlich gewachsen ist.« 390 391

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Das ist die Epoche in der wir heute leben. Und das im ganz buchstäblichen Sinne. Denn heute wußte ich nicht, ob nicht die Warnstreiks im öffentlichen Dienst mein Herkommen nach Leipzig vielleicht 396 vereiteln würden. Es hat sich daran in den letzten 100 Jahren – in dieser Hinsicht wenig oder garnichts geändert. Auch daran erkennt man, daß man noch in derselben Epoche lebt – und insofern auch, daß es sich um eine Epoche handelt. | Alle diese drei Grundzüge der Kultur der Gegenwart nun haben dahin gewirkt, daß eine umfassende Sinnkrise entstand – jenes Vakuum, das nach der Entzauberung unübersehbar wurde. Dilthey sagt: »Indem die Gegenwart nun aber fragt, worin das letzte Ziel des Handelns für die Einzelperson und das Menschengeschlecht gelegen sei, zeigt sich der tiefe Widerspruch, der sie durchzieht. Diese Gegenwart steht dem großen Rätsel des Ursprungs der Dinge, des Wertes unseres Daseins, des letzten Wertes unseres Handelns nicht klüger gegenüber als ein Grieche in den ionischen oder italischen Kolonien oder ein Araber zur Zeit des Ibn Roschd. Gerade heute, umgeben vom rapiden Fortschritt der Wissenschaften, finden wir uns diesen Fragen gegenüber ratloser als in irgendeiner früheren Zeit. Denn 1. die positiven Wissenschaften haben die Voraussetzungen immer mehr aufgelöst, welche dem religiösen Glauben und den philosophischen Überzeugungen der früheren Jahrhunderter zugrunde lagen« 397 – und weiter heißt es: | »die Anarchie des Denkens erstreckt sich in unserer Zeit auf immer mehr Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns. Eben unser Umblick über die ganze Erde zeigt uns die Relativität der Antworten auf das Welträtsel deutlicher als irgendeine frühere Periode sie sah. Das historische Bewußtsein erweist immer deutlicher die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin, die im Verlauf der Zeiten aufgetreten ist.« »Aus dieser Dissonanz der Souveränität des wissenschaftlichen Denkens und der Ratlosigkeit des Geistes über sich selbst und seine Bedeutung im Universum entsteht nun der letzte und eigenste Zug im Geiste des gegenwärtigen Zeitalters und in seiner Philosophie. […] In ihnen macht sich aber zugleich die Leere des Bewußtseins geltend, da alle Maß-

Leipzig vielleicht] Leipzig nicht vielleicht Denn … lagen.«] am Rd.: »Wissenschaft« »Religion«; in einem der folgenden Sätze im gedruckten Text Diltheys ist das Wort Relativität mit rosa Textmarker hervorgehoben: »3. Die historische Vergleichung zeigt die Relativität aller geschichtlichen Überzeugungen.« 396 397

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stäbe aufgehoben worden sind, alles Feste ist schwankend geworden, eine schrankenlose Freiheit der Annahmen, das Spiel mit grenzenlosen Möglichkeiten lassen den Geist seine Souveränität genießen und geben ihm zugleich den Schmerz seiner Inhaltlosigkeit. Dieser Schmerz der Leere, diese Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen, diese Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens rufen die verschiedensten Versuche in Dichtung und Literatur hervor, die Fragen nach Wert und Ziel unseres Daseins zu beantworten.« – Aber eben auch die Lebensphilosophie: | »Dann entsteht die Lebensphilosophie« (ist unmittelbarer Vorläufer von »Kulturphilosophie«). »In der letzten Generation ist sie wieder zu herrschenden Macht geworden. Schopenhauer, Richard Wagner, Nietzsche, Tolstoi, Ruskin und Maeterlinck lösten sich ab in ihrem Einfluß auf die Jugend. Ihre Einwirkung wurde verstärkt durch ihren natürlichen Zusammenhang mit der Dichtung; denn auch die Probleme der Poesie sind Lebensprobleme. Ihr Verfahren ist das einer methodischen Lebenserfahrung geworden, welche grundsätzlich alle systematischen Voraussetzungen ablehnt. Es ist eine methodische Induktion, welche auf die Vorgänge des menschlichen Lebens gerichtet ist und aus ihnen neue wesentliche Züge des Lebens abzuleiten sucht.« 398 »Es ist die Stärke dieser Lebensphilosophie, daß ihr direkter Bezug auf das Leben in metaphysischer Vorurteilslosigkeit jede Kraft des Sehens und des künstlerischen Darstellens in diesen Denkern verstärkt. Sie leben in einer beständigen Übung, solche Züge gewahr zu werden. […] so bildet sich in ihnen das Vermögen, die geheimen Gänge, in denen die Seele dem Glück nachgeht, die realen Bezüge zwischen dem, was verlangend in uns aus dem Dunkel des Trieblebens an den Tag tritt, dem, was von außen sich als Wirkungswert darbietet, dem, was in Erinnerung, Denken, Phantasie die so entstehenden Vorgänge beeinflußt, zur Darstellung zu bringen. So besetzen diese Schriftsteller ein Gebiet, das in der technisch entwickelten Philosophie immer frei geblieben ist.« So entstand also neben der akademischen oder Kathederphilosophie die Lebensphilosophie – als ein philosophischer Ausdruck der Probleme des modernen Lebens – und als diejenige Philosophie, die diese Probleme zu lösen versucht: Dilthey selber, Simmel – der Existentialismus von Jaspers und Heidegger folgten diesem Programm, d. h. diesen Fragen, die durch die Moderne gestellt waren – »In … sucht.«] am Rd. Ausrufezeichen u. Pfeil mit Verweis auf die Passage von der »methodischen Lebenserfahrung«

398

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oder gestellt schienen. Aber das eine | ist, Probleme zu erkennen – etwas anderes ist es, sie zu lösen und die richtigen Antworten zu finden. Dilthey setzte – ein richtiger Mann des 19. Jahrhunderts – auf Wissenschaft, Geschichte und eine Erneuerung einheitlicher Kultur. Darin übrigens ein Kantianer, daß er schließlich doch nicht die Pluralität der Lebensweisen – und entsprechend – der Lebensstile und Lebensauffassungen – also Kulturen für möglich hielt, sondern auf Vereinheitlichung setze. Er sagte: »So entsteht das Problem, das diese Epoche aufgibt. Die Relativitäten müssen mit der Allgemeingültigkeit in einen tieferen Zusammenhang gebracht werden. Das mitfühlende Verstehen alles Vergangenen muß zu einer Kraft werden, das Künftige zu gestalten.« (»Beginn der Moderne«) »Das Studium aller Zustände des Menschen auf der Erde, die Berührung aller Nationen, Religionen und Begriffe mußte das Chaos der relativ geschichtlichen Tatsachen steigern. […] ja eben in dem geschichtlichen Bewußtsein müssen Regeln und Kraft enthalten sein, allen Vergangenheiten gegenüber frei und souverän einem einheitlichen Ziele menschlicher Kultur uns zuzuwenden.« (vgl. Fragmentierung u. Einheit der Kultur) »Der Zusammenhang des Menschengeschlechtes im allgemeingültigen Denken und auf dieses gegründeten klaren Zielen, die Gemeinsamkeit der Aufgaben, das gesunde Maß für das Erreichbare, das vertiefte Ideal des Lebens [»Große Synthese«]: all | das erhält im geschichtlichen Bewußtsein ein Fundament, das nicht mehr abstrakt, nicht mehr bloß begrifflich, und daher auch nicht mehr in unbegrenzter Idealität verfließend.« (Diagnose richtig: Moderne – »Geschichte« als Therapie.) Was insoweit richtig ist: das historische Bewußtsein ermöglichte die tiefe Erkenntnis, an einer Epochenschwelle zu stehen – durch Erkenntnis von Diskontinuität und wohl auch Verfall und Verlust – aber das Neue, die anbrechende Epoche war mit den Mitteln des historischen Verstehens nicht begreifbar und führte also nicht zu einer Theorie des modernen Lebens – sondern nur zu einer Lebensphilosophie – einer Philosophie individueller Existenz: bei Dilthey und seiner Schule, im Existenzialimus bis hin auf Heidegger – sie alle lösten das Problem einer Theorie der Gegenwart nur individual-existential (subjekttheoretisch). 399 |

399 (subjekttheoretisch).] danach folgt noch: Über die Probleme einer Theorie der Gegenwart will ich deshalb beim nächsten Mal sprechen. Schöne Pfingstferien! und danke für ihre Aufmerksamkeit. Ende der eingeschobenen hs. bearbeiteten Fotokopie.

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Diese Reihenfolge der 4 400 Kriterien, einen Epochenwandel auszumachen, ist an sich gleichgültig. Es kommt vielmehr alles darauf an, daß nur alle 4 401 zusammengenommen einen wirklichen Epochenwandel signalisieren können. Ich sage können – nicht aufgrund echter Unsicherheit – sondern eher aus dem Grunde, daß ich mich kaum traue, eine solche These einfach so vor Sie hinzustellen. Ich glaube aber: das stimmt! Sehen Sie es bitte als einen Versuch an, sich durch den Dschungel der verschiedenen Behauptungen von Modernität und der verschiedenen Theorieansätze und Begriffe von Kultur, Moderne und ›Gegenwart‹ einen Weg zu bahnen, der immerhin als Hypothese taugt, – auch wenn man längerfristig vielleicht noch bessere Kriterien oder auch noch andere Kriterien finden kann. Diese Hypothese muß sich bewähren – oder andernfalls auch modifiziert resp. verworfen werden. Eine rein theoretische Begründung – oder z. B. eine Erklärung meinerseits, daß diese Hypothese vor allem auf Graf Yorck von Wartenburgs Philosophie aufbaut – hilft nicht wirklich weiter. Das wäre allenfalls ein Hinweis für Sie, wo Sie weiteres und vielleicht Besseres nachlesen könnten. 402

400 401 402

4] über: 6 4] über: 6 könnten.] darunter: Yorck Z. 1–8; am Kopf der S.: d. i. alles wie Fichte! Scheußlich!

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[Ordner SS 1996] für 8a 403 Ich habe beim letzten Mal versucht, einige Kriterien dafür zu bestimmen, wie man einen echten Epochenübergang von all jenen neuen Erscheinungen unterscheiden kann, die die jeweiligen Zeitgenossen als so neu ansehen, daß sie immer und zu jeder Zeit ›Epochenübergänge‹ zu erleben glauben. Ich habe gesagt: Ein echter Epochenübergang zeichnet sich dadurch aus, daß: 1. die Lebenswelt (natura altera) sich signifikant für das Bewußtsein verändert hat 2. die Lebensweisen und -formen sich ebenfalls signifikant verändert haben 3. daß das Selbstbild der Menschen ein andres geworden ist, so daß auch das Fremdbild sich verändert hat. 404 Eine weitere Transformation habe ich letztes Mal nur gestreift – und das wäre dann: 4. daß sich die ›symbolischen Formen‹ 405 gewandelt haben - sowohl als solche, wie auch - in ihren Beziehungen zueinander. | Veränderungen der 406 - Lebenswelt – Kulturgeschichte - Lebensformen – Kultursoziologie - Selbst- und Fremdbilder – Kulturanthropologie / Philos[ophische] Anthropologie - der kulturellen resp. symbolischen Formen – Kulturphilosophie zeigen sich dem Einzelnen nicht alle in gleicher Weise und in gleichem Maße an. für 8a] darüber hs.: 9. Vorlesung 8. Juli 1998 bis 1825 ca. 50 Hörer; am rechten Rand, eingerahmt: SS 2000 nicht mehr verwendet; die Angaben beziehen sich auf die jeweiligen Wiederholungen der Vorlesung 404 1. … hat.] am Rd.: 11. Vorl[esung] Komplikation wenn vorwiegend 2. Hand erfahren wird und die Zweck-Mittel-Rel[ation] = Handlungsverständnis sich zersetzt 405 ›symbolischen Formen‹] am Rd.: Sprache Mythos Religion Kunst Wissenschaft + »Geschichte« 406 Veränderungen der] auf neuem Bl. Darüber hs.: 10. Vorl[esung] 15. 7. 98 [daneben gestr.: 7. 10.] ca. 45 bis 1812 großer bricht ab 403

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Wie kann ein Einzelner überhaupt feststellen, daß sich 1–4 verändert haben? ad 1: das Sichtbare – der Umzug vom Land in die Großstadt z. B. ad 2: kaum bemerkbar ändern sich die Lebensformen, soziale Formen – Sitten und Gebräuche – alles vergleichsweise sehr langwierige Prozesse, die ohnehin vorzugsweise an Konflikten deutlich werden: Generationenkonflikte! ad 3: auf Selbst- und Fremdbilder wird ständig eingewirkt Handlungen werden permanent gedeutet – permanent wird darüber geredet, warum jemand so oder so handele, sich äußere, etc. das ist alles permanent im Fluß – ad 4: hier kommt es auf die einzelnen Bereiche an; hier zeigen sich durch die Reflexe, die Veränderungen in der Öffentlichkeit erzeugen, vielfältige Veränderungen oder auch nur Behauptungen von Veränderungen, Trends, Tendenzen etc. Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt über: Modernisierungsprozesse in den Bereichen: gegenwärtig z. B. Sprache Orthographisch: Rechtschreibereform Neue Literatur – neue ›Befindlichkeiten‹ einzelner – pars pro toto: Abstimmung durch Auflagehöhen – Spiegel-Bestsellerliste, etc. Semantisch: Ausdrucksweisen, neue Idiome; das Unwort des Jahres etc. Mythos nicht allein im Sinne einer Vorstufe zur Religion (Hochreligionen), sondern aktuell: Mythos Titanic: Grenzen der Machbarkeit, ganzer Filmbereich voller mythischer Vorstellungswelten Religion Zuerst das Kirchliche Leben (= institutionelle Religion): päpstliche Enzykliken: von Abtreibungsverbot, Zölibat bis Frage weiblicher Kleriker, etc. Trauung von homosexuellen Paaren Zweitens: ›Religiosität‹ – d. h. religiöse Bedürfnisse, metaphysische Bedürfnisse, etc. Kunst Trends, Kunstkritik, -markt und Ausstellungswesen, privater Kunstkonsum

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Wissenschaft Permanente Berichterstattung | Naturwissenschaften und Technik, Fragen der Ethik und Vertretbarkeit von Anwendungen, Technikkritik, Apparatemedizin, etc. Geschichte Streit um die Geschichtsbilder, NS-Zeit, Schwarzbuch des Kommunismus; jeweils immer zugleich Deutung der Gegenwart im geschichtlichen Kontinuum darüberhinaus gibt es Revolutionen – gleichsam epochale Veränderungen des Menschenbildes, wie durch Taine, Darwin, Freud, etc. oder die Frage, ob nach Auschwitz man überhaupt noch Gedichte schreiben könne so entstehen Muster, die von Wissenschaft oder durch Geschichte geprägt werden Es bedarf der Objektivation solcher Veränderungen – Objektivationen, die ganz unterschiedlichen Charakter tragen können: auch »Phänomene« und Einzelbeobachtungen indizieren Ideen von allgemeinerer Veränderung. 407

Veränderung.] das hs. Konzept der 8. Vorlesung für das SS 2000 lautet: 8. Vorl[esung] 24. 5. 2000 Die Moderne – Epoche des Sozialen ▶ Koexistenz unterschiedlicher Menschenbilder = seit der Renaissance; Idealismus Materialismus Darwin Freud … [am Rd.: postcard] ▶ dito »Weltanschauungen« »Systeme« rückübersetzen »Philosophie als Lebensmanifestation« (Yorck) von epochaler Bedeutung ist solche Pluralität – sie ist Resultat eines Prozesses der Diversifikation: der Kampf ums Soziale, Gesellschaft und zeigt im Ergebnis m. E. eine neue Qualität des Individualismus. Absterben der Kategorie des Sozialen D[eutschland]: 1830–1989 kann man gleichsam beobachten. Orientierungspunkt und freilich umstrittener Wert. Was kommt dann? 1848–1945 das Nationale (Gruppe = Gesellschaft) Sozialismus: große soziale Aggregate bilden sich -Nationen -Bewegungen u[nd] Parteien -Blöcke

407

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner Kulturelle Identität II, SS 2002] 9. Vorlesung »Postmoderne Identität« 408 Wandel der Identitätsmerkmale + Verh[ältnis] von Zentrum u[nd] Peripherie Einzelner – Gesamtheiten als Identitätsquelle wird obsolet »Ind[ividuum] als Schnittpunkt sozialer Kreise« – Rollenabhängigkeit; Rollen → Institutionen, Aggregate obj[ektive] + subjektive Identitätsmerkmale zentrifugale Bewegungen weichen Zentripetalität Selbstbild 409 dem Selbstbild zugewandte Therapie obj[ektive] Prädikationen subj[ektive] Prädikationen Rolle i. S. von dem Fremdbild zugewandte Techniken Institutionenzugehörigkeit Inszenierungen/Ästhetisierungen/plastische Chirurgie durch Arbeit, Geld, Lebensalter Fremdbild medial im höchsten Maße abhängig – Erwartungen 410 Perspektive des Selbstbefundes I – immer stärker vom Jetzt aus; Stimmung/Befindlichkeit des abs[oluten] Jetzt II – vom Lebenslauf her; Einheit III – »eigene Lebenszeit«; das Soziale Analogie der Transzendenz; Sinnordnung Jetzt T[ranszendenz]1: Lebenslauf – Einheit 408 9. Vorlesung »Postmoderne Identität«] nur für das SS 2000 überliefert, datiert: 7. Juni 2000; darüber: bis 1410 409 Selbstbild] das folgende als Graphik zu denken, die polare Gegensätze andeutet: zu ergänzen sind Pfeile mit zwei Spitzen jeweils zwischen den Polen Selbst – Fremdbild und objektive – subjektive Pradikationen. Die Pfeile teilen das Feld in vier Teile. 410 Erwartungen] in Großbuchstaben

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Ich T[ranszendenz] 2: Familie, Freundschaft, Liebe Gruppe T[ranszendenz] 3: Kommune, Verband, Gemeinde, Kirche gr[oßes] Aggregat T[ranszendenz] 4: Klasse, Nation Visionär T[ranszendenz] 5: Europa, Christenheit (Ethos!)

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 1996] 10. 411 Vorlesung: Das Ende der Geschichtsphilosophie 412 Kollektives: Untergang des Abendlandes / Risikogesellschaft ff. d. h. das Ende von Kontinuität – faktische! → Geschichtsmächtigkeit des Menschen definitiv verloren. Kategoriales Novum: rel[ative] Berechtigung von einer Nochmoderne zu sprechen. Verlust der Kategorie des Fortschrittes – mehrsinnig! – Zufriedenheit nur nach der guten Ernte möglich Erntedankfest: Dankbarkeit religiöses Gefühl Abbruch Zweck-Mittel-Relationen zu lange Ketten / Fragmentierung Alles zu seiner Zeit; Kairos Jahreszeiten Machbarkeit | - Warencharakter - geschichtl[iches] Produkt - Zweckmäßigkeit |

[Ordner SS 1996] 10. 413 Vorlesung: Der Relativismus der Wertungen und die Individuen Meine Damen und Herren! Es ging hart her um das heute Selbstverständliche: ein Teil von Ihnen aber weiß wohl recht genau, daß ›Pluralismus‹ keine Selbstverständlichkeit darstellt. Ich hingegen gehöre zu den vergleichsweise Glücklichen, die 414

10.] darüber: 8; die Vorlesungsnotizen hs. Geschichtsphilosophie] am Kopf des Bl. Datierung 12. 6. und Notiz Protesttag; in der rechten oberen Ecke: Material 413 10.] darüber: 8; am Kopf des Bl. Datierung 26. 6. 414 die] bricht ab 411 412

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Ordner SS 1996 · 10. Vorlesung

Das Problem der Geltung: Wert oder Intuition? – als Vorstufe des Pluralismus Kritik des Relativismus ist existentiell bedeutsam.

[Ordner SS 1996] 10. 415 Vorlesung: Der Einzelne, das Individuum und die Persönlichkeit Meine Damen und Herren! I. Heute geht es um das Individuum, genauer gesagt um das Verständnis des – und um den Begriff des – Individuums, so wie wir ihn heute verstehen. Es geht also um den ganzen Komplex von Fragen der menschlichen Seele, seinem Charakter, um das, was das Individuum zum Individuum macht, es eins sein läßt und was es selbst sich als ein solches verstehen läßt. Sie sehen: es gibt gleich mehrere Perspektiven, wie man die Frage nach dem Kern der Individualität stellen kann – und es gibt sehr verschiedene Möglichkeiten, wie auf diese Frage bereits geantwortet worden ist. Und dabei geht es immer auch um das Problem, was diesem Begriff von Individualität jeweils gegenüber – ja, entgegensteht: ist es die Nation, das Volk, der Staat, die Gesellschaft oder … – je nach den historischen Bedingungen, aber auch je nach der jeweiligen Weise des individuellen Selbstverständnisses geraten verschiedene Begriffe von Individualität in den Blick und in den Vordergrund. Reduktionstheorien: Milieutheorie 416 Psychologismus Soziologismus – alles analog Weltanschauungen: vgl. Burckhardt! Esel auf seine Weise Individuelles: Seele – Schnittpunkt (Soziologismus) – Individuelles Gesetz

10.] darüber: → 9; am Kopf des Bl. Datierung 3. 7. Milieutheorie] hs. am Rd.: Ich und das Milieu aus dem ich komme: Beleidigungen – 415 416

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Begriff und Theorie der Moderne

Die neue Seele siehe: Der Mann ohne Eigenschaften Zitat S. 183 Individualisierung und Privatisierung Das Ende der Intimität; Ibsen |

[Ordner Kulturelle Identität II, SS 2002] 21. 6. 2000 10. Vorlesung 417 Neue Qualität des Individualismus Neue Qualität des 418 Ver[hältnisses] zum Anderen → Schulze [S.] 182 Zentrifugale Problem der lebenslauflichen Integration der vielen temporären subjektiven Prädikationen Metaebene: Lebensphilosophie unterschiedlichen Ausarbeitungsgrades und unterschiedlicher Reichweite: Adaption beim Selbstverwirklichungsmilieu stratifikatorische Gesellschaftsgliederung: Verlängerung des Gott-Welt-Verhältnisses kosmische Ordnung Schulze 5 Milieus = eigentl[iches] Thema! + S. 182 ff., 192 ff.! 419 | die 420 Frage nach der Konkurrenz von - Fremdbild (verbaler Vermittlung; niemandem fällt hier der Bau an der Mörikestraße oder die Bauten im Industriegebiet Süd ein) — bestimmt durch TV, nicht »Bilder« - bildlicher Repräsentation — Bildband, Ansichtskarte - Selbstbild: Hafen + Förde durchaus bildlich repräsentiert d. h. »Bild« ist nicht vorhanden im »Fremdbild« ▶ Begriff »Fremdbild« s. o. Begriff nur in metaphorischer Bedeutung völlig ungeeignet für uns 417 418 419 420

10. Vorlesung] darüber: bis 1420; das hs. Ms. gehört zum SS 2000 Neue Qualität des] Wiederholungsstriche Schulze … 192 ff.!] eingerahmt die] das Bl. ist paginiert als 6

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[Ordner SS 2000] 10a. Vorlesung 421: Probleme einer Theorie der Gegenwart 422 Meine Damen und Herren! I. In einem gewissen Sinne fahren wir heute mit den Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Leben fort. Denn es geht weiterhin um das Problem des Epochenbegriffs. Allerdings unter der erweiterten Perspektive, daß nicht nur die Philosophie im engeren Sinne, – also nicht nur als akademische Disziplin, – gefragt ist, sondern die ganze Vielzahl von Wissenschaften: Was leisten sie für eine Theorie der Gegenwart? ist dann die Frage. Und diese Frage müssen wir sogleich aufgliedern und präzisieren. Denn erstens ist die sogenannte ›Gegenwart‹ ein 423 so schillernder Begriff, daß wir uns zunächst über ihn verständigen müssen. Gegenwart, das ist im Extrem nur die unmittelbar sinnlich erfaßbare Wirklichkeit: das ›Jetzt‹ und ›Hier‹, vor allem also das Sichtbare, das was mir vor Augen steht oder zu stehen scheint, wenn ich dieses Wort ›Gegenwart‹ höre oder denke. Gegenwart ist damit also teils dasjenige, was ich denke oder vielleicht auch mit gewissen Empfindungen verbinde. Es ist also eigentlich mein eigenes Gegenwärtigsein, indem ich es denke, vorstelle oder es auch direkt anschaue. – Gegenwart ist insofern also zunächst ein subjektiver – und alles andere als ein wissenschaftlicher oder ›objektiv beschreibender‹ Begriff: Mein Begriff und meine Auffassung von dieser Gegenwart können einerseits sehr stark von Ihren Begriffen und Auffassungen von Gegenwart abweichen, aber es zeigt sich umgekehrt doch allenthalben und immer wieder, daß wir in großen Teilen mehr oder weniger ähnliche Auffassungen haben, daß wir jedenfalls zu Verständigungen gelangen, ja, daß wir gelegentlich sogar übereinstimmen. Wenn ich also eben sagte, Gegenwart bedeute zuerst und im Extrem mein eigenes | Gegenwärtigsein, indem ich mich aufgefordert sehe, eine bestimmte Ansicht und Auffassung der Gegenwart zu haben und wohl auch zu formulieren, so steht dies in einem scheinbaren

10a. Vorlesung] statt gestr.: 9.; am Kopf des Bl. Notiz: nicht im SS 98, gehört aber dazu; sowie der Vermerk: ca. 10 Hörer. 422 Gegenwart] daneben hs.: Marquard: d. i. Thema Blasiertheit … u[nd] M[arquard] ist selber soz[ial] »blasiert« 423 ›Gegenwart‹ ein] ›Gegenwart‹ ist ein 421

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Begriff und Theorie der Moderne

Widerspruch mit der Tatsache, daß meine Auffassung der Gegenwart eben nicht nur meine Auffassung ist, sondern von Anderen mehr oder minder geteilt wird. Und das in allen möglichen und nur denkbaren Bereichen – und seien dies auch literarische, politische oder vielleicht religiöse, antireligiöse oder weltanschauliche Hinsichten: wir hegen eine Vielzahl von Ansichten über diese Gegenwart, die wir als unsere Ansichten wissen – und wir wissen doch zugleich, daß diese Ansichten, die wir hegen, nicht nur die unsren sind, sondern von manchen Anderen oder sehr vielen geteilt werden. Daß wir aber übereinstimmen können, daß verdanken wir ganz elementar gesehen erstmal der bloßen Möglichkeit, uns überhaupt verständigen zu können, der Sprache also, und dieses Faktum ist so trivial nicht wie es scheint: erinnern Sie sich bitte der letzten Vorlesung 424, wo ich die Versprachlichung als eine besondere Form der Distanzierung auszuweisen suchte: So, wenn z. B. vom Bremsweg als der Ursache des Unfalls die Rede ist, wo von den Serben und den Moslems die Rede ist, wir allenthalben von den konkreten Fällen, Umständen, ja vom wirklichen Geschehen absehen und mit solchen Ausdrücken und in einfachen Sätzen Ursachen, Schuldzuweisen und Verurteilungen vornehmen, die einerseits es überhaupt möglich machen, daß wir Nachrichten hören und daß wir uns miteinander über Sachverhalte verständigen. Die aber andererseits auch immer den Verlust des wirklichen Geschehens, den Verlust aller näheren Umstände und tatsächlichen Bedingungen, Nebenbedingungen und Voraussetzungen für ein Geschehen unter den Tisch fallen lassen. Kurz: die Sprache ermöglicht die Verständigung über Sachverhalte und Geschehnisse und auch unsere Gegenwart – aber sie ermöglicht in gleichem Maße auch das Nichtverstehen. Und das in dem mehrfachen Sinne, daß ich etwas entweder | nicht nachvollziehen kann, daß ich gewisse Grundvoraussetzungen von Urteilen anderer nicht teile oder ganz einfach andere Voraussetzungen mache, also andere Überzeugungen oder Absichten hege, als der Andere. Sprache – oder besser: Versprachlichungen – ermöglichen also nicht nur ein Verstehen im Sinne des Übereinkommens und der Übereinstimmung, sondern in gleichem Maße – und auf prinzipielle dieselbe Weise, daß wir uns nicht verstehen: daß wir nicht übereinkommen oder vielleicht auch einfach aneinander vorbeireden. Was leicht erklärlich 424 letzten Vorlesung] gemeint ist die oben abgedruckte 7. Vorlesung aus dem Ordner SS 1996

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ist: wenn wir bei jeder Versprachlichung durch verschiedene Perspektiven und Absichten bedingt, von allerlei absehen – aber ich von diesen – und Sie von jenen Nebenumständen und Bedingungen, so werden wir nicht übereinstimmen: jede Zeugenbefragung über einen Unfall oder ein anderes von Augenzeugen berichtetes Geschehen weist eine Vielzahl von Widersprüchen und Ungenauigkeiten auf – und so weisen auch unsere Bilder von der sogenannten Gegenwart teils Verschiedenheiten, – teils aber eben auch Übereinstimmungen auf. Eine Theorie der Gegenwart wäre also von vornherein ein Unsinn und Unding, wenn es nicht gelänge, gewisse Übereinkünfte darüber zu erzielen, was man beschreiben will, oder auch was man eben weglassen will. Eine Theorie der Gegenwart ist überhaupt nur dann möglich, wenn es ein kontrolliertes Verfahren gibt, eine Methode gibt, solche Übereinkünfte zu erzielen. Und die erste Übereinkunft muß nun freilich darüber erzielt werden, worüber man überhaupt reden will: über die ›Gegenwart‹, ja, aber freilich nicht über die eines bloßen Heute, Hier und Jetzt, sondern über einen doch länger sich erstreckenden Zeitraum. Und so ist also die Frage, wie wir die unmittelbare Zeitgeschichte oder die Geschichte insgesamt in Segmente abteilen, wie wir uns zur Frage nach ihrer Kontinuität oder Diskontinuität stellen. Ein Begriff der Gegenwart, der mehr als nur das Hier und Heute der unmittelbaren sinnlichen meinen soll, kann also nur dadurch gewonnen werden, daß | ich eine Zäsur oder Diskontinuität in der geschichtlichen Entwicklung ansetze, – und zwar so, daß die Zeit von dieser Zäsur bis heute als eine einheitliche und kontinuierliche sich ausweist: als die Gegenwart. Anders gesagt: von ›Gegenwart‹ im philosophischen und wissenschaftlichen Sinne kann überhaupt nur dann sinnvoll geredet werden, wenn ich den Anfangspunkt, die Zäsur zu bestimmen vermag, seit der oder dem diese Gegenwart als solche existiert, d. h. entsprechend auch, daß ich damit die Zeit vor dieser Zäsur als Vergangenheit betrachte. Einen Begriff der Gegenwart – aber auch der ›Vergangenheit‹ – gewinnen wir also nur dadurch, daß wir die verflossene Zeit – die sozusagen geschehene Geschichte – auf Diskontinuitäten hin absuchen, vor allem aber, damit wir die letzte Diskontinuität auffinden, von der ab wir von einer noch bis Heute währenden Gegenwart sprechen wollen. 197 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

Begriff und Theorie der Moderne

Wann begann die ›Gegenwart‹? Man muß diese Frage nur stellen, und man sieht sogleich, daß es so noch immer nicht geht und wir so nicht weiterkommen. Wir müssen eine zweite Bestimmung vornehmen, nämlich die: unter welchem Gesichtspunkt wir überhaupt nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten suchen wollen. Geht es um die vorherrschenden Produktionsweisen oder um künstlerische oder literarische Entwicklungen – um politische Zäsuren oder etwa auch um solche, die das Verhalten bestimmter Menschen oder Gruppen betreffen – ja wo, in welchen Erdteilen und Ländern, Völkern – oder was auch immer – das alles muß erst festgestellt sein. Wenn ich den Maßstab der vorherrschenden Produktionsweise in Mitteleuropa anlege, so erhalte ich eine – je nach einzelnen Ländern leicht differierende – Zäsur des Übergangs von der Dominanz landwirtschaftlicher zu industrieller Produktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anhand der Berufsstatistiken läßt sich zeigen, daß zuerst in England und Belgien, verspätet in Deutschland, die Zahl der Industriearbeiter irgendwann die Anzahl der landwirtschaftlich beschäftigten | überschritt 425 – habe also eine Zäsur ausgemacht und daraufhin den Begriff ›Industriegesellschaft‹ auf ein insoweit solides Fundament gestellt. Und entsprechend ist auch die Bezeichnung ›Dienstleistungsgesellschaft‹ gebildet worden: weil irgendwann die Anzahl der im Dienstleistungssektor Beschäftigten, die der in der Industrie beschäftigten übertraf. – Also eigentlich ganz einfach: anhand sozioökonomischer Kategorien werden Zäsuren in der Entwicklung festgestellt und diese Zäsuren grenzen dann ›Epochen‹ gegeneinander ab. Aber bei diesen so gewonnenen Epochenbegriffen – agrarische oder vorindustrielle 426 Gesellschaft – und ›Industriegesellschaft‹ – stellt sich dann sogleich die Frage, inwiefern denn überhaupt durch die Dominanz der industriellen Produktionsweise auch die Epoche (die Kultur!) tatsächlich bestimmt wird. Bestimmt diese Tatsache der Dominanz industrieller Produktion tatsächlich die ganze Epoche? Oder ist es nicht vielmehr so, daß wir von einer solchen industriellen Epoche dann auch nur in genau dem Sinne sprechen können, in dem wir ihn gewonnen haben. Wir müssen also fragen: welche Auswirkungen hat diese Dominanz industrieller Produktion und wie weit reichen deren Wirkungen? Das heißt: Wir können den ausdrücklich an der Indu425 426

überschritt] Überschritt vorindustrielle] Vorindustrielle

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strialisierung festgemachten Begriff einer Epoche nicht einfach auf alle Bereiche des – Lebens – ausdehnen und stillschweigend unterstellen, daß wir die richtige Grundbestimmung für diese Epoche gefunden hätten. Alle Bereiche des Lebens – erinnern Sie sich des von Dilthey und Graf York gefundenen Maßstabes für einen Epochenübergang – das ganze Leben unterliege einer solchen Veränderung – dann erst können wir von einem wahrhaften Epochenübergang sprechen. Und dann sehen wir sofort, daß wir es im Falle des Begriffs der ›Industriegesellschaft‹ oder in dem der ›Dienstleistungsgesellschaft‹ jeweils mit sozio-ökonomischen Kategorien, aber nicht in jenem Sinne mit Epochenbegriffen, nämlich nicht mit Begriffen des ganzen Lebens zu tun haben. Ein Streit hierüber ist also ganz überflüssig – jedenfalls dann, wenn man sich | verständigt hat über die Begriffsbestimmungen und über die Reichweite der auf diese Weise gebildeten Begriffe. Beläßt man Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft im Bereich sozioökonomischer Diskussion, so ist es völlig unbedenklich mit diesen Kategorien zu operieren. Ein Streit ist also überflüssig – aber er wird dennoch geführt, jedenfalls vom Zaun gebrochen. Stellvertretend 427 für viele Einwendungen und für die Skepsis gegen einen einheitlichen Begriff von der ›Gegenwart‹ sei Odo Marquards Frage ›Zeitalter der Weltfremdheit‹ – Ein ›Beitrag zur Analyse der Gegenwart‹ wie es im Untertitel heißt, herangezogen. – Marquard, der ›Transzendentalbelletrist‹, über den Herr Konersmann für dieses Semester ein Seminar angeboten hatte, das ich aus verschiedenen Gründen jedoch nicht übernehmen konnte, es jedenfalls nicht wollte. 428 Marquard sagt – besser gesagt: Marquard legt los: »Unsere Zeit hat viele Namen. Sie gilt als ›Industriezeitalter‹ oder ›Spätkapitalismus‹ oder ›Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation‹ oder ›Atomzeitalter‹ ; sie gilt als Zeitalter der ›Arbeitsgesellschaft‹ oder ›Freizeitgesellschaft‹ oder ›Informationsgesellschaft‹ ; sie gilt als Zeitalter der ›funktionalen Differenzierung‹ oder ›Epoche der Epochi427 Stellvertretend] der folgende Absatz ist am Rd. mit rosa Textmarker hervorgehoben 428 wollte.] vgl. das Vorlesungsverzeichnis des Instituts für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig vom SS 1996, S. 16: Kulturphilosophie/Kulturtheorie Hauptstudium, Prof. Dr. Ralf Konersmann: »Transzendentalbelletristik«. Seminare, wöchentlich, donnerstags, 14.30–16.00 Uhr, S[eminar-]G[ebäude] 0–63/64.

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sierungen‹ oder ›postkonventionelles Zeitalter‹ oder bereits als ›nacheuropäisches Zeitalter‹ oder einfach als ›Moderne‹ oder auch schon als ›Postmoderne‹ und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität 429: unsere Zeit und Welt befindet sich – scheint es – auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muß.« 430 Eine ›Orientierungskrise‹, so wird behauptet, gebe es, weil es keinen einheitlichen Epochenbegriff gibt? – Weil miteinander konkurrierende Begriffe für die gegenwärtige Epoche – also die Gegenwart im eminenten Sinne – existieren, deshalb gibt es eine Orientierungskrise? Sie sehen oder ahnen es: das ist schon auf den ersten Blick ein ganz fauler Zauber: | denn warum wollen bitteschön die Sozialwissenschaften nicht mit sozio-ökonomischer Epochisierung arbeiten – während andere – wie Daniel Bell bereits über ›Die nachindustrielle Gesellschaft‹ und die ›Informationsgesellschaft‹ nachdenken. Wenn damals, 1984, als Marquard dies in einem Vortrag sagte, Feuilletonisten und Politiker darüberhinaus von dem der ›Freizeitgesellschaft‹ und anderen Gegenwartsbegriffen Gebrauch machten, so beinhaltet all dies weder einen Widerspruch – noch drückt sich darin irgendeinerweise 431 eine ›Orientierungskrise‹ aus. Im Gegenteil – die entsteht wohl nur dann, wenn man sich nicht die Mühe macht, den jeweiligen Geltungsbereich dieser verschiedenen Begriffe der ›Gegenwart‹ auszumachen und stattdessen alle diese Bezeichnungen als gleichwertig und gleichgewichtig nimmt. Wenn man also – stattdessen – wie Marquard selber einen, und sogar einen sehr bestimmten Begriff von der Gegenwart hat – und das ›Zeitalter der Weltfremdheit‹ proklamieren will. Dann zeigt sich überdeutlich, daß die hier höchstselbst diagnostizierte ›Orientierungskrise‹ die Voraussetzung und die Grundlage dafür bildet, überhaupt von einem solchen ›Zeitalter der Weltfremdheit‹ zu sprechen. Denn dann zeigt sich, daß diese sogenannte ›Weltfremdheit‹ ganz einfach nur ein anderer Ausdruck für diese ›Orientierungskrise‹ ist; sachlich aber auf dasselbe hinausläuft. Anonymität] am Rd.: Namenlosigkeit muß.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Ollig S. 81 [Odo Marquard: Zeitalter der Weltfremdheit? Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwart. In: Hans-Ludwig Ollig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991, S. 81]. 431 irgendeinerweise] so wörtlich 429 430

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»Was immer unsere Zeit sein mag« – sagt Marquard – »sie ist jedenfalls auch das Zeitalter der Wechselwirtschaft zwischen Utopien und Apokalypsen, zwischen Diesseits-Enthusiasmus und Katastrophengewißheit, zwischen Naherwartungen einerseits des Himmels auf Erden, andererseits der Hölle auf Erden, und jedenfalls zwischen – überemphatischen – Fortschrittsphilosophien und Verfallsphilosophien. Warum gehören zu unserer Welt beide?« 432 Das ist die Frage – eine politische, rein politische Frage verbirgt sich dahinter: denn wenngleich dies nicht ausgesprochen wird, so sind doch immer dieselben – politischen – Gegner damit gemeint: die Angehörigen der Neuen Linken, resp. der Öko-, Friedens- | und anderer neuer sozialer Bewegungen, die hier als diejenigen beschrieben werden, die sowohl übertriebene Versorgungserwartungen und Freizeitbedürfnisse – einen umfassenden Hedonismus – erkennen ließen – während dieselben Leute andererseits auch als Angehörige der Friedensbewegung, der Antiatomkraft- und Rüstungsgegner allenthalben Katastrophenmentalität zeigten und ›den Teufel an die Wand malten‹. Warum sie das tun? beantwortete Marquard mit der einfachen These: »Man wird nicht mehr erwachsen«, – womit wiederum wohl nicht so sehr der Manager der City- oder Deutschen Bank und wohl auch die neokonservativen Professoren wie M[arquard] nicht gemeint sein dürften, sondern es sind dieselben Neuen Linken und Grünen – all die, die zu behaupten scheinen: »das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden – als Verlust der Kindlichkeit – ist Abfall vom Menschsein, nämlich … das, was … die moderne Fortschrittskultur selber ist: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen ›authentischen‹, natürlichen Menschen, jenes guten Wilden (Rosseaus), die in unserer entfremdeten Welt allein noch das Kind ist. Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen als die maßgeblichen Menschen: diese Meinung hat so sehr Schule gemacht, daß selbst die Schule ihre Lehrer zuweilen anhielt, nur noch Lehrlinge ihrer Schüler zu sein. Erwachsenwerden ist Sündenfall. Ihm entgehen – scheint es – nur die, die das Erwachsenwerden verweigern. Das sind – meinen einige – die Künstler; es sind – meinen andere – die Randgruppen und Aussteiger (von der Boheme bis zu alternativen Selbsterfahrungsgruppe); es sind – so wollen es die modernen Jugendbewegungen – vor allem die Kinder, die Jugendlichen selbst.« 432

beide«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Ollig S. 80 f.

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Die Jugend probt den Aufstand – ganz einfach als Widerstandsbewegung gegen das Erwachsenwerden, sei dies zu verstehen: Eine außerordentlich elegante Entpolitisierung aller Konflikte und Konfliktfelder, die das moderne Leben bereithält. Denn Marquard gelingt es, fast ganz ohne sich explizit politisch zu äußern, den dennoch rein politisch verstandenen Gegner, herabzusetzen: zum Weltfremden, zu Kindern und Infantilen, halbwilden – auch wenn das alles nicht so unfreundlich gesagt wird. Aber das kann uns auch ganz gleichgültig sein. | Wie dann aber Marquard im einzelnen diese Weltfremdheit und den Widerstand gegen das Erwachsenwerden ›erklärt‹, ist durchaus nicht uninteressant. Und ich möchte Ihnen diesen »Beitrag zur Analyse der Gegenwart« in den Grundzügen wiedergeben. Insbesondere den 3. Abschnitt seines Vortrages, der den Titel trägt: »Tachogene Weltfremdheit«. Dort sagt er – und erklärt seinen Begriff 433: | »Neu ist […] eine zeitalter-spezifisch moderne Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Ich nenne sie tachogene Weltfremdheit; denn sie resultiert aus der beschleunigten Schnelligkeit (auf griechisch: to táchos) des modernen | Wirklichkeitswandels. […] Da ist als erstes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit […] die beschleunigte Erfahrungsveraltung. Wir leben seit knapp einem Vierteljahrtausend in einer – der modernen – Welt, in sich immer schneller immer mehr verändert. […] Bedingt durch die Fortschritte von Wissenschaft, Technik und Arbeitseffektivität wächst auf fast allen – und immer mehr – Gebieten die Neuerungsgeschwindigkeit: das heißt zugleich, daß immer mehr immer schneller veraltet. Das gilt auch für unsere Erfahrungen. Denn in unserer Lebenswelt kehren jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir – statt durch stetigen Zuwachs an Erfahrung und Weltkenntnis selbstständig, d. h. erwachsen zu werden – zunehmend stets aufs neue in die Lage derer zurück, für die die Welt überwiegend unbekannt, neu, fremd und undurchschauBegriff] es folgt eine Fotokopie der beiden Vorworte in Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 7– 21, mit Unterstreichungen; sowie eine Fotokopie von: Odo Marquard: Zeitalter der Weltfremdheit? Ein Beitrag zur Analyse der Gegenwart. In: Hans-Ludwig Ollig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991, S. 81–95, mit Unterstreichungen und vereinzelten Stellenkommentaren, bes. in Abschnitt 3: Tachogene Weltfremdheit, S. 85–89. Danach die hier wiedergegebenen Zitate.

433

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bar ist: das ist die Lage der Kinder. Erfahrung ist das – wohl einzige – Gegenmittel gegen Weltfremdheit: aber jetzt greift sie nicht mehr. Weil heutzutage das Vertraute immer schneller veraltet und die künftige Welt zunehmend anders sein wird als die von uns erfahrene bisherige Welt; wird – für uns, die modernen Menschen – die Welt fremd, und wir werden weltfremd. Die modernen Erwachsenen verkindlichen. Selbst wenn wir grau werden, bleiben wir grün. Man wird nicht mehr erwachsen. – Da ist als zweites Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit […] die Karriere des Hörensagens […] | wir müssen – gerade weil Erfahrungen modern immer wissenschaftlicher gemacht werden – zunehmend mehr nur noch auf Hörensagen hin glauben. Dieses Glaubenmüssen – also die Abhängigkeit von Erfahrungen, die man nicht bzw. noch nicht selber gemacht hat – war stets die Lage des Kindes: heute – in der modernen Welt – ist gerade sie zur Normallage des Erwachsenen geworden, der so – tachogen weltfremd – in einer neuen Weise zum Kind wird. […] [3.] die Expansion der Schule. Wer – wie der moderne Mensch, dessen eigene Erfahrungen immer schneller veralten, dessen neue Erfahrungen aber (spezialistisch) überwiegend nicht mehr eigene Erfahrungen sind – seine Erfahrungen nicht mehr selber macht, muß den Erfahrungsersatz kultivieren. Eine solche Kultur des Erfahrungsersatzes […] ist – im weitesten Sinn verstanden: einschließlich des Kindergartens, der Hochschule, der Fortbildung und der Seniorenakademie – die Schule […]. So ergreift die Schule immer weitere Teile der Wirklichkeit unseres Lebens […] der Mensch wird – der Tendenz nach – ganz und gar zum Schüler, und – der Tendenz nach – jeder Erwachsene wird dadurch jenes Kind, das – wie alt er auch sein mag – in jedem Schüler steckt. Man wird nicht mehr erwachsen. – Da ist als viertes Charakteristikum der tachogenen Weltfremdheit | […] die Konjunktur des Fiktiven. […] Die jeweils überwältigende Mehrheit der Handlungsteilnehmer – zu der wir alle gehören – ist […] nicht mehr in der Lage den Realitätsgehalt der Daten wirklich zu beurteilen: es verwischt sich der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktion. […] Darum ist es gegenwärtig so leicht, wirkliche Schrecklichkeiten zu ignorieren und von fiktiven Positivitäten überzeugt zu sein, und fast noch | leichter, fiktive Schrecklichkeiten zu glauben und für wirklich Positives blind zu werden, also: was in den Kram paßt zu akzeptieren und was nicht in den Kram paßt zu verdrängen. So disponiert die tachogene Weltfremdheit zu Illusionen, durch die die Menschen – träumend – verkindlichen. […] [5.] die zunehmende Illusionsbereit203 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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schaft. […] Je mehr Vertrautheit nicht mehr erfahren wird, um so mehr wird sie – ungeduldig – erwartet: durch die Illusion einer endgültig nicht mehr fremden, einer endgültig heilen Diesseitswelt. Gerade sie wird dann zur direkten Hoffnung, zum direkten Anspruch. Kinder, für die die Wirklichkeit überwältigend fremd ist, brauchen zum Ausgleich eine eiserne Ration an Vertrautem: ihren Teddybär, den sie ebendarum überallhin mitschleppen. Just so brauchen die modernen Erwachsenen – für die die Welt tachogen dauernd wieder fremd wird – die ideologische Naherwartung der heilen Diesseitswelt: sie ist der mentale Teddybär des modern verkindlichten Erwachsenen. […] Durch all dieses wird die moderne Welt zu dem, was ich nannte: das Zeitalter der Weltfremdheit.« – Was zu beweisen war: quod erat demonstrandum. 434 | Ich 435 will nun nicht näher auf die weiteren Ausführungen von Marquard eingehen, die dieses Motiv der ungerechtfertigten Panik und Panikmache bei gleichzeitiger Nah- oder Diesseitserlösungserwartung und Hoffnung noch weiter ausführen und eine Art anthropologischer Konstante daraus ziehen: Menschen haben einen – wohl immer gleichen – Negativitätsbedarf. Egal wie gut es ihnen geht, sie werden irgendetwas als Negativität ausmachen und so empfinden. – Das klingt vielleicht plausibel, ist aber bestenfalls schlechte Metaphysik, vermutlich jedoch einfach nur kalter Kaffee. Aber es erfüllt die politische Funktion, zu erläutern, warum es – in einer Zeit, wo’s doch so prächtig gehe – so viel an Pessimismus und apokalyptischen Erwartungen gebe. Wie gesagt, der Vortrag wurde 1984 436 gehalten – und Marquard mußte sich auf diese Weise nicht inhaltlich mit 437 dem Wettrüsten in Ost und West, Raketenstationierungen und den Risiken der Atomkraft auseinandersetzen, und er konnte somit alle Anlässe von Protesten bagatellisieren – und sie als Verweigerung des Erwachsenwerdens »verstehen« – oder vielmehr nicht verstehen. Abgedruckt ist dieser Aufsatz in einem Buch mit dem Titel ›Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der deutschen Gegenwartsphilosophie‹, eine Aufsatzsammlung jüngeren Datums, 1991 von HansLudwig Ollig herausgegeben. – Ich zitiere: »Entgegen dem weitver434 435 436 437

– Was … demonstrandum.] hs. auf der Fotokopie Ich] Fortsetzung des Textes als Ts. Vortrag wurde 1984] mit grünem Textmarker hervorgehoben inhaltlich mit] inhaltlich sich mit Wort nach Verschiebung stehengeblieben

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breiteten Vorurteil, die Philosophie bewege sich in einem Elfenbeinturm lebensferner Gelehrsamkeit und entbehre jeglicher Bedeutung für die Praxis, will diese Textsammlung zeigen, daß die Philosophie sich durchaus den Problemen ihrer Zeit stellt.« 438 – Naja, Sie finden dort, von zumeist prominenteren Philosophieprofessoren behandelt, einen ganzen Katalog von Themen abgehandelt, die unsere ›Gegenwart‹ in philosophischer Hinsicht auszumachen scheinen: Die Ambivalenz technisch-wissenschaftlicher Fortschritte, die Krise des Wohlfahrtstaats, Arbeitslosigkeit, Rückzug in die Innerlichkeit, – ›Die menschliche Geschichte mit der Natur am Scheideweg‹, Meta-Normenbegründung und Friedensbewegung, ökologische Ethik, Tierethik, | Forschungsethik und andere Stichwörter der z. T. nun wohl schon damals aktuellen Debatten sind in dieser Aufsatzsammlung angesprochen und abgehandelt. Wir haben in ihnen allenfalls eine mehr oder minder treffende und vollständige Anzeige von Problemen der sogenannten Gegenwarten von 1984 bis 1990, jedenfalls so weit man unter ›Gegenwart‹ die schlechte, die »kranke« Gegenwart, ihre Probleme und brennenden Fragen versteht – dies wiederum nur so, wie sie sich diesen Autoren resp. nur dem Herausgeber dieser Sammlung dargestellt haben. Aber wir haben damit natürlich längst noch keine ›Theorie der Gegenwart‹ 439 als dem Inbegriff – nicht nur der zur Zeit – wie man sagte – brennendsten Fragen – sondern einer Theorie des jetzt ›modernen‹ Lebens insgesamt. Eine ›Theorie‹ kann freilich niemals diese Wirklichkeit, diese ›Gegenwart‹ und dieses ›Leben‹ in Gänze, sondern immer allenfalls nur entscheidende Züge und längerfristige Trends ins Auge fassen, um so überhaupt dem Anspruch zu genügen, ›Theorie‹ zu sein. Also weder bloße ›Empirie‹ noch bloße ›Praxis‹ zu meinen, also nicht das unmittelbare ›Leben‹ abbilden, sondern sie muß dessen ›Struktur‹ – und damit die Epoche – zu beschreiben und zu bestimmen versuchen. Die Möglichkeiten einer Strukturierung der Gegenwart ergeben sich dabei aus – das ist besonders am Beispiel Marquards gut erkennbar – sowohl nichtwissenschaftlichen wie auch mehr oder minder

438 stellt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Katalog Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. S. 301. Hs. am Rd.: Ich übrigens mag diesen Ausdruck des ›Diagnostik‹ durchaus nicht … Paul de Lagarde 1874; Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker — organische Krankheit; »Staatsorganismus«; Symptomatik – Diagnostik – Therapie 439 keine … Gegenwart‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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wissenschaftlichen Kategorien: bei M[arquard] jedoch weitgehend aus politischen Überzeugungen, Absichten und Wertsetzungen entlang derer diese ›Gegenwart‹ dann Rede und Antwort zu stehen hat. Aber sie sollte und kann sich andererseits aber auch aus wissenschaftlichen und philosophischen Kategorien ergeben, die innerhalb dieser ›Gegenwart‹ eine Struktur erzeugen – oder umgekehrt: indem man ein ganz bestimmtes Ereignis zugrundelegt, eine Zäsur feststellt, wird ein bestimmter Begriff der Gegenwart – und damit vielleicht sogar der einer Epoche – erzeugt. Ich möchte hierfür als Beispiel Ulrich Becks Buch über die ›Risikogesellschaft‹ heranziehen – als Kontrapunkt zu Marquards Ausführungen, die doch deutlich zeigten, daß sein ›Beitrag zur Analyse der Gegenwart‹ höchst standortgebunden – im politischen Sinne – und in mancherlei Hinsicht auch sonst sehr speziell war. Denn Marquards Blick auf die Gegenwart war – und das ist ein keineswegs seltener Fall – schlicht und einfach einer auf oder in die Tagespresse und andere Medien, die genau diese aufgeregte Tagesgegenwart kolportieren: also bestenfalls schlechtes Feuilleton. | Ganz anders Ulrich Beck, der im April 1986 das Vorwort seines Buches unterzeichnet – und dort etwas sagt, was schon einen Monat später – nach dem Kernkraftwerksunglück in Tschernobyl – Wahrheit geworden war. Beck sagte: »Der Machtgewinn des technischökonomischen Fortschritts wird immer mehr überschattet durch die Produktion von Risiken. Diese lassen sich nur in einem frühen Stadium als ›latente Nebenwirkungen‹ legitimieren. Mit ihrer Universalisierung, öffentlichen Kritik und (anti-)wissenschaftlichen Erforschung legen sie die Schleier der Latenz ab und gewinnen in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen eine neue und zentrale Bedeutung. Diese ›Logik‹ der Risikoproduktion und -verteilung wird [– in seinem Buch – 440] im Vergleich mit der (das gesellschaftstheoretische Denken bisher bestimmenden) ›Logik‹ der Reichtumsverteilung entwickelt. Im Zentrum stehen Modernisierungsrisiken und -folgen, die sich in irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr – wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden, sondern enthalten eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift wie nationalstaatliche Grenzen 440

– in seinem Buch –] hs. am Rd.

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unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger und politischer Dynamik entstehen läßt« 441, d. h. es finden Aufhebungen von gängigen – epochal-charakteristischen – Distanzierungsmedien statt. | Und im Monat darauf – im Mai 1986 – setzte er vor dieses Vorwort noch ein weiteres, das er überschrieb: ›Aus gegebenem Anlaß‹. Dort heißt es: »Arm an geschichtlichen Katastrophen war dieses Jahrhundert wahrlich nicht: zwei Weltkriege, Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl. Das zwingt zur Behutsamkeit in der Wortwahl und schärft den Blick für die historischen Besonderheiten. Alles Leid, alle Not, alle Gewalt, die Menschen Menschen zugefügt haben, kannte bisher die Kategorie der ›anderen‹ – Juden, Schwarze, Frauen, Asylanten, Dissidenten, Kommunisten usw. Es gab Zäune, Lager, Stadtteile, Militärblöcke einerseits, andererseits die eigenen vier Wände – reale und symbolische Grenzen, hinter die die scheinbar Nichtbetroffenen sich zurückziehen konnten. Dies alles gibt es weiter und gibt es seit Tschernobyl nicht mehr. Es ist das Ende der ›anderen‹, das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkeiten, das mit der atomaren Verseuchung erfahrbar geworden ist. Not läßt sich ausgrenzen, die Gefahren des Atomzeitalters nicht mehr. Darin liegt ihre neuartige kulturelle und politische Kraft. Ihre Gewalt ist die Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und Differenzierungen der Moderne aufhebt.« 442 Aufhebungen der Distanzierungen - soziologisch i. w. S. – Klassen, Gruppen - ethisch - religiös - rassisch - geschlechtsspezifisch - politisch-ideologisch u[nd] weltanschauliche … - und und

441 442

»Der … läßt«] aufgeklebter Textausschnitt als Fotokopie »Arm … aufhebt.«] aufgeklebter Textausschnitt als Fotokopie

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[Ordner SS 1996] 11. 443 Vorlesung: Handlungs- und Verantwortungs- und Informationshorizont Ethik und Wissenschaft Resümee über kollektive Entfremdung 444 | Auch im Jahre 1908, als seine Berufung nach Heidelberg schon fast feststand, als alles, was Rang und Namen hatte – Weber, Windelband, Rickert, Gothein, Jellinek –, sich nachdrücklich für ihn einsetzten, genügte ein Gutachten Dietrich Schäfers, des Alldeutschen, des Antisemiten und Flottenvereinlers, dies zunichte zu machen. 445 Mehr zersetzend und negierend als grundlegend und aufbauend, lautete das Verdikt, das auch ausdrücklich auf das Jüdische Simmels Bezug nimmt: »Ob Prof. Simmel getauft ist oder nicht, weiß ich nicht, habe es auch nicht erfragen wollen. Er ist aber Israelit durch und durch, in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Auftreten und seiner Geistesart. Möglicherweise hat das seine Berufung nach auswärts und sein Fortkommen hier gehindert (er soll einmal in Wien vorübergehend in Frage gekommen sein); man braucht das aber zur Erklärung nicht heranzuziehen. Denn seine akademischen und literarischen Verdienste und Erfolge sind sehr bedingt und begrenzt. Er erfreut sich guter Zuhörerzahlen. Aber er hat seit langem die Gewohnheit, 2-stündige Vorlesungen zu halten, die in Berlin stets auf guten Zuspruch rechnen können. Er spricht überaus langsam, tropfenweise und bietet wenig Stoff, aber knapp, abgerundet und fertig. Das wird von gewissen Hörerkreisen, die hier in Berlin zahlreich vertreten sind, geschätzt. Dazu würzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hörerschaft setzt sich dementsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Im übrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den östlichen Ländern zuströmende, überaus stark vertreten. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend. Allzuviel Positives wird aus den 11.] statt gestrichen: 12. Datiert: 10. 7. Entfremdung] auf 2 weiteren Bl. folgt ein Auszug aus Köhnke: Der junge Simmel, mit dem hs. Vermerk: nicht benutzt. Der Auszug ist, da nicht gestrichen, im Folgenden wiedergegeben. 445 machen.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Dietrich Schäfer: Mein Leben. Berlin/Leipzig 1926. S. 150, über Schäfers sonstige Tätigkeiten; zum Vorgang bisher: B[uch] d[es] D[ankes] S. 24–28. 443 444

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Vorlesungen nicht hinweggenommen; aber mancherlei prickelnde Anregung und vorübergehenden geistigen Genuß läßt man sich gern bieten. Dazu kommt, daß der ganz- oder halb- oder philosemitische Dozent an einer Universität, in welcher die entsprechende Hörerschaft mehrere Tausend zählt, bei dem Zusammenhang, der in diesen Kreisen besteht, unter allen Umständen einen ergiebigen Boden findet. […] Simmel verdankt seinen Ruf wesentlich seiner ›soziologischen‹ Betätigung. Ihretwegen ist die Charakterisirung als Professor für ihn beantragt worden, hauptsächlich auf Grund von Schmollers Eintreten, der ja auf Neuerungen so bereitwillig eingeht. Nach meiner Auffassung soll sich aber die Soziologie ihre Stellung als Wissenschaft noch erst erstreiten. Die ›Gesellschaft‹ als maßgebendes Organ für menschliches Zusammenleben an die Stelle von Staat und Kirche setzen zu wollen, ist nach meiner Meinung ein verhängnisvoller Irrtum. […] Ich kann auch nicht finden, daß man aus Simmels Schriften (soweit sie mir bekannt | geworden sind) viel Bleibendes hinwegnimmt. Das Geistesleben der Großstädte kann man kaum dürftiger und einseitiger behandeln, als er es […] getan hat.« 446 Die Kombina446 hat.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Dietrich Schäfer an Franz Böhm. BerlinSteglitz 26. 2. 1908: B[uch] d[es] D[ankes] S. 26–27. Vgl. Schäfer 1926. S. 135 f.: Schäfer war seit 1900 Vertreter der Heidelberger Universität in der Ersten Badischen Kammer und wurde 1903 nach Berlin berufen. Böhm kannte Schäfer aus früherer Zusammenarbeit. – Simmels ›Die Großstädte und das Geistesleben‹. In: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung von K. Bücher, F. Ratzel, G. v. Mayr, H. Waentig, G. Simmel, Th. Petermann und D. Schäfer. Gehe-Stiftung zu Dresden. Winter 1902–1903. Dresden 1903. (= Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden. Bd. IX) dürfte das einzige gewesen sein, was Schäfer kannte. Vgl. Schäfer 1926 S. 140: »Ich habe mich nie mit Großstädten befreunden und nie die Überzeugung gewinnen können, daß sie die Bildung ihrer Bewohner in gesunder Weise fördern. […] [Eine bedenkliche ›Großsprecherei‹ lasse sich nachweisen.] Sie entwickelt sich leicht aus der Art des Großstadtlebens, in dem die Verkehrsformen zu einer gewissen äußeren Gewandtheit führen, die besonders in raschen Urteilen und entwickelter Redefertigkeit ihren Ausdruck findet. Wirkliches Wissen und Können bleiben nicht selten dahinter zurück. […] Wer etwa in Berlin am geistigen Leben der Zeit […] teilnehmen wollte, wie das z. B. in Heidelberg, Tübingen oder Jena möglich ist, würde sich verlieren. Wer diesem Schicksal entgehen will, sieht sich zu einer gewissen Einseitigkeit gezwungen. In meinem Vortrage über ›Die politische und militärische Bedeutung der Großstädte‹, den ich am 14. März 1903 in der Gehe-Stiftung in Dresden gelegentlich der dortigen Großstadtausstellung hielt […] habe ich mich des näheren über diese Frage ausgesprochen.« – Im oben genannten Band vgl. S. 231–282; hier S. 235: »Der Fall von Ninive, Babylon, Jerusalem ist zugleich das Ende selbständiger assyrischer, babylonischer, jüdischer Staatenbildung gewesen. Bezeichnend ist, wie sich alle politischen Hoffnungen des jüdischen Volkes an den Wiederaufbau der heiligen Stadt knüpften.«

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tion von Attraktivität, prickelnder Anregung und vorübergehendem (geistigen) Genuß, teils mit Damen, teils mit Orientalen entspringt z. T. wohl exotistischen Sexualphantasien, z. T. chauvinistischem Teutonismus, denn auch dies gehört zu den Ingredienzen des Antisemitismus – wie wohl auch nicht weniger zum Bild von Georg Simmel in der – zumindest aber gewissen Teilen der – akademischen Öffentlichkeit, was eigentlich nicht überraschen kann.

– S. 280: »auf die Gefahr hin, eines Besseren belehrt zu werden, möchte ich die Behauptung aussprechen, daß bis jetzt eine Großstadt einen großen Mann nicht hervorgebracht hat«.

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[Ordner SS 1996] 11. Vorlesung 447: Der Begriff der Gegenwart 448 Ich möchte Ihnen deshalb kurz in Erinnerung rufen, was wir vor drei 449 Wochen ausgemacht haben, und einige Gedanken etwas weiterführen – Da war zuerst das Problem, den Begriff der Gegenwart zu verstehen und zu bestimmen. ›Gegenwart‹ im wissenschaftlich-philosophischen Sinn hatten wir erkannt – nicht als Bezeichnung für das bloße Hier und Jetzt – sondern als Bezeichnung für einen noch andauernden Zustand, der bis zum Hier und Jetzt reicht. 450 Von einer oder der ›Gegenwart‹ sprechen wir dann, wenn wir eine Entscheidung darüber getroffen haben, seit wann der jetzige Zustand andauert, wenn wir also eine Diskontinuität oder einen Umbruch der geschichtlichen Entwicklung festgestellt haben, und alles seitdem Geschehene als Kontinuität 451 begreifen resp. behaupten. 452 Dabei 453 zeigte sich, daß die gängigen Begriffe der Gegenwart wie beispielsweise ›Industriegesellschaft‹ – Dienstleistungs-, Informations-, Risiko- oder Freizeitgesellschaft – Postmoderne und Moderne 454 – nicht (immer) auf derselben Ebene liegen, sondern teils sozio-ökonomische Kategorien bilden wie Industrie- und Dienstlei11. Vorlesung] statt gestr.: 8. Vorlesung; darüber: Münch!? Gegenwart] danach gestr.: Ich will keine Diskussion vom Zaun brechen – aber wir haben vor drei [statt gestr.: zwei] Wochen ausgemacht, daß wir die Gelegenheit benutzen wollten, in eine Diskussion über die ›Probleme einer Theorie der Gegenwart‹ einzutreten. 449 drei] statt gestr.: zwei 450 reicht.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Denkform! eigentlich: erstreckt sich vom Hier und jetzt zurück (Yorck-Br[ief] Nr. 108) Perspektiven auf das Vorher – Interpretation / Sinnhaftigkeit: Gegenwart als Teil eines Kontinuums erleben oder Vorgeschichte des Jetzt konstruieren 451 Kontinuität] mit orange Textmarker hervorgehoben. Am Rd.: danach: DiltheyText. Am Rd. gegenüber, doppelt eingerahmt: Dilthey: Die Kultur der Gegenwart; außerhalb des Rahmens: zur 11. Vorlesung! 452 behaupten.] Einschub einer Fotokopie aus, wie Köhnke am oberen Rand notiert, Dilthey Ges[ammelte] Schr[iften] VIII, S. 190–205; 207–209. Für die vorliegende Edition wurde die Auseinandersetzung mit dem Diltheyschen Text an seine urspüngliche Stelle in Vorlesung 8a zurückversetzt. 453 Dabei] davor: weggelassen weil Vorl[esung] 10a nicht gehalten. 454 Dienstleistungs- … Moderne] mit grünem Textmarker hervorgehoben 447 448

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stungsgesellschaft. Wohingegen von Informations- und Freizeitgesellschaft zu sprechen, nur eine Seite, etwas sehr Wichtiges an dieser ›Gegenwart‹ hervorheben soll: nämlich wesentlich geprägt zu sein durch beispielsweise eine Globalisierung und zunehmende Bedeutung des Informationssektors – oder durch die Dominanz von Wertvorstellungen, die ihre Realisierung nicht in der Arbeit, sondern in der Freizeit finden. | ›Freizeitgesellschaft‹ definiert Gerhard Schulze als Bezeichnung für »eine Gesellschaft, bei der im historischen und interkulturellen Vergleich innenorientierte Lebensauffassungen eine relativ große Rolle für den Aufbau der Sozialwelt spielen« 455 – Die Charakteristika der Erlebnisgesellschaft manifestieren sich unter anderem: in der hohen Bedeutung sozialer Milieus, in vergleichsweise eher existentiellen als pragmatischen Abschauungsweisen, d. h. einer Abschätzung der jeweils eigenen Chancen auf die Lebensweise 456 hin, manifest in dem Entstehen eines regelrechten Erlebnismarktes. Das wären einige Charakteristika der Freizeitgesellschaft – und man sieht sofort, daß dieser Begriff nicht eine Epoche, sondern nur mehr oder minder bestimmende Züge der Gegenwartsgesellschaft hervorhebt. Das gilt – wie wir gesehen haben – auch für den Begriff der Risikogesellschaft, der einen »Bruch innerhalb der Moderne« (13) behauptet, einen Bruch mit der ›klassischen Industriegesellschaft‹, die sich durch vergleichsweise intakte Vorstellungen und Funktionsweisen von Klassen, Kleinfamilie und Berufsarbeit – der Bedeutung von Wissenschaft, Fortschritt und Demokratie auszeichnete. Dieses System sei nun 1986 durch die Globalisierung der Risiken faktisch bereits zerbrochen, auch wenn wir das so heute noch nicht wahrhaben wollen: in jedem der genannten Felder ist die Fraglosigkeit dahin – alle sind irgendeinerweise prekär oder stehen zumindest noch auf dem Prüfstand: Klassen, Kleinfamilie und Berufsarbeit – Wissenschaft, Fortschritt und Demokratie – was man sich dann im Einzelnen von Beck vorführen lassen kann. 457

455 456 457

spielen«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 735 Lebensweise] statt gestr.: Gesamtexistenz kann.] statt gestr.: muß.

