Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg [90]

Table of contents :
Michael Diefenbacher: 125 Jahre Verein für Geschichte der Stadt
Nürnberg - Grundlinien und Tendenzen........................................ 1
Manfred Treml: Geschichtsvereine in Bayern: Geschichte - Funktionen
- Perspektiven ................................................................ 11
Gerhard Rechter: Ehrwürdig oder überholt? Die historischen
Kreis vereine in Bayern............................................................... 29
Hartmut Heller: Bürger- und Vorstadtvereine im Wandel zur Gegenwart
....................................................................................... 45
Clemens Wächter: Neue Geschichtsbewegung und alternative Geschichtsvereine
........................................................................... 65
Michael Diefenbacher: Überlieferungen der Wirtschaft im Stadtarchiv
Nürnberg ..................................................................... 87
Erhard Schraudolph: Die Zinngießerei Christian Schweiger und
Sohn......................................................................................... 101
Rob Zweerman: Erinnerungen eines Zwangsarbeiters in Nürnberg-
Zollhaus (November 1944-April 1945).......................... 107
V
Buchbesprechungen........................................................................... 167
Neuerwerbungen des Stadtarchivs Nürnberg. Schenkungen, Leihgaben
und Ankäufe 2002 und 2003 .............................................. 259
Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte...................................... 261
Jahresbericht über das 125. Vereinsjahr 2002 269
Abkürzungen .................................................................................... 273
VI
BUCHBESPRECHUNGEN
Quellen und Inventare
Codex Diplomaticus Ebracensis I: Die Urkunden der Zisterze Ebrach 1127-1306, bearb.
von Elke G o e z. Neustadt/Aisch: 2001. (Dieter J. Weiß) .......................................... 167
Peter Zahn: Die Inschriften der Friedhöfe zu Nürnberg. Bilder zu Teil 1 (Ende 15. Jahrhundert
bis 1580), CD-ROM-Edition, München 2003. Bestandsliste zu Teil 2 (1581-
1608), Digitale Version (Diskette), München 2002. Bestandsliste zu Teil 3 (1609-
1650), Digitale Version (Diskette), München 2003. (Peter Fleischmann) .................. 168
Herbert Justin Erlanger: Nürnberger Medaillen 1806-1981. Die „metallene Chronik“
der ehemaligen Reichsstadt im Zeitalter industrieller Kultur, Ergänzungsband,
bearb. von Dieter P. W. F i s c h e r. Nürnberg 2000. (Walter Bauemfeind)................ 169
Topographie, Stadtteile und Landgebiet
Helmut Beer: Fotoschätze aus dem Stadtarchiv. Die Sammlungen des Bild-, Film- und
Tonarchivs im Stadtarchiv Nürnberg. Nürnberg 1998. (Helmut Richter) ................ 171
Helmut Beer: Nürnberger Erinnerungen 13. Die Menschen in den Bildern. Geschichte(
n) in alten Fotografien. Nürnberg 2002. (Hartmut Beck)............................ 172
Hartmut Beck/ Herbert Bäuerlein / Manfred Gi 11 ert: Bild und Erinnerung. Nürnberger
Luftaufnahmen der 50er Jahre. Nürnberg 2002. (Helmut Beer) .................... 173
Nürnberger Altstadtberichte. Nr. 25 (2000), Nr. 26 (2001), Nr. 27 (2002). (Helmut Beer) . 174
Kathrin Kommerell /Christoph Fasel: Hauptbahnhof Nürnberg. Geschichte und
Visionen. München/Herten 2002. (Clemens Wächter) ................................................ 175
Yasmin D o o s r y: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen ...“ Studien zum
Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Tübingen/Berlin 2002. (Clemens Wächter) .. 176
Nürnberger Stadtteile im Wandel der Jahrhunderte. Fischbach - Altenfurt - Birnthon -
Moorenbrunn. Nürnberg 1999. (Horst-Dieter Beyerstedt) ........................................ 178
St. Leonhard und Schweinau. Mehr als Schlachthof und Gaswerk. Hrsg, von Geschichte
Für Alle e.V. Nürnberg 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) ............................................ 179
Hans Recknagel: Geschichten & Geschichte. Historische Skizzen von Altdorf und
Nürnberg. Feucht 2001. (Wolfgang Mährle) ................................................................ 181
Erlanger Stadtlexikon. Hrsg, von Christoph Friederich, Bertold von Haller und
Andreas Jakob. Nürnberg 2002. (Daniela Stadler).................................................... 181
Martin Schieber: Erlangen. Eine illustrierte Geschichte der Stadt. München 2002.
(Andreas Jakob)................................................................................................................ 186
Daniel Burger: Die Landesfestungen der Hohenzollern in Franken und Brandenburg im
Zeitalter der Renaissance. (Helmut Neuhaus).............................................................. 189
Politische Geschichte, Recht und Verwaltung
Charlotte Bühl / Peter Fleischmann (Hrsg.): Festschrift Rudolf Endres zum 65. Geburtstag
gewidmet von Kollegen, Freunden und Schülern. Neustadt/Aisch 2000.
(Andreas Otto Weber).................................................................................................... 191
Manfred Akermann: Die Staufer - Ein europäisches Herrschergeschlecht. Stuttgart
2003. (Richard Kölbel) .................................................................................................... 192
Christine Roll: Das Zweite Reichsregiment 1521-1530. Köln u.a. 1996. (Walter Bauemfeind)
............................................................................................................................... 193
Horst Pohl: Briefe des Nürnberger Rates aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert. Unterhaltsames
aus der Geschichte der Reichsstadt. Neustadt/Aisch 2001. (Martin Schieber) . 195
VII
Das Ende der reichsstädtischen Freiheit 1802. Zum Übergang schwäbischer Reichsstädte
vom Kaiser zum Landesherrn. Begleitband zur Ausstellung „Kronenwechsel“ - Das
Ende reichsstädtischer Freiheit 1802. Hrsg, von Daniel Höhrath, Gebhard We i g,
Michael Wettengel. Stuttgart 2002. (Rainer S. Elkar).............................................. 196
Udo Winkel (Bearb.): Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Nürnberg.
Bd. I/II: Von der Vorgeschichte der Arbeiterbewegung bis zum Ende des Sozialistengesetzes
1830-1890. Nürnberg 2001. (Werner K. Blessing) .................................. 198
Charlotte Bühl-Gramer: Nürnberg 1850-1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik
und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung. Nürnberg
2003. (Wolfgang Wüst)............................................................................................ 199
Im Dienst von Demokratie und Diktatur. Die Reichsbahn 1920-1945. Geschichte der
Eisenbahn in Deutschland, Bd. 2: Katalog zur Dauerausstellung im DB Museum
Nürnberg 2002. (Helmut Beer)...................................................................................... 202
Egon Fein: Hitlers Weg nach Nürnberg. Verführer, Täuscher, Massenmörder. Eine
Spurensuche in Franken mit hundert Bilddokumenten. Nürnberg 2002. (Eckart
Dietzfelbinger) ................................................................................................................ 203
Steffen Radimaier / Siegfried Zelnhefer: Tatort Nürnberg. Auf den Spuren des