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An dieser Stelle von mir nur noch soviel, daß mir hier eine gewisse Schieflage im Begriff der ›Risikogesellschaft‹ zu liegen scheint, denn so sehr der Begriff als | bloße Beschreibung der Globalisierung von Risiken einleuchtet – so wenig vermag ich doch zu folgen, wenn Beck deren Bedeutung und Wirkung bis hinunter in die Kleinfamilie und Veränderungen von Familienformen hineinverfolgt: das hat mit all jenen Risiken durch Technik und Industrie wohl nur sehr wenig oder nur noch sehr entfernt zu tun. Wieder anders liegt der Fall bei Daniel Bells 458 »nachindustrieller Gesellschaft«, wenn gesagt wird, hier werde das Bild einer ›Wissensgesellschaft‹ resp. ›Informationsgesellschaft‹ gezeichnet, die sich aus der kapitalistischen Industriegesellschaft herausentwickele: »Bildungsexpansion, technokratischer Beamtenstaat, sprunghaftes Ansteigen der Kosten im Dienstleistungsbereich: diese und andere bedrohliche Entwicklungen werden als Symptome eines tiefgreifenden Wandels erklärt« – und zwar schon 1973, durchaus hellsichtig, wie man anerkennen muß. Aber all diese Begriffe bezeichnen immer nur ausschnitthaft – und unter einer jeweils bestimmten Perspektive – wesentliche Züge dieser ›Gegenwart‹. Sie stellen aber als solche beileibe keine Epochenbegriffe dar, wie dies der Begriff der ›Moderne‹ tut. ›Die Moderne‹ ist ein echter Epochenbegriff, weil – so hatten wir gesehen – hiermit eine viel weiterreichende Veränderung, und zwar eine Veränderung und Neugestaltung aller Lebensbereiche gemeint ist – frei nach Graf Yorck oder Dilthey, aber auch nach Simmel und Max Weber: weil hier das ›ganze Leben‹ sich verändert hat. – Egal, ob man die Moderne nun als ›entzauberte Welt‹ anspricht, als ›Epoche der vollständig durchgesetzten Geldwirtschaft‹ – oder ob man eben auch Literatur, bildende Kunst und Musik betrachtet: immer ist der Begriff der ›Moderne‹ gemeint als ein Epochenbegriff. ›Die Moderne‹ liegt damit also auf einer ganz anderen Ebene als die oben genannten Begriffe, die nur einzelne Züge der Gegenwart hervorzuheben versuchen – und ausdrücklich | bezeichnet Ulrich Beck seine Beobachtung namens ›Risikogesellschaft‹ ja auch nur als eine neue Periode und Veränderung innerhalb der Moderne, ordnet also die Risikogesellschaft dem Begriff der Epoche namens Moderne unter. 458

Bells] Bell’s

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Begriff und Theorie der Moderne

Ich will hier nicht darauf eingehen, ob Begriffe wie Informations-, Arbeits- oder Freizeitgesellschaft dennoch nicht irgendwie doch immer den Anspruch machen, als Epochenbegriffe gelten zu wollen und so Mißverständnisse unausweichlich sind. Das gilt wohl auch für gewisse Probleme mit dem Begriff der ›Postmoderne‹, die m. E. nicht selten darauf zurückgehen, daß man ihn auf zweierlei Art verstehen kann: entweder man sieht ihn auf der selben Ebene wie den Begriff der Moderne und dann löst die Postmoderne die Moderne ab. Das liegt gewissermaßen schon sprachlogisch nahe und ist ein geradezu unvermeidliches Mißverständnis, mit der Folge, daß gerade Soziologen gegen die Behauptung einer Postmoderne opponieren und sagen: nein, halt, die Moderne ist noch nicht zuende (vgl. Münch), oder aber man versteht den Begriff der Postmoderne als eine neue und veränderte Geisteshaltung und als Stil, – ähnlich wie ja auch der Begriff der Moderne zuerst in der Literatur und Kunst aufkam. Dann meint Postmoderne ganz bestimmte – i. w. S. ästhetische – Bereiche der Gegenwart und Wirklichkeit – Literatur und Architektur z. B. – ohne daß man damit behauptet hätte, daß sich die gesamte Wirklichkeit und Gegenwart durchgehends gewandelt hätte. Ich will diese Streitfragen gar nicht entscheiden – und zwar weil ich sie für völlig müßig halte: entweder nämlich, man hat aufgewiesen, daß die Moderne vorüber ist – dann mag die Postmoderne begonnen haben – oder man hat genau dieses nicht aufgewiesen. Dann ist kein Streit möglich, jedenfalls nicht sinnvoll. Aber genauso gilt das auch für all die anderen Begriffe, die sich dem Verdacht, eine Art modischer Erscheinung zu sein, nie ganz entziehen können. Es sind durchaus ja auch | sehr plakative Begriffe, die mit ›Gesellschaft‹ gebildet werden und allein schon insofern das Gesamt zu bezeichnen versprechen. Und sie versuchen etwas Charakteristisches, ja eigentlich das Charakteristische über die gegenwärtige Gesellschaft auszumachen: ist das die Arbeit? die Industrie? oder Dienstleistung? – oder aber bloße Freizeitkultur? – die Expansion des Informationswesens? Globalisierung von Risiken? Sie sehen – wenn man auf diese Weise fragt, und feststellt, daß all die fraglichen Begriffe jeweils wesentliche Züge der Gegenwart hervorheben – ohne daß sie einander deshalb ausschließen müssen – dann zeigt sich ganz etwas anderes: es ist – oder jedenfalls scheint es mir so, 214 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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daß die Vielzahl dieser Charakteristika – und die Diskussion darum – das spezifisch Moderne der modernen Gesellschaft geradezu ausdrückt, nämlich: daß eben unentwegt Veränderung herrscht, also nicht, wie in der vormodernen Gesellschaft die ständische Ordnung im wesentlichen unangetastet bleibt und selbst durch politische Revolutionen als solche nicht grundsätzlich verändert wird. Was dann zweitens bedeutet, daß auch ein insoweit unverändertes gesellschaftliches Gefüge – die Agrar- oder feudale Gesellschaft – innerhalb der Stände eher konstante Lebensweisen aufweist, und ebenso weitgehend konstante Wertvorstellungen sicherstellt. Ganz anders die moderne Gesellschaft, deren wichtigstes Charakteristikum – wie neuerdings Münch hervorgehoben hat – gerade die ungebremste Dynamik ist – eine Dynamik, die unentwegt Lebenswelt und damit auch Lebensweisen – die Kultur – verändert. Wenn man also all die erwähnten begrifflichen Angebote auf diese Weise versteht, kehrt sich die von Odo Marquard beklagte oder monierte Vielfalt der verschiedenen Begriffe für die Gegenwart geradezu um: diese Begriffe sind dann nicht Zeichen jener Orientierungskrise, die Marquard aus der Vielfalt der Namen und deshalb eigentlich einer ›Anonymität‹ der Gegenwart – herauslesen wollte – sondern | Ausdruck der völlig ungebrochenen Dynamik eben dieser Moderne. Und 459 auch die von Marquard angebotene Charakterisierung ›Zeitalter der Weltfremdheit‹ 460 hatten wir erkannt als eine eher nur politisch-polemische, und nicht so sehr als eine wissenschaftlich-deskriptive Kategorie. Aber das eine ist es, daß Marquard eine Weltfremdheit konstatiert – etwas anderes ist es, wie er deren Entstehung begründet: Daß der moderne Mensch nicht mehr erwachsen werde und es nicht werden wolle – Infantilisierung lautet das Stichwort – hatte er zum Ausgangspunkt genommen für die von ihm beobachtete sogenannte ›tachogene Weltfremdheit‹ – aufgrund beschleunigter Schnelligkeit ständigen Wirklichkeitswandels, der sich auf verschiedene Weise 459 Und] davor hs. Pfeil am Rd., darunter gestr.: 10. 7. 96; darunter: 22. 7. 98: Am Kopf des Bl. Pfeil vor Notiz: Postmoderne ist die Th[eorie] d[er] Sinnlichkeit der Moderne (»Ästhetik«); am Rd.: Wilhelm Flusser: Jude sein 460 ›Zeitalter der Weltfremdheit‹] mit grünem Textmarker hervorgehoben

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sichtbar mache: als beschleunigte Erfahrungsveraltung, als Karriere des Hörensagens, als Expansion der Schule, Konjunktur des Fiktiven und zunehmende Illusionsbereitschaft. Alle diese Charakteristika laufen letztlich in einer ganz einfachen Beobachtung zusammen: daß immer mehr nur als Erfahrung zweiter Hand, medial vermittelt – und nicht mehr selbst erfahren – unsere sogenannte ›Erfahrung‹ bestimmt, die uns zunehmend abhängig macht von denen, die uns diese Erfahrungen übermitteln – das ist denn ›Expansion der Schule‹. Wobei dann noch der zusätzliche Verlust eintritt, daß wir Wirklichkeit und Fiktion zunehmend weniger zu unterscheiden vermögen: Konjunktur des Fiktiven. Soweit Marquard. Ich glaube, man kann ganz anders ansetzen – um zu dem Befund einer gewissen Weltfremdheit zu kommen. Denn das Problem ist in der Tat das eines zunehmenden Vorwiegens von Erfahrung zweiter Hand, – das aber einhergeht mit einem zweiten: der Auflösung des Zweck-Mittel-Zusammenhanges. 461 Erstens: das zunehmende Vorwiegen von Erfahrung zweiter Hand – oder – wie Marquard sagt: die Karriere des Hörensagens – stellt dem modernen Menschen in | Form von Wissenschaft und mittels Medien verschiedenster Art eine Vielzahl von sogenannten Informationsangeboten und Unterhaltungen zur Verfügung, was natürlich weder zu beklagen ist – noch irgendwie zu einer Weltfremdheit führen müßte. Das Problem liegt meines Erachtens woanders: und zwar in einer Veränderung resp. Verschiebung des Wirklichkeitsverständnisses. Sie besteht zunächst darin, daß immer mehr Zeit, aber auch Interesse und Aufmerksamkeit, für solche Erfahrungen zweiter Hand aufgewendet werden, was notwendig zur Folge hat, daß entsprechend weniger für echte eigene Erfahrung übrigbleibt. Die vom Einzelnen gelebte 462 ›Wirklichkeit‹ bezieht immer mehr von dem in den eigenen Interessenkreis ein, das nicht mehr unmittelbar erlebt wird und worauf man auch nicht einwirken kann. Nehmen Sie z. B. die Talk-Show, die Fußballübertragung oder die Musikaufführung – sie ziehen nicht nur Zeit und Kraft ab – sie verändern auch die Wahrnehmung wirklicher Gespräche, Fußballspiele und von Life-Musik. 461 Zusammenhanges.] am rechten Rd.: 2 Hypothesen – prüfen auf analytischen Wert; am linken Rd.: Vgl. »Vorstellen« ?! bei Yorck!? 462 gelebte] über der Silbe ge-: er

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Das geht nicht immer so harmlos zu, wie es mir widerfuhr, als ich im Olympiastadion in Berlin erstmals bei einem großen Fußballspiel dabei war – und nach dem allenthalben erschallenden Torschrei – auf eine Zeitlupe wartete, denn da sieht man alles doch sehr viel genauer als vom Oberring aus. – Ich wartete vergeblich. – 2. Nicht, daß ich annähme, wir würden aufhören miteinander zu sprechen – aber ich habe den Eindruck, immer mehr und häufiger zu hören, was ich schon einmal gehört habe: Je nach Thema freilich – aber sicher gilt das für sogenannte politische Gespräche, oft auch solche über Tagesereignisse, die eben wir alle in gleicher Weise durch die Medien kennenlernen – auf ähnliche oder auch gleiche Weise. Aber das Problem geht eigentlich viel weiter: fast unerträglich wird Manchem der Anblick eines wirklichen Ölbildes, weil hier die Materialität des Farbauftrages nicht jene photographische Glattheit der Oberfläche aufweist, an die man gewöhnt ist. Egal, ob durch Printmedien, Photo oder Fernsehen, die einmalige Materialität der Bildoberfläche ist uns nicht mehr vertraut – ja, sie in ihrer unglaublichen Einmaligkeit und Sprödigkeit stellt den | Maler gleichsam bloß – nichts ist so perfekt wie die in die absolute Zweidimensionalität projizierten Bilder sonst es sind. Oder ein andres Beispiel: Life-Musik und Theater-Aufführungen können mit den tongemischten, perfekten Sounds der diversen Labels und jenen perfekten Inszenierungen kam je noch konkurrieren: alles wie beim Bild – ganz materiell, physisch und roh, versehen mit Gerüchen, Geräuschen und Lichtverhältnissen und versehen mit der ganzen Lebendigkeit, die in einer Musikhalle nun einmal herrscht. 463 Ich vermute, daß das gegenwärtige Wahrnehmen von Kunst – im weiteren Sinne meine ich das – die Ästhetik – sich grundlegend dadurch verändert hat, daß wir erstens medial d. h. vermittelt zu »erfahren« uns gewöhnt haben – und daß zweitens das richtige Gefühl für die natürliche Materialität nicht nur zurückgeht, sondern Materialität sogar als abstoßend empfunden wird. Mit der Folge, daß die Ästhetik sich dahingehend ändert, daß wir solche Bilder, Musik und Aufführungen bevorzugen werden, die sich entweder so, wie eben in den Medien sich geben – oder aber, die genauso perfekt als Life-Veranstaltungen sind, wie die medial vermittelten. Das aber gelingt immer nur in sehr wenigen Fällen – und so entsteht ein falsches Vir463

herrscht.] am Rd.: Sinnlichkeit »Ästhetik« »Postmoderne«

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tuosentum 464: ja, wir hören und lieben Sänger und Gruppen, deren Musikalität weit unter der jedes Provinzsängers 465 liegt, oder Schauspieler, die eigentlich nur für Film- und Fernsehproduktionen taugen, wo alles immer und immer wiederholt werden kann, bis es endlich im Kasten ist. Sie wissen das alles. Aber was bedeutet das alles für unsere Wahrnehmung wirklicher Darbietungen und Kunstaufführungen – was für die wirklichen, die Erfahrungen erster Hand? Als These formuliert hieße das etwa: Durch vorwiegendes Erfahren aus zweiter – statt aus eigener – ›Hand‹, ›Ohr‹ und ›Auge‹ findet eine Verschiebung des Wirklichkeitsverständnisses statt, und zwar so, daß an die Stelle des vergleichsweise authentisch-Wirklichen etwas fiktiv- oder virtuell-Wirkliches tritt – Ich wage nicht zu entscheiden, wie weit dies geht, was alles auf diese Weise aus | der echten in die andere, die mediale Wirklichkeit transferiert wird: gilt das nur für Bilderfahrungen 466, für Musik und Theater – oder eben auch für andere Erfahrungen, die wir so nicht mehr – sondern nur noch oder doch vorzugsweise eher so machen. 467 Zudem ist etwas weiteres zu berücksichtigen: die genannten Effekte haben natürlich ganz andere Auswirkungen für ein Kind, das bereits in dieser Welt und Wirklichkeit aufwächst – als für einen, der das alles früher noch selber angefaßt, gerochen und – vielleicht – geliebt hat – sozusagen vor jener Wirklichkeitsverschiebung. Auch mag es entscheidende Unterschiede geben, wer überhaupt für welche speziellen Wirklichkeitsverschiebungen zugänglich ist – wer also was konsumiert – und umgekehrt dasselbe in natura nicht kennt, usw. Das alles jedenfalls sind Fragen, die man wird weiterverfolgen müssen. Und ebenso etwas zweites: die oben behauptete Auflösung des Zweck-Mittel-Zusammenhanges. Sie stellt ein eigentlich noch schwierigeres Problem dar: wenn ich gewisse Zwecke erreichen will, dann gebrauche ich gewisse Mittel und vollziehe demgemäß eine Handlung, die von der Vorstellung des Zwecks auf die Mittel zurückschließt, Mittel wählt, – diese Mittel dann ins Werk setzt, um den Zweck zu erreichen.

464 465 466 467

falsches Virtuosentum] mit rosa Textmarker hervorgehoben Provinzsängers] darüber hs.: Chorsängers nur für Bilderfahrungen] nur Bilderfahrungen machen.] am Rd.: Bild- und Symbolhaftigkeit

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So ist es im Idealfall. Zum Beispiel beim Eierkochen: Weichgekochtes Ei essen wollen erfordert 1. rohes Ei, 2. Topf, kochendes Wasser – 7 Minuten, abschrecken, fertig: essen. Dafür gibt es freilich auch automatische Eierkocher: Ei reintun – warten – fertig. Genauso die hochautomatische Kamera: draufhalten: knipsen – entwickeln lassen – fertig. Ich muß das nicht fortsetzen: immer mehr Geräte ersetzen die manuelle Betätigung, aber nicht nur das: immer mehr Verrichtungen werden von immer mehr Beteiligten vorgenommen, d. h. immer spezialisierter werdende Berufe, die nur noch mit Halbfabrikaten hantieren und sie als nur wenig weiter vervollständigte Halbfabrikate an andere weitergeben: das ist das Prinzip der Delegation. 468 Es hat den Vorteil für den Fabrikations- oder auch für den Verwaltungsvorgang, daß | Spezialisten für alle einzelnen Funktionen da sind, die Abläufe insgesamt also rationalisiert vollzogen werden. 469 Aber es hat – in der industriellen Produktion hat man das zuerst erkannt – neben dem Rationalisierungseffekt auch den unerwünschten Nachteil einer Motivationsbremse – weil eben diese Art der Produktion oder auch Verwaltungsarbeit, weil die Sinnlosigkeit des immer selben Handgriffes evident ist – weil man nämlich das Produkt nie als Fertiges oder in seiner Gesamtproduktion zu sehen kriegt, weil man also den gesamten Handlungsablauf – den Sinn – als 470 solchen nicht mehr mitvollzieht, ja ihn oft nicht mehr überschauen und nicht verstehen kann: Das Tun wird »sinnlos« – darüber hinaus aber entsteht eine sehr komplexe Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Gesamtsystem und Funktionssystem überhaupt – wie wir bereits gesehen hatten. Und das geht noch viel weiter: warum erleben wir den Umgang z. B. mit Behörden als so unangenehm? Doch vor allem, weil wir nicht einwirken können – weil, was wir wollen, so nicht zur Geltung zu bringen ist – und stattdessen hat eine Vielzahl von Funktionsträgern die Sache in der Hand – und am Ende kommt etwas heraus, was nicht wir, sondern die Bürokratie produziert hat. – Man muß das ernstnehmen: selbst wenn wir unsere Zwecke auf diese Weise erreichen, Prinzip der Delegation.] am Rd.: führt zur mythischen Überschätzung der »Geräte«, die beschwörten Handlungsmöglichkeiten – Computerwelt + Internet; Geräte verlieren ihren bloßen Mittelcharakter, überwuchern ihn mit bricht ab 469 daß … werden.] hs. Einfügungen für: daß Spezialisten für alle einzelnen Funktionen die Abläufe insgesamt rationalisieren. 470 als] also 468

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wir haben sie nicht selbst erreicht: die Relation von Zweck und Mittel ist gestört oder defekt. 471 Und das geht nun nicht nur ein-, zweimal, oder nur gelegentlich so – das Prinzip der Delegation beherrscht nicht nur die meisten Arbeitsstellen, es wird auch durch das moderne Leben bis in die einfachsten Verrichtungen, bis in die 472 Küche hinein, verlängert: Automatisierung, Spezialisierung, Delegation – sie wirken – jede für sich – aber allesamt in immer dieselbe Richtung: nämlich in die einer Auflösung der gleichsam ›idealen menschlichen Handlung‹, die nun einmal vorsieht, daß ich es bin, oder wir es sind, die handeln – und nicht nur behandelt werden. Bezogen auf die einzelne Handlung ist das alles vielleicht ganz irrelevant: man kann und muß freilich nicht alles selber machen. Aber was ist, wenn sich das Leben des Einzelnen – in der Moderne – mehr und mehr in diese Richtung entwickelt? – Daß er immer seltener vollständige Zweck-Mittel-Relationen vollzieht, daß er also immer seltener Erfolge als seine Erfolge und Erfolge seines Handelns ansehen kann? | Welche Folgen hat das für das eigene Selbstbild – wie denkt einer von sich, der in dieser Hinsicht nicht erfolgreich ist, der also seine Erfolge nicht auf sein eigenes Handeln zurückführen kann? – Oder: Was ist mit dem Begriff von Handlung und Handlungsmöglichkeiten, ja auch mit dem von Machbarkeit, – wie denkt einer über Problemlösungen, – und Probleme, die sich ihm stellen, – wenn er nicht daran gewöhnt ist, durch eigenen Einsatz gewisser Mittel seine Zwecke zu erreichen? Ich bin ganz sicher: Man kann von diesen Fragen aus eine ganze Phänomenologie und Pathologie von Handlungsstörungen und -schwierigkeiten, von falschen oder unangemessenen Handlungserwartungen, die gegenüber Dritten gehegt werden, und von Fehlhandlungen, ja auch von Vermeidungs-, Übersprungs- und symbolischen Handlungen ableiten, aus denen sich dann erkennen und erst voll ermessen läßt, welchen Wert einerseits vollständig vollzogene Handlungsketten haben, wie auch umgekehrt, was es bedeutet, daß zumindest tendenziell eine immer weitergreifende Fragmentierung von Handlungsstücken stattfindet, so daß von immer mehr Leuten

471 472

defekt.] am Rd.: Gegenbild: der »Ganze Mensch« die] der

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immer kleinere 473 Stücke übernommen werden und sie entsprechend den Gesamtzweck, den Sinn immer weiter aus den Augen verlieren. Und das läßt sich dann auf verschiedenen Betätigungsfeldern durchspielen: politisches Handeln beispielsweise scheint mir – ganz persönlich – etwas geradezu Unmögliches. Ich meine natürlich nicht die Teilnahme an einer Demonstration oder die Abgabe eines Stimmzettels. Nein, politisches Handeln scheint mir 474 im eigentlichen Sinne derart vollständig delegiert worden zu sein, daß nach dieser Delegation fast nichts mehr übrigbleibt als eben tatsächlich nur noch bloßes Demonstrations- und Wahlrecht. Denn bloßes Politisieren zählt hier nicht. Aber es gibt sicher viele andere Beispiele dafür, daß 475 Möglichkeiten für aktives eigenes Handeln abgeschnitten scheinen – mit wiederum entscheidender Konsequenz für das Sich-Selbst-Verstehen – hier nur als gewissermaßen ›unpolitisch‹, – was ich vermutlich gerade deshalb so sagen und so scharf empfinden kann, weil ich | einen so aktiven Begriff und ein so hohes Ideal vom politischen Handeln habe, das ich jedoch nicht realisieren zu können glaube – oder eben – wie die meisten anderen auch: schließlich doch ganz einfach nur andere ›Präferenzen‹ habe. Nein, ich glaube – mal abgesehen vom Politischen – daß bedeutsamer als das direkte eigene Handeln in einem bestimmten Bereich, die Erfahrung des eigenen Handelns überhaupt ist. Nicht so bedeutsam scheint es mir, ob man gerade in diesem oder jenem Bereich in diesem Sinne erfolgreich handelt – sondern viel wichtiger ist wohl, ob man überhaupt irgendwo solche vollständigen Handlungsketten aus Zwecken und Mitteln vollzieht, damit man auf diese Weise den Vorgang als solchen immerhin kennt und ihn als Modell möglicherweise auf andere Bereiche dann übertragen kann. Vielleicht haben manche sportliche Betätigungen – indem sie zu Erfolgen dadurch führen, daß selbstgesteckte Ziele erreicht werden, etwas von i. d. S. Kompensationshandlungen. Oder auch andere private Betätigungen müßte man daraufhin absuchen: Modellbau, Heimwerkertum und Schrebergärtnerei, selber Kochen statt Restaurant oder Fertiggericht – sie alle imitieren doch in gewisser Weise genau das, was in der berufsmäßigen Realität Handwerker und Tech473 474 475

kleinere] kleine mir] mit daß] danach gestr.: alle

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Begriff und Theorie der Moderne

niker tun – und zwar so, daß jetzt das Maß an Arbeitsteilung, Delegation und Spezialisierung gegen Null 476 geht, daß nämlich nun alles in Vatis Hand ist, wenn er mit der Eisenbahn spielt. 477 Wenn Erwachsene in diesem Sinne ›spielen‹, dann ist das wohl weit weniger als eine ›Infantilisierung‹ (siehe Marquard) zu interpretieren, als vielmehr in dem Sinne, daß sich jemand hiermit eine Analogie zur Wirklichkeit, einer defizitären, hochspezialisierten und arbeitsteilig organisierten Lebens- und Arbeitswelt schafft. Dann freilich handelte es sich hierbei auch nicht um eigentliche Weltfremdheit – sondern umgekehrt um den – vielleicht zwar vergeblichen – aber doch nachvollziehbaren Versuch und Wunsch, eine selbstgeschaffene Analogie von Welt oder von Teilaspekten von Welt wiederherzustellen. Das sind einige der Fragen, die sich mir stellen … | Schließlich: Könnte nicht beides zusammen zu einer gewissen Weltfremdheit führen – diese tendenzielle Auflösung von ZweckMittel-Relationen – im Verein mit dem zunehmenden Vorwiegen von Erfahrung zweiter Hand? Das wollte ich eigentlich schon in der letzten Woche zur Diskussion stellen – soweit also erstmal von mir – was denken Sie dazu? 478 |

Null] 0 spielt.] am Rd.: Simulation 478 was … dazu?] hs., danach folgt auf einem weiteren Bl. das hs. Schema. Für das SS 2000 lautet das Konzept für die 11. Vorlesung: 28. 6. 2000 bis 1427 11. Vorlesung Orientierungskrise oder Ende des weltanschaulichen Verhaltens? Marquard Zeitalter der Weltfremdheit? 1984 [am Rd.: großer studentischer Beifall] Ulrich Beck: Risikogesellschaft 1986 Jean-François Lyotard: das postmoderne Wissen 1982 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft 1992 [darunter am Rd.: no postcards no postcards] das Eigene … Privatheit/nicht vergesellschaftete Rest; Öffentlichkeit/Soziales; Kant: Freiheit 476 477

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Ordner SS 1996 · 11. Vorlesung

Atomisierung Wiederherstellungen Entzauberung Information, Faktum Rationalität: 2 Formen des »Wissens« Distanzierung Systemabhängigkeit »Erzählung« Teleolog[ie] Fremdheit / Entfremdung Gemeinschaft Bildung Tragödie der Kultur: Aneignung Partizipation Fortschritt Philos[ophie] symbolischer Formen Kultur Verlust der Erzählungen Zweck-Mittel Postmoderne als »Ästhetik«: Spiel Virtualität → Geschichte : ist nicht Vergangenes : ist nicht Vorform von Gegenwart (lehrt nichts) : ist Kontrastmittel: Analyseinstrument: Differenzmittel Fragmentierung der Kultur Zeit Raum Reisen Epochenwandel: das ganze Leben ändert sich das Leben ist kein Ganzes mehr: Atomisierung, Fragmentierung Distanzierung

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Begriff und Theorie der Moderne

[Ordner SS 2000] 12. Vorlesung 479 5. 7. 2000 480 Delegitimierung einer ganzen Weltordnung: Begriff der Gegenwart - permanente oder erneute? hinter Vernunft, Freiheit und Wille zurück? → zeitlich → theoretisch Spezialisierung der Wiss[enschaft] »Delegitimierung« → Lyotard S. 112 ff.! | 12. Vorlesung 481 19. 6. im SS 98 nicht gehalten Postmoderne? Epochales: Lyotard 482

12. Vorlesung] 1 Bl. hs. 5. 7. 2000] am Rd.: bis 1410 481 12. Vorlesung] über mehrfach korrigiertem Ts.: 11./9. Vorlesung: Postmoderne? 482 Lyotard] folgt Fotokopie eines Interviews mit Jean-François Lyotard in: Kunstform International von Juni/Juli 1990, S. 79–81, sowie eines Interviews mit Hannes Böhringer, in dass. S. 153–155. Außerdem eine Fotokopie aus Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9, Sp. 1534–1536: Lemma Sprachspiel. 479 480

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Ordner SS 2000 · 13. Vorlesung

[Ordner SS 2000] 13. Vorlesung 483 12. Juli 2000 Zum Schluß 484 - in der letzten Vorl[esung] »Delegitimierung« (»Kritik«) einer ganzen Weltordnung (»Metaphysik«; metaphysische Systeme) - das meint nur die größten Strukturen, »Erzählungen«, Geschichtsphilosophien und Weltanschauungen, Utopien, Heilslehren, soziopolitischen Raster: links und rechts - nicht die einzelnen Kultursysteme, symbolischen Formen od[er] »symbolischen Sinnwelten« - das entscheidende ist der Verzicht auf Integration (Identität, Lebenslauf, des Wissens, Aufl[ösung] d[er] Antinomien) – auf schlechte Integration An die Stelle eines im Prinzip weltanschaulichen Verhaltens tritt die Skepsis u[nd] das Intuitive – der Sinn für die allerallgemeinsten Verbindlichkeiten und »Grundwerte« - es tritt in quasi vormoderne Rechte zurück - J. Burckhardt: jeder ist wieder ein Esel auf seine Weise das bedeutet nicht nur ein Weg-von (s. o.) – »Befreiung von« es bedeutet auch eine »Befreiung zu« - neuem Individualismus, Wahl von Lebensstilen u[nd] -entwürfen - Unvoreingenommenheit u[nd] geistiger Freiheit - Restitution der Trennung von Wissen und Glauben – konstruktivistischer Wiss[ens]begriff u[nd] metaphysica naturalis die Intuition, die Skepsis muß über sich aufgeklärt werden: Frage und Gegenfrage Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit einer intuitionistischen Moral? – Hat begründete moralische Normierung je genützt? – die Katechismen, die Morallehren, die Ethiken, die moralischen Unterweisungen etc.?

483 484

13. Vorlesung] 1 Bl. hs. Zum Schluß] darüber: bis 1415; großer längerer Beifall

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Begriff und Theorie der Moderne

Ausbreitung der Ideen Aufklärung + Idealismus Entdeckung, Idee »Kultur« 485/Bildung Wirklichkeit, Praxis bis 1848

485

Materialismus bis 89 Realismus »Moderne« soziale Zeitalter bis 1989

»Postmoderne«

»Kultur«] am Rd.: c[ultura] animi; n[atura] altera

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Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff

[Ordner WS 1997/98 u. WS 1998/99] 1. Vorlesung 486 Einige von Ihnen haben die Verunsicherung über den Sinn und Inhalt des Kulturbegriffs und des Studiums der ›Kulturwissenschaften‹ wohl erlebt. Andere aber, zumal die, die in diesem Semester das Studium erst aufgenommen haben, haben sie – womöglich – noch vor sich. Das liegt nicht an den Studenten: ›Kultur‹, ›Kulturbegriff‹ und ›Kulturwissenschaften‹ – diese Ausdrücke stellen – jeder für sich – ein ganzes Bündel von Problemen dar. Um dem abzuhelfen habe ich diese Vorlesung mit begleitendem Lektüreseminar angeboten: – für Grund- und Hauptstudium unter dem Titel: Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff 487 In meiner Ankündigung habe ich einigermaßen lapidar gesagt: Der moderne Kulturbegriff dient der summarischen Beschreibung von Lebensweise und Lebenswelt des Menschen. Er unterscheidet sich damit grundsätzlich – und unverwechselbar – von dem der Aufklärung und des Idealismus, die auf eine höhere Kultivierung des Geistes abzielten, durch ausdrücklichen Verzicht auf die Bewertung von Kulturen.

486 Vorlesung] darüber hs. Notiz, unleserlich gestr., daneben: ab S. 4; bezieht sich auf die Überarbeitungen für die Wiederholung der Vorlesung im WS 1998/99. Folgt Fußnotenzeichen und -text: 55 Minuten – ca. 50 Hörer. 487 Kulturbegriff] danach folgt: das heißt: Vorlesung immer: Mi[ttwoch] 17.15–18.45, hier im Hörsaal 4. Dazu das Lektüreseminar immer: Do[nnerstag] 16.15.–17.45 in Raum S[eminar-]G[ebäude] 0–61/62.

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Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff

Der moderne Kulturbegriff wurde geschaffen von Theorien, die die Lebenswelt und Lebensweise des Menschen als Objektivationen oder Manifestationen des menschlichen Geistes – und Resultat von Arbeit – betrachteten – und sie seit anderthalb Jahrhunderten als ›objektiven Geist‹ bezeichneten. Diese Tradition geht von – noch fast Zeitgenossen von uns – wie Arnold Gehlen und Hans Freyer – über Dilthey, Simmel und Cassirer zurück auf die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus, von dem die Theorie des ›objektiven Geistes‹ ihren Ausgang nahm. Aber diese Tradition läßt sich weiter zurückverfolgen – und geht letztlich vor allem auf Herder und schließlich auf Cicero zurück. Anhand einer Auswahl der wichtigsten Texte dieser Tradition sollen: - die Genese dieses Kulturverständnisses – und | - deren Bezüge zur Gegenwart herausgearbeitet werden. Weiter habe ich im Vorlesungsverzeichnis gesagt: Die Vorlesung wende sich an Studierende aller Semester, während die begleitende Übung vor allem für Studierende im Grundstudium gedacht sei. Diese Aufteilung müssen Sie nicht ernstnehmen – sowas muß man nur ins Vorlesungsverzeichnis schreiben. Mir bedeutet das garnichts. Nun zur Sache – und ihrer Vorgeschichte: Ich habe im letzten Semester eine kleine Befragung darüber durchgeführt, - was die Studierenden in letzter Zeit an Büchern gelesen, - welche sie besonders gern gelesen hätten – und - welche Zeitungen und Zeitschriften sie häufiger läsen. Dabei kam heraus: das Interesse der Befragten gilt vor allem der ›Kultur‹ – in jenem Sinne von ›schöner Literatur‹, Musik, Oper und Theater – also alle dem, was wir zur ›höheren Bildung‹ rechnen: wenn man so will also jenem Kulturbegriff von Spätaufklärung und deutschem Idealismus – der Schiller mit seinen ›Ästhetischen Briefen über die Erziehung des Menschengeschlechts‹ den prägnantesten Ausdruck verlieh: cultura animi – Pflege, Kultivierung der Seele und des Geistes, wie dies seit Cicero heißt. Das Ergebnis war durchaus nicht überraschend – wurde aber von mir als ein nachdrücklicher Hinweis darauf verstanden, daß der Be228 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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reich Kulturphilosophie/Kulturtheorie, den ich hier vertretungsweise zu bedienen habe – zunächst nicht der Bereich ist, der die Studierenden am meisten interessiert: Sie kommen, wenn ich richtig sehe – mehrheitlich – nicht von einem Interesse an Kulturphilosophie und -theorie hierher, sondern aus eher ästhetischen Interessen. Eine andere Fragestellung dieser kleinen Befragung aber war noch aufschlußreicher: die Frage nach den Berufszielen der Studierenden: Hier ergab sich ein eindeutiges Bild: public relations, Kulturmanagement, Journalismus und also alles Berufe, die man eigentlich nur schwerlich – und früher gar nicht – studieren kann resp. konnte. Diese Berufsziele jedenfalls laufen alle auf einen bestimmten Zielkorridor hinaus, der dem Institut für Kulturwissenschaften – und damit nicht nur dem Studium, sondern auch gleich dem Begriff ›Kulturwissenschaften‹ – einen ganz bestimmten Begriffssinn gibt, den man vielleicht so bezeichnen könnte: ›Kulturwissenschaften‹ ist zunächst ein bloßer Sammelname für ein zumeist doch eher berufsorientiertes Studium, das zu einer Beschäftigung im Kultur- und Medienbereich, teils mehr publizistischer oder mehr organisatorischer Art führen soll. Daraus ergibt sich für den Bereich der Kulturphilosophie das Problem: | Wie richtet man ein solches Studium ein, wenn es denn darum zu tun ist, Kulturmanager auszubilden? Aber ein ähnliches Problem haben auch die anderen Bereiche zu lösen: Denn allenfalls der Studienteil ›kulturelle Praxis‹, in dem betriebswirtschaftliche Kenntnisse und allgemeiner: ökonomische Kenntnisse vermittelt werden sollen, zeigt von sich aus schon eine Nähe zur ›Praxis‹. ›Controlling‹ 488 ist zweifellos etwas ungemein Praktisches. Aber Kulturgeschichte und Kultursoziologie? Kulturphilosophie? – Diese drei Studienteile können offenbar nicht in gleicher Weise – und nicht in gleichem Sinne – qualifizieren für eine Tätigkeit im Management oder ähnliche Berufe. Und damit sind wir wieder beim Problem 1, bei der Frage: Wie richtet man ein solches Studium am besten ein, wenn es denn darum zu tun 488

›Controlling‹] ›Kontroling‹

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ist, Kulturmanager auszubilden? Die will ich nicht bloß mit einem Hinweis auf die Studienordnung beantworten, sondern ich glaube, man kann sagen: Durch ein viergleisiges Studium, bei dem auch soziologische, auch historische und auch philosophische Kenntnisse vermittelt werden sollen. Und zwar so, daß eine Kompetenz, ein Urteilsvermögen über den kulturellen Sektor als Ganzen 489 geschaffen wird. Diese Teile können nicht in einem zielgerichteten, sondern nur in einem eher indirekten Sinne zur Ausbildung und Qualifizierung beitragen. Das aber heißt für den Studienteil Kulturphilosophie: Für die Kulturphilosophie und -theorie wird der jeweilige Lehrstuhlinhaber zu werben haben – und er wird deshalb Kulturphilosophie und -theorie erst mit einem eigenen Profil zu versehen haben. Und zwar so, daß dieser Studienteil sich einerseits für die Studierenden mit den übrigen Lehrinhalten verbindet und inhaltlich etwas Sinnvolles zum Ganzen beiträgt; – dies durchaus auch mit Hinblick auf die späteren Berufsziele – und andererseits etwas ganz Eigenes beiträgt, das die Lehre – und womöglich auch eigene Forschungen – in der Kulturphilosophie und -theorie rechtfertigt. Und damit meine ich weder ›höheres‹ Feuilleton, noch anderweitig abgesenkte Kulturdebatten und -kritik, also nichts Modisches – ebensowenig wie ein schmalspuriges Philosophie-Nebenfachstudium. Aber das ist garnicht so einfach, denn was Kulturphilosophie ist, was sie soll und will, was überhaupt damit bezeichnet sein soll, ist keineswegs klar, eindeutig und nachlesbar – und lehrbar, wie dieser Begriff zunächst suggerieren könnte. 490 ›Kulturphilosophie‹ – der Begriff ist noch nichtmal hundert Jahre alt – bezeichnet ganz verschiedene Zugriffsweisen – der Philosophie, etwa seit der Jahrhundertwende – auf das, was man ›Kultur‹ nennt:

Ganzen] Ganze könnte.] danach ein waagerechter Strich quer über die Seite, am oberen Rand Notiz: und dann hier überarbeiten … Cassirer-Zitat als Eröffnung; bezieht sich auf die Umarbeitungen für die Wiederholung im WS 1998/99, s. d. 489 490

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1. zuerst die Versuche, die ganze kulturelle Entwicklung, die ganze Menschheitsgeschichte – und in diesem Sinne Kulturgeschichte als Geschichte von Kultivierung und Höherentwicklung – in einer einheitlichen Theorie zusammenfassen. – Das ist der älteste, aber heute wohl nicht mehr gangbare Weg, ein Weg der sich aus der universellen Kulturgeschichte (als Menschheitsgeschichte) ergeben hat, 491 und im ausgehenden 19. Jahrhundert sich meist durch Charles Darwin inspiriert zeigt: Menschwerdung des Affen – lautet dies Konzept. 2. Oder aber – im Gegensatz zu diesem historisch-genetischen Ansatz – versteht man unter ›Kulturphilosophie‹ auch: - ein Philosophieren nicht über die Kultur als Ganze, sondern lediglich über bestimmte kulturelle Sachverhalte: entweder phänomenologisch und sinndeutend – oder kulturkritisch, also: - entweder im Sinn von z. B. Philosophie der Mode, Philosophie des Schauspielers, Philosophie des Geldes – alles Titel von Schriften und Büchern Georg Simmels, der – neben Walter Benjamin – der bedeutendste Vertreter dieser Auffassung von Kulturphilosophie ist. - oder aber als ›Kulturkritik‹, die es heute ebenfalls auszuzeichnen pflegt, spezielle Aspekte herauszugreifen und an ihnen Fehlentwicklungen zu | exemplifizieren: Untergang des Abendlandes, Unbehagen in der Kultur, affirmativer Charakter der Kultur usw., usf. Man sollte für diese zweite Auffassung von ›Kulturphilosophie‹ vielleicht besser sagen: Philosophie und Phänomenologie der Kultur resp. Kulturkritik – statt ›Kulturphilosophie‹, denn das Kompositum suggeriert doch eine eher einheitliche ›Theorie der Kultur‹, die hier ja garnicht gemeint ist. 3. Ganz deutlich anderen Charakter trägt die dritte Auffassung von ›Kulturphilosophie‹ : - Kulturphilosophie als ›Kulturtheorie‹ – und zwar als systematische Theorie, die die Kulturalität des Menschen als solche – und die einzelnen Teilgebiete in ihren Beziehungen zueinander und in ihren Bedeutungen zu erfassen sucht. Diese Auffassung von der Aufgabe der ›Kulturphilosophie‹ 492 wird uns in diesem Semester beschäftigen: 491 492

hat,] am Rd. Verweis mit Pfeil auf: Johann Gottfried Herder der bekannteste ›Kulturphilosophie‹] ›Kulturgeschichte‹

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– die Theorien des objektiven Geistes von Lazarus, Simmel, Dilthey, Freyer und Cassirer. 493 Das sind also die drei wesentlichen Ansätze und Typen von ›Kulturphilosophie‹ als: 1. Entwicklungstheorie – und als ein 2. Philosophieren über kulturelle Einzelerscheinungen. Davon ist diese dritte, die systematische Theoriebildung gänzlich verschieden: denn sie ist weder eine Entwicklungstheorie, noch beschränkt sie sich auf kulturelle Teilaspekte oder Teilsysteme von »Kultur«. Und damit sind wir beim eigentlichen Thema, bei dem, was wir in diesem Semester an Texten lesen und bearbeiten wollen: ›Kulturphilosophie‹, die nicht nur die ›höhere‹ Kultur, Kunst Literatur und Wissenschaften zu ihrem Thema hat, sondern auch alle weiteren Artefakte, Manifestationen, Objektivationen oder Produkte des Geistes, d. h. menschlicher Arbeit umfaßt: den objektiven Geist. Das nämlich heißt auch: die materielle und die technische Kultur, also: Institutionen und Einrichtungen, kulturelle Gegebenheiten und Formen aller Art, die nicht weniger zur ›Kultur‹ – in diesem Sinne – gehören als es die Dichtung, als es Konzerte und die Wissenschaften tun. Was durchaus nicht polemisch gemeint ist, | – und schon die Theoretiker des objektiven Geistes haben es nicht polemisch gemeint. Denn ihnen 494 schwebte im Gegensatz zum exklusiv deutschen Begriff von Kultur im Sinne von ›höherer Geistestätigkeit‹ – eher der französisch-englische Begriff ›Civilisation‹ vor. Man kann sagen: ›Kultur‹ im Sinne der systematischen ›Kulturphilosophie‹ und ›Kulturtheorie‹ meint immer ›Theorie der Zivilisation‹. Wenn wir also von ›Kulturwissenschaften‹ und ›Kulturphilosophie‹ sprechen, dann muß klar sein, daß wir nicht nur und nichtmal in erster Linie Opernhaus und Literaturnobelpreis meinen, sondern genauso auch:

493 Lazarus … Cassirer.] die Namen Lazarus, Simmel, Cassirer hs. unterstrichen, Dilthey, Freyer gestrichen. 494 ihnen] Ihnen

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- Mickey Mouse, Werbebroschüren, Flugblätter und Schallplatten – und also die ganze Popularkultur - weiterhin alles das, was zur ›Kultur des modernen Lebens‹ oder des Lebens überhaupt gehört – also auch die Lebensweisen und Lebensstile und alles, was an Gegenständen, Umgangsformen und Mentalitäten mit ihnen einhergeht und dazugehört. - schließlich alle Einrichtungen und Gegebenheiten, die zum ›Prozeß der Zivilisation‹ gehören oder beigetragen haben. – Denn all dies gehört unter den Begriff des ›objektiven Geistes‹. Der Begriff ›objektiver Geist‹ erinnert zunächst an Hegel: Subjektiver – objektiver – und – absoluter Geist, diese Stufen dialektischer Bewegung und von Aufhebungen macht das Selbstbewußtsein des Menschen und der Menschheitsentwicklung durch: Vom subjektiven oder individuellen Geist ausgehend, durch die praktische Sphäre hindurch – d. i. hier der ›objektive Geist‹ – schließlich zu den höheren Sphären der Kunst, Wissenschaft und Religion: dem absoluten Geist. Das aber ist nicht unser Thema. Denn diese Konzeption ist – wie man auf den ersten Blick erkennt – hierarchisch. Sie ordnet den höheren Sphären der Kunst, Wissenschaft und Religion die eigentlich praktisch-gesellschaftliche Sphäre einfach nur unter und betrachtet diese als ein bloßes Durchgangsstadium der Entwicklung zu einem höheren Ziel hin: Alles – alle Entwicklung der Vernunft – läuft auf jene höchsten Höhen des 495 absoluten Geistes hinaus und wird von diesen 496 angezielt, wo die Vernunft – im hegelschen Sinne – schließlich alles im Geist auffaßt und umfaßt. Und zwar gemäß einer dialektischen Bewegung in jeweiligen Aufhebungen, – was heißt: sowohl auf die höhere Stufe hebend, als auch: als solche vernichten und | ihm eine ganz andere Gestalt geben. In dieser dialektischen Bewegung wird dem rein Geistigen schließlich die höchste Wertigkeit eingeräumt. Das ist also nicht unser Thema, weil der Hegelsche Begriff des ›objektiven Geistes‹ nicht die phänomenale Vielfalt von Lebenswelt und Lebensweise der Menschen zum Thema macht. Es handelt sich bei Hegel nur um dasselbe Wort.

495 496

des] der diesen] Bezug unklar

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Denn wenn Moritz Lazarus, Georg Simmel, Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer Theorien des objektiven Geistes formuliert haben, – dann gibt es bei all diesen nicht nur keinen ›absoluten Geist‹ im Hegelschen Sinne, in dem alle Subjektivität und praktisches Leben – alle Zivilisation – aufgehoben wäre. Sondern es gibt auch keine zielende – teleologische – und keine bewertende Hierarchie, kein Auslaufen in einen ›absoluten Geist‹ und keine wertmäßige Orientierung auf die ›höhere Kultur‹ hin. Stattdessen aber Zivilisation, materielle und technische Kultur, – und eben deshalb sogar Hand- und Maschinenarbeit. Die Geschichte der Theorien des ›objektiven Geistes‹ beginnt mit Moritz Lazarus, in zwei Texten von 1862 und 1865, die ich hier interpretieren 497 möchte: ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ und ›Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie‹. Von diesen Texten und dieser Theorie – die heute nahezu völlig unbekannt ist – sind mehrfache Anregungen zur weiteren Ausführung ausgegangen: - auf Georg Simmel, der ein direkter Schüler von Moritz Lazarus war - auf Wilhelm Dilthey, der noch zur Abfassungszeit von Lazarus’ Text – und in den Jahren zuvor – ein enger Freund von Lazarus gewesen ist - auf Hans Freyer, der wiederum ein Schüler Diltheys (und Simmels) war, und der eigens ein Buch mit dem Titel ›Theorie des objektiven Geistes‹ verfaßt hat, das den Untertitel trägt: ›Eine Einleitung in die Kulturphilosophie‹, zuerst 1923 erschienen. - schließlich auf Ernst Cassirer, der nicht nur bei Simmel studierte, sondern auch in der letzten Phase seiner philosophischen Entwicklung, im Göteborger und amerikanischen Exil, sich verstärkt an Simmel angelehnt hat. – Und das in Schriften, die z. T. jetzt erst veröffentlicht werden, in einer zwanzigbändigen Nachlaßausgabe, – woraus ein Stück über die Struktur der Kulturwissenschaften, das noch nicht | gedruckt ist und an dem ich gerade arbeite, auch hier zum Thema gemacht werden soll. Es handelt sich bei unserem Thema also um eine insofern geschlossene Tradition: durch personelle Verbindungen, zumal Lehrer-Schü-

497

interpretieren] danach gestr.: – und in der Übung in Auszügen mit Ihnen lesen

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ler-Verhältnisse, – die aber als solche fast alle kaum bekannt sind, – was freilich nicht nur einen, sondern ganz verschiedene Gründe hat. Zuerst den, daß Moritz Lazarus heute völlig unbekannt ist, der Jude, Mitbegründer für die Hochschule der Wissenschaft des Judentums zu Berlin, der seit 1851 eine eigene Wissenschaft zu begründen unternahm, die sog. ›Völkerpsychologie‹, – heute – oder schon seit Durkheim – sagt man ›Sozialpsychologie‹. Und das sind eigentlich schon drei Gründe dafür, daß er heute nicht mehr bekannt ist: - daß er Jude war - daß er es nicht in der Defensive, sondern auch in öffentlichen Ämtern war, was ihn akademisch ins Abseits stellte, und - daß er – vor der Zeit – eine Wissenschaft zu begründen suchte, die später in Sozialpsychologie und in Soziologie mündete: ein bis zwei Generationen später. Ich werde darauf noch näher zurückkommen. Soweit erste Informationen zum Lektüreplan – teils für die Vorlesung, teils für die begleitende Übung. Bis morgen schon bitte ich den kleinen Text von Lazarus über ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ zu lesen – weil letztlich von ihm, 1862 geschrieben, alle Theorien des objektiven Geistes ihren Ausgang genommen haben. Aber auch seine eigene kündigt sich hier erstmals an. 498 In dieser Vorlesung geht es aber nicht nur um die historische Kenntnis dieser Texte und dieser Theorietradition, sondern um die Sache: das heißt: um die Struktur des objektiven Geistes, d. h. auch der Kulturwissenschaften. Aber die erste Frage ist erstmal die: Wie entsteht objektiver Geist? Und genau darauf antwortet Lazarus mit seinem Theorem von der ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹. Hierauf bauen dann die weiteren Fragen auf, vor allem die systematische Haupt-Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der kulturellen Erscheinungen. |

498 Und … an.] zwei Absätze gestr.; Streichung für die vorliegende Edition zurückgenommen

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Diese Fragestellung ist erklärungsbedürftig, denn ›Bedingungen der Möglichkeit‹ – das klingt zunächst fremd – und beinhaltet eine gewisse Doppeldeutigkeit: - einerseits könnte man es verstehen wollen im Sinne einer Ermöglichung von etwas – - andererseits aber wird nach den Bedingungen (der Möglichkeit) von etwas gefragt, das bereits besteht. - Also nach den wirklichen – und nicht nur möglichen – - den realen – Bedingungen des Bestehens wird auch gefragt. Und um dieses Letztere vor allem geht es: Wie war – und wie ist das möglich, was besteht. – Gemeint sind kulturelle Erscheinungen, Gegebenheiten und Einrichtungen, also eben jene Erscheinungen des ›objektiven Geistes‹ : ein Begriff, den wir noch sehr genau zu bestimmen haben werden. Vorerst nur soviel: Wir können z. B. nach den Bedingungen der Möglichkeit von Theater fragen: Wie ist Theater überhaupt möglich? – d. h. welches sind die Bedingungen der Möglichkeit – anders gesagt: die Voraussetzungen – dafür und davon, daß Theater stattfindet? Und das heißt und beinhaltet mehrerlei: - Was braucht man, um Theater zu machen? aber auch: - Warum überhaupt wird Theater gemacht?, d. h. welche Interessen geben sich darin Ausdruck, daß Theater gemacht wird? – Und noch weiter ist zu fragen: Was läßt sich daraus über den Menschen als solchen, – was über unsere oder eine bestimmte andere Kultur erkennen, aus dieser bloßen Tatsache, daß Theater gemacht wird. - Was also bedeutet es, daß Theater gemacht wird? – Oder z. B.: - Daß es entsprechende Baulichkeiten gibt? - Daß es Schauspieler gibt, andere Berufe – und ein ganzes System von Agenten, die damit befaßt sind? Sie sehen vielleicht, diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit hat, | resp. zieht einige zunächst vielleicht kaum geahnte Konsequenzen und weitere Fragen nach sich, denn sie ist: 236 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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1. eine Frage, die keiner der bisherigen Wissenschaften direkt zugehört oder ihr eindeutig zuzuordnen wäre. Sie ist es jedenfalls nicht in diesem umfassenden intendierten Fragesinn. 2. Und das deshalb, weil sie eine Frage ist, die auf vielfältigste Bedingungen abzielt, nämlich z. B. - anthropologische Voraussetzungen: z. B. das mimetische oder nachahmende Wesen des Menschen – der Mensch kann vieles nur deshalb, er lernt und versteht vieles und Andere nur, indem er oder andere stellvertretend für ihn nachahmen und so ›etwas gezeigt‹ wird – ihm wie auch anderen. Was bedeutet »Katharsis«, was diese Reinigung der Seele von Leidenschaften, Konflikten und Spannungen – was für den antiken Menschen – was für den modernen? Aber 499 auch vielfältige soziale Voraussetzungen gehen in die Tatsache Theater ein: eine gewisse Arbeitsteilung, vielleicht auch die Trennung von Arbeit und Freizeit überhaupt, – die Tatsache, daß der Mensch die meiste Zeit, oder doch einen Großteil seiner Zeit – unter mehr oder minder entfremdeten Bedingungen zubringt: Theater als Abreaktion, als Aufhebung und Wiedergewinnung des eigenen Selbst – daran kann man denken, wenn nach den Bedingungen der Möglichkeit von Theater gefragt wird. Das wären dann die sozusagen theatersoziologischen – Fragen eines Teilgebietes der Kunstsoziologie also. Aber es sind andererseits auch dezidiert ›kulturkritische‹ Fragen, die sich so ergeben. Und wir gehen weiter in das konkrete, jetzt tatsächlich stattfindende Theater – in diese Aufführung – alle möglichen historischen wie aktuellen Voraussetzungen gehen hier ein – d. h. indem nicht erstmals Theater gespielt wird, stellt sich jedes jetzt stattfindende Spiel in eine, in die Reihe und Entwicklung des Theaterspielens wie auch die des Rezipierens ein, so daß auch die ganzen historischen-literarhistorischen Voraussetzungen damit in den Blick geraten. – Natürlich damit ebenso auch noch die ökonomischen Voraussetzungen heutigen Theaters – oder die kulturpolitischen usw. usf. 3. Es handelt sich also um eine Frage, die überhaupt nur zu beantworten ist, wenn man sich völlig von jeglicher wissenschaftlicher Dis-

499

Aber] am Rd. markiert mit ▶

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ziplinbegrenzung fernhält. Und das gibt dieser – solchen Fragen überhaupt – einen durchaus subversiven Sinn: indem sie sich nicht damit begnügen, daß ein kulturelles Phänomen da ist, sondern gefragt wird – nach seinen Voraussetzungen in diesem umfassenden Sinne, was dann, wenn diese einmal klargelegt sind – | allemal auch kritischen Sinn produziert: - Ist Theater, ist Kunst (und Kultur in diesem Sinne) etwas, was alle Menschen (einer bestimmten Kultur jedenfalls) angeht oder angehen müßte? Entspricht das jetzige, entsprechen die Vielzahl der jetzt existierenden Bühnen und freien Theatergruppen diesem – menschlichen Bedürfnis – und diesem mimetischen Wesen des Menschen? - Die Staatstheater? Oder viel mehr und besser die Jugend- und Laien-Theater? Schüleraufführungen? – Ich glaube, man muß diese Fragen nur einmal anreißen, um zu sehen, ein wie weitreichendes Feld der Überlegungen und auch wissenschaftlich zu erhebenden Fragestellungen sich an eine so einfache Frage, wie der nach den Bedingungen der Möglichkeit des Theaters anschließen lassen. Das jedenfalls dürfte klar geworden sein, daß es sich mindestens um eine Frage handelt, die faktisch unmittelbar alle diejenigen angeht, die z. B. Theater machen, machen wollen oder auch managen wollen. Und damit kehrt die Doppeldeutigkeit der Frage nach der Möglichkeit wieder zurück: denn sowohl die, die Theater machen, müssen die eine oder andere Antwort parat haben, zumindest dann, wenn sie der öffentliche Geldgeber resp. die Kulturpolitik nach ihrer Existenzberechtigung fragt – aber genauso müssen sich auch diejenigen solche Gedanken machen, die erst anfangen und planen, um etwas auszuführen: auch sie müssen wissen, welches sind die Voraussetzungen, die ich für die Veranstaltung ›Theater‹ schaffen muß. Ich habe absichtlich hier zunächst ein ganz unschuldiges und unverfängliches Beispiel gewählt – denn: was wäre, wenn wir fragten: - wie ist ›Frau im Spiegel‹, wie ist Lady Diana, die ganze Yellow-Press überhaupt möglich? - wie ist Kulturpolitik möglich? - wie ist Geschichte möglich? - wie ist Kulturwissenschaft oder Kulturphilosophie überhaupt möglich? – Oder auch:

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- wie ist Demokratie überhaupt möglich? – eine Frage, die Herrn Gerhards 500 als Beispiel einfiel. Oder auch: - Wie ist Gesellschaft möglich? - Wie ist Metaphysik als Wissenschaft überhaupt möglich? – D. h. wie ist wissenschaftlich begründete Weltanschauung überhaupt möglich? | Das sollte ein Scherz sein, denn diese letzten Fragen haben bereits Antwort gefunden: Wie ist Gesellschaft möglich? fragte Georg Simmel in seiner ›Soziologie‹, um die Soziologie als Wissenschaft grundzulegen – später hat Niklas Luhmann sehr ähnlich gefragt. Nach den Bedingungen der Möglichkeit der ›Metaphysik als Wissenschaft‹ fragte bekanntlich Kant 1783 in seinen ›Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können‹ – und hier stellte er einige weitere gleichlautende Fragen, so nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori, der reinen Mathematik, Naturwissenschaft etc. Ich erwähne das eigentlich auch nur, damit Sie nicht befürchten müssen, ich hätte mir das Alles nur ausgedacht. Nein, es ist – oder wäre – mit dieser Frage – und mit diesem Fragetypus überhaupt – ein eigenes Ziel und eine selbstständige Fragestellung für die Kulturwissenschaften formuliert, wenn denn Kulturwissenschaft nicht eine bloß partielle Doppelung der einzelnen anderen ›Kulturwissenschaften‹ bedeuten soll: der Theaterwissenschaft oder Theatergeschichte, der Germanistik und anderer Philologien, Soziologien und zumal der Philosophie. Wenn sie kein bloßes Sammelsurium aller möglichen geisteswissenschaftlichen Themen sein soll. ›Kulturwissenschaft‹ – zumindest aber die ›Kulturphilosophie‹ – wäre dann eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich dadurch von anderen unterscheidet, daß sie nach den Voraussetzungen von kulturellen Tatbeständen (oder Projektiertem) fragt: nach den Bedingungen der Möglichkeit:

500 Herrn Gerhards] Jürgen Gerhards, zur Zeit der Abfassung des Ms. Prof. für Kultursoziologie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.

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- einerseits angesichts des Existenten: allgemeinen Voraussetzungen - andererseits bei Projektiertem: nach der Ermöglichung von etwas, das wir erreichen oder verwirklichen wollen. 501 Das wichtigste aber kommt immer zum Schluß: Zwischen Mensch und Natur wuchs auf und wucherte seit dem 19. Jahrhundert eine ›zweite Natur‹, die Kultur oder der ›objektive Geist‹ im modernen Sinne. Der Mensch sah sich nicht mehr so sehr der Natur gegenüber, mit ihr im Kampf, von ihr lebend und sie als sein Lebenselixier begreifend – wie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein – irgendwann im 19. Jahrhundert sah er sich vor allem der ›zweiten Natur‹, dem ›objektiven Geist‹ gegenüberstehen, d. h. der Kultur und Gesellschaft, der gesellschaftlichen Welt, d. h. den vom Menschen selbst geschaffenen Bedingungen, die weitaus wichtiger und bedeutsamer schienen als die alte Natur. Daraus erklärt sich der moderne Kulturbegriff – er ist nicht mehr Gegenbegriff zur Natur, es geht also nicht mehr um Kultivierung, Ackerpflege etc. – sondern Kultur ist Inbegriff der vom Menschen selbst geschaffenen zweiten Natur, seiner Lebenswelt und Lebensweise: all dem, was im Begriff des objektiven Geistes steckt. Dieser Wandel im Selbstverständnis des Menschen: – nicht mehr der Natur sondern: der Kultur gegenüberzustehen ist der Grund dafür, daß wir zwei grundsätzlich verschiedene Kulturbegriffe haben: - den alten, der Kultivierung meint, Kultivierung des bloß natürlichen - und demgegenüber den Neuen, der rein deskriptiv unsere selbstgeschaffene Lebenswelt, die zweite Natur bezeichnet.

501 wollen.] danach ein Absatz gestr.: Das mag für heute, zur ersten Orientierung, genügen. Die nächsten Vorlesungen behandeln zunächst in der historischen Reihenfolge: Lazarus, Simmel, Cassirer. Dann folgen: Dilthey, Freyer – und vielleicht noch: Gehlen. Die Texte habe ich ja im kommentierten Vorlesungsverzeichnis angegeben.

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Damit befassen wir uns – also nicht mit einer bloßen Begriffs- und Theoriegeschichte, sondern in diesen reflektiert sich der Wandel des Selbstverständnisses des Menschen im Übergang zur Moderne. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. | Wichtigste Texte – in Auszügen aus: Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. (zuerst 1940) Ernst Cassirer: Die ›Tragödie der Kultur‹. – Die Struktur der Kulturwissenschaften. Ms. 502 Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. 2. durchges[ehene] u. teilw[eise] veränd[erte] Aufl. Leipzig/Berlin: Teubner 1928. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (= Dilthey: Gesammelte Schriften 7). (zuerst 1910) Georg Simmel: Philosophie des Geldes. (zuerst 1900) Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Das individuelle Gesetz. Hg. u. eingel[eitet] v. Michael Landmann. Frankfurt 1987. S. 116–147. (zuerst 1911) Moritz Lazarus: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3/1865. S. 1–94. Moritz Lazarus: Verdichtung des Denkens in der Geschichte. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2/1862. S. 54–62. Aron Bernstein: Ein alltägliches Gespräch. In: Ders.: Naturkraft und Geisteswalten. Betrachtungen über Natur- und Geisteswalten. Betrachtungen über Natur- und Kultur-Leben. Berlin 1874. S. 90–110. (zuerst 1861) Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Cicero: De natura deorum/Vom Wesen der Götter.

502

Ms.] vgl. Ernst Cassirer Nachlassausgabe Bd. 2, 4. Kapitel.

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Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff

1. Vorlesung: 503 »Von all den einzelnen Gebieten, die wir innerhalb der systematischen Grenzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen, bildet die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten umstrittene Gebiet. Selbst ihr Begriff ist noch keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt. Hier fehlt es nicht nur an festen und anerkannten Lösungen der Grundprobleme; es fehlt vielmehr schon an der Verständigung darüber, was sich innerhalb dieses Kreises mit Sinn und Recht fragen läßt. 504 Diese eigentümliche Unsicherheit hängt damit zusammen, daß die Kulturphilosophie die jüngste unter den philosophischen Disziplinen ist, und das sie nicht, gleich ihnen, auf eine gesicherte Tradition, auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurückblicken kann.« 505 Das sagte Ernst Cassirer im Jahre 1939 506 – und daran hat sich in den vergangenen 60 Jahren fast nichts geändert – fast nichts, denn wenn wir heute an Cassirer anknüpfen können, und wenn wir seine unmittelbaren Vorgänger hinzuziehen können, dann haben wir doch inzwischen so etwas wie eine Tradition. Und um diese Tradition soll es in dieser Vorlesung gehen: Moritz Lazarus – Georg Simmel – Logos – Ernst Cassirer – das sind unsere Hauptfiguren, unsere Klassiker. ›Kulturphilosophie‹ – der Begriff ist gerade einmal hundert Jahre alt – bezeichnet ganz verschiedene Zugriffsweisen – der Philosophie, insbesondere seit der Jahrhundertwende – auf das, was man so ›Kultur‹ nennt: - zuerst die Versuche, die ganze kulturelle Entwicklung, die ganze Menschheitsgeschichte – und in diesem Sinne Kulturgeschichte als Geschichte von Kultivierung und Höherentwicklung – in einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen. – Das ist der älteste, aber heute wohl nicht mehr gangbare Weg, ein Weg, der sich aus der universellen Kulturgeschichte (als Menschheitsgeschichte) wie im Falle Johann Gottfried Herders ergeben hat, 1. Vorlesung:] darüber: #; am Rd.: Kuphi 1 (40 Minuten Hörsaal 16 voll + Treppe). D. i. die Umarbeitung für das WS 1998/99. 504 »Von … läßt.] in eckigen Klammern, am Rd. angestrichen, daneben hs.: Ziel der Vorl[esung] – Tradition stiften – Fragen herausarbeiten 505 kann.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. … S. 231. 506 1939] mit grünem Textmarker hervorgehoben 503

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oder im ausgehenden 19. Jahrhundert sich meist durch Charles Darwin inspiriert zeigt: Menschwerdung des Affen – lautet dann das Konzept. Oder aber zweitens – im Gegensatz zu diesem historisch-genetischen Ansatz – versteht man unter ›Kulturphilosophie‹ auch: - ein Philosophieren nicht über die Kultur als Ganze, sondern lediglich über bestimmte kulturelle Sachverhalte: | entweder phänomenologisch und sinndeutend – oder kulturkritisch, also: - entweder im Sinne z. B. einer Philosophie der Mode, Philosophie des Schauspielers, Philosophie der Liebe 507 – alles Titel von Schriften Georg Simmels, der – neben Walter Benjamin – der wohl bedeutendste Vertreter dieser Auffassung von Kulturphilosophie ist. - oder aber als ›Kulturkritik‹, die es seit je auszuzeichnen pflegt, spezielle Aspekte herauszugreifen und an ihnen Fehentwicklungen der Kultur zu exemplifizieren: Untergang des Abendlandes, Unbehagen in der Kultur, affirmativer Charakter der Kultur – Oswald Spengler, Sigmund Freud, Herbert Marcuse. Man sollte für diese zweite Auffassung von ›Kulturphilosophie‹ vielleicht besser sagen: Philosophie der Kultur resp. Kulturkritik – statt ›Kulturphilosophie‹, denn das Kompositum suggeriert doch eine eher einheitliche ›Theorie der Kultur‹, die in diesen Fällen ja garnicht gemeint ist. Ganz deutlich anderen Charakter trägt die dritte Auffassung von ›Kulturphilosophie‹ : - ›Kulturphilosophie‹ als ›Kulturtheorie‹ – und zwar als systematische Theorie, die die Kulturalität des Menschen als solche – und die einzelnen kulturellen Teilgebiete in Beziehungen zueinander und in ihren Bedeutungen zu erfassen sucht. Diese Auffassung von der Aufgabe der ›Kulturphilosophie‹ 508 wird uns in diesem Semester beschäftigen: - die Theorien des objektiven Geistes von Lazarus, Simmel, Dilthey, Freyer 509 und Cassirer. 510 507 508 509 510

Philosophie der Liebe] statt gestr.: Philosophie des Geldes ›Kulturphilosophie‹] ›Kulturgeschichte‹ Dilthey, Freyer] hs. in eckige Klammern gesetzt, am Rd.: nicht WS 98/99! Cassirer.] danach ein Absatz gestr.: Das sind also die drei wesentlichen Ansätze

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Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff

Und damit sind wir beim eigentlichen Thema, bei dem, was wir in diesem Semester an Texten lesen und bearbeiten wollen: ›Kulturphilosophien‹, die nicht nur die ›höhere‹ Kultur, Kunst, Literatur und Wissenschaften zu ihrem Thema haben, sondern auch alle weiteren Artefakte, Manifestationen, Objektivationen oder Produkte des | Geistes, d. h. immer auch menschlicher Arbeit umfassen: den objektiven Geist. Der nämlich meint und umfaßt auch: die materielle, die staatliche-»gesellschaftliche« und die technische Kultur, also: Institutionen und Einrichtungen, kulturelle Gegebenheiten und Formen aller Art, die nicht weniger zur ›Kultur‹ – in diesem Sinne – gehören als es die Dichtung, als es Konzerte und die Wissenschaften tun. – Was durchaus nicht polemisch gemeint ist, – und schon die Theoretiker des objektiven Geistes haben es nicht polemisch gemeint. Denn Ihnen schwebte im Gegensatz zum exklusiv deutschen Begriff von Kultur im Sinne von ›höherer Geistestätigkeit‹ – eher der französisch-englische Begriff ›Civilisation‹ vor. Man kann sagen: ›Kultur‹ im Sinne der systematischen ›Kulturphilosophie‹ und ›Kulturtheorie‹ meint immer ›Theorie der Zivilisation‹. Theorie der Moderne. 511 Wenn wir also von ›Kulturwissenschaften‹ und ›Kulturphilosophie‹ sprechen, dann muß klar sein, daß wir nicht nur und nichtmal in erster Linie Opernhaus und Literaturnobelpreis meinen, sondern genauso auch: - Mickey Mouse, Werbebroschüren, Flugblätter und Schallplatten – und also die ganze Popularkultur - weiterhin alles das, was zur ›Kultur des modernen Lebens‹ oder des Lebens überhaupt gehört – also auch die Lebenswelten und Lebensstile und alles, was am Gegenständen, Umgangsformen und Mentalitäten mit ihnen einhergeht und dazugehört.

und Typen von ›Kulturphilosophie‹ als: 1. Entwicklungstheorie – und als ein 2. Philosophieren über kulturelle Einzelerscheinungen. Davon ist diese dritte, die systematische Theoriebildung gänzlich verschieden: denn sie ist weder eine Entwicklungstheorie, noch beschränkt sie sich auf kulturelle Teilaspekte oder Teilsysteme von »Kultur«. 511 Theorie der Moderne.] hs. hinzugefügt

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- schließlich alle Einrichtungen und Gegebenheiten, die zum ›Prozeß der Zivilisation‹ gehören oder beigetragen haben. – denn all dies gehört unter den Begriff des ›objektiven Geistes‹. Damit beschäftigt man sich seit dem 19. Jahrhundert zunehmend – unter vielerlei Namen und Titeln von Wissenschaften … Und das kam so: 512 Zwischen Mensch und Natur wuchs und auf wucherte seit dem 19. Jahrhundert eine ›zweite Natur‹, die Kultur, die Gesellschaft oder der ›objektive Geist‹ im modernen Sinne. Der Mensch sah sich nicht mehr so sehr der Natur gegenüber, mit ihr im Kampf, von ihr lebend und sie als sein Lebenselixier begreifend – wie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein – irgendwann im 19. Jahrhundert sah er sich vor allem der ›zweiten Natur‹, dem ›objektiven Geist‹ gegenüberstehen, d. h. der Kultur und Gesellschaft, der gesellschaftlichen Welt – und d. h. den vom Menschen selbst geschaffenen Bedingungen, die inzwischen weitaus wichtiger und bedeutsamer schienen als die alte Natur. Daraus erklärt sich der moderne Kulturbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften – er ist nicht mehr Gegenbegriff zur Natur, es geht also nicht mehr um Kultivierung, Ackerpflege etc. – sondern Kultur ist Inbegriff der vom Menschen selbst geschaffenen zweiten Natur, seiner Lebenswelt und Lebensweise: von alledem, was im Begriff des objektiven Geistes steckt. 513 Dieser Wandel im Selbstverständnis des Menschen: - nicht mehr der Natur sondern: der Gesellschaft – der Kultur gegenüberzustehen ist der Grund dafür, daß wir zwei grundsätzlich verschiedene Kulturbegriffe haben: - den alten, der Kultivierung meint, Kultivierung des bloß Natürlichen, - und dem gegenüber den Neuen, der rein deskriptiv unsere selbstgeschaffene Lebenswelt, die zweite Natur bezeichnet. 514 Mit dieser zweiten Natur befassen wir uns – also nicht mit einer bloßen Begriffs- und Theoriegeschichte – denn in diesen beiden Ver512 so:] am Rd. des folgenden Absatzes unter hinweisendem Pfeil: Perspektivenänderung! am Fuß der S.: Kultur – Zwitterbegriff: cultura animi – Zivilisation natura altera 513 steckt.] daneben: Zivilisation; darunter, mit Einfügungshinweis: Freud Zukunft einer Illusion Zitat 514 bezeichnet.] daneben: Gesellschaft

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ständnissen von »Kultur« und ihrer Ablösung reflektiert sich der Wandel des Selbstverständnisses der Menschen im Übergang zur Moderne. Kulturphilosophie ist ein Begleiter dieses Überganges. Genauso auch: Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften, insbesondere Soziologie etc., sie alle fragen auf die eine oder andere Weise alle nach der selbstgeschaffenen Welt, die man als ›zweite Natur‹ oder eben zunächst als ›objektiven Geist‹ angesprochen hat. Der Begriff ›objektiver Geist‹ erinnert zwar zunächst an Hegel: Subjektiver – objektiver – und – absoluter Geist, diese Stufen dialektischer Bewegung und von Aufhebungen macht das Selbstbewußtsein des Menschen und der Menschheitsentwicklung durch: Vom subjektiven oder individuellen Geist ausgehend, durch die praktische Sphäre hindurch – d. i. hier der ›objektive Geist‹ – schließlich zu den höheren Sphären der Kunst, Wissenschaft und Religion: dem absoluten Geist. Das aber ist nicht unser Thema. Denn diese Konzeption ist – wie man auf den ersten Blick erkennt – hierarchisch. Sie ordnet den sog. »höheren« Sphären der Kunst, | Wissenschaft und Religion die eigentlich praktische Sphäre einfach nur unter und betrachtet diese als ein bloßes Durchgangsstadium der Entwicklung zu einem höheren Ziel hin: Alles – alle Entwicklung der Vernunft – läuft bei Hegel auf jene höchsten Höhen des absoluten Geistes hinaus und wird von diesen angezielt, wo die Vernunft – im Hegelschen Sinne – schließlich alles im Geiste auffaßt und umfaßt. 515 Das ist also nicht unser Thema, weil der Hegelsche Begriff des ›objektiven Geistes‹ nicht die phänomenale Vielfalt von Lebenswelt und Lebensweise der Menschen zum Thema macht. Es handelt sich bei Hegel nur um dasselbe Wort. Denn wenn Moritz Lazarus, Georg Simmel, Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer Theorien des objektiven Geistes resp. der ›zweiten Natur‹ formuliert haben, – dann gibt es bei all diesen nicht nur keinen ›absoluten Geist‹ im Hegelschen Sinne, in dem alle Subjektivität und 515 umfaßt.] danach gestr.: Und zwar gemäß einer dialektischen Bewegung in jeweiligen Aufhebungen, – was dreierlei heißt: sowohl auf die höhere Stufe hebend, als auch: als solche vernichten und ihm eine ganz andere Gestalt geben. In dieser dialektischen Bewegung wird dem rein geistigen schließlich die höchste Wertigkeit eingeräumt.

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praktisches Leben – alle Zivilisation – aufgehoben wäre. Sondern es gibt auch keine zielende – teleologische – und keine bewertende Hierarchie, kein Auslaufen in einen ›absoluten Geist‹ und keine wertmäßige Orientierung auf die ›höhere Kultur‹ hin. – Stattdessen aber Zivilisation, materielle und technische Kultur, – und eben deshalb sogar Hand- und Maschinenarbeit. Die Geschichte der Theorien des ›objektiven Geistes‹ beginnt mit Moritz Lazarus, in zwei Texten von 1862 und 1865, die ich in der Vorl[esung] interpretieren möchte: ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ und ›Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie‹. Von diesen Texten und dieser Theorie – die heute nahezu völlig unbekannt sind – sind mehrfache Anregungen zur weiteren Ausführung ausgegangen: - auf Georg Simmel, der ein direkter Schüler von Moritz Lazarus war - auf Wilhelm Dilthey, der noch zur Abfassungszeit von Lazarus’ Text – und in den Jahren zuvor – ein enger Freund von Lazarus gewesen ist - auf Hans Freyer, der wiederum ein Schüler Diltheys (und Simmels) war, und der eigens ein Buch mit dem Titel ›Theorie des objektiven Geistes‹ verfaßt hat, das | den Untertitel trägt: ›Eine Einleitung in die Kulturphilosophie‹, zuerst 1923 erschienen. - schließlich auf Ernst Cassirer, der nicht nur bei Simmel studierte, sondern auch in der letzten Phase seiner philosophischen Entwicklung, im Göteborger und amerikanischen Exil, sich verstärkt an Simmel angelehnt hat. – Und das in Schriften, die z. T. jetzt veröffentlicht werden, in einer zwanzigbändigen Nachlaßausgabe – woraus ein Stück, das noch nicht erschienen ist und an dem ich gerade arbeite, auch hier zum Thema gemacht werden soll. Es handelt sich bei unserem Thema also um eine insofern geschlossene Tradition: durch personelle Verbindungen, zumal Lehrer-SchülerVerhältnisse, – die aber als solche fast alle kaum bekannt sind, – was freilich nicht nur einen, sondern ganz verschiedene Gründe hat. Zuerst den, daß Moritz Lazarus heute völlig unbekannt ist, der Jude, Mitbegründer für die Hochschule der Wissenschaft des Judentums zu Berlin, der seit 1851 eine eigene Wissenschaft zu begründen unternahm, die sog. ›Völkerpsychologie‹, – heute – aber schon seit Durkheim – sagt man dafür ›Sozialpsychologie‹ – und der einer der Pioniere der Soziologie, Theorie der Moderne und eben auch der ›Kulturphilosophie‹ war. 247 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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In der Vorlesung geht es aber nicht so sehr um die historische Kenntnis dieser Texte und dieser Theorietradition, sondern vor allem um die Sache, das heißt: um die Struktur des objektiven Geistes, d. h. auch um die Struktur der Kulturwissenschaften. Und die erste Frage ist erstmal die: Wie entsteht objektiver Geist? Und genau darauf antwortet Lazarus mit seinem Theorem von der ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹. Hierauf bauen dann die weiteren Fragen auf, vor allem die systematische Haupt-Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der kulturellen Erscheinungen. Diese Art von Fragestellung ist erklärungsbedürftig, denn ›Bedingungen der Möglichkeit‹ – das klingt zunächst fremd – und beinhaltet durchaus eine gewisse Doppeldeutigkeit: - einerseits könnte man es verstehen wollen im Sinn einer Ermöglichung von etwas – andererseits aber wird nach den Bedingungen (der Möglichkeit) von etwas gefragt, das bereits besteht. | – Also nach den wirklichen – und keineswegs nur möglichen – sondern nach den realen resp. nicht 516 eigentlich »realen« – sondern idealen (gedanklich rekonstruierbaren) Bedingungen des Bestehens wird gefragt. Und genau um dieses Letztere geht es vor allem! Wie war – und wie ist das möglich, was da besteht? – Gemeint sind damit kulturelle Erscheinungen i. w. S., Gegebenheiten und Einrichtungen, also all jene Erscheinungen des »objektiven Geistes«: ein Begriff, den wir noch sehr genau zu bestimmen haben werden. – Vorerst nur soviel: Wir können z. B. nach den Bedingungen der Möglichkeit von Theater fragen: Wie ist Theater überhaupt möglich? 517 – d. h. welches sind die Bedingungen der Möglichkeit – anders gesagt: die Voraussetzungen – dafür und davon, daß Theaterspiel stattfindet? Und das heißt und beinhaltet mehrerlei: z. B. - Was braucht man, um Theater zu machen? aber auch:

realen resp. nicht] realen nicht Wie … möglich?] am Rd.: Beispiel Theater ausbauen → Antike Tragödie → Mythos Spiel etc. 516 517

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- Warum überhaupt wird Theater gemacht?, d. h. welche Interessen geben sich darin Ausdruck, daß Theater gemacht wird? – Und noch weiter ist zu fragen: Was läßt sich daraus über den Menschen als solchen, – was über unsere oder eine bestimmte andere Kultur, erkennen, aus dieser bloßen Tatsache, daß Theater gemacht wird? - Was also bedeutet es, daß Theater gemacht wird? – Oder z. B.: - Daß es entsprechende Baulichkeiten gibt? Daß es den Schauspielerberuf gibt, andere Berufe – und ein ganzes System von Agenten, die damit befaßt sind? Sie sehen vielleicht, diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit hat, resp. zieht einige zunächst vielleicht kaum geahnte Korrespondenzen und weitere Fragen nach sich, denn sie ist: 1. eine Frage, die keiner der bisherigen Wissenschaften direkt zugehört oder ihr eindeutig zuzuordnen wäre. Sie ist es jedenfalls nicht in diesem umfassenden intendierten Fragesinn. 2. Und das deshalb, weil sie eine Frage ist, die auf vielfältigste Bedingungen abzielt, nämlich auf z. B. - anthropologische Voraussetzungen, etwa das mimetische oder eben | nachahmende Wesen des Menschen – der Mensch kann vieles nur deshalb, er lernt und versteht vieles, und Andere am besten, indem er oder andere stellvertretend für ihn nachahmen und indem so ›etwas gezeigt‹ wird – ihm wie auch anderen. Was bedeutet i. d. Zusammenhang »Katharsis«, was diese Reinigung der Seele von Leidenschaften, Konflikten und Spannungen – was für den antiken Menschen, was für den modernen? Aber: auch vielfältige soziale Voraussetzungen gehen in die Tatsache Theater ein: eine gewisse Arbeitsteilung, vielleicht auch die Trennung von Arbeit und Freizeit überhaupt, – die Tatsache, daß der Mensch die meiste Zeit, oder doch einen Großteil seiner Zeit – unter mehr oder minder entfremdeten Bedingungen zubringt: Theater als Abreaktion, als Aufhebung und Wiedergewinnung des eigenen Selbst – daran kann denken, wenn nach den Bedingungen der Möglichkeit von Theater gefragt wird. Das wären dann die sozusagen theatersoziologischen – Fragen eines Teilgebietes der Kultur- oder Kunstsoziologie also. 518 518 also.] danach gestr.: – andererseits auch dezidiert ›kulturkritische‹ Fragen, die sich so ergeben.

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Wenn wir weitergehen in das konkrete, jetzt tatsächlich stattfindende Theater – in diese Aufführung – alle möglichen historischen wie aktuellen Voraussetzungen gehen hier ein – d. h. indem doch nicht erstmals Theater gespielt wird, stellt sich jedes jetzt stattfindende Spiel in eine – in die Reihe und Entwicklung des Theaterspielens wie auch in die des Rezipierens ein, so daß auch die ganzen historischliterarhistorischen Voraussetzungen damit in den Blick geraten. Selbstverständlich genauso auch die ökonomischen Voraussetzungen heutigen Theaters – oder die kulturpolitischen usw. usf. ›Wie ist Theater überhaupt möglich?‹ hatte ich gefragt, um anhand dieses eigentlich zunächst ganz beliebigen Beispiels den Sinn solchen Fragens zu zeigen – und Ihnen so deutlich zu machen, - daß Fragen dieses Typs prinzipiell nur inter- resp. transdisziplinär zu beantworten seien, – - und daß solche Fragen mir deshalb nicht nur eine mögliche, sondern die entscheidende Klammer und das wichtigste Bindeglied zu sein scheinen, das die sog. ›Kulturwissenschaften‹ zusammenhält. Dieser Typus von Fragestellung nämlich läßt sich prinzipiell nicht innerhalb der Perspektive der Einzelwissenschaften bewältigen: es handelt sich gar nicht um eine z. B. nur theaterwissenschaftliche oder nur theatergeschichtliche, – auch um keine nur psychologische oder nur kulturhistorische Fragestellung. Es handelt sich vielmehr eben um eine genuin ›kulturwissenschaftliche‹ – weil und insofern hier – um in unserem Beispiel zu bleiben – nach den Bedingungen und Voraussetzungen des Stattfindens von Theater im allerallgemeinsten Sinne gefragt | wird, also nach: - dem menschlichen Interesse an Theater und am Spiel, an der Mimesis und der Katharsis überhaupt, darum, daß also in diesem Falle kulturanthropologisch gefragt wird. Was dann umgekehrt zur Konsequenz hat, daß wir sagen können: daß der Mensch – oder jedenfalls doch Menschen in bestimmten Kulturen, unter bestimmten Voraussetzungen, Theater, Spiel und Mimikry üben resp. stattfinden lassen – das sagt etwas über die betreffende Kultur – und wahrscheinlich auch über den Menschen – über das Wesen des Menschen – aus. Wir fragen also gar nicht nach dem, was in den speziellen Fachwissenschaften dann im Detail zu studieren ist, – also nicht nach der Aufführungspraxis- oder Rezeptionsgeschichte von bestimmten 250 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Theaterautoren oder Stücken, – wir treiben nicht Theatergeschichte, – sondern fragen nach der kulturellen Bedeutung des Spiels, des Theaterspiels, – nach der Funktion dieser Betätigung innerhalb des Ensembles andere kultureller Gegebenheiten und Einrichtungen. Zum Beispiel auch nach dem Zusammenhang zwischen Theaterkultur – und einer vielleicht damit einhergehenden – Lesekultur und dem Konzertwesen. Fragen also auch danach, welches die Bedingungen der Möglichkeit einer ›Lesekultur‹ oder etwa auch einer ›Vorlesekultur‹ sind, wie sie beispielsweise das ausgehende 18. und fast das ganze 19. Jahrhundert kannte. Welches sind hierfür die Bedingungen – und wie verhalten sich diese zu jenen Bedingungen, die dem Theater den unerhörten Aufstieg von den Hofbühnen bis zu jener Vielzahl von z. T. spezialisierten Bühnen, wie sie die 20er Jahre, und in Millionenstädten auch noch die Gegenwart kennt. Wir fragen nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten, nach Vergleichbarkeiten dieser älteren ›Kulturen‹ mit neueren Medien – fragen nach funktionalen Äquivalenten, nach Institutionen und Betätigungsweisen, die eventuell dieselben Funktionen früher übernommen haben – sodaß nur die Medien eine ganz andere Gestalt gewonnen haben, u. s. w., usf. – Man kann auf diese Weise jederzeit kulturwissenschaftliche Fragen generieren, die sonst, das heißt, in gleicher Weise, in den Fachwissenschaften nicht zum Thema gemacht werden, – wenngleich man umgekehrt aber sagen muß: alle wirklich guten Autoren der Fachwissenschaften antworten auf die eine oder andere Art dennoch immer auch genau auf diese Fragen: weil auch sie das Bedürfnis verspüren, nicht nur auf der phänomenalen Oberfläche der reinen Faktizität ihrer Wissenschaft zu verbleiben, sondern immer danach trachten, auch die menschlich-allgemeinmenschlichen Bedingungen zur Geltung zu bringen, die sich in bestimmten kulturellen Betätigungen | ausdrücken. – Die wirklich guten Autoren werden das tun – und tun es zweifellos seit je. Dies nur, damit Sie mich nicht völlig falsch verstehen. Wie gesagt: damit wollte ich nur ein Beispiel geben – Theaterkultur – in Bezug auf die ›Lesekultur‹, um Ihnen zu veranschaulichen, welchen Sinn solche Fragen haben resp. gewinnen können. – Es handelt sich – so könnte man dann fortfahren – um Beispiele aus dem weiten Gebiet der Freizeitbetätigungen, denen man heute andere und jedenfalls ein erweitertes Angebot an die Seite stellen 251 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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kann: die Massenmedien seit den 20er und 30er Jahren, die die ›Kinokultur‹ beerbten, aber auch jene ›Vortragskultur‹, die zwischen 1880 und den 1930er 519 Jahren blühte und heute kaum noch in Volkshochschulkursen weiterlebt – wobei man feststellt: sie, die älteren Kulturen, weisen die wichtige Gemeinsamkeit auf, daß es sich nicht, wie heute, um individualisierte, sondern um soziale Formen der Rezeption von Kunst, Wissenschaft, Bildung und eben ›Kultur‹ handelt. Das heißt: wir haben es – wenn wir in unserem Beispiel bleiben – auch mit einem sozialphilosophischen, resp. sozialpsychologischen Problem zu tun – und Sie sehen, man kann gar nicht so schnell aufzählen, bei welchen Einzeldisziplinen man überall Anleihen machen muß oder müßte, um die aufgeworfenen Fragen auch nur einigermaßen in den Griff zu kriegen. Das genau meint denn auch der Begriff: ›Transdisziplinarität‹, daß wir uns jenseits der Fächereinteilung der Wissenschaften und der üblichen Universitätsstudiengänge aufhalten, – nicht weil wir es so wollen, sondern weil wir es müssen, wenn wir denn solche Fragen überhaupt stellen wollen. Und das müssen wir, wenn und weil wir nach den kulturellen Erscheinungen fragen, nicht als einzelnen, isolierten Phänomenen, sondern nach ihrem Zusammenhang untereinander – und nach ihren Entwicklungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, nach ihren Funktionen. Wir können dann freilich bis in die Gegenwart fortfahren – bis hin zu modernsten computergestützten Angeboten, die allesamt immer sowohl Gegenstand der betreffenden kultur- oder geisteswissenschaftlichen Fachwissenschaften sind – beispielsweise der Medienund Kommunikationswissenschaft – die umgekehrt aber doch auch für die ›Kulturwissenschaften‹, die Sie hier am Institut studieren, Teilbereiche und -aspekte dessen bilden, worum es eigentlich geht: nämlich Einsicht zu gewinnen in die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Erscheinungen und Entwicklungen jedweder Art. Ich habe diese Fragen, diesen Typus von Fragestellungen eingangs als einen nach dem ›objektiven Geist‹ bezeichnet und dabei angedeutet, daß der Begriff | von Kultur heute zweierlei meinen kann: einmal, Kultur noch immer als Synonym von ›höherer Bildung‹ im Sinne der ›cultura animi‹, der ›Pflege der Seele und des Geistes‹, wie dieser Begriff seit Cicero, speziell aber in Deutschland seit Spätaufklärung und deutschem Idealismus gemeint ist, – oder 519

und den 1930er] und 1930er

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aber ›Kultur‹ meint genau das, was in anderen Ländern ›Zivilisation‹ heißt: den Inbegriff der vom Menschen geschaffenen Umwelt, Einrichtungen und Errungenschaften, – die ihn umgebende ›zweite Natur‹, ein Begriff, der übrigens ebenfalls von Cicero geprägt worden ist: ›natura altera‹, – das ist genau all das, was nicht natürlich, sondern vom Menschen geformte oder nur überformte, gestaltete oder produzierte, i. d. S. »zivilisierte« Umwelt ist. Und dazu gehört selbstverständlich – neben allem anderen – auch alle ›höhere Bildung‹, also auch all das, was der erste, ganz exklusive Begriff von ›Kultur‹ meinte. Diese beiden Verständnisweisen von Kultur nun unterscheiden sich vor allem darin, daß ›natura altera‹ prinzipiell ein nur deskriptiver Begriff ist, ein Begriff also, der sich jeglicher Wertung enthält, wohingegen ›Kultur‹ im Sinne der ›Geistes- und höheren Bildung‹ prinzipiell immer ein bestimmtes Ideal von Bildung, Wissenschaft und Künsten als Wertmaßstab zugrundeliegen hat: in diesem deutschen Falle die deutsche Bildung der deutschen Klassik des frühen 19. Jahrhunderts: von Lessing bis Goethe, von Kant bis Humboldt, usw., usf. Wir beschäftigen uns – wie schon gesagt – also eigentlich eher mit dem Thema ›Zivilisation‹, der ›natura altera‹, mit dem ›objektiven Geist‹, also mit genau dem, was der moderne Kulturbegriff meint – in der Ethnologie, Soziologie und Kulturgeschichte z. B., wo es ja nirgendwo um Fragen der Bewertung, sondern immer nur um die wissenschaftliche Deskription der Lebensweisen und der Lebenswelt des Menschen in verschiedensten Kulturen geht. – 520 | 520 geht. –] danach unter Doppelstrich Fortsetzungshinweis: Mit der Frage … danach gestrichen: 3. es handelt sich bei denjenigen nach den »Bedingungen der Möglichkeit« also um Fragen, die überhaupt nur zu beantworten sind, wenn man sich völlig von jeglicher wissenschaftlicher Disziplinbegrenzung fernhält. Und das gibt solchen Fragen überhaupt – einen durchaus auch subversiven kritischen Sinn: indem sie sich nicht damit begnügen, das ein kulturelles Phänomen da ist, sondern gefragt wird – nach allen Voraussetzungen in diesem umfassenden Sinne, was dann, wenn diese einmal klargelegt sind – allemal kritischen Sinn produziert: Ist Theater, ist Kunst (und Kultur in diesem Sinne) etwas, was alle Menschen (einer bestimmten Kultur jedenfalls) angeht oder angehen müßte? Entspricht das jetzige, entsprechen die Vielzahl der jetzt existierenden Bühnen und freien Theatergruppen diesem – menschlichen Bedürfnis – und einem behaupteten mimetischen Wesen des Menschen? – Die Staatstheater? Oder viel mehr und besser die Jugend- und Laien-Theater? Schüleraufführungen? – Ich glaube, man muß diese Fragen nur einmal anreißen, um zu sehen, ein wie weitreichendes Feld der Überlegungen und durchaus auch wissenschaftlich zu

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Mit der Frage nach den Bed[ingungen] der Möglichkeit von Theater habe ich absichtlich zunächst ein vergleichsweise unverfängliches Beispiel gewählt – denn: was wäre, wenn wir fragten: - wie ist ›Frau im Spiegel‹, wie ist Lady Diana, wie die ganze YellowPress überhaupt möglich? - wie ist Kulturpolitik möglich? 521 - wie ist Kulturwissenschaft oder Kulturphilosophie überhaupt möglich? resp. - wie ist Demokratie überhaupt möglich? – eine Frage, die Herrn Gerhards als Beispiel einfiel. Oder auch: - Wie ist Gesellschaft möglich? - Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? – D. h. wie ist wissenschaftlich begründete Weltanschauung überhaupt möglich? Das sollte ein Scherz sein, denn diese letzteren Fragen haben bereits Antwort gefunden: Wie ist Gesellschaft möglich? fragte Georg Simmel in seiner ›Soziologie‹, | um die Soziologie als Wissenschaft grundzulegen – und später hat Niklas Luhmann sehr ähnlich gefragt. Nach den Bedingungen der Möglichkeit der ›Metaphysik der Wissenschaft‹ fragte bekanntlich Kant 1783 in seinen ›Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können‹ – und hier stellte er einige weitere gleichlautende Fragen, so nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori 522, der reinen Mathematik, Naturwissenschaft etc. Ich erwähne das eigentlich auch nur, damit Sie nicht befürchten müssen, ich hätte mir das Alles nur ausgedacht. erhebenden Problemstellungen sich an eine so einfache Frage, wie der nach den Bedingungen der Möglichkeit z. B. des Theaters anschließen lassen. Das jedenfalls aber dürfte klar geworden sein, daß es sich mindestens um eine Frage handelt, die faktisch unmittelbar alle diejenigen angeht, die z. B. Theater machen, machen wollen oder auch »managen« wollen. Und damit kehrt die Doppeldeutigkeit der Frage nach der Möglichkeit wieder: denn sowohl die, die Theater machen, müssen die eine oder andere Antwort parat haben, zumindest dann, wenn sie der öffentliche Geldgeber resp. die sog. »Kultuspolitik« nach ihrer Existenzberechtigung fragt – aber genauso müssen sich auch diejenigen solche Gedanken machen, die erst anfangen und planen, um etwas aufzuführen: auch sie müssen wissen, welches sind die Voraussetzungen, die ich für die Veranstaltung ›Theater‹ schaffen muß, welche sind die Bedingungen der Möglichkeit von … 521 möglich?] danach gestr.: – wie ist Geschichte möglich? 522 a priori] Apriori

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Nein, es ist – oder wäre – mit dieser Frage – und diesem Fragetypus überhaupt – ein eigenes Ziel und eine selbständige Fragestellung für die Kulturwissenschaften formuliert, wenn denn Kulturwissenschaft nicht eine bloß partielle Doppelung der einzelnen anderen ›Kulturwissenschaften‹ bedeuten soll: der Theaterwissenschaft oder Theatergeschichte, der Germanistik und anderer Philologien, Soziologie und zumal der Philosophie. Wenn sie kein bloßes Sammelsurium aller möglichen geisteswissenschaftlichen Themen sein soll. ›Kulturwissenschaft‹ – zumindest aber die ›Kulturphilosophie‹ – wäre dann eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich dadurch von anderen unterscheidet, daß sie nach den Voraussetzungen von kulturellen Tatbeständen oder Projektiertem fragt; 523 nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt: einerseits, 524 angesichts des Existenten: nach allgemeinen notwendigen Voraussetzungen – andererseits bei Projektiertem: nach der Ermöglichung von etwas, das wir noch erst erreichen wollen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

523 524

fragt;] fragt: Möglichkeit fragt: einerseits,] Möglichkeit: fragt – einerseits,

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2. Vorlesung 525 Ich habe beim letzten Mal versucht, Ihnen einen ersten Überblick zu geben über unser Semesterprogramm. Also über: - diejenigen Autoren von Lazarus und Simmel bis Ernst Cassirer, die uns in diesem Semester vor allem beschäftigen werden. Weiterhin über die ganz spezifische Fragestellung, die diese Tradition zusammenhält, nämlich die nach den ›Bedingungen der Möglichkeit kultureller Sachverhalte‹, oder eben nach dem ›objektiven Geist‹, der »natura altera« – der »Kultur«. 526 Ich habe weiterhin schon darauf hingewiesen, daß dem kleinen Aufsatz von Lazarus über die ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ von 1862 eine große Bedeutung zukomme, denn der sog. ›objektive Geist‹ ist – nach Lazarus – ein Produkt oder das Resultat eben dieses Verdichtungsprozesses des Denkens in der Geschichte. Was heißt das? 527 Lazarus unterscheidet »zwei Arten der Verdichtung des Denkens«: »die eine ist individuell, subjectiv durchgemacht, dergestalt, daß das verdichtete Denkproduct aus dem eignen, allmählichen Prozeß der Verdichtung hervorgeht;« – das meint also ganz einfach den Lernprozeß, den wir als Individuen durchmachen: diejenigen ›Verdichtungsprozesse‹, die stattfinden, wenn wir lernen und ausgebildet werden. Aber nicht nur das Individuum lernt, sondern auch ganze Völker machen Lernfortschritte – und die ganze Menschheit. Diese andere ›Verdichtung‹ ist – im Gegensatz zur individuell vollzogenen – also »sachlich allgemein, objectiv, dergestalt, daß nur das Resultat eines historischen Prozesses in der Seele aufgefaßt wird.« – Wie beispielsweise der pythagoreische Lehrsatz, dessen Beweise und nähere Entstehung wir heute nicht im einzelnen nachvollzuziehen haben, sondern der uns einfach überliefert ist und den wir uns aneignen, fast ohne irgendeine Mühe darauf zu verwenden. Genauso geschieht dies, 525 2. Vorlesung] folgt Fußnotenzeichen und -text: 70 Minuten. 3/16 [entspricht] 55 Min[uten]; am Kopf der S.: genau 45 Min[uten]! (Auslassung von S. 29–30) 526 »Kultur«.] danach 3 S. gestr.: wörtliche Wiederholung des Abschnittes über die Frage »Wie ist Theater überhaupt möglich?« aus der 1. Vorlesung. 527 was heißt das?] statt gestr.: Im begleitenden Lektüre-Seminar haben wir uns bereits mit diesem Text zu beschäftigen begonnen. Aber wir müssen uns die wesentlichen Gesichtspunkte dieses Aufsatzes jetzt noch etwas genauer ansehen.

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indem wir alle möglichen kulturellen Gegebenheiten in Anspruch nehmen, indem wir Bücher lesen und unser Wissen daraus ziehen, lernen und studieren, Institutionen aller Art und Werkzeuge bereits vorfinden, die wir gebrauchen, | ohne uns über deren Erfindung, Herstellung, Beschaffenheit nähere Rechenschaft abzulegen. Das ist also – im Gegensatz zur bloß individuellen Verdichtung im Lernprozeß – die ›Verdichtung der Gedanken in der Geschichte‹. Lazarus sagt: »Jene bezeichnet die eigene Cultur des Individuums, diese die öffentliche Cultur des Zeitalters.« 528 Individuelle Verdichtung und Lernen führen also zur ›Cultur des Individuums‹ – der gesamtgeschichtliche Prozeß der Verdichtung aber führt zu einer bestimmten ›Cultur des Zeitalters‹. – Sie bemerken wieder die von mir eingangs betonte Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs, denn das eine ist: Geisteskultur des Individuums, ›cultura animi‹, – wohingegen ›Cultur des Zeitalters‹ die uns gebotene ›Zivilisation‹, ›natura altera‹ bezeichnet. Lazarus versucht dann diese »Cultur des Zeitalters« näher deutlich zu machen am Beispiel alltäglicher Dinge, die wir benutzen, wie der Post zur Briefbeförderung oder der Taschenuhr zur Zeitmessung. Diese sind materielle oder institutionelle Resultate der Verdichtung und wir benutzen sie, ohne uns nähere Rechenschaft darüber abzulegen, was, warum und wie diese eigentlich funktionieren. Das führt Lazarus auf das Problem einer gleichsam unbewußten Nutzung 529, eines Nichtwissens um die wahre Qualität dieser Einrichtungen und Gegenstände, und damit um die ›Kultur des Zeitalters‹ – und er sagt: »Objektiv … ist [z. B. in der Postbeförderung] Alles [Mögliche an Bedingungen] enthalten, wie in der Uhr objectiv und thatsächlich die Zeitmessung; nur subjectiv ist mit dem Anblick der Uhr und mit dem Aussprechen der verdichteten Vorstellungen der ganze Inhalt nicht gegeben.« Ich will diese entscheidende Passage vorlesen: Nehmen wir z. B. die Taschenuhr, sie ist, – sagt Lazarus »ein Kunstwerk hohen wissenschaftlichen Werthes, das ein getreuliches Bild abgibt von dem Lauf der Sonne am Himmelszelt, oder richtiger von der Umdrehung der Erde um ihre Axe … das ohne Fernrohr und Messung, ohne AnstrenZeitalters«.] am Rd.: 1862! institutionelle … Nutzung] am Rd.: Berger/Luckmann: Verdinglichung aufheben durch konstruktivistisches Erklärungsverfahren 528 529

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gung des Auges und ohne Mühen des Verstandes sofort zu jeder Zeit und mit größerer Genauigkeit zeigt, wie es augenblicklich um den Sonnenlauf des Himmels oder mit der Umdrehung der Erde um ihre Axe steht, als je die unsterblichen Meister und Forscher Hipparch, Ptolemäus und Copernikus es hervorbringen konnten; ein Kunstwerk, das eigentlich die feinsten Materien unseres Denkens zum Gegenstand seiner Lösung macht, indem es ›unsichtbare Abschnitte der Ewigkeit, die man Zeit nennt, in Theile der Unendlichkeit verdeutlicht, die man mit dem Worte Raum bezeichnet‹«. »Wie | sonderbar«, heißt es dann, »ist es doch, daß Millionen Menschen gar nicht ahnen, welch Gedankenreichthum sie in den Westentaschen mit sich herumschleppen!« – Wir benutzen diese ganz alltäglichen Dinge – aber wir sind uns nicht im mindesten bewußt, was alles an Voraussetzungen – geistigen, wissenschaftlichen und handwerklichen Voraussetzungen – darin steckt, daß wir sie benutzen können: wir kennen sie nicht – und machen uns die ›Bedingungen der Möglichkeit‹ der Existenz und des Gebrauchs von Taschenuhren in aller Regel nicht bewußt. Das heißt, wir leben – insbes[ondere] in Bezug auf das Alltägliche – unterhalb der ›Schwelle des Bewußtseins‹ – oder, anders gesagt: Was bekannt ist – ist darum noch nicht erkannt – sagt Hegel – und die Aufgabe der Wissenschaft, der Kulturwissenschaft, ist also die, das bloß Bekannte auch zu erkennen. An dem Beispiel des »Wochenmarkts« und des »Briefkastens« läßt sich dann zeigen, »welche Fülle großartiger Gedanken in unserer Ordnung der Alltäglichkeit verkörpert ist: Die Prinzipien der Theilung der Arbeit, des Austausches der Bedürfnisse, der Gegenseitigkeit und gegenseitigen Ergänzung der Dienstleistungen, der weit geschlungenen, hierhin und dorthin gewundenen, aber immer wieder sich schließenden Kette des Verkehrs, sie sind im Wochenmarkt lebendig, und im Postwesen ist, von aller materiell und geistig nutzbaren Verwerthung einer schleunigen und prompten Gedankenmittheilung abgesehen, ein solches Quantum von vollendeter sittlicher Discretion gewährleistet, daß es ein Triumph auch der sittlichen Natur des Menschen heißen mag.« Was wichtig ist. – Denn auch ein gewisses zivilisatorisches Niveau gehört dazu, daß eine Briefbeförderung überhaupt stattfinden kann: eine gewisse ›Sittlichkeit‹, oder moderner ausgedrückt: Rechtssicherheit, Diskretion und Vertrauen sind Voraussetzungen dafür, daß Briefzustellung überhaupt möglich ist. – 258 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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»Man kann [also, sagt Lazarus zusammenfassend] an diesen Beispielen deutlich ersehen, wie der Mensch sich nachgerade willkürlich und unwillkürlich, absichtlich und zufällig Organe der Verdichtung seines Denkens schafft, sowohl materielle als geistige Organe, nur daß jene, in ihrer psychischen Wirkung betrachtet, in Wahrheit selbst nicht minder geistige Organe und Objecte sind.« – Was uns den Begriff des ›objektiven Geistes‹ näherbringt: denn freilich sind auch die materiellen, vom Menschen geschaffenen Objekte immer zugleich Produkte auch geistiger Arbeit, nicht anders als es der Lehrsatz des Pythagoras ist. Denn ›objektiver Geist‹ – ›Geist‹ meint hier überhaupt nichts irgendwie Immaterielles, sondern sagt nichts anderes als: Produkt auch geistiger Arbeit – Produkt einer Verdichtung – und diese Verdichtung findet vornehmlich 530 im Geiste statt, wenn auch das Produkt des geistigen | Prozesses sich dann materiell oder institutionell gestaltet. 531 Weil wir die Fähigkeit besitzen, zu lernen d. h. als Individuen uns in schneller und abgekürzter Form die Resultate der Arbeit der Vielzahl von Geistern der Vergangenheit anzueignen, deshalb überhaupt kann ein Kulturfortschritt stattfinden – denn nicht jeder fängt wieder ganz von vorn an: das Rad oder das Fahrrad benutzt man, – und es macht keinerlei Sinn, es noch einmal zu erfinden. Andererseits aber müssen diese Resultate der steigenden Zivilisation oder Kultur, der obj[ektive] Geist, in der einen oder anderen Weise ›angeeignet‹ werden. Was nun gleich mehrerlei bedeuten kann. Wir können sie z. B. ganz einfach nur, soweit sie uns »bekannt« sind und zur Verfügung stehen, gedankenlos benutzen – oder aber, wir wollen sie in ihrer Entstehungsgeschichte und Funktion auch erkennen, z. B. falls wir sie weiterentwickeln wollen, d. h. es müssen dann »die objectiven Verdichtungen der Cultur durch die Kenntniß ihrer Geschichte [d. i. Kulturgeschichte] in subjective verwandelt werden. Ist doch namentlich aller Fortschritt gerade dadurch bedingt, daß das Individuum sich nicht mit dem unverstandenen Resultat begnüge, ohne die Breite des Inhalts und die Länge des Erforschungsweges zu kennen, daß es vielmehr zu einer bewußten Verdichtung des Invornehmlich] statt gestr.: ursprünglich gestaltet.] danach gestr.: Weiter: »Auf diesem Prozeß der Verdichtung des Gedachten, als der Kunst der Zusammenfassung des Mannigfaltigen und der steigenden Erleichterung des Schwierigen, beruht … allein die Aussicht, daß der Culturmensch nicht allmählich durch den von allen Seiten massenhaft anwachsenden Stoff der Erkenntniß völlig erdrückt werde.« 530 531

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halts, daß heißt zu einer Auflösung und eigenen, erneuten Zusammenfassung desselben gelange. Wer oberflächlich vom ›Austausch der Bedürfnisse‹ redet, oder gedankenlos an einem Wochenmarkt vorübergeht, wer gedankenlos den Postboten kommen und gehen sieht, der wird niemals eine national-ökonomische Wahrheit entdecken oder eine Verbesserung im Postwesen einführen.« Das heißt: »die objectiven Verdichtungen der Cultur [müssen] durch die Kenntniß ihrer Geschichte in subjective verwandelt werden« – eigentlich aber nicht nur ihrer ›Geschichte‹, sondern sie müssen auch der ›Breite‹ nach, also in ihren vielfachen Funktionen verstanden werden, damit die objektiven Verdichtungen auch in subjektive, in ›individuelle Kultur‹ verwandelt werden. Lazarus spricht hier ein Problem bereits an, das sein Schüler Georg Simmel – 40 Jahre später – zum Zentralthema seiner ›Kulturphilosophie‹ machen wird: das Problem der Aneignung des ›objektiven Geistes‹, resp. der ›objektiven Kultur‹, – durch die Subjekte, durch den subjektiven Geist. Und zwar besteht dieses Problem darin, daß diese Aneignung – im Zuge des | wissenschaftlich-technischen und also zivilisatorischen Fortschritts in der Moderne immer weniger, überhaupt nicht mehr gelingt. Dann kommt es zur von ihm sogenannten ›Tragödie der Kultur‹, in der Welt der Moderne, weil ein ungeheures Angebot an Gegenständen der Sachkultur ebenso wie des Wissens, der Künste und verschiedensten Stile der Kunst und des Lebens es dem Einzelnen völlig unmöglich machen, sich diese Vielfalt und immer komplizierter werdende Welt überhaupt noch zueigen zu machen: anzueignen. Denn die Entwicklung der ›individuellen Kultur‹ vermag zunehmend nicht mehr mit der der ›objektiven Kultur‹ schrittzuhalten: »Gewissermaßen« sagt Simmel »faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19. Jahrhundert durch den Begriff der ›Bildung‹ im Sinn einer [bloßen] Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltensweisen verdrängt wurde. Diese Diskrepanz scheint sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung

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erweitern« – und sich also diese objektive Kultur zunehmend noch schwerer aneignen (GSG 6, 621 f.). – Doch darüber Näheres in einer späteren Vorlesung. ›Aneignung‹ ist kein traditionell verbürgter philosophischer Begriff, also kein Begriff, den man in den Wörterbüchern findet. Ganz zu Unrecht, denn in diesem Begriff steckt ein hohes kulturphilosophisches Potential. – Und dies nicht nur, weil durch Lazarus und Simmel dieser Begriff zu einem wichtigen Theoriebegriff geworden ist. Sondern vielmehr deshalb, weil wir allenthalben nicht nur danach fragen können, ob etwas angeeignet werde, – ob also das bloß Bekannte auch erkannt werde – sondern, weil wir unterschiedliche Abstufungen und Grade des Gelingens oder Mißlingens solcher Vorgänge der Aneignung unterscheiden und sie daraufhin untersuchen können, was, in welchem Maße, von uns heute z. B. noch wirklich angeeignet wird, und was wir wie blackboxes nur einfach benutzen, – ohne jegliche Kenntnis davon, wie und wodurch und weshalb diese Dinge funktionieren – und so funktionieren, wie sie eben funktionieren. Denken Sie nur an elektronische Geräte, mit denen alle Welt umgeht und die kaum jemand versteht. 532 | Dabei haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, die als solche längst nicht mehr durchschaubar und rein rational verstehbar oder auch kritisierbar wäre, – und es ist wohl so, wie gleichfalls schon Simmel beobachtet hat, daß: »auch die kenntnisreichsten und nachdenklichsten Menschen mit einer immer wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig erkennen« zu operieren genötigt sind. »Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja erzwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefäße [blackboxes] von Hand zu Hand gehen, ohne daß der tatsächlich darin verdichtete Gedankeninhalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete. Wie unser äußeres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben wird, versteht.] danach gestr.: Oder denken Sie an Lebensmittel, z. B. an die fast unvorstellbare Tatsache, daß insgesamt ca. 20.000 Lebensmittel Soja enthalten, vom Aufschnitt aller Art bis hin zu verschiedensten Stärke- und Haltemitteln, die mittels Zufügung von Soja hergestellt werden. – Und dies wissen, | resp. erfahren wir ja auch nur deshalb und gerade jetzt, weil demnächst gentechnisch manipulierte Soja aus den USA auch in Deutschland – ungekennzeichnet – uns verabreicht werden wird. Wobei denn auch hier gilt: für Risiken und Nebenwirkungen hat es keinen Zweck, Ihren Arzt oder Apotheker zu fragen, denn der weiß das auch nicht viel besser … 532

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deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeß aufgewandten Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Verkehrsleben … von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist – während der individuelle Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt« (GSG 6, 621). Theoriegeschichtlich gesehen, wird so die Linie von Lazarus über Simmel fast schon bis zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen angedeutet. Sachlich gilt, daß in jedem Falle das Problem der Aneignung sich als eins darstellt, das durchaus universellen Charakter trägt: Objektive Sachverhalte und beileibe nicht nur solche, die ausdrücklich von uns der ›Kultur‹ im engeren Sinne zugerechnet werden von den Individuen nicht mehr oder nicht vollständig angeeignet und also verstanden werden. Man mag dagegen Einwände vorbringen und z. B. vermuten: das sei immer schon so gewesen, 533 – aber man übersieht dann, daß das Maß der Überformung der ersten, alten Natur durch unsere Zivilisation – wie immer man es dreht und wendet – ganz zweifellos immer weiter fortgeschritten ist, daß also auch insofern das Problem der Aneignung zumindest gewachsen ist. Ich will das heute hier nicht weiter ausdeuten – wir kommen im Zusammenhang Simmels darauf noch näher zurück. Hier ist zunächst wichtig, daß Lazarus durch seine Problemdisposition, einen | allgemeinen und objektiven, einen öffentlichen ›Geist‹ – also den Inbegriff der Kultur als natura altera – zu beschreiben und zu charakterisieren versucht, mit dem der Einzelne in irgendeiner Weise ›zurechtkommen‹ muß. Und dabei ist es unverkennbar, daß dieses erforderliche Zurechtkommen vom Einzelnen etwas fordert: nämlich sich diesen ›objektiven‹ Geist irgendeinerweise 534 ›anzueignen‹. Der individuelle Geist tut dies und kann dies tun, – so noch der Optimist Lazarus – weil er über die Fähigkeit verfügt, die verdichteten Resultate der Arbeit der ganzen Kulturgeschichte in allerkürzester Zeit in sich aufzunehmen, zu lernen und also anzueignen. Der Mensch kann diese Resultate gleichsam ›lesen‹ – durch seine, durch 533 gewesen,] danach gestr.: auch die Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges hätten sich am Bleigehalt der Zinnbecher langsam vergiftet, 534 irgendeinerweise] so wörtlich

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die allgemeinmenschliche, Fähigkeit zur verdichtenden Tätigkeit des Geistes, die sowohl in der Menschheitsgeschichte den Kulturfortschritt verbürgt, wie umgekehrt jedem Einzelnen ein Weiterbauen an der Kultur dadurch möglich ist. Diese Auffassung und Theorie der Verdichtung nun basiert auf einer damals innovativen sozialphilosophischen und sozialpsychologischen Theoriebildung, auf der Völkerpsychologie, in der sich eine veränderte Sichtweise sowohl des Individuums, wie nicht weniger der Gesellschaft, ausdrückt. Sie hat Lazarus in einem anderen Aufsatz ausführlicher charakterisiert, und zwar in einer Abhandlung ›Über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesammtheit‹ – etwa gleichzeitig verfaßt mit dem über die Verdichtung. Dort sagt er thesenhaft: 535 »Die Psychologie lehrt, daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaftlich ist; d. h. daß er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt ist, weil er nur im Zusammenhange mit seines Gleichen das werden und das leisten kann, was er soll … Auch ist thatsächlich kein Mensch das, was er ist, rein aus sich geworden, sondern nur unter dem bestimmenden Einflusse der Gesellschaft, in der er lebt. Jene unglücklichen Beispiele von Menschen, welche in der Einsamkeit des Waldes wild aufgewachsen waren [denken Sie etwa an Kaspar Hauser], hatten vom Menschen Nichts als den Leib, dessen sie sich nicht einmal menschlich bedienten: sie schrien wie das Thier und gingen weniger, als sie kletterten und krochen. So lehrt traurige Erfahrung selbst, daß wahrhaft menschliches Leben der Menschen, geistige Thätigkeit nur möglich ist durch das Zusammen- und Ineinanderwirken derselben. Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugniß der | menschlichen Gesellschaft … und der Einzelne ist Mensch nur in der Gemeinschaft, durch die Theilnahme am Leben der Gattung.« 536 Was konkreter bedeutet: »Das Bewußtsein des gebildeten Menschen beruht … auf einer durch viele Geschlechter hindurch fortgepflanzten und angewachsenen Ueberlieferung. So ist der Einzelne, welcher an der gemeinsamen Geistesbildung Theil nimmt, nicht nur 535 thesenhaft:] danach gestr.: »Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugniß der menschlichen Gesellschaft, [und] nicht [etwa] des … Individuums, deshalb muß die Gesellschaft selbst Gegenstand der Wissenschaft sein«, und diese Wissenschaft von der Gesellschaft nennt er ›Völkerpsychologie‹, – wofür wir heute eher ›Soziologie‹ oder genauer ›Sozialpsychologie‹ sagen würden. 536 Gattung.«] danach gestr.: d. i. soz[usagen] – frei nach Berger/Luckmann: ges[ellschaftliche] Konstr[uktion] d[er] Wirklichkeit, die L[azarus] hier vorwegnimmt.

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durch seine Zeitgenossen, sondern noch mehr durch verflossene Jahrhunderte und Jahrtausende bestimmt und von ihnen abhängig im Denken und Fühlen und Wollen.« – Zitatende! Diese Theorie des gesellschaftlichen Menschen, des Menschen, der sowohl in der kulturellen Überlieferung steht und auf sie angewiesen ist, wie er auch auf seine Mitmenschen nicht verzichten kann, bildet die Grundlage für die Theorie der Verdichtung und damit auch für das Problem der Aneignung aller Überlieferung. Und damit ist freilich nicht nur diejenige in Schriftform gemeint, wie wir jetzt bereits wissen, sondern die Aneignung der Kultur und Zivilisation als Ganzer. Warum – so können wir nun, nachdem wir den gröbsten Umriß dieser Theorie kennen, fragen – stellt sich jemand wie Lazarus gerade dieses Problem, warum geht 2. dann von einer solchen Problemstellung eine ganze Theorieentwicklung über den ›objektiven Geist‹ aus? Und warum macht 3. eine Beschäftigung mit diesen Theorien heute noch Sinn? – das sind weder rhetorische noch didaktisch gemeinte Fragen. Sondern vielmehr Fragen, die ebenfalls auf die Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit solcher Theoriebildungen abzielen, Fragen, die deshalb nicht eindimensional beantwortet werden können. Und dazu muß ich etwas weiter ausholen. Ich beginne mit der biographischen Dimension 537, denn das Thema der Aneignung der Kultur und überhaupt das Interesse an Sozialpsychologie, resp. an Völkerpsychologie geht gleichsam ganz organisch aus Lazarus’ Leben hervor – und ich greife deshalb auf seine Jugenderinnerungen zurück: In Filehne, einer Kleinstadt von etwa 3000 Einwohnern im damals preußischen Regierungsbezirk Posen wurde er im Jahr 1824 geboren. Die Einwohnerschaft setzte sich zu je einem Drittel aus Deutschen, Polen und Juden zusammen, und der Rabbinersohn Lazarus sollte seinem Vater und Großvater in diesem Beruf nachfolgen. Er wurde zum jüdischen Theologen ausgebildet, d. h. die jüdischen Gesetzbücher und die Kommentare zum Alten Testament – wie wir sagen – stellten die Grundlage seiner Ausbildung dar. Das hieß vor allem Hebräisch lernen und neben dem war, wie für | einen künftigen Rabbiner nicht unüblich, auch eine in diesem Falle kaufmännische Lehre nötig, 537

biographischen Dimension] mit rosa Textmarker hervorgehoben

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und sie wurde von Lazarus bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr absolviert. 1842 aber begann er dann seine sogenannten wissenschaftlichen Studien, d. h. er bereitete sich auf den Besuch eines deutschen Gymnasiums vor, und zwar in Niedersachsen, wohin man ihn schickte, da dort mancher Verwandter sich seiner annehmen werde. Hören wir ihn selber: »Am 22. Januar 1843 habe ich bei meinem Bruder in Sondershausen die ersten lateinischen und griechischen Stunden gehabt und lange Jahre hin diesen Tag als meinen zweiten Geburtstag gefeiert. Mit der bewußten Energie und Fassungskraft des Erwachsenen und mit der Frische des Kindes ist die Erlernung beider Sprachen ergriffen worden« (S. 62 f.). Er macht sehr schnelle Fortschritte: »Mit neunzehneinhalb Jahren kam ich nach Braunschweig, um dort in das Gymnasium einzutreten. … In der Obersekunda blieb ich nur ein Vierteljahr … Meine Kameraden standen durchschnittlich im vierzehnten Jahre. Neben der größeren Reihe der Jahre und der mannigfachen geistigen Vorübung kam mir ein nie rastender Fleiß und eine nie getrübte Arbeitsfreude zustatten. Mit einer Art von Heißhunger habe ich alles Lernbare verschlungen, in der Unterprima zum Beispiel die deutschen Aufsätze …« (S. 79 f.), von denen er dann gleich dreimal soviel liefert als verlangt wird. »Die lateinische und griechische Lektüre habe ich auf eigene Hand verdoppelt und mehrfach manches bis zum Auswendiglernen wiederholt.« Allerdings mußte er sich nebenher den Schulbesuch durch Stundengeben im Hebräischen, Predigten und durch theologische Unterweisungen selber verdienen. »Meine Heimstätte … war mehr als dürftig, wenigstens im ersten Winter. Auf ein kleines, unheizbares, ungedieltes, nur mit reinlichem Estrich gepflastertes Stübchen mußte ich mich beschränken. In kalten Nächten mußte ich meine Schularbeiten im Bett liegend oder in Filzschuhen sitzend anfertigen und dabei das Tintenfaß … durch meine eigne Wärme vor dem Einfrieren schützen …« (S. 81); usw., usf. – Dennoch geht es sehr schnell voran, wie Lazarus freilich nicht ohne Stolz berichtet, denn die vier obersten Gymnasialklassen, die normalerwiese in etwa viereinhalb Jahren durchlaufen wurden, absolviert er in kaum anderthalb Jahren (S. 82). Soweit so gut. Er hat die Matura und wird studieren. Aber er hat nicht nur sie: er spricht inzwischen akzentfrei Deutsch, und er hat inzwischen auch erstmals Christen resp. Deutsche näher – erstmals in persönlichem, vertraulichen Verkehr – kennengelernt. In dem nicht zufällig ›In der Fremde‹ überschriebenen Kapitel berichtet er: »In die gesammte Denk- und 265 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Lebensweise meiner neuen Genossen habe ich mich bald hineingefunden. In meinem Innern aber wogte und kämpfte vielerlei. Ob der Instinkt mich leitete, oder wieviel das Nachdenken mir half, ich weiß es nicht, das aber weiß ich genau, daß ich gerade wie für die Aussprache der deutschen Mundart, so auch für die Erkenntnis des | deutschen Lebens und seiner Kultur den Umweg des lateinischen und griechischen Geistes mit Eifer suchte.« Den Maßstab für das Erreichbare an Verständnis eines Volksgeistes bildete seine eigene, bereits erworbene Kenntnis des jüdischen Geistes und seiner Entwicklung, die freilich sehr ausgeprägt war. Genau so auch wollte er in den Geist der klassischen Völker eindringen, um dann – wie er wörtlich sagte – »schließlich auch den der deutschen Nation zu erfassen und zu erfahren, um einmal in ihm an meiner Stelle mitzuarbeiten; damals wurde ganz gewiß … in meinem inneren Arbeiten der Grund zur Völkerpsychologie gelegt« (S. 91 f.). Denn Lazarus sucht das alles wirklich zu verstehen – sich »anzueignen« – und versucht dabei das eigentlich Unvereinbare zu versöhnen: griechische Antike und idealistische Philosophie; wissenschaftliche Rationalität und jüdischen Traditionalismus: »Diese verschiedenen Weltanschauungen zu vereinen, war meine Sehnsucht; ihre Gegensätze, ihre zum Teil himmelweite Entfernung voneinander, war meine Qual! … Während meine Zeit und Kraft doch vorzugsweise den täglichen Aufgaben des Gymnasiums und des Talmudstudiums gewidmet war, zerrten an mir und rangen in meiner Seele alle jene unvereinbaren Gegensätze in der Auffassung der Welt und des Lebens! … Daß die Deutschen auf den Wegen des Plato oder Zeno die Wahrheit suchten, erschien mir begreiflich; aber durchaus wie lebendige Rätsel erschienen mir die modernen Rabbiner,« – so heißt es hier … (bis S. 94). Und so wurde absehbar, daß er sich schrittweise dem Judentum und der Laufbahn des Rabbiners weiter entfernen würde. Er studiert stattdessen Philosophie in Berlin, promoviert mit einer Arbeit über ›ästhetische Erziehung‹, lebt als Privatgelehrter und konzipiert 1850–51 sein Programm der ›Völkerpsychologie‹, in dem er u. a. sagt – und man kann dies als eine Art Selbstbekenntnis lesen: »Jedes Individuum eines jeden Volkes ist von seinem Volksgeiste jedenfalls soweit abhängig, daß der Kreis seiner Vorstellungen sich anfangs notwendigerweise innerhalb des größern allgemeinen Vorstellungskreises (Sprache, Sitte u. s. w. seines Volkes) befindet. So weit die Beschränkung. Die Freiheit beginnt mit der subjectiven Thä266 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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tigkeit der Aneignung des im Volksgeiste Gegebenen, und kraft der Freiheit unterscheiden sich die Individuen zunächst … durch das Maß und den Umfang dieser Aneignung; nur wer diese in einer Richtung vollendet, wer von dem, was den Geist seines Volkes darstellt, genaue Kenntniß gewonnen, demnach wie man zu sagen pflegt, auf der Höhe seines Volkes – seiner Zeit – steht, kann diese weiter führen.« Aneignung des im Volksgeiste Gegebenen macht frei – im zweifachen Sinne, sowohl die Aneignung des eigenen ursprüngl[ich] jüdischen, wie auch die des zunächst fremden deutschen Volksgeistes macht ›frei‹ – und das ist kein leeres Wort, sondern formuliert hier deutlich erkennbar die Erfahrung eines inzwischen weitgehend assimilierten | Juden, der 538 in den Berliner Salons verkehrt, der wenig später sogar im Literatenclub, im ›Tunnel über der Spree‹, mit Theodor Fontane, Theodor Storm, Paul Heyse, – mit dem Maler Adolph Menzel, mit Diplomaten und hohen Militärs verkehrt. Lazarus, der von Haus aus fast mittellose, hat reich geheiratet, und so schmerzte es nicht so sehr, daß er, auch nachdem er seine Professur in Bern aufgegeben hatte, aber nicht die in Berlin erhoffte Professur erlangte, stattdessen dort als unbezahlter ›Honorarprofessor‹ jahrzehntelang Psychologie und Philosophie lehrte, – gelegentlich hochgeehrt, aber eben doch ausgeschlossen aus der deutschen akademischen Welt. Als ihm 1895 von einem amerikanischen Rabbinerseminar ehrenhalber der Doktor der Theologie verliehen wurde, da antwortete er, daß seine Völkerpsychologie ›aus den letzten Tiefen des Judentums entspringe‹ – was wohl auch in einem mehrfachen Sinne wahr ist, denn sicher will seine Völkerpsychologie den Geist der Völker in ihrer Verschiedenheit erforschen, um sie zu versöhnen, aber auch das am eigenen Leibe erlittene Erlebnis der Differenz der Kulturen wurde zum Anlaß dieser Theoriebildung, – sowie: daß er sich zudem eine andere Kultur ›in der Fremde‹ erst eigens anzueignen hatte, zudem auf dem Umwege über eine gymnasiale Bildung und d. h. auf dem Weg über das Studium der Antike, – alles dies muß m. E. berücksichtigt werden, wenn man auf die Frage antworten will, warum ein Lazarus gerade diese bestimmte Problemdisposition geschaffen hat: denn hier allenthalben zeigten sich schlicht seine eigenen Erfahrungen und Probleme.

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der] danach gestr.: nicht selten – bis zur Unkenntlichkeit seiner Herkunft –

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Man darf vielleicht sagen: Aneignung hat entschieden mit ›Assimilation‹ – wenn Sie so wollen: auch mit ›Anpassung‹ – zu tun. Und wie weit diese Aneignung nur auch 539 der deutschen Kultur gehen konnte – und tatsächlich ging, das mag man auch daraus ersehen, daß der allenthalben als ›Moritz‹ Lazarus zitierte Begründer der Völkerpsychologie und der der ›Theorie des objektiven Geists‹ – garnicht ›Moritz‹ Lazarus geheißen hat. Sein Name war ›Moses‹ Lazarus und bei Lebzeiten seiner Eltern ist denn auch keine seiner Schriften unter dem Namen des ominösen ›Moritz‹ gedruckt worden. Seine Frau, zwar selber aus jüdisch-orthodoxer Familie stammend – hatte ihm vielmehr ganz einfach diesen nichtjüdischen – deutschen – Vornamen verpaßt: und auch das war also eine Form der Assimilation. Das Problem der Aneignung, der Aneignung des objektiven Geistes durch den subjektiven Geist, ist nun freilich nicht damit erledigt oder abgetan, daß wir hier biographische Hinweise darauf finden, daß Moses’, alias Moritz Lazarus’ Leben und Werk insofern als Einheit verstanden werden können. Denn damit wäre freilich noch längst nicht erklärt, warum man seine Schriften gelesen und warum andere an ihn angeknüpft haben: z. B. Georg Simmel, freilich auch jüdischer | Herkunft, nicht anders Ernst Cassirer, – aber schon sie haben – jeder für sich – der von Lazarus erarbeiteten Problemstellung einen je spezifischen Sinn abgewonnen: - Simmel hat das Problem der Aneignung von Kultur als eines des modernen Menschen überhaupt angesehen oder ausgegeben, und die Mögl[ichkeit] der Aneignung letztlich verneint, - Cassirer hat ein Problem der Tragödie geradezu bestritten, und stattdessen vor allem angeknüpft an diese Tradition, indem er den Akzent auf die ›Verdichtung‹ kultureller Prozesse in symbolischen Formen legte. Allemal aber haben dann andere, Nichtjuden: Dilthey und Freyer – sich des einmal durch Lazarus gewonnen Begriffes des ›objektiven Geistes‹ im Sinne der ›natura altera‹ bedient, – und dies zu Zwecken, die ganz jenseits der der ursprünglichen und persönlichen Bedingungen der Schöpfung dieses Begriffes liegen. Es scheint also, wir könnten deshalb beim nächsten Mal von allem Biographischen weitgehend absehen, und uns stattdessen ganz der Struktur und der Funktion des ›objektiven Geistes‹ widmen, wie ihn Lazarus 1865 zuerst entworfen hat. 539

nur auch] mit blauem Kugelschreiber hinzugefügt

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Denn wir können zunächst feststellen, daß die Theorie des ›objektiven Geistes‹ sich einer ursprünglich zwar ganz und gar persönlich geprägten Situation verdankt haben mag, – daß aber zugleich die hier einmal geschaffenen Begriffe und Theoreme ein ganz eigenes und von aller Biographie weithin unabhängiges Leben entfaltet haben: - die ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹, die im Resultat dazu führt, daß ein ›objektiver Geist‹ entsteht, - daß dann diesem ›objektiven Geist‹ der Einzelne gegenübersteht und aufgefordert ist, sich ihn in irgendeiner Weise ›anzueignen‹. Daß schließlich diese zunächst noch ganz schlichte Problemdisposition eine eigene Tradition der Theoriebildung zu begründen vermochte, kann man immerhin als einen ersten Hinweis darauf verstehen, daß sie auch noch heute für die Kulturphilosophie höchst anschlußfähig ist. Ich habe eben gesagt, es scheine, wir könnten im weiteren von allem Biographischen absehen. Aber handelt es sich denn tatsächlich und wirklich in dem Lebensweg des Moses Lazarus, der zum Moritz wird, um etwas rein Persönliches? Handelt es sich nicht vielmehr um Erfahrungen, die heute allenthalben und bei steigender – auch internationaler Mobilität – immer häufiger von immer mehr Menschen gemacht und durchgemacht werden? Ich meine die Zwänge und Nötigung der Anpassung und Assimilation, die Nötigung sich eine andere Lebensweise – in diesem | Sinne – ›anzueignen‹? – Haben wir es beim sogenannten ›Biographischen‹ also überhaupt mit etwas wahrhaft Singulärem, oder haben wir es nicht vielmehr mit etwas Exemplarischen zu tun? Haben wir es also womöglich garnicht mit einer irgendeinerweise spezifisch jüdischen Erfahrung zu tun: in die Fremde zu gehen – und in der Fremde zu sein? – 540 Ich glaube in der Tat, wir haben in dem Schicksal Moses Lazarus letztlich nur jenen exemplarischen Fall vor Augen geführt bekommen, wie das Erlebnis einer kulturellen Differenzerfahrung sogar bei dem Betroffenen selbst zu einer eigenen, weitgehend geglückten Theoriebildung führen kann, – einer Theorie, die dann auch für andere übernehmbar ist, weil sie eben nicht bloß persönlich-biographisch verhaftet bleibt und es als Theorie ja auch gar nicht sein kann, sondern

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Es scheint … sein? –] am Rd. angestrichen mit der Bemerkung: nicht! gelesen

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vielmehr das Verallgemeinerbare, das wissenschaftlich Relevante am eigenen Schicksal erkennt. Diese auch biographischen Anfänge der Theoriebildung über den ›objektiven Geist‹ darf man – und muß man m. E. – im Auge behalten, jedenfalls wenn man die ganz große Linie ziehen will – bis hin zu Cassirer 541 im schwedischen und amerikanischen Exil; – dann, wenn man insbesondere auch die ›Kulturphilosophie‹ des 20. Jahrhunderts als solche, als einen Ausdruck nicht etwa des Lobes der Kultur, sondern eher als Ausdruck einer Differenzerfahrung gegenüber der ›eigenen‹ Kultur interpretieren will. Dann nämlich ließe sich verstehen, warum sich Juden, also diejenigen, die wohl immer schon diese Differenz gegenüber den umgebenden Kulturen am schärfsten empfunden haben, in ganz besonderem Maße sich der Formulierung diese kulturellen Differenz gewidmet haben. Auf diese kulturellen Differenzerfahrungen werde ich beim nächsten Mal näher eingehen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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zu Cassirer] zum Cassier

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3. Vorlesung: 542 A. Beim letzten Mal habe ich versucht, den Prozeß der ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ zu charakterisieren. Und Ihnen ist klar geworden, daß diese Begriffsbildung, für das Entstehen der Kultur einen Prozeß der ›Verdichtung‹ verantwortlich zu machen, letztlich nur als Metapher angesehen werden kann. Es handelt sich nicht um eine wirkliche Erklärung des tatsächlich abgelaufenen Vorganges, sondern lediglich um eine Bezeichnung sehr vieler verschiedenartiger Prozesse und Abläufe, die dann allesamt unter dem einen Begriff ›Verdichtung‹ zusammengefaßt werden. Das mag zunächst als unbefriedigend erscheinen, ist aber kein wirklicher Mangel, wenn man zugrundelegt, daß ja Lazarus nicht angetreten ist, diese Prozesse im einzelnen zu erklären, sondern es ihm vielmehr darum ging, die Vielfalt der kulturellen Welt, der verschiedenen ›Volksgeister‹ und damit des ›objektiven Geistes‹, zum Thema seiner neuen Wissenschaft namens ›Völkerpsychologie‹ zu machen. Dann zeigt sich, daß der Ausgangspunkt eigentlich der ist – zu sagen: - welch’ eine wunderbare Vielfalt, welchen Reichtum zeigt doch die uns umgebende kulturelle Welt! - und was nicht alles ist vom Menschen geschaffen worden, um eine ›zweite Natur‹, für ihn hilfreiche, lebenserhaltende oder gewissermaßen auch wohnliche oder gar schöne (künstliche) Umwelt zu schaffen. Wenn man so, wie Lazarus, an die Gesamtheit des ›objektiven Geistes‹ herangeht, dann ist klar, daß es ihm nicht um die Entstehung und Entwicklung, sondern um die Beschaffenheit dieser Vielfalt der kulturellen Welt geht: um die Bedingungen der Möglichkeit des Lebens in der Kultur. Lazarus macht – so könnte man salopp formulieren – ganz einfach eine kulturelle Bestandsaufnahme. – er ist kein Kulturhistoriker, sondern eben ein Kulturwissenschaftler und dies in dem Sinne, daß ihn vielmehr der Zusammenhang,

542 3. Vorlesung] folgt Fußnotenzeichen und -text: 88 Minuten, plus zwischendrin 7 Minuten Pause. – ca. 40 Hörer.

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die Struktur und die Funktionsweise der Kultur interessieren als alle Entwicklung zu diesem Jetztzeitpunkt hin. Das heißt natürlich nicht, daß er nicht gelegentlich doch auch Ausflüge in die Kulturgeschichte unternimmt. Aber er tut dies doch eben nur, um sich anregen zu lassen oder um prägnante Beispiele beibringen zu können, um seine Ansichten zu exemplifizieren. Damit hat Lazarus eine ganz eigentümliche Perspektive auf die Welt der Dinge und Menschen eingenommen, die sich zunächst einmal dadurch auszeichnet, sie insgesamt als wertvoll zu betrachten. – Alles, was die Geschichte und die gesellschaftliche Welt zeigt und erkennen läßt, will gleichsam daraufhin betrachtet werden, welchen Sinn und welchen Wert | all dies für die Menschheit hat. Ich gebe gern zu, daß diese Perspektive für uns heute eher etwas befremdlich ist – daß wir eher geneigt sind, das Negative und Mißliche der gesellschaftlichen Zustände und des geschichtlichen Verlaufes anzuklagen. Und daß also unsere Perspektive auf die Welt insofern jedenfalls völlig verschieden von derjenigen Lazarus’ ist, als wir sicherlich nicht in der Gefahr stehen, alles, was ist, für einen Ausdruck im Prinzip gelungener Entwicklungen der Menschheit und ihrer Geschichte zu halten. Ich weiß natürlich auch, daß diese Herangehensweise an die Dinge, diese ›Haltung‹ der Welt gegenüber, alles andere als die ›normale‹ ist, und das war sie auch schon im 19. Jahrhundert nicht. Aber wie müssen diese Differenz der Perspektiven ernst nehmen, denn es handelt sich dabei um einen ganz prinzipiellen Unterschied der Auffassungsweisen, ja eigentlich der Grundstimmung, mit der die Welt wahrgenommen wird, in entweder: - einem optimistischen Weltbild, wie wir es bei Lazarus allenthalben vorfinden, – oder - einem eher ›kritischen‹ Weltverhältnis, wie ich der Einfachheit halber vorläufig alle Auffassungsweisen zusammenfassen will, die nichtoptimistisch sind. Es sind dies sozusagen die Extreme möglicher Weltauffassungen, – und es handelt sich also um die alte Frage, ob wir in der besten aller möglichen Welten leben? Um die Frage: Warum also Gott die Welt so geschaffen habe, wie sie eben ist, mit all den Widrigkeiten, Übeln, 272 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Krankheiten und all dem Bösen, – und warum er nicht eine bessere geschaffen habe. Leibniz hatte behauptet, daß diese gleichwohl die beste aller Welten sei, 1710 in seiner Theodicée, und gesagt, »gäbe es nicht die beste aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen. Welt nenne ich hier die ganze Folge und das ganze Beieinander aller bestehenden Dinge, … es bleibt dennoch wahr, daß … es unendlich viel mögliche Welten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höchste Vernunft tut«. 543 Diesen ›Optimismus der Vernunft‹ des Leibniz hat Lazarus zwar selbst einmal kritisiert und er hat ihn im Auge, wenn er an einer Stelle beklagt: »Wenn sich … wirklich Irrthum, Uebel und Böses zeigt, so hat eine wahre Theodicee dasselbe nicht sophistisch zu leugnen, sondern seine Nothwendigkeit … nachzuweisen.« – Aber doch ist es dieser selbe ›Optimismus der Vernunft‹ (Cassirer), wenn Lazarus das Übel zwar nicht einfach hinwegdisputieren, aber doch seine Notwendigkeit zeigen will: denn auch das ist sehr optimistisch, anzunehmen, daß auch all das Übel seine Notwendigkeit in der Welt hat, daß also das Übel sich einem allgemeinen Fortschrittsprozeß integriert, der dann schließlich doch zum 544 Erfolg führt. Wenn Sie Theodor Fontanes Autobiographie ›Von zwanzig bis dreißig‹ oder seinen | Briefwechsel lesen, dann stoßen sie allenthalben auf ein Mitglied des ›Tunnels über der Spree‹ namens ›Leibniz‹ – ein Spitzname, wie jedes Tunnelmitglied ihn trug. Leibniz, das war der Name von Moritz Lazarus, und so liegt hierin der Grund, wie es zu dieser Namengebung gekommen ist. Ich glaube das Rätsel ist hiermit gelöst: der ›Optimist der Vernunft‹, wie Ernst Cassirer von Leibniz gesagt hat, hat auch dem Lazarus seinen Kosenamen verliehen: keinen schlechten, wie Sie sehen. Aber kehren wir zurück zu unseren beiden divergierenden Lebensauffassungen: der optimistischen und jener ›kritischen‹, wie ich gesagt hatte: auch diese kritische Position hat ihren Klassiker, denn der Leibniz’sche Optimismus reizte keinen geringeren als Voltaire zum Spott, in seinem Roman Candide, 1759 erschienen, läßt er einen etwas vertrottelten philosophierenden Erzähler auftreten, der aller-

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tut«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: I,7. zum] zu

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wärts zu beweisen sucht, daß alles aufs Beste 545 geregelt sei – in dieser ›besten aller möglichen Welten‹, – dieser Welt, mit all ihren Widrigkeiten und Bosheiten – Voltaire contra Leibniz, kritische gegen optimistische Haltung, könnte man diese divergierenden Auffassungsweisen der Welt benennen, – Lazarus alias Leibniz gehörte ganz eindeutig auf die Seite des Vernunft- und Fortschrittsoptimismus, der uns ja schon bei der Lektüre aufgestoßen ist. Was aber alles nicht mehr so sehr verwunderlich ist, wenn man sich klar macht, daß Lazarus, wie ich Ihnen beim letzten Mal mit meinem kleinen biographischen Exkurs versucht hatte deutlich zu machen, – daß diese optimistische Lebensauffassung keineswegs eine rein zufällig entstandene und auch keine beliebige ist. Lazarus ist dankbar – ja, Lazarus’ Gestus in allen seinen frühen Schriften – ist der der Dankbarkeit schlechthin: Dankbarkeit für einen Reichtum, den man als den der kulturellen Welt, der Bildung und des Lebens – ja auch wohl schon als einen des spezifisch modernen Lebens überhaupt bezeichnen kann, denn er bezieht in seinen Kulturbegriff bekanntlich ja auch alle Errungenschaften von Technik und Industrie, die technische Kultur mit ein. Jener ›Fortschrittsglaube‹ erscheint von daher also als etwas ganz Natürliches, etwas, was ganz einfach dazugehört, wenn man ein Verhältnis zur umgebenden Welt und Kultur hat, in dem die Dankbarkeit im Vordergrund steht. – Dankbar ist er, daß er all dessen teilhaftig wird, was der ›objektive Geist‹ ›erarbeitet‹ hat. Dankbar dafür, daß er sich all das aneignen kann und darf, was die antike Welt und die neue deutsche Umgebung ihm bietet. »Daß er all dessen teilhaftig wird« – Sie haben gemerkt, daß ich beim Schreiben dieser Vorlesung ganz unwillkürlich in einen Sprachstil verfallen bin, der religiös geprägt ist: »so wurde er (Moses) … aller Vorteile theilhaftig, welche die Kinder der Könige genossen« heißt es bei Schiller 546 – und dieses frei übertragene Bibel-Wort stimmt denn auch für unseren Moses Lazarus. Aber genauso findet sich bei Grimm auch eine Bibelstelle – Paulus’ Brief an die Römer 15,27 – wo davon die Rede ist, daß die Heiden der geistlichen Güter der Christen teilhaftig | wurden, und daß es nun

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aufs Beste] auf beste Schiller] folgt Fußnotenzeichen und -text: Grimm[sches Wörterbuch] 21,360.