Nationalsozialismus. Cadolzburg 2002. (Helmut Beer).............................................. 204
Peter Heigl: Nürnberger Prozesse/Nuremberg Trials. Nürnberg 2001. (Hartmut Frommer) 205
Klemens G s e 11: Die Rechtsstreitigkeiten um den Reichsschatz. Das Rechtsproblem aus
rechtshistorischer und aktueller Sicht. Jur. Diss. Erlangen-Nürnberg 2001. (Hartmut
Frommer) .................................................................................................................. 206
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Vereine
Kristina W i n z e n: Handwerk - Städte - Reich. Die städtische Kurie des Immerwährenden
Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung. Stuttgart 2002.
(Horst-Dieter Bey erste dt)................................................................................................ 207
Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg: Chronik. Gesellschaft und Abteilungen. Zum
200jährigen Bestehen 1801-2001. Verf.: Horst-Dieter Beyerstedt. Nürnberg 2001.
(Clemens Wächter).......................................................................................................... 209
Heinrich Weber: Die Geschichte des Lehrergesangvereins Nürnberg e.V. 1878-2003.
Festschrift zum 125jährigen Jubiläum des Lehrergesangvereins Nürnberg e.V.
Nürnberg 2003. (Clemens Wächter).............................................................................. 209
Kunst
Frank Matthias Kammei: Die Apostel aus St. Jakob. Nürnberger Tonplastik des Weichen
Stils. Nürnberg 2002. (Georg Stolz)...................................................................... 210
Frank Matthias Kammei (Hrsg.): Adam Kraft. Die Beiträge des Kolloquiums im Germanischen
Nationalmuseum. Nürnberg 2002. (Georg Stolz)...................................... 211
Albrecht Dürer: Das druckgraphische Werk. Band 2: Holzschnitte und Holzschnittfolgen.
Bearb. von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum...
München u.a. 2002. (Peter Zahn) .................................................................................. 212
Wolfgang Schmid: Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in
Nürnberg um 1500. Trier 2003. (Horst-Dieter Beyerstedt).......................................... 217
Mäzene, Schenker, Stifter. Das Germanische Nationalmuseum und seine Sammlungen.
Gesamtkoordination und Redaktion: Annette Scherer. Nürnberg 2002. (Bernhard
Ebneth) ............................................................................................................................ 219
Claus Pese: Mehr als nur Kunst. Das Archiv für Bildende Kunst im Germanischen
Nationalmuseum. Ostfildern-Ruit 1998. (Walter Bauernfeind).................................. 222
Architektur Nürnberg. Bauten und Biografien. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Wiederaufbau.
Hrsg, von Geschichte Für Alle e.V. Nürnberg 2002. (Ruth Bach-Damaskinos) . 223
VIII
Kultur, Sprache, Literatur, Musik
Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen
Humanismus. Kabinettausstellung 7. April - 30. Juni 2002. Schweinfurt 2002.
(Horst-Dieter Beyerstedt)................................................................................................ 225
Martin Kirnbauer: Hartmann Schedel und sein „Liederbuch“. Studien zu einer spätmittelalterlichen
Musikhandschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm
810) und ihrem Kontext. Bern 2001. (Thomas Röder) ................................................ 227
Ulrich Feuerstein: Derhalb stet es so übel Icz fast in allem regiment. Zeitbezug und
Zeitkritik in den Meisterliedern des Hans Sachs (1513-1546). Nürnberg 2001. (Hartmut
Kugler)...................................................................................................................... 229
Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts.
Tübingen 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) .................................................. 232
Margot Blumenthal: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz.
Egelsbach u.a. 2001. (Charlotte Bühl-Gramer)............................................................ 233
Friedhelm Henrich: Wilhelm Raabe und die deutsche Einheit. Die Tagebuchdokumente
der Jahre 1860-1863. München 1998. (Charlotte Bühl-Gramer)................................ 235
Walter Gebhardt: Nürnberger WeinLeseBuch. Eine historische Verkostung in 13 Proben.
Nürnberg 2002. (Günther Friedrich) .................................................................... 236
Emmi Böck (Hrsg.): Nürnberger Stadtsagen und Legenden. Nürnberg 2002. (Walter
Gebhardt) ........................................................................................................................ 237
Kirchengeschichte
Randall Herz: Die „Reise ins Gelobte Land“ Hans Tuchers des Älteren (1479-1480).
Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen
Reiseberichts. Wiesbaden 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) ........................................ 238
Wallfahrten in Nürnberg um 1500. Akten des interdisziplinären Symposions vom 29. und
30. September 2000 im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Hrsg, von Klaus
Arnold. Wiesbaden 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt)................................................ 240
Klaus Herbers: »Wol auf sant Jacobs Straßen!« Pilgerfahrten und Zeugnisse des Jakobuskults
in Süddeutschland. Ostfildern 2002. (Karl Borchardt)........................................ 241
Ernst R i e g g: Konfliktbereitschaft und Mobilität. Die protestantischen Geistlichen zwölf
süddeutscher Reichsstädte zwischen Passauer Vertrag und Restitutionsedikt. Leinfelden-
Echterdingen 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt).................................................. 242
Schulwesen, Bildung, Wissenschaft, Technik
Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg
zwischen Mittelalter und Aufklärung. Wiesbaden 2002. (Christine Sauer) .... 244
„auserlesene und allerneueste Landkarten“. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702-1848.
Hrsg, von Michael Diefenbacher, Markus Heinz und Ruth Bach-Damask
i n o s. Nürnberg 2002. (Rudolf Endres) .................................................................... 248
Walter Steinmaier: Als das ABC auf die Dörfer kam. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte
des 16. - 18. Jahrhunderts. Die Entstehung der Nürnberger Landschulen und das
Leben ihrer Schulmeister. Nürnberg 2001. (Reinhard Jakob) .................................... 249
Karl Hegel - Historiker im 19. Jahrhundert. Hrsg, von Helmut Neu haus. Erlangen/
Jena 2001. (Bernhard Ebneth)........................................................................................ 254
Michael Frey er: Das Schulhaus. Entwicklungsetappen im Rahmen der Geschichte des
Bauern- und Bürgerhauses sowie der Schulhygiene. Passau 1998. (Charlotte Bühl-
Gramer) ............................................................................................................................ 255
IX
Personen und Familien
Ina Schönwald: Die Patrizierfamilie Paumgartner auf Burg Grünsberg. Überlegungen
zum Selbstverständnis des Nürnberger Patriziats im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts.
Lauf 2001. (Horst-Dieter Beyerstedt)............................................................... 256