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umgekehrt recht und billig sei, daß sie ihnen, den Christen deshalb ihrerseits mit leiblichen Gütern dienten. – Sie sehen, man kann kaum über diese Sachverhalte sprechen, ohne daß durch die Sprache die ganze Bedeutungsgeschichte in die Rede transportiert wird. Das aber genau nun ist ja auch Lazarus’ Behauptung, daß die Sprache bis auf die »verhältnißmäßig höchst geringe Ausnahme künstlicher Formen – also der ganze Schatz von Vorstellungen und Begriffen … das Allen gemeinsame Eigenthum der Nation [ist], (wie sehr auch die Individuen in dem Maße und Grade der Erwerbung – Auffassung der Begriffe – und Anwendung dieses Eigenthums abweichen mögen).« Die Sprache ist, das haben Sie noch in Erinnerung, das Paradebeispiel für die sogenannte ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ – und Lazarus sagt: »Das Mittel …, welches der menschliche Geist anwendet, um diese Verdichtung der Begriffe zu erreichen, besteht … vor allem darin, daß … Jeder neugeborene Mensch … geradeso wie der Urmensch, zu denken anfangen muß, und zwar durch die Sprache. Durch sie kommt ihm zweierlei entgegen, um ihn, den Einzelnen, unter günstigen Bedingungen in der winzigen Reihe von Jahren eines Menschenalters auf die Höhe einer Entwicklung zu stellen, welche Jahrtausende alt ist.« D. h.: »Einmal ist es die unendliche Summe vorgedachter Gedanken, der unsäglich reiche Schatz von geistigem Gehalt, welcher in der Sprache niedergelegt und festgehalten ist und durch sie dem neuen Menschen als Erbe der ganzen Vergangenheit überliefert werden kann.« »Sodann aber ist die Sprache nicht bloß Mittheilungs- sondern auch Bildungsmittel, um eigene Gedanken zu denken und fremde zu erfassen und zu begreifen; die Sprachform des eigenen Geistes enthält nicht bloß das Mittel und Gelegenheit, den fremden Gedanken überhaupt zu vernehmen, sondern die Fähigkeit, ihn in gleicher Weise zu denken und zu verstehen.« Genau, wie ich also nicht zufällig in einen religiösen und etwas biblischen Sprachstil verfalle, wenn ich Ihnen deutlich machen will, daß das optimistische Weltverhältnis des Moritz Lazarus keine nur zufällige Haltung gegenüber Menschen und Dingen darstellt, – genau so auch ist dieses optimistische Weltverhältnis ein Nicht-Zufälliges: indem hier biographische Gegebenheiten wie Assimilation und An-

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eignung der deutschen Kultur einerseits – und anderseits das mit dem Wort ›Dankbarkeit‹ bezeichnete Weltverhältnis hineinspielen. Aber die Deutungsmöglichkeiten gehen noch viel weiter: Nicht nur kann man biographisch die Aneignung der (deutschen und antiken) Kultur als Ausgangspunkt seiner Theoriebildung ansehen – indem hier der ›subjektive Geist‹ sich die ›objektive Kultur‹ aneignen muß oder soll, – nein, daß überhaupt das Schwergewicht auf den ›objektiven Geist‹ gelegt wird, stellt eine sehr nachdenkenswerte Tatsache dar. Ein Kommilitone hat im letzten Seminar indirekt daran Anstoß genommen und mich gefragt, was für einen Begriff von Individualität Lazarus denn eigentlich habe, wenn er allenthalben die Betonung auf die Gesamtheit, auf die Gegebenheiten des objektiven Geistes lege, von denen das Individuum | abhängig sei – objektive Gegebenheiten, die sich das Individuum einfach nur anzueignen habe? Das war die entscheidende Frage – und die von mir daraufhin versuchte Antwort war recht unbefriedigend. Wohl nicht nur für die Kommilitonen – denn ich versuchte mit Hinweis auf Jakob Burckhardts berühmtes Werk über die ›Kultur der Renaissance‹ diese Frage damit zu beantworten: daß Lazarus Individualität gleichsam soziologisch denke: die Freiheit des Einzelnen wird desto größer – im Verlaufe des menschheitsgeschichtlichen Fortschrittes – je unabhängiger er von der Sippe und Familie wird, desto weiter also die Arbeitsteilung und soziale Differenzierung fortschreite. Dadurch werde jedenfalls die formale Chance zur Individualisierung größer – wenngleich nicht zu verkennen sei, daß diese Chance keineswegs ergriffen werden müsse: denn Dante und Michelangelo beispielsweise waren ganz zweifellos ausgeprägtere Individualitäten als wir Individualität heute durchschnittlich ausprägen: denn es gibt keinen Fortschritt im Hinblick auf tatsächliche Individualisierung, sondern allenfalls einen in Bezug auf die bloße Möglichkeit, die ständig ansteigende Möglichkeit, sich zu individualisieren. – So ungefähr habe ich mich geäußert, aber das war aus zwei Gründen eine unbefriedigende Antwort, denn: erstens hatte ich nur Lazarus’ Ansichten – durch Simmels Brille gesehen – referiert, ohne sie näher zu hinterfragen zum andern zielte die Frage des Kommilitonen ja wohl eher – und zwar kritisch – darauf, daß Lazarus dem Individuum gar keinen Raum zu belassen scheint, wenn er so sehr die Aufgabe der Aneig-

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nung der Kultur betont, wenn er so sehr die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesamtheit herausstellt. Die Antwort hätte lauten müssen: daß er, Lazarus der erste war, der in diesem Sinne eine Theorie des objektiven Geistes zu schaffen versuchte, ist letztlich wohl nur aus religiöser Prägung zu verstehen, bzw. zu erklären. Denn in der jüdischen Religion, d. h. also der Weltund Lebensauffassung des Judentums sind Individualismus und aller Subjektivismus geradezu verpönt. Das erklärt Lazarus selber in seinem Alterswerk ›Die Ethik des Judenthums‹, 1898, und er betont dort eigens, wie sehr es ihm in diesem Werk ganz darauf angekommen sei, sich hingebend einzuleben in den Gesamtgeist des Judentums, und: »wie sehr es des festen und klaren Verzichtes« bedurft hätte, »anderweitig entlehnte und … eigene Gedanken« in dieses Werk hineinzutragen, sagt er wörtlich. Und er beteuert – wiederum wörtlich: »Aber auch bei der lautersten und strengsten Spannung des Geistes allein auf das objektiv Gegebene, wird hier ein gewisses Mass von Subjektivität, von persönlicher Bedingtheit nicht zu vermeiden sein«. 547 Diese – für uns fast unglaubliche – Zurückhaltung der eigenen Persönlichkeit ist ein Gebot der jüdischen Sittenlehre – und diese ›Vermeidung des Individualismus‹ (IX) ist deshalb geboten, weil alle Kraft der Individuen der Gemeinschaft, dem gemeinschaftlichen Ideal zu dienen hat. 548 | Als ich auf diesen gedanklichen Weg geriet, wovon mir vor einigen Tagen noch nichts schwante, und worauf mich nur die Frage des Kommilitonen gebracht hat, – als ich dies erkennen mußte, war ich Baff. Denn: Theorie des objektiven Geistes – so ist zu folgern – hat entschieden mit jüdischer Ethik zu tun – diese Betonung des Gemeinschaftlichen und diese Abwendung vom modernen Individualismus, das Zurücktreten des eigenen Selbst: sie allesamt sind Bedingungen der Möglichkeit gerade dieser Theoriebildung, dieses Ansatzes, der so wenig die Leistungen des Einzelnen, und stattdessen so sehr die der Gesamtheit betont. In Lazarus’ Theorie des objektiven Geistes – nicht aber deshalb automatisch auch in den Nachfolgetheorien – steckt also etwas vom Ethos des Judentums, wenn Sie so wollen, etwas von der Lebensauffassung z. B. der heutigen Kibbuzim, wo eine quasi sozialistische Le547 548

sein«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 81 f. hat.] haben.

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bensweise – jedem nach seinen Bedürfnissen – mit jüdischem Traditionalismus zusammengeht. Lazarus seinerseits hat versucht, eine Erklärung für die Entstehung dieser eigentümlichen Sozialethik – und für die damit einhergehende Verpönung des Individualismus – zu finden. Er sieht die Ursachen in der Diaspora, der Zerstreuung der Juden in alle Welt: »Ohne eine geschlossene Gesellschaft« trat die jüdische religiöse Gesetzgebung der Thora als das einzige, Alles zusammenhaltende Band der Juden ein. Denn es fehlte jeder politisch-staatliche Verband, d. h.: »Eine äußere, greifbare Einheit ist nicht vorhanden, aber innere, geistige Einheit des Stammes mehr als je vorher und vielleicht mehr als bei irgend einem Volk; und mit voller Klarheit des Bewußtseins wird diese Einheit von den in der Diaspora lebenden Juden erstrebt und befestigt. …« Weiter heißt es: »Nicht genug kann dieser historischen Unterschied des jüdischen gegen andere Völker hervorgehoben werden. Überall sehen wir … daß der Zerfall des Staatslebens die Völker zum Individualismus führt« – bei Griechen, Römern und Babyloniern, – überall sind die politisch gegründeten Staatswesen am Individualismus zugrunde gegangen. – »Bei den Juden aber tritt eine neue Art geistig-sittlicher Einheit, ein ganz eigenartiges sociologisches Element hervor: … das Festhalten an dem eigenen Gesetz, an den überlieferten Prinzipien der Lebensführung, das zähe, ausdauernde, durch zahlreiche Martyrien besiegelte Festhalten … war für die Juden charakteristisch«. Hieraus »erblühte zugleich die Allen gemeinsame Verpflichtung auf die Ehre, die Würde und den Bestand des Ganzen. Trotz der Zerstreuung in alle Länder, wer und was einer auch sei, wo er lebe, er ist verpflichtet … die Gesammtheit als solche ist … Heiligung des göttlichen Namens.« 549 Das also mußte ich wohl noch nachtragen auf die Frage des Kommilitonen hin – daß Lazarus allenthalben die Leistungen der Gesamtheit höher stellt als die des Einzelnen, – das scheint unter diesem Aspekt gewissermaßen geradezu ›natürlich‹ – ›zweite Natur‹, d. h. kulturell geprägt durch die Geschichte und die sozialen Formen des jüdischen Lebens in der Diaspora. | Wenn wir uns jetzt also erneut dem Begriff des ›objektiven Geistes‹ näher zuwenden, dann mit einem neuen und verändertem Blick, den ich Sie bitte, nun auch auf den Text über die ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ noch einmal anzuwenden. Das ungeheure 549

Namens.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 26 f.

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Übergewicht des objektiven Geistes gegenüber dem subjektiven Geist, die Aufgabenstellung der ›Aneignung‹, – sie sind so, wie sie Lazarus formuliert, – ohne das spezifisch jüdische Ethos nicht denkbar. Wir lesen jetzt also neu – und verstehen jetzt besser, wenn Lazarus sagt: »Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugniß der menschlichen Gesellschaft, nicht des von Verbindung und Geschichte abhängigen Individuums. Deshalb muß die Gesellschaft selbst Gegenstand der Wissenschaft sein.« – Ich lese weiter: »Die Psychologie lehrt, daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaftlich ist; d. h. daß er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt ist, weil er nur im Zusammenhange mit seines Gleichen das werden und das leisten kann, was er soll; so sein und wirken kann, wie er zu sein und zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist.« – Und weiter: »Auch ist thatsächlich kein Mensch das, was er ist, rein aus sich geworden, sondern nur unter dem bestimmenden Einflusse der Gesellschaft, in der er lebt. Jene unglücklichen Beispiele von Menschen, welche in der Einsamkeit des Waldes wild aufgewachsen waren, hatten vom Menschen Nichts als den Leib, dessen sie sich nicht einmal menschlich bedienten: sie schrien wie das Thier und gingen weniger, als sie kletterten und krochen. So lehrt traurige Erfahrung selbst, daß wahrhaft menschliches Leben der Menschen, geistige Thätigkeit nur möglich ist durch das Zusammen- und Ineinanderwirken derselben. Der Geist ist das gemeinschaftliche Erzeugniß der menschlichen Gesellschaft. Hervorbringung des Geistes aber ist das wahre Leben und die Bestimmung des Menschen; also ist dieser zum gemeinsamen Leben bestimmt, und der Einzelne ist Mensch nur in der Gemeinschaft, durch die Theilnahme am Leben der Gattung.« – Woraus folgt: »Die Grundlage für das, über das thierische Dasein sich erhebende Sein und Wirken des Menschen ist demnach zuerst die Gemeinsamkeit mit gleichzeitigen Nebenmenschen. Doch diese gibt nur erst den ungebildeten Menschen, den Wilden, durch welchen der Geist nur erst hindurchschimmert, ohne leuchtend und wärmend aus ihm hervorzustrahlen. Das Bewußtsein des gebildeten Menschen beruht auch noch auf einer durch viele Geschlechter hindurch fortgepflanzten und angewachsenen Ueberlieferung. So ist der Einzelne, welcher an der gemeinsamen Geistesbildung Theil nimmt, nicht nur durch seine Zeitgenossen, sondern noch mehr durch verflossene Jahrhunderte und Jahrtausende bestimmt und von ihnen abhängig im Denken und Fühlen und Wollen.« – Das ist denn sozusagen jüdischer Traditiona279 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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lismus. Aber Lazarus ist auch Inspirator moderner Soziologie – und erkennt die Prozesse sozialer Differenzierung sehr wohl, wenn er sagt: »Er [der Mensch] lebt aber nicht mit allen seinen Zeitgenossen und allen Zeiten seiner Vergangenheit in gleich innigem Zusammenhange. Es bilden sich innerhalb des großen Kreises der Gesellschaft kleinere Kreise und immer engere bis hinab zur Familie. | Diese Kreise nun stehen nicht [einfach] neben einander, sondern durchschneiden und berühren sich mannigfach. So entsteht innerhalb der Gesellschaft ein höchst vielfach in sich verschlungenes Verhältniß von Verbindung und Absonderung [soziale Konflikte]. Demgemäß ist auch die Theilnahme des Einzelnen am Gesammtgeiste eine höchst verschiedene nach Richtung und Innigkeit und gestattet die unermeßbare Mannigfaltigkeit persönlicher Individualitäten.« Das war der von mir referierte formal-soziologische Begriff von Individualität. – »Aber wie scharf begrenzt, und welcher Art, wie reich, wie werth- und kraftvoll die Persönlichkeit sein mag; sie ist immer in ihrer Entwicklung durch die räumlichen Verhältnisse eines bestimmten Ortes, durch die zeitlichen eines bestimmten Zeitpunktes, durch einen besonderen Volks-, Familien- und Standesgeist, sowohl nach dem Grade ihrer möglichen Bildung, wie auch nach Inhalt und Form des Geistes bedingt. Nicht nur sein Wissen, sondern auch sein Gewissen, sein Fühlen und sein Wollen, sein Thun und sein Genießen, sein Empfangen und darum auch sein Schaffen, ist mit seiner Geburt an diesem Punkte der geistigen Gesammtentwicklung im Voraus bestimmt.« – Weil die Menschen in ein Volk, eine Zeit, einen Ort hineingeboren werden, weil sie in ein bestimmtes Volk und eine damit bestimmte Situation hineingeboren werden, deshalb entscheidet immer noch, oder immer auch, die Geburt die Zugehörigkeit zu einem bestimmten ›Volksgeist‹. Es ist interessant zu sehen, daß gerade Lazarus diese gleichsam ›konservative‹ These verficht: er, der doch, wie vielleicht nur wenige andere, völlig in dem deutschen Volksgeist heimisch geworden scheint. Aber dem ist denn doch nicht ganz so: wie seine ›Ethik des Judentums‹, sein Alterswerk deutlich erkennen läßt. Denn zu dieser Zeit hat er sich – und das schon seit bald drei Jahrzehnten – ganz aus der Völkerpsychologie zurückgezogen und ist stattdessen zu einem bewußten Judentum zurückgekehrt. Wenn man so will, zu seiner ursprünglichen Bestimmung, wenngleich er nicht Rabbiner geworden 280 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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ist. Aber: lebensgeschichtlich betrachtet, blieb die Völkerpsychologie bloße Episode, 1851–1856, d. h. vom 26. bis 41. Lebensjahr – zu einer Zeit, da er sich vollständig zu assimilieren suchte, – ein Projekt, das scheiterte – nicht anders als die Völkerpsychologie es tat: weil dieses Projekt zu früh kam: weil der Individualismus und sein politischer Ausdruck: der Liberalismus das wissenschaftliche Feld dominierten, weil Sozialpsychologie und Soziologie im 19. Jahrhundert in Deutschland keine Themen universitärer Wissenschaft waren, – was sich seit den 1890er Jahren veränderte: als Georg Simmel, Ludwig Stein und andere die Völkerpsychologie beerbten. Jetzt unter den modernen Namen der Soziologie und Sozialpsychologie … Und damit erstmal 10 Minuten Pause, falls Sie einverstanden sind. | B. Damit komme ich nun zum zweiten Teil der heutigen Vorlesung, – zum Thema ›Struktur des objektiven Geistes‹ und also zu der umfangreichen Abhandlung: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie von 1865 insbesondere zu den Paragraphen 6 bis 24: Diese Passage beginnt: § 6: »Der objective Geist«, und zwar mit einer Fußnote, die sagt: »Die Thatsache des objectiven Geistes war immer schon beachtet, wie versuchen aber jetzt, sie begrifflich zu scheiden.« »Als den bedeutendsten Erfolg alles geistigen Zusammenlebens bezeichnen wir die Entstehung eines erzeugten, erschaffenen, vorhandenen, eines objectiven Geistes.« – Und dann folgt noch eine 2. Fußnote, die sehr wichtig ist: »Man wird aus dem Fortgang der Darstellung leicht ersehen, daß der Begriff des ›objectiven Geistes‹ nicht im Sinne der Hegelschen Eintheilung genommen ist, in welcher er nur den praktischen Geist bedeutet, während er in unserem Sinne eben so sehr im theoretischen und künstlerischen Gebiete sich darstellt.« Also: Gegenstand der Völkerpsychologie ist das Zusammenleben der Menschen – man denke wieder an die Soziologie – und hier in diesen Paragraphen wendet sich Lazarus näher den ›Erfolgen‹ dieses Zusammenlebens zu. Es geht also um die Leistungen der Gesamtheiten – um das Spezifische und das spezifisch Neue dieses Theorieansatzes: »Wo immer mehrere Menschen zusammenleben, ist dies das nothwendige Ergebniß ihres Zusammenlebens, daß aus der subjectiven geistigen Thätigkeit Derselben sich ein objectiver, geistiger Gehalt entwickelt, welcher dann zum Inhalt, zur Norm und zum Organ ihrer ferneren subjectiven Thätigkeit wird.« 281 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Inhalt, Norm und Organ – das sind bereits die wichtigsten Funktionen, die der objektive Geist gegenüber den subjektiven Geistern übernimmt. Als Beispiel oder Paradebeispiel, das hatte ich bereits gesagt, fungiert hier allenthalben die Sprache. Lazarus bringt das erste Beispiel: »So entspringt aus der subjectiven Thätigkeit des Sprechens, indem sie von mehreren Individuen unter gleichen Antrieben und Bedingungen vollzogen wird und dadurch auch das Verstehen einschließt, eine objective Sprache.« »Diese Sprache steht dann den Individuen als ein objectiver Inhalt für die folgenden Sprechacte gegenüber; sie wird aber auch zugleich zur Norm, zur gegebenen, gesetzmäßigen Form der Gedanken, und weiterhin selbst zum Organ der weiteren Entwicklung der Sprechthätigkeit in Allen.« Hier zeigen diese Begriffe Norm, Form und Organ, was mit ihnen gemeint ist: Zuerst der Gesichtspunkt der Norm: »Aus der Thätigkeit aller Einzelnen ursprünglich geboren, erhebt sich der geistige Inhalt, als fertige That, sofort über die Einzelnen, welche ihm nun unterworfen sind, sich ihm fügen müssen.« Der zweite Charakter der Sprache ist der der Form: »Die Sprache [als objektive] erscheint als das Seiende und Bleibende neben den vorübergehenden Acten des wirklichen Sprechens, sie ist das Allgemeine gegenüber | der individuellen Thätigkeit der Einzelnen.« Und insofern ist sie Form – Lazarus erläutert dies: »Die Nothwendigkeit, mit welcher die Genossen irgend einer Sprache so sprechen, wie sie sprechen (gewisse Gedanken an gewisse Lautformen knüpfen), ist nun nicht mehr jene erste und ursprüngliche, vermöge deren sie nach psychophysischen Gesetzen diese bestimmten Formen der Sprache erzeugt haben, sondern es tritt zu derselben und überragt sie sehr bald die neue Nothwendigkeit, welche aus der objectiv vorhandenen, gesprochenen Sprache hervorgeht.« Die Sprache ist objektiv vorhanden, festgefügt und trägt normierenden Formcharakter – sie ist aber auch Medium oder Organ fernerer subjektiver geistiger Tätigkeit, und Organ ist die Sprache durch und vor allem mittels ihres Formcharakters. – Dafür kann man sagen: »zur physischen Nothwendigkeit [des menschlichen Sprechens] tritt [irgendwann also] die historische, zu dem natürlichen Gesetz kommt das geistige.« Das heißt: »physische (also: physiologische und psychologische) Gesetzmäßigkeit« – daß und wie das Sprechen funktioniert – geht 282 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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parallel mit der »historischen (d. h. historisch-psychologischen)« Seite ihrer Entwicklung: der Sprachentwicklung. Dieser Zusammenhang und dieses Nebeneinander von physiologisch-psychologischen und historisch-psychologischen Gegebenheiten – von Funktionsweise bei jedem Einzelnen – und historischer Entwicklung – ist »nicht bloß für das Wesen der Sprache,« charakteristisch und von höchster Wichtigkeit, »sondern für alle Bethätigungen des Geistes, welche durch Vermittlung des erzeugten, objectiven Geistes ihre Form, ihren Bestand und ihre Entwicklung erhalten.« Dabei stehen also nebeneinander: aktuelle Anwendung durch den Einzelnen, – und: historische Entwicklung der Sprache als Ganzer – und in beidem zusammengenommen haben wir ein Beispiel für die Bedeutung des ›objektiven Geistes‹ : »Denn in der That auf allen Gebieten des geistigen Daseins ist die Entstehung des objectiven Geistes das nothwendige Resultat des Zusammenlebens, seine bestimmte Art und Natur aber die Bedingung für alles weitere Leben und Wirken der Geister.« Nach diesem Beispiel – Sprache – geht es nun um die prinzipiellere Klärung, und auch um eine Verallgemeinerung: »Wir suchen uns deshalb in etwas bestimmterer Weise die Fragen zu beantworten: was der objective Geist ist? und wie er wirkt?« Das führt auf eine vorläufige Definition, unter dem Titel: § 7: »Der objective Geist als Masse.« »Das Leben eines jeden individuellen Geistes besteht in einem Kreis von Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, Motiven, Gesinnungen, Schätzungen, Wünschen, Gefühlsweisen u. s. w. Denken wir uns nun … den Träger all dieses mannigfaltigen Inhalts, … | hinweg: so erhalten wir die ganze Masse alles geistigen Thuns, welches sich im Volke vollzieht, ohne Rücksicht auf persönliche Vertheilung und Ausübung. Diese Summe alles geistigen Geschehens in einem Volke ohne Rücksicht auf die Subjecte, kann man sagen: ist der objective Geist desselben. Dies ist offenbar eine sehr unvollkommene, gewissermaßen rohe, aber einfache und für die Folgen wichtige Vorstellung vom objectiven Geist.« Ja, dies ist nicht nur eine sehr vorläufige, sondern auch eine rein hypothetische Definition: denn »Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, Motive, Gesinnungen, Schätzungen, Wünsche, Gefühlsweisen u. s. w.«, die der objektive Geist – wie der subjektive auch – umfassen 283 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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soll, wären insoweit nur ein reines Abstraktionsprodukt: denken wir die Einzelnen weg von dem, was sie an geistigen Eigenschaften haben – dann haben wir den ›objektiven Geist‹. Wir haben ihn, aber nur wenn wir die unausgesprochene Prämisse dieses Abstraktionsaktes mitvollziehen, daß der Einzelne – jederzeit und immer – Teil des Ganzen, Teil des Gesamt- oder Volksgeistes ist, resp. aussschließlich als ein solcher betrachtet wird. Lazarus sagt: »Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen; Alles in uns, an uns, ist ein Erfolg der Geschichte; wir sprechen kein Wort, wir denken keine Idee, ja uns belebt kein Gefühl und keine Empfindung, ohne daß sie von unendlich mannigfaltig abgeleiteten historischen Bedingungen abhängig ist.« Diese chaotische Vielfalt, die jetzt also ›objektiver Geist‹ heißt, gibt es tatsächlich jedoch nicht, denn die jeweiligen Gemeinschaften produzieren – oder bilden aus – jeweils ein bestimmtes System, einen Verweisungszusammenhang aller Teilaspekte dieses objektiven Geistes, deshalb heißt es in § 8: »Der objective Geist als System« »Denken wir uns nun aber den objectiven Geist des Volkes, als das Produkt seiner allseitigen Thätigkeit, als ein irgend wie fertiges Gebilde, das mit anderen vergleichbar und in sich selbst zusammenhängend gefaßt werden soll, … so wird jene bloße Summe des vorigen Paragraphen sich gestalten zu einem … folgerichtigen System von Anschauungen, Vorstellungen, Begriffen und Ideen, wodurch dieser objective Volksgeist von allen andern sich unterscheidet. Dächten wir uns nämlich, daß gerade so wie die Sprache eines Volkes in seinem Lexikon und seiner Grammatik … vollständig niedergelegt ist, ebenso auch alle Rechtsanschauungen, … aber auch alle Anschauungen von der Natur und ihrem Wesen, von dem Menschen, der geistigen Fähigkeit, von allen moralischen, religiösen und ästhetischen Bedürfnissen, alle praktischen und industriellen Bestrebungen und die Art, wie sie vollzogen werden, als völlig bestimmt angegeben, gleichsam codificirt: so würde damit eine adäquate Darstellung des objectiven Geistes zur bloßen Kenntniß desselben (noch nicht Erkenntniß!) gegeben sein.« – Letzteres eine Anspielung auf Hegel. Und jetzt beginnt die nähere Analyse: § 9: »Die Verkörperung des Geistes überhaupt«: | »Fragen wir nun nach der Weise der Existenz dieses in einem Volke gegebenen objectiven Geistes, so sehen wir zunächst, daß sie für verschiedene Theilgebiete desselben eine zwiefache ist. Zum Theil nämlich existirt der geistige Inhalt nur als 284 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Gedanke oder sonstiges geistiges Element (Gefühl, Wille u. s. w.) in den lebenden Trägern des Volksgeistes als wirklich vollzogene oder vollziehbare Acte des psychischen Lebens, also in den einzelnen Geistern innerhalb oder außerhalb des Bewußtseins; zum anderen Theil aber erscheint er gestaltet und befestigt durch Hineinbildung in irgend einen materiellen Träger des Gedankens.« – Das ist also der alte Kulturbegriff, die ›cultura animi‹. Nun folgt eine zweite ›Summenformel‹ und Definition, diesmal für die auch materiell manifesten Objekte des ›objektiven Geistes‹ : »In Büchern und Schriften aller Art, in Bau- und anderen Denkmälern, in Kunstwerken und den Erzeugnissen des Gewerbefleißes, in den Werkzeugen (und den Werkzeugen zur Erzeugung der Werkzeuge), in den Verkehrsmitteln zu Lande und zu Wasser, auch in den Vorkehrungen des Handels sammt der Erstellung allgemeiner Tauschmittel, in den Waffen und Kriegsgeräthen, in Spiel- und Kunstwerkzeugen, kurz in der Herstellung von allen körperlichen Dingen zum realen oder symbolischen Gebrauch findet der objective Geist eines Volkes seinen bleibenden Ausdruck.« Das ist der Punkt: Hier führt Lazarus den neuen Kulturbegriff ein, denn dies ist bereits ›natura altera‹. Zwischen diesen beiden Extremen ordnet er noch drei andere, spezielle Ausformungen des ›objektiven Geistes‹ ein: materielle instrumentelle habituelle institutionelle rein geistige Ich übergehe hier die §§ 10–12: Maschine und Werkzeug, Der psycho-physische Typus, Die Institutionen und die Formen der Geselligkeit, und gehe gleich über zu § 13: Das »Totalbild des objectiven Geistes«: »Nunmehr können wir versuchen, ein gedrängtes Bild von der gesammten Existenz- und Wirkungsweise des objectiven Geistes überhaupt zu entwerfen, in welchem alle Momente der Charakteristik verschiedener Genossenschaften und ihres objectiven Geistes gegeben sind. Der objective Geist ist, wie wir gesehen haben, der aus der persönlichen (subjectiven) | Thätigkeit der Einzelnen hervorgegangene, erzeugte und vorhandene, als solcher den Personen thatsächlich gegenüberstehende geistige Gehalt, welcher als Inhalt und Form des 285 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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geistigen Lebens sich kund gibt. Die beiden extremen Erscheinungen, in denen dieser objective Geist sich manifestirt, sind also diese.« Denn: »Kürzlich« sagt Lazarus am Ende des Paragraphen 13, über das Totalbild des objektiven Geistes: »können wir die verschiedenen Manifestationen des objectiven Geistes in folgender Reihenfolge darstellen; er existirt als: 1) der durch Verkörperung beharrende und wiedererkennbare Gedanke; – d. h.: Kunstwerke, Documente, Schriften, Bauten aller Art, zum Verbrauch bestimmte Erzeugnisse der Industrie. Sie enthalten im engsten Sinne den objectivirten, in ein Object gelegten Geist, dessen Beziehung zur subjectiven Thätigkeit der Personen nur diese ist, daß überhaupt subjective Thätigkeit, welche die Subjecte auffaßt, hinzukommen muß, damit diese als objectivirte Gedanken ein Leben gewinnen; in den Objecten selbst liegt es, diese subjective Thätigkeit zu erregen und zu ihrer Erkenntniß zu leiten je nach dem Maße der Bestimmtheit des in ihnen niedergelegten Gedankens. 2) der unter Anknüpfung an materielle Verhältnisse organisirte – oder auch das Verhalten der Geister zu einander organisirende Gedanke; d. h.: Werkzeuge und Maschinen sammt allen wissenschaftlichen Instrumenten, in denen der Geist dergestalt objectivirt ist, daß zum bloßen Beharren desselben auch die dauernde Wirksamkeit tritt, welche nur von der dauernden Kenntniß des Gebrauchs bedingt wird. 3) der in des Menschen eigenem psycho-physischem Organismus erscheinende und wirkende Gedanke; – d. h.: die auf anthropologischem Boden spielende Gestaltung desselben. In aller habituellen und national-charakteristischen Gewandtheit und Geschicklichkeit, in allen nationalen Formen und Manieren, in allen Kunstübungen und persönlichen Darstellungen erscheinen Geist und Natur, Seele und Leib, Ueberlieferung und Gegenwart, das Allgemeine und das Persönliche durchaus gleichgemischt. 4) der in einer Verkörperung nicht bloß erkennbare, sondern auch wirkende Gedanke, – d. h.: Schulen z. B. und alle Kunst- und Lehranstalten, auch Verwaltungseinrichtungen, Gemeindebildungen bürgerlicher und kirchlicher Art und freie Vereine mit äußerlichen Normen, Bedingungen und Erfolgen, ja alles das, was man als öffentliche Institutionen bezeichnet, bildet eine zugleich in Aeußerem ausgeprägte, objective Gestaltung des Geistes. Auch die Formen der Geselligkeit mit | ihren ethischen und ästhetischen Motiven gehören hierher. 5) der in dem geistigen Leben (der Einzelnen wie der Gesammtheit) als wesentlicher Inhalt und leitende Form lebende und dasselbe constituirende Gedanke. – d. h. also: rein geistige 286 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Elemente: Anschauungen, Ueberzeugungen, Gesinnungen, Denkformenn Gefühlsweisen u. s. w.; sie sind Elemente des objektiven Geistes, in so dem einzelnen Geiste gegenüberstehen und auf sie wirken.« Beim nächsten Mal werden wir uns nun diesen 5 verschiedenen Formen – und dem so wichtigen Verhältnis des objektiven und subjektiven Geistes zuwenden. Ich bitte diejenigen, die den Text haben, die Paragraphen 14 folgende sich genau durchzulesen – und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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4. Vorlesung 550 I. Wir hatten beim letzten Mal den für die Geschichte des Kulturbegriffs entscheidenden Punkt erreicht, wo Lazarus in den Begriff des objektiven Geistes auch alle materiellen Träger des ›Geistes‹ einbezieht, die Stelle, wo es heißt: »In Büchern und Schriften aller Art, in Bau- und anderen Denkmälern, in Kunstwerken und den Erzeugnissen des Gewerbefleißes, in den Werkzeugen (und den Werkzeugen zur Erzeugung der Werkzeuge), in den Verkehrsmitteln zu Lande und zu Wasser, auch in den Vorkehrungen des Handels sammt der Erstellung allgemeiner Tauschmittel, in den Waffen und Kriegsgeräthen, in 550 4. Vorlesung] folgt Fußnotenzeichen und -text: 90 Min., inklusive 7 Min. Pause. – ca. 40 Hörer. Dem Ausdruck dieser 4. Vorlesung (in zwei Teilen als 4. und 5. Vorlesung gehalten) für das SS 2002 sind vier hs. Bl. beigelegt (| = Zeilenwechsel, || = Seitenwechsel): 19. 6. 02 | »Ku[ltur]philos[ophie]« | kriegt ›Vorgeschichte‹ | Modell: Erk[enntnis]theorie (›Technikphilosophie‹) bis Platons Erkenntnistheorie | Welche Folgen hat dieses Verfahren? (siehe auch ›obj[ektiver] Geist‹ – sei Hegel!) | – erk[enntnis]theoretische Äußerungen bei Platon machen diesen noch nicht zu einem ›Erkenntnistheoretiker‹ | – ›Erk[enntnis]th[eorie]‹ bezeichnet eine Disziplin (= Institution; Lehrfach!), die eine bestimmte Funktion im Ensemble der philos[ophischen] Wiss[enschaft]en einnimmt. Folge 1: Ignorieren der Funktion. Was bedeutet ein solches Ignorieren praktisch (politisch wie philosophiepolitisch); vermeintlich ›reine Theorie‹ »Fachphilosophie« »systematische Philosophie« || ▶ Immunisierung gegenüb[er] den geschichtlichen Kontexten | ▶ Archaisierung des Weltbildes: sog. »Begriffe« und »Probleme« (sind prinzipiell solche der gr[iechischen] Antike) statt Sachen | ▶ Äthernisierung und Universalisierung Verwischung aller Differenzen || positiv: | ▶ methodisch: jeder philos[ophische] Satz (jede Disziplin zumal!) eine Antwort auf eine Frage, Problemstellung. Rekonstruktion des Problemes (der Frage) macht erst Einsicht (und Kritik) in die Aussage, Satz, Theorem, Disziplin, Philosophie möglich | ▶ sachlich: Kulturen denken! den Plural denken! innerkulturell: symb[olische] Formen als Medien und Arten von Partizipationen | Autonomie der symb[olischen] F[ormen] Auflösung des Monismus der W[elt]a[nschauung]en | interkulturell: symb[olische] Formen als bloßes Beispiel – Vorsicht mit der Behauptung ihres universellen Vorkommens in allen Kulturen – resp. anthropologische || Frage: universell oder spezifisch | ▶ praktisch: bricht ab. Danach folgt auf einem weiteren Bl. das Programm der Vorlesung: Vorlesung – Köhnke: Einführung in die Kulturphilosophie | 1. Was ist Kulturphilosophie? Begriff – Traditionen – Problemstellungen | 2. Erfahrung kultureller Differenzen. Völkerpsychologie als Kulturwissenschaft – Was ist Kultur? | 3. Kritische oder genetische Methode? | 4. Georg Simmels ›kritische‹ Methode | 5. Der Begriff der ›Gegenwart‹ und die ›Moderne‹ | 6. Konfliktlinien des Kaiserreichs | 7. Einheit und Fragmentierung der Kultur. Kulturverluste | 8. Pathos und – ›Tragödie‹ der Kultur | 9. Logoskreis und Weltkrieg | 10. Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ | 11. Pluralismus und Kulturalismus | 12. Oswald Schwemmers ›Kulturelle Existenz des Menschen‹ | 13. Theorie symbolischer Prägnanz | Ausblick; dazu ein hs. Entwurf des Programms.

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Spiel- und Kunstwerkzeugen, kurz in der Herstellung von allen körperlichen Dingen zum realen oder symbolischen Gebrauch findet der objective Geist eines Volkes seinen bleibenden Ausdruck.« Wir haben damit ein Problem geklärt, das Walter Benjamin sich vornahm zu klären, während er an seinem ›Passagenwerk‹ schrieb: Er notierte sich damals als Aufgabe: »Zu ermitteln, wie der Begriff der Kultur entstanden ist, welchen Sinn er in den verschiedenen Epochen hatte und welchen Bedürfnissen seine Prägung entsprach.« Und er vermutete: »Es könnte sich herausstellen, daß er, sofern er die Summe der ›Kulturgüter‹ bezeichnet, jungen Ursprungs ist«. Damit lag Walter Bejnamin durchaus richtig, denn dieses neuere Verständnis des Kulturbegriffs, eins, das auch die Sachkultur, die materielle Kultur, die Kulturgüter – und damit also auch die Alltagsgegenstände – in diesen Begriff mit einbezog, beruht ganz offensichtlich auf zwei dezidiert modernen Voraussetzungen, denn: Erstens wird er Begriff Kultur damit nicht mehr exklusiv nur für ›höhere Produkte‹, höhere geistige Bildung, für Philosophie und Künste verwendet, – also nicht mehr nur im Sinne der cultura animi – der Pflege der Seele und ›Kultivierung‹ des Geistes verstanden, was diesem Begriff um 1800, in Spätaufklärung und Frühidealismus, jenen geschichtsphilosophischen Sinn verlieh, von jeglicher ›Bildung‹ des Individuums auch eine Höherbildung der Menschheit als Ganzer zu erwarten. Und zweitens hat der Kulturbegriff nunmehr – durch Einbeziehung auch der Kulturgüter – jenen wertenden, teleologischen Sinn gegen einen rein deskriptiven eingetauscht, – worin sich zugleich auch eine deutliche Höherbewertung des Materiellen, von Handarbeit und des insofern eher Alltäglichen ausdrückt: ›Alltagskultur‹ lautet das dafür heute gängige Stichwort, mit dem sich auch Walter Benjamins damalige Interessen charakterisieren lassen. Wir hatten bereits gesehen, wie dieser neue Kulturbegriff aus der Völkerpsychologie von Moritz Lazarus hervorgegangen war, dadurch, daß innerhalb seiner ›Theorie des objektiven Geistes‹ sowohl die materiellen wie auch die immateriellen Objektivationen des Geistes, in Lebenswelt und Lebensweise – samt den Formen der Geselligkeit, d. h. des Alltäglichen – sowohl im Hinblick auf die Dinge, wie in dem auf die sozialen Gegebenheiten | als Produkte der ›Verdichtung des Denkens in der Geschichte‹ angesehen und interpretiert worden waren.

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Wir hatten gesehen, daß die Formulierung dieses Theorems wesentlich auch den in Berthold Auerbachs Volkskalender im Jahrgang 1861 erschienenen Aufsatz Aaron Bernsteins zurückging, der den Titel trug: ›Ein alltägliches Gespräch‹. In ihm hatte Bernstein sich verwundert geäußert über die weitverbreitete Ahnungslosigkeit seiner Zeitgenossen in Bezug auf die alltäglichen Dinge. Aber auch in Bezug auf die Naturerkenntnis – ein Umstand, dem Bernstein im übrigen selber mit den 20 Bänden seiner Naturwissenschaftlichen Volksbücher abzuhelfen sich bemüht hat. Denn dort klärte der 1848er Demokrat, Journalist und Erfinder des ›Leitartikels‹ seine Zeitgenossen über all das auf, was die damalige Schulausbildung noch kaum beinhaltete: Physik, Chemie und Biologie, aber eben auch über Ernährungsfragen, Bäder und ihre Wirkungen, Beleuchtungswesen und z. B. auch: ›Praktische Heizung‹. Hier nun, in diesem ›alltäglichen Gespräch‹ im Volkskalender, verwundert sich Bernstein darüber, daß seine Zeitgenossen die »Culturwelt« so gedankenlos genießen, ganz ohne all die Geistesarbeit zu würdigen und zu erkennen, die in all diesen Dingen und sozialen Einrichtungen steckt: »Welch großartige Kultureinrichtung ist z. B. ein gewöhnlicher Wochenmarkt?!« fragt Bernstein und macht als Bedingungen der Möglichkeit von so etwas Alltäglichem wie einem Wochenmarkt Arbeitsteilung, Tausch und Gegenseitigkeit der Dienstleistungen aus, aber auch eine bestimmte soziale Ordnung dafür verantwortlich, die wir doch allemal so gedankenlos einfach nur hinnehmen: soziale Sachverhalte nicht anders als die alltäglichen Dinge, Taschenuhren ebenso wie beispielsweise auch die Postzustellung, die doch mindestens eine Kultur des Vertrauens und der Diskretion voraussetze, seien Alltäglichkeiten, die man einfach gedankenlos hinnehmen, aber eben auch deuten und interpretieren könne und müsse, denn diese »Ordnung der Alltäglichkeit« zeuge von einer »Fülle großartiger Gedanken«. Genau an diese Entdeckung des Alltäglichen – so darf man vielleicht sagen – hatte Moritz Lazarus angeknüpft, und versucht, in den ›Synthetischen Gedanken zur Völkerpsychologie‹ diese ›Ordnung der Alltäglichkeit‹ zu analysieren: jetzt unter der Themenstellung des ›objektiven Geistes‹. Soweit waren wir gekommen und hatten uns am Ende der letzten Vorlesung bereits den Paragraphen 13 angesehen, wo das Totalbild des ›objektiven Geistes‹, d. h. die ›Ordnung der Alltäglichkeit‹ ausgebreitet wird. 290 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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5 Dimensionen, so hatten wir gesehen, unterscheidet Lazarus. – Der ›objektive Geist‹ kommt vor: 1. im rein geistigen Sinne: in Sprache und Religion, Denkformen und Gesinnungen 2. im institutionellen Sinne: in Verwaltungseinrichtungen, Lehreinrichtungen und anderen, bis hin zu den »Formen der Geselligkeit« wie Lazarus sagte – 3. im habituellen Sinne: in Form von Geschicklichkeiten und anthropologischen resp. psychophysischen Eigenheiten, die sich ausprägen 4. im instrumentellen Sinne: in Werkzeugen, Maschinen und wissenschaftlichen | Methoden 5. schließlich auch im materiellen Sinne: in Kunstwerken, Monumenten und Produkten aller Art, – manifestiere sich dieser ›objektive Geist‹. Diese fünf Teilbereiche des ›objektiven Geistes‹, die Moritz Lazarus 1865 umriß, bezeichnen – wenn man so will – die ›Ordnung der Alltäglichkeit‹, auf die Aaron Bernstein Moritz Lazarus gebracht hatte. Und nicht nur das, denn es ist klar, daß sich eine Anzahl von Wissenschaften, die es damals – um 1860 – noch garnicht gab, sich diesen verschiedenen Objektivationen des Geistes angenommen hat: Zunächst: Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaften, Religionswissenschaft gab es freilich schon: insofern bestand kein Nachholbedarf, denn hier finden wir ja ganz einfach den alten Kulturbegriff wieder: im rein geistigen Sinne – 2. Ein wirklich wissenschaftsfähiges und epochemachendes Thema stellt dann jedoch die Betrachtung des ›objektiven Geistes‹ im institutionellen Sinne dar: die Soziologie, aber im Grunde alle Sozialwissenschaften, haben als zentrale Fragen die nach der Bildung und Funktion von Institutionen und allemal die nach den ›Formen der Geselligkeit‹. Lazarus gehört allein schon mit dieser Themenstellung, die er auch in anderen Arbeiten weiter ausgeführt hat – in die Frühgeschichte der Wissenschaft der Soziologie, und das nicht etwa nur als Lehrer eines so prominenten Soziologen wie Georg Simmel. 3. Der ›objektive Geist‹ in jenem habituellen Sinne aber ist so – jedenfalls so weit ich sehe – allenfalls innerhalb der Anthropologie und Ethnologie zu einer wissenschaftlichen Fragestellung geworden, wenn freilich auch nicht in dem Sinne, den Lazarus noch zeitgeist-

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bedingt im Auge hatte, nämlich die Nationalcharakter zu unterscheiden. Aber darauf komme ich noch später zurück. 4. Anders aber sah dies mit der Beschäftigung mit Werkzeugen, Maschinen und wissenschaftlichen Methoden aus, denn sie als Objektivationen des Geistes aufzufassen, und nicht bloß als Mittel (also rein ›instrumentell‹) zu betrachten, wie in der Ingenieurwissenschaft und Technik, forderte dazu auf, sie zu deuten und zu verstehen. Was zu den verschiedensten Versuchen einer ›Philosophie der Technik‹ beitrug oder auch geführt hat, und man muß heute sicher hinzufügen, auch Forschungsbereiche wie z. B. die Technikfolgenabschätzung bis hin zur Wirtschaftsethik haben sich solcher Fragestellungen angenommen: der Deutung der Möglichkeiten der Technik – im guten wie im schlechten Sinne. 5. Schließlich der objektive Geist in allen materiellen Objekten. – Alltagskultur und Deutung der Gegenstände des alltäglichen Lebens – das waren und sind an sich keine Themen traditioneller Wissenschaften. Lazarus hat hier, jedoch vermittelt über seinen Schüler Simmel, die reichsten Anregungen gegeben. Anregungen, die dann bis ins Werk Walter Benjamins reichen, indem dieser bei seiner Suche nach seinen Ahnen einer mikrologischen Darstellung und Deutung der Sachkultur und Kulturgüter der modernen Welt – in ihrem Charakter als Waren – und insofern Produkten entfremdeter Arbeit – immerhin soviel richtig gesehen hat, daß in Richtung Simmels der Ursprung des modernen Kulturbegriffs zu suchen sei: Die | Dinge als geistige Erzeugnisse – als Ausdruck – nämlich, veranlassen nicht nur, nach dem in sie investierten Geist, sondern auch nach ihrer Ästhetik zu fragen – und so hat nicht nur die Volkskunde, sondern auch die Kulturphilosophie entscheidende Impulse von hierher empfangen: denn diese vermeintlich alltäglichen Objekte des alltäglichen Gebrauches sind ja nicht allein nur Gebrauchsgegenstände, sondern haben zunehmend auch Symbolbedeutungen angenommen – denken Sie dabei bitte nicht nur an das Auto als Statussymbol, sondern viel diffiziler: alle industriell produzierten Waren, die wir heute erwerben, sind Schöpfungen immer auch des Designs. Denn, wie hatte schon Lazarus gesagt: »nicht bloß die gewaltige und überwältigende Schöpfung sittlicher Institutionen und hervorragender Kunstwerke ist es, welche Organe der Gedankenverdichtung schafft; sondern da, wo die Wissenschaft und die ethische und ästhetische Gestaltungskraft sich mit dem alltäglichen Leben verbindet, wo sie immer tiefer in die Breite des Lebens hinabsteigen, da durchflechten sie das Gewebe auch der 292 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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einfachsten Verhältnisse mit idealen Gestalten; fern von seinem Beginn und unerwartet schlingt sich der Faden höchster Geistescultur in die Formen der alltäglichsten Dinge.« II. Ich habe diesen bisher erreichten Stand unserer Beschäftigung mit Lazarus so ausführlich rekapituliert, weil wir noch eine Stufe tiefer steigen wollen. Denn nicht nur die Nachfolger von Lazarus haben diesen nicht zitiert oder erwähnt – auch Lazarus seinerseits hat Quellen der Inspiration genutzt, aber ungenannt gelassen, die wir uns anschauen müssen. Denn nicht zitiert wird auch Markus Tullius Cicero, jetzt nicht in seiner Eigenschaft als Rhetoriker und Stilist, nicht als römischer Senator und Politiker, sondern Cicero als derjenige, dem wir manchen philosophiehistorischen Bericht über Vorsokratiker und Stoiker verdanken. Vielleicht – aber vermutlich haben auch Sie es nicht bemerkt, daß, als gleichsam in einem Atemzuge vom Pythagoreischen Lehrsatz und vom Wochenmarkt die Rede war – und im Text wird auch noch das ›Schauen‹ bemüht – daß da von Lazarus an die klassische Bildung appelliert wird – oder aber, sie liegt bei ihm vielleicht auch ganz einfach als Vorstellungshorizont zugrunde: Genauer gesagt, es ist hier die Legende von der Entstehung des Begriffes der Philosophie, – daß Pythagoras es gewesen sei, der das Leben des Menschen mit einem Marktgeschehen verglichen habe: »wie dort die Einen mit trainierten Körpern den Ruhm und die Ehre des eines Kranzes erstrebten, Andere mit Aussicht auf Gewinn und Profit durch Kauf und Verkauf angelockt würden und es endlich eine besondere Gruppe gebe, die die vornehmste sei und weder nach Beifall noch nach Gewinn strebe, sondern um des Schauens willen [auf den Markt] gekommen sei … die alles Andere verachteten und die Natur der Dinge aufmerksam betrachteten. Diese nennten sich Liebhaber der Weisheit, eben Philosophen.« 551 | – So habe Pythagoras gesagt – wie Cicero in seinen Tusculanae Disputationes, Gespräche in Tusculum, uns überliefert, – ein Buch, das Lazarus seit Schulzeit und Studium begleitet hat, das im Jahre 1849 auch Thema seiner mündlichen Promotion war, – und auch noch Jahrzehnte später nennt er seine Villa in Schönefeld, damals bei, heute in Leipzig – ›sein Tusculum‹. 551

Philosophen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: 4. Buch, 9. Abschn[itt].

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Kein Zweifel, daß Lazarus ein großer Cicero-Verehrer war und daß er mit diesem Anklang an Pythagoras implizit auch seinen eigenen Begriff der Philosophie durchblicken ließ: nichts andres als schauen zu wollen, auf dem Markt, um dort die Natur der Dinge aufmerksam zu betrachten. – Wobei wir uns wieder an Walter Benjamins Frage nach den ›Kulturgütern‹ erinnern, an den ›Flaneur‹ in den Passagen von Paris, ebenso wie an Simmels ›Philosophie des Geldes‹. Denn das alles bildet einen in sich geschlossenen Vorstellungskreis, dessen Ursprung ein Lazarus noch klar vor Augen hatte, den aber die nachfolgenden Generationen bereits nicht mehr erkannten, – und, das muß man heute hinzusetzen, der von Lazarus nur deshalb nicht eigens zitiert zu werden brauchte, weil die Lektüre Ciceros ganz einfach zum Kernbestand damaliger Gymnasialbildung gehörte. So ging bei den nachfolgenden Generationen mit der Selbstverständlichkeit dieser Kenntnisse auch die der ursprünglichen Herkunft des Begriffs des ›objektiven Geistes‹, insbesondere im Sinne der ›Kulturgüter‹, verloren. Denn der freilich stammt ursprünglich auch von Cicero, und zwar aus der Gegenüberstellung von Natur und jener anderen von ihr abgesonderten Sphäre, die von Lazarus als ›zweite Natur‹ bezeichnet wurde. Das ist ›natura altera‹ – die ›andere‹ oder ›zweite‹ Natur im materiellen Sinne, die die Menschen sich durch die Arbeit ihrer Hände geschaffen hätten – wie es bei Cicero heißt, in einer wunderschönen Stelle, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: »Was für geschickte und für wieviel Künste geeignete Dienerinnen aber hat die Natur dem Menschen erst in seinen Händen geschenkt! Denn die leichte Beugung und die ebenso leichte Streckung der Finger verursacht … bei keiner Bewegung auch nur die geringste Mühe. Deshalb eignet sich die Hand zum Malen, zum Formen und zum Schnitzen, aber auch zum Saiten- und Flötenspiel … Und dies dient nur dem Vergnügen, während das Folgende zu den notwendigen Erfordernissen des Lebens gehört, ich meine damit das Bestellen der Felder, den Bau von Häusern, die Herstellung von gewebter oder genähter Kleidung und jede Art von Verarbeitung von Erz und Eisen; daraus aber läßt sich erkennen, daß wir [zusätzlich] zu dem, was der Geist ersonnen und was die Beobachtung erfaßt hat, durch die Hände … alles erhielten, so daß wir ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Schutz haben können und dann Städte, Mauern, Häuser und Heiligtümer besitzen. … wir säen Getreide und pflanzen Bäume; wir leiten Wasser auf unsere Ländereien und machen sie dadurch fruchtbar, wir dämmen Flüsse ein, bestimmen ihren Lauf und leiten sie ab;« – und 294 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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jetzt kommt es: »ja wir versuchen, mit unseren Händen inmitten der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen.« 552 | ›Natura altera‹, ›zweite Natur‹ oder eben Kultur im Sinne eines Inbegriffes aller ›Kulturgüter‹, – diese Vorstellung und dieser Aspekt einer ›materiellen Kultur‹ geht unzweifelhaft auf die Cicero-Lektüren von Lazarus zurück, diesmal aus ›De natura Deorum‹, ›Vom Wesen der Götter‹. 553 »Was für geschickte und für wieviel Künste geeignete Dienerinnen aber hat die Natur dem Menschen erst in seinen Händen geschenkt!« ruft Cicero aus – »Welch’ eine wundervolle Maschine ist … eine Menschenhand, die wenn man sie nur dazu dirigirt, all’ das [was Maschinen leisten] und noch viel mehr macht, und abwechselnd macht, und doch bei all’ dem ein Werkzeug ist am lebenden Leibe, welches eigentlich auch seinen Werth nicht einbüßt, wenn es ruht!« – rief auch schon Aaron Bernstein aus: Im 12. Band seiner Naturwissenschaftlichen Volksbücher, 3. Aufl. von 1868 – und unzweifelhaft liegt dieser Äußerung Bernsteins dieselbe Cicero-Stelle zugrunde, an die auch Lazarus anknüpfte. Sie können daraus sehen, daß und in welchem Maße selbstverständlich den Zeitgenossen der 1860er Jahre noch die Cicero-Lektüre war – aber Sie erkennen daraus wohl auch, wie hoch der Bedarf gewesen ist, die Erscheinungen der Gegenwart – die Ordnung der Alltäglichkeit zu verstehen: ›Natura altera‹, ›zweite Natur‹ bezeichnet schon seit Cicero jenes äußere, inselgleiche Reich der materiellen Kulturerrungenschaften. Lazarus sagt: »Der Mensch, der … in das Leben eintritt, findet neben der objectiv gegebenen Welt der Natur zugleich in dem objectiven Geist eine zweite, eine Welt des Gedankens«, d. h. eine Welt der Manifestationen des Gedankens, die ›zweite Natur‹ oder eben ›Kultur‹ : die alltägliche Lebenswelt und alle in ihr stattfindenden Lebensweise, konnten so zum Thema auch wissenschaftlicher Bemühungen werden.

552 schaffen.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. M. Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. Lateinisch-deutsch. Hg., übers. u. erl. v. Wolfgang Gerlach und Karl Beyer. 3. Aufl. München/Zürich 1990. S. 322–327. – Eine zugehörige und ähnlich wichtige Stelle findet sich in ›De officiis‹ 2,15. – Zitiert nach: Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert u. hg. v. Heinz Gunermann. Stuttgart 1976. S. 15 f. 553 Götter‹.] folgt Fußnotenzeichen und -text: 2. Buch, 150.152.

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III. Der Begriff der ›natura altera‹ hat aber noch eine zweite Bedeutung. Denn auch der ›innere Mensch‹ erwirbt eine ›zweite Natur‹, und jetzt ist gemeint: eine andere und veränderte Art und Lebensweise, und zwar durch langdauernde, ständige ›Gewöhung‹, die sich dann zur Sitte und sozialen Formen und Institutionen ›verdichtet‹, und der als zweiter Bestandteil, neben den materiellen Kulturgütern, in den ›objektiven Geist‹ eingeht. Lazarus charakterisiert diese Ausbildungsform der ›zweiten Natur‹ unter dem Titel des Paragraphen 11: »Der psycho-physische Typus« wo er sagt: »Nicht unerwähnt darf, wenn es sich um die Weisen der Existenz des objectiven | Geistes handelt, ferner diejenige bleiben, welche mitten in der persönlichen Bewegung des Geistes und seiner Wechselwirkung mit dem Körper ihren Sitz hat.« »Im Unterschiede nämlich einerseits von den objectiv vorhandenen Gedanken und Denkformen im Geiste und andererseits von den Verkörperungen des Gedankens in objectiven Dingen müssen wir alle jene psychophysischen Leistungen betrachten, welche man unter dem Namen der Uebungen und Geschicklichkeiten zusammenfassen kann.« »Nun ist zwar eine jede Ausführung … [von Übungen und Geschicklichkeiten] an die subjective, persönliche Thätigkeit der Individuen gebunden; allein nicht bloß ist hier, außer der vorübergehenden Thätigkeit zugleich eine bleibende, vorhandene Fertigkeit des Geistes in seiner Einwirkung auf den Leib, sondern es bildet sich auch bis zur Charakteristik der verschiedenen Nationalgeister die Art und Weise, wie die Geister der Individuen ihren Leib beherrschen, durch ihn und auf ihn wirken, zu einem bestimmten, relativ gleichbleibenden Typus aus. In so fern nämlich dieser Typus, mitten in aller Verschiedenheit der Einzelnen und während sie in subjectiver Thätigkeit ihn darstellen, doch zugleich ein bleibender ist, in so fern haben wir in ihm auch einen Zug des objectiv gewordenen öffentlichen Geistes zu erkennen.« Und dann folgen Beispiele: »Auch die Sprache enthält in ihrer phonetischen Seite Momente dieser Art des objectiven Geistes. Die Art der Beherrschung der Sprachorgane, die Bevorzugung des einen vor dem anderen, die Ausbildung des Lautsystems unter Anwendung von verschiedenen Vocalen und Consonanten, von Zischund Schnalzlauten, auch die Weise des schnelleren oder langsameren, klaren oder dumpfen Sprechens, der heftigen oder gelinden Gesticulation: alles dies bietet charakteristische Merkmale des objectivirten Nationalgeistes dar.« »Auf anthropologischer Grundlage im wei296 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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testen Sinne stehen dann die verschiedenen Arten der Bewegung und der Beweglichkeit des Körpers überhaupt; die Behendigkeit der Franzosen, die Steifheit der Engländer, die Grandezza der Spanier und Würde der Türken, die Schwerfälligkeit der Holländer, Festigkeit der Deutschen, die verschiedenen Weisen der Anmuth bei den Frauen schließen charakteristische Züge des objectiven Geistes ein, welche sich einerseits in den verschiedenen Stämmen der Völker wieder individualisiren und andererseits in verschiedenen Lebensäußerungen einen besonderen Werth gewinnen, z. B. in der größeren Tauglichkeit zum Angriff oder zur Ausdauer im Kriege, zum Land- oder Seedienst, zur Colonisation u. s. w. Hierher gehört auch alle natürlich gegebene oder künstlich erworbene und zur zweiten Natur gewordene Gewandtheit und Geschicklichkeit überhaupt, die in friedlichem Turnen oder kriegerischer Uebung oder in den eigentlichen Spielen ihren Ausdruck findet. Unter der Voraussetzung, daß die Weise der Erscheinung und der Thätigkeit habituell geworden ist und neben der Individualität des Einzelnen doch zugleich eine bestimmte von jeder anderen unterscheidbare Allgemeinheit darstellt, bildet sie ein Merkmal des objectiven Geistes. Deutlich und gewichtig tritt dies hervor, wenn wir bemerken, daß auch alle mimischen und musikalischen Künste hierher gehören, indem die verschiedenen Arten und Grade, die | Neigungen und Fähigkeiten ihrer Uebung für die verschiedenen Nationen charakteristisch sind.« IV. ›Natura altera‹, in diesem doppelten Sinne, - einerseits dieses habituell-werden von Fähigkeiten und Geschicklichkeiten - andererseits jene inselhafte vom Menschen gestaltete Umwelt bezeichnet damit – ganz genau und vollständig – den gesamten Begriffsinhalt des sogenannten ›objektiven Geistes‹ und bildet so den Ausgangspunkt nicht etwa nur der oben skizzierten auf Lazarus zurückgehenden Theorietradition, sondern – in einem gewissen Sinne – auch die Anfänge der modernen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften überhaupt. Und dies konnte gelingen, weil die Theorie des objektiven Geistes nicht etwa historisch, sondern vielmehr funktionell die Zusammenhänge von Einzelnem und Gesamtheit, ›objektivem‹ und ›subjektivem Geist‹ untersuchte. Denn, so sagt Lazarus schon 1860, und keineswegs zufällig: neben der »Geschichte der Cultur« müsse es eine »eigentliche Cultur297 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Wissenschaft« geben, die ihrerseits in verschiedene Disziplinen zerfalle, von denen die Kunst- und Kirchengeschichte, die Nationalökonomie, Politik und Gesellschaftslehre sich ja bereits zu einiger Selbstständigkeit emporgearbeitet hätten. Denn in ihnen geht es ja »um die Beschreibung gewisser Culturerscheinungen« und eben nicht um historische Wandlungen, wie in der herkömmlichen Kulturgeschichte. – Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie fragen nach der Ordnung der Alltäglichkeit – nach den Bedingungen der Möglichkeit kulturellen, d. h. menschlichen Lebens überhaupt. Und jetzt erstmal Pause für 7 Minuten – | Damit komme ich zum 2. Teil der heutigen Vorlesung: V. Die Geschichte eines philosophischen Begriffs von Kultur beginnt in Deutschland natürlich nicht erst mit Lazarus, sondern 1774 mit Johann Gottfried Herders Polemik gegen das Mißverständnis, er Herder, habe mit seiner kleinen Schrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ (1774) 554 eine »Geschichte der Kultur« oder gar »die Philosophie der ganzen Menschengeschichte« darzulegen beansprucht. 555 Das weist er scharf zurück. Das wäre äußerste Vermessenheit, da von einem linearen Fortschrittsprozeß der Menschheitsentwicklung unter dem alles zusammenfassenden Titel ›Kultur‹ keine Rede sein könne, denn das beinhalte eine ganz unzulässige Bewertung und Rangierung anderer Völker, – ja anderer Kulturen: »Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Kultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem, was wir Kultur nennen, … [nicht] jedes Individuum [jedes Volk] des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts ist unbestimmter als dieses Wort [Kultur] und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten.« Dieses Wort ›Kultur‹, – es ist ein bloßes »Scheinwort, das sich 554 (1774)] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort v. Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/M. 1967, wo der Begriff der ›Kultur‹ in verschiedenen Wendungen – ohne nähere Bestimmung – vorkommt, z. B.: S. 22: »Kultur des Bodens«, S. 29: Griechenland »Zwischenland der Kultur«, S. 32: »Daß Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anders woher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar«, S. 83: »Letternkultur«, S. 86: »Papierkultur«. 555 beansprucht.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. vermutlich: Adelung: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, 1782.

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auf den ersten Blick als ein solches bloßgibt«, so heißt es in Herders Vorrede, – jetzt seiner ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹, unterzeichnet im April 1784 – 10 Jahre später. – 556 Aber bereits im September desselben Jahres versucht sich – ohne Herder zu erwähnen – Moses Mendelssohn an einer Bestimmung dieses Begriffs: »Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören … bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. … Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern.« 557 Was begriffsgeschichtlich denn nichts anderes heißt als daß, erstens, nicht erst heute, sondern bereits im ersten Moment, da der Begriff Kultur als Neuankömmling in der deutschen Sprache begrüßt wurde, er keine distinkte und konventionelle Bedeutung besaß. Woraus zweitens zu folgern ist, daß eine genetische Ableitung und in diesem Sinne eine Geschichte des Begriffes ›Kultur‹ im eigentlichen Sinne ganz unmöglich ist. | Das zeigt sich auch daran, wie Mendelssohn daraufhin ›Kultur‹ – als eher praktische – von ›Aufklärung‹ als mehr theoretischer ›Bildung‹ absetzt. Kultur gehe auf »Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken, Künsten und Geselligkeitssitten (objektive); auf Fertigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit in [Handwerken und Künsten], Neigungen, Triebe und Gewohnheit in [Geselligkeitssitten] (subjektive)«. 558 – Und so finden wir hier nicht nur eine frühe Andeutung späterer Unterscheidung von subjektiver und objektiver Kultur, sondern vor allem die Erklärung dafür, warum in diesem Sinne ›Bildung‹, ›Kultur‹ und ›Aufklärung‹ zu annähernden Synonymen werden später. –] folgt Fußnotenzeichen und -text: Zitiert nach: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort v. Gerhart Schmidt. Wiesbaden o. J. S. 39. 557 verbessern.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? (zuerst Berlinische Monatsschrift, September 1784). Zitiert nach: Bahr, E. (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974. S. 3 f. 558 (subjektive)«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Mendelssohn a. a. O. S. 4 556

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konnten: weil sie in gleicher Weise auf eine höchste Kultivierung und Ausbildung abzielen, – in Bezug auf die handwerklichen Geschicklichkeiten und die Sitten ebenso wie auf den Vernunftgebrauch. Immer geht es um das Ideal höchstmöglicher Kultivierung, denn – ich zitiere jetzt wieder Cicero – »wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele [cultura animi] ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus, bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, übergibt sie ihnen und sät … was dann, wenn es ausgewachsen ist die reichste Frucht [die höhere Kultur] bringt«. 559 So lautet das Gleichnis von Ackerbau und Geisteskultur in Ciceros ›Gesprächen in Tusculum‹ und diese Stelle steht für dieses Kultur- und Bildungsideal und für diesen älteren – und genau nur diesen – Begriff von Kultur, der ganz einfach der der ›Spätaufklärung‹ resp. des ›Frühidealismus‹ ist, und von dem dann die ›Kritik der Urteilskraft‹, 560 Schiller, Humboldt 561 und Fichte 562 und damit auch alle späteren begrifflichen Synkrasien von Bildung und Kultur ausgehen werden: ›cultura animi‹. | 559 bringt«.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. a. a. O. 2,13. S. 124–125. 560 Urteilskraft‹,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. bes. § 83: Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems: Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur. Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat (nicht seine Glückseligkeit auf Erden, oder wohl gar bloß das vornehmste Werkzeug zu sein, Ordnung und Einhelligkeit in der vernunftlosen Natur außer ihm zu stiften).« [Kant:] A[kademie-]A[usgabe Bd.] 5, S. 431. 561 Humboldt] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über Religion. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. S. 1–32; z. T. eingegangen in dessen ›Ideen zu einem Versuch, die Gränzen des Staats zu bestimmen‹ (1792), verwendet ›Kultur‹ in charakteristischen Zusammenhängen: S. 4 Cicero (!), S. 12: »Geisteskultur«; S. 17: »Stufen [der] Kultur«, S. 19 ff.: »geistige Kultur« im Zusammenhang Garves (vgl. dazu dessen Übersetzung von Ciceros ›De officiis‹ (1783) und dessen Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. 1.–3. Buch. Breslau 1783); S. 31 f.: »Keiner steht auf so niedriger Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre«, vgl. dies mit Herder ›Ideen‹ S. 128. 562 Fichte] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Fichte a. a. O. S. 8: »Die Erwerbung dieser Geschicklichkeit, theils unsre eigenen vor dem Erwachen unsrer Vernunft und des Gefühls unsrer Selbsthätigkeit entstandenen fehlerhaften Neigungen zu unterdrücken und auszutilgen; theils die Dinge ausser uns zu modificiren und sie nach unsern Begriffen abzuändern, – die Erwerbung dieser Geschicklichkeit, sage ich, heißt

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VI. Von diesem ›Kulturideal‹ setzte sich als erster, – lange schon vor Lazarus – Herder ab, als er noch im selben Jahre 1784 in der zweiten Lieferung seiner ›Ideen‹ (freilich auch ohne Namensnennung) auf Mendelssohn Bezug nahm. Und zwar, indem er den Begriff der ›Tradition‹, die Überlieferung, ins Feld führte: »denn kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch geworden« 563: er ›bildet sich heraus‹ in einer – so wörtlich – »geistigen Genesis«, in Erziehung, Nachahmung und Übung: »Wollen wir diese zweite Genesis [des Menschen, neben der organischen], die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur, oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Kalifornier und Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen; er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir sie lernen; [in]sofern ward er also wirklich kultiviert und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise«. Und deshalb lehnt Herder es ausdrücklich ab, »willkürliche Unterschiede zwischen Kultur und Aufklärung« zu machen. 564 Was bedeutet das? Zuerst, daß die Begriffe ›Kultur‹ und ›Aufklärung‹ – schon hier bei Herder und Lazarus – erstmals ausdrücklich zu relativ wertfreiem, eher deskriptiven Gebrauch designiert werden. ›Kultur‹ streift das Telos und den Begriffssinn der ›höchsten Kultiviertheit‹ und Verfeinerung ab, weil Herder es ablehnt, den wertenden »Begriff der europäischen Kultur« als Maßstab zugrundezulegen. 565 Das ist das Entscheidende! Es gibt für ihn nur noch verschiedene ›Grade‹ und ›Stufen‹ der Kultur (resp. der Aufklärung), wie denn umgekehrt der Mensch seinerseits in eine Stufenleiter der Schöpfung und des Organischen eingestellt wird. – Das macht deutlich, daß Herders Begriff von Kultur sich von vornherein von jenem wertenden Sprachgebrauch absetzt, Kultur, und der erworbene bestimmte Grad dieser Geschicklichkeit wird jedenfalls so genennet. Die Kultur ist nur nach Graden verschieden; aber sie ist unendlich vieler Grade fähig [vgl. Herder!]. Sie ist das letzte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen …«; vgl. Kant K[ritik der] U[rteilskraft]. 563 geworden«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Herder a. a. O. S. 226. 564 machen.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Herder a. a. O. S. 227; vgl. KlassikerAusgabe S. 1026! 565 zugrundezulegen.] folgt Fußnotenzeichen und -text: Ebd.