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79

Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

90. Band 2003

Nürnberg 2003 Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

Schriftleitung: Dr. Michael Diefenbacher, Dr. Wiltrud Fischer-Pache, Dr. Clemens Wächter Für Form und Inhalt der Aufsätze und Rezensionen sind die Verfasser verantwortlich. Für unaufgefordert eingereichte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen.

Zum Druck des Bandes trugen durch Zuschüsse bzw. Spenden bei: Die Stadt Nürnberg, der Bezirk Mittelfranken, die Sparkasse Nürnberg. Der Verein dankt dafür bestens.

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, Neustadt/Aisch Gedruckt auf holzfreies, chlorfrei gebleichtes, säurefreies und alterungsbeständiges Papier. Alle Rechte, auch des Abdrucks im Auszug, Vorbehalten. Copyright by Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg (Geschäftsstelle: Marientorgraben 8, 90402 Nürnberg) ISSN 0083-5579

INHALT Michael Diefenbacher: 125 Jahre Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg - Grundlinien und Tendenzen........................................

1

Manfred Treml: Geschichtsvereine in Bayern: Geschichte - Funk­ tionen - Perspektiven ................................................................

11

Gerhard Rechter: Ehrwürdig oder überholt? Die historischen Kreis vereine in Bayern...............................................................

29

Hartmut Heller: Bürger- und Vorstadtvereine im Wandel zur Ge­ genwart .......................................................................................

45

Clemens Wächter: Neue Geschichtsbewegung und alternative Ge­ schichtsvereine ...........................................................................

65

Michael Diefenbacher: Überlieferungen der Wirtschaft im Stadt­ archiv Nürnberg .....................................................................

87

Erhard Schraudolph: Die Zinngießerei Christian Schweiger und Sohn.........................................................................................

101

Rob Zweerman: Erinnerungen eines Zwangsarbeiters in Nürn­ berg-Zollhaus (November 1944-April 1945)..........................

107

V

Buchbesprechungen...........................................................................

167

Neuerwerbungen des Stadtarchivs Nürnberg. Schenkungen, Leihga­ ben und Ankäufe 2002 und 2003 ..............................................

259

Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte......................................

261

Jahresbericht über das 125. Vereinsjahr 2002

269

Abkürzungen

273

VI

....................................................................................

BUCHBESPRECHUNGEN Quellen und Inventare Codex Diplomaticus Ebracensis I: Die Urkunden der Zisterze Ebrach 1127-1306, bearb. von Elke G o e z. Neustadt/Aisch: 2001. (Dieter J. Weiß) .......................................... Peter Zahn: Die Inschriften der Friedhöfe zu Nürnberg. Bilder zu Teil 1 (Ende 15. Jahr­ hundert bis 1580), CD-ROM-Edition, München 2003. Bestandsliste zu Teil 2 (15811608), Digitale Version (Diskette), München 2002. Bestandsliste zu Teil 3 (16091650), Digitale Version (Diskette), München 2003. (Peter Fleischmann) .................. Herbert Justin Erlanger: Nürnberger Medaillen 1806-1981. Die „metallene Chronik“ der ehemaligen Reichsstadt im Zeitalter industrieller Kultur, Ergänzungsband, bearb. von Dieter P. W. F i s c h e r. Nürnberg 2000. (Walter Bauemfeind)................

167

168

169

Topographie, Stadtteile und Landgebiet Helmut Beer: Fotoschätze aus dem Stadtarchiv. Die Sammlungen des Bild-, Film- und Tonarchivs im Stadtarchiv Nürnberg. Nürnberg 1998. (Helmut Richter) ................ Helmut Beer: Nürnberger Erinnerungen 13. Die Menschen in den Bildern. Geschichte(n) in alten Fotografien. Nürnberg 2002. (Hartmut Beck)............................ Hartmut Beck/ Herbert Bäuerlein / Manfred Gi 11 ert: Bild und Erinnerung. Nürn­ berger Luftaufnahmen der 50er Jahre. Nürnberg 2002. (Helmut Beer) .................... Nürnberger Altstadtberichte. Nr. 25 (2000), Nr. 26 (2001), Nr. 27 (2002). (Helmut Beer) . Kathrin Kommerell /Christoph Fasel: Hauptbahnhof Nürnberg. Geschichte und Visionen. München/Herten 2002. (Clemens Wächter) ................................................ Yasmin D o o s r y: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen ...“ Studien zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Tübingen/Berlin 2002. (Clemens Wächter) .. Nürnberger Stadtteile im Wandel der Jahrhunderte. Fischbach - Altenfurt - Birnthon Moorenbrunn. Nürnberg 1999. (Horst-Dieter Beyerstedt) ........................................ St. Leonhard und Schweinau. Mehr als Schlachthof und Gaswerk. Hrsg, von Geschichte Für Alle e.V. Nürnberg 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) ............................................ Hans Recknagel: Geschichten & Geschichte. Historische Skizzen von Altdorf und Nürnberg. Feucht 2001. (Wolfgang Mährle) ................................................................ Erlanger Stadtlexikon. Hrsg, von Christoph Friederich, Bertold von Haller und Andreas Jakob. Nürnberg 2002. (Daniela Stadler).................................................... Martin Schieber: Erlangen. Eine illustrierte Geschichte der Stadt. München 2002. (Andreas Jakob)................................................................................................................ Daniel Burger: Die Landesfestungen der Hohenzollern in Franken und Brandenburg im Zeitalter der Renaissance. (Helmut Neuhaus)..............................................................

171 172 173 174 175 176 178 179 181 181 186 189

Politische Geschichte, Recht und Verwaltung Charlotte Bühl / Peter Fleischmann (Hrsg.): Festschrift Rudolf Endres zum 65. Ge­ burtstag gewidmet von Kollegen, Freunden und Schülern. Neustadt/Aisch 2000. (Andreas Otto Weber).................................................................................................... Manfred Akermann: Die Staufer - Ein europäisches Herrschergeschlecht. Stuttgart 2003. (Richard Kölbel) .................................................................................................... Christine Roll: Das Zweite Reichsregiment 1521-1530. Köln u.a. 1996. (Walter Bauem­ feind) ................................................................................................................................ Horst Pohl: Briefe des Nürnberger Rates aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert. Unterhalt­ sames aus der Geschichte der Reichsstadt. Neustadt/Aisch 2001. (Martin Schieber) .

191 192 193 195

VII

Das Ende der reichsstädtischen Freiheit 1802. Zum Übergang schwäbischer Reichsstädte vom Kaiser zum Landesherrn. Begleitband zur Ausstellung „Kronenwechsel“ - Das Ende reichsstädtischer Freiheit 1802. Hrsg, von Daniel Höhrath, Gebhard We i g, Michael Wettengel. Stuttgart 2002. (Rainer S. Elkar).............................................. Udo Winkel (Bearb.): Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Nürnberg. Bd. I/II: Von der Vorgeschichte der Arbeiterbewegung bis zum Ende des Soziali­ stengesetzes 1830-1890. Nürnberg 2001. (Werner K. Blessing) .................................. Charlotte Bühl-Gramer: Nürnberg 1850-1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung. Nürn­ berg 2003. (Wolfgang Wüst)............................................................................................ Im Dienst von Demokratie und Diktatur. Die Reichsbahn 1920-1945. Geschichte der Eisenbahn in Deutschland, Bd. 2: Katalog zur Dauerausstellung im DB Museum Nürnberg 2002. (Helmut Beer)...................................................................................... Egon Fein: Hitlers Weg nach Nürnberg. Verführer, Täuscher, Massenmörder. Eine Spurensuche in Franken mit hundert Bilddokumenten. Nürnberg 2002. (Eckart Dietzfelbinger) ................................................................................................................ Steffen Radimaier / Siegfried Zelnhefer: Tatort Nürnberg. Auf den Spuren des Nationalsozialismus. Cadolzburg 2002. (Helmut Beer).............................................. Peter Heigl: Nürnberger Prozesse/Nuremberg Trials. Nürnberg 2001. (Hartmut Frommer) Klemens G s e 11: Die Rechtsstreitigkeiten um den Reichsschatz. Das Rechtsproblem aus rechtshistorischer und aktueller Sicht. Jur. Diss. Erlangen-Nürnberg 2001. (Hart­ mut Frommer) ..................................................................................................................