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den Mendelssohn – stellvertretend für die Aufklärung – auf den Begriff gebracht hatte. Aber nicht einfach nur in Absetzung von Kultur als ›cultura animi‹ ist dieser Herdersche Sprachgebrauch von ›Stufen‹, ›Graden‹ und dem ›Gang der Kultur‹ entstanden, sondern er stand von vornherein unter einer ganz anderen Leitvorstellung. Sie klang dort bereits an, wo er von der ›zweiten Genesis‹ des Menschen – neben seiner natürlich-organischen – spricht, dort, wo er sagt, der Mensch müsse die Tradition »in seine Natur verwandeln«, 566 weil der Mensch sich nicht primär durch seine Vernunft, sondern durch den aufrechten Gang und seine kunstfertigen Hände über die übrige organische Welt emporhebt, 567 – auch da | überall steht Ciceros Begriff von der ›zweiten Natur‹ vor Augen. Der Kulturbegriff beinhaltet also seit Anbeginn zweierlei ganz unterschiedliche Akzentsetzungen, denn ob Cicero in den Tusculanen sagt ›Pflege der Seele‹ – cultura animi – ist die Philosophie, oder ob er die Resultate von menschlicher Geistes- und Handarbeit und die menschlichen Lebensweisen gleichnishaft als ›zweite Natur‹ bezeichnet, scheidet hier nicht nur die Geister, sondern läßt auch zweierlei Begriff von Kultur unterscheiden: jenen älteren »Neuankömmling in der deutschen Sprache«, wie Moses Mendelssohn 1784 sagte, der ein Synonym von Bildung und Aufklärung darstellt – und jenen jüngeren Gebrauch, der die Werke der Hand- und dann auch Maschinenarbeit ganz ausdrücklich mit einbezog, denn nur letzterer hat – und nur er konnte es – der Philosophie einen besonderen Gegenstandsbereich und ein eigenes Objekt des Interesses geboten: Philosophie der Kultur, wie Simmel sagt, oder Kulturphilosophie, wie Ludwig Stein, ein anderer Lazarus-Schüler seit 1900 aufbrachte, ist nur da möglich und sinnvoll, wo Kultur nicht als Mittel zum Zweck der Höherbildung, sondern als eigenwertig und an sich bedeutungsvoll angesehen und entsprechend analysiert wird: ganz gleich, ob nun unverwandeln«,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Herder a. a. O. S. 227. emporhebt,] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. Herder a. a. O. S. 114 f. – Vgl. dazu Kants Rezension, wo dieser eigens moniert: »Nicht weil er zur Vernunft bestimmt war, ward ihm zum Gebrauch seiner Gliedmaßen nach der Vernunft die aufrechte Stellung angewiesen, sondern er bekam Vernunft durch die aufrechte Stellung« (S. 48) und: »Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf, er bekam freie und künstliche Hände« vgl. [Kant:] A[kademie-]A[usgabe Bd.] 8, S. 49. 566 567

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ter materialistischer Prämisse als Überbauphänomene und Produkte entfremdeter Arbeit, wie bei Walter Benjamin, – oder als Manifestationen und Objektivationen von geistiger resp. sozialer Arbeit, wie in der durch Lazarus gestifteten Tradition – oder eben, wie sie bei Cicero als ›natura altera‹ der umgebenden, vom Menschen gestalteten Umwelt verstanden wird, – und zwar innerhalb seines Referats des stoischen Pantheismus. Denn daher und genau dort geschah die wohl erste und ursprüngliche Entdeckung des Alltäglichen: im stoischen Pantheismus des Panaitios, dessen Enkelschüler Cicero war, und dessen Werk zwar verloren, aber insoweit doch von Cicero in ›De natura deorum‹ überliefert ist: daß wir wissen, daß alles, und auch das Alltäglichste vom Wesen der Götter zeugt, – wohlgemerkt nicht nur eines Gottes, denn Kulturphilosophie ist von Anbeginn eine bis zum Pantheismus götter –, also wertereiche Veranstaltung, die in allem Alltäglichen das Bedeutsame und Wertvolle sieht und sucht: weil sie den Glauben an den einen Gott so nicht kennt oder verloren hat, weil sie ihn stattdessen findet in Gütern und sozialen Einrichtungen, in der ›Kultur‹. So ist denn ›Kulturphilosophie‹ auf gewisse Weise auch eine Art stoischer Pantheismus, und Pantheismus ist, wie schon Feuerbach treffend sagt »verschämter Atheismus« – oder eben Stoizismus und vielleicht auch Hedonismus, jedenfalls Streben nach innerweltlicher Glückseligkeit. Wie zur Zeit Ciceros: Zitat De officiis S. 151: »nächst den Göttern können die Menschen den Mitmenschen am meisten nützlich sein. … Denn gerade die Gegenstände, die wir als leblos bezeichneten, sind zum größten Teil durch die Leistungen der Menschen geschaffen worden. Wir hätten diese nicht, wenn nicht die Arbeit der Hände und des Geistes hinzugetreten wäre, und wir bedienten uns ihrer nicht ohne die Zusammenarbeit der Menschen. Denn es hätte weder Pflege der Gesundheit noch Seefahrt, | weder Ackerbau noch Einbringung und Speicherung der Feldfrüchte und übrigen Erträge ohne die Mithilfe der Menschen geben können. Ferner gäbe es sicherlich keine Ausfuhr der Erzeugnisse, an denen wir Überschuß, keine Einfuhr derer, an denen wir Bedarf haben, wenn die Menschen nicht die einschlägigen Berufe ausübten. Ebenso würden nicht die zu unserem Bedarf erforderlichen Steine aus der Erde geschlagen, es würden nicht ›Eisen, Erz, Gold noch Silber‹, die ›ganz und gar verborgen sind‹, ausgegraben ohne das Mühen der Menschenhände. Behausungen gar, um durch sie den Einwirkungen der Kälteeinbrüche zu begegnen 303 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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und die Beschwerlichkeiten der Hitzewellen zu mildern – woher hätten sie am Anfang dem Menschengeschlecht gegeben werden oder später Hilfe bringen können, wenn sie durch die Einwirkungen eines Unwetters, durch Erdbeben oder durch altersbedingte Baufälligkeit eingestürzt wären, wenn die in Gemeinschaft lebenden Menschen nicht gelernt hätten, in diesen Notfällen ihre Mitmenschen um Hilfeleistungen zu ersuchen? Ich nenne weiter: Wasserleitungen, Ableitungen von Flüssen, Bewässerung der Felder, gegen Fluten aufgeworfene Dämme, durch Menschenhand angelegte Häfen – woher könnten wir diese Errungenschaften ohne die Zusammenarbeit der Menschen haben? Aus diesen und noch vielen anderen Beispielen ist ersichtlich, daß wir die Erträge und Vorteile, die wir aus den Gegenständen, die unbeseelt sind, gewinnen, in keiner Weise ohne die helfenden Hände der Mitmenschen hätten erreichen können.« 568 An die Stelle der Götter treten nun die Mitmenschen, denen wir all diese Kultur-Mittel einer innerweltlichen Glückseligkeit verdanken: die Zivilisation. Dank schulden wir ihnen, und so richtet sich die Dankbarkeit für die Segnungen der Kultur nicht eben an die Götter. Fragen wir uns! Was wäre also wenn? Was wäre, wenn Walter Benjamins Frage nach dem Sinn, den der Kulturbegriff in den verschiedenen Epochen hatte, ganz einfach dahingehend zu beantworten wäre, daß er – der Begriff Kultur – heute und überhaupt immer genau dann Konjunktur hat, wenn alle Transzendenz des Lebens dahinschwindet, wenn alles im Diesseits, im Hier und Jetzt des Alltäglichen seinen Sinn und seine Bedeutung finden muß, insofern und weil eben nur noch die Unmittelbarkeit von Lebenswelt und Lebensweise als wertvoll erscheint. Dann könnte man sagen: Der moderne Kulturbegriff ist, indem er auf die Beschreibung der Bedeutung und des Wertes der Lebenswelt und Lebensweisen abzweckt (also nicht mehr Kultivierung der Seele meint) damit zugleich der Begriff moderner Kultur: einer 569 Kultur des prinzipiell Alltäglichen in Lebenswelt und Lebensweise. Was überraschen mag: Aber diese Formel – der moderne Kulturbegriff ist der Begriff der modernen Kultur – ist leicht aufzulösen, denn der moderne, entteleologisierte, rein immanente, ziel-und zukunftslose Kulturbegriff beschreibt die gegenwärtige Kultur der Mo568 569

können.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: De officiis, 2. Buch, 11–14. Kultur: einer] Kultur ist: einer

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derne ganz treffend als bloß alltägliche Lebenswelt und -weise: ohne transzendente Ziele, ohne Glauben, ohne Zuversicht auf Fortschritt und Zukunft und ohne höhere Zwecke. Ein also auch in dieser Hinsicht ganz deskriptiver Sinn des Begriffs der Kultur – von einer | alltäglichen und entzauberten Welt, wie bekanntlich Max Weber von der ›Moderne‹ gesagt hat, – aber im Grunde auch Cicero schon gesagt hat, – ich zitiere wieder De officiis: »Was soll ich die Vielzahl der Kenntnisse aufzählen, ohne die das Leben überhaupt nicht möglich wäre? Wie nämlich käme man den Kranken zu Hilfe, welches Ergötzen der Gesunden gäbe es, welche Unterhaltung und Gestaltung des Lebens, wenn nicht so viele Kenntnisse uns die Gegenstände, durch die das Leben der Menschen verschönert ist und sich so sehr von der Unterhaltung und Lebensgestaltung der Tiere unterscheidet, zur Hand gäben? Städte könnten doch ohne das Zusammenkommen der Menschen weder gebaut noch bevölkert werden. Infolgedessen haben sich Gesetze und Herkommen gebildet, sodann gleiche Verteilung des Rechts und eine bestimmte Ordnung zu leben. Diesen Einrichtungen folgte geistige Kultur und Anstand, und es ergab sich, daß das Leben besser gesichert war und daß wir durch Geben und Nehmen, durch Austausch von Mitteln und Vergünstigungen keinerlei Entbehrungen leiden.« 570 Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit! 571

leiden.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: De officiis, 2. Buch, 15. Aufmerksamkeit!] im Ausdruck für das SS 2002 gestr., danach der hs. Zusatz: Sie sehen, bereits Cicero antwortet auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Lebens, des sozialen und insofern auch zivilisierten Lebens – und er antwortet folgerichtig: Kultur i. S. der natura altera und des objektiven Geistes ermöglicht uns dies Leben, wie wir es vorfinden und worein wir geboren sind – nicht aber etwa die »Natur«. Danach folgt noch: Damit komme ich zum zweiten Teil der heutigen Vorlesung: zum Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist: zu § 14: Der subjective und der objective Geist. »Die zuletzt genannte höchste, nämlich rein geistige Form des objectiven Geistes hat ihre Existenz in der Gesammtheit der einzelnen Geister, in deren Leben und geistigem Thun der objective Geist lebt und sich vollzieht. Aber dennoch sind die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes; sie erzeugen ihn nicht, sie erhalten ihn nur; ihr geistiges Thun ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Erfolg desselben.« »Die Einzelnen (bis auf die Ausnahmen des § 24) lernen ihre Thätigkeit aus dem Bestehenden und vollziehen es eben deshalb, weil es das Bestehende ist, dem sie sich nicht entziehen können; nicht aus der Kraft ihrer individuellen Subjectivität wirken sie, sondern aus der Macht der Objectivität, in welcher sie entstanden sind und stehen.« – da haben wir also wieder das 570 571

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5. Vorlesung I. Beim letzten Mal habe ich die Geschichte des Begriffs ›Kultur‹ versucht, auf die einfache Formel zu bringen: der moderne Kulturbegriff – ist der Ausdruck der modernen Kultur. Das sollte heißen, daß der Kulturbegriff, sofern er auch die Kulturgüter umfaßt, neueren Ursprungs ist, wie Walter Benjamin völlig zu Recht vermutet hat, Ausdruck des spezifischen Kulturverständnisses der Moderne ist: Denn wir haben gesehen, daß Lazarus in seinen Begriff des ›objektiven Geistes‹ auch alle materiellen Objektivationen des Geistes und der Arbeit aufgenommen hat – und daß der Begriff des ›objektiven Geistes‹ also genau all das umfaßt, was der moderne, rein deskriptive Begriff von Kultur bedeutet. Lazarus spricht diesen Begriff von Kultur so zwar noch nicht explizit aus, – das wird erst Georg Simmel tun, der dann ›objektiven Geist‹ und ›objektive Kultur‹ synonym 572 verwendet, – aber der Sache nach hat Moritz Lazarus dem Begriff der Kultur den Sinn verliehen, alles zu meinen und zu umfassen, was – wie er dann doch an einer Stelle sagt: die ›Cultur des Zeitalters‹ ausmacht. Also all das – was mit Cicero gesagt – zur ›zweiten Natur‹ gehört: nämlich sowohl die ›Lebenswelt‹ oder ›Umwelt‹ im materiellen oder instrumentellen Sinne, die gegenständliche Welt – wie zweitens auch in dem Sinne einer ›zweiten Natur‹ des Menschen, die seine gesamte Lebensweise ebenfalls durch den ›objektiven Geist‹ bestimmt sein läßt: durch Sprache, Religion und Sitten, Rechtsverhältnisse und Institutionen, wie auch durch habituell gewordene Verhaltensweisen, die das Leben in der Gesellschaft mit sich bringt, hat der sozusagen ursprüngliche, ›natürliche‹ Mensch so ein zweites, ein neues Wesen, – eine ›zweite Natur‹ – erworben, die es freilich noch näher zu betrachten gilt. Davon später. Wenn man also einen Urheber des modernen Kulturbegriffs benennen will, kann man sagen: Moritz Lazarus sei dieser Urheber gewesen. Aber man muß doch hinzusetzen, daß er sich dennoch einreiht in eine Entwicklung und Geschichte, die von Panaitios, und zumal dessen Enkelschüler Cicero ausgeht – und über Lazarus’ ›Völkerpsychologie‹ verläuft – hin zur modernen Kulturphilosophie seiner Schüler geradezu erdrückende Übergewicht des Objektiven über das Individuelle, der Gesamtheit gegenüber dem Einzelnen. Danach 4 weitere S. Lazarus-Zitat ohne Kommentar. 572 Kultur‹ synonym] Kultur‹ dann synonym

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und der verschiedensten Nachfolgetheorien über den ›objektiven Geist‹. Ich betone dies eigens – natürlich nicht, weil ich etwa Lazarus’ Leistung schmälern wollte – das werden Sie mir glauben. Nein, nur einfach deshalb, weil solche Urheberschaften selten – oder eigentlich nie – in diesem Sinne als Leistung eines Einzelnen angesehen werden können. Vielmehr müßte man das Ganze geradezu umgekehrt lesen und zu verstehen suchen, z. B. so: Wir, Sie und ich, wir beschäftigen uns mit der modernen Kulturphilosophie, weil – weil Sie Kulturwissenschaften studieren. Und Sie studieren damit ein – als solches neues – Fach, ein Fach, das i. w. S. veränderten historischen Bedingungen Rechnung zu tragen sucht, | – insbesondere in Form eines neuartigen Anforderungsprofils des Berufslebens, das eine 573 nicht so sehr fachspezifische, als vielmehr breitere Ausbildung im Bereich der Kenntnisse von der ›Kultur‹ verlangt. Was immer damit denn gemeint sein mag. – Und da kommt nun sozusagen meine Chance: als einer, der sich lange bevor dieses neue Fach existierte, mit diesem Thema befaßte – lehre ich deshalb jetzt eben hier. Aber nicht nur das: weil jetzt ein allgemeinerer Trend dahin geht, ›Kulturphilosophie‹ zu betreiben, weil man sich wieder für ›die Kultur‹ interessiert, nachdem in der Philosophie jahrzehntelang erst die ›Gesellschaft‹, und dann mit ähnlicher Einseitigkeit ›die Ethik‹ die Szene dominierten, – weil man sich wieder für die Kultur interessiert, deshalb macht ein Graben in der Vorgeschichte und nach den Vorläufern überhaupt einen Sinn. Was man jedoch noch weitergehend aufgliedern kann: Georg Simmel und Ernst Cassirer beispielsweise erleben seit einem Jahrzehnt eine sogenannte ›Renaissance‹, eine Wiedergeburt, weil der Trend zur ›Kultur‹ ging. Sie werden nicht mehr, wie die Jahrzehnte zuvor als ›tote Hunde‹ angesehen, sondern stehen neuerdings hoch im Kurs. Dies u. a. auch bei Verlegern, und so gibt es Neuausgaben, Gesamtausgaben etc. – Tagungen und Zeitungsartikel werden ihnen gewidmet usw.

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Berufslebens, das eine] Berufslebens, eine

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Erst im Zuge dieser Publikations- und Herausgebertätigkeiten und der wissenschaftlichen Erforschung kommt es dann zu weiteren Ausgrabungen: wer war denn eigentlich der Lehrer von? – woher haben denn diese sogenannten ›Wiedergeborenen‹ ihre Ideen? und andere Fragen stellen sich jetzt. Das führt dann hochgerechnet zu einem veränderten Blick auf die Geschichte der Philosophie und Wissenschaften – und hier also mit einem Male dazu, daß nicht mehr nur kritische Gesellschaftstheoretiker oder Ethiker der Vergangenheit Interesse finden, sondern nun auch die früheren ›Kulturphilosophen‹. Das wiederum führt z. B. auf Moritz Lazarus, den an sich kein Mensch mehr kennt – und den auch niemand kennen – und kaum ein Verlag drucken – wollte. Nun aber ist, resp. nun wird das anders: wir interessieren uns für Kulturphilosophie und den Kulturbegriff. Und überhaupt, wir müssen dieses neue Universitätsfach überhaupt erst hervorbringen, d. h. wir können nicht, wie andere Fächer, auf einen altehrwürdigen, abgesicherten Kanon von Klassikern und ebenso klassische Lehrbücher zurückgreifen. Neusichtung der Geschichte ist deshalb angesagt. Das heißt auch, wir verfolgen Probleme zurück – ich die Entwicklung beispielsweise des Begriffs Kultur und stoßen da schließlich auf Cicero, Panaitios, Stoizismus und Pantheismus. Also: die Entwicklung hat eigentlich nicht – wie man glauben könnte – von Panaitios bis zur heutigen Kulturwissenschaft geführt – sondern umgekehrt: weil wir Kulturwissenschaften treiben wollen – gehen wir auf diese Quellen zurück. Weil wir Kulturwissenschaften treiben wollen, in einem neuen, nicht-fachspezifischen Sinne, wie dies die traditionellen Geisteswissenschaften tun – weil wir ›Kulturwissenschaften‹ in mehr generalistischer Weise treiben wollen, deshalb wird die ganze Vorgeschichte unseres Tuns | mit einem Male interessant. Vielleicht befremdet Sie das etwas. Aber es ist eine ebenso naive wie weitverbreitete Meinung, daß Geschichte nur einfach das sei, was gewesen ist, was von sich aus vorwärtsgeht, sozusagen immer weiter wächst und immer einen neuen Jahresring ansetzt – und dicker und breiter wird und auslädt – Geschichte in diesem Sinne wäre ein bloßes Mehr an Vergangenem, Aufgehäuftes aus beliebig vermehrbaren – im Sinne des tatsächlichen Geschehens, das deshalb noch längst nicht in unser Be308 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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wußtsein eingeht, jedenfalls nicht darin in allen Einzelheiten aufbehalten wird. Nein, Geschichte – als auch erinnerte Geschichte – entsteht im Grunde genommen dadurch, daß uns, die heutigen Historiker und Zeitgenossen etwas bestimmtes interessiert, und wir daraufhin die Vergangenheit durchsuchen und neu anschauen, um diejenigen speziellen Tatsachen aufzufinden, die gleichsam aufs Heute hinzudeuten scheinen: – z. B. so, wie uns der Begriff der Kultur bis in die Antike zurückführt – während in andrer Richtung – von der Antike bis zur Gegenwart – eigentlich kein gradliniger Weg führt, jedenfalls keiner, der ununterbrochen und als solcher überhaupt nur beobachtbar wäre. Man kann dafür auch sagen: Geschichte ist eigentlich immer die Vorgeschichte eines Gegenwartsinteresses. Zumindest aber jede unreflektierte Geschichtsschreibung verhält sich so. Und unser Gegenwartsinteresse macht es möglich, diese Sprünge in die Zeit der Jahrhundertwende und zu Lazarus, von da zu Herder und zu Cicero zu vollführen. – Eine ›Entwicklung‹ jedoch, im Sinne eines ›Auswikkelns‹ von etwas in der Antike sozusagen einmal ›eingepackt‹ wordenen, liegt hier beileibe nicht vor. Vielmehr ist es umgekehrt so, daß wir die Vorgeschichte unserer heutigen Studien regelrecht ›erzeugen‹ müssen – II. Ich weise darauf eigens und nachdrücklich hin, weil die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zumal auch das eigene Tun, die ›Kulturwissenschaften‹, betreffen sollte, – ebenso, wie selbstverständlich auch all das, was in dieser Vorlesung zum Thema gemacht wird: d. h. warum und wie die wissenschaftlichen Gegenstände konstituiert werden, und wie es also dazu kommt, daß wir uns unter einem sehr bestimmten Blickwinkel mit der Geistesgeschichte, genauer gesagt: mit der ›Geschichte‹ dieses ›Gegenwartsinteresses‹ beschäftigen. Mit Hinblick darauf hatte ich in der letzten Vorlesung die Vermutung ausgesprochen, daß es eine spezifische Lebensweise und Stellung zu Welt und Dingen sei, die dafür verantwortlich sein könnte, daß wir die Wirklichkeit unter dem Blickwinkel ›Kultur‹ – und nicht etwa mehr unter dem der ›Gesellschaft‹ und ›Politik‹ oder auch der ›ethischen Probleme der Gegenwart‹ wahrnehmen. Nicht, daß ich Ihnen oder mir absprechen will, auch diese Dimensionen zu beachten und vielleicht sogar sehr intensiv in solchen Fragen zu stecken. Nein, ich meine eigentlich nur den deutlich erkennbaren allgemeinen Boom, – die Tatsache also, daß weitverbreitet 309 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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das Thema ›Kultur‹ die Menschen beschäftigt – vielleicht tatsächlich weil – wie ich beim letzten Mal als Vermutung aussprach: heute die Menschen in allem Alltäglichen das Bedeutsame und Wertvolle sehen und suchen: weil sie in Konsumgütern, Vergnügungen und sozialen | Einrichtungen, in der ›Kultur‹ ihre Wertvorstellungen verwirklicht finden: – weil diese Werte in hohem Maße das ganze Gegenwartsleben – das Leben in der Moderne bestimmen. Das heißt: die Erweiterung des Kulturbegriffes auch auf die Kulturgüter ist ein durchaus prägnanter Ausdruck des veränderten Wertbewußtseins – ein Ausdruck der Kultur der Moderne. Charakterisierbar vielleicht als neuer ›Stoizismus‹, oder vielleicht auch nur Hedonismus, jedenfalls ein Streben nach innerweltlich erlebbarer Glückseligkeit – statt etwa transzendenter oder auch überindividuell-weltlicher Ziele: nicht religiöse Implikationen und Interessen, nicht politisch-gesellschaftliches Engagement bestimmen den modernen rein deskriptiven Kulturbegriff – sondern ein überaus diesseitiges Interesse an der erlebbaren Welt: »Das ist die Seinslage der Menschen heute« schrieb in der Mitte des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal: die Menschen »sind in das Elend ihrer Blindheit und ihrer Gelüste gesenkt, das ihre zweite Natur geworden ist« – die Menschen sind ganz ihren sinnlichen Gelüsten ergeben, – sie sind, seit sie das Paradies verlassen haben, ihres guten Kerns und ihrer ersten, eigentlichen Natur verlustig gegangen: durch den Sündenfall – und dieser Sündenfall wiederholt sich in jedem Tun, das nicht der Vernunft entspringt und also nicht dem Glanz Gottes dient. 574 Was hier ein religiöser Denker wie Pascal als Verderbtheit seiner Zeitgenossen beklagt und unter ›zweiter Natur‹ abbucht: die Tierähnlichkeit des Menschen, insofern er vor allem nach Befriedigung seiner sinnlichen Gelüste strebt, – macht auf die reine Formalität des Begriffs einer zweiten Natur aufmerksam: Je575 nachdem, wie man den Menschen als ursprünglichen ansieht, wie man also seine ›erste Natur‹ beurteilt: - unschuldig im Paradies im Christentum - unschuldig, im Zustande der Natur auch bei Rousseau auch darüber entscheidet, wie man seine ›zweite Natur‹ beurteilt: - als Verderbtheit – oder - als Errungenschaft ständiger Höherentwicklung. 574 575

dient.] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 193 f. Je] je

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Bei Lazarus liegt der Fall klar, weil er den natürlichen Zustand als den einer Tierheit auffaßt, aus der sich der Mensch emporgearbeitet hat: und zwar in menschlicher Gesellschaft, und immer als Teil der Gesamtheit, hat er es vermocht, sich zu zivilisieren, sich eine Lebenswelt und Lebensweise zu schaffen, die ihm das Leben erleichtert. ›Zweite Natur‹ ist hier eindeutig positiv gemeint, und wird verstanden als Resultat eines langen Prozesses der Arbeit und der Kultivierung. Nur so – und nur deshalb kann Lazarus Kultur als Positivum auffassen, weil er den Weg der Entwicklung der Menschheit im Ganzen als eine Kultivierung begreift – und nur so kann überhaupt ein positiver Begriff – der Begriff der Kultur für ihn Sinn machen: ›Cultur des Zeitalters‹ heißt dieser Begriff – und dieser Begriff ist ein Ausdruck für einen ständigen | Fortschrittsprozeß in dem die Menschheit sich entwickelt habe – und in der sich die Menschheit weiterentwickeln werde. ›Zweite Natur‹, ›objektiver Geist‹ und der moderne Kulturbegriff – wie Lazarus diese Begriffe verwendet, beinhaltet also den Fortschrittsoptimismus, gleichsam den Optimismus des ›Leibniz‹, ›in der beste aller Welten zu leben‹. Das gibt der Welt ihren Wert und ihre Sinnhaftigkeit, das macht es auch möglich, sich mit all diesem Guten und Nützlichen dieser Welt zu beschäftigen: mit dem objektiven Geist. Nicht all die Übel und alltäglichen Mißlichkeiten, nicht das moralische Versagen der Individuen, nicht die existierenden Situationen – nicht Krankheit und Tod, nicht Furcht und Angst, nicht die Gewalttaten der Geschichte und Gegenwart – und auch nicht die Kämpfe der Gegenwart werden hiermit zum Thema, sondern genau das Leben, das die stoischen Philosophen zu leben, jedenfalls zu loben verstanden: eins ohne große Leidenschaften und ohne große Ängste und Hoffnungen, ganz diesseitig und behaglich, ein ›gutes Leben‹, ein angenehmes, so lange es eben dauert. ›Gesellschaft‹, ›Politik‹, ›ethische Probleme der Gegenwart‹ – zudem all das, was die Existenz des einzelnen Menschen bedroht und vernichten kann und tatsächlich vernichtet – all das wird hier garnicht erst thematisch – es bleibt in der Ferne, – und allenfalls einmal in mildes Licht gehüllt, erkennt man doch den einen oder anderen weniger freundlichen Zug dieser Wirklichkeit: Kultur wird auf diese spezielle Weise als sinnhaft erlebt – und ist umgekehrt zugleich auch ein prägnanter Ausdruck für eine ganz bestimmte Lebensweise: man 311 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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mag sie Wohlstands- oder Freizeitgesellschaft nennen, darauf kommt es nicht an – entscheidend ist, daß die Lebensweise rein innerweltlich und gänzlich individuell ihre Wertbezüge herstellt, daß also keinerlei Transzendenz diese Glückseligkeit zu stören vermag. – So jedenfalls könnte man vermuten. III. Damit komme ich zum eigentlichen Thema der heutigen Vorlesung: zum Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist: zu § 14: »Der subjective und der objective Geist« und hier ist klar, daß es um das Problem der Aneignung des ›objektiven Geistes‹ durch den ›subjektiven Geist‹ geht, – oder, wie Lazarus bereits im Inhaltsverzeichnis zum Aufsatz über die ›Verdichtung‹ als Anweisung ausspricht: »Die objective, in der Cultur des Zeitalters gegebene Verdichtung ist vom Individuum zu einer subjectiven umzugestalten«. D. h. die individuelle Verdichtung, das Lernen, die zu einer ›Cultur des Individuums‹ führen soll – muß sich das, was der geschichtliche Prozeß der Verdichtung in einer bestimmten ›Cultur des Zeitalters‹ bereitstellt, aneignen. Der ›objektive Geist‹ also muß angeeignet werden – und hier ist sofort klar, daß dies in ganz verschiedener Weise und in ganz unterschiedlichen Graden der Fall sein wird. Was bedeutet Aneignung gegenüber der Sprache und der Religion im Vergleich zu einer Aneignung gesellschaftlicher Formen, was in Bezug auf Arbeitswerkzeuge und was in dem auf materielle Güter? Lazarus hat keine Theorie der unterschiedlichen Grade und Weisen der Aneignung des | ›objektiven Geistes‹ geschrieben, – er hat ›Aneignung‹ vor allem im geistigen oder ›rein geistigen‹ Sinne vor Augen – so, wenn er am Beispiel des Kunstwerkes zeigt, was Aneignung meint: »Wenn ich einen künstlerischen Gegenstand auffasse, so ist allerdings meine subjective Thätigkeit des Anschauens wesentliche Bedingung dafür, daß das Bild desselben zum Inhalt meiner Seele wird; durchaus von meiner Thätigkeit ist die Existenz des Bildgedankens in meinem Geiste abhängig; das Bild kommt nicht durch seine active Erregung in meine (passiv gedachte) Seele hinein, sondern meine, des Geistes active Thätigkeit faßt es auf. Aber der specifische Werth und Inhalt ist mir dennoch in dem Kunstwerk gegeben; ich habe den Gedanken desselben, den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern 312 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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nur nachgebildet; an der Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv – nicht geschaffen, sondern – angeeignet.« Ich habe mir den Wert und Inhalt des Kunstwerkes zueigen gemacht – d. h. ich habe aktiv, durch meine subjektive Tätigkeit des Anschauens, den Gedanken oder Geist des Künstlers in mir ›wiedererzeugt‹, ›nachgebildet‹ – was geht, weil das Kunstwerk als solches nichts Zufälliges, sondern Ausdruck objektiver Gedanken ist: nur insofern und nur insoweit kann ich mir das Kunstwerk – in diesem Sinne – aneignen. Aneignung bedeutet also nicht, daß ich etwas völlig Subjektives mir zueigen mache, sondern daß das Kunstwerk resp. der Künstler objektiven Inhalt mit seinem Kunstwerk transportiert – und daß ich, weil ich dieses Objektive nachbilden und wiedererzeugen kann, deshalb mir das Kunstwerk aneignen kann. Man kann dafür auch sagen – sowohl der Künstler als auch ich: wir nehmen Anteil an derselben objektiven Welt – an demselben ›objektiven Geist‹ – und weil wir beide gleicherweise an ihm teilhaben – partizipieren –, deshalb überhaupt ist eine Aneignung überhaupt möglich. Was bedeutet das? Zuerst natürlich, daß wir es hier mit einer Auffassung des Kunstwerkes zu tun haben, die das Kunstwerk als eine Art Symbol für einen Gedanken sieht – und das zudem noch für einen gleichsam ›objektiven‹ Gedanken – und daß also ein ganz anderer Kunstbegriff hier zugrundeliegt als ihn die Moderne hat. Kunst ist Ausdruck des Allgemeinen und Objektiven – und trägt demgegenüber alles Subjektive allenfalls als Beiwerk und Ranke, als etwas Überflüssiges und Qualitätsminderndes an sich. Und das heißt zugleich auch, daß – indem der Künstler und ich an demselben ›objektiven Geist‹ partizipieren – keines der drei Glieder: weder Künstler, Kunstwerk noch Betrachter wirkliche Subjektivität aufweisen und an sich tragen, wie Lazarus dann in den folgenden Sätzen unumwunden ausspricht: »Danach nun kann man den durchaus überwältigenden Einfluß des geistigen Zusammenlebens ermessen. Denn … diese Art nachahmender Gedanken [bildet] in unserer geistigen Thätigkeit ein so großes numerisches Uebergewicht, daß als ein verschwindend kleiner Bruchtheil die Gedanken erscheinen, welche wirklich schöpferische sind, also auch nach ihrem Werth und Inhalt aus unserer subjectiven Thätigkeit hervorgehen 313 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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und dann eine Bereicherung des objectiven Geistes ausmachen, wovon weiter unten die Rede sein wird. Nur dies sei sogleich noch bemerkt, daß auch unsere schöpferischen Gedanken vielfach aus Elementen des nachahmenden zusammengesetzt sind und also immer wieder auf die Macht und den Einfluß des objectiven Geistes zurückweisen.« Wir werden noch sehen, was es mit dem Schöpferischen auf sich hat. Hier ist zunächst etwas ganz andres wichtig: Denn es gibt sozusagen zwei Möglichkeiten mit solchen Aussagen umzugehen: - eine intelligente – und: - eine weniger philosophische. Zuerst die weniger philosophische: Man kann beklagen und kritisieren, daß Lazarus teils den Künstler und sein Kunstwerk in derart ohnmächtiger und subjektloser Weise darstelle, daß die Individualität hier gänzlich verschwinde und er von der Kunst nicht das Mindeste verstehe. – Oder aber man sagt – und das kann man ganz allgemein tun: Jede theoretische Aussage ist eine Antwort auf eine Frage – ohne daß jedoch die Frage, die jeweils beantwortet wird, immer ausdrücklich gestellt würde. – Ich muß also zuerst die Frage ausfindig machen, denn dann erst kann ich die theoretische Aussage als Antwort verstehen – voll verstehen. – Zurück zu unserem Beispiel: Auf welche Frage antwortet Lazarus, wenn er erklärt: »ich habe den Gedanken [des Kunstwerks und] den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an der Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv – nicht geschaffen, sondern – angeeignet«? Lazarus antwortet auf die Frage: wie kommt es, daß ich das Kunstwerk ›verstehe‹, daß ich es mir ›zu eigen‹ machen kann, – es gut, schön oder bedeutend finden kann? Das bedeutet: Lazarus Absicht ist ja garnicht, etwas über das Schöpferische, das Geniale und eine besondere, womöglich singuläre Fähigkeit eines Individuums auszusagen. Er will vielmehr darauf aufmerksam machen, in welchem Maße alle Arten von Kommunikationsprozessen davon abhängig sind, daß ein ›geistiges Zusammenleben‹ einen ›objektiven Geist‹ herausgebildet hat, an dem wir alle partizipieren. 314 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Wir verstehen ein Kunstwerk nur – und nur insoweit, jedenfalls nur insoweit richtig – wie wir an ihm zu partizipieren vermögen. Das heißt: die Frage, die Lazarus sich stellte, – und die er uns beantwortete, ist die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Aneignung eines Kunstwerkes. Die Antwort: daß nur in dem Maße der Partizipation des Betrachters am Kunstwerk diese sich offenbare und zur Aneignung offenstehe – die Antwort kann eigentlich nicht | verwundern, weil hier das Individuum gefragt ist und das Individuum in einen Kontakt ganz eigener Art zum Kunstwerk tritt. Ungewohnt ist allenfalls die von Lazarus zwischengeschobene Instanz des ›objektiven Geistes‹ : nicht das Individuum tritt dem Kunstwerk gegenüber, – nein: sowohl der Künstler als auch der Betrachter partizipieren an demselben objektiven Geist – und nicht der Betrachter einfach am Kunstwerk – das eben macht das Kunstwerk erst zu einem Kunstwerk. D. h.: nur diese Objektivität – dieses Dritte, das der ›objektive Geist‹ darstellt – reiht den vom Künstler geschaffenen Gegenstand in die Reihe der Kunstwerke ein, – und schafft die Verbindung zum Betrachter, indem auch der Betrachter an demselben ›objektiven Geist‹ partizipiert. Nur so ist Kunst überhaupt möglich. – Indem Kunst ein Ausdruck von etwas Objektivem ist, kann der Betrachter das Kunstwerk als Kunstwerk identifizieren und ›verstehen‹. – Ein wichtiger Gedanke. – Das Objektive muß sich freilich nicht wie bei Lazarus auf die Darstellung oder bloß allegorische Verbildlichung des Gedankens reduzieren – wie Lazarus dies ganz offenbar vor Augen hat – sondern genauso gehören – oder könnten gehören – zu diesem Objektiven der Bezug auf z. B. Sehgewohnheiten und optische Reduktionen – Empfindungen, die sich zu bestimmten Materialeigenschaften einstellen usw. Dann nämlich wäre die Antwort, die Lazarus auf das Verstehen eines Kunstwerkes gibt durchaus noch heute aufrechtzuerhalten – Kunst wird nur Kunst dadurch, daß sie als Kunst erkannt wird – sagt die Moderne. Was man übersetzen kann und muß, – etwa so: nur, was sich diesem Begriff und Verständnis von Kunst eingliedert, also insofern auch ein Objektives darstellt: nämlich Kunstwerk zu sein, oder auch nur sein zu wollen, – ist dann Kunstwerk – Aber das ist dann ein weites Feld – 315 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Der Kunstwerkcharakter des Kunstwerks – wenn er sich denn an einem Objektiven festmacht – muß also keineswegs zu einer Beschränkung auf die Gedankenwelt führen – wichtig ist nur der Vorgang und die Tatsache der Partizipation, mittels der das ›Verstehen‹ des Kunstwerkes geklärt werden soll. Wenn wir also die Aussagen von Lazarus als Antwort auf eine Frage verstehen wollen, dann kommen wir hier auf die allgemeine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zurück – – hier nach den Bedingungen der Möglichkeit des geistigen Zusammenlebens im allerweitetesten Sinne: indem wir alle an etwas Objektivem partizipieren – so lautet die Antwort – kann geistiges Zusammenleben überhaupt funktionieren: Und das auf verschiedenen Ebenen: - auf der Ebene der Sprache, die als etwas Objektives jedem einzelnen Sprecher dieser Sprache gegenübersteht – ganz gleichgültig, wie vollkommen jeder Einzelne sie beherrscht – und ob er in irgend einer Weise schöpferisch an ihr mitwirken will – - auf der Ebene der Religion, die ebenfalls als etwas Objektives von den Gläubigen ausgeübt wird, gleichgültig wie sich der Einzelne zu dieser Religion auch immer stellen mag – | - auf der Ebene des gesellschaftlichen Lebens, dessen Institutionen und Verkehrsformen dem Einzelnen als etwas Objektives gegenüberstehen – ganz gleich, wie der Einzelne sie beurteilen mag – - auf der Ebene auch der Maschinen und Werkzeuge, die sich ganz zweifellos als etwas Objektives dem einzelnen Benutzer gegenüberstellen. – Das alles ist ›objektiver Geist‹ und der Einzelne steht hier allenthalben einem Objektiven gegenüber, das nur so lange ›objektiver Geist‹ ist, wie die Einzelnen ihn ausüben, gebrauchen und in Funktion erhalten. So lange, – so lange sie an ihm partizipieren. Lazarus kommt – das kann man hier m. E. sehr gut erkennen – von der Sprache und anderen Kultursphären wie der Religion und Wissenschaft her, also von Kultursphären, in denen die Rolle, die der Einzelne einnimmt oder überhaupt einnehmen kann, tatsächlich eine außerordentlich bescheidene ist: An der Sprache kann man an sich

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nichts oder kaum etwas ändern: – auch die deutschen Schriftstellerverbände der Gegenwart 576 nicht. Man kann sie sich nur ›aneignen‹ – und es ist der Auftrag der ›subjektiven Geister‹, sich die Sprache, und das heißt sehr viel mehr als nur eine bestimmte Lexik anzueignen. Denn ›Sprache‹ meint zugleich die gesamte Semantik – alle Bedeutung, die wir überhaupt denken und empfinden, – denn für Lazarus ist jedes Denken gleichbedeutend mit Sprache. – Allgemeiner sagt Lazarus – und spricht damit den Gedanken einer bloß passiven Partizipation aus: »Die … rein geistige Form des objectiven Geistes hat ihre Existenz in der Gesammtheit der einzelnen Geister, in deren Leben und geistigem Thun der objective Geist lebt und sich vollzieht.« »Aber dennoch sind die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes; sie erzeugen ihn nicht, sie erhalten ihn nur; ihr geistiges Thun ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Erfolg desselben.« – Das ist also ein Verhältnis tatsächlich weitestgehend bloß passiver Partizipation, ohne wirklich schöpferische Möglichkeiten für das Individuum – da jedenfalls in Bezug auf die Sprache an sich überhaupt keine solche Möglichkeiten für das Individuum bestehen 577: eine halbe Million Bedeutungserklärungen enthält beispielsweise der neue reformierte Rechtschreibduden – vom Grimmschen Wörterbuch ganz zu schweigen – was sollte oder könnte da irgendeine Sprachschöpfung ausrichten? Nein das ungeheure Übergewicht des Objektiven über das Subjektive ist in diesen Fällen leicht nachvollziehbar, – so, wenn Lazarus sagt: »Die Einzelnen … lernen ihre Thätigkeit aus dem Bestehenden und vollziehen es eben deshalb, weil es das Bestehende ist, dem sie sich nicht entziehen können; nicht aus der Kraft ihrer individuellen Subjectivität wirken sie, sondern aus der Macht der Objectivität, in welcher sie entstanden sind und stehen.« Das wollen wir gelten lassen – für die Sprache. | Wir machen jetzt – etwas verspätet – wieder die obligatorische Pause. – Und nach der Pause geht’s dann weiter mit dem Problem der Individualität, dem wir uns noch näher zuwenden müssen. 578 |

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Schriftstellerverbände der Gegenwart] schriftstellerverbände der gegenart bestehen] besteht müssen] Rest des lediglich für diesen Satz eingefügten Bl. freigelassen

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Dieser zweite Teil der Vorlesung gilt also wiederum dem Problem der Individualität, – aber eigentlich vor allem dem Widerstand gegen die Anerkennung von so etwas wie Individualität: Der »überwältigende Einfluß des geistigen Zusammenlebens«, d. h. die Macht des ›objektiven Geistes‹ über die Menschen, hatte ich vor zwei Wochen mit jüdischer Ethik, jüdischem Antiindividualismus in Verbindung gebracht und gesagt, daß diese Theoriebildung ganz entschieden mit jüdischem Ethos zu tun habe. Aber eben habe ich – vor der Pause – solche Fälle wie Sprache, Religion und Wissenschaft für gleichsam legitime Fälle eines solchen Übergewichts des Objektiven erklärt. – Darin liegt kein Widerspruch, wie man meinen könnte: denn ich habe mit der biographischen Erklärungsweise: daß Aneignung und daß das Übergewicht des Objektiven sich aus der jüdischen Herkunft – nicht aber die Theorie als solche – erklären wollen – nicht kausal – sondern nur die besonderen Veranlassungen, die m. E. wohl dazu beigetragen oder geführt haben mögen, daß gerade Lazarus, ein Jude, die Theorie des ›objektiven Geistes‹ begründet hat. Die Theorie als solche hingegen halt ich für sehr fruchtbar, für im allgemeinen zutreffend und sozusagen richtig – und dabei ist mir dann alles Biographische und auch die Herkunft des Lazarus an sich völlig gleichgültig. Was biographisch und individuell veranlaßt oder entstanden ist, das kann sehr wohl das Richtige treffen – darin liegt nichts Widersprüchliches. Der Widerspruch entsteht vielmehr erst dadurch und nur dann, wenn man das Individuelle und Biographische für eine vollständige Erklärung der Theorie hält, denn dann hätte Lazarus nur etwas über ein spezifisch jüdisches Empfinden und spezifisch jüdische Probleme ausgesagt. Das aber hat er nicht, aber er hat – auch das habe ich bereits angedeutet – als Jude durch die ganz intensiv erlebte Erfahrung der kulturellen Differenzen ein feines und feineres Gespür als andere dafür gehabt, was alles eine Kultur, – was eine Sprache eigentlich alles ausmacht – und er hat so eine weitaus größere Prägekraft in allem Kulturellen erkennen können, als andere dies getan haben. Und das ist der ganze Sinn meines Rückgriffes aufs Biographische. Die Individualität bezeichnet so gleichsam nur den Ort des Geschehens – nicht aber wird so eine Erklärung des Geschehens angestrebt oder gar geboten. – Und nur dieser Ort hieß Lazarus. –

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Und wenn also Lazarus sagt: »Der Mensch, der in irgend welcher historischen Zeit und Stellung in das Leben eintritt, findet neben der objectiv gegebenen Welt der Natur zugleich in dem objectiven Geist eine zweite, eine Welt des Gedankens« – dann ist das eine Erfahrung, die voraussetzt, daß man seine Erziehung und die Welt der Gedanken nicht wie selbstverständlich hinnimmt, sondern darüber Grund hat, nachzudenken – und zu | theoretisieren: Diese ›zweite Welt‹ oder ›Natur‹, – dieses Reich des Geistes, die Menschen und ihre Schöpfungen – sagt Lazarus – »dringen auf jeden Neugebornen in einem Culturlande mit einer beglückenden Zudringlichkeit so gewaltig ein, weil sie … mit tausend Zungen laut und vernehmlich in den neuen Menschen hineinreden. In einem unsäglich viel weiteren Sinne als das Wort sonst genommen wird, kommt die Erziehung, als Repräsentantin der Geschichte und des objectiven Geistes, der auffassenden Thätigkeit des Epigonen [des Neugebornen] von der ersten Stunde seines Daseins entgegen,« – denn der ganze Umfang, – »der eigentliche Inhalt, der Schatz von Anschauungen, Vorstellungen und Ideen, … die Denkformen … welche im objectiven Geiste enthalten sind, wirken bestimmend auf die Thätigkeit des individuellen Geistes ein, … indem sie die Organe der Thätigkeit und die Richtung derselben ihr überliefern.« Erziehung in diesem weiteren Sinne – die gesamte Sozialisation würden wir heute sagen – bestimmt das Individuum in einem Ausmaße, das niemand sich selbst je begreiflich macht – und nicht machen kann: »die eindringende Macht des objectiven Geistes zeigt sich eben deshalb nicht bloß in der Erhaltung und Wiederholung des bereits Gegebenen,« – in der mehr oder minder bloß passiven Partizipation: »in der feineren Umbildung und Ausgestaltung dessen, was schon als ein Fertiges immer vorhanden ist, wie in der Sprache und den Sitten, dem Rechtsbaue usw.« – denn das alles muß mehr oder minder einfach nur angeeignet werden. – Die Macht des Geistes zeigt sich nicht nur hierin, in der Sozialisation, sondern auch darin, wie Innovationen – Neuschöpfungen von ›objektivem Geist‹ – überhaupt möglich sind. Gerade da zeigt sich, daß: »eine Schöpfung [eines] Geistes, etwa eine Erkenntniß, überhaupt nur in einer Reihe von Jahrhunderten zu Stande kommen kann. Wie gleichmäßig muß da im Volke der Zug des Geistes, wie ausdauernd das Interesse, wie treu und bewußt muß der ideale Sinn sein, wo die 319 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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geistige Arbeit von Generation zu Generation so sicher und einheitlich fortschreitet«, denn nur dadurch, daß der Einzelne dann ausführt, was als Problem seit Generationen zur Lösung vorbereitet wird, kann eine Innovation des ›objektiven Geistes‹ zustandekommen. Wir sehen hier, daß solche Kategorien und Ansinnen, daß Lazarus die Möglichkeiten der Individualität gleichsam unberücksichtigt gelassen hätte, oder unterschätzt hätte, – auf uns zurückfallen: wir glauben in einer Welt zu leben, die von permanenter Erneuerung, von ständig neuen Erfindungen und Entdeckungen geprägt sei – weil wir – nicht berücksichtigend in welch hohem Maße wir auf den Schultern der vergangenen Entwicklungen stehen, uns als schöpferische Individuen begreifen – oder doch begreifen wollen. Lazarus hingegen sagt: Besinnt euch auf das Ganze der Kultur – auf alle vorhergegangenen Generationen und ihr werdet sehen, daß diese die Vorarbeiten geleistet haben. Erst wenn diese geleistet sind – dann erst kann das Individuum eingreifen und ein | bestimmtes Problem vielleicht sogar lösen – aber nur stellvertretend für die Gemeinschaft. – Denn sogar »das Genie [kann] nicht nach Belieben schaffen und denken, … auch das Genie [hat] Schranken nicht bloß in der schaffenden Kraft, sondern vor Allem in der ausbreitenden Gewalt, deren Bedingungen auch außer ihm liegen« – und diese sind bezeichnet durch die ›gegebene Geschichte‹ und ›objective Ideen‹, aus denen auch sie schöpfen – und in die sie sich einpassen müssen. Das Problem der Individualität – Lazarus sieht es, aber er kann es nicht in den Griff kriegen – jedenfalls keine qualitative Individualität denken – und er bekennt dies durchaus freimütig: »Die letzte Ursache der Individualität ist bis jetzt und vielleicht für immer in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. Die Thatsachen aber, welche die Individualität einschließt, sind offenbar. Sie besteht allerwege in einer [intellektuellen] Zusammenfassungskraft, deren Maß, bei Allen verschieden, fast ein unendliches ist« – Individualität beläuft sich also vor allem auf die enormen geistigen Fähigkeiten des Genies und der hervorragenden Individualität, – aber dennoch sagt er, gleich wieder einschränkend: »ihr Gegenstand … sind [jedoch] die allgemeinen, in allen Menschen wirkenden Ideen, welche das Gleiche und den Gehalt des Menschenthums ausmachen. Nicht in der Einzelheit schlechthin, nicht in der Absonderung und Absonderlichkeit besteht das Wesen und die Würde der Individualität; nein!« 320 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Lazarus triumphiert! – Er hat den Subjektivismus und Individualismus gleichsam im theoretischen Würgegriff: »vielmehr besteht sie [die Individualität] in der Strahlenbrechung der allgemeinen Menschheitsideen, in dem Maße und der Art, wie sie und ihre historischen Erfolge zusammengefaßt, wie sie dadurch neu gestaltet und zu neuen geistigen Erfolgen befruchtet werden.« Es bleibt dabei: Auch das Genie hat sich der Gesamtheit unterzuordnen 579. Aller Individualismus ist verpönt – und die theoretische und praktische Stellung des Individuums bleibt die einer vollständigen Subsumtion des Einzelnen unter die Gesamtheit. Und das auch in folgenden Fällen, wo man eigentlich anderes erwartete: »Die schöpferische Thätigkeit des Geistes entspringt meist immer im Kopfe eines oder einiger Einzelnen, und es gewinnt deshalb leicht den Anschein, als ob die Individualität der einzige Factor wäre, den wir als Ursache der fortschreitenden und erhebenden Production anzunehmen hätten.« – Aber dieser Anschein trügt, – wenn man nämlich vor allem die materiellen Objektivationen des objektiven Geistes ins Auge faßt: »In der That geschieht eine jede bedeutsame Schöpfung zunächst für die Gesammtheit; der Jäger braucht eine Büchse oder eine Armbrust, nur der Staat braucht Kanonen; der Schiffer einen Kahn, aber keine Flotte; wie die Werke des Krieges zeigen die | des Friedens dasselbe Verhältniß: die Religiosität eines Einzelnen baut keine Kirche und gießt keine Glocken, für den Einzelnen bedarf es keines Rathhauses. Die monumentale Kunst überhaupt schafft Denkmale nicht für das Individuum und seine Familie, sondern für eine Stadt oder einen Staat, und wo etwa für einzelne Geschlechter monumentale Kunstwerke geschaffen sind, da haben diese Geschlechter in ihrem Leben nicht private, sondern öffentliche Bedeutung. Wenn aber die Werke des Geistes in Wahrheit für die Gesammtheit geschaffen sind, so geschieht es auch durch die Gesammtheit. Nicht bloß, daß die materiellen Bedingungen solcher Schöpfungen mannigfaltige Kräfte in Anspruch nehmen, welche unmittelbar mitwirken oder mittelbar beisteuern müssen, sondern (wie dies bei rein geistigen, poetischen oder wissenschaftlichen Erzeugnissen der Fall ist, welche solcher materiellen Beihülfe nicht bedürfen) die geistige That selbst entspringt zwar an einem einzelnen Punkt, aber doch gleichsam aus der Kraftquelle der Gesammtheit. Der Gedanke, den ein monumentales Kunstwerk 579

Gesamtheit unterzuordnen] Gesammtheit unzuordnen

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darstellt, ist niemals der eines individuellen Beliebens, sondern ein im weitesten Sinne historischer, allgemein verbreiteter geistiger Inhalt; und man mag füglich den wahren Werth eines solchen danach messen, wie viel oder wenig es geeignet ist, dem öffentlichen Bewußtsein von dem dargestellten Inhalt einen entsprechenden Ausdruck zu geben.« »Und nicht bloß von den Dichtern werden wir behaupten dürfen, daß ihre Werke eine Veredlung und Begeisterung der Gesammtheit zu erwecken geeignet und darum dem Verständniß derselben entsprechend sein müssen, sondern selbst die wissenschaftlichen und selber die höchsten metaphysischen Untersuchungen – welche unmittelbar nie ins Volksbewußtsein hinabdringen möchten – werden in ihrem Werthe geschätzt werden müssen nach dem Einfluß, den sie mittelbar durch den gelehrten und lehrenden Theil des Volkes auf dessen Gesammtheit auszuüben im Stande sind.« »Was nun für die Gesammtheit geschaffen ist, das muß sie erfassen, begreifen können; man begreift aber nur das, wovon die Elemente schon in Einem liegen.« »Blickt man nun auf die freie Entfaltung des Individuums in einer cultivirten Gesellschaft, wozu die Gelegenheit immer die nächste ist, dann scheint es freilich, als ob das Einzelleben ganz im Vordergrund stände, so daß man das andere Element, nämlich die Einheit, kaum zu erkennen vermag. Um diese zu sehen, muß man aus eigener, innerer Erfahrung Etwas von der Zusammenschließung mit Anderen und mit dem Ganzen wahrgenommen haben. Bloßes Demonstriren wird demjenigen gegenüber fruchtlos sein, welcher niemals gefühlt hat, was es heißt: mit seinem Volke, seinem Staate Eins, sich hinzugeben und zu vergessen und erst im Ganzen sich wiederzufinden.« »Man soll wissenschaftliche Untersuchungen Niemandem ins Gewissen schieben; aber hier wie bei aller Erkenntniß in idealen Dingen ist es unleugbar, daß Tiefe der Einsicht von der Größe der Gesinnung abhängig ist.« »Wer aber jemals von dem Gedanken und dem Interesse etwa des Vaterlandes durchglüht gewesen ist, der weiß, daß in allen Gebilden der Natur eine solche untrennbare Einheit des Vielen nicht gefunden wird, wie die Gemeinschaft der Geister sein kann | und sein soll; man kann das Blatt vom Zweige, man kann ein Glied vom Leibe reißen und es, vom Ganzen getrennt, einem eigenen Schicksal preisgeben; wer aber jemals in seinem Inneren gefühlt hat, was es heißt: Einer für Alle, und Alle für Einen, der weiß auch wenigstens von sich selbst, daß er von dem Leben und Geschick des sittlichen, politischen Gan322 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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zen, dem er angehört, für alle Zeit und für alle Fälle innerlich untrennbar ist.« Dieses geradezu emphatische Gemeinschaftserlebnis – oder doch Erlebenwollen – läßt sich in der ›Völkerpsychologie‹ durchgehend konstatieren – ich hatte hiermit bereits den Wunsch und die bestimmte Phase in Lazarus’ Leben verbunden, in der er vom Moses zum Moritz wird – seine Assimilation ihn bestimmt. Aber es gibt – und das ist nicht unwichtig, doch auch bei ihm eine leise Ahnung davon, daß auch der ›objektive Geist‹ Grenzen setzt – ungerechte und solche, die den Fortschritt der Entwicklung nur noch hemmen: »Erst wenn der durch die Form vermittelte, von der Form durchaus bedingte Fortschritt des menschlichen Geistes es bis zu einer gewissen Erfüllung desselben gebracht, wenn eine Art von Natur- und Weltanschauung so sich gebildet, religiöse Vorstellungen das sinnliche Dasein ergänzen, Sitten das Leben ordnen und in den Zierden desselben, in Kleid und Geräth ein gewisser Geschmack sich ausgeprägt hat, erst dann entsteht für die Beobachtung die Frage: ob diese Formen des geistigen Lebens nicht zu eng, ob sie die innere Thätigkeit nicht fesseln, anstatt sie zu führen, ob nicht die Regel zum Zwang, dadurch das Mittel zum Zweck, und der Zweck unerreichbar wird. Dann aber leiden nicht bloß die Völker, welche dadurch überhaupt auf einem niedrigen Stand der Cultur festgehalten sind, von der lebenvernichtenden Gewalt der Form, sobald nämlich die Formen jeder neuen Regung des Lebens entgegengehen und sie in ihre eisernen Arme schließen, alles aber, was sich nicht fügen will, eben keinen Eingang findet – sondern auch in viel späteren Zeiten und auf viel höheren Stufen der Cultur erleben wir in historischer Zeit denselben wahrhaft tragischen Erfolg der Form, indem die Gestaltung zur Verhärtung, die Bildung zur Versteinerung wird.« Diese Seite des ›objektiven Geistes‹ hat sein Schüler Georg Simmel zu seinem Thema gemacht – und damit der Frage nach dem Verhältnis des subjektiven und objektiven Geistes eine ganz andere Wendung gegeben: Simmel fragt nach der Möglichkeit der Ausbildung von Individualität 580 – gleichsam dieser Macht des Objektiven zum Trotz. Damit wollen wir uns das nächste Mal beschäftigen – in zwei Wochen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 580

Ausbildung von Individualität] Ausbildung Individualität

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6. Vorlesung 581 Vor zwei Wochen hatten wir den Punkt erreicht, wo Lazarus erstmals auch die eher negativen Seiten des objektiven Geistes berührt, wo er von dem »wahrhaft tragischen Erfolg der Form« spricht, »indem die Gestaltung zur Verhärtung, die Bildung zur Versteinerung wird.« Und ich hatte angekündigt, daß es heute um das Verhältnis von objektivem und subjektivem Geist bei Simmel gehen solle. Zuvor sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß Lazarus’ Theorie des objektiven Geistes mit einer bemerkenswerten Unterschätzung oder Geringschätzung von aller Individualität einhergeht, die ich zuletzt auf den Wunsch der Assimilation zurückgeführt hatte. [Individualität und Subjectivität (Steinthal über Griechen, Burckhardt über Italiener) S. 347, also verschiedene Arten der Einheit S. 351.] »Diesem Punkte – wohl einer der wichtigsten für die psychologische Analyse der Entwicklungsgeschichte des Geistes sowohl in der gesammten Menschheit, wie in jedem einzelnen Volke – muß an einer anderen Stelle einmal eine ausführlichere Untersuchung gewidmet werden. Hier will ich nur darauf hinweisen, daß Steinthal mit Bezug auf die Griechen eine geschichtspsychologische Darstellung einer hervorragenden Epoche bereits versucht hat, und aus der einleitenden Erörterung der Aufgabe hebe ich folgende Sätze hervor: ›Der Mensch ist allemal, weil unmittelbar, ein Individuum; aber er hat darum nicht auch sogleich schon Individualität: d. h. er ist immer die Verwirklichung des allgemeinen begrifflichen Inhalts seiner Art in Form der Einzelheit und ist eine durch den Artbegriff bestimmte und durch die Gesetze des wirklichen Lebens bedingte untheilbare Totalität; aber erst wenn er das Allgemeine in einer Besonderheit verwirklicht, welche, an sich werthvoll, den Werth des Allgemeinen erhöht, erst dann hat er eine Individualität. Diese ist also erst das Erzeugniß geschichtlicher Entwicklung. Wir nennen den Menschen ein Individuum, insofern er überhaupt Gegenstand unserer Betrachtung ist; und wir schreiben ihm Individualität zu, insofern wir an ihm, als einem Objecte, eine werthvolle Besonderheit entdecken: insofern wir 581 6. Vorlesung] im Ausdruck für das WS 1998/99 am Kopf der S. hs.: Stufen der Selbstreflexivität – ein eigenes Thema?! – Intuitionismus: daß man weiß, daß das eigene Wollen und Denken kategorial eingestellt ist.

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ihn aber darauf hin ansehen, daß er sich selbst als Individuum fühlt und weiß (denn jeder Mensch hat Selbstgefühl und ein bis auf einen gewissen Punkt entwickeltes Bewußtsein von sich), ist er eine Person; und je nach der Besonderheit, in welcher er | sich interessirt, in welcher er sein Selbst genießt und zur Geltung zu bringen sucht, ist er eine individuelle Persönlichkeit. Jeder Mensch ist eine Person; aber seine Persönlichkeit braucht eben nicht auch Individualität zu haben. Umgekehrt aber wird mit der sich immer schärfer begrenzenden und sich immer mehr mit geistigem Inhalt bereichernden Individualität auch die Persönlichkeit immer mächtiger und bedeutsamer werden. Obwohl nun Persönlichkeit auf dem subjectiven Verhalten des Individuums beruht, d. h. auf der Weise, wie dieses in seinem Fühlen, Wissen und Handeln, kurz in seinem Verhältnisse zum Gegenstande die Befriedigung seines Selbst sucht und erlangt, so ist sie doch nicht Subjectivität. Diese ist die (immer erst spät erworbene) Fähigkeit, sich als Subject, d. h. so zu verhalten, daß der Geist sich selbst als den Betrachtenden von dem betrachteten Gegenstande absondert und letzterem sich frei, mit Bewußtsein gegenüberstellt. Dies kann der Geist nur, wenn er sein Bewußtsein vom Object wiederum sich als Object hinsetzt. Subjectivität ist also Freiheit des Geistes gegenüber dem Object und ist eigenthümlicheres Selbstbewußtsein.‹« Wenn Lazarus also an anderer Stelle die bloß scheinbare Bedeutung des Individuums hervorhebt – um eben seine Theorie der Bedeutung der Gesamtheit, des geistigen Zusammenlebens hervorzuheben, dann wissen wir inzwischen, daß sich die unmittelbare persönlich-biographische Veranlassung zwar aus dem Assimilationswillen ergeben 582 haben mag – was umgekehrt aber dem Wahrheitswert seiner Äußerungen nicht den geringsten Abbruch tut: im Gegenteil – es wir hiermit eine eigenständige und bedeutsame Form des Lebens in der Kultur und Begreifens von Kultur damit gewonnen, die wohl auf keine andere Weise möglich geworden wäre: die positive Assimiliation einer – insoweit – fremden Kultur, die umgekehrt doch sichtbar macht, wie groß die Differenz der Kulturen ist. – Und vor allem, daß diese sich nicht in Äußerlichkeiten erschöpft, die jeder schnell aufzählen kann, sondern sehr viel mehr dazu gehört als verschiedene Sprachen, Religionen und gewisse vorherrschende Gesinnungen, also sehr viel mehr als bloß der objektive Geist im rein geistigen Sinne. 582

ergeben] erben

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Lazarus hat darauf aufmerksam gemacht, indem er eben einen erweiterten Kulturbegriff schuf, daß auch die institutionellen, habituellen, instrumentellen und materiellen Errungenschaften einer bestimmten Kultur einen Ausdruck jenes Volks- oder Nationalgeistes darstellten. Was uns heute weit weniger plausibel erscheint als es damals aufgenommen werden konnte, und mußte, sind wir doch gewöhnt, uns als Teilnehmer der europäischen oder Weltkultur zu sehen, deren Entstehung und Ausbreitung eine unwiderstehliche Tendenz auf Nivellierung aller nationalen und regionalen Kulturen in sich enthalte. Was dabei fehlt, ist der Schmerz. Es fehlt – wie mir manchmal scheinen will – jedes Gefühl dafür, daß auch die Ausprägung von regionalen und nationalen Besonderheiten einen Wert gehabt haben mögen, wobei ich natürlich nicht verkenne, daß sie allerdings durch all die | Kriege, die das Zeitalter der Nationalstaaten eben auch mit sich brachte, gleichsam vollständig discreditiert sind. Aber nicht nur das: nicht nur, daß nationale Besonderheiten und überhaupt der Weg zur Ausprägung zu besonderen Kulturen gleichsam als notwendige Folge dann auch Kriege nach sich ziehe, hat wohl das Gefühl für den kulturellen Eigenwert von einzelnen Völkern ausgetilgt, sondern es ist auch die Tendenz auf den Individualismus schon längst soweit fortgeschritten, daß weder eine Rückkehr zu einer Identifikation mit den Gesamtheiten noch auch irgendeine positive Bewertung und ein Verständnis von solchen sozialen Aggregaten mehr möglich scheint. Für uns ist das alles nur noch historisch – in dem Sinne, daß es bloße Vergangenheit – und damit abgetan scheint. Wobei Ihnen natürlich klar ist, daß gegenwärtige Weltbegebenheiten in Jugoslavien, im Nahen Osten und in den ehemaligen GUSStaaten nach eben solchen Mustern abzulaufen scheinen. Ich sage nur scheinen, denn mir ist fraglich, ob dies die wirklichen Grenzen bestimmt, oder ob nicht umgekehrt diese Grenzen gleichsam künstlich aufgerichtet werden durch Ideologien, oder drittens, ob es nicht auch so sein könnte, daß die geschichtlichen Begebenheiten der Gegenwart nur einfach mittels an sich antiquierter Deutungsmuster über den alten nationalstaatlichen Leisten geschla-

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gen werden – obwohl sie vielleicht – wenn man näher hinschaute – eine ganz andere Beschaffenheit zeigten. Vermutlich ist alles drei der Fall: teils identifizieren sich Individuen mit ihren Gemeinschaften und diese Identifikation ist letztlich ununterscheidbar von einer tatsächlichen Integriertheit in sie, teils auch handelt es sich um Herrschaftsinstrumente, d. h. Ideologien, die die Einzelnen in eine Gemeinschaft einzwängen sollen, damit sie für diese Gemeinschaften als Kämpfende instumentalisierbar sind; teils aber ist es sicher die so zeitlich begrenzte und flache Machart der Berichterstattungen, die dazu führt, daß wir solche Ereignisse der Gegenwart in Formen präsentiert kriegen, die schlichtweg nur alte Deutungsmuster an neuen Geschichten betätigen. In welche dieser Gruppen Lazarus gehört – ist freilich schwer zu sagen: »Blickt man nun auf die freie Entfaltung des Individuums in einer cultivirten Gesellschaft, wozu die Gelegenheit immer die nächste ist, dann scheint es freilich, als ob das Einzelleben ganz im Vordergrund stände, so daß man das andere Element, nämlich die Einheit [– das geistige Zusammenleben], kaum zu erkennen vermag. Um diese zu sehen, muß man aus eigener, innerer Erfahrung Etwas von der Zusammenschließung mit Anderen und mit dem Ganzen wahrgenommen haben. Bloßes [wissenschaftliches Beweisen] wird demjenigen gegenüber fruchtlos sein, welcher niemals gefühlt hat, was es heißt: mit seinem Volke, seinem Staate Eins [zu sein], sich hinzugeben | und zu vergessen und erst im Ganzen sich wiederzufinden.« »Wer aber jemals von dem Gedanken und dem Interesse etwa des Vaterlandes durchglüht gewesen ist, der weiß, daß in allen Gebilden der Natur eine solche untrennbare Einheit des Vielen nicht gefunden wird, wie die Gemeinschaft der Geister sein kann und sein soll; … wer … jemals in seinem Inneren gefühlt hat, was es heißt: Einer für Alle, und Alle für Einen, der weiß auch wenigstens von sich selbst, daß er von dem Leben und Geschick des sittlichen, politischen Ganzen, dem er angehört, für alle Zeit und für alle Fälle innerlich untrennbar ist.« Dieses geradezu emphatische Gemeinschaftserlebnis – oder doch Erlebenwollen – so hatte ich gesagt, läßt sich in der ›Völkerpsychologie‹ durchgehend konstatieren.