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198

199

202

203 204 205

206

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Vereine Kristina W i n z e n: Handwerk - Städte - Reich. Die städtische Kurie des Immerwähren­ den Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung. Stuttgart 2002. (Horst-Dieter Beyerste dt)................................................................................................ Naturhistorische Gesellschaft Nürnberg: Chronik. Gesellschaft und Abteilungen. Zum 200jährigen Bestehen 1801-2001. Verf.: Horst-Dieter Beyerstedt. Nürnberg 2001. (Clemens Wächter).......................................................................................................... Heinrich Weber: Die Geschichte des Lehrergesangvereins Nürnberg e.V. 1878-2003. Festschrift zum 125jährigen Jubiläum des Lehrergesangvereins Nürnberg e.V. Nürnberg 2003. (Clemens Wächter)..............................................................................

207

209

209

Kunst Frank Matthias Kammei: Die Apostel aus St. Jakob. Nürnberger Tonplastik des Wei­ chen Stils. Nürnberg 2002. (Georg Stolz)...................................................................... Frank Matthias Kammei (Hrsg.): Adam Kraft. Die Beiträge des Kolloquiums im Ger­ manischen Nationalmuseum. Nürnberg 2002. (Georg Stolz)...................................... Albrecht Dürer: Das druckgraphische Werk. Band 2: Holzschnitte und Holzschnitt­ folgen. Bearb. von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum... München u.a. 2002. (Peter Zahn) .................................................................................. Wolfgang Schmid: Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in Nürnberg um 1500. Trier 2003. (Horst-Dieter Beyerstedt).......................................... Mäzene, Schenker, Stifter. Das Germanische Nationalmuseum und seine Sammlungen. Gesamtkoordination und Redaktion: Annette Scherer. Nürnberg 2002. (Bernhard Ebneth) ............................................................................................................................ Claus Pese: Mehr als nur Kunst. Das Archiv für Bildende Kunst im Germanischen Nationalmuseum. Ostfildern-Ruit 1998. (Walter Bauernfeind).................................. Architektur Nürnberg. Bauten und Biografien. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Wiederauf­ bau. Hrsg, von Geschichte Für Alle e.V. Nürnberg 2002. (Ruth Bach-Damaskinos) .

VIII

210 211

212 217

219 222 223

Kultur, Sprache, Literatur, Musik Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Kabinettausstellung 7. April - 30. Juni 2002. Schweinfurt 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt)................................................................................................ Martin Kirnbauer: Hartmann Schedel und sein „Liederbuch“. Studien zu einer spät­ mittelalterlichen Musikhandschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 810) und ihrem Kontext. Bern 2001. (Thomas Röder) ................................................ Ulrich Feuerstein: Derhalb stet es so übel Icz fast in allem regiment. Zeitbezug und Zeitkritik in den Meisterliedern des Hans Sachs (1513-1546). Nürnberg 2001. (Hart­ mut Kugler)...................................................................................................................... Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahr­ hunderts. Tübingen 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) .................................................. Margot Blumenthal: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz. Egelsbach u.a. 2001. (Charlotte Bühl-Gramer)............................................................ Friedhelm Henrich: Wilhelm Raabe und die deutsche Einheit. Die Tagebuchdokumente der Jahre 1860-1863. München 1998. (Charlotte Bühl-Gramer)................................ Walter Gebhardt: Nürnberger WeinLeseBuch. Eine historische Verkostung in 13 Pro­ ben. Nürnberg 2002. (Günther Friedrich) .................................................................... Emmi Böck (Hrsg.): Nürnberger Stadtsagen und Legenden. Nürnberg 2002. (Walter Gebhardt) ........................................................................................................................

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Kirchengeschichte Randall Herz: Die „Reise ins Gelobte Land“ Hans Tuchers des Älteren (1479-1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts. Wiesbaden 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt) ........................................ Wallfahrten in Nürnberg um 1500. Akten des interdisziplinären Symposions vom 29. und 30. September 2000 im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Hrsg, von Klaus Arnold. Wiesbaden 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt)................................................ Klaus Herbers: »Wol auf sant Jacobs Straßen!« Pilgerfahrten und Zeugnisse des Jakobus­ kults in Süddeutschland. Ostfildern 2002. (Karl Borchardt)........................................ Ernst R i e g g: Konfliktbereitschaft und Mobilität. Die protestantischen Geistlichen zwölf süddeutscher Reichsstädte zwischen Passauer Vertrag und Restitutionsedikt. Lein­ felden-Echterdingen 2002. (Horst-Dieter Beyerstedt)..................................................

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240 241

242

Schulwesen, Bildung, Wissenschaft, Technik Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürn­ berg zwischen Mittelalter und Aufklärung. Wiesbaden 2002. (Christine Sauer) .... „auserlesene und allerneueste Landkarten“. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702-1848. Hrsg, von Michael Diefenbacher, Markus Heinz und Ruth Bach-Damask i n o s. Nürnberg 2002. (Rudolf Endres) .................................................................... Walter Steinmaier: Als das ABC auf die Dörfer kam. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des 16. - 18. Jahrhunderts. Die Entstehung der Nürnberger Landschulen und das Leben ihrer Schulmeister. Nürnberg 2001. (Reinhard Jakob) .................................... Karl Hegel - Historiker im 19. Jahrhundert. Hrsg, von Helmut Neu haus. Erlangen/ Jena 2001. (Bernhard Ebneth)........................................................................................ Michael Frey er: Das Schulhaus. Entwicklungsetappen im Rahmen der Geschichte des Bauern- und Bürgerhauses sowie der Schulhygiene. Passau 1998. (Charlotte BühlGramer) ............................................................................................................................

244

248

249 254

255

IX

Personen und Familien

Ina Schönwald: Die Patrizierfamilie Paumgartner auf Burg Grünsberg. Überlegungen zum Selbstverständnis des Nürnberger Patriziats im ersten Drittel des 18. Jahrhun­ derts. Lauf 2001. (Horst-Dieter Beyerstedt)...............................................................

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VERZEICHNIS DER MITARBEITER Bach-Damaskinos, Ruth,M.A., Kunsthistorikerin, Graudenzer Straße25, 90491 Nürnberg Bauernfeind, Walter, Dr., Archivoberrat, Nürnberg, Karl-Hertel-Str. 33, 90475 Nürnberg Beck, Hartmut, Dr., Univ.-Prof., Universität Erlangen-Nürnberg, Erzie­ hungswissenschaftliche Fakultät, Regensburger Str. 160, 90478 Nürnberg Beer, Helmut, Dr., Stadthistoriker, Bärenschanzstraße 63, 90429 Nürnberg Beyerstedt, Horst-Dieter, Dr., Archivoberrat, Thumenberger Weg 38, 90491 Nürnberg Blessing, Werner K., Dr., Univ.-Prof., Friedrich-Alexander-Universität Er­ langen-Nürnberg, Schuhstraße la, 91052 Erlangen Borchardt, Karl, Dr., Prof., Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber, Milchmarkt 2, 91541 Rothenburg ob der Tauber Bühl-Gramer, Charlotte, Dr., Wissenschaftliche Assistentin, Peterstr. 9, 90478 Nürnberg Diefenbacher, Michael, Dr., Ltd. Archivdirektor, Ringstr. 17, 91560 Heils­ bronn Dietzfelbinger, Eckart, Dr., Historiker, Hintere Cramergasse 8, 90478 Nürnberg E b n e t h, Bernhard, Dr., Wissenschaftlicher Angestellter, Obere Weiherstr. 16, 90522 Oberasbach Elkar, Rainer, Dr., Univ.-Prof., Eichwiese 5, 57234 Wilnsdorf E n d r e s, Rudolf, Dr., em. Univ.-Prof., An den Hornwiesen 10, 91054 Erlan­ gen Fischer-Pache, Wiltrud, Dr., Archivdirektorin, Keßlerplatz 7, 90489 Nürnberg Fleischmann, Peter, Dr., Archivdirektor, Carron-du-Val-Straße 7, 86161 Augsburg Friedrich, Günther, Archivamtmann, Oldenburger Str. 14, 90425 Nürnberg Frommer, Hartmut, Dr., Stadtrechtsdirektor, Judengasse 25, 90403 Nürnberg Gebhardt, Walter, Bibliotheksamtsrat, Drausnickstr. 8, 91054 Erlangen Heller, Hartmut, Dr., Univ.-Prof., Universität Erlangen-Nürnberg, Landes­ und Volkskunde (EWF), Regensburger Straße 160, 90478 Nürnberg Jakob, Andreas, Dr., Archivoberrat, Stadtarchiv Erlangen, Cedernstr. 1, 91051 Erlangen Jakob, Reinhard, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ignatius-BlenningerStraße 9, 80995 München

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J o c h e m, Gerhard, Archivamtmann, Kobergerplatz 6, 90408 Nürnberg Kölbel, Richard, Oberstudiendirektor i.R., Neuwerker Weg 66, 90547 Stein Kugler, Hartmut, Dr., Univ.-Prof., Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Germanistik, Bismarckstr. 1, 91054 Erlangen Mährle, Wolfgang, Dr., Archivrat, Liststraße 12, 70180 Stuttgart Neu haus, Helmut, Dr., Univ.-Prof., Universität Erlangen-Nürnberg, Lehr­ stuhl für Neuere Geschichte I, Institut für Geschichte, Kochstraße 4, 91054 Erlangen Rechter, Gerhard, Dr., Ltd. Archivdirektor, Etzelwanger Str. 52, 90482 Nürnberg Richter, Helmut, Dr., Archivdirektor, Stadtarchiv Fürth, Schlosshof 12, 90768 Fürth Röder, Thomas, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Nibelungenstr. 17, 90461 Nürnberg Sauer, Christine, Dr., Leiterin der Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Stadtbibliothek Nürnberg, Egidienplatz 23, 90317 Nürnberg Schieber, Martin M.A., Historiker, Palmsanlage 4a, 91054 Erlangen Schraudolph, Erhard, Dr., Historiker, Friedrich-Bauer-Straße 38, 91058 Erlangen Stadler, Daniela M.A., Historikerin, Rollnerstr. 50, 90408 Nürnberg Stolz, Georg, Baumeister St. Lorenz i.R., Stadtheimatpfleger, Kuckucksweg 6, 90768 Fürth Treml, Manfred, Prof. Dr., Vorsitzender des Verbandes bayerischer Ge­ schichtsvereine e.V., Direktor des Museumspädagogischen Zentrums in München, Austraße 18, 83022 Rosenheim Wächter, Clemens, Dr., Universitätsarchivar, Archiv der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Schuhstraße la, 91052 Erlangen Web er, Andreas Otto, Dr., Wissenschaftlicher Assistent, Schloßstr. 14, 91358 Kunreuth Weber, Marina, Verwaltungsangestellte, Stadtarchiv Nürnberg, Marientor­ graben 8, 90402 Nürnberg Weiß, Dieter J., Dr., Univ.-Prof., Universität Bayreuth, Bayerische und Frän­ kische Landesgeschichte, 95440 Bayreuth Wüst, Wolfgang, Dr., Univ.-Prof., Am Sonnenhang 4 V2, 86199 Augsburg Zahn, Peter, Dr., Univ.-Prof., Bibliotheksdirektor a.D., Beltweg 14, 80805 München Zweerman, Robert A. G., Willem Alexanderstraat 16, 6668CD Randwijk, Niederlande

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125 JAHRE VEREIN FÜR GESCHICHTE DER STADT NÜRNBERG GRUNDLINIEN UND TENDENZEN1 Von Michael Diefenbacher Für bayerische Verhältnisse recht spät und erst nach einigen gescheiterten An­ sätzen - nämlich erst am 17. Januar 1878 - konstituierte sich ein lokaler Nürn­ berger Geschichtsverein, der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg.2 Zu den früheren Ansätzen, in Nürnberg einen Geschichtsverein zu etablieren, zählt die von einer Initiative Hans von Aufseß’ 1833 ausgehende „Gesellschaft zur Untersuchung, Erhaltung und Bekanntmachung der Denkmäler älterer deutscher Geschichte, Literatur und Kunst“.3 Zweck dieses ältesten, jedoch überregional ausgerichteten Nürnberger Geschichtsvereins war - den lebens­ langen Intentionen Hans von Aufseß’ folgend - die Begründung einer mög­ lichst vollständigen Sammlung von „Denkmälern“ in Form von Originaldoku­ menten oder Kopien. Dies entsprach der Idee, die Aufseß 20 Jahre später mit der Errichtung des Germanischen Nationalmuseums verwirklichen konnte. Nach internen Auseinandersetzungen um die Ziele der Gesellschaft konsti­ tuierte sich diese 1836 unter dem Namen „Nürnberger Geschichtsverein“ neu.4 Nun ging man erstmals daran, sich verstärkt der lokalen Nürnberger Ge­ schichte, Literatur und Kunst zuzuwenden. Zum Vereinsvorsitzenden wurde Moritz Maximilian Mayer gewählt, der spätere Vorstand des Kreisarchivs (heute: Staatsarchiv) Nürnberg. Ihm gelang es allerdings nicht, die in den Ver­ einsstatuten gesteckten Ziele zu erreichen. Einziges Zeugnis seiner schrift­ lichen Vereinstätigkeit sind die 1842/43 erschienenen 35 Ausgaben einer Wo­ chenschrift mit dem Titel „Der Nürnberger Geschichts-, Kunst- und Al­ terthumsfreund“, „die jedoch mehr unterhaltenden als wissenschaftlichen Charakter hatte“5. Bald nach 1857 scheint sich der Nürnberger Geschichtsver-