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Lazarus’ Gedanke ist uns fremd, aber an sich weder neu noch ist er ein in diesem Sinne individueller. Ich hatte im Seminar bereits auf Hegels Konzeption hingewiesen – und muß das hier wiederholen 583

wiederholen] bricht ab, vgl. für eine mögliche Weiterführung die 7. Vorlesung. Im Ausdruck für das WS 1998/99 folgt hs. der Zusatz: 2. Teil d[er] Vorl[esung] über G. Simmel: biographisch; auf angeheftetem Blatt folgt der maschinenschriftliche Text: zufällig kommt er dann irgendwann 1903 bei Harry Graf Kessler vorbei und äußert sich über sein Leben und über das moderne Leben und die Individualität überhaupt – in einer Weise, die ganz auf der Beschäftigung mit seiner Frühzeit und seinem Frühwerk beruht, wenn er Kessler erzählte, daß ›das moderne Leben mit solcher Gewalt auf den Menschen einbricht und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere. Alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert‹, denn genau so mochte Simmel der junge Simmel jetzt erscheinen. Und wenn er im selben Gespräch dann nochmal auf sich, diesmal als einen Typus – den jungen Juden – zu sprechen kommt, so liegt dem ebenfalls die Auseinandersetzung mit seinem Frühwerk zugrunde, wie andererseits sich hierin auch schon die neue Sicht des Wertes der ›persönlichen Individualität‹ ausdrückt: »Simmel erzählte von sich, er sei bis zu seinem 35. Jahre eigentlich dumm gewesen. Übrigens hätte er viel an sich verzweifelt. Denn Nichts sei flüchtiger, tragischer als die frühreifen, jüdischen Begabungen. Das Talent scheine bei jungen Juden etwas Äußerliches zu sein, das sich von der Persönlichkeit ganz loslösen könne und meistens schon bald verschwinde. Wenn er mit seinen jetzigen Erfahrungen früh begabt gewesen wäre, so hätte er sich als Jude, glaube er, eine Kugel vor den Kopf geschossen.« Folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. hier S. 21. Der zitierte Passus im Tagebuch beginnt: »Mittags Simmel drei Stunden bei mir. Er geht gleich auf gescheite Sprüche los, ohne Umschweife, und erklärte mir gleich zu Anfang, er sei heute müde, ich möchte ihn deshalb entschuldigen, wenn er Nichts Gescheites sage. Er kam von [Edvard] Munch und meinte, Jetzt wisse er was er ausdrücke, die Furcht vor dem Leben. Er krystalliere einfach aesthetisch den eigentlich selbst unaesthetischen Standpunkt, die Flucht in sich selbst hinein. Das moderne Leben bricht mit solcher Gewalt auf den Menschen ein und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere. Alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert; er selbst, eine aufgeklärte Individualität könne unter der Last kaum noch atmen.«

583

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7. Vorlesung Ich habe beim letzten Mal versucht, Ihnen den Übergang von Moritz Lazarus zu Georg Simmel zu schaffen. Denn Simmels Theorie des objektiven Geistes soll uns nun bis Weihnachten beschäftigen. Und ich habe bereits angedeutet, daß Simmels Theorie des objektiven Geistes nicht so einheitlich ist, wie die von Lazarus, und daß es eigentlich eine frühe gibt, die sich direkt an Lazarus anschließt, und eine späte, die unter dem Titel der ›Tragödie der Kultur‹ bekannt und berühmt geworden ist. Wir verfolgen diese Geschichte Schritt für Schritt und beschäftigen uns zuerst mit der frühen Theorie, wie sie vor allem in der Philosophie des Geldes zugrundeliegt. Genauer gesagt im 6. Kapitel: Der Stil des Lebens – 2. Abschnitt – wo die einzelnen Untertitel lauten: »Der Begriff der Kultur. Steigerung der Kultur der Dinge, Zurückbleiben der Kultur der Personen. Die Vergegenständlichung des Geistes. Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur. Gelegentliches Übergewicht der ersteren [der subjektiven Kultur]. Beziehung des Geldes zu den Trägern dieser Gegenbewegungen.« Schon aus dieser Titulatur erkennt man deutlich, daß sich der Akzent bei dieser Theoriebildung verschoben hat: es geht nicht mehr um eine Theorie nur des objektiven Geistes, sondern eigentlich um eine Theorie des Spannungsverhältnisses zwischen objektivem und subjektivem Geist. Lazarus’ Leistung war die, darauf hingewiesen zu haben, daß die Kultur – der Inbegriff der Kultur, den er als ›objektiven Geist‹ bezeichnete – den Einzelnen bestimmt, viel mehr bestimmt als alle Theoriebildung vor ihm gesehen hatte: der Mensch ist so 584 durch und durch von den ihn umgebenden kulturellen Verhältnisses abhängig und geprägt – daß darüber das Individuum geradezu zu verschwinden drohte. Aber noch mehr: der einzelne Mensch wurde auch positiv ganz auf diese Kultur, auf die Gesamtheit hinorientiert, als Ideal stand das 584

ist so] ist ein so

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einer vollständigen Integration, Einordnung und auch wohl Unterordnung des Einzelnen unter diese Gesamtheit jederzeit vor Augen – ein für uns heute einigermaßen unerträglicher Gedanke, sich ganz der Gemeinschaft ein- und unterordnen zu sollen. Was man im Falle Lazarus’ mit dem Willen und Bedürfnis der Assimilation in Verbindung bringen kann, ohne daß damit dieser theoretische Entwurf im mindesten entwertet würde. Denn wie immer die Veranlassungen ausgesehen haben mögen, wichtig ist Lazarus dadurch, daß er so konsequent und bis zum Anschlag die Bedeutung der umgebenden, objektiven Kultur für den Einzelnen hervorgehoben hat. Und nicht nur hervorgehoben, sondern auch gezeigt und zu einer eigenen Theorie verarbeitet hat. Denn daran konnte – und hat man – angeknüpft 585, sei’s wie der junge Simmel, der auch Antisemitismus, Folter und Schandtaten aller Art diesem objektiven Geist einordnete, oder sei | es auch in dem Sinne, daß man den ›objektiven Geist‹ vor allem als ordnende und normierende Macht – Macht der Kultur dem Einzelnen gegenüber versteht und begrüßt, wie dies bei Lazarus selber oder dann auch bei Dilthey und Hans Freyer zum Ausdruck kommen wird. Aber darüber erst nach Weihnachten. Für uns ist wichtig, daß mit der Theorie des ›objektiven Geistes‹ eine Theorie der Kultur ermöglicht wurde, eine Theorie der Kultur, die man nach zwei Richtungen hin ausbauen und zu eigenen Wissenschaftsentwürfen machen kann: - Theorie der Kultur als Theorie des Übergewichtes des objektiven Geistes, der Objektivationen des Geistes – in ihrem sachlichen und materiellen Bestand als Theorie der Sprache, Religion, Sitten und als Sachkultur – das ist der Weg, den die Kulturphilosophie insbesondere dann bei Ernst Cassirer genommen hat. - oder aber Theorie der Kultur wird verstanden als eine Theorie des Verhältnisses von subjektivem und objektiven Geist, d. h. als jenes Spannungsverhältnis, das wir bei Lazarus unter dem Thema der Aneignung kennengelernt hatten, das aber dann bei Simmel zu einer zuerst mehr soziologisch inspirierten Theorie ausgebaut wird, indem jetzt die Frage nach den Möglichkeiten der Aneignung der modernen intellektuellen, technischen und Sachkultur gestellt wird und in den Vordergrund tritt – während dann später Simmel diesen Ansatz dahingehend verändert, daß er nach den Lebensbedingungen des Ein585

Denn … angeknüpft] Satzkonstruktion wie in der Vorlage

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zelnen fragt, wenn denn diese moderne Welt so viele immer neue und nicht mehr anzueignende Tatsachen dem Einzelnen gegenüberstellt, daß der Einzelne davon geradezu erdrückt zu werden droht. Lazarus’ Theorie des objektiven Geistes beinhaltet also zwei verschiedene Theorien der Kultur, die seine Nachfolger dann auch aus ihr gemacht haben: - die Theorie der kulturellen Mächte und geradezu Übermächte, die der Einzelne als Einzelner an sich kaum oder gar nicht beeinflussen kann: Sprache – Religion – Kunst – Wissenschaft – Geschichte – - zweitens aber auch die Theorie des Lebens des Einzelnen unter den spezifisch modernen Bedingungen einer immer breiter aufwachsenden Sach- und technischen Kultur. Und hier ist die Frage auch die nach der Aneignung, aber sie wird verneint: Tragödie der Kultur. Ich hatte beim letzten Mal auch den Rückgriff auf Hegel vorgenommen, um zu zeigen, daß Hegel zwar einen ganz anders gearteten Begriff des objektiven Geistes besaß als Lazarus, daß sich aber auch für ihn das Problem stellte, wie und warum denn die Einzelnen dem allgemeinen oder Volksgeist gleichsam entlaufen waren. Was bedeutet es für den Volks- oder allgemeinen Geist eines Volkes, wenn die subjektiven Geister stärker werden, wenn also Individualisierung und Individualismus das Leben einer Nation prägen – wenn sich in diesem Sinne der Geist der Nation und der Geist des Einzelnen entzweien? Wenn also die vormalige Einheit kaputtgeht – und ich hatte zu zeigen versucht, daß Hegel die Heilung dieses Zustandes von einer Höherentwicklung des Geistes erwartet, wo diese subjektiven Geister, die ihre eigenen Zwecke verfolgen, die sich der Wirklichkeit gegenüber reflektierend verhalten, d. h. nicht einfach nur mittun, sondern sich widerspenstig erweisen – daß Hegel diesen | Zwischenzustand der Weltgeschichte als einen bloß defizitären deutet, der nach Aufhebung verlange: Aufhebung in dem Sinne, daß er aufhört Aufhebung auch in dem Sinne, daß etwas auf eine höhere Stufe gehoben wird, aufbehalten und zugleich doch partiell vernichtet. Die Aufhebung geschieht in Form der Lösung des Widerspruches, – eines Widerspruches, der sich darin deutlich macht, daß die subjektiven Geister sich von dem allgemeinen Geist entzweit haben. Und als Modell dieses Vorganges dient Hegel das Beispiel der Griechen: »Die Entzweiung enthält, führt mit sich das Bedürfnis der Vereinigung, weil der Geist einer ist. Er ist lebendig und stark genug, die 331 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Einheit hervorzubringen. Der Gegensatz, worin der Geist mit dem niederen Prinzip [der Individualisierung] tritt, der Widerspruch führt zum höhern. So hatten die Griechen in ihrer blühenden Periode, in ihrer heitern Sittlichkeit, nicht den Begriff der allgemeinen Freiheit; sie hatten wohl das … Geziemende, aber keine Moralität oder kein Gewissen. Moralität, was Rückkehr des Geistes in sich, Reflexion, Flucht des Geistes in sich hinein ist, war nicht da; das fing erst mit Sokrates an. Sobald nun die Reflexion eintrat und das Individuum sich in sich zurückzog und sich von der Sitte trennte um in sich und nach eigenen Bestimmungen zu leben, da entstand das Verderben, der Widerspruch.« 586 – Daß das Individuum eigene Freiheit beansprucht, sich von der Sitte trennte, also von dem fraglos vollzogenen Leben in den Formen der Tradition und Gewohnheit, – daß das Individuum ausschert, diese Sitten reflektiert, dies und das bemängelt und auf Distanz geht – reflektiert – über Gut und Böse reflektiert und so eine eigene Theorie der Moral entsteht, man sich ein Gewissen macht, inwieweit man von der Sitte Abstand nehmen kann und darf, inwieweit man sich einzuordnen hat – dies alles beschreibt den Zustand, der eintritt, wenn die subjektiven Geister sich von dem allgemeinen Geist lossagen und auf eigene Faust ihre persönlichen Zwecke verfolgen, Freiheit verlangen, ein individuelles Leben jenseits der Gesamtheit zu leben beanspruchen. Das ist der Zustand, den Hegel als den des Verderbens bezeichnet, des Verderbens nicht etwa 587 der Einzelnen, sondern des Verderbens des Volksgeistes oder der Gesamtheit, – bei Hegel ist das Verderben 588 des Staates gemeint. Ein Staat oder ein Volksgeist kann nicht fortleben und überleben, wenn die Einzelnen sich individualistisch von ihm absondern – und deshalb muß eine Reintegration der Einzelnen in den Gesamtgeist angestrebt werden: - bei Hegel geschieht dies im Prozesse der Geschichte, indem sich andere Völker- und Staatswesen diesen einmal geschaffenen Geist aneignen und ihn insofern aufheben – die Griechen werden durch die Römer – die Römer werden durch die christlich-germanischen und romanischen Staaten beerbt – so geht der Gang der Welt-

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Widerspruch.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: S. 71 f. etwa] etwas Verderben] Verben

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geschichte weiter – in einer Stufenfolge bis hin zur Gegenwart, und das ist das Ziel der Weltgeschichte. Aber diese Aufhebungen der früheren Stationen der Weltgeschichte beinhaltet zugleich eine Aufhebung in intellektueller und geistiger Hinsicht, indem jede spätere Stufe nicht nur neue Staaten, | sondern wiederum neue Volksgeister erzeugt: Religion, Recht und Sitten, so daß die jeweils letzte erreichte Stufe den Höhepunkt der geschichtlichen – wie auch der geistigen Entwicklung repräsentiert: die Philosophie Hegels hebt alle Philosophie vor ihm auf, und zwar auf die Stufe des absoluten Geistes, der sich weiß als Resultat der ganzen Weltgeschichte, die hier sich ihrer gesamten Geschichte bewußt ist. Das alles macht Lazarus nicht mit – und einem absoluten Geist gibt es bei ihm gar nicht – kein Ziel der Weltgeschichte und kein Fortschrittsprozeß von einem zum anderen Volksgeist. Lazarus hat keine Philosophie der Geschichte geschaffen, sondern eine Theorie der Gegenwart des objektiven Geistes, eine Theorie der jetzigen Kultur. Aber es gibt auch bei ihm – nicht anders als bei Hegel – das Problem des Auseinanderfallens von subjektivem und objektivem Geist – das Problem des Individualismus – und nicht anders als Hegel beurteilt Lazarus dieses Auseinanderfallen, diese Entzweiung als etwas Negatives. Hegel sieht die Heilung im Fortschritt der Weltgeschichte durch Aufhebung auf eine höhere Stufe – Lazarus reagiert auf die im Prinzip ebenso wie von Hegel verstandene Situation indem er den Auftrag an den Einzelnen formuliert, sich den objektiven Geist anzueignen. Beide kommen darin überein, die den Einzelnen übergeordnete Einheit: den Staat, die Nation oder die ›Gesammtheit‹ – als den Zielpunkt und absoluten Maßstab der Bewertung des Einzelnen zu fassen: der Einzelne besitzt überhaupt nur einen Wert – insofern er diese übergeordneten Einheiten fördert. Was zugleich auch heißt, daß für die Individualität im modernen Sinne, ein Abgesondertsein und eine Herausbildung von Besonderheiten in diesen Theorien kein Platz ist. Ganz anders denkt Simmel, denn für ihn steht das Problem der Individualität im Vordergrund, und damit eigentlich die Frage, inwieweit Individualität überhaupt möglich ist, wenn denn die Kultur und dieser objektive Geist derart mächtig und übermächtig wird, wie dies die Theorie des objektiven Geistes von Lazarus gezeigt hatte. Wie ist Individualität in der Moderne überhaupt möglich – lautet Simmels Frage – und die Antwort wird lauten: dadurch, ›daß der 333 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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moderne Mensch unter günstigen Umständen eine Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichen Seins‹ 589 erreicht und verwirklicht – lebt – eine Reserve alledem gegenüber, was die Kultur darbiete. Dadurch, daß der Einzelne sich selbst zu einem Wert und Wertmaßstab wird, daß er sein ›individuelles Gesetz‹ zu verwirklichen sucht, – Selbstverwirklichung lautet dafür das moderne Schlagwort. Was heißt das? – Das heißt zunächst, daß die individuellen Ansprüche, Regungen und Empfindungen in völlig neuartiger Weise ernstgenommen werden müssen – und daß demgegenüber die Ansprüche, die von Außen an uns herantreten, all die Erwartungen, die man an uns hat ohne daß wir sie selbst wollen – daß eine ganz scharfe Unterscheidung des Innen und Außen vorgenommen werden muß. Die individuelle Persönlichkeit kann sich nur dadurch erhalten und herausbilden, daß sie auf Distanz zu dieser übermächtigen Welt der sozialen und kulturellen Anforderungen | geht, daß sie sozusagen – mit Hegels Begriff gesagt – die Entzweiung bejaht und eben nicht aufzuheben sucht, – eben nicht den Traum von der Einordnung 590 in die Gesamtheit weiterträumt und daran zugrundegeht 591. Simmel steht in einer prinzipiell veränderten Situation der Kultur – und er sieht das Problem der Individualität unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als Hegel und Lazarus: er hat es mit dem spezifisch modernen Leben zu tun – einem Leben, daß dadurch charakterisiert ist, daß: ›das moderne Leben mit solcher Gewalt auf den Menschen einbricht und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere. Alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert‹. – So hat Simmel selbst einmal versucht, dieses Gefühl zu beschreiben und was damit in concreto gemeint ist, kann man einem Brief entnehmen, in dem er noch deutlicher wird: »Ich erfahre am eigenen Leibe, eine wie schwere und eigentlich unlösbare Aufgabe es selbst unter meinen relativ günstigen Lebensbedingungen ist, nach dem ›individuellen Gesetz‹ zu existieren u[nd] zu der Contiunität im Gestimmtsein u[nd] Denken zu kommen, die doch schließlich die Bedingung des geistigen u[nd] produktiven Lebens ist, wenn es werden soll, was es werden kann; ich bin über die Zersplittertheit des Tages, über das

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Seins‹] danach: (652), d. i. Seitenangabe nach GSG 6. Einordnung] Einmordung zugrundegeht] zugrundeliegt

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Durchreißen der eben angesponnenen Fäden oft bis zur Raserei, ja, bis zur Resignation verzweifelt.« 592 Der Mangel an »Continuität im Gestimmtsein u[nd] Denken« – »Zersplittertheit des Tages« – das sind die beiden Hauptprobleme des modernen Lebens, unter denen Simmel leidet – und diese beiden Probleme zeigen, was mit dem sogenannten ›individuellen Gesetz‹ und mit so etwas wie ›Selbstverwirklichung‹ überhaupt gemeint sein kann. Es ist die Erfahrung – vielleicht besonders die des Großstädters, der in vielfältigen Lebenszusammenhängen steht: »es ist noch gar kein Beispiel besonderer Häufung, wenn jemand innerhalb seines Berufes verschiedenen Verbindungen angehört, Mitglied eines wissenschaftlichen Vereins und Reserveoffizier ist, im Ehrenamt einem kommunalen Kollegium angehört und ausser alledem einen geselligen Verkehr besitzt, der sehr verschiedenartige soziale Schichten berührt.« Ganz verschiedene Rollen und entsprechend Rollenerwartungen wollen vereinbart sein – aber auch der Tag ist schon durch diese bloßen Zugehörigkeiten ›zersplittert‹ in all das, was der Terminkalender anzeigt, so daß eine einheitliche Stimmung, eine Kontinuität des Wollens und Handelns, zielgerichtetes Handeln überhaupt immer schwerer durchzuhalten ist. Und nicht nur das: diese verschiedenen Rollen und Rollenanforderungen treten unzweifelhaft miteinander in Konflikt, sie sind nicht immer vereinbar, Konflikte der Pflichten entstehen – und solche Konflikte zwischen den eigenen Absichten und Forderungen, die von Außen an einen herantreten. Das macht das moderne Leben aus – jedenfalls in weit höherem Maße als frühere Generationen von solchen Vielseitigkeiten betroffen waren, hat der moderne Mensch und Großstädter ein immer komplexer werdendes Leben zu meistern. Und dies nicht nur, indem er | seine verschiedenen Rollen wahrnimmt. Auch wird er in immer höherem Maße durch »das schnelle Tempo und den unruhigen Rhythmus modernen Lebens« hineingerissen – auch wird der moderne Mensch durch die hochgradig arbeitsteilige Gegenwart der modernen Welt immer häufiger zum entweder Konsumenten – oder Produzenten – und er wird als solcher immer abhängiger davon, daß er verzweifelt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Simmel an Margarete Susman, Westend 20. 12. 1913: L[eo] B[aeck] I[nstitute] New York.

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Geld verdient – wie er denn umgekehrt sein Geld durch immer speziellere und einseitigere Tätigkeiten zu verdienen hat – kurz: der moderne Mensch hat es immer schwerer etwas wie ein subjektive, sich selbst bestimmende Lebensweise auszuprägen, weil die ihn umgebende Kultur in immer höherem Maße komplex wird. Das ist gemeint, wenn Simmel sagt ›das moderne Leben breche mit solcher Gewalt auf den Menschen ein, und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliere, alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert‹ – Objektiviert und sozialisiert wird der moderne Mensch also in dem Sinne, daß er sich allenthalben vergesellschaftet: ob nun in all den Formen wo er Funktionen einnimmt, die ihm bestimmte Rollen zuerteilen – oder in der Form, daß er Geld gebraucht – als einer der für Geld arbeitet und dafür Geld erwirbt, tritt er mit anderen in einen Kontakt, der ihm unmöglich macht, sich als Einzelner zu betätigen. Sicher ist der moderne Mensch immer unabhängiger von bestimmten Einzelnen, von den Familienmitgliedern oder vom Clan und der Sippe geworden, – auch ist er in dem Sinne unabhängiger geworden, daß er politische Freiheiten erworben hat und daß er als Geldbesitzer die Freiheit hat, zu kaufen und zu wählen: zwischen Waren – und letztlich auch zwischen verschiedenen Lebensstilen, – aber die Kehrseite dieser Unabhängigkeit ist die, daß er sich in immer höherem Maße vergesellschaftet, sozialisiert und damit objektiviert. Simmel hat diesen Gedanken einmal zugespitzt damit ausgedrückt, daß er sagt: »Nicht abhängig ist der einsame Siedler im germanischen oder amerikanischen Walde; unabhängig, im positiven Sinne des Wortes, ist der moderne Großstadtmensch, der zwar unzähliger Lieferanten, Arbeiter und Mitarbeiter bedarf und ohne diese ganz hilflos wäre, der mit ihnen aber nur in absolut sachlicher und durch das Geld vermittelter Verbindung steht, so daß er nicht von irgend einem Einzelnen als diesem bestimmten abhängig« 593 ist. Das ist der entscheidende Unterschied: der Einzelne war – oder ist – nur dort im eigentlichen Sinne von bestimmten Personen und persönlichen Verbindungen abhängig, wo damit zugleich gefühlsmäßige Bindungen verbunden sind, wo die Abhängigkeit sozusagen jederzeit die gesamte Persönlichkeit ergreift und umschließt, – wo die Magd oder der Knecht auf dem Hofe arbeiten und leben, wo noch keine persönliche Freiheit – z. B. keine Freizeit definiert ist, wo die Bindun593

abhängig«] danach (400), d. i. Seitenangabe nach GSG 6

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gen also noch eine absolute Abhängigkeit ausmachen: letztlich bei allen Arbeitsverhältnissen, die nicht auf reiner Geldentlohnung beruhen, wo deshalb auch keine Arbeitszeit definiert ist und wo das Leben des Dienstboten oder Landarbeiters sich noch ganz unter den Augen der Herrschaften vollzieht. Da überall hat noch keine wirkliche, sozusagen moderne Unabhängigkeit statt – sie erst tritt mit steigender Durchsetzung der Geldwirtschaft ein – als eine Unabhängigkeit von den bestimmten Bindungen. | Aber diese Unabhängigkeit wird begleitet von einer neuen Abhängigkeit vom Funktionieren des Ganzen, der Abhängigkeit von den ›Lieferanten, Arbeitern und Mitarbeitern‹, ohne die das moderne Leben gar nicht funktionieren könnte. Zumal nicht, wenn nicht all die Dinge, die man zum Leben braucht – aber auch diejenigen Dinge, die das großstädtische Leben in Sonderheit noch zusätzlich erfordert, wenn all diese Dinge nicht bereitstünden für den käuflichen Erwerb. Simmel sagt: »Durch die rapide Vermehrung der Warenvorräte einerseits, durch die eigentümliche Herabsetzung und Verlust an Betonung, die die Dinge in der Geldwirtschaft erfahren, andrerseits, wird der einzelne Gegenstand gleichgültiger, oft fast wertlos.« Wie also eine Unabhängigkeit von bestimmten Personen eingetreten ist – in der modernen Geldwirtschaft – so auch tritt eine Unabhängigkeit gegenüber den bestimmten Gegenständen ein, die bloß noch Waren, also beliebig austauschbar sind. Aber auch hier zeigt sich die Kehrseite: denn die Gesamtheit all dieser Waren, die als einzelne austauschbar sind, ist für den modernen Menschen in immer höherem Maße unverzichtbar: »mit steigender Kultur werden wir immer mehr von den Objekten und von immer mehr Objekten abhängig; so ist … die einzelne Stecknadel so gut wie wertlos, aber ohne Stecknadeln überhaupt kann der moderne Mensch nicht mehr auskommen« – sagt Simmel – und das ist beileibe kein Witz. Denn ohne Stecknadeln ist eine Änderung von Kleidern, ja nicht einmal die Herstellung von Kleidern möglich, die doch in der modernen Gesellschaft eine so große Rolle spielen. Man weiß vielleicht nicht sicher, ob tatsächlich in größerem Maße als in früheren Zeiten, aber soviel ist doch unzweifelhaft, daß nämlich die korrekte Kleidung, der korrekte Sitz eines Anzuges in Bewerbungssituationen im Bankfach oder als Verkäufer darüber entscheiden kann, ob man die Stelle kriegt oder nicht. Das ist nur symptomatisch – und auch hierin steckt die hohe 337 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Komplexität der modernen Lebens, wie sich umgekehrt darin die erhöhte Abhängigkeit von den beliebigen Schneidern oder Konfektionären – und von den beliebigen Kleidungsstücken, die man erwerben kann und muß – ausdrückt. Also einerseits eine neue Freiheit und Unabhängigkeit für den Einzelnen unter den Lebensbedingungen der modernen Geldwirtschaft in der Großstadt – andererseits eine ganz neue und sozusagen ungeahnte und freilich auch kaum je bewußt werdende Abhängigkeit vom Funktionieren des Ganzen und den Warenangeboten. Wie lange könnten Sie überleben, wenn es nichts zu kaufen gäbe? – Oder anders gefragt: wie oft zücken Sie an einem ganz normalen und beliebigem Tage ihr Portemonnaie? D. h.: wie oft treten Sie als Käufer auf – ganz ohne, daß Ihnen bewußt wird, daß die allermeisten dieser Kaufakte nicht willkürlich und nicht beliebig ersetzbar sind, sondern Ihre 594 Abhängigkeit von den Anderen ausdrückt – eine Abhängigkeit nicht aber von bestimmten Personen, bestimmten Verkäufern, sodern nur davon, daß überhaupt etwas zu kaufen ist. | Seine eigene, ›persönliche Individualität‹ und eigene Entwicklungsgesetzmäßigkeit rückt damit in eine eher künstlerische Form und Sichtweise seiner Existenz (›Daseinsbild‹), die idealiter nur noch dem eigenen Werk, aber nicht mehr der chaotischen Wirklichkeit – jenem bloß äußeren Leben – verpflichtet ist. In einem sehr persönlich gehaltenen Brief an Margarete Susman hat er dies selber ausgesprochen: »Ich erfahre am eigenen Leibe, eine wie schwere und eigentlich unlösbare Aufgabe es selbst unter meinen relativ günstigen Lebensbedingungen ist, nach dem ›individuellen Gesetz‹ zu existieren u[nd] zu der Continuität im Gestimmtsein u[nd] Denken zu kommen, die doch schließlich die Bedingung des geistigen u[nd] produktiven Lebens ist, wenn es werden soll, was es werden kann; ich bin über die Zersplittertheit des Tages, über das Durchreißen der eben angesponnenen Fäden oft bis zur Raserei, ja, bis zur Resignation verzweifelt.« 595 Das ›individuelle Gesetz‹ stellt nicht nur eine Integrationsformel für die eigene Entwicklung dar, indem es dem jetzigen Selbstver-

Ihre] ihre verzweifelt.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Simmel an Margarete Susman, Westend 20. 12. 1913: L[eo] B[aeck] I[nstitute] New York.

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ständnis alle früheren Phasen eingliedert, sondern auch eine Formel für die je aktuell sich stellende Schwierigkeit, ›zu werden, was man ist‹, d. h. diejenige ›Continuität‹ herzustellen und durchzuhalten, die das Leben als geistiges und produktives, die also das Werk verlangt. Von daher ist denn auch der neue Begriff von Individualität verständlich, und es wird verstehbar, warum die frühere Entwicklung in diesem neuen Begriff aufgeht, ist doch das ›Individuum als Schnittpunkt sozialer Kreise‹ nach wie vor noch anwesend, als Forderung vom Äußeren her, als Gefährdung und Störung jener Kontinuitäten, auf die das individuelle Gesetz abzielt, wie es diese Forderung seinerseits überhaupt erst formuliert. Diese Individualität ist nicht nur eine andere als jene soziologistisch gedachte, sondern sie stellt die Antithese zu jener her, in einer künstlerisch-philosophischen Lebens- und Existenzweise, die ganz dem Werk dient. So wurde auch das ›Werk‹ zu einem ›Objektiven‹ und eigenem Wert erhoben und dessen Abrundung zur objektiven Forderung – zum schicksalhaft aufgegebenen ›Gesetz‹, dem die Person genau in der Weise zu dienen hat, wie – analog in der sittlichen Welt – das herausragende Individuum seine eigene ›moralische‹ Gesetzlichkeit haben kann, jenseits der Sitte und Konvention – weil es der Schöpfer sein kann. Individualität wird so im Idealfall aus ihrer Entgegenstellung gegen das Nicht-zum-Individuum-Gehörige herausgelöst und von aller Polarität und allem Bezogensein auf ein Anderes und Anderssein, – das meinte der Gedanke des ›Für-Sich‹ – befreit, so »daß der zunächst sich aufdrängende Sinn der Individualität: das Anders- und Besonderssein, die qualitative Unvergleichbarkeit des einzelnen – hier nicht in Frage steht. Nicht um die Einzigheit, sondern um die Eigenheit, in deren Form jedes organische Leben und zuhöchst das seelische verläuft, handelt es sich, um das Wachsen aus eigener Wurzel.« 596 Freilich muß man | zugestehen, daß eine derartig exklusive Individualität nicht unproblematisch ist: ›Ein Wachsen aus eigener Wurzel‹, wenn es nicht biologisch-vitalistisch oder als Entelechie interpretiert werden soll, und es nicht darf, bereitet nicht wenig Schwierigkeit. Aber die ist behebbar, wenn diese Formel probeweise als Metapher für eine Sehnsucht aufgefaßt wird, die die realen Ver-

596 Wurzel.«] folgt Fußnotenzeichen und -text: Vgl. [Simmel:] D[as] I[ndividuelle] G[esetz, hg. v. Michael Landmann] S. 222. Vgl. auch: [Simmel:] F[ragmente] u[nd] A[ufsätze] S. 43.

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hältnisse umkehrt, indem das Ganze des Lebens, wie es sich in der Anschauung als Ganzheit darstellt, doch tatsächlich die Möglichkeit bietet, etwas wie die Wurzeln des eigenen Selbst zu eruieren. Das einmal als einheitlich empfundene ganze Leben mag dann zu der Vorstellung führen, daß alles Einzelne der Vergangenheit gleichsam nach einem ›individuellen Gesetz‹ sich zu dieser Ganzheit zusammengefügt habe. – Und so auch umgekehrt, und damit kommen wir Simmels Aussageabsicht etwas näher: das wechselweise Verwiesensein zwischen Ganzem und Einzelnen der Existenz legt die Forderung nahe, daß man in zweierlei Weise hiermit verfahren kann und tatsächlich auch verfährt: entweder – und das ist wohl der alltägliche Umgang mit uns – wir leben unterhalb des Bewußtseins einer Einheitlichkeit unseres Selbst, wie wir denn auch manches Einzelne zumeist als nicht zu unserer Person gehörig ausscheiden und schlichtweg vergessen. Oder, und das wäre die zweite, zumindest denkbare Umgehensweise mit unserem ›Selbst‹, wir leben und spüren in recht hohem und wohl nicht näher zu beschreibenden Maße einheitlich, will sagen, in einer kontinuierlichen Koordinierung des Ganzen und seiner Teile, so, wie vielleicht manche Philosophen- oder Künstlerexistenz sich vollzogen hat (oder auch nur vollzogen haben mag, ohne daß uns eine Möglichkeit der Überprüfung offenstünde). Wenn man sich dieser bloßen Möglichkeit nicht von vornherein verschließt – aus Skeptizismus oder auch Aversion gegen das Metaphorische, NichtPräzise, Nicht-Berechenbare, Nicht-Ableitbare, – dann wäre der Gedanke eines metaphysisch-universellen ›individuellen Gesetzes‹, wenn vielleicht nicht jederzeit gleich auf das Ganze eines Lebens, so wohl doch auf bestimmte Zeitläufte oder auch nur Seiten der Persönlichkeit beziehbar. Es wäre damit denn nichts anderes gefunden als eine genauere Beschreibung desjenigen, was wir ohnehin unter Individualität verstehen, denn was sonst gehört zur Explikation von behaupteter menschlicher Individualität, wenn es nicht diese relativen Konstanzen, diese als einheitlich sich darstellenden Züge sind? »Wahrscheinlich ist dieses jeweilige individual-allgemeine Gesetz nicht begrifflich zu fixieren, sondern dies erreichen nur jene singuläreren Vorschriften, die sich bei seinem Zusammenschlage mit einzelnen Gegebenheiten und Situationen erheben. Aber darum ist dies Gesetz der individuellen ethischen Totalhaltung nicht weniger gültig und wirksam, wie sein Gegenstück im Gebiete der Wirklichkeit: jener unbeschreibliche Stil und Rhythmus einer Persönlichkeit, ihre

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Grundgeste, die jede ihrer […] Äußerungen zu etwas unverwechselbar ihr Zugehörigem macht«. 597 »Der objektive Geist hat doch ganz und gar nur den Inhalt, den die historische Entwicklung ihm gegeben hat und nimmt deshalb an allen Schwächen und Irrthümern dieser Theil; […] | Auch der Hexenglaube und der Antisemitismus, die Tortur und das Schlachtopfer der sittlichen Autonomie am Beichtstuhl sind Momente des objektiven Geistes, aus dem sie dann mit unberechenbarem Einfluss in unzählige subjektive Geister ausstrahlten und ausstrahlen. Da der objektive Geist eine Realität ist, so sicher und bestimmt wie nur irgend eine andere psychologische Bedingung des Geschehens, so verhält er sich auch zu den Ideen nicht anders, wie sich eine Realität überhaupt zu ihnen verhält«. 598 Am 2. Februar 1903 ist Simmel bei Harry Graf Kessler zu Gast – »Mittags Simmel drei Stunden bei mir. Er geht gleich auf gescheite Sprüche los, ohne Umschweife, und erklärte mir gleich zu Anfang, er sei heute müde, ich möchte ihn deshalb entschuldigen, wenn er Nichts Gescheites sage. Er kam von [Edvard] Munch und meinte, Jetzt wisse er was er ausdrücke, die Furcht vor dem Leben. Er krystalliere einfach aesthetisch den eigentlich selber unaestethischen Standpunkt, die Flucht in sich selbst hinein. Das moderne Leben bricht mit solcher Gewalt auf den Menschen ein und in ihn hinein, dass er seine Subjektivität fast verliert. Alles in ihm werde objektiviert, sozialisiert; er selbst, eine aufgeklärte Individualität könne unter der Last kaum noch atmen.«

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macht.«] danach (D[as] I[ndividuelle] G[esetz] 229) verhält«.] danach (501 f.)

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8. Vorlesung Ich habe beim letzten Mal versucht, den von Simmel vollzogenen Übergang von einer Theorie des bloß objektiven Geistes zu einer Theorie des Spannungsverhältnisses zwischen subjektivem und objektiven Geistes zu umreißen. Und ich hatte Sie gebeten, nunmehr Simmels Aufsatz ›Der Begriff und die Tragödie der Kultur‹ zu lesen, – den wohl wichtigsten Aufsatz und Text, den es wohl überhaupt zu 599 diesem Thema gibt. – ›Zu diesem Thema‹, – d. h.: über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der ihn umgebenden Kultur, das als ein Spannungsverhältnis gedeutet wird, als eine Spannung, Konkurrenz und Lebensaufgabe, die schließlich vom Einzelnen dann doch nicht erfolgreich ausgehalten und bemeistert werden kann: was schließlich zu einer ›Tragödie der Kultur‹ führe. Aber soweit sind wir noch nicht. Soweit sind wir längst noch nicht, – denn wir müssen diesen Text genau lesen, um zu verstehen und hervorzuheben, welche Aussagen und welche Voraussetzungen in ihm gemacht werden. Ich werde deshalb heute – und in der nächsten Woche – den Text lesen und kommentieren. Simmel geht gleich in medias res – und macht eine ganze Reihe von Voraussetzungen: »Daß der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt.« Die »natürliche Gegebenheit der Welt« und der Mensch, sie bilden den ersten großen Dualismus, den von Subjekt und Objekt. Wobei dieser Dualismus nicht statisch gedacht, sondern als unablässiger, »endloser Prozeß« gedacht werden soll. Es ist freilich der Prozeß in dem der Mensch – und nur der Mensch steht, und der Mensch wird hier geschildert anhand von Tätigkeiten, die man gleichsam als Chronologie der Kulturgeschichte lesen kann: zuerst reißt sich der Mensch los von einem quasi noch tierischen Dasein – und stellt sich der natürlichen Welt gegenüber, d. h. er betrachtet sie, betrachtet sie als ein

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überhaupt zu] überhaupt über zu

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Objekt und damit ist der Dualismus nicht nur geschaffen, sondern gesagt: daß es den Menschen als solchen auszeichnet, Welt betrachten, sich in diesem Sinne losreißen zu können. – Mit der Folge, daß er der natürlichen Welt fordernd gegenübersteht, und mit ihr ringt, die natürliche Welt vergewaltigt, wie sie den Menschen vergewaltigt. Damit ist gleichsam die primitivste Stufe menschlichen Daseins bezeichnet: das bloße Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, und dieses Auseinandertreten ist nichts anderes als das Auftreten des ›Geistes‹. Deshalb kann Simmel ganz einfach fortfahren, ohne diesen Satz ausgesprochen zu haben: »Innerhalb des Geistes findet er [der Mensch] seine zweite Instanz.« Indem der Mensch also 600 prinzipiell Träger jener verschiedenen Eigenschaften ist, und seien diese noch so roh und unausgebildet, hat er bereits Geist und unterscheidet sich ganz | prinzipiell vom Tier, das eben nur jener ›ersten Instanz‹ angehört: der hier sogenannten »natürlichen Welt« für die man auch einfacher und schlichter ›Natur‹ sagen kann. Denn es ist nichts 601 anderes gemeint als die uns schon vertraute Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur – Begriffe, die in diesem Text überhaupt nicht auftauchen. Die ihm aber zugrundeliegen, weil Simmel nun einmal an Lazarus anknüpft, genauer gesagt: an dessen Begriff des ›objektiven Geistes‹, wie die folgenden Bestimmungen zeigen: »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.« Damit ist nicht nur der ›objektive Geist‹ als solcher bezeichnet, sondern auch die spezielle Fragestellung bereits angerissen, um die es hier im folgenden gehen soll: was bedeutet diese »eigentümliche Selbständigkeit« der Objektivationen des Geistes für die subjektiven Geister oder Individuen? Was bedeutet diese Selbständigkeit ganz unabhängig davon, ob wir diese Objektivationen nun ›aufnehmen‹, d. h. aneignen wollen oder es vorziehen, sie abzulehnen? – Sie sehen, das, was Simmel an späterer Stelle des Textes schlicht als »Kulturtatsache« bezeichnen und konstatieren wird, wird hier schon ausgesprochen: die Kultur resp. alle Objektivationen des ›objektiven Geistes‹ stellen eine für den Menschen unausweichliche ›Tatsache‹ dar, ganz

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also] als es ist nichts] es nichts

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gleichgültig, wie immer der einzelne Mensch sich zu dieser Tatsache stellen mag, wie immer er damit umgehen mag. Denn der Geist hat immer schon unzählige Gebilde erzeugt – und deshalb gilt: »So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte – nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stücke des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegengestellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.« Diese Passage ist schon sowas wie eine Zusammenfassung des ganzen Textes. Wir müssen sie zergliedern: Es »sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte« und das Subjekt sieht sich also damit verschiedenen Sphären des ›objektiven Geistes‹ gegenüber, zu denen es in ganz unterschiedliche Verhältnisse tritt: »nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stücke des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie;« – kann sich das Subjekt den Sphären des ›objektiven Geistes‹ gegenüberstellen. Das aber ist sozusagen noch garnicht das Bedeutsamste dieses Dualismus, »sondern« – sagt Simmel – »es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren | Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegengestellt.« – Darauf kommt es an: diese eigentümliche Festigkeit, das Geronnensein und die beharrende Existenz des ›objektiven Geistes‹, sie geben ihm seinen ganz eigenen Charakter, einen Charakter, der im offenbaren Widerspruch zum ›Leben‹ steht; zum ›Leben‹ im ganz emphatischen Sinne, das hier beschrieben – oder besser gesagt – umrissen wird mit den zunächst wenig greifbaren Formulierungen von »der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele«. Aber darauf geht Simmel dann wenig später ein. 344 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Hier kommt es ihm auf 602 die vollständige Problemexposition an, d. h. darauf, ›sein‹ philosophisches Problem zu markieren: die Tragödie, die er darin erblickt, daß sich nicht nur irgendwie subjektiver und objektiver Geist gegenüberstehen, sondern daß das Formprinzip des Lebens – und die Form des ›objektiven Geistes‹ resp. der Kultur prinzipiell verschiedene 603 sind. Denn nur daraus erklärt sich jene ›Tragödie‹ – und nur insofern kann überhaupt von einer ›Tragödie‹ wirklich die Rede sein. Es ist der Formgegensatz, der ihn interessiert, der Umstand, daß der subjektive Geist »als Geist dem Geiste [jetzt dem objektiven Geist] innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.« Dieser sogenannte ›Formgegensatz‹ wird noch näher ausgearbeitet. Hier wird er nur erstmals bezeichnet durch ein ›rastloses Dahinströmen des Lebens‹ – eines Lebens, das überdies auch ›endlich‹ ist – und das als solches also mit der ›Form‹ des ›objektiven Geistes‹ nicht vergleichbar ist, denn dieser ist demgegenüber vergleichsweise ›unbeweglich‹ und von ›zeitloser Gültigkeit‹. Damit endet nicht nur der erste Absatz dieses Textes, sondern auch die Exposition, die ›Ausstellung‹ dessen, was hier behandelt werden soll. – Es folgt ein zweiter Absatz, der in der Originalfassung über zweieinhalb Seiten geht, und in diesem Absatz versucht Simmel das Verhältnis von individueller Seele und Kultur zu klären – indem er zuerst seinen Begriff von der Seele, genauer gesagt vom ›Leben‹ der Seele zu erklären sucht – und indem er andererseits seinen Begriff von ›Kultur‹ darlegt, der hier nicht einfach mit dem des ›objektiven Geistes‹ zusammenfällt, sondern eine ›subjektive Kultur‹ im Auge hat, und damit eigentlich die alte ›Kultivierung‹, die ›cultura animi‹ meint. Denn ihm geht es hier 604 zunächst darum, vom Leben der Seele her die Bedeutung der Kultur für die Seele zu bestimmen – und diese Bedeutung der Kultur besteht darin, daß sie in irgendeiner Weise in die individuelle Seele eingehen oder in ihr wirksam werden muß. 602 603 604

auf] um verschiedene] verschiedenen geht es hier] geht hier

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Simmel vermeidet deshalb jetzt sogar – anders als in der ›Philosophie des Geldes‹ – das Wort ›Aneignung‹, denn das mit ›Aneignung‹ gemeinte Ideal des Verhältnisses des Einzelnen zur Kultur ist nicht mehr sein Ideal. Ihm geht es nur noch darum, wie sich die Seele überhaupt neben der immer weiter wuchernden Welt des ›objektiven Geistes‹ behaupten kann – wie sich das Leben der Seele so organisieren kann, daß echte Individualität entstehen und überleben kann. | Ich bitte diesen Unterschied von Philosophie des Geldes und dieser späteren, lebensphilosophischen Konzeption im Auge zu behalten, wenn wir uns jetzt der Kultur unter der Prämisse des Überlebens von Individualität nähern: »Mitten in diesem Dualismus [jetzt der Formgegensätze von Leben und Objektivationen des Geistes] wohnt die Idee der Kultur« – sagt Simmel, und man merkt bereits hier, daß der Begriff ›Kultur‹ also nicht mehr Bezeichnung für das Ergebnis des gesamten Kulturprozesses sein soll, wie der Begriff ›objektive Kultur‹, – daß also ›Kultur‹ hier nicht mehr ›nomen acti‹ ist. Vielmehr bezeichnet der Begriff ›Kultur‹ jetzt bloß noch eine Idee, einen Vorgang und ein Ziel, das sonst auch mit dem Begriff ›Kultivierung‹ beschrieben wird, wobei ›Kultur‹ also ›nomen actionis‹ ist, indem hier ein Geschehen beschrieben werden soll. »Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst«. Der Idee der Kultur, einer Kultivierung, liegt eine Tatsache zugrunde, so behauptet Simmel, die nur gleichnisweise mit der Formel ›Weg der Seele zu sich selbst‹ beschrieben werden könne. Was es mit diesem ›Weg der Seele zu sich selbst‹ auf sich hat, das habe ich ja bereits beim letzten Male angedeutet, als ich über jene Kontinuitäten und einheitlichen Formen des Empfindens und sichGebens einer Persönlichkeit sprach – und ich hatte diese Auffassung mit Simmels Theorie eines individuellen Gesetzes in Verbindung gebracht, indem sich auch hier eine Einheit der Seele oder Persönlichkeit daraus ergibt, daß sowohl in der Sicht auf das Vergangene als auch auf das Zukünftige dieser Persönlichkeit so etwas wie eine Einheitlichkeit angestrebt wird – wenngleich sie auch nie im vollen Sinne erreicht werden mag. Der ›Weg der Seele zu sich selbst‹ bezeichnet in diesem Sinne also ein Ideal – das Ideal der sich behaupten wollenden Individualität 346 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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gegen jenen übermächtigen ›objektiven Geist‹. Und dieses Sich-Behaupten-Wollen schafft überhaupt erst eine Seele in diesem Sinne, eine Seele, so muß man sagen, unter den Bedingungen des modernen Lebens, d. h. hier wird die Seele überhaupt erst wiedergewonnen, – als Begriff, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ›out‹ war – und als Tatsache, denn ›Seele‹ meint immer ›Einheit der Seele‹, meint immer eine personale Geschlossenheit und Einheitlichkeit, die das moderne Leben an sich gar nicht hergibt, die das moderne Leben in der großstädtischen Lebenswelt – wie wir bereits gesehen hatten – als solche gar nicht zuläßt. Es geht um die Wiedergewinnung des Begriffs und der Sache Seele, wenn es heißt: »denn keine solche [– Seele ist hier gemeint] ist jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden.« – ›Seele‹ ist von sich aus der Ausdruck für einen Kernbestand der Persönlichkeit, der nicht in einem einzelnen Augenblick einfach nur da und konstatierbar ist – die ›Seele‹ kann man nicht ›fixieren‹ und nicht auf dem Seziertisch des Mediziners zeigen – denn Seele ist nur ein Wort und Ausdruck dafür, daß die individuelle Persönlichkeit existiert. Und deren Existenz, die man nur gleichnisweise | beschreiben kann, besteht eben darin, daß ein »Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden« ist, – d. h. daß erstens eine solche Einheitlichkeit in all den Kontinuitäten dessen besteht, wie ein Mensch sich ausdrückt – im umfassendsten Sinne ist das gemeint. Zweitens gibt es etwas wie ›Zielsetzungen‹ und ›Gesetzmäßigkeiten‹, unter denen die Persönlichkeit zu stehen scheint – womit nicht etwa bewußte Ziele, irgendetwas zu erreichen gemeint ist. Sondern ›Höheres‹ und ›Vollendeteres‹ beschreiben das jeweils aktuelle Ungenügen, das wir fast immer und an jedem Tage empfinden – und daß wir es empfinden, daß wir ständig unzufrieden sind, das heißt doch umgekehrt, daß wir ›Ziele‹, ›Wünsche‹ oder eben etwas ›Vollendeteres‹ vor Augen haben als wir jeweils zu erreichen vermögen. ›Seele‹ in diesem Sinne gibt es also nicht – sondern wir nennen ein ganzes Bündel von Phänomenen und die einheitliche Richtung dieser Phänomene: die Seele. Weiter heißt es: »Nicht ein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal ist hier gemeint; sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, einem inneren Formtrieb gehorsamen Keimes« – das ist diese Seele. 347 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Nachdem dies klargestellt ist, hat Simmel dennoch das Bedürfnis, diese Seele und zumal ihr Leben näher zu erläutern, und diese ganze Passage, die jetzt folgt, dient schließlich dem Zweck auszusprechen, daß es einer Kultivierung der Seele bedarf, damit es überhaupt zu so 605 etwas wie einer Einheitlichkeit der Seele kommt. Zunächst aber muß diese ›Einheitlichkeit‹ herausgearbeitet werden: »Wie das Leben – und zuhöchst seine Steigerung im Bewußtsein – seine Vergangenheit in einer unmittelbareren Form in sich enthält als irgendein Stück Unorganisches, wie dies Vergangene nach seinem ursprünglichen Inhalt und nicht nur als mechanische Ursache späterer Umsetzungen im Bewußtsein weiterlebt, so umschließt es auch seine Zukunft in einer Weise, zu der das Unlebendige keine Analogie besitzt.« D. h.: Leben – egal, ob menschliches oder sonstiges organisches Leben, zeichnet sich prinzipiell gegenüber der unorganischen Welt dadurch aus, daß Vergangenheit weiterwirkt und daß die ganze Vergangenheit und Gegenwart dieses Lebens auch auf Zukünftiges vorausweist, d. h.: »In jedem Daseinsmoment eines Organismus, der wachsen und sich fortpflanzen kann, wohnt die spätere Form mit einer so innerlichen Notwendigkeit und Vorgebildetheit, die etwa derjenigen gar nicht zu koordinieren ist, mit der die gespannte Feder ihre Gelöstheit enthält.« – Das Leben des Organismus ist etwas prinzipiell Nicht-Mechanisches und sozusagen ›physikalisch‹ nicht zu erklären. Aber noch mehr: »Während alles Unlebendige schlechthin nur den Augenblick der Gegenwart besitzt, streckt sich das Lebendige in einer unvergleichlichen Art über Vergangenheit und Zukunft. All diese seelischen Bewegtheiten vom Typus des Wollens, der Pflicht, des Berufenseins, des Hoffens« – zeugen davon, daß das ›Leben‹ solche Kontinuitäten aufweist, solche ›Einheitlichkeit‹ der Seele, die sich an der ›Einheitlichkeit‹ des 606 Wollens, Hoffens oder anderer Eigenschaften festmacht – aber sie sind umgekehrt nur »die geistigen Fortsetzungen der fundamentalen | Bestimmung des Lebens: in seiner Gegenwart seine Zukunft, in einer besonderen, eben nur am Lebensprozeß bestehenden Form zu enthalten 607.« – Selbsterhaltung – heißt das einfache Wort, das Simmel hier offenbar vermeidet, weil man dann an Triebe – und nicht an Seele denkt. 605 606 607

damit es überhaupt zu so] damit überhaupt so des] der enthalten] erhalten

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›Seele‹ – und darauf kommt es Simmel an – soll hier als ein Inbegriff von etwas ausgewiesen werden, was eine biologische Grundlage hat, die sich nicht weiter zergliedern läßt, – eine biologische Grundlage, die der Mensch nicht nur nicht verliert, solange er lebt, sondern die auch in allen seinen sogenannten ›kulturellen‹ Tätigkeiten und Bedürfnissen wirksam bleibt, wie denn auch umgekehrt eben diese kulturellen Betätigungen und Resultate des gesamten Kulturoder Zivilisationsprozesses immer auch als Resultate der biologisch verbürgten Eigenschaften des Menschen angesehen werden müssen. ›Leben‹ meint also nicht nur das ›äußere‹ und ›sichtbare‹ des gelebten Lebens eines Menschen, sondern es gibt in ihm und es zeichnet ihn als Einzelnen aus, daß er ›sein‹ Leben lebt, sein ganz bestimmtes Leben, weil und insofern man auch berücksichtigt, daß der Einzelne eine auch biologische Eigenschaften besitzt. 608 Aber Simmel kommt es nicht auf einzelne biologische Eigenschaften, sondern auf deren Ursprung an, darauf, daß die ›Einheitlichkeit‹ der Seele ihren Grund findet und daß insofern jede Gegenwart des Lebens auch eine Zukunft präformiert, wie denn auch diese Gegenwart durch die Vergangenheit in gewissem Maße als präformiert angesehen werden muß. »Und dies« – diese Vorausweisungen von der Gegenwart auf die Zukunft – betreffen »nicht nur einzelne Entwicklungen und Vollendungen, sondern die Persönlichkeit als ganze und als Einheit trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich, mit dessen Realisierung sie sozusagen statt ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre.« Nicht nur einzelne Eigenschaften des Individuums zeigen solche Gleichförmigkeiten und solche Einheitlichkeit, sondern auch die Persönlichkeit als Ganze einen – in diesem Sinne – einheitlichen ›Charakter‹. – Ein Wort, das Simmel meidet, weil der Begriff des Charakters einerseits sofort guten oder schlechten Charakter meinen könnte – andrerseits, weil die Vorstellung vermieden werden muß, daß er etwas biologisch Veranlagtes meine. Nein, diese ›Einheitlichkeit‹ ist zunächst völlig wertfrei gedacht – und auch ist nur die Grundlage des Lebens überhaupt auch biologisch zu verstehen, nicht aber das bestimmte Leben eines Einzelnen deshalb auch biologisch zu verstehen. 608 daß der Einzelne eine auch biologische Eigenschaften besitzt] so wörtlich. Mögliche Auflösungen: »daß der Einzelne eine auch biologische Eigenschaft besitzt« – »daß der Einzelne auch biologische Eigenschaften besitzt«.

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Der ›Weg der Seele zu sich selbst‹ besteht insoweit darin, daß eine einheitliche Persönlichkeit behauptet wird, – daß die Realisierung dieser Persönlichkeit jederzeit vorausweist in eine Zukunft und daß doch, was wir die Persönlichkeit nennen, eigentlich schon eine Verwirklichung dessen voraussetzt, was 609 da noch alles realisiert werden soll. Ich gebe zu, das ist ziemlich dunkel, aber eigentlich garnicht so schwierig nachzuvollziehen: Wenn wir von Persönlichkeit sprechen, so meinen wir damit nicht diesen Augenblick und nichtmal meinen wir damit nur die ganze Vergangenheit dieser Person, selbst wenn wir sie so gut kennten, sondern wir meinen immer auch einen Zukunftsaspekt, meinen also eine Art Prognose erstellen zu können, wie sich diese Persönlichkeit in Zukunft verhalten werde. | Diese allerwärts geübte Meinung, eine Persönlichkeit auch in Zukunft als dieselbe noch ansehen zu können, kehrt Simmel ganz einfach um und bezieht diese Prognose bereits in den Begriff dieser Persönlichkeit ein. Er tut gewissermaßen so, als ob alles, was von einer Persönlichkeit noch zu erwarten ist, jetzt und hier alles schon mitgedacht wird und werden muß, um überhaupt den Vollbegriff der Persönlichkeit zu fassen. Wenn Ihnen das immer noch zu subtil oder sophisticated scheint, dann kann ich noch auf einen anderen Sachverhalt verweisen: auf Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein. Was denn andres als ein Vorgriff auf Zukünftiges ist damit gemeint? Ist 610 nicht sowohl das Selbstvertrauen wie das Selbstbewußtsein eine solche Form, die über das hier und jetzt hinausstrebt und gleichsam die Vergangenheit ›hochrechnet‹ ! – Auch hier haben wir es, auch wenn Simmel diese Beispiele nicht bringt, mit Formen der ›Einheitlichkeit der Seele‹ resp. mit jenen Kontinuitäten zu tun, die es gestatten, eine solche Einheitlichkeit zu behaupten. Nur machen wir uns diese Kontinuitäten selten klar, ja, wie schauen umgekehrt nur auf die einzelnen Situationen und glauben im Grunde nicht, daß solche Kontinuitäten auch in die Zukunft hinein fortzuschreiben sind. Denn wir nehmen an, daß alles zugestanden, doch schließlich Zufälle aller Art, Veränderungen der Umstände und Glücks- und Unglücksfälle ›dazwischenkommen‹ können,

609 610

was] war Ist] Ich

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daß also die Kontinuitäten sich gar nicht erhalten können – und daß es auch keineswegs wünschenswert wäre, daß sie sich erhalten würden. Das ist richtig – und natürlich von Simmel sowohl mitgedacht, wie auch beantwortet worden. Er sagt: »So sehr also auch das Reifen und Sich-Bewähren der seelischen Kräfte sich an einzelnen, sozusagen provinziellen Aufgaben und Interessen vollziehen mag, so steht irgendwie darunter oder darüber die Forderung, daß mit alledem die seelische Totalität als solche ein mit ihr selbst gegebenes Versprechen erfülle, und alle Einzelausbildungen erscheinen damit doch nur als eine Vielheit von Wegen, auf denen die Seele zu sich selbst kommt.« – Und jetzt kommt es: »Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens –« D. h.: Wir sind es, die diese Kontinuitäten voraussetzen oder annehmen, daß sie eintreten werden, – ganz unabhängig davon, ob nicht etwas ›dazwischenkommt‹. Ja, man könnte diese These von der ›Einheitlichkeit‹ der Persönlichkeit, die aus unserem gefühlsmäßigen und praktischen Wesen hervorgeht, auch so formulieren, daß man sagt: selbst wenn ständig etwas ›dazwischenkommt‹, wenn es Persönlichkeiten gibt, die uns immer wieder enttäuscht haben, die eine solche ›Einheit‹ allemal vermissen lassen – dann – ja dann bekunden wir mit diesen Negationen doch immer noch die Erwartung, es hätte eigentlich anders sein müssen! Und weiter: selbst dann, wenn wir jene Metaphysik unseres Wesens nicht mitmachen wollten, wenn wir also solche Urteile über Mitmenschen niemals äußern würden, so gibt es einen guten Grund dafür, daß wir Menschen ständig darauf angewiesen sind, daß unsere Erwartungen erfüllt werden. – Natürlich nicht solche Erwartungen, wie die von einem Lottogewinn und auch nicht solche, die tatsächlich dann sich als enttäuscht erweisen, sondern all die Erwartungen, die nicht enttäuscht werden sind es, die jenen Zukunftshorizont und das | praktisch-gefühlsmäßige Wesen des Menschen bestätigen. Ich meine die Erwartung, daß wenn ich nach dem Weg frage, Antwort erhalte. Daß ich, wenn ich jemanden anspreche, er mich nicht nur verstehen wird, sondern mir ebenfalls antworten wird. Die Erwartung, daß der Zug fahrplanmäßig abfährt, daß überhaupt das Ganze des modernen Lebens irgendwie funktioniert – das alles zeigt den Menschen und zumal den modernen eingesponnen in ein unendlich kompliziertes Netz von ›Erwartungen‹, das ihm als ein solches keineswegs bewußt wird. – Bewußt werden immer nur die fehlgeschlagenen Erwartun351 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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gen, die Verspätung, die unfreundliche Antwort, das Versagen des einmal eingeprägten Musters, daß es klappen werde. Dies alles hat Simmel im Auge, wenn er das gefühlsmäßige und praktische Wesen des Menschen in seinen Erwartungen gegenüber anderen Menschen dahingehend bestimmt, daß ein solches gleichsam vorgezeichnetes Bild der Person oder Seele des anderen uns jederzeit in unserem Verhalten bestimmt, – und: »Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens – in wie weitem Anstand von dem realen Verhalten sich auch dieser symbolische Ausdruck halte: daß die Einheit der Seele nicht einfach ein formales Band ist, das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte in immer gleicher Weise umschließt, sondern daß durch diese Einzelkräfte eine Entwicklung ihrer als eines Ganzen getragen wird und dieser Entwicklung des Ganzen das Ziel einer Ausgebildetheit innerlich vorangestellt ist, zu der alle jene einzelnen Vermögen und Vollkommenheiten als Mittel gelten.« Damit haben wir das erste Argumentationsziel dieses langen Absatzes erreicht: die Einheit der Seele ist keine Summenformel für einzelnen Entwicklungen, sondern alle Einzelentwicklungen sind von dieser Einheit getragen wie sie diese Einheit überhaupt erst zu einer solchen machen. Das zweite Argumentationsziel besteht nun darin, diese Einheit der Seele mit der Kultur und der Kultiviertheit so zu verknüpfen, daß klar wird, daß die ›Einheit der Seele‹ nur aufgrund von Kultur entstehen kann – und daß umgekehrt wir von ›Kultur‹ einer Person überhaupt nur dann sprechen, wenn ein bestimmtes Vermittlungsverhältnis zwischen dem Individuum und der Kultur hergestellt worden ist. Ich lese: »Und hier zeigt sich« – sagt Simmel – »die erste und vorläufig nur dem Sprachgefühl folgende Bestimmung des Kulturbegriffs. Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient.« ›Cultura animi‹ entsteht erst dann, wenn es auch zu jener ›seelischen Zentralität‹ kommt – und vice versa. Denn alle einzelnen Fertigkeiten und Fähigkeiten empfinde das Sprachgefühl noch längst nicht als ausreichende Grundlage für die Bezeichnung eines Menschen als ›kultiviert‹. »Unsere bewußten und angebbaren Strebungen [Bestrebungen] gelten zwar den partikularen Interessen und Potenzen, und darum 352 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeiten hin angesehen, als ein Bündel von Wachstumslinien, die sich nach | recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen erstrecken.« Nicht jedes Bild gelingt – dieses ist besonders abstrus. Gemeint ist wohl, daß wir unterscheiden müssen zwischen unseren ›angebbaren‹ Bestrebungen und solchen, die sich erst nachher herausstellen oder ganz unausgesprochen nur vollzogen werden. Die angebbaren und bewußten, das Handeln in diesen benennbaren Bahnen verleiht keineswegs den Eindruck von Einheitlichkeit oder ›Einheit der Seele‹ ; viel zu viele und viel zu unterschiedliche Aktivitäten füllen jeden Tag aus – und jede dieser Aktivitäten wird noch in ganz unterschiedlicher Intensität ausgeführt. Von daher läßt sich keine ›Einheit der Seele‹ her erkennen. »Aber« sagt Simmel »nicht mit diesen in ihren singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch. Oder anders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« Und damit erstmal Pause! »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« Dieser Satz oder besser diese These Simmels ist nicht ganz vollständig hergeleitet und sie verdankt sich wohl auch der Freude an einer gelungenen Formulierung. Denn inwiefern von einer »geschlossenen Einheit« gesprochen werden kann 611, bevor es überhaupt zu einer Kultivierung kommt, ist doch sehr fraglich. Wenn die ›Einheit der Persönlichkeit‹ gemeint sein sollte, so haben wir uns diese doch immer als Resultat der Kultivierung vorgestellt – und zurecht sie uns so vorgestellt. Man muß diese Zweifel an Simmels Formulierung nur einmal aussprechen, um zu bemerken, daß er den hier beschriebenen Weg keineswegs als einen ›historischen‹ oder überhaupt im Zeitsinne meint, sondern daß vielmehr jederzeit dieser Weg als Aufgabe vor uns steht: immer schon haben wir und sei dies noch so gering entwikkelt, so etwas wie eine Einheit der Seele, – jederzeit auch ergeht an diese der Auftrag, durch die »entfaltete Vielheit« hindurchzugehen, 611

gesprochen werden kann] gesprochen kann

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d. h. durch die lebenspraktisch verursachte Vielheit aller jener Situationen der ›Bewährung‹ der Seele und ihrer Einheit – um dann schließlich, gleichsam reicher als zuvor, eine »entfaltete Einheit« zu bilden: kultiviert zu sein. So ungefähr ist dies gemeint – und also wird keine Entwicklung im Zeitsinne, sondern eine im systematischen Sinne damit beschrieben: der einfache Vorgang, daß jederzeit die Einheit der Seele (als Voraussetzung) ihre ›Bewährung‹ an der Vielfalt der Dinge und Menschen vollziehen muß, um dann als reicher gewordene ›Einheit der Seele‹ gleichsam höherkultiviert zu sein, um diesen Prozeß wieder und wieder zu vollführen. Das wird deutlicher, wenn Simmel sagt: »Unter allen Umständen aber kann es sich nur um die Entwicklung zu einer Erscheinung hin handeln, die in den Keimkräften der Persönlichkeit angelegt, als ihr ideeller Plan in ihr selbst gleichsam skizziert ist.« D. h.: auch wenn wir Simmels These nicht akzeptieren wollten, so meint er doch, müßten wir jedenfalls zugestehen, daß der Prozeß der Kultivierung ein Prozeß sei, der ein | gewisses Maß von vorhandener Persönlichkeit, d. h. Einheitlichkeit 612, voraussetze, damit eine Weiterentwicklung dieser Persönlichkeit stattfinden könne, die in ihr selbst bereits vorgezeichnet sei. ›Vorgezeichnet‹ ist wieder ein etwas schiefes oder ein überzeichnetes Bild. Simmel hat dies keineswegs in dem absoluten Sinne gemeint, daß damit eine Festlegung gemeint wäre, so, wie etwa eine Art Schablone etwas vorzeichnet. Aber er hat doch gemeint, daß in weitaus höherem Maße als es bewußt zu werden pflegt, die ›Einheit der Seele‹ oder der Persönlichkeit darüber entscheidet, wie das Leben verläuft – gemeint ist, innerhalb gewisser Fluchtlinien verläuft, welcher Zielkorridor gleichsam nur zur Verfügung steht für eine persönliche Entwicklung. Und er konnte dies meinen, weil er davon ausging, daß die Persönlichkeiten aufgrund ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart durchaus bereits in hohem Maße als Geprägte anzusehen seien – womit er freilich erwachsene Menschen meinte, bei denen dann gilt, daß, je älter sie sind, ein desto enger umrissener Zielkorridor sich überhaupt noch für die weitere Entwicklung darbiete. Aber noch etwas anderes muß man hinzufügen: nämlich, daß hier immer schon vorausgesetzt wird, daß es sich um eine Persönlichkeit handle, die dann noch weiter kultiviert werden soll, daß also be612

Einheitlichkeit] Einheitlich

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reits ein relativ hohes Niveau von Einheitlichkeit 613 durch die Vielheit zu reicherer Einheit hindurchgehen müsse und werde. Und das ist eben jener ›Weg der Seele zu sich selbst‹. Simmel geht im folgenden wiederum auf den Sprachgebrauch zurück – charakteristisch für ihn, daß er die Begriffe nicht normativ bestimmt durch Definition, sondern ihnen so, wie sie nun einmal in Gebrauch sind, gewissermaßen ihr Geheimnis ablauschen will. Diese Passage dient zwar noch der Erläuterung der bisherigen Argumentation, weist aber schon auf das nächste Problem voraus, da zur Bewältigung ansteht: der eigentümliche Austausch und jene Spannung zwischen Subjekt und Objekt, die ihn schließlich auf die ›Tragödie der Kultur‹ führen wird. – Ich übergehe den Rest des Absatzes und beginne mit dem nächsten: »Und hier tritt nun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch die sie eine Lösung der Subjekt-ObjektGleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des seelischen Zentrums empfangen wird;« – wo also wie in dem inzwischen gebrachten Beispiel aus einem Baumstamm etwas völlig ihm heterogenes geschaffen wird, wie z. B. ein Schiffsmast. Ein Baum – so Simmel – tendiere und verwirkliche sich keinesfalls in diese Form, ein Schiffsmast zu werden – es liege hier keinerlei Präformation vor – und so spreche man in einem solchen Falle nicht von einer ›Kultivierung‹. Eine Kultivierung setzte vielmehr voraus, daß – wie beim Apfelbaum ein Pfropf – ein ursprünglich angelegtes Potential des wilden Baumes durch eine Handlung des Menschen zu höherer Kultur geführt werde. – Ich lese nochmal: »Und hier tritt nun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch die sie eine Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des Seelischen Zentrums empfangen wird; aber er trifft auch nicht | zu, wo sie nur als eine solche Eigenentwicklung auftritt, die keiner objektiven oder ihr äußeren Mittel und Stationen bedarf.« Also: von Kultivierung und Kultur sprechen wir nicht, wenn einerseits etwas ganz einfach nur völlig verformt und zurechtgemacht wird, was keineswegs durch Präformation in ihm angelegt war. Aber wir sprechen auch beim Gegenextrem nicht von einer Kultivierung, wenn etwas eher nur natürlich so weiterwächst und sich entwickelt – und komme dabei auch das Wertvollste heraus. 613

Einheitlichkeit] Einheitlich

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Alles hängt hier an dem Hindurchgehen durch die Vielfalt zurück zu einer neuen Einheit – sie haben das Prinzip bereits bemerkt und verstanden, worauf Simmel hinauswill. Er gibt ein Beispiel für den Fall, daß der Weg nicht durch die Kultur zu sich selbst führe: »Vielerlei Bewegungen führen die Seele wirklich, wie jenes Ideal [Weg der Seele zu sich selbst] es erfordert, zu sich selbst, das heißt zur Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden, vollen und 614 eigensten Seins. Aber indem oder insoweit sie dies rein von innen her erreicht: in religiösen Aufschwüngen, sittlicher Selbsthingabe, beherrschender Intellektualität, Harmonie des Gesamtlebens – kann sie doch noch des spezifischen Besitzes der Kultiviertheit entbehren. Nicht nur, daß ihr dabei jenes ganz oder relativ Äußerliche fehlen mag, das der Sprachgebrauch als bloße Zivilisation qualifiziert. Darauf käme es durchaus nicht an. Aber Kultiviertheit in ihrem reinsten, tiefsten Sinne ist da nicht gegeben, wo die Seele jenen Weg von sich selbst zu sich selbst, von der Möglichkeit unseres wahrsten Ich zu seiner Wirklichkeit, ausschließlich mit ihren subjektiv personalen Kräften zurücklegt – wenn gleich vielleicht von einem höchsten Blickpunkt aus gerade diese Vollendungen die wertvollsten sind; womit nur bewiesen wäre, daß Kultur nicht das einzige Wertdefinitivum der Seele ist.« Es geht hier nicht um ›die Kultur‹, sondern um Kultivierung der Persönlichkeit, – es geht also nicht um den Bestand dessen, was eine Kultur bereitstellt, sondern um Aussagen darüber, wie ein bestimmtes Kulturideal: eine höchst kultivierte Persönlichkeit gedacht werden muß, resp. was wir unter einer solchen und einem solchen ›Ideal‹ zu verstehen haben. Der Religionsstifter und das mathematische Genie – sie sind darum noch längst keine ›kultivierten‹ Menschen, bloß weil sie Kulturschöpfer und dies vielleicht in einem kaum zu überbietenden Maße sind. Nein, ›kultiviert‹ ist man dadurch, daß man diese Einheit der Persönlichkeit ›lebt‹ und daß man diese Einheitlichkeit der Persönlichkeit durchhält – in einem freilich doch unter einer Norm stehenden Sinne: sich ständig zu vervollkommnen. Wobei ausdrücklich gesagt wird: ›Kultiviertheit‹ in diesem Sinne ist keineswegs der einzige definitive Wert, den die Gesellschaft – oder wir – kennen. Es gibt andere, von denen aber hier nicht die Rede sein

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und] und und

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soll; Religionsstifter, Künstler und andere Heroen waren nicht – und müssen auch nicht ›kultiviert‹ sein. – Kultur aber – in dem Sinne, wie sie der Sprachgebrauch – und das heißt die Konvention jemandem zuspricht, gehorcht anderen Gesetzen und Kriterien: »Ihr spezifischer Sinn … ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind.« – Und damit schließt sich der Kreis: | »Jene objektiv geistigen Gebilde, von denen ich im Anfang sprach: Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen – sind Stationen, über die das Subjekt gehen muß, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen. Es muß diese in sich einbeziehen, aber es muß sie auch in sich einbeziehen, darf sie nicht einfach als objektive Werte bestehen lassen. Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strom fühlen, und das von sich auf eine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht – und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.«

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9. Vorlesung Wir waren in der letzten Woche bis zu der Stelle gekommen, wo Simmel es als das »Paradoxon der Kultur« bezeichnet, daß das individuelle Leben überhaupt nur dadurch vervollkommnet werden kann, daß es – durch Kultur, durch die Kultur hindurch – geschehen muß. Wobei die Paradoxie darin liegt, daß die Kultur zwar von den menschlichen Geistern geschaffen wurde, selber aber eine Art Eigenleben führt und sich verselbständigt hat. Der Formgegensatz von individuellem Leben und Kultur führte auf diese Paradoxie, aber auch Simmels Zielstellung von Kultur, sie müsse der Vervollkommnung des Individuums dienen, bringt hier ein Problem und einen ›Konflikt‹ hervor. Ich lese die Stelle nochmal: »Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strom fühlen, und das von sich auf eine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht – und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.« Das heißt: das individuelle Leben, das aus inneren Gründen genötigt ist, seine Vervollkommnung zu suchen, kann diese nur im Medium der Kultur finden, und kann also nicht aus ›eigener Kraft‹ seine Vervollkommnung erreichen. Nur indem das Individuum jene »objektiv geistigen Gebilde, … Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen« als Medien der Vervollkommnung erkennt und durchläuft, erfüllen diese verschiedenen ›Stationen‹ der ›Kultur‹ ihren Zweck. – Deshalb schloß Simmel diesen Gedanken damit, daß er zusammenfaßte: »Kultur entsteht – und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.« Soweit waren wir gekommen – und wenn Sie fleißig nachgelesen haben, dann haben Sie gesehen, daß auch die Redefigur und Formel: ›Kultur bedeute: den Weg der Seele zu sich selbst‹ nichts anderes aussagt: »die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis«, diese beiden Elemente in Wechselwirkung geben dem dezidiert lebensphi358 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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losophischen Begriff der Kultur seinen vollen Sinn. Denn nicht der bloß ›objektive Geist‹, das bloße Vorhandensein von z. B. Kunst, Wissenschaft oder Religion bedeutet für das ›Leben‹ schon an sich etwas, sondern diese Bedeutung, eine sachgemäße Funktion des ›objektiven Geistes‹ wird nur dadurch möglich, daß die Individuen nun auch Kunst, Wissenschaft und Religion zum Zwecke ihrer Vollendung ausüben resp. in Anspruch nehmen. Simmel hat dies in den beiden folgenden Absätzen näher zu erläutern versucht und dabei diesem Prozeß eine ›metaphysische Bedeutung‹ zuerkannt. Das sollte heißen, daß hier ein elementarer und prinzipiell unhintergehbarer Prozeß beschrieben sei: das ›Leben‹ und die ›Kultur‹ stehen in dem prinzipiell selben Verhältnis wie ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ zueinander, | indem der Begriff des einen wie des anderen ohne seinen jeweiligen Gegenpart sinnlos wäre: wie die ›Kultur‹ als ›objektiver Geist‹ aus dem Schaffen der ›subjektiven Geister‹ hervorgeht, so gilt doch umgekehrt auch, daß sich diese Subjekte überhaupt nur durch diesen ›objektiven Geist‹ vervollkommnen, und in diesem Sinne ›kultivieren‹, können. Dieses Wechselspiel von Subjekt und Objekt, das wir als Erkenntnisbeziehung und als Arbeit, aber in mancher Hinsicht auch in der Ausübung von Kunst und Religion konstatieren können, läßt sich wieder auf den schon früher mal bemühten Begriff der ›Partizipation‹ bringen. Das heißt zunächst ganz einfach: der Einzelne partizipiert an der Kultur indem er das in Anspruch nimmt, was die umgebende Kultur ihm zur Verfügung stellt. Partizipation oder Teilhabe besteht dann darin, daß jeder Einzelne etwas vom Ganzen nimmt. Aber, das hatten wir bei Lazarus schon gesehen: der Einzelne ›nimmt‹ oder übernimmt nicht nur z. B. die Sprache, – die Sprache als solche befindet sich in ständiger Entwicklung und diese Entwicklung wird von allen Einzelnen getragen. Das heißt: der Einzelne, vor allem aber alle Einzelnen zusammengenommen, ›geben‹ der Sprache etwas, und dies nicht nur im Rahmen einer bescheidenen Hinzufügung, sondern sie, die Einzelnen in der Summe erhalten und entwickeln die Sprache, denn Sprache als gesprochene ist in ihrem Bestand davon abhängig, daß 615 sie ›ausgeübt‹, d. h. gesprochen wird. ›Partizipation‹ bezeichnet also sowohl ›Entnahme‹ wie auch ›Hinzutun‹ – aber drittens eben auch noch: daß eins ohne das andere gar nicht existieren kann. 615

abhängig, daß] abhängig davon, daß

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Simmel nun interessiert sich – in diesen lebensphilosophischen Überlegungen – eigentlich nur für den Aspekt der Partizipation, wo das Individuum ›nimmt‹. Und seine Frage ist eigentlich die, welche Widerstände und Probleme sich diesem ›Nehmen‹ oder ›Aufnehmen‹ von Kulturinhalten dem Individuum entgegenstellen. Die erste Schwierigkeit, ›Fremdheit‹ oder gar ›Feindschaft‹ für jegliche Partizipation des Individuums an der Kultur liegt, wie wir bereits wissen, schon darin, daß diese Objektivationen einen andere Form aufweisen, – oder, wie Simmel sagt: »Dem vibrierenden, ratslosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber«, – was wiederum zur Folge habe, daß die ›Bewegtheit der Seele‹ hier eine Festlegung, eine Erstarrung und gleichsam eine Bremsung der ihr eigenen Aktivität erfahre. Das, was geworden ist, was unverrückbar als Objektivation des Geistes vor uns steht, kann nicht so ohne weiteres wieder in das 616 Leben aufgenommen werden: »Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen« – fördern eben nicht nur und schon garnicht immer, sondern bremsen jederzeit auch die individuelle Aktivität. Die Objektivationen des Geistes weisen also von vorneherein einen Doppelcharakter auf: sowohl den Subjekten in gewissem Sinne helfend oder unterstützend zur Verfügung zu stehen, als auch den anderen Charakter, ihnen ›fremd‹ und völlig selbständig gegenüberzustehen, als etwas, das sich etwa der einfachen Aneignung widersetzt. Dabei aber tritt zusätzlich noch, wie Simmel sehr schön herausarbeitet, noch ein besonderer Effekt ein, eine Art Überlegenheit des Objektiven gegenüber dem bloß | Subjektiven, was die Bewertung angeht: »Das äußere oder immaterielle Werk, in dem das seelische Leben sich niederschlägt, wird als ein Wert besonderer Art empfunden;« – als ein ›spezifisch menschlicher Reichtum‹, indem »Produkte des subjektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung von Werten angehören, einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen«. Das heißt: weil die individuellen oder subjektiven Leistungen eben nicht nur subjektbezogene und subjektgebundene bleiben, – weil sie immer zugleich auch mit objektiven Wertsphären korrespon616

in das] in den das

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dieren, partizipieren wir jederzeit mit subjektiven Leistungen auch 617 am Wert der objektiven. Freilich ist das so gesagt mächtig abstrakt. Aber wenn wir uns vorstellen, daß jedes noch so dilettantische Zeichnen und Malen, jede noch so kleine Bemühung um die Lösung technischer Probleme, zumal aber jede Erfüllung sittlicher oder rechtlicher Normen und Ideale uns ein ›gutes Gefühl‹ vermittelt, so können wir vermuten, daß solche ›Erfolgserlebnisse‹ Erfolge nicht nur innerhalb unserer ganz individuell-subjektiven Wertskalen darstellen, sondern daß sich einige Wertpunkte auch von den allgemeineren, objektiven und gesellschaftlichen Wertvorstellungen her beziehen. Wenn wir überhaupt – und wo immer wir – in diesem Sinne partizipieren, da sind unsere Wertungen nicht rein subjektive und in diesem Sinne nicht völlig frei – sondern sie stehen in einer – positiven oder negativen – Beziehung zu all denjenigen Wertungen, die wir kennen, was heißt, wir partizipieren in jedem solchen Moment an anderen ›Ordnungen‹ objektiver Art. Und so wird auch die eingangs konstatierte Fremdheit gegenüber der Kultur jedenfalls etwas weniger hart empfunden und weniger schroff ausfallen. Man könnte vielleicht sagen: Indem wir uns – als Menschen – immer auch als Schöpfer der Kultur empfinden können und müssen, und dies selbst dann, wenn unser eigener Anteil an der ›Kultur‹ unendlich gering ausfällt, partizipieren wir nicht nur irgendwie und unspezifisch an der ›Kultur‹, sondern auch an der Bewertung allerhöchster Kulturleistungen, so daß auch unser individuelles Tun einen höheren Wert dadurch gewinnt, wenn es denn mit solchen ›Kulturwerten‹ korrespondiert. – Simmel entwickelt diesen Gedanken weiter und sagt abschließend: »In dem Glück des Schaffenden an seinem Werk, so groß oder gering das sei, liegt neben der Entladung der inneren Spannungen, dem Erweise der subjektiven Kraft, der Genugtuung über die erfüllte Forderung wahrscheinlich immer noch eine sozusagen objektive Befriedigtheit darüber, daß dieses Werk nun dasteht, daß der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist. Ja vielleicht gibt es gar keinen sublimeren persönlichen Genuß des eigenen Werkes, als wenn wir es in seiner Unpersönlichkeit und seiner Gelöstheit von all unserem Subjektiven empfinden«.