1 Überarbeitete Fassung des Festvortrags zur 125-Jahr-Feier des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg im Großen Rathaussaal am 24. Januar 2003. 2 Generell: Rudolf Endres: 100 Jahre Nürnberger Geschichtsverein - 100 Jahre Nürnberger Ge­ schichte, in: MVGN 65 (1978), S. 9-26, Gerhard Hirschmann: Der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg in den letzten 25 Jahren 1953-1977, in: MVGN 65 (1978), S. 27-37, sowie die einschlägigen Artikel in: Michael Diefenbacher / Rudolf Endres (Hrsg.): Stadtlexikon Nürn­ berg, 2. Aufl. Nürnberg 2000. 3 Endres (wie Anm. 2), S. 11 f. 4 Hierzu und zum Folgenden Endres (wie Anm. 2), S. 12 f. 5 Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 335.

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ein aufgelöst zu haben und erst 1878 mit dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg einen dauerhaften Nachfolger gefunden zu haben. 114 Personen, fast ausschließlich aus der Schicht der so genannten Honora­ tioren, zählten am 17. Januar 1878 zu den Gründungsmitgliedern des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg.6 Die Gründung des Vereins erfolgte als Re­ aktion auf die 1869 begonnene Abtragung der Nürnberger Stadtbefestigung, die nach der Aufhebung der Festungseigenschaft der Stadt durch das König­ reich Bayern 1866 möglich geworden war.7 Die Nürnberger Stadtmauern soll­ ten einem großzügig geplanten Ringboulevard - dem Vorbild Wiens und ande­ rer Städte folgend - weichen. Den äußeren Anstoß zur Gründung des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg gab die 1877 in Nürnberg tagende General­ versammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums­ vereine. Bereits dem die Gründung vorbereitenden Komitee und somit dem Kreis der Gründungsväter gehörten herausragende Mitglieder des damaligen Magis­ trats an wie der Erste Bürgermeister Karl Otto Frhr. Stromer von Reichenbach und der Zweite Bürgermeister Christoph Wilhelm von Seiler.8 Stark vertreten war auch das ehemalige Nürnberger Patriziat mit Angehörigen der Familien Ebner, Fürer, Geuder, Grundherr, Haller, Harsdorf, Holzschuher, Imhoff, Kress, Löffelholz, Oelhafen, Praun, Scheurl, Stromer, Tücher, Volckamer und Welser. Die Haller stellten gleich fünf, die Tücher vier Gründungsmitglieder, mit dem Rechtsanwalt Georg Frhr. Kress von Kressenstein wurde ein An­ gehöriger dieser alten Nürnberger Familien der erste Vorsitzende des Vereins. Ebenfalls von Anfang an stark im Verein vertreten waren die Mitarbeiter der Nürnberger Archive, Bibliotheken und des Germanischen Nationalmuseums, so der Vorstand des Kreisarchivs (heute Staatsarchivs) Nürnberg Dr. Franz Heinrich oder Johannes Paul Priem, Custos und Verweser der Stadtbibliothek. Zum zweiten Vorsitzenden wählte man Dr. August Essenwein, den Direktor des Germanischen Nationalmuseums; Schriftführer und ab 1911 Nachfolger Kress von Kressensteins als Vorsitzender wurde Ernst Mummenhoff, der Lei­ ter des Stadtarchivs Nürnberg9. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass mit Prof. Dr. Großmann und Dr. Rechter auch heute wieder die Leiter des Germa­ nischen Nationalmuseums und des Staatsarchivs im Vorstand des Vereins mitarbeiten.10 Die Liste der Gründungsmitglieder liest sich wie ein „who is who“ 6 Hierzu und zum Folgenden Endres (wie Anm. 2), S. 13 f. 7 Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 247. 8 Hierzu und zum Folgenden vgl. Vereinschronik in: MVGN 1 (1879), S. I-XIV. 9 Zu ihm zuletzt Michael Diefenbacher: Dr. phil. h. c. Ernst Mummenhoff (1848-1931) zum 150. Geburtstag, in: MVGN 85 (1998), S. 327-332. 10 Prof. Dr. Großmann seit 2000, Dr. Rechter seit 2001.

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Nürnbergs in der frühen Kaiserzeit: Gutsbesitzer, Fabrikanten, Großhändler, Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Bankiers, Druckereibesitzer, Profes­ soren, hohe Militärs und Staatsbeamte. Pfarrer, Lehrer und Privatgelehrte zählen dabei schon eher zu den „unteren“ Bereichen der gesellschaftlichen Schichtung des Vereins.11 Damals hatte der Verein also eine wesentlich andere Struktur als heute. Von Anfang an hatte sich der Verein zum Ziel gesetzt, die Kenntnis der ge­ schichtlichen und kulturellen Entwicklung Nürnbergs und seines Territoriums zu fördern, hierzu Quellen zu erschließen und wissenschaftlich zu verarbeiten und darüber hinaus das Interesse für die Geschichte Nürnbergs in der Bevöl­ kerung zu beleben.12 Damit versteht sich der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg zugleich als wissenschaftlicher Verein und als Volksbildungsverein. Um diese Ziele zu erreichen, veranstaltet der Verein heute acht bis neun Vor­ träge im Jahr zu geschichtlichen Themen, Kolloquien zu besonderen ge­ schichtlichen Themenstellungen, Führungen zu historischen bzw. kunsthisto­ rischen Ausstellungen, Stadtführungen zu speziellen Aspekten der Stadtge­ schichte und eine bis zwei Tages- und Halbtagesexkursionen im Jahr. Diese Veranstaltungen werden von den Mitgliedern des Vereins, aber auch von vielen Gästen, gerne angenommen und sind aus der Vereinstätigkeit nicht mehr weg­ zudenken. 1879 wurden die Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürn­ berg ins Leben gerufen,13 deren 89. Band kurz vor Weihnachten letzten Jahres erschienen ist,14 - eine Zeitschrift mit einem national und international sehr guten Ruf in der historischen Forschung. Bislang wurden ca. 1.000 Aufsätze zur Nürnberger Geschichte in diesen Bänden mit insgesamt fast 35.000 Druck­ seiten veröffentlicht. Wie wertvoll diese in 125 Jahren publizierten „Bausteine“ zur Nürnberger Stadtgeschichte auch heute noch sind, hat das Redaktionsteam am Nürnberger Stadtlexikon bei dessen Erarbeitung dankbar feststellen kön­ nen - auch tagtäglich erleben dies die Nürnberger Archivare als Wahrer und Verwalter der Nürnberger Geschichte, wenn sie mit ihrer Hilfe Anfragen schnell und fundiert beantworten können. Auswahlkriterien zur Aufnahme eines Beitrags in die „Mitteilungen“ sind für die Schriftleitung seit jeher der Nürnberg-Bezug und die wissenschaftliche

11 Mitgliederverzeichnis in: MVGN 1 (1879), S. XV-XX. 12 Aktuelle Satzung des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg vom 4. Februar 1997, Art. 1, gedruckt in: MVGN 84 (1997), S. 321-324. 13 MVGN 1 (1879). 14 MVGN 89 (2002).