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Leistungen auch] Leistungen jederzeit auch

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Wertvoll sind die Objektivierungen des Geistes indem und weil die subjektiven Lebensprozesse in sie eingegangen sind – aber wertvoll seien sie auch an sich, bloß dadurch daß sie da sind: »Wir mögen die Organisationen der Gesellschaft und die technische Formung der | Naturgegebenheiten, das Kunstwerk und die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit, die Sitte und die Sittlichkeit noch so sehr, noch so überwiegend auf ihre Ausstrahlung in das Leben und die Entfaltung von Seelen ansehen –« wie Simmels Lebensphilosophie es zu tun geneigt ist, – »es ist oft und vielleicht immer darein eine Anerkennung dessen gewebt, daß diese Gebilde überhaupt da sind, daß die Welt auch diese Gestaltung des Geistes umfaßt; es ist eine Direktive in unseren Wertungsprozessen, die an dem Eigenbestand des Geistig-Objektiven haltmacht, ohne über das Definitive dieser Dinge selbst hinaus nach ihren seelischen Folgen zu fragen.« – Und verständlicher ist das Beispiel: »Neben allem subjektiven Genuß, mit dem z. B. das Kunstwerk sozusagen in uns eingeht, wissen wir als einen Wert besonderer Art, daß es überhaupt da ist, daß der Geist sich dieses Gefäß geschaffen hat.« Und wir bleiben bei diesem Beispiel – dem Kunstwerk – denn Simmel erklärt anhand der Unterscheidung des Naturschönen und Kunstschönen das, was er als Kulturwert bezeichnet. Kulturwerte sind – einfach gesagt – diejenigen Werte, durch die die individuelle Seele hindurch muß, damit sie jene Vervollkommnung und Kultivierung erfährt, die der Kultur – im objektiven wie im subjektiven Sinne erst den ihr eigenen Wert gibt. D. h.: Kulturwerte sind genau diejenigen kulturellen Objekte und Gegebenheiten, wo beides, das Bedürfnis nach Kultivierung – und das Objektive, eine geistiges Erzeugnis und eine Manifestation des objektiven Geistes zu sein, zusammentreffen. Das macht zunächst einen Unterschied gegenüber dem Naturschönen: »das Meer und die Blumen, die Alpen und der Sternenhimmel« – sie besitzen einen ästhetischen Wert nicht dadurch, daß sie einfach da sind, sondern nur dadurch, daß ein Betrachter sie erblickt und in seinem Inneren entsteht dann diese Schönheit. Schönheit dieser Art wird von Simmel ganz als ein Produkt unserer ästhetischen Einbildungskraft interpretiert, d. h. die Natur als solche bietet nicht das Schöne dar, sondern wir sind es, die das Schöne anhand eines Natureindruckes produzieren. Warum diese Verrenkung – mag man fragen? Ich glaube nicht, daß es sich um eine Verrenkung handelt, sondern vielmehr nur um einen Hinweis darauf, daß die Kategorie der ›Schönheit‹ selber und 362 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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von sich aus etwas darstellt und anspricht, das ein Produkt des Geistes ist – nicht anders als all der andere ›objektive Geist‹. Denn die bloße Tatsächlichkeit als solche – d. h. ohne daß ein Mensch sie sieht, sie empfindet und sie damit in ein Bezügesystem von Bedeutungen einbezieht – dieses bloße Dasein einer Blume oder des Sternenhimmels ist nichts, was das Attribut der Schönheit tragen kann. Schönheit ist keine Zuständlichkeit eines Dinges, sondern stellt eine Leistung des menschlichen Subjektes dar – eine Leistung insofern, als auch in solchen Fällen, wo ein rein naturhaftes Objekt dem Menschen gegenübersteht – erst durch die Bedeutungen, die der Mensch diesen Objekten verleiht eine solche Schönheit entsteht. Das wird am Unterschied von naturschönem und Kunstschönem von Simmel noch deutlicher herausgearbeitet. Er sagt: »Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, | seinen Formund Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk … für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt; die Welt erscheint uns sozusagen ihrer Existenz würdiger, ihrem Sinne näher, wenn die Quelle alles Wertes, die menschliche Seele, sich in eine solche, nun gleichfalls der objektiven Welt angehörige Tatsache ergossen hat … Der natürliche Sonnenaufgang und das Gemälde stehen beide als Realitäten da, aber« – der bloß wirkliche Sonnenaufgang ist nur wertvoll für das Subjekt, das ihn erblickt, während das Gemälde von dem Sonnenaufgang einen eigenen Wert darstellt, einen Teil der Kultur, der objektiven Wert besitzt. Mir scheint, daß Simmel an dieser Stelle nicht ganz konsequent ist: auch das Gemälde bedarf eines Betrachters – und wenn man sich einmal ein modernes Kunstwerk vorstellt, dann ist sogar um so notwendiger, daß ein Betrachter das Bild oder Kunstwerk als ein solches ansieht, daß also auch in Bezug auf das Gemälde gilt, was Simmel nur für den Sonnenaufgang in der Natur gelten lassen wollte: nur der betrachtende Mensch verleiht ihm Schönheit. Denn auch das Kunstwerk erhält seinen Kunstwerkcharakter erst durch das Betrachtetwerden – wenngleich man zugeben muß, daß dennoch ein Unterscheid besteht: das einmal geschaffene Kunstwerk steht jedenfalls immer bereit als ein solches betrachtet zu werden – auch wenn es aktuell vielleicht nicht als ein solches angesehen wird. – So oder so ähnlich könnte man diese kleine Inkonsequenz Simmels vielleicht beheben. 363 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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Simmel will aber auf etwas anderes hinaus: auf die Kultivierung, die durch das Werk hindurch zu seinem anderen Selbst führe. Er sagt: »Indem diese Wertungen des subjektiven und des objektiven Geistes einander gegenüberstehen« – indem also einerseits ganz radikal der Einzelne z. B. Schönheit angesichts eines Sonnenaufganges empfindet und diese Schönheit nur für diesen Einzelnen bestehen bleibt, so lange er diese Empfindung oder die Erinnerung an sie in sich wachhält – und indem andererseits das Kunstwerk als ein objektives und als eine Manifestation des objektiven Geistes ganz unabhängig von dem unmittelbaren Betrachtetwerden gemacht hat – und gleichwohl einen Wert repräsentiert – indem also 618 diese subjektiven und objektiven Wertungen einander gegenüberstehen, »führt nun die Kultur ihre Einheit durch beide hindurch: denn sie bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjektes gelegenen Gebildes vollziehen kann.« – Was wir schon wissen: Kultivierung vollzieht sich nur dort und nur dadurch, daß diese kulturellen Gegebenheiten und Objekte ›aufgenommen‹ und ›benutzt‹ werden, daß also der einzelne an der Kultur partizipiert. – Was denn umgekehrt, bezogen auf unser Beispiel bedeutet, daß nicht das bloße Anschauen eines Sonnenaufganges zu einer Kultivierung führt, wohl aber das Anschauen eines Bildes vom Sonnenaufgang dazu taugen kann. Auch das erscheint wieder etwas zugespitzt oder überspitzt, ist aber ganz konsequent und wohl auch richtig gesehen: wenn ich die Natur anschaue, dann produziere ich Bedeutendheit 619 – Schönheit oder Erhabenheit – dadurch, daß ich diese Empfindungen produziere, resp. dadurch, daß sie in mir entstehen. Ich habe ihn diesem Falle mittels meiner Wahrnehmungsfähigkeiten – und vor allem: – mittels meiner Kompetenz einen Eindruck im | Kopf, den ich als Schönheit o. Ä. bezeichne. Was nicht naiv verstanden werden darf als durch die Natur verursacht, sondern verstanden werden muß als ein Bedeutungen in die Natur hineinverlegen. Das ist der ganze Witz dieser Auffassung von Welt und Wirklichkeit – wir sehen die Welt nicht wie sie an sich ist, sondern wir, die wir ganz bestimmte Fähigkeiten besitzen, und nur ganz bestimmte Fähigkeiten besitzen, erkennen von der Welt nur das, 618 619

also] als Bedeutendheit] so wörtlich

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was unser Erkenntnisvermögen hergibt und zu leisten vermag. Genauso auch in der Betrachtung des Schönen: das Schöne ist nicht außen und ist nicht ein absolut Schönes, das objektiv, selbständig und naturhaft vor uns steht, sondern auch hier entscheiden unsere Fähigkeiten darüber, daß wir etwas als schön, bedeutsam oder unschön ansehen. Sie wissen, daß dies Folgerungen aus der kantischen Erkenntnistheorie sind: immer sich der Möglichkeiten des erkennenden resp. auch des empfindenden Subjektes zuerst zu versichern – und jederzeit bewußt zu sein, daß das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, prinzipiell unsere Wirklichkeit ist – daß beispielsweise ein Adler anderes und mehr oder jedenfalls anders sieht – daß genauso auch wir uns in bezug auf alle Empfindungen stärker unterscheiden, das läßt uns auch Kunstwerke in unterschiedlichem Maße als schön empfinden und bezeichnen. Aber hier greift denn doch die Differenz, die Simmel zwischen Naturschönem und Kunstschönem setzt: die sogenannte Naturschönheit des Sonnenaufganges ist nur ein Produkt ganz individuellen Empfindens und nur solange dieser individuelle Eindruck sich hält, existiert diese Naturschönheit – wohingegen die Schönheit eines Gemäldes auch dann, wenn es gerade nicht angeschaut wird, erhalten bleibt. Und nicht nur erhalten bleibt es, – das wäre ein ziemlich trivialer Unterschied – nein, auch die bereits geleistete Arbeit der Darstellung des Sonnenaufganges, die Wiedergabe und all das, was weit über diese bloße Wiedergabe hinaus durch den Künstler an Formung dieses Kunstwerkes in das Bild investiert ist, kann von uns gleichsam ›gelesen‹, nachempfunden und in uns jedenfalls leichter hervorgerufen werden, – leichter, als es die bloße Naturschönheit kann. Was man bestreiten mag: auch wirkliche Sonnenuntergänge – so kann man etwa sagen – lassen sich mit gleicher Leichtigkeit als ›schön‹ ansehen – ebenso leicht, wie dies bei Bildern von Sonnenaufgängen möglich und der Fall ist. – Aber, – so würde ich entgegenhalten – hat jemals ein Mensch einen Sonnenaufgang als ›schön‹ angesehen, bevor es Kunst gab? Ich denke, diese Frage ist, so einfach sie scheint, genau der Schlüssel zu Simmels Verständnis von Kultur als eines Weges zu sich selbst: selbst wenn ich behaupten wollte, ich könne einen natürlichen Sonnenaufgang in gleicher Weise ›lesen‹ und als schön empfinden, wie ich dies in bezug auf ein Bild von einem Sonnenaufgang kann, – so bleibt doch die Tatsache der Kunst, d. h. auch die Tatsache daß wir 365 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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überhaupt etwas in der Natur gemäß Kategorien bezeichnen, die aus der ganzen Entwicklung von Kunst und Ästhetik gewonnen sind, heißt notwendig, daß ein Betrachten von Natur als ›schön‹ sich bereits auf die Tatsache Kunst bezieht. Wenn wir also etwas als ›schön‹ betrachten, egal, ob ein Kunstwerk oder einen | Naturvorgang, so haben wir – und nicht die äußere Natur – dieses als schön Betrachtete bereits in einen Zusammenhang eingestellt, der eben nicht der natürliche, sondern eben der kulturelle ist. Das ist der ganze Sinn dieses ›durch hindurch zu sich selbst‹ : wir mögen noch so sehr meinen, daß wir es als einzelne sind, die etwas denken und empfinden, – wirklich individuell ist wohl letztlich nur das, was wir gar nicht aussprechen können. Wenn wir aber sprechen, dann vergesellschaften wir uns, – wenn wir etwas als schön ansehen, dann stellen wir uns in den Zusammenhang der Kunst und Ästhetik ein – ganz gleichgültig, ob wir dieses bemerken oder nicht. Wenn wir nun also die Bedeutung der ›Kultur‹ erwägen für uns – und nach unserer Partizipation an der Kultur fragen, so müssen wir konsequenterweise feststellen, daß nichts, was sagbar ist, nichts, was wir als ›schön‹ empfinden oder ansehen, völlig außerhalb und unabhängig von der Kultur zu sagen oder anzusehen ist: Immer partizipieren wir damit an der Sprache, resp. an der Kunst. Das heißt, wir gehen dann in jedem dieser Fälle ›durch die Kultur hindurch‹ zu einer neuen Stufe unseres ›Selbst‹, – eines kultivierteren ›Selbst‹ insofern, als wir nunmehr nicht mehr nur unseren unmittelbaren Eindruck haben und individuell im Gedächtnis festhalten: das Naturschöne, – sondern indem wir am ›Schönen‹ des Bildes partizipieren und insofern jetzt von der ›Kultur‹ und dem ›objektiven Geist‹ etwas in uns aufnehmen: das – und nur das – ist Kultivierung. So kommt es in Simmels Theorie der Kultur dazu, daß auch die Frage gestellt wird, was denn einerseits das ist und bedeutet, was nicht geeignet ist – oder jedenfalls nicht in Anspruch genommen wird – für dieses Hindurchgehen – und andererseits erkennt Simmel, daß der Umgang mit Kultur nicht prinzipiell auch zu einer Höherkultivierung führen müsse. Zuerst zu diesem letzteren: damit sind gemeint »gewisse Formalien und Verfeinerungen des Lebens, wie sie namentlich in überreife und müde gewordene Epochen gehören. Denn wo das Leben in sich hohl und sinnlos geworden ist, da ist alle willens- und werdensmögliche Entwicklung zu seiner Höhe nur noch eine schematische, und 366 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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nicht mehr imstande, aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und Förderung zu ziehen … Hier kann sich die individuelle Entwicklung aus den sozialen Normen nur noch das gesellschaftlich gute Benehmen, aus den Künsten nur noch den unproduktiven Genuß, aus den technischen Fortschritten nur noch das Negative der Mühelosigkeit und Glätte des Tagesverlaufs herausholen – es entsteht eine Art formal-subjektiver Kultur, ohne innere Verwebung mit dem Sachelement, durch die der Begriff einer konkreten Kultur sich erst erfüllt.« Diese nur noch formal-subjektive Kultur, die nicht auf die Vervollkommnung der Individuen zielt, wie sie sichtbar wird in bloß gutem Benehmen nach eingespielten Formen, dem bloßen Unterhaltungsbedürfnis ohne darüberhinausgehende Ansprüche an die Kunst, in einem Gebrauch der Technik ohne daß diese Freisetzungen von mühseliger Arbeit zugunsten höherer und d. h. produktiver Tätigkeiten bedeutet, – diese bloß noch formal-subjektive Kultur ist sinnentleert und bedeutungslos und ein Kennzeichen ›überreifer‹ und müde gewordener Kulturen, weil hier allenthalben der Begriff ›Kultur‹ nichts Transzendentes mehr bezeichnet, | jeden Mittelcharakter verloren hat und also bloßen Hedonismus und Konventionalismus bedeutet. Hier haben sich die sogenannten ›Kulturwerte‹ verselbständigt zu bloßen Riten und leeren Formalismen, haben jeden Bezug auf ihre ursprünglich zugrundeliegenden Sachgehalte verloren: Sachgehalte, die man heute – anders als zu Simmels Zeit – eigens wieder benennen muß, denn sonst versteht niemand, was hier gemeint ist. Gemeint ist, daß Kultur und die besonderen Kultursphären, die in diesen Beispielen angesprochen sind, ihren Sinn von der Vervollkommnung des Menschen her beziehen 620: nicht äußerlicher Benimm ist gefragt, sondern Ideal von besserem Menschsein, gerechterer Gesellschaft und die Utopie einer ›moralischen‹ Welt ist gemeint – genauso ist auch Kunst noch gedacht als ›ästhetische Erziehung des Menschngeschlechts‹ wie bei Schiller, und nicht als völlig sinnentleerter ›Kulturbetrieb‹ zum Zweck der Erhaltung von guter Laune und Augenblicksgenüssen – und sogar die Technik ist hier noch gedacht als jenes Hilfsmittel für den Menschen, sich der schwierigsten und schmutzigsten, der schwersten und mühevollsten Arbeiten zu entledigen, damit mehr freie Zeit – nicht Freizeit! – ihm ein menschen620

beziehen] bezieht

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würdiges Dasein ermöglicht, – ein Dasein, das jedenfalls die Möglichkeit bietet, sich zu vervollkommnen – als Mensch. – So oder so ähnlich hat Simmel Kultur verstanden und gedacht – immer als Mittel zum höheren Zweck, zum Zweck der Vervollkommnung, – und nie und ganz gewiß nicht jenen faulen Budenzauber gemeint, der für Unterhaltung und Ablenkung sorgt, und ebensowenig diejenigen geschätzt, die – wie gewisse Leute – sich als ›gebildet‹ und ›kultiviert‹ empfinden und deshalb auf andere herabblicken. Hier überall ist ›Kultur‹ sinnentleert und wertlos geworden – aber auch auf der anderen Seite droht die 621 Kultur zu einem reinen Sachgehalt zu werden, der nicht mehr angeeignet werden kann: etwa, weil die kulturellen Produkte und Angebote immer feiner und ›überspezialistisch‹ geworden sind, weil sie letztlich ganz versachlichen und insofern den Individuen unzugänglich geworden sind, – weil sie also keinen Weg bahnen für die Seele zu sich selbst. Simmel sagt: »Sehen wir den andern Faktor der Kultur: jene zu einer ideellen Sonderexistenz, unabhängig … von aller psychischen Bewegtheit, gereiften Erzeugnisse des Geistes … Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen … das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab, das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insofern keinen anderen als den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an. Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung, und ob und mit welchem Werte sie sich in jene Entwicklung subjektiver Seelen einsetzen lassen, geht ihre an rein sachlichen und für sie allein gültigen Normen gemessene Bedeutung durchaus nichts an.« Hier wird, ebenso wie bei den eben erwähnten Phänomenen einer sinnleeren und nur noch 622 formalen Kultur, der eigentliche Sinn der Schöpfungen des Geistes verfehlt oder doch zumindest durch die eigene Logik dieser kulturellen Sphären gefährdet – hier ist eine | Selbständigkeit und Isoliertheit des objektiven Geistes aufgewachsen, die jede Form von Aneignung, ja selbst sogar von bloßer Partizipation von vornherein ganz unwahrscheinlich macht. Kultur bedeutet eben – sagt Simmel – immer nur eine Synthese 621 622

die] der einer sinnleeren und nur noch] einen sinnleer und nurnoch

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einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes – und jede Art von Verselbständigung der einzelnen Kultursphären führt dahin, daß diese Kulturphänomene ihren eigentlichen Sinn verlieren – ihren Kulturwert einbüßen. Damit kommen wir endlich zur titelgebenden Behauptung einer ›Tragödie der Kultur‹, die sich allerdings im Bisherigen schon mehrfach angedeutet hat: - einmal als von dem Paradoxon der Kultur die Rede war, das darin besteht, daß nur durch die objektive Kultur hindurchgehend das Subjekt sich vervollkommnen kann - zweitens, jetzt hier, indem von jenen Verselbständigungen sowohl der subjektiven Geister – als auch der Kulturprodukte die Rede war. Denn diese beiden Grundtendenzen der Kultur kehren jetzt wieder: als tragische Verhältnisse, weil und insofern es dem Einzelnen immer weniger gelingt und gelingen kann, durch die Kultur hindurchzugehen – und dies, zweitens, eben deshalb, weil die eigene Logik des ›objektiven Geistes‹ es zunehmend unmöglich macht, daß die Individuen in einen für sie selbst produktiven Kontakt mit den Erzeugnissen des ›objektiven Geistes‹ treten 623. – Beides will näher erklärt sein. Zunächst, um den einfacher zu erklärenden Aspekt zu nehmen, ist uns nicht schwer nachzuvollziehen, daß alle Bereiche des ›objektiven Geistes‹ nach so etwas wie nach einer eigenen Logik sich entwikkeln, einer Logik, die Simmel ja bereits darin angedeutet hatte, daß er aufzählte, wie Kunst der Norm der Kunst, Wissenschaft nur der Wahrheit und die Religion nur dem Heil der Seele dienen wolle. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu – der geschichtliche Zweckzusammenhang: »Wenn gewisse erste Motive des Rechtes, der Kunst, der Sitte geschaffen sind – vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität –, so haben wir es garnicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten« – d. h. es differenzieren sich diese Kultursphären weiter aus, völlig unbekümmert um die Zwecksetzungen, die ursprünglich zu ihrer Schaffung geführt haben mögen. Aber auch in einem noch mehr aufs Historische weisenden Sinne, weisen die verschiedenen Kulturbereiche eine eigendynamische Entwicklung auf, die sich zum Teil aus ihrem Funktionszusammen623

Geistes‹ treten] Geistes‹ zu treten

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hang aller Kultursphären untereinander, zum anderen Teil aus dem Wandel der Zwecksetzungen ergeben, die im Verlaufe des gesamten Kulturprozesses auftreten. Starke Binnendifferenzierungen einzelner Kultursphären, veränderte Außenverhältnisse zu den anderen Kultursphären und ein Wandel der Zwecksetzungen innerhalb der einzelnen Kultursphären – das sind m. E. die drei wichtigsten Formen, die dazu führen, daß sich die Einzelnen nicht mehr oder doch nicht immer in gleichem Maße mit den | Objektivationen des objektiven Geistes ›identifizieren können‹. Sicher: der Mensch an sich – den Simmel immer herbeibemüht – hat das Recht, die Sitte und die Wissenschaft geschaffen – aber das freilich heißt noch längst nicht, daß sich der einzelne Mensch auch in ihnen verwirklicht sehen muß. – Ich glaube, daß eine gewisse theoretische Schwäche dieser Argumentationsweise Simmels darin zu sehen ist, daß er geradezu anthropologisch und sehr allgemein argumentiert – und einfach vom Menschen spricht – unangesehen von Zeit, Raum und divergierenden Interessen, die doch auch unter Menschen jederzeit beobachtbar sind. – Aber das will ich hier nicht weiter und nicht kritischer ausführen. Wichtig ist für Simmels Theorie, daß sowohl objektiver als auch subjektiver Geist je eine eigene innere Logik aufweisen – und daß diese beiden ›Logiken‹ divergieren. Die innere Logik der Individuen ist dabei schwerer nachzuvollziehen, jedenfalls, wenn man sie nur diesem Text entnehmen will. Aber ich hatte ja bereits auf Simmels Konzept von Individualität, jene Kontinuitäten und einheitlichen Forderungen sowie auf das sogenannte ›individuelle Gesetz‹ hingewiesen, die zu kennen unerläßlich ist für das Verständnis der hier vorgetragenen Erklärung einer inneren Logik auch der Subjekte. Simmel sagt hierüber: »Seit der Mensch zu sich ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte aus dieser Form ihr das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei«. Das heißt, die Einheit des Ich ist sowohl Form der Seele als auch ihr Ideal – und diese Einheit droht ständig daran zu zerbrechen, daß die Umwelt – die Mitwelt und auch alle Kultur – eigene und dem individuellen Ich ganz fremde Anforderungen an es stellt. Das bebeispielt Simmel an dem religiösen Konflikt zwischen Selbstgenugsamkeit und Freiheitsverlangen – an den sozialen Konflikten zwischen Menschen als abgerundeter Individualität und dem 370 https://doi.org/10.5771/9783495820421 .

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bloßen Gliede des gesellschaftlichen Organismus – und sagt allgemein: »Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das alle seine Lebensinhalte harmonisch und gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich herum ordnet« – wobei dann eine Tendenz bestehe, daß die äußeren und ganz unvereinbaren Inhalte, die überdies ja wieder je eigenen Gesetzlichkeiten gehorchen, in dem Individuum zu einer zweiten Kollision aller Ansprüche führen. Äußere kulturelle und auch gesellschaftliche Konflikte spiegeln sich und reproduzieren sich so innerhalb der Persönlichkeit wieder: äußere Konflikte werden zu inneren Konflikten der Persönlichkeit. Dazu kommt nun aber – in der Gegenwart der Moderne – noch etwas prinzipiell Neues – wie Simmel sagt – dann: »wenn das Objektive durch seine formalen Bestimmungen: der Selbständigkeit und der Massenhaftigkeit – sich seiner Bedeutung für das Subjekt entzieht.« Wenn also die kulturellen Gegebenheiten und Objekte immer spezieller und in diesem Sinne immer selbständiger werden – und wenn in immer größerem Maße und mit immer schnellerer Innovationsgeschwindigkeit neue Objekte sich anbieten, – dann, ja dann erst | stehen wir vor der Situation, die die Tragödie der Kultur herbeiführt – indem die Brücken zwischen den Subjekten und der objektiven 624 Kultur abgebrochen werden: durch die Arbeitsteilung, deren Folgen Simmel ja bereits in der Philosophie des Geldes geschildert hatte. Indem immer mehr immer speziellere Arbeiten verrichten, kann auch das schließliche Produkt nicht mehr als einheitliches von den Subjekten verstanden und angeeignet werden – weil die in dem Produkt manifeste geistige Arbeit die Arbeit vieler ist – und der Geist nur den Geist begreifen kann – nicht aber jene Resultate der modernen hochgradig arbeitsteiligen Produktion und Kooperationsformen. Sie haben die Beispiele gelesen: die Stadt – die Fabrik – die Tageszeitung – sie weisen die Gemeinsamkeit auf, daß hier nicht der Geist den Geist versteht, sondern wir vielmehr vor 625 hochkomplizierten Komplexen stehen, in denen der Einzelne als solcher sich 626 nicht wiedererkennen kann: »Der Typus dieser Erscheinungen ist, absolut 624 625 626

und der objektiven] und objektiven vor] von sich] nicht

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ausgedrückt, der: durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist« – und diese allgemeine Tendenz der gegenwärtigen Kultur zur Zeit Simmels wie zu unserer Zeit – sie ist die Ursache für immer geringere Chancen der Re-Subjektivierung des objektiven Geistes. Die »verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst« – sagt Simmel – »als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem anderen hervor« – dieses Wachstum des Reiches der Kulturprodukte bekümmert sich weder um die Produzenten noch um die Konsumenten: »Der ›Fetischcharakter‹, den Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen – und mit steigender ›Kultur‹ immer mehr – unter der Paradoxie, daß sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung und ihrem Zweck entfremden.« Und er gibt wiederum Beispiele für eine bloße Logik der Objekte, diesmal unter dem Gesichtspunkt ihrer bloß technischen Perfektion: - Nebeneffekte von wirtschaftlicher Produktion - verselbständigte philologische Technik: Editionstechnik, die leerläuft, wenn nur noch um des Edierens willen diese Technik 627 auf alles nur Erdenkliche angewendet wird - künstlerische und rein artifizielle Perfektion, die nicht mehr ein Mittel, sondern ein Selbstzweck wird. - schließlich ganz generell gesagt, die Spezialisierung überhaupt, denn sie führt dazu, daß der Mensch jetzt zum bloßen Träger der Eigenlogik dieser Entwicklungen wird, – statt der Schöpfer der Dinge zu sein, ist er ihr Erfüllungsgehilfe, wenn denn und insoweit denn diese 628 kulturelle Eigenlogik sich einmal so weit entwickelt hat. »Dies ist« – sagt Simmel dann »die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes | – bezeichnen wir doch 627 628

Technik] Techniken diese] dieser

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wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist,« die dieses Wesen selbst hervorgebracht hat. »Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist sich selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, … ohne doch diese damit zur Höhe ihrer selbst zu führen«. Der eigentliche Zweck der Objekte wird damit verfehlt – sie dienen 629 nicht mehr der Kultivierung der Einzelnen – und umgekehrt werden stattdessen die Einzelnen von dieser Eigenlogik der Kulturproduktion aufgezehrt, verbraucht und mißhandelt. Darin liegt die Tragödie der Kultur als Ganzer – wenn auch freilich nicht jeder Einzelne von dieser Tragödie mitgerissen zu werden brauchte. Simmel sagt: »Der ins Unabsehbare wachsende Vorrat des objektivierten Geistes stellt Ansprüche an das Subjekt, weckt Velleitäten in ihm, schlägt [erschlägt] es mit Gefühlen von eigener Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, spinnt es in Gesamtverhältnisse, deren Ganzheit es sich nicht entziehen kann, ohne doch ihre Einzelinhalte bewältigen zu können. So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört.« So wiederholt sich die Tragödie der Kultur an dem Einzelnen als eigentümliche Ambivalenz gegenüber der umgebenden Kultur – indem der Einzelne sich einer Kultur gegenübersieht, die als ganze völlig formlos geworden ist – oder positiv gesagt: die als Ganze garnicht mehr in den Blick geraten kann: Die Tragödie der Kultur besteht auch darin, daß die Kultur jegliche Einheitlichkeit, jegliches Zentrum verliert – wie denn umgekehrt der Einzelne ihr nur noch in einzelnen Sphären partizipierend einigermaßen nahekommt. Die ursprüngliche Idee einer ›cultura animi‹, einer Vervollkommnung aber, sie sinkt 629

dienen] diesen

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mehr und mehr zu einem bloß-noch Ideal herab, von dem niemand mehr glauben kann, es zu erreichen. Ich wünsche schöne Ferien – und vergnügte Feiertage!

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10. Vorlesung Meine Damen und Herren: Ich wünsche ein gutes neues Jahr und hoffe, daß Sie mir – resp. dem Thema der Vorlesung – treu bleiben bis zum 5. 2. Was wir noch vor uns haben, ist zum einen Cassirers Aufsatz über die ›Tragödie der Kultur‹, der direkt an Simmel anknüpft und insofern nicht zufällig heute dran ist. Dabei – und darüberhinaus – muß und will ich noch auf Cassirers Philosophie etwas allgemeiner eingehen, weil Cassirer einer der wichtigsten Initiatoren der modernen Kulturphilosophie überhaupt ist – und weil schließlich ein direkter Weg von ihm zurück zu Simmel und also insofern auch einer über Simmel auf Lazarus führt, wie ich zu zeigen vorhabe. Dann werden wir uns noch Diltheys ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ zuzuwenden haben – und schließlich dem gemeinsamen Schüler von Simmel und Dilthey: Hans Freyer, der eine eigene ›Theorie des objektiven Geistes‹ geschrieben hat. Sie soll der Schlußpunkt unserer Vorlesung sein. Heute also Cassirer. Sie werden bei Ihrer Lektüre gemerkt haben, daß dieser Text nicht ganz leicht ist – und daß er eher von Simmel wegzuführen scheint, als daß man sagen könnte: hier werde die Theorie des objektiven Geistes fortgeführt. Ein Eindruck der trügt. Denn dieser Text bildet ein Verbindungsglied zwischen Simmels These von der Tragödie der Kultur – und Cassirers eigener Philosophie, der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, die hier allenthalben im Hintergrund steht. Diese will ich versuchen, in den Grundzügen zu erläutern – und ich halte mich dabei an die späte Kurzfassung, die Cassirer dieser Philosophie gegeben hat: in dem ›Versuch über den Menschen‹ – ›Essay on man‹ von 1944 – zwei Jahre nach der ›Logik der Kulturwissenschaften‹ erschienen: – Cassirers Spätphilosophie. 630 | 630 Spätphilosophie.] danach 15 Zeilen freigelassen. Im Ausdruck für das WS 1998/99 findet sich eine Fotokopie von Cassirers Text: Die »Tragödie der Kultur« aus ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften mit einzelnen Stellenkommentaren, die sich v. a. auf den Widerstreit zweier Begriffe von Kultur – einem individualistischen (Simmel) und einem allgemein-menschlichen (Cassirer) – beziehen. Darauf folgt die Fotokopie eines hs. Textes, paginiert mit 778: im Vergleich … daß Cassirer Simmel einen My-

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Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff

Abschließend möchte ich noch einmal anknüpfen an das, was ich in der ersten Vorlesung gesagt hatte: daß es einen gravierenden Unterschied zwischen der neueren und der älteren Kulturphilosophie gibt, den man mit dem Begriff der ›Moderne‹ bestimmen könne: Ich hatte gesagt: seit dem 19. Jahrhundert ist zwischen Mensch und Natur immer deutlicher jene ›zweite Natur‹, die Kultur oder der ›objektive Geist‹ im modernen Sinne aufgewachsen und ausgewuchert, die es zu verstehen gilt: Der Mensch sah sich nicht mehr so sehr der Natur gegenüber, mit ihr im Kampf, von ihr lebend und sie als sein Lebenselixier begreifend – wie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Irgendwann im 19. Jahrhundert sah er sich vor allem der ›zweiten Natur‹, dem ›objektiven Geist‹ gegenüberstehen, d. h. der Kultur und Gesellschaft, der gesellschaftlichen Welt, d. h. den vom Menschen selbst geschaffenen Bedingungen, die weitaus wichtiger und bedeutsamer schienen als die alte Natur. Daraus erklärt sich der moderne Kulturbegriff: er ist nicht mehr Gegenbegriff zur Natur, es geht also nicht um Kultivierung, Ackerpflege etc., sondern Kultur ist Inbegriff der vom Menschen selbst geschaffenen zweiten Natur, seiner Lebenswelt und Lebensformen: all dem, was im Begriff des objektiven Geistes steckt. Dieser Wandel im Selbstverständnis des Menschen, nicht mehr der Natur, sondern der Kultur gegenüberzustehen, ist der Grund dafür, daß wir zwei grundsätzlich verschiedene Kulturbegriffe haben: jenen alten, der Kultivierung meint, Kultivierung des bloß natürlichen – und demgegenüber den neuen, der rein deskriptiv unsere selbstgeschaffene Lebenswelt, die zweite Natur bezeichnet. Das nun ist nicht etwa nur Begriffs- oder Theoriegeschichte, sondern in diesem Übergang reflekstiker nennt, zu erklären versucht: Vervollkommnung der Seele, ganz monologisch und mit einem programmierten Scheitern der Anforderungen an die Kultur, d. i. die Tragödie … Aber Mystiker, weil Cassirer für sich das diskursive wissenschaftliche Denken in Anspruch nimmt, eine »Lösung« der Kulturproblems findet – und völlig verkennt, dass Simmel das Spezifische der Moderne im Auge hat: Wuchern des objektiven Geistes – wohingegen Cassirer in den Bahnen der philosophischen Anthropologie denkt: Tiervergleich, Kultur im Sinne der symbolischen Formen, deshalb dialogische Struktur: das Werk als Teil der Kommunikation zwischen ich und Du, d. h. auch: obj[ektiver] Geist nur »Durchgangspunkt«, Medium, also all das, was geistiger und kommunikativer Natur ist: keine Sachkultur, keine Kulturgüter, Materielles. Ob das stimmt, muß beim zweiten Male überprüft werden. Und so weiter. Danach folgt ein weiteres hs. Bl., das Simmel und Cassirer in der Frage der Tragödie der Kultur tabellarisch einander gegenüberstellt – in Wiederholung und Zusammenfassung des bereits Ausgeführten.

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Ordner WS 1997/98 u. WS 1998/99 · 10. Vorlesung

tiert sich der Wandel des Selbstverständnisses des Menschen im Übergang zur Moderne. – Was alles gehört zu diesem ›modernen‹ Selbstverständnis? – Was unterscheidet dieses von früheren, aber auch heutigen, ›nicht-modernen‹ Formen des Selbstverständnisses der Menschen? 631 – Das sind dann Fragenkomplexe, die ich (u. a. in Lehrveranstaltungen) ins Einzelne weiterverfolgen möchte anhand von Themenstellungen wie: Kulturverlusten, Hedonismus, dramatisches Weltverstehen, Selbstinszenierungen – wobei hier überall ›erste‹ und ›zweite Natur‹ des Menschen im Widerstreit stehen, vielleicht ja aber auch ein Drittes produzieren: eine bloß noch virtuelle ›Kultur‹, der jeder Einzelne nur noch erleidet. 632

Menschen?] Menschen. erleidet. ] danach 10 Zeilen freigelassen; Folgeseite leer. Im Konvolut für das WS 1998/99 folgt ein hs. Bl.: 10. Vorl[esung]: 8. 1. 97 Cassirer. 11. Vorl.: 15. 1. Cassirer. 12. Vorl.: 22. 1. Dilthey. 13. Vorl.: Dilthey Freyer Th[heorie] d[es] obj[ektiven] Geistes. 14. Vorl.: 5. 2. Zusfassg. Zu diesen Vorlesungsterminen sind keine Ms. überliefert; es ist lediglich eine Fotokopie beigelegt von Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 16–33: Objektiver Geist als Sein. 631 632

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– von Klaus Christian Köhnke am Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig, mit den dazugehörigen Ankündigungstexten. Grundlage, wenn nicht anders angegeben: Kommentierte Vorlesungsverzeichnisse des Instituts für Kulturwissenschaften WS 1996/97–WS 2011/12. Es sind nur diejenigen Ankündigungstexte abgedruckt, die von Köhnke stammen. Das war bei Veranstaltungen, die er gemeinsam mit anderen gehalten hat, nicht sicher festzustellen, weswegen diese Texte nicht abgedruckt sind. Genaue Daten, Orte und die Absatzumbrüche sind nicht mitgeteilt, vgl. dazu die Vorlesungsverzeichnisse online: http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/ kuwi/studienorganisation/vorlesungsverzeichnis/vorlesungsver zeichnis-archiv/ � = Unterlagen zum Seminar bzw. Vorlesungsmanuskripte überliefert. Am 27. 5. 2014 an die Universitätsbibliothek Leipzig abgegeben, im Nachlaß Köhnke (NL 330).

SS 1996 [Lehrstuhlvertreter für Ralf Konersmann] aus Aktenlage u. nachgelassener Datei Sicherungskopie von KKK, 19. 3. 2002, 13:58 erschlossen: � Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne (vgl. SS 1998 u. SS 2000) Seminar: Methoden der Kulturwissenschaften Seminar: Besprechung kulturwissenschaftlicher Neuerscheinungen Seminar: Georg Simmel und die Anfänge der Kulturphilosophie

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WS 1996/97 [Lehrstuhlvertreter für Ralf Konersmann] � Vorlesung (mit Lektüreseminar): Zweite Natur, objektiver Geist und der moderne Kulturbegriff: Der moderne Kulturbegriff dient der summarischen Beschreibung von Lebensweise und Lebenswelt des Menschen. Er unterscheidet sich von dem der Aufklärung und des Idealismus, die auf eine höhere Kultivierung des Geistes abzielten, durch ausdrücklichen Verzicht auf die Bewertung von Kulturen. Der moderne Kulturbegriff geht deshalb zurück auf Theorien, die die Lebenswelt und Lebensweise des Menschen als Objektivationen oder Manifestationen des menschlichen Geistes betrachteten und sie als ›objektiven Geist‹ bezeichneten. Diese Tradition geht von Gehlen und Freyer über Dilthey und Simmel zurück auf die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus, auf Herder und schließlich auf Cicero. Anhand einer Auswahl der wichtigsten Texte dieser Tradition sollen die Genese dieses Kulturverständnisses und deren Bezüge in der Gegenwart herausgearbeitet werden. Die Vorlesung wendet sich an Studenten aller Semester, während die begleitende Übung vor allem für Studenten im Grundstudium gedacht ist. Denn hier sollen die wichtigsten Textstücke in gemeinsamer Lektüre bearbeitet werden. Wichtigste Texte – in Auszügen aus: Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. [zuerst 1940] Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. 2. durchges. u. teilw. veränd. Aufl. Leipzig/Berlin: Teubner 1928. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (= Dilthey: Gesammelte Schriften 7). [zuerst 1910] Georg Simmel: Philosophie des Geldes. [zuerst 1900] Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Das individuelle Gesetz. Hg. u. eingel. v. Michael Landmann. Frankfurt 1987. S. 116–147. [zuerst 1911] Moritz Lazarus: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3/1865. S. 1–94. Moritz Lazarus: Verdichtung des Denkens in der Geschichte. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2/1862. S. 54–62. Aron Bernstein: Ein alltägliches Gespräch. In: Ders.: Naturkraft und Geisteswalten. Betrachtungen über Natur- und Kultur-Leben. Berlin 1874. S. 90–110. [zuerst 1861] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Cicero: De natura deorum/Vom Wesen der Götter.

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WS 1996/97

Seminar: Freud und Marcuse als Kulturkritiker: Herbert Marcuse ließ 1937 in der im Pariser Exil erscheinenden Zeitschrift für Sozialforschung eine Anklage der Kulturbürger und der deutschen Kulturphilosophie erscheinen: ›Über den affirmativen Charakter der Kultur‹ war dieser Aufsatz betitelt, und er stellt eine Abrechnung mit denen dar, die nur von der ›Kultur‹ gesprochen hatten – und noch sprachen –, aber gegen die Barbarei des Dritten Reiches nichts ausrichteten. Solche Anklage und Kritik der bloß ›affirmativen Kultur‹ mag man für ungerecht halten oder historisch und menschlich verstehen. – Aber: kann man daraus auch etwas lernen? Gibt es so etwas wie ein bloß affirmatives Kulturverständnis – im Unterschied zu einem eher kritischen? Für Sigmund Freud schien es 1930 festzustehen, ›daß wir uns in unserer heutigen Kultur nicht wohlfühlen‹ : ›Das Unbehagen in der Kultur‹ hat er eine Abhandlung betitelt, die 1930 zuerst erschienen ist und die – aus der Sicht des Psychoanalytikers – beispielhaft vorführt, daß die allseits gepriesenen Kulturleistungen und -verhältnisse des Menschen auch skeptisch stimmen können, oder mit Freud gesagt: »es ist unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrükkung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat.« Literaturauswahl: Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: Ders.: Kultur und Gesellschaft I. (Edition Suhrkamp Nr. 101). Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. (Fischer Taschenbuch Nr. 6043). Seminar: Ernst Cassirers ›Versuch über den Menschen‹ : Sprache, Mythos, Wissenschaft, Religion, Kunst und Technik werden von Cassirer als symbolische Formen gedeutet. Was bedeutet das? – Was ist der Mensch? – Wie müssen wir das Verhältnis zwischen Mensch und Kultur verstehen? – Und wie all das, was man Kultur nennt? Cassirers Symbolbegriff gibt darauf die Antwort, daß wir die Wirklichkeit nicht als eine objektive und einheitliche auffassen dürfen. Wir müssen sie vielmehr als eine von uns geschaffene verstehen, und uns selber als symbolisierende Wesen: ›Statt mit den Dingen hat es der Mensch gleichsam mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe‹ (S. 50). Das Seminar stützt sich auf den unten angegebenen Text und beabsichtigt eine Einführung in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Texte für Referate und Sekundärliteratur werden zu Beginn des Semesters vorgestellt.

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Textgrundlage: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Hamburg: Felix Meiner 1996 (= Philosophische Bibliothek Bd. 488).

SS 1997 [Lehrstuhlvertreter für Ralf Konersmann] � Vorlesung (mit Lektüreseminar): Kritik des Hedonismus – in Vergangenheit und Gegenwart: Was läßt sich einwenden gegen das Bedürfnis nach Glück, Wohlergehen und Sinnenlust? Was wird heute eingewandt – und von wem – aber vor allem: im Namen welcher Werte oder welcher Kulturkonzepte machen solche Einwendungen Sinn? Die Kritiker des Hedonismus von Kant bis Scheler und Marcuse, aber auch zeitgenössische Kritiker sollen zu Worte kommen – und zu der Frage Anlaß geben: wie sehr und wie weit ist das Selbstverständnis der/unserer Gegenwart vom Hedonismus geprägt? Im begleitenden Lektüreseminar sollen die wichtigsten Texte gemeinsam gelesen und bearbeitet werden. � Seminar: Der Begriff des Spiels: Der Begriff des Spiels ist zur universellen Metapher geworden: sowohl für ein freies, rein selbstbezügliches Tun, wie nicht weniger für ein geregeltes Miteinander. Der niederländische Historiker und Kulturphilosoph Johan Huizinga (1872–1945) hat alle Kultur aufs Spiel zurückgeführt und als Spiel zu deuten versucht. Dessen epochemachendem Werk ›Homo ludens. Versuch eines Spielelementes der Kultur‹, Amsterdam 1939, soll als gemeinsame Lektüregrundlage die phänomenale Vielfalt des Spielerischen wie auch die verschiedenen begrifflichen Verwendungen klären helfen. Literatur: J. Huizinga: Homo ludens. Rowohlt Taschenbuch, (16,90 DM). Seminar: Hermann Lübbes Grundbegriffe der Kulturkritik: Aus den kulturphilosophischen und -kritischen Schriften Hermann Lübbes sollen die Grundkategorien seiner Kulturkritik erarbeitet werden. Insbesondere seine Schriften ›Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts‹ (Graz/ Wien/Köln 1983) und ›Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft‹ (Berlin 1987) bieten Anlaß zur Diskussion der Wertvorstellungen, des Vernunft- und Kulturkonzeptes des Verfassers. Das Seminar setzt aktive Mitarbeit (Referate!) und Bereitschaft zu ausführlichen Lektüren voraus. Eine Bibliographie wird zu Beginn des Semesters verteilt.

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WS 1997/98

WS 1997/98 [zum WS 1997/98 berufen als Nachfolger von Ralf Konersmann] Vorlesung (mit Lektüreseminar): Zur Philosophie der Landschaft: ›Landschaft‹ bezeichnet – im Gegensatz zu ›Natur‹ – eine bestimmte Wahrnehmungsweise von Natur, Land, Stadt oder auch andre von Menschen gestaltete Einrichtungen. Seit Petrarca am 28. April 1336 den Mont Ventoux bestieg, so scheint es, hat das Individuum solche ›Konstruktionen‹ vorgenommen und bloße Natur als Landschaft gesehen, gedeutet und später insbesondere in der Bildkunst auch dargestellt, – eine Entwicklung, die bis zu Benjamins ›Flaneur‹ reicht, denn der nimmt schließlich sogar die Stadt als ›Landschaft‹ wahr. Natur und zweite Natur, Stadt und Industrie stehen inzwischen der Wahrnehmung als Landschaft – der ästhetischen Konstruktion – offen. Was sowohl nach dem sich verändernden Verhältnis des Einzelnen zu ›Wirklichkeit‹ und ›Fiktion‹ fragen läßt, wie auch danach gefragt werden kann, welche Funktion und Ausbreitung diese ästhetisierenden, Einheiten konstruierenden Wahrnehmungen in unsrer Gegenwart gewonnen haben. Aus erkenntnistheoretischer, ästhetischer und philosophischanthropologischer Sicht soll in Vorlesung und begleitendem Lektüreseminar die ›Philosophie der Landschaft‹ von Georg Simmel, Ernst Cassirer und Joachim Ritter geprüft – und womöglich fortgeschrieben – werden. Im begleitenden Lektüreseminar sollen wichtige Texte gelesen und bearbeitet werden, insbes.: - Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. 1913 u. ö. - Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, 1963 u. ö. Seminar: Methoden der Kulturwissenschaften: Anhand der Lektüre und Besprechung klassischer Texte soll der Frage nachgegangen werden, was die Kultur- oder Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften abhebt – und wie und worin die ihnen eigenen Ziele und Methoden begründet sind. Lektüreliste: Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Straßburg 1894; (Dass. In: Windelband: ›Präludien‹ seit der 3. Aufl. 1907) u. ö. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. u. 7., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen: Mohr 1926 (Dass. Mit einem Nachwort hg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam 1986) Wilhelm Dilthey: Beiträge zum Studium der Individualität. [I. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften; II. Die Methoden] In: Dilthey: Gesammelte Schriften 5. Bd. S. 241–269)

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Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik. In: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage [am] 28. März 1900 gewidmet. Tübingen: Mohr 1900. S. 185–202; (Dass. In: Dilthey: Gesammelte Schriften 5. Bd. S. 317–338) Max Weber: Wissenschaft als Beruf. (Stuttgart: Reclam 1985) Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1980. [zuerst 1942] Auszug aus Kap. 4: Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis. Hg. v. Köhnke u. Krois. Hamburg: Felix Meiner i. Satz (= Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. v. Köhnke, Krois, Schwemmer. Band 2). Seminar: Dialektik der Aufklärung: Das Werk ›Dialektik der Aufklärung‹ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erschien zuerst vor 50 Jahren, und dieser Titel gehört zu den bekanntesten geflügelten Worten dieses Jahrhunderts. Aber es wird selten gelesen – und noch seltener als Ganzes verstanden. Das Hauptseminar soll den darin zugrundeliegenden Begriff von ›Aufklärung‹ und das ›Dialektische‹ daran erhellen. Denn ›Aufklärung‹ geht hier nicht im Vordringen von ›Rationalität‹ und Zurückdrängen von ›Mythen‹ auf. Vielmehr umreißen sie das Spannungsfeld einer philosophischen Anthropologie und Kulturphilosophie, die kritisch die ›Fortschritte‹ der Moderne daraufhin ansieht, welche destruktiven Potentiale in ihnen stecken: noch ganz unter dem Eindruck des deutschen Faschismus gedacht, aber auch voller Fragen an jede Gegenwart von Kultur. Die Anschaffung eines eigenen Exemplares – und die Lektüre – sollte vor Beginn des Semesters erfolgen resp. aufgenommen werden.

SS 1998 � Vorlesung (mit Lektüreseminar): Begriff und Theorie der Moderne: Der Ausdruck ›die Moderne‹ wird, seit um die ›Postmoderne‹ gestritten wird, immer deutlicher zu einem Epochenbegriff, einer Epoche, über deren Ende man streitet. Aber auch über den Anfang dieser Epoche ist man nicht einig: völlig beliebig scheint es, daß man sie mit der Renaissance, mit der Aufklärung oder der französischen Revolution, im Paris des 19. Jahrhunderts – oder auch erst um die Jahrhundertwende beginnen läßt. Andererseits aber ist von ›Theorie der Moderne‹ immer dann die Rede, wenn es darum geht, hervorstechende oder wesentliche Züge einer ›Gegenwart‹ hervorzuheben, – einer ›Gegenwart‹, die naturgemäß immer umstritten ist: »Unsere Zeit hat viele Namen« – sagt z. B. Odo Marquard, »sie gilt als ›Industriezeitalter‹ oder ›Spätkapitalismus‹ oder ›Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation‹ oder ›Atomzeitalter‹ ; sie gilt als Zeitalter der ›Arbeitsgesellschaft‹ oder ›Freizeitgesellschaft‹ oder ›Informationsgesellschaft‹ ; sie gilt als Zeit-

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alter der ›funktionalen Differenzierung‹ … ›Epoche der Epochisierungen‹ … oder einfach als ›Moderne‹ oder auch schon als ›Postmoderne‹ und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität: unsere Zeit und Welt befindet sich – scheint es – auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muß.« – Das kann man auch anders sehen, denn das alles bezeichnet nur den Umstand, daß wir unter dem Titel ›Moderne‹ immer unsere ›Gegenwart‹ deuten, – aber sie nur deuten können, indem wir deren Geschichten erzählen. Und diese ›Geschichten‹ reichen unterschiedlich weit in die Zeiten zurück. Die Vorlesung versucht, verschiedene solcher ›Geschichten‹ resp. ›Dimensionen‹ der Gegenwart anhand neuerer und klassischer Beispiele zu verdeutlichen. Eine Leseliste wird zu Beginn des Semesters bereitgestellt. Im begleitenden Lektüreseminar sollen einige der wichtigsten Texte gemeinsam gelesen und bearbeitet werden. � Seminar: Grundbegriffe des Konstruktivismus: Der sog. ›Konstruktivismus‹, eine der einflußreichen Richtungen in der modernen Soziologie, betrachtet soziale Phänomene nicht als Tatsachen, sondern unter dem Gesichtspunkt ihres Gemachtseins: gemacht oder ›konstruiert‹ im doppelten Sinne, daß Menschen die sozialen Tatbestände als handelnde sowohl wie als erkennende Subjekte geschaffen haben. Zu einem Hauptthema von Wissenschaft wird damit die ›Alltagswelt‹ und deren Ausdruck für das, was sonst ›Kultur‹ im Sinne der ›zweiten Natur‹ (natura altera) heißt. Anhand gemeinsamer Lektüre des inzwischen bereits klassischen Werkes von Berger/Luckmann ›Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‹ sollen die Grundbegriffe des Konstruktivismus – Wirklichkeit, Wissen, Alltagswelt, Gesellschaft etc. – auf ihre philosophischen Quellen und theoretischen Konsequenzen hin interpretiert werden. Zur Anschaffung empfohlen: Peter L. Berger/Thomas Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1980 u. ö. � Seminar: Georg Simmels Philosophie des Geldes: Simmels Theorie der Moderne, die als relativistische Werttheorie und als Phänomenologie der modernen Geldwirtschaft in der ›Philosophie des Geldes‹ (1900, 2. Aufl. 1907) entfaltet wurde, hat nicht nur seine unmittelbaren Schüler Ernst Cassirer, Ernst Bloch, Bernhard Groethuysen, Georg Lukács und Siegfried Kracauer beeinflußt. Sie hat vielmehr den Geist seiner Zeit zu einer eigenen Philosophie zusammengefaßt. Und Simmel hat das selbst so gesehen und diese Einsicht in der ›Philosophie des Geldes‹ versteckt, – dort wo es heißt: »Ich glaube, daß diese heimliche Unruhe, dies rastlose Drängen unter der Schwelle des Bewußtseins, das den jetzigen Menschen vom Sozialismus zu Nietzsche, von Böcklin zum Impressionismus, von Hegel zu Schopenhauer und wieder zurück jagt – nicht nur der äußeren Hast und Aufgeregtheit des

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modernen Lebens entstammt, sondern daß umgekehrt diese vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die Entladung jenes innersten Zustandes ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neueren Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart. Die Bedeutung des Geldes für diese Verfassung des Lebens ergibt sich als einfacher Schluß aus den Prämissen, die alle Erörterungen dieses Buches festgestellt haben.« (GSG 6,675) Das Seminar setzt aktive Mitarbeit (Referate!) und Bereitschaft zu ausführlichen Lektüren voraus. Ausleihbare Exemplare stellt die Lehrbuchsammlung zur Verfügung.

WS 1998/99 � Vorlesung (mit Lektüreseminar): Einführung in die Kulturphilosophie: Kulturphilosophie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur überhaupt: nach der ›Kulturalität‹ des Menschen, wie diese in Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaften, aber auch in technischer und materieller Kultur zum Ausdruck kommen. Sie berührt sich darin allenthalben mit der (mehr soziologisch inspirierten) ›Theorie der Moderne‹, geht andererseits aber auch bis in die Antike zurück. Denn der noch kaum 100 Jahre alte Begriff Kulturphilosophie meint – wie der Begriff Kultur – ebenfalls zweierlei: einerseits die ganze Tradition der Philosophie, angesehen unter dem Aspekt der Frage nach der Kultivierung des Menschen, ›cultura animi‹ – wie andererseits die Frage nach den spezifisch modernen Bedingungen unseres Lebens überhaupt, nach der ›natura altera‹. Lektürehinweise: Die Lektüre von Ernst Cassirers ›Versuch über den Menschen. Eine Einführung in die Kulturphilosophie‹ (Hamburg: Meiner 1996; zuerst 1944) wird vorausgesetzt. Die Vorlesung stützt sich ansonsten im wesentlichen auf die Textsammlung ›Kulturphilosophie‹, hg. v. R. Konersmann, Leipzig: Reclam 1996. Seminar, gemeinsam mit Gesine Märtens: Das kulturphilosophische Werk José Ortega y Gassets Seminar: Freuds Religions- und Kulturkritik: Ausgehend von einer gemeinsamen Lektüre der ersten Abschnitte von Freuds ›Abriß der Psychoanalyse‹ sollen vor allem seine beiden Schriften ›Die Zukunft einer Illusion‹ und ›Das Unbehagen in der Kultur‹ – durch Referate vorbereitet – gemein-

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sam besprochen werden. Die Anschaffung der genannten Texte, die sämtlich im Taschenbuch erhältlich sind, wird empfohlen. Die Bereitschaft, ein Referat zu übernehmen, wird vorausgesetzt! Seminar: Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen: Die wohl wichtigste Neuerscheinung der letzten Jahre im Bereich der Kulturphilosophie, Oswald Schwemmers ›Die kulturelle Existenz des Menschen‹, Berlin: Akademie 1997, stellt erneut die Frage nach dem menschlichen Geist und seinen Materialisierungen in symbolischen Repräsentationen. Die kulturellen Symbolismen werden dabei nicht so sehr als äußere Instrumente der geistigen Artikulation, sondern vielmehr im Hinblick auf ihre Prägekraft auch unseres Innern, unseres Selbstbewußtseins und unserer ›Subjektivität‹ untersucht. So gewinnt nicht nur die Frage nach dem Verstehen des Anderen ein anderes Gesicht, sondern auch die nach der ›kulturellen Existenz des Menschen‹ überhaupt eine neue Bedeutung. Die Bereitschaft, ein Referat zu übernehmen, wird vorausgesetzt! Kolloquium, gemeinsam mit Jürgen Gerhards und Hannes Siegrist

SS 1999 � Vorlesung: Methoden der Kulturwissenschaften I: Der erste Teil der Vorlesungen wird in historischer Darstellung die verschiedensten Verfahren der Geistes- resp. Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, der zweite die neueren Methoden thematisieren. Dabei werden die wichtigsten methodologischen Schriften von Droysen, Dilthey, Simmel, Windelband, Rickert, – im zweiten Teil von Max Weber, Cassirer, Joachim Ritter und Berger/ Luckmann unser Thema sein. Historische Methode, Philologie, Hermeneutik, Geisteswissenschaftliche Psychologie, Konstruktivismus – Fragen nach der Klassifikation der Wissenschaften, Begründung der Sozial- und der Kulturwissenschaften, schließlich die Frage nach Sinn und Funktion dieser Wissenschaftsgruppe bilden die Hauptgegenstände der Vorlesung. Seminar, gemeinsam mit Gesine Märtens: 1930 – Zeitdiagnosen Seminar: Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften: Diltheys ›Theorie des objektiven Geistes‹ und Grundlegung der Geisteswissenschaften, seine Hermeneutik und die Klassifikation der Wissenschaften um 1900 stellen klassische Topoi der Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften dar und bieten sich für geschichtliche Rückblicke ebenso an wie für Ausblicke auf unser heutiges Tun. Die gemeinsamen Voraussetzungen der Geistes- resp. Kulturwissenschaften und ihr innerer Zusammenhang stellen zudem eines der interessantesten The-

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men auch der allerneusten Debatten um die ›Kulturwissenschaften‹ dar. Neben der gemeinsamen Lektüre des ›Aufbaus‹ soll in Form von Referaten ein Einblick in die Theorie der Geisteswissenschaften nicht nur Diltheys eröffnet werden. Seminar, gemeinsam mit Uta Kösser: Bild – Symbol – Zeichen � Kolloquium, gemeinsam mit Jürgen Gerhards und Hannes Siegrist

WS 1999/2000 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Willkommen zum Wintersemester! Das Lehrangebot fürs Wintersemester 1999/2000 verspricht so viele Erkenntnisse, Interpretationen und Aha-Erlebnisse, daß für jeden 2 oder 3 Vorlesungen oder Seminare dabei sein müßten. Wenn ich Erstsemester wäre, würde ich in die Einführungsvorlesung zur Soziologie und Kultursoziologie gehen und in einem der dazugehörigen Tutorien mitarbeiten; nebendem den Basiskurs »Kulturfinanzierung« und noch ein Klassikerseminar besuchen. Mehr aber wohl kaum, – allenfalls noch eine zweite Überblicksvorlesung: Ästhetik, Antike oder Konsumgeschichte. Irgendwie muß man ja reinkommen. Sie studieren also »Kulturwissenschaften« – aber genau genommen – tun wir das auch. Denn »Kulturwissenschaften« ist zwar als ein Studienfach benannt, – ein neues, schickes und geradezu modisches, aber der Terminus »Kulturwissenschaften« bezeichnet keine wissenschaftliche Disziplin, kein »Fach« im eigentlichen Sinne. Was heißt: es ist noch gar nicht so klar, was wirklich und unbedingt dazugehört – welchen Fragen und Themen eine zentrale, welchen eine nur periphere Bedeutung zukommt Ja, es gibt nicht einmal Lehrbücher, und was man zu den Prüfungen wissen muß, das ergibt sich mehr aus den angebotenen (resp. besuchten) Lehrveranstaltungen, als etwa aus einem wissenschaftlich abgesicherten Kanon einer Disziplin namens »Kulturwissenschaften«. Unser Institut geht deshalb den Weg, von traditionellen wissenschaftlichen Fächern herkommend, den Brückenschlag zu kulturtheoretisch besonders relevanten Methoden, Themen und Autoren zu schlagen, vermeidet also den andernorts eingeschlagenen, das Studienfach als kultur- resp. literaturwissenschaftliche Essayistik zu profilieren. Unsere Frage lautet: Was können Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie zu einem Studienfach und einer Ausbildung beitragen, die auf das Betätigungsfeld Kulturmanagement, Medien- und PR-Arbeit u. Ä. hinauslaufen? – Und unsere diessemestrigen Antworten auf diese Frage finden Sie in diesem Vorlesungsverzeichnis … Aber es enthält mehr: der Studienteil »Kulturelle Praxis« will sogar i. e. S. berufsvorbereitende Kenntnisse – ökonomische und praktische – vermitteln, und übernimmt damit die für Universitäten neue Aufgabe,

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über die theoretische Ausbildung hinausgehend, in die Praxis einzuführen oder jedenfalls doch hineinzuschnuppern. Wie und ob das gehen kann, erfahren Sie am besten durch den (regelmäßigen) Besuch der in diesem Studienteil angebotenen Veranstaltungen. Ansonsten noch: erfreuen Sie sich Ihres Privilegs, studieren zu können und zu dürfen – und in die wissenschaftliche und geistige Welt einzutreten. Und bitte grämen Sie sich nicht, wenn manche Bedingungen ihres Studiums nicht immer optimal sind. Sie sind es seit Gründung der Universität im Jahre 1409 nicht. Aber wir arbeiten daran. Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke, Geschäftsführender Direktor Seminar: Ernst Cassirers ›Versuch über den Menschen‹ : Sprache, Mythos, Wissenschaft, Religion, Kunst und Technik werden von Cassirer als symbolische Formen gedeutet. Was bedeutet das? Cassirers Begriff vom Menschen als eines ›animal symbolicum‹ und sein Symbolbegriff geben darauf die Antwort, daß wir die Wirklichkeit nicht als eine objektive und einheitliche, sondern als vielfältig differenzierte auffassen dürfen, die den Menschen als Partizipanten an verschiedenen Symbolsystemen zu verstehen aufgibt. Wir müssen sie also als eine von uns geschaffene verstehen, und uns selber als symbolisierende Wesen: ›Statt mit den Dingen hat es der Mensch gleichsam mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe‹ (S. 50). Das Seminar stützt sich auf den unten angegebenen Text und beabsichtigt eine Einführung in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹. Texte für Referate und Sekundärliteratur werden zu Beginn des Semesters vorgestellt. Literatur: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Hamburg: Felix Meiner 1996 (= Philosophische Bibliothek Bd. 488). Vorlesung: Philosophien des Raumes: Von der Kantischen Fassung des Raumbegriffes als ›reiner Anschauungsform‹ bis hin zu den neuesten konstruktivistischen Raumkonzepten läßt sich eine Differenzierung des Verständnisses des Räumlichen beobachten, die darin kulminiert, ihn bloß noch als je spezifische und prinzipiell immer kontextabhängige ›Sinnordnung‹ anzusehen. D. h., daß bespielsweise die Unterscheidung von ›mathematischem‹, ›mythischem‹ und ›ästhetischem Raum‹ nun keinesfalls beliebige und bloß paradoxe, etwa nebeneinander bestehende oder ineinander gefügte verschiedene ›Räume‹ meint, sondern umgekehrt: daß, was wir jeweils in je verschiedenen Kontexten das Räumliche nennen, meint je ganz unterschiedliche Auffassungsweisen des Räumlichen – als je eigener – i. d. S. – ›Sinnordnungen‹. Diese unterschiedlichen Sinnordnungen der verschiedenen Lebenswelten – dann auch der verschiedenen ›Kultursysteme‹ – sind

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

unter verschiedenen Themenstellungen schon seit langem thematisiert worden: so insbesondere das ästhetische Raumempfinden unter dem Titel einer ›Philosophie der Landschaft‹, der mathematische Raum unter der Frage nach dem Verhältnis von Erfahrungsraum und Geometrie, insbesondere im Hinblick auf die nicht-euklidschen Geometrien – weiter auch der ›geographische‹ Raum als entweder globale ›kartographische‹ Kategorie, oder eben als erlebter Raum in der phänomenologischen Tradition Husserls. Die Vorlesung beabsichtigt, ein prinzipielles Verständnis für einen konstruktivistischen Raumbegriff zu wecken und die kulturphilosophische Bedeutung dieser Raumkonzeptionen zu erörtern. Seminar: Dialektik der Aufklärung: Text wie WS 1997/98 Kolloquium: Probleme der Kulturphilosophie: Die Neubegründung der ›Kulturphilosophie‹ ist gegenwärtig in vollem Gange und zeigt sich in einer Vielzahl von Publikationen, die im engeren oder weiteren Sinne auch den Anschluß an die 1920er/30er Jahre resp. an Exilanten suchen. Inwieweit jedoch der Rückgriff auf solche ›Klassiker‹, oder ob nicht zugleich auch eine systematische (Weiter-)entwicklung dieser philosophischen Subdisziplin möglich und nötig ist, das soll im Kolloquium diskutiert werden. Das Kolloquium wendet sich vor allem an Examenskandidaten und Fortgeschrittene, die demnächst eine Abschlußarbeit in Angriff nehmen wollen. Denn es sollen auch mögliche Themenstellungen für Magister- und Doktorarbeiten erörtert und erste Zugriffe auf solche Themen zur Diskussion gestellt werden.

SS 2000 � Vorlesung: Begriff und Theorie der Moderne: Text wie SS 1998 Seminar: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Text wie SS 1998 � (lediglich eine Literaturliste) Seminar: Georg Simmels Philosophie des Geldes: Text wie SS 1998 Seminar, gemeinsam mit Anke Hofmann und Editha Marquardt: Methoden der Bildinterpretation Kolloquium: Probleme der Kulturphilosophie: Inhaltlicher Schwerpunkt für das Colloquium im Sommersemester 2000 soll die Diskussion der Methodenprobleme der Kulturwissenschaften sein. Dabei soll fortgeschrittenen

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WS 2000/01 Forschungs-Freisemester

Studierenden die Möglichkeit geboten werden, ihre Magister- und Dissertationsthemen vorzustellen und zu diskutieren – in methodischer Hinsicht.

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SS 2001 � Seminar: Freud: Kultur- und Religionskritik: Ausgehend von einer gemeinsamen Lektüre der ersten Abschnitte von Freuds ›Abriß der Psychoanalyse‹ sollen vor allem seine beiden Schriften ›Die Zukunft einer Illusion‹ und ›Das Unbehagen in der Kultur‹ – durch Referate vorbereitet – gemeinsam besprochen werden. Literatur: Die Anschaffung der genannten Texte, die allesamt im Taschenbuch erhältlich sind, wird nachdrücklich empfohlen. � Vorlesung: Georg Simmel im Kontext: Die Vorlesung beabsichtigt einen Überblick über Simmels Werk vor dem Hintergrund zeitgenössischer wissenschaftlicher und kultureller Entwickungen. Dazu gehören die Transformation normativer Ethik in eine sozialwissenschaftlich orientierte ›Moralwissenschaft‹ (aus der dann ›Soziologie‹ wird), – die Entstehung der Kulturphilosophie im Zusammenhang der Völkerpsychologie und deren Etablierung im Kreis der Herausgeber und Autoren der Zeitschrift ›Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur‹. Literatur: Als Einführung wird die Lektüre meines ›Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen‹ (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996) empfohlen. Seminar: Symbolische Prägnanz: Ausgehend von der Lektüre ausgewählter Stücke aus Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ soll der Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹ geklärt werden, der die These einer kulturellen Vermitteltheit aller Wahrnehmung beinhaltet. Literatur: Als Einführung in die Thematik eignen sich besonders Oswald Schwemmers ›Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne‹ (Berlin: Akademie 1997), Kap. II. – und von demselben Autor: Die kulturelle Existenz des Menschen (Berlin: Akademie 1997).

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Kolloquium: Methoden der Kulturwissenschaften: Anhand von Neuerscheinungen und Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen methodische Fragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden. Von zentraler Bedeutung wird dabei die Frage sein, ob, inwiefern und inwieweit man überhaupt von ›Methoden der Kulturwissenschaften‹ sprechen kann.

WS 2001/02 Vorlesung (mit Lektüreseminar): Methoden der Kulturwissenschaften: Methoden sind ›Verfahren nach Grundsätzen‹ (Kant) und die Vorlesung wird sowohl von unterschiedlichen Verfahren berichten, um andererseits die unterschiedlichen Grundsätze in ihrem Entstehung- und Anwendungskontext zu analysieren. Dabei geht es in erster Linie um klassische Positionen und Fragen nach der ›Historik‹ und historischen Methode, ›Positivismus‹, ›Hermeneutik‹, ›Materialismus‹, ›Strukturalismus‹ usw., usf. Auf ein einführendes Werk oder eine ›Einleitung‹ in diese Materie kann leider nicht verwiesen werden, wohl aber sei wärmstens empfohlen, sich die betreffenden Artikel im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ durchzulesen. Für Studenten im Grundstudium sei zudem auf das begleitende Proseminar hingewiesen. � Seminar: Kulturelle Identität: Der Rede von ›kultureller Identität‹ begegnet man zunehmend häufiger in Medien und unterschiedlichen Wissenschaften, ohne daß man sich immer Rechenschaft darüber ablegt, ob damit spezifische Formen der Partizipation an unterschiedlichen Kulturen und Milieus oder an kulturellen Sonderformen (symbolischen Formen) gemeint sein sollen. Und nicht minder problematisch ist der Begriff einer personalen ›Identität‹, die hier an ›kulturelle‹ Bestände oder Sachverhalte geknüpft wird, ohne daß abzusehen wäre, wie der Einzelne überhaupt je als Einzelner etwas ›Kulturelles‹ repräsentieren können soll. Das Seminar wird diese Probleme deshalb von zwei Seiten – von Identitätstheorien und Theorien kultureller Varianz – her angehen, um sich drittens dem Problem des Fremdverstehens zuzuwenden. Zur Einführung und als ›Vorweglektüre‹ sei besonders empfohlen: - im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ die Artikel ›Identifikation II‹ und ›Identität, Ich-Identität‹ ; - in Georg Simmels ›Soziologie‹ der ›Exkurs über den Fremden‹ ; - in Oswald Schwemmers ›Die kulturelle Existenz des Menschen‹ das Kapitel ›Über das Verstehen des Fremden‹ ; - in Gerhard Schulzes ›Die Erlebnisgesellschaft‹ das Kapitel über die ›Milieus‹.