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Bearbeitung.15 Gerade der letztgenannte Aspekt spielt eine große Rolle - gilt es für die „Mitteilungen“ doch, ihren Ruf als wissenschaftlich renommierte histo­ rische Zeitschrift zu verteidigen. Ihr Lesepublikum besteht somit auch nur zum Teil aus den Vereinsmitgliedern und mindestens in gleichem Maße aus Angehörigen historischer sowie verwandter Fachkreise in der ganzen Welt. Aufgenommen werden Beiträge nach Angebot. Von den jährlich rund 15 offe­ rierten Manuskripten werden ca. ein Drittel abgelehnt, ein weiteres Drittel wird mit Anderungs- und Ergänzungswünschen an die Autoren zurückgege­ ben und ein Drittel ist in der Regel nur noch redaktionell zu bearbeiten. So kommen zur Zeit jährlich etwa zehn Aufsätze zur Publikation - ähnlich viele, wie durchschnittlich in allen vorliegenden Bänden gedruckt wurden. Aufgrund der geschilderten Verfahrensweise wird regelmäßig ein kleiner Rückstau an Beiträgen produziert, die bei Redaktionsschluss noch nicht zur Zufriedenheit der Schriftleitung ausgefallen sind, aber generell Zustimmung finden und deshalb für kommende Bände zurückgestellt werden. Der Kreis der selbständig die „Mitteilungen“ bedienender Autoren rekrutiert sich aus Nürn­ berg-Forschern und anerkannten Universitätslehrern bzw. -mitarbeitern von Bologna bis Bergen und von Barcelona bis Bukarest. Darüber hinaus liefert die gezielte Zusammenarbeit des Stadtarchivs Nürn­ berg wie auch des Staatsarchivs mit den umliegenden Universitäten ErlangenNürnberg, Bamberg, Bayreuth, Würzburg, Regensburg und Eichstätt im Be­ reich von Magisterarbeits-, Examensarbeits- und Dissertationsthemen immer wieder Nachschub an Aufsätzen. Und auch das Vortragsprogramm des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, das sich verstärkt auf junge Kräfte mit neuen Forschungsergebnissen stützt, liefert Jahr für Jahr zwei bis drei Beiträge. Da zudem mit einem meist mehr als 50 Seiten umfassenden Rezensionsteil zu rechnen ist, erreichten die „Mitteilungen“ über die gesamte Dauer ihres Beste­ hens einen durchschnittlichen Umfang von 373 Seiten pro Jahresband. Die Vereinsmitglieder erhalten die Bände bei einem jährlichen Mitgliedsbeitrag von derzeit € 25 kostenlos, im Buchhandel werden die Bände zu einem Preis von etwa € 40 verkauft. Um umfangreichere Arbeiten publizieren zu können, die den Rahmen der „Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg“ sprengen wür­ den, eröffnete der damalige „Vereinsführer“ und Schriftleiter der „Mitteilun­ gen“ Dr. Gerhard Pfeiffer 1941 die Reihe der Nürnberger Forschungen mit dem Untertitel „Einzelarbeiten zur Nürnberger Geschichte“. Als Band 1 die15 Vgl. hierzu und zum Folgenden Michael Diefenbacher: Der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg und seine Publikationen, in: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins 68 (1998), S. 49-53, hier: S. 49 f.

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ser Reihe wurde die 1939 vorgelegte Dissertation Ingeborg Stöpels über „Nürnbergs Presse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ publiziert16. Bis heute sind 29 Bände erschienen, darunter bedeutende Festschriften wie zum Albrecht-Dürer-Jahr 197117, zum Hans-Sachs-Jahr 197618 oder die Beiträge der Ringvorlesung „Nürnberg - europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit“, die die Universität Erlangen-Nürnberg im Wintersemester 1999/2000 anlässlich der 950-Jahr-Feier der Stadt veranstaltete19. Daneben sind gewichtige Mono­ graphien in dieser Reihe erschienen wie die Forschungen Wolfgang von Stro­ mers zur Handelsfirma Gruber-Podmer-Stromer20, Lore Sporhan-Krempels zu Nürnbergs Rolle als Informationszentrale der Frühen Neuzeit21, Hektor Ammanns zur wirtschaftlichen Bedeutung der Reichsstadt im Spätmittelalter22, Christa Schapers zu der Patrizier- und Kaufmannsfamilie Hirschvogel23 oder Karl Kunzes zum Kriegsende in Franken und Nürnberg 194524 und auch Nachschlagewerke wie Günther Friedrichs Bibliographie zum Patriziat der Reichsstadt Nürnberg25. Zur Zeit wird Band 30 erarbeitet, ein Nürnberger Glockenbuch, das der Geschichte sämtlicher Glocken im heutigen Stadtgebiet nachgeht - ein Buch, das noch heuer im Jubiläums)ahr erscheinen soll. Neben dem Geschichtsverein ist der Verein für bayerische Kirchengeschichte in dieses Projekt eingebunden, das mit zwei CDs mit historischen und aktuellen Klang­ beispielen von Nürnberger Glocken abgerundet werden wird.

16 Ingeborg Stöpel: Nürnbergs Presse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Nürnberger For­ schungen 1), Nürnberg 1941. 17 Albrecht Dürers Umwelt. Festschrift zum 500. Geburtstag (Nürnberger Forschungen 15), Nürnberg 1971. 18 Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Geburtstag am 19. Januar 1976, hrsg. v. Horst Brunner, Gerhard Hirschmann, Fritz Schnelbögl (Nürnberger Forschungen 19), Nürnberg 1976. 19 Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Helmut Neuhaus (Nürn­ berger Forschungen 29), Nürnberg 2000. 20 Wolfgang Frhr. Stromer von Reichenbach: Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Pod­ mer-Stromer im 15. Jahrhundert (Nürnberger Forschungen 7), Nürnberg 1963. 21 Lore Sporhan-Krempel: Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700 (Nürnber­ ger Forschungen 10), Nürnberg 1968. 22 Hektor Ammann: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (Nürnberger Forschungen 13), Nürnberg 1970. 23 Christa Schaper: Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus (Nürnberger Forschun­ gen 18), Nürnberg 1973. 24 Karl Kunze: Kriegsende in Franken und der Kampf um Nürnberg im April 1945 (Nürnberger Forschungen 28), Nürnberg 1995. 25 Günther Friedrich: Bibliographie zum Patriziat der Reichsstadt Nürnberg (Nürnberger For­ schungen 27), Nürnberg 1994.