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Kolloquium: Kulturphilosophische Grundbegriffe: Im Anschluß an die im Sommersemester begonnene Erörterung methodischer Fragen soll nunmehr die Frage diskutiert werden, ob es eine spezifisch ›kulturphilosophische Terminologie‹ bereits gibt oder sich eine solche abzuzeichnen beginnt. Dazu bietet sich einerseits der Rückgriff auf kulturphilosophische Klassiker und andererseits die Diskussion von Arbeiten der Seminarteilnehmer an. – Welche Begriffe gehören in ein, resp. welche Begriffe müßte man in ein ›Kulturphilosophisches Wörterbuch‹ aufnehmen?

SS 2002 Seminar: Philosophie der Landschaft: Dass man ›ein Stück Natur‹ auch als Landschaft sehen kann und dass Bilder im Auge entstehen, stellt mindestens zwei sehr grundsätzliche (philosophische) Fragen: 1. die Frage nach der visuellen Aneignung des Raumes und damit einhergehender eigener ›Verortung‹ im Raume sowie deren Repräsentation als Vorstellung und als ›Bild‹ … 2. die Frage nach einer eventuellen kulturellen Vermitteltheit von Wahrnehmung, so dass eben ›etwas‹ als ›etwas‹ nur unter bestimmten, anzugebenden Bedingungen gesehen werden kann resp. gesehen zu werden pflegt – und also nicht das ›an sich‹ Sichtbare gesehen wird … Literatur: Wir lassen uns von ›klassischen Texten‹ anregen: Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. 1954 u. ö. Carus, Carl Gustav: Neun Briefe über Landschaftsmalerei. 1830 u. ö. Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Vierter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. [Vortrag auf dem IV. Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg 1930]. Bericht im Auftrage des Ortsausschusses hg. von Hermann Noack. Stuttgart: Ferdinand Enke 1931. (= Beilageheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 25). S. 21–36. u. ö., z. B. in: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933. Hg. v. Ernst Wolfgang Orth u. John Michael Krois. Hamburg: Meiner 1985. S. 93–119. Petrarca: An Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro in Paris. In: Ders.: Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl u. Einl. v. Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt/M.: Insel 1980. S. 88–98. Ritter, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. 5.–6. Tsd. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. S. 141–163, 172–190 [zuerst 1962]. u. ö.

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Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft. In: Die Güldenkammer. Norddeutsche Monatshefte 3/1913, S. 635–644 (= Heft 11 vom August 1913). u. ö. Orientierung und weiterführende Literatur bietet: Petri, F. etc.: Landschaft: In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 5/ 1980. Sp. 11–28. � Vorlesung: Einführung in die Kulturphilosophie: ›Kulturphilosophie‹ ist für die ›fachphilosophisch Eingeweihten‹ ein dezidiert komischer Titel. Ist denn nicht alle Philosophie ›Kulturphilosophie‹? Freilich: Wenn denn die Philosophen, zumal des 19. Jahrhunderts, sich für’s Ganze interessiert hätten – und viele nicht nur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, oder aber allerlei (meist wilhelminisch-normative) Ethik resp. sog. ›Wertphilosophie‹ getrieben hätten – dann gäbe es diese Subdisziplin der Philosophie wohl noch heute nicht. Die philosophische Aneignung der Gegenwart – i. d. S. der ›Kultur‹ – war und ist deren Anliegen, und dieses Anliegen hat seine klassischen Autoren – Lazarus, Simmel, Cassirer – und eine Vielzahl weiterer, m. E. weniger bedeutsamer. Aber hinzu gehören auch diejenigen Autoren, die sich deren Disziplin nicht unterwarfen, aber darum nicht weniger wichtig sind: Freud, Horkheimer, Plessner, usw., die letztlich allesamt den ›blinden Fleck‹ der Fachphilosophie, die Gegenwart – und in vielerlei Sinne ›soziale‹ Gegenwart – ignorierten und weiterhin ignorieren zu dürfen glauben. ›Kulturphilosophie‹ ist eben – letztlich – der noch immer (wohl) unglückliche Versuch, die Gegenwart in einem eminenten Sinne ›auf den Begriff zu bringen‹. Aber das versuchte – früher – alle nennenswerte Philosophie, nicht weniger unglücklich. � Seminar: Kulturelle Identität (II): In Fortsetzung der Besprechung der prinzipiellen Probleme der Rede von ›Identität‹ geht es um die Weiterführung in Aufspürung von Tatsachen und Akten, die immerhin als ›Identifikationen‹ mit etwas interpretierbar sind. Zentral bleiben, sollen aber genauer ausgearbeitet werden: 1. die Frage nach der Herstellung von Kohärenzen in Selbst- und Fremdbildern, deren kultureller Vorgeformtheit in mehr oder minder gängigen Mustern, wobei einerseits unterschiedliche Grade der Individuation möglich sind und andererseits ›Aufhebungen‹ von ›Individualität‹ sich zeigen. 2. die Vermutung, dass kulturelle Identität vor allem dort sichtbar wird, wo sie durch ›Zumutungen‹ verletzt wird, die ihrerseits ›kulturell‹ vermittelt sind – und zwar in dem Doppelsinn, dass einem etwas zugemutet wird, wie auch: dass man etwas für zumutbar hält. Da und darin zeigen sich ›kulturelle Differenzen‹. � Kolloquium: Kulturphilosophische Grundbegriffe und Methoden: Die mangelnde Kenntnis der Struktur des ›möglichen Wissens‹, d. h. der nicht bekannte ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹

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(Dilthey), steht vor allem einer wissenschaftlichen Konstitution der Geistes-, wahlweise auch der Kulturwissenschaften im Wege. Das müsste nicht so sein, wenn man sich einließe auf das Erlernen und Erkennen jener Struktur. ›Methodisch‹ erlangte Erkenntnis ist nicht nur für wenige divinatorisch begabte Hermeneuten zu erlangen, sondern muss das Ziel der Ausbildung der künftigen sog. ›Kulturwissenschaftler‹ sein. Man muss z. B. recherchieren können. Und damit meine ich nicht den Promillebereich dessen, was in den Geistes-, Kultur- oder Sozialwissenschaften durchs Internet erschlossen ist resp. werden kann, sondern das ›mögliche Wissen‹, – eine im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs noch immer völlig unbekannte Größe, die nur durch Kenntnis der Erschließungswege von Wissen zur Wirklichkeit kommen kann. Literatur: Verbindlich für die Teilnahme ist die Lektüre von Diltheys ›Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹.

WS 2002/03 � Vorlesung: Theorie symbolischer Prägnanz: Die Vorlesung soll eine Einführung in die diejenigen Probleme geben, die sich aus der These einer ›kulturellen Vermitteltheit aller Wahrnehmung‹ ergeben. Dabei ist nicht nur die theoriegeschichtliche Herleitung dieses Theorems, die bis auf den späten Fichte zurückführt, zu rekonstruieren, sondern es müssen auch diejenigen neueren Ansätze geprüft werden, die sich dieser These bedienen: Dass ›Sinnliches‹ und ›Sinn‹ untrennbar verbunden seien und nicht etwa in einem Nacheinander Sinn aus Sinneseindrücken entstehe, beinhaltet die Vermutung, dass es mangelhafter (Selbst-)interpretation menschlicher Wahrnehmung entspringe, wenn die jeweilige Spezifik unseres Blickes auf die Dinge unbemerkt bleibt. Zu spezifizieren sind unsere Blicke einerseits entlang der Unterscheidung unterschiedlicher semantischer Systeme oder symbolischer Formen (die als Medien aufgefasst werden können), wie darüber hinaus auch anhand der Partizipation an unterschiedlichen Kulturen. Grundlegende Literatur: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. 8. unv. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. 2., unv. Aufl. Mittenwald: Mäander 1979 (zuerst 1942). Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin: Akademie Verlag 1997. Kap. II. Klaus Christian Köhnke/Uta Kösser: Prägnanzbildung und Ästhetisierung in Bildangeboten und Bildwahrnehmungen. Unter Mitarbeit von

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Anke Hofmann, Editha Marquardt u. Gunhild Fuhrmann. Leipzig: Universitätsverlag 2001. Seminar: Cassirer: Versuch über den Menschen: Ernst Cassirers Kulturphilosophie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur überhaupt: nach der ›Kulturalität‹ des Menschen, wie diese in Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaften, aber auch in technischer und materieller Kultur zum Ausdruck kommen. Sie berührt sich darin allenthalben mit der (mehr soziologisch inspirierten) ›Theorie der Moderne‹, geht andererseits aber auch bis in die Antike zurück. Denn der noch kaum 100 Jahre alte Begriff Kulturphilosophie meint – wie der Begriff Kultur – ebenfalls zweierlei: einerseits die ganze Tradition der Philosophie, angesehen unter dem Aspekt der Frage nach der Kultivierung des Menschen, ›cultura animi‹ – wie andererseits die Frage nach den spezifisch modernen Bedingungen unseres Lebens überhaupt, nach der ›natura altera‹. Cassirers ›Versuch über den Menschen‹ gibt die beste Einführung in diese Thematik und liegt deshalb dem Seminar zugrunde. Die Lektüre – d. h. u. a. auch die Anschaffung – von Ernst Cassirers »Versuch über den Menschen. Eine Einführung in die Kulturphilosophie« Hamburg: Meiner 1996; zuerst 1944) ist obligatorisch, aktive Teilnahme durch Referat oder mindestens durch die Bereitschaft, ein Protokoll zu übernehmen, wird vorausgesetzt. Seminar: Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen: Text WS 1998/99 Kolloquium: Die Tradition der Kulturphilosophie: Gegenstand der Erörterungen im Kolloquium soll der Rückbezug auf die Traditionen resp. die eine ausgemachte Tradition sein, die sich an Lazarus – Dilthey – Simmel – Logoskreis – Cassirer – festmacht. Hinzu gehören aber all diejenigen und oft weniger bekannten Autoren, die in irgendeiner Weise an dem Projekt einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ teilnahmen, also die Frage nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ nicht nur im Sinne Kants auf die Mathematik und mathematische Naturwissenschaft, sondern auf den gesamten Umkreis der Kultur- resp. Geisteswissenschaften – oder eben auf deren Gegenstandsbereiche – richteten: ›Kritik der Kultur‹ –

SS 2003 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Liebe Studierende, in diesem Jahr feiert unser Institut ein Jubiläum: vor zehn Jahren wurde an der Leipziger Universität das ›Institut für Kulturwissenschaften‹, nachdem es erst mal ›abgewickelt‹ worden war, unter neuen Aufgabestellungen ›wiedergegründet‹. Um dieses – in jeder Hinsicht bedeutsame – Ereignis zu

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feiern, haben die Lehrenden und die Fachschaft eine Feier und eine Tagung geplant. Am 18. Juni 2003 wollen wir, Lehrende und Studierende, u. a. einige Leute einladen, die das Institut nicht nur auf seinem bisherigen Weg begleitet und gefördert haben, sondern überhaupt wichtig sind, wie z. B. Johannes Weiß und Oswald Schwemmer. Mit denen wollen wir diskutieren, aber auch gemeinsam und nachhaltig auf eine gute Zukunft anstoßen. Bei diesem ›Festakt‹ soll es nicht bleiben. Wir werden vom 19. bis 21. Juni 2003 eine Tagung durchführen und uns drei Tage Zeit nehmen, um die verschiedenen Perspektiven auf Kultur, die philosophische, historische, soziologische und kulturell-praktische, miteinander ins Gespräch zu bringen. Das Rahmenthema dafür wird ›Transnationalisierung von Kultur‹ (Hamburger in Boston) sein. Wenn’s gelingt, werden Lehrende, Studis, Frisch-Magistrierte und Gäste miteinander diskutieren. Ich jedenfalls bin gespannt und möchte Sie einladen, sich an der Tagung aktiv zu beteiligen: an den Vorträgen nicht nur teilzunehmen, sondern sich in die Diskussionen einzuschalten. – Weiter hinten finden Sie Näheres zu den Planungen. Ansonsten wünsche ich mir, dass wir miteinander diskutieren, – worüber auch immer. Klaus Christian Köhnke Seminar: Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft: Der im März 2003 erscheinende Band versammelt den ersten Programmaufsatz zu einer ›Völkerpsychologie‹ (1851) und drei grundlegende Texte von M. Lazarus (1862–1865), die hier in ausführlich kommentierter Form erstmals wieder abgedruckt werden. – Wobei der Begriff ›Völkerpsychologie‹ zu verstehen ist als ›Psychologie der geistigen Verhältnisse‹ innerhalb und zwischen Völkern, was bereits von den Zeitgenossen mit ›Sozialpsychologie‹ oder ›Kulturphilosophie‹ gleichgesetzt resp. übersetzt wurde. Diese Texte sind aus mehreren Gründen wichtig, denn erstens gehen auf Lazarus alle Theorien des ›objektiven‹ Geistes zurück, indem hier erstmals unter ›objektivem Geist‹ resp. ›objektiver Kultur‹ die Gesamtheit aller kulturellen Güter, Leistungen und Sachverhalte zum Thema der Philosophie – Kulturphilosophie – wurden. Damit meinte ›Kultur‹ nun nicht mehr nur die ›höhere Bildung‹, sondern ebenso den ungeheuren Schatz der Kulturgüter, der gesellschaftlichen Verkehrsformen und Institutionen. All dem steht das Individuum gegenüber – sie muss das Individuum sich aneignen – und deshalb stellen sich zwei große Fragen: - wie und unter welchen Bedingungen gelingt resp. misslingt die Aneignung von Kultur, – eigener und fremder? - in welcher Stellung steht das Individuum zur Gesamtheit resp. zu den vielfältigen Artefakten der umgebenden kulturellen Verhältnisse, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, materieller Kultur und Institutionen, zu Formen der Geselligkeit und des Umganges? Lazarus umriss damit Fragen und projektierte eine heute wieder höchst aktuelle ›Kulturwissenschaft‹, die nicht mehr einseitig nur nach der Genese oder Geschichte der kulturellen Gegebenheiten und Probleme fragt, son-

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dern vor allem den Funktionsweisen von Kultur und sozialen Formen nachspürt. Deshalb war und wurde er zum Lehrer oder Anreger von Georg Simmels ›Soziologie der Formen der Vergesellschaftung‹ und seiner Theorie der ›Tragödie der Kultur‹, an die wiederum Ernst Cassirer und viele anknüpften, aber auch von Wilhelm Diltheys ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ und nachfolgenden Theorien des ›objektiven Geistes‹ bis hin zu Hans Freyer. Der Band erscheint im Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek 551, Hg., eingel. u. mit Erl. versehen v. Köhnke. Vorlesung: Georg Simmel im Kontext: Die Vorlesung beabsichtigt einen Überblick über Simmels Werk vor dem Hintergrund zeitgenössischer wissenschaftlicher und kultureller Entwicklungen zu geben. Das heißt im Zusammenhang von: - Völkerpsychologie - Naturalismus - Sozialismus, Sozialpolitik und Soziologie - Neukantianismus - Relativismus und Wertphilosophie - Ästhetizismus - Theorie der Moderne - Kulturphilosophie - Logoskreis - Lebensphilosophie Als Einführung empfehle ich: David Frisby: Georg Simmel. Chicester etc. 1984 u. ö. – Klaus Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt etc.: Campus 1997 – sowie mein Buch: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996). Kolloquium: Kulturphilosophische Grundbegriffe: Neben der Diskussion von Beiträgen der Seminarteilnehmer wird die weitere Beschäftigung mit Alfred Schütz im Mittelpunkt stehen. Grundlegend: Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Zuerst 1932. Seminar: Georg Simmels Philosophie des Geldes: Der ›synthetische Teil‹ von Simmels ›Philosophie des Geldes‹ (1900) fragte nach der psychologischen Bedeutung des Geldes und versuchte die ›Psyche der Gegenwart‹ resp. den Zeitgeist von 1900 als Ausdruck der modernen geldwirtschaftlich vermittelten Verhältnisse zu begreifen und charakterisierte diesen folgendermaßen: »Ich glaube … festgestellt haben« (GSG 6, 675 [vgl. die vorangegangenen Ankündigungen]). Die Anschaffung des Buches wird empfohlen.

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WS 2003/04

WS 2003/04 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Liebe Studierende, die Festlichkeiten sind abgeklungen und wir widmen uns nun wieder dem »normalen« Lehrprogramm. Zu unserem 10jährigen Bestehen hat sich das Institut im vergangenen Semester zu einer Festveranstaltung und Tagung getroffen. In einer spannenden Veranstaltung sind Dozenten, Studenten und Absolventen ins Gespräch über das Thema Transnationalisierung gekommen. Bei dieser Veranstaltung sind die verschiedenen Bereiche des Instituts in einen intensiveren Austausch getreten, den wir auch zukünftig anstreben. Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen und waren auch selbst recht zufrieden mit der Veranstaltung. Es wird sicherlich nicht die letzte dieser Art gewesen sein. Doch spannende Veranstaltungen liegen nicht nur hinter uns. Für das kommende Semester sind wieder vielfältige Seminare und Vorlesungen angekündigt, die das Studienfach Kulturwissenschaften in seiner ganzen Breite zeigen. Durch Ihre Auswahl der Veranstaltungen haben Sie die Möglichkeiten, nach eigenem Interesse Themen zu kombinieren und die unterschiedlichen Perspektiven aus den Bereichen miteinander in Beziehung zu setzen. In diesem und dem nächsten Semester sind Prof. Jürgen Gerhards und Dr. Jörg Rössel nicht am Institut. Sie sind zu Forschungsaufenthalten nach Schweden resp. den USA eingeladen und werden vertreten durch PD Dr. Matthias Junge (für Herrn Gerhards) und Dr. Heike Diefenbach (für Herrn Rössel). Für das anstehende Semester wünsche ich interessante Veranstaltungen. Klaus Christian Köhnke Vorlesung (mit Lektüreseminar): Einführung in die Kulturphilosophie [� siehe die früheren Durchführungen]: Der Name dieser Disziplin wurde erstmals 1899 auf ein Titelblatt gebracht – von Ludwig Stein: An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie. Freiburg i. B. etc. 1899, einem gemeinsamen Schüler von Moritz Lazarus und Wilhelm Dilthey, der später als Soziologe und Philosoph ein Nachfolger auf dem für Lazarus eigens eingerichteten Berner Lehrstuhl für Völkerpsychologie gewesen ist. Es gibt in Deutschland keine akademische ›Kulturphilosophie‹, die nicht in irgendeiner Weise auf Lazarus, Dilthey oder Georg Simmel zurückginge. Diese Tradition bis hin zu Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und seinem ›Versuch über den Menschen‹ soll in der Vorlesung nachgezeichnet werden. Der Besuch der Vorlesung und des dazugehörigen Seminars eignet sich gut als Vorbereitung auf die Zwischenprüfung. Kolloquium: Kulturphilosophische Grundbegriffe: Anhand von Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen kulturphilosophische Grundfragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden. Neben dem werden wir ausgewählte Partien aus: Schütz, Alfred/Luck-

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

mann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt (UTB ISBN 3-8252-2412-0 – 24,90 Euro) besprechen. Seminar: Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften: Es sollen ausgewählte Partien von Diltheys ›Aufbau‹ in gemeinsamer Lektüre erarbeitet werden. Diltheys ›Theorie des objektiven Geistes‹ und Grundlegung der Geisteswissenschaften, seine Hermeneutik und die Klassifikation der Wissenschaften um 1900 stellen klassische Topoi der Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften dar und bieten sich für geschichtliche Rückblicke ebenso an wie für Ausblicke auf die heutigen Kulturwissenschaften. Die gemeinsamen Voraussetzungen der Geistesresp. Kulturwissenschaften und ihr innerer Zusammenhang stellen zudem eins der interessantesten Themen auch der allerneusten Debatten um die ›Kulturwissenschaften‹ dar. Neben der gemeinsamen Lektüre des ›Aufbaus‹ soll inform von Referaten ein Einblick in die Theorie der Geisteswissenschaften nicht nur Diltheys eröffnet werden. Zur Anschaffung wird empfohlen: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (= Dilthey: Gesammelte Schriften 7). [zuerst 1910] – als Taschenbuch: Suhrkamp ISBN 3-518-27954-8 – 14,50 Euro.

SS 2004 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Liebe Studierende, in einer Phase intensiver Diskussionen um Kürzungen und Studiengebühren entsteht das vorliegende Kommentierte Vorlesungsverzeichnis. Auch das Institut für Kulturwissenschaften wird nicht von Kürzungen verschont bleiben: Die Ästhetik-Stelle, die seit langem von Frau Kösser bekleidet wird – mit großem Erfolg und begleitet von großem studentischen Interesse –, soll nach deren altersbedingtem Ausscheiden nicht wiederbesetzt werden. Wann das sein wird, lässt sich noch nicht genau sagen, aber immerhin, dass diejenigen, die in letzter Zeit zu studieren begonnen haben und im Bereich der Ästhetik ihre Prüfungen abzulegen gedenken, dies werden voraussichtlich nicht mehr tun können. Die Tatsache, dass drei Lehrende des Instituts für Kulturwissenschaften – Prof. Gerhards, Prof. Siegrist und Dr. Rössel – von herausragenden Forschungseinrichtungen zu einem Forschungsjahr eingeladen worden sind, spricht für die hohe wissenschaftliche Qualität der Lehre und Forschung an unserem Institut und sichert diese zugleich für die Zukunft. Prof. Dr. Jürgen Gerhards forscht am Swedish Collegium for Advanced Study in the Social Sciences (SCASSS) in Uppsala, Schweden; Prof. Dr. Hannes Siegrist übernimmt ab dem 01. 04. 2004 für ein Jahr eine Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Dr. Jörg Rössel ist Forschungsstipendiat des Minda Gunzburg Center for European Studies der Harvard University in Cambridge, USA. Die

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SS 2004

Genannten sind im Sommersemester von der Lehre beurlaubt. Erfreulicherweise ist es dem Institut gelungen, erstklassige Stellvertreter(innen) zu finden. PD Dr. Matthias Junge vertritt im Sommersemester Herrn Prof. Gerhards; PD Dr. Matthias Middell vertritt für ein Jahr Herrn Prof. Siegrist, Dr. Heike Diefenbach vertritt Herrn Dr. Rössel. Im Sommersemester 2004 bietet Ihnen das Studium am Institut für Kulturwissenschaften wieder – und vorerst noch – ein buntes Angebot. Vielfältige Seminare und Vorlesungen aus den verschiedenen Bereichen der Kulturwissenschaften stehen zur Auswahl. Besonders hinweisen möchten wir auf die zahlreichen Proseminare in vergleichender Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Die Studierenden des Grundstudiums sollten diese Chance nutzen, die wir nicht zuletzt dank der Kooperation mit dem GWZO, dem ZHS, dem Simon-DubnowInstitut und dem Internationalen Promotionsstudiengang (Promotion an Hochschulen Deutschland, PHD) anbieten können. Ich empfehle bei Ihrer Themenwahl mit einer Mischung aus Lust- bzw. Interessenprinzip und Zielstrebigkeit dem Abschluss des Studiums entgegenzugehen und wünsche für das kommende Semester ein interessantes und erfolgreiches Studium. Klaus Christian Köhnke Seminar: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Text wie SS 2000 Vorlesung: Methoden der Kulturwissenschaften: Text wie SS 1999 � Seminar: Hermeneutische Übungen: ›Hermeneutik‹ als Kunst der Auslegung von Schriftdenkmalen lässt sich nicht aufgrund eines Regelwerks schematisch anzuwendender Verfahren resp. Methoden erlernen, sondern hermeneutische Verfahren können am besten anhand von Beispielen verständlich gemacht werden, und so gezeigt werden, welche Leistungen hermeneutische Arbeit erbringen kann – und welche nicht. Dabei kann heute zunehmend auch der Zugriff aufs Internet sehr hilfreich sein. Dies allerdings nur, wenn man, über die früher bereits notwendige Kenntnis der Organisationen und Institutionen der Wissenskumulation hinaus, über eine genauere Kenntnis der Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden online-Datenbanken verfügt. Kolloquium: Kulturphilosophische Grundbegriffe: Neben der Vorstellung von Magisterthemen und Promotionsprojekten sollen die Erörterungen des Wintersemesters über Alfred Schütz / Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt (UTB ISBN 3-8252-2412-0 – 24,90 Euro) fortgeführt werden.

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

WS 2004/05 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Liebe Studierende, das neue Semester bringt einige Veränderungen am Institut für Kulturwissenschaften mit sich. Professor Gerhards hat kurzfristig unser Institut verlassen und wird künftig in Berlin lehren. Bei Drucklegung dieses Verzeichnisses stand noch nicht fest, ob noch weitere Mitarbeiter des Lehrstuhls Kultursoziologie ebenfalls wechseln werden. Für das Institut bedeutet dieser Wechsel einen Einschnitt mit kurzfristig erheblichen Folgen. Einige Lehrveranstaltungen der Kultursoziologie werden vermutlich von anderem Lehrpersonal durchgeführt oder noch verändert werden. Mehr als in anderen Semestern müssen Sie nun auch auf Aushänge achten. Wir werden uns in den nächsten Wochen und Monaten bemühen, Übergangslösungen zufinden, bis die Professur in der Kultursoziologie wieder besetzt ist. Das neue Semester bringt aber auch eine Neuerung, die für Sie eine Vereinfachung bedeuten wird. Auf Anregung von Studierenden auf unserem Institutstag im vergangenen Semester werden wir nun die Einschreibung für Seminare – soweit nicht anders angegeben – auch über das Internet ermöglichen. Sie werden diese Möglichkeit ab dem 1. Oktober auf der Homepage des Instituts (www.uni-leipzig.de/~kuwi/) finden. Beachten Sie aber bitte, dass Seminare grundsätzlich weiterhin einschreibungsfrei sind, sofern nicht etwas anderes angegeben ist. Ein interessantes Semester wünscht Ihnen im Namen des ganzen Instituts Klaus Christian Köhnke Seminar: Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten: Wissenschaft und ihre Akteure leben nicht selten in der Illusion der Selbstverständlichkeit der Voraussetzungen ihres Arbeitens und der Anwendung ihrer eigenen Verfahren und Vorgehensweisen, die per se als ›wissenschaftlich‹ gelten. Das macht nicht nur Probleme für Studienanfänger, sondern auch für jeden Versuch, Wissenschaft kritisch zu hinterfragen. Wie entstehen wissenschaftliche Fragen? Wie kann man an Informationen kommen? Was sind die Standards in den Kulturwissenschaften? Wie gliedern sie sich und was ist ihr Zusammenhang? – Die zu gebenden Antworten sind teils höchst praktische, wie Techniken des Bibliographierens, Zitierens und der Texterstellung in unterschiedlichen akademischen Literaturgattungen. Andrerseits versteht man aber all dies nur dann einigermaßen, wenn man den Zusammenhang dieser wissenschaftlichen Formen mit den institutionellen Bedingungen und den Zwecksetzungen von Wissenschaft in der Gegenwart, wie auch die traditionellen und mehr oder minder verborgenen Prämissen von Wissenschaft in unserer Kultur im Auge behält. Die Vorlesung wendet sich vor allem an Studienanfänger. Seminar: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen: Text wie WS 1996/97

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SS 2005 Forschungs-Freisemester

Seminar: Theorie symbolischer Prägnanz [� siehe SS 2008]: Ausgehend von der Lektüre ausgewählter Stücke aus Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ soll der Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹ geklärt werden, der die These einer kulturellen Vermitteltheit aller Wahrnehmung behauptet. Als Einführung in die Thematik eignen sich besonders Oswald Schwemmers ›Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne‹ (Berlin: Akademie 1997), Kap. II. – und von demselben Autor: Die kulturelle Existenz des Menschen (Berlin: Akademie 1997). Textgrundlagen: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3. Band: Phänomenologie der Erkenntnis. 8. unv. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. 2. Teil. Kap. V: Symbolische Prägnanz. S. 222–237. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin: Akademie Verlag 1997. Der Symbolprozeß. S. 46–60. Die ›Mehrdimensionalität‹ der geistigen Welt und die Philosophie der symbolischen Formen. S. 61–68. Kap. 2: Symbolische Prägnanz. Der ästhetische Aspekt der Symbolisierung. S. 69–125. Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. 2., unv. Aufl. Mittenwald: Mäander 1979 (zuerst 1942). 2. Kap.: Symbolische Transformation. S. 34–60. 3. Kap.: Die Logik der Anzeichen und Symbole. S. 61–85. Klaus Christian Köhnke: Prägnanzbildung. in: Köhnke/Uta Kösser: Prägnanzbildung und Ästhetisierung in Bildangeboten und Bildwahrnehmungen. Leipzig: Universitätsverlag 2001. S. 149–191. Kolloquium: Umberto Eco: Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt: Neben der Diskussion von Projekten und Beiträgen der Seminarteilnehmer bietet die gemeinsame Lektüre von Umberto Ecos Buch ›Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt‹ – unter Hinzuziehung von ausgewählten Stücken aus Ecos ›Die Grenzen der Interpretation‹ – Anlass zu Erörterungen über die gegenwärtigen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Information und ihrer Verarbeitung.

SS 2005 Forschungs-Freisemester [keine Lehrveranstaltungen]

WS 2005/06 Seminar: Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft: Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, lautet der Titel eines Sammelbandes, der die grundlegen-

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

den Texte der Völkerpsychologie enthält. Wobei der Begriff ›Völkerpsychologie‹ zu verstehen ist als ›Psychologie der geistigen Verhältnisse‹ innerhalb und zwischen Völkern, was bereits von den Zeitgenossen mit ›Sozialpsychologie‹ übersetzt wurde. Klassisch sind diese Programmaufsätze, denn auf Lazarus gehen alle Theorien des ›objektiven‹ Geistes zurück, indem hier erstmals unter ›objektivem Geist‹ resp. ›objektiver Kultur‹ die Gesamtheit aller kulturellen Güter, Leistungen und Sachverhalte zum Thema der Philosophie – Kulturphilosophie – gefasst wurden. Damit meinte ›Kultur‹ nun nicht mehr nur die ›höhere Bildung‹, sondern Artefakte aller Art, gesellschaftliche Verkehrsformen ebenso wie Institutionen. All diesen stehe das Individuum gegenüber – es müsse sich all dieses aneignen – und deshalb stellen sich zwei große Fragen: - wie und unter welchen Bedingungen gelingt resp. misslingt die Aneignung von Kultur, eigener und fremder? - in welcher Stellung steht das Individuum zur Gesamtheit resp. zu den vielfältigen Artefakten der umgebenden kulturellen Verhältnisse, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, materieller Kultur und Institutionen, zu Formen der Geselligkeit und des Umganges? Lazarus umriss damit Fragen und projektierte eine heute wieder höchst aktuelle ›Kulturwissenschaft‹, die nicht mehr nur nach der Genese oder Geschichte der kulturellen Gegebenheiten und Probleme fragt, sondern vor allem den Funktionsweisen von Kultur und sozialen Formen nachspürt. Deshalb war und wurde er zum Lehrer oder Anreger von Georg Simmels ›Soziologie der Formen der Vergesellschaftung‹ und seiner Theorie der ›Tragödie der Kultur‹, an die wiederum Ernst Cassirer und viele anknüpften, aber auch von Wilhelm Diltheys ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ und nachfolgenden Theorien des ›objektiven Geistes‹ bis hin zu Hans Freyer. Zur Anschaffung empfohlen: Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hg., m. e. Einl. u. Anm. vers. v. Klaus Christian Köhnke. Hamburg: Meiner 2003 (= Philosophische Bibliothek 551). Vorlesung: Georg Simmel im Kontext: Die Vorlesung beabsichtigt einen Überblick über Simmels Werk vor dem Hintergrund zeitgenössischer wissenschaftlicher und kultureller Entwicklungen zu geben – was heißt, die Vorlesung behandelt: 1. Simmel im Kontext – Einleitung / Übersicht 2. Der ›junge‹ Simmel / Völkerpsychologie 3. Moralwissenschaft als Kritik der Moral / Naturalismus / Relativismus 4. Sozialismus, Sozialpolitik oder Soziologie 5. Transzendentale Wende / Neukantianismus / Konstruktivismus 6. Ästhetizismus / Ästhetik / Philosophie der Kunst 7. Philosophie des Geldes / Theorie der Moderne 8. Die Großstädte und das Geistesleben

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9. Simmel als Jude / Der Fremde 10. Simmel und der Logoskreis 11. Der Begriff und die Tragödie der Kultur / Kulturkritik / Kulturphilosophie 12. Das individuelle Gesetz / Lebensphilosophie 13. Schluss Als Einführung empfohlen: David Frisby: Georg Simmel. Chicester etc. 1984 u. ö. – Klaus Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt etc.: Campus 1997; Klaus Christian Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996). Seminar: Simmels Philosophie des Geldes: Text wie SS 2003 Kolloquium: Methoden der Kulturwissenschaften: An Hand von Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen methodische Fragen erörtert – und methodische Innovationen an Hand von Neuerscheinungen aus den ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden.

SS 2006 � (lediglich der Seminarplan) Seminar: Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Text wie SS 1998 � Vorlesung: Methoden der Kulturwissenschaften: Text wie SS 1999 Seminar: Hermeneutische Übungen: 1) ›Hermeneutik‹ meint hier nicht die sog. ›philosophische Hermeneutik‹ von Heidegger, Gadamer und anderen, sondern die Versuche von Schleiermacher, Droysen und Dilthey, eine Theorie der Auslegung von Schriftdenkmalen zu begründen – und zwar so, dass diese Auslegungen annähernd ›objektive‹, meint intersubjektiv gültige, sind resp. sein sollen. 2) ›Hermeneutik‹ in diesem Sinne – als Kunst der Schriftauslegung – stand und steht vor zwei Untersuchungsgebieten: wie es im einzelnen vor sich geht, dass und wie einer etwas ›versteht‹, stellt augenscheinlich vor ganz andere Probleme als zweitens die Frage danach, wessen sich jemand alles bedient, um etwas zu verstehen. Man könnte diese beiden Untersuchungsgebiete auch als das subjekttheoretische und das wissenstheoretische Problemfeld bezeichnen. 3) Das subjekttheoretische Problemfeld der hermeneutischen Aufgabenstellung ist m. E. durch ein Übermaß an Komplexität gekennzeichnet. Denn ein Aufweis aller Bedingungen, unter denen etwas ›verstanden‹ wird (halb-, missverstanden inklusive), ist offensichtlich nicht möglich. Die Verstehenssituation ist eine im doppelten Sinne immer individuelle: das verstehende Subjekt steht unter ganz besonderen

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

und vom absoluten hinc et nunc abhängigen Bedingungen, unter denen es ›versteht‹ – und andererseits ist das, was es zu verstehen gilt, ebenfalls ein je ganz individuelles Ding, Ereignis oder Sachverhalt, eingebettet in eine ebenso individuelle Situation oder Lage. 4) Das wissenstheoretische Problemfeld der hermeneutischen Aufgabenstellung hingegen ist einer Analyse eher zugänglich. Denn was einer (zuvor) wissen muss, um etwas (zweites) zu verstehen, ist in unzähligen Fällen sehr wohl angebbar. Man muss Vorkenntnisse mitbringen und jedes Verstehen ist abhängig von diesen Vorkenntnissen, d. h. von notwendigen Vorkenntnissen, die sich nicht überspringen lassen. Ein ›System‹ aller Vor-Kenntnisse darzulegen ist also augenscheinlich die Aufgabe, die dieses Problemfeld darbietet. Ein solches System hat Dilthey in seiner Schrift über den ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ skizziert – für die Nicht-Naturwissenschaften –, und diesem Buch wollen wir uns zuwenden. Zur Anschaffung wird empfohlen: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (= Dilthey: Gesammelte Schriften 7). [zuerst 1910] – als Taschenbuch: Suhrkamp ISBN 3-518-27954-8 – 14,50 Euro. � Kolloquium: Kulturphilosophisches Kolloquium: An Hand von Neuerscheinungen und Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen methodische Fragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden. Von zentraler Bedeutung wird dabei die Frage sein, in welchem Sinne man von ›Methoden der Kulturwissenschaften‹ überhaupt sprechen kann.

WS 2006/07 � Seminar: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: Text wie WS 1997/98 gemeinsam mit Hannes Siegrist und Monika Wohlrab-Sahr: Interdisziplinäres Kolloquium Kulturwissenschaften »Konstruktion von Kultur« Kolloquium: Kulturphilosophisches Kolloquium: An Hand von Neuerscheinungen und Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen methodische Fragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden. Von zentraler Bedeutung wird dabei die Frage sein, ob und inwieweit man überhaupt von ›Methoden der Kulturwissenschaften‹ sprechen kann.

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SS 2007 � Seminar: Der Kontext von Max Webers ›Wissenschaft als Beruf‹ : Umberto Ecos Unterscheidung von situativem und textlichem Kontext lässt sich auf Max Webers berühmte Rede von 1917/19 besonders gut anwenden: Die Rede von 1917, die wir nur auf Grund eines kurzen Zeitungsartikels kennen, und den Drucktext von 1919 zu vergleichen, um daraufhin auf die unterschiedlichen Kontexte der Produktion und zeitgenössischen Rezeption einzugehen. Ziel des Seminars ist es, eine tiefe Kommentierung der berühmten Rede vorzunehmen, mindestens aber, tieferen Einblick in die Kunst des Kommentierens zu vermitteln. Begleitend zum Seminar sollen im Tutorium resp. in den Arbeitsgruppen die Recherchen für die Kommentierung von Max Webers berühmter Rede vorbereitet und durchgeführt werden. � Seminar: Ernst Cassirer: Der Mythos des Staates: Neben Horkheimer/ Adornos ›Dialektik der Aufklärung‹, das 1944/47 die ›Verschlingung von Aufklärung und Mythos‹ aufzuzeigen suchte, ist Cassirers ›Der Mythus des Staates‹ von 1945 der andere große Versuch, die Voraussetzungen der politischen Gegenwart der NS-Zeit mit den Mitteln geistesgeschichtlicher Analyse transparent zu machen. Aber Cassirers Buch will auch die ›philosophischen Grundlagen politischen Verhaltens‹ aufgraben – wie es im Untertitel heißt – und dies bedeutet für ihn, die spezifischen Leistungen und die bedrohlichen Verführungen der symbolischen Form ›Mythus‹ resp. des mythischen Denkens auch in der Gegenwart zu untersuchen. Die Anschaffung des Buches ist notwendige Voraussetzung der Seminarteilnahme. Seminar: Geschichte als symbolische Form: Im Zentrum des Seminars soll der Vergleich von Johann Gustav Droysens erkenntnistheoretischer Fundierung der Geschichtswissenschaft und Analyse der Geschichtserzählung in seiner ›Historik‹ mit Ernst Cassirers Konzeption der Geschichte als symbolischer Form stehen. Dabei kann auch auf die inzwischen aus dessen Nachlass edierten Manuskripte ›Geschichte – Mythos – Form‹ sowie auf die Vorfassungen und Langfassung des ›Essay on Man‹ zurückgegriffen werden. Literatur Droysen, Johann Gustav: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. v. Rudolf Hübner. Darmstadt: WB 1977. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Übers. v. Reinhard Kaiser. Hamburg: Meiner 1996. Cassirer, Ernst: Geschichte. Mythos. Hg. v. K. Chr. Köhnke, H. Kopp-Oberstebrink u. R. Kramme. Hamburg: Meiner 2002 (= Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Bd. 3).

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

Cassirer, Ernst: Studien und Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie. Hg. v. G. Hartung, H. Kopp-Oberstebrink unter Mitw. v. J. Faehndrich. Hamburg 2005 (= Ernst Cassirer Nachgelassene Manuskripte und Texte. Bd. 6). � Kolloquium: Kulturphilosophie und Gesellschaft: Das Kolloquium versteht sich – wie üblich – als ›Werkstatt‹ für Ideen oder im Entstehen begriffene Magister- und Doktorarbeiten. Etliche der Arbeiten umkreisen dabei die Thematik von Kultur und Gesellschaft, weshalb das Ineinandergreifen von Kultur- und Sozialphilosophie im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen soll und zu prinzipielleren Erwägungen reichlich Anlass bietet.

WS 2007/08 � Vorlesung: Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten: Text wie WS 2004/05 � Seminar: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie: Ergänzend zur ›Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten‹ soll in diesem Proseminar anhand von Max Horkheimers Programmaufsatz ›Traditionelle und kritische Theorie‹ (1937) in inhaltlicher Hinsicht Horkheimers Wissenschaftskritik im Detail nachvollzogen werden – in technischer Hinsicht soll die ›wissenschaftliche Erschließung‹ resp. Bearbeitung dieses und einiger weiterer Texte eingeübt werden. Die Anschaffung des Textes (Fischer Wissenschaft, 9,90 Euro) ist unabdingbar für die Seminarteilnahme. Seminar: Philosophie der Landschaft: Text wie SS 2002 Seminar: Simmel: Philosophie des Geldes: Text wie SS 1998 Kolloquium: Kulturphilosophie und Gesellschaft: An Hand von Arbeiten der Seminarteilnehmer und ev[entueller] Neuerscheinungen sollen methodische Fragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden.

SS 2008 � Seminar: Theorie symbolischer Prägnanz: Ausgehend von der Lektüre ausgewählter Stücke aus Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ soll der Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹ geklärt werden, der die These einer kulturellen Vermitteltheit aller Wahrnehmung behauptet.

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›Kulturelle Vermitteltheit von Wahrnehmung‹ meint in erster Annäherung, dass wir nichts wahrnehmen, was wir nicht sogleich auch interpretieren. Und dies impliziert, dass jede Interpretation von Wahrnehmungen einen Rückgriff auf je bestimmte bereits vorhandene kulturelle oder spezifisch gesellschaftliche Deutungs-Muster und Schemata beinhaltet. Cassirers ›Theorie symbolischer Prägnanz‹ formuliert ein Angebot der Interpretation verschiedenster kultureller Abhängigkeiten. Die sog. ›symbolischen Formen‹ als Symbolsysteme (Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Technik, Recht) fungieren dabei als Rahmen und Urspungsort der jeweiligen ›Sinn‹-Gebungen für die ›Wahrnehmungen‹. Literatur Als Einführung in die Thematik eignen sich besonders Oswald Schwemmers ›Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne‹ (Berlin: Akademie 1997), Kap. II. – und von demselben Autor: Die kulturelle Existenz des Menschen (Berlin: Akademie 1997). Seminar: Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt: Das Hauptseminar will Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns Analysen der Objektivierungen menschlicher Bewusstseinsvorgänge, wie sie in Typisierungen aller Art, in Zeichen und Symbolen vorliegen, nachvollziehen und nach Möglichkeit an Hand der Analyse alltagsweltlicher Gegebenheiten überprüfen. Dazu ist es nötig, dass die Denkweise und die Terminologie der phänomenologischen Soziologie erlernt wird, was ein hohes Lesepensum von allen Teilnehmern verlangt (672 Seiten!). Auch wäre die Kenntnis von Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1980 u. ö.) höchst wünschenswert. Literatur Für die Teilnahme ist die Anschaffung des Buches unabdingbar: Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. Seminar: Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: Das Hauptseminar widmet sich einer eingehenden Lektüre und Diskussion von Max Horkheimers Essays ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ von 1947 und seinen ›Notizen 1949–1969‹. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der ›Vernünftigkeit‹ von Zwecksetzungen und danach, wie und wodurch Zwecke als sinnvoll ausgewiesen werden können. – Die einfache Berufung auf ›die Vernunft‹ oder ›Vernünftigkeit‹ ist nicht nur sehr problematisch, sondern beinhaltet in aller Regel einen Verzicht darauf, sich umfassend mit den sozialen und menschlichen Folgen von Handlungen und ›Maßnahmen‹ (Zwecksetzungen und daraus resultierendem Mittelgebrauch) auseinandersetzen zu wollen. ›Instrumentelle Vernunft‹ meint – vereinfacht gesagt – die Vernunft derer, die ›wissen,

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wo es langgeht‹, derer, die auf der richtigen Seite stehen – und überhaupt: es ganz einfach richtig machen, weil sie es richtig sehen. Kolloquium: Kulturphilosophie und Gesellschaft: Das Kolloquium hat Werkstattcharakter und gibt Gelegenheit zur Besprechung von in Arbeit befindlichen Magister- und Doktorarbeiten, bietet aber auch Raum für die Erprobung von Themen und Thesen, von denen noch nicht so recht abzusehen ist, wo sie hinführen könnten. Eingeladen zur Teilnahme sind Studierende aller Semester sowie Doktoranden, Teilnahmevoraussetzung ist nur die Bereitschaft, an der Diskussion der jeweils anstehenden Fragen aktiv mitzuwirken.

WS 2008/09 � Vorlesung: Einführung in die Kulturwissenschaften: Text wie WS 2004/05 Seminar: Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, 2. Teil: Auch diese Fortsetzung des Hauptseminars will Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns Analysen der Objektivierungen menschlicher Bewusstseinsvorgänge, wie sie in Typisierungen aller Art, in Zeichen und Symbolen vorliegen, nachvollziehen und nach Möglichkeit an Hand der Analyse alltagsweltlicher Gegebenheiten überprüfen. Dazu ist es nötig, dass man das Werk als Ganzes versteht, aber auch, dass die Denkweise und die Terminologie der phänomenologischen Soziologie erlernt wird. Im ersten Teil wurden die Kapitel I bis IV besprochen. Es fehlen die Kapitel V und VI über Handlung, Grenzerfahrungen und Verständigung (S. 445–672), die unter ständigem Rückgriff auf die früheren Kapitel zu interpretieren sind. Neueinsteiger sollten zumindest Kap. I, II und III B (Relevanz) gelesen haben. Auch wäre die Kenntnis von Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1980 u. ö.) höchst wünschenswert. Für die Teilnahme ist die Anschaffung des Buches unabdingbar: Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. � Seminar: Georg Simmel als Jude: Das Seminar soll an Hand ausgewählter Texte Simmels und seiner Rezeptionsgeschichte der Frage nachgehen, inwieweit sich nachweisen lässt, dass Erfahrungen, die er ›als Jude‹ machte, sich in ihnen möglicherweise spiegeln (›Der Fremde‹, Soziale Apriorika). Das setzt eine Klärung der Frage voraus, ob und inwieweit er selbst sich als Jude angesehen hat und wo und von wem er als ein solcher angesehen worden ist. Zur Einführung in dieses Thema ist verbindlich das Kapitel ›Georg

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Simmel als Jude‹ von Klaus Christian Köhnke in seinem Buch ›Der junge Simmel‹. Kolloquium: Kulturphilosophisches Kolloquium: Text wie SS 2008

SS 2009 � Vorlesung: Kulturphilosophische Grundbegriffe: Der Name dieser Disziplin wurde erstmals 1899 auf ein Titelblatt gebracht – von Ludwig Stein: An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie. Freiburg i. B. etc. 1899, einem gemeinsamen Schüler von Moritz Lazarus und Wilhelm Dilthey, der später als Soziologe und Philosoph ein Nachfolger auf dem für Lazarus eigens eingerichteten Berner Lehrstuhl für Völkerpsychologie gewesen ist. Es gibt in Deutschland keine akademische ›Kulturphilosophie‹, die nicht in irgendeiner Weise auf Lazarus, Dilthey oder Georg Simmel zurückginge. Diese Tradition bis hin zu Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und seinem ›Versuch über den Menschen‹ soll in der Vorlesung nachgezeichnet werden. Seminar: Methodologie interpretativer Sozialforschung: An Hand der gleichnamigen Textsammlung, herausgegeben von Jörg Strübing und Bernt Schnettler, sollen ausgewählte klassische Positionen im Seminar diskutiert werden. Insbesondere werden Texte von Wilhelm Dilthey, Max Weber, Karl Mannheim, Alfred Schütz, John Dewey, Herbert Blumer, Harold Garfinkel, Harvey Sacks und Anselm L. Strauss die Themen bilden. Textgrundlage Jörg Strübing/Bernt Schnettler: Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte. Konstanz 2004 (= UTB 2513). Seminar: Freuds Kultur- und Religionskritik: Ausgehend von einer gemeinsamen Lektüre der ersten Abschnitte von Freuds ›Abriß der Psychoanalyse‹ sollen vor allem seine beiden Schriften ›Die Zukunft einer Illusion‹ und ›Das Unbehagen in der Kultur‹ – tunlichst durch Referate vorbereitet – gemeinsam besprochen werden. Die Anschaffung der genannten Texte, die allesamt im Taschenbuch erhältlich sind, wird nachdrücklich empfohlen. Kolloquium: Kulturphilosophisches Kolloquium: An Hand von Neuerscheinungen und Arbeiten der Seminarteilnehmer sollen methodische Fragen – und methodische Innovationen – der ›Kulturwissenschaften‹ besprochen werden. Von zentraler Bedeutung wird dabei die Frage sein, ob und inwieweit man überhaupt von ›Methoden der Kulturwissenschaften‹ sprechen kann.

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WS 2009/10 Forschungs-Freisemester [keine Lehrveranstaltungen]

SS 2010 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors: Liebe Studierende, Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die an unserem Institut lehren, begrüße ich Sie und wünsche uns ein gutes Semester. Der sogenannte Bologna-Prozess, die Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge, stellt die Institute vor beträchtliche Probleme, in organisatorischer wie in inhaltlicher Hinsicht. Wir haben es mit drei parallel laufenden Studiengängen zu tun: Es gilt, die Magisterstudierenden zum Abschluss ihres Studiums zu begleiten und ihnen dafür ein attraktives Angebot zu machen. Gleichzeitig müssen die Bachelor-Studenten eine möglichst wissenschaftliche Ausbildung bekommen, die – in verkürzter Zeit – jedenfalls in etwa den Geist Wilhelm v. Humboldts weiterführt. Und schließlich müssen wir ein Masterstudium organisieren, das einerseits sinnvoll auf den Bachelor aufbaut, gleichzeitig aber auch Neuankömmlinge, die mit anderen Schwerpunktsetzungen studiert haben, zu integrieren sucht. Hinzu kommt, dass wir im Bachelor- und Masterstudium noch in der Anfangsphase sind, und sich gewisse Dinge erst einspielen, viele im Lauf der Zeit nachgebessert werden müssen. ›Probleme‹ sind bei einer solchen Koordinations- und Umbauarbeit nicht zu vermeiden. Bei der Abfederung und Korrektur der gröbsten Missstände und obrigkeitlichen Fehlplanungen sind wir auf Ihre Mitarbeit angewiesen. Wenden Sie sich also bitte vertrauensvoll an uns Lehrende und an die Fachschaft. Wir sind für Sie ansprechbar. Generell müssen wir versuchen, die Grenzen zwischen den drei Studiengängen so weit wie möglich durchlässig zu machen. Auch in diesem Semester werden noch Magisterseminare angeboten, sind aber auch für Studierende im Masterstudium prinzipiell offen. Sollten Sie also das Angebot im Master durch solche Veranstaltungen ergänzen wollen, können Sie dies tun, müssen aber die Prozedur der prüfungsamtlichen Anmeldung beachten. Das gilt auch für fortgeschrittene Bachelorstudierende, die – nach Rücksprache mit den Seminarleitern – an Lehrveranstaltungen im Magisterstudium teilnehmen können. Die genauen Bedingungen sowie eine eventuelle Anerkennung als moduläquivalente Leistungen sind mit den Lehrenden und dem Prüfungsausschuss zu klären. Wir Lehrenden versuchen derzeit (gemeinsam mit anderen Kollegen an der Fakultät), den Bachelor »Sozialwissenschaften und Philosophie mit Kernfach Kulturwissenschaften« umzustrukturieren in einen Studiengang »Kulturwissenschaften«. An Stelle der aktuell geforderten schmalspurigen 60 LP beim Studium im Kernfach wären dann 90 LP erforderlich, und der (völlig unterbestimmte) Wahlbereich würde entspre-

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SS 2010

chend reduziert. Diese Umstellung ist vom Institut und der Fakultät zwar beschlossen, aber bei der Umsetzung sind noch eine Reihe organisatorischer Hürden zu bewältigen. Dennoch empfehlen wir Ihnen, bereits jetzt 90 LP im Fach Kulturwissenschaften zu studieren, also einen Teil der Wahlmodule aus dem Bereich der Kulturwissenschaften zu wählen. Gerade ein interdisziplinärer Studiengang wie der unsere braucht mehr Raum, um eine Orientierung in den Grundlagen der beteiligten Disziplinen zu ermöglichen. Damit meinen wir aber – um Gotteswillen – nicht, dass Sie ihr Studienpensum zusätzlich aufblähen sollten! Zum Studieren braucht man Zeit, Zeit zu lesen, um nachzudenken und um zu diskutieren; viel mehr Zeit. Aber Zeit ist Geld. Obwohl diese Zeitknappheit während des Bachelorund Masterstudiums dies im Vergleich zum alten Magisterstudium erschwert, begrüßen wir die Mobilität unserer Studierenden. Lassen Sie sich also nicht davon abhalten, ein oder zwei Semester im Ausland zu studieren. Eine Zeit im Ausland bringt nicht nur neues Wissen, sondern auch neue Erfahrungen, die auch einen produktiven Blick auf das Leben und Arbeiten »vor Ort« möglich machen. Der Studiengang »Kulturwissenschaften« in Leipzig – in seinen Bachelor-, Magister- und Master-Varianten – unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von ähnlich heißenden Studiengängen an anderen Orten. Wir schreiben Kulturwissenschaften bewusst im Plural. D. h. uns geht es nicht um eine Auflösung disziplinärer Zugänge, sondern um deren Verknüpfung in interdisziplinärer Perspektive. Die Philosophie, die Geschichte und die Soziologie sind bei uns als disziplinäre Perspektiven auf Kultur (im Sinne symbolischer Ordnungen, aber auch im Sinne kultureller Praxis und Orientierung) durch entsprechende Fachvertreter repräsentiert. Ergänzt werden diese disziplinären Perspektiven durch eine praxisbezogene – das Kulturmanagement und Kulturvermittlung –, das bei uns ebenfalls soziologisch gerahmt ist. Generell zeichnet sich unser Institut durch die sozialwissenschaftliche Grundorientierung aus. Deshalb haben wir unseren Master auch mit »Gesellschaft und Kultur« betitelt. Darin unterscheiden wir uns von anderen, eher medien-, literaturwissenschaftlich oder kulturökonomisch orientierten Studiengängen. Wir erwarten, mit Ihnen an einem fachlich anspruchsvollen, interdisziplinären, intellektuell anregenden, weltoffenen und die Praxis kritisch reflektierenden Studiengang weiterzubauen. Seien Sie herzlich willkommen! Im Namen aller Lehrenden und unserer Sekretärin, Frau Barnikol-Veit | Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke Geschäftsführender Direktor (Leipzig, Februar 2010) Seminar: Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Text wie SS 1998 Seminar: Horkheimer: Kritische und traditionelle Theorie: Anhand von Max Horkheimers Programmaufsatz ›Traditionelle und kritische Theorie‹ (1937) soll dessen Wissenschaftskritik nachvollzogen und -gezeichnet werden, um sichtbar zu machen, wie die ›Kritische Theorie‹ eine Erneuerung

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gewisser Ideen der Aufklärung vorgenommen hat. Dabei spielt gegenüber früheren Renaissancen, insbesondere der als Neukantianismus bekannt gewordenen, die Reflexion der sozialen Vermitteltheit von Erkenntnis, Wissenschaft und Philosophie die zentrale Rolle. Das ›Soziale‹ freilich nicht nur in der Darreichungsform einer Hineinnahme von sozialem Wissen in die theoretischen Reflexionen, sondern viel mehr in der, dass der Sinn von Erkenntnis, Wissenschaft und Theoriebildung auf das bessere Leben in der – und der – Gesellschaft hin orientiert wird. Dies näher zu besprechen sind weitere Aufsätze des zur Anschaffung [empfohlenen] Bandes: Max Horkheimer: ›Kritische und traditionelle Theorie‹ (Fischer Wissenschaft, 9,90 Euro) bestens geeignet. Seminar: Theorien des Raumes: Von Raum und Räumlichkeit ist in den Wissenschaften immer häufiger die Rede, und man hat dieses verstärkte Interesse sogar unter das Schlagwort eines ›spatial turn‹ der Kultur- und Sozialwissenschaften zu bringen versucht. Das Seminar will sich deshalb klassisch modernen und neueren theoretischen Positionen der Theoriebildung über Räume und Räumlichkeit widmen, d. h. den folgenden Autoren und Texten: - Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931) - Edmund Husserl: Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung (1934) - Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (1961) - Paul Virilio: Die Auflösung des Stadtbildes (1984) - Vilém Flusser: Räume (1991) - Georg Simmel: Über räumliche Projektionen sozialer Formen (1903) - Henri Lefebrve: Die Produktion des Raums (1974) - Michael de Certeau: Praktiken im Raum (1980) - Pierre Bourdieu: Sozialer Raum, symbolischer Raum (1989) - Friedrich Ratzel: Über die geographische Lage (1894) - Hannah Arendt: Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten (1960) - Michael Foucault: Von anderen Räumen (1967) - Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Das Glatte und das Gekerbte (1980) - Max Herrmann: Das theatralische Raumerlebnis (1948) - Eric Rohmer: Film, eine Kunst der Raumorganisation (1948) Sämtliche Texte finden sich in dem Band: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. v. Jörg Dünne u. Stephan Günzel. Frankfurt/M. 2006 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1800), 18 Euro. Kolloquium: Hauptprobleme der Kulturphilosophie: Text wie SS 2008

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WS 2010/11

WS 2010/11 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors – Text wie SS 2010, datiert auf Juli 2010 � Seminar: Michael Tomasellos ›Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens‹ : In gemeinsamer Lektüre des Buches von Tomasello soll das spezifisch ›Kulturelle‹ an der sowohl phylo- wie ontogenetischen Entwicklung herausgearbeitet werden. Dabei steht Tomasellos These im Vordergrund, dass es die Fähigkeit der Menschen ist, »ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst« (S. 17), diejenige ist, die sie von den höchstentwikkelten nicht-menschlichen Primaten unterscheidet. Die Anschaffung des Buches ist unabdingbar: Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt/M. 2006 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1827), 12,00 ßeuroß � Seminar: Georg Simmels Philosophie des Geldes: Text wie WS 2007/08 � Kolloquium: Abschlussarbeiten konzipieren und schreiben: Das Kolloquium wendet sich an alle Studierenden, die vor der Hürde einer Abschlussarbeit stehen: Bachelor, Master, Magister und Doktoranden. Da ist es gut, wenn man ganz zwanglos eigene erste Themenvorstellungen diskutieren kann, Hinweise kriegt, aber auch sieht, wie es andre angehen. – Und manchmal ist auch gut zu sehen, dass die andren ›auch nur mit Wasser kochen‹ … Seminar, gemeinsam mit Sonja Engel: Der Fremde als sozialer Typus und als historische Kategorie

SS 2011 Begrüßung des geschäftsführenden Institutsdirektors – Text wie SS 2010 Seminar: Methoden der Kulturwissenschaften: Text wie SS 1999 Seminar: Philosophie der Landschaft: Ausgehend von Georg Simmels ›Philosophie der Landschaft‹ (1913), Texten über Florenz, Venedig und Rom sowie Ernst Cassirers ›Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum‹ (1930) soll bis hin zur heutigen ›Spaziergangswissenschaft‹ oder ›Promenadologie‹ Fragen nachgegangen werden, die sich aus der Erkenntnis ergeben, dass man ›ein Stück Natur‹ auch als Landschaft sehen kann und dass Bilder

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Anhang Verzeichnis der Lehrveranstaltungen

im Auge des Betrachters entstehen. Was mindestens zwei sehr grundsätzliche (philosophische) Probleme aufwirft: 1. die Frage nach der visuellen Aneignung des Raumes und damit einhergehender eigener ›Verortung‹ im Raume sowie deren Repräsentation als Vorstellung und als ›Bild‹ … 2. die Frage nach einer eventuellen kulturellen Vermitteltheit von Wahrnehmung, so dass eben ›etwas‹ ›als etwas‹, also immer nur unter bestimmten, anzugebenden Bedingungen gesehen werden kann resp. gesehen zu werden pflegt – und es also nicht das ›an sich‹ Sichtbare ist, mit dem wir es zu tun haben … Ein Reader wird zu Beginn des Semesters bei Printy bereitgestellt. Kolloquium: Abschlussarbeiten konzipieren und schreiben: Text wie WS 2010/11 Seminar: Methodologie interpretativer Sozialforschung: Anhand der gleichnamigen Textsammlung, herausgegeben von Jörg Strübing und Bernt Schnettler, sollen ausgewählte klassische Positionen im Seminar diskutiert werden. Dabei werden methodologische Texte von Wilhelm Dilthey, Max Weber, Karl Mannheim, Alfred Schütz, John Dewey, William I. Thomas, Florian Znaniecki, Herbert Blumer und Anselm L. Strauss die Themen bilden. Textgrundlage Jörg Strübing/Bernt Schnettler: Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte. Konstanz 2004 (= UTB 2513).

WS 2011/12 Begrüßung durch den geschäftsführenden Institutsdirektor – Text wie SS 2010, datiert Juli 2011 Seminar: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz: Zur Einführung in die unterschiedlichen Themen der Simmelschen Kulturphilosophie eignet sich besonders die nun schon klassische Sammlung von Essays, die Michael Landmann unter dem programmatischen Titel ›Das individuelle Gesetz‹ herausgegeben hat. Da geht es um den Schauspieler, den Fremden und das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, Soziologische Ästhetik, den Henkel und die ›Tragödie der Kultur‹, und man muss sich anschauen, ob und in wie weit diese Texte uns heute noch etwas zu sagen vermögen. Zur Anschaffung notwendig: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Hg. u. eingel. v. Michael Landmann. Neuausgabe 1987 mit einem Nachwort v. Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 (= stw 660).

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WS 2011/12

Seminar: Schreibwerkstatt: Leipziger Leben: Seit Michel de Montaigne (1533–1592) ist der Essay als undogmatische Schreibe über Welt und Leben in der Philosophie etabliert. Hier kommt es nicht auf ein strenges methodisches Vorgehen und auch nicht auf ein wissenschaftliches Resultat der Untersuchung an, sondern darauf, die eigene, ganz persönliche Blickweise auf die Dinge so zu artikulieren, dass ein möglichst authentischer Blick einen Sachverhalt erhellt. Denn schon Montaigne wusste, dass die scholastischen, die Schulformen von wissenschaftlichem Arbeiten, immer auch mit einem ›Opfer der Intelligenz‹ verbunden waren, einer Intelligenz nämlich, die nur dem Subjekt zukommt, aber naturgemäß in der institutionalisierten Wissenschaft nicht zu ihrem vollen Recht kommen kann. Große kulturphilosophische Essayisten wie Georg Simmel, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno spielen deshalb in der Kulturphilosophie bis heute eine zentrale Rolle. Was liegt also näher, als an sie anzuknüpfen? Das Seminar, das über zwei Semester geht, will Ihnen die Form des Essays in Theorie und Praxis näher bringen, um Sie zu animieren, eine essayistische – eine intelligente – Bachelorarbeit zu schreiben. Was liegt also näher, als sich mit dem Leipziger Leben und Ihrem Erleben Leipzigs auseinanderzusetzen? Lektüre zur Einführung Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Noten zur Literatur; Suhrkamp, Frankfurt/Main 1958, u. ö. Seminar: Theorie symbolischer Prägnanz: Text wie SS 2008 Kolloquium: Abschlussarbeiten konzipieren und schreiben: Text wie WS 2010/11

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Personenregister

Das Register weist alle von Köhnke im Text und im Anhang erwähnten Namen nach, mit Ausnahme von Autoren, Herausgebern und Namen in Titeln zitierter Literatur. Adorno, Theodor W. 9, 384, 406 f., 417 Aristoteles 57 Auerbach, Berthold 290 Bahr, Hermann 25 Barnikol-Veit, Elvira 413 Baudelaire, Charles 30, 49, 174 Beck, Ulrich 202, 206, 212 f., 222 Bell, Daniel 200, 213 Benjamin, Walter 30, 49, 82, 86, 147, 155, 167, 169–172, 176, 231, 243, 289, 292, 294, 303 f., 306, 383, 417 Berger, Peter 162, 257, 263, 385, 387, 405, 409 f., 413 Bernstein, Aaron 290 f., 295 Bloch, Ernst 385 Blumer, Herbert 411, 416 Böcklin, Arnold 385 Böhm, Franz 209 Böhringer, Hannes 224 Burckhardt, Jakob 193, 225, 276, 324 Cassirer, Ernst 9 f., 13, 39, 84, 104, 137, 166 f., 172, 228, 230, 232, 234, 240, 242 f., 246 f., 256, 262, 268, 270, 273, 288, 307, 330, 375–377, 381, 383, 385–387, 389, 391, 394– 396, 398 f., 402 f., 404, 407–409, 411, 414 f. Cicero 9, 37, 56, 67–69, 71–73, 75–79, 82 f., 84 f., 158, 228, 252 f., 293–295, 300, 392 f., 305 f., 308 f., 380

Copernikus 258 Courths-Maler, Hedwig 55 Dahn, Felix 55 Dante 173, 276 Darwin, Charles 36, 44, 175 f., 189, 231, 243 Dewey, John 411, 416 Diefenbach, Heike 399, 401 Dilthey, Wilhelm 75, 77, 103, 167, 176 f., 179–185, 199, 211, 213, 228, 232, 234, 240, 243, 246 f., 268, 330, 375, 377, 380, 383 f., 387 f., 395 f., 398–400, 404–406, 411, 416 Dostojewski, Fjodor 42 Droysen, Johann Gustav 387, 405, 407 Eco, Umberto 403, 407 Engel, Eduard 79 Engel, Sonja 415 Euklid 390 Fichte, Johann Gottlieb 9, 72, 186, 300, 395 Flaubert, Gustave 174 Fontane, Theodor 145–148, 267, 273 Freud, Sigmund 10, 175, 189, 243, 245, 381, 386, 391, 394, 411 Freyer, Hans 75, 103, 228, 232, 234, 240, 243, 247, 268, 330, 375, 377, 380, 398, 404

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Personenregister Freytag, Gustav 55 Friedrich der Große 67, 69, 182 Funke, Gerhard 75 Gadamer, Hans-Georg 405 Garfinkel, Harold 411 Garve, Christian 67 f., 72 f., 300 Gehlen, Arnold 76, 228, 240, 380 Gerhards, Jürgen 239, 254, 387 f., 399–402 Goethe 34, 58, 65, 181 f., 253 Gothein, Eberhard 208 Grimm, Jacob u. Wilhelm 94, 274, 317 Groethuysen, Bernhard 385 Habermas, Jürgen 41, 205 Hartmann, Eduard von 51, 55 Hauptmann, Gerhart 26, 42, 55 Hausmann, Raoul 49, 159, 167 Hegel 9 f., 37, 58, 76, 104–108, 180, 233 f., 246, 258, 281, 284, 288, 328, 331–334, 385 Heidegger, Martin 184 f., 405 Herder, Johann Gottfried 9, 70, 72– 75, 83, 85, 228, 231, 242, 298–302, 309, 380 Heyse, Paul 267 Hipparch 258 Hoffmann, E. T. A. 101, 147 f. Hofmann, Anke 390 Hölderlin 58, 65 Homer 57 Horaz 57 Horkheimer, Max 9 f., 384, 394, 406– 409, 413 Hugo, Victor 26 Huizinga, Johan 382 Humboldt, Wilhelm von 9, 72, 130, 253, 300, 412 Husserl, Edmund 390, 414 Ibn Roschd 183 Ibsen, Henrik 42, 194 Jaspers, Karl 184 Jellinek, Georg 208

Junge, Matthias 399, 401 Kant 9 f., 11, 33, 66–70, 72, 74, 136, 185, 222, 239, 253 f. 300 f., 365, 382, 389, 392, 396, 398, 404, 414 Kaspar Hauser 263 Keller, Gottfried 55 Kessler, Harry Graf 328, 341 Klopstock, Friedrich Gottlob 66 Konersmann, Ralf 113, 199, 379, 380, 382 f. Kopernikus, Nikolaus siehe Copernicus Kösser, Uta 388, 400 Kracauer, Siegfried 385 Kretzer, Max 42 Lady Diana 238, 254 Lagarde, Paul de 205 Landmann, Michael 10, 66, 416 Lasson, Adolf 56 Lazarus, Moritz (Moses) 10, 13, 37 f., 75–78, 82–85, 87–100, 102–104, 106–108, 112, 114, 126, 129, 172, 228, 232, 234 f., 240, 242 f., 246– 248, 256 f., 259 f. 262–269, 271– 282, 284–286, 288–298, 301–303, 306–309, 311–321, 323–331, 333 f., 343, 359, 375, 380, 394, 396 f., 399, 403 f. 411 Leibniz 88, 23 f., 311 Lessing, Gotthold Ephraim 66, 253 Lübbe, Hermann 382 Lublinski, Samuel 46 f., 49, 174 Luckmann, Thomas 162, 257, 263, 385, 387, 401, 405, 409 f., 413 Luhmann, Niklas 239, 254 Lukács, Georg 385 Lytoard, Jean-François 19 f., 167, 222, 224 Maeterlinck, Maurice 184 Mannheim, Karl 411, 416 Marcuse, Herbert 243, 381 f. Märtens, Gesine 386 f. Marquard, Odo 28, 195, 199–202, 204–206, 215 f., 222, 384

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Personenregister Marquardt, Editha 390 McArthur Destler, Charles 49 Mendelssohn, Moses 70, 72 f., 299, 301 f. Menzel, Adolph 267 Middell, Matthias 401 Montaigne, Michel de 417 Münch, Richard 211, 214 f. Munch, Edvard 328, 341 Musil, Robert 149–154, 156, 148 f., 161, 163 f., 167 f., 174 Nietzsche, Friedrich 9, 184, 385 Ollig, Hans-Ludwig 204 Pascal, Blaise 87, 310 Panaitios 83 f., 303, 306, 308 Paulsen, Friedrich 57 Petrarca 173, 383, 393 Platon 9, 57, 266, 288 Plessner, Helmuth 10, 394 Ptolemäus 258 Pythagoras 158, 256, 259, 293 f. Rickert, Heinrich 208, 387 Ritter, Joachim 383, 387, 393 Rössel, Jörg 399, 400 f. Rousseau, Jean-Jacques 87, 310 Ruskin, John 154 Schäfer, Dietrich 208 f. Sacks, Harvey 411 Scheler, Max 382 Scherer, Wilhelm 45 Schiller 9, 58, 65 f., 72, 101, 138, 182, 228, 274, 300, 367 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 45 Schmoller, Gustav 209 Schopenhauer 51, 184, 385 Schulze, Gerhard 194, 212, 222, 392 Schutte, Jürgen 42 Schütz, Alfred 398, 401, 409–411, 416 Schwemmer, Oswald 288, 387, 391 f., 396 f., 403, 409 Siegrist, Hannes 387 f., 400, 406

Simmel, Georg 9–13, 38 f., 56, 75, 78 f., 81 f., 84, 100, 102–104, 107– 144, 148, 153, 156, 166–169, 172, 176, 184, 205, 208–210, 213, 228, 231 f., 234, 239, 242 f., 246 f., 254, 256, 260–262, 268, 276, 281, 288, 291 f., 294, 302, 306 f., 323 f., 328– 330, 333–347, 348–356, 358–373, 375 f., 379 f., 383, 385, 387, 390– 392, 394, 396, 398 f., 404 f., 408, 410 f., 414–417 Snow, C. P. 63 Sokrates 105, 293, 332 Spencer, Herbert 44 Spengler, Oswald 243 Spielhagen, Friedrich 55 Sprengel, Peter 42 Stein, Ludwig 38 f., 281, 302, 399, 411 Steinthal, Heyman 324 Storm, Theodor 267 Strauss, Anselm L. 411, 416 Sudermann, Hermann 26 Susman, Margarete 108, 335, 338 Thomas, William I. 416 Thomasius, Christian 67 Tolstoi 42, 184 Tomasello, Michael 415 Voltaire 182, 273 f. Wagner, Richard 35, 184 Weber, Max 30, 32, 152 f., 157, 208, 213, 305, 287, 407, 411, 416 Weiß, Johannes 397 Windelband, Wilhelm 52, 59, 63, 65, 148, 208, 383, 387 Wohlrab-Sahr, Monika 406 Wolff, Christian 67 Wolff, Eugen 29 f. Yorck von Wartenburg, Paul Graf 167, 173, 176–181, 186, 189, 211, 213, 216 Znaniecki, Florian 416 Zola, Emile 26

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