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Einen weiteren Schwerpunkt der Vereinsarbeit bilden seit jeher gezielte For­ schungsprojekte, die der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg anregt und meist auch finanziell unterstützt. So wurden seit Gründung des Vereins bis zu deren Einstellung in den 1980er Jahren die beim Stadtarchiv Nürnberg ange­ siedelten Arbeiten am Nürnberger Urkundenbuch begleitet.26 Das Nürnberger Urkundenbuch, das mit den Nürnberger Urkunden bis 1300 im Jahr 1959 er­ schienen ist,27 war 1878 eines der Hauptanliegen der Gründungsväter des Ver­ eins und ist 1883/86 vom Vereinsvorstand, dem städtischen Archivleiter Mum­ menhoff und dem Erlanger Universitätsprofessor Robert Pöhlmann mit Un­ terstützung des Nürnberger Magistrats angeschoben worden.28 Dass das Pro­ jekt unter Kuno Ulshöfer als Leiter des Stadtarchivs eingestellt wurde, liegt nicht nur am schieren Umfang der Überlieferung zu Nürnberg, sondern noch mehr in der Tatsache begründet, dass die modernen Urkundeneditionen vom Prinzip der nach Pertinenzgesichtspunkten aufgebauten Gesamteditionen weg- und zu provenienzartig angelegten Fondseditionen übergingen. Immer­ hin liegen im Stadtarchiv Nürnberg die bei Einstellung des Projekts „Nürnber­ ger Urkundenbuch" bereits erstellten Vorarbeiten zu den Urkunden bis 1500. Diese werden zur Zeit peu ä peu von Werkstudenten in die EDV eingegeben, damit sie zukünftig einem größeren Kreis von Forschern zur Verfügung ge­ stellt werden können. So sind bis Ende 2002 846 Regesten (= Datensätze) im Zeitraum 1301-1346 erfasst worden.29 Desgleichen regte der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg bereits in der Frühzeit seines Bestehens die Inventarisierung Nürnberger Bürgerhäuser und ihrer Ausstattung an und hat dieses Projekt auch mit erheblichen Mitteln unterstützt. Das zwischen 1880 und 1942 erstellte so genannte „Bürgerhaus­ werk" - 1904 bis 1914 von Fritz Traugott Schulz30 betreut - steht als Teil des Vereinsarchivs im Stadtarchiv Nürnberg der Forschung zur Verfügung.31 Ein ähnliches Projekt war die Inventarisierung Nürnberger Porträts, die zu der zwischen 1967 und 1981 erstellten Nürnberger Porträtkartei führte, die eben­ falls als Teil des Vereinsarchivs im Stadtarchiv für die Öffentlichkeit einsehbar ist.32 26 Zu den Arbeiten am Nürnberger Urkundenbuch vgl. StadtAN C 36/1 Nr. 213-249. 27 Nürnberger Urkundenbuch, bearb. vom Stadtarchiv Nürnberg (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Nürnberg 1), Nürnberg 1959. 28 Nürnberger Urkundenbuch (wie Anm. 27), Vorwort. 29 Die Vorarbeiten zum Urkundenbuch: StadtAN F 5 Nr. 1, die elektronische Datenbank: StadtAN GSI162. 30 Zu ihm s. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 957. 31 StadtAN E 6/687 Nr. 161-178. 32 StadtAN E 6/687 Nr. 274-294.

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Zur Zeit betreut und finanziert der Verein die Erstellung eines Häuserbuchs der Lorenzer Stadtseite. Das Projekt „Häuserbuch der Stadt Nürnberg“, ange­ regt und erarbeitet auf der Grundlage archivalischer Quellen von dem ausge­ wiesenen Nürnberger Häuserforscher Karl Kohn, soll den reichsstädtischen Häuserbestand innerhalb der so genannten vorletzten Stadtmauer sichern: Für jedes der ca. 2.000 Einzelgebäude in der inneren Altstadt Nürnbergs wird eine Besitzerliste von den Anfängen (meist erst seit 1479 möglich) bis 1806 erstellt. Für den inneren Teil der Sebalder Altstadt liegt ein Häuserbuch mit 1.277 Ein­ zelobjekten als Typoskript bereits vor,33 so dass seit 1995 noch etwa 675 An­ wesen der Lorenzer Stadtseite bearbeitet werden müssen. Es handelt sich dabei um Grundlagenforschung, da hierfür noch keinerlei Vorarbeiten vorhanden sind.34 Für das einzelne Haus werden folgende Angaben erhoben: die genaue Straßenbezeichnung, die alte, von 1796 bis 1865 gültige Hausnummer und die Flurnummer nach dem Kataster, eine Kurzbeschreibung des Anwesens, wie sie aus dem Katasterplan entnommen werden kann (z.B.: Reihenhaus mit Hof, Seitengebäude, Hinterhaus und Gärtlein), die Besitzerfolge (Verkaufsjahr, Ver­ tragsparteien, topographische Beschreibung des Objekts, Kaufpreis, Hypothe­ kenbelastung). Das Ganze wird ergänzt durch Quellennachweise und Sacher­ läuterungen. Nach Fertigstellung des Häuserbuchs der Lorenzer Stadtseite ist ab voraus­ sichtlich 2005/06 eine Veröffentlichung des Gesamtwerks geplant. Dadurch wird ein gewaltiger Bestand an Quellen aufbereitet und dargeboten, der Ein­ zelinformationen zu einer breiten Palette von Wissensgebieten bereitstellt wie z. B.: • zur Bau- und Kunstgeschichte, • zur Identifizierung von Bauherren durch Initialen und Wappen, • zur Zuordnung von Jahreszahlen zu Hausbesitzern und von Ausstattungs­ stücken wie Erkern, Chörlein, Figuren und Gemälden zu bestimmten Häu­ sern, • zur Bevölkerungsgeschichte, • zu genealogischen Verbindungen, • zur Rechtsgeschichte durch genauere Kenntnis besonderer Rechtsbezirke (Muntate), • zum Nachweis von Kirchen- und Klosterbesitz (z.B. Pfründhäuser), 33 StadtAN F 5 Nr. 317. 34 Diese und die folgenden Angaben verdanke ich Herrn Karl Kohn, Nürnberg.

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zur Lage der Seel- bzw. Beginenhäuser, zu Niederlassungen auswärtiger Klöster, zur Bebauung der einzelnen Wohnquartiere, zur Feststellung ehemaliger Zusammengehörigkeit von Parzellen, Haustei­ lungen und -Zusammenlegungen, • zur Entwicklung der Straßennamen, • zu Immobilienwerten im Quer- und Längsschnitt, • zur Massierung von Grundbesitz in der Hand einzelner Bürger, • zu Wohnsitzen und Faktoreien auswärtiger und ausländischer Familien, • zur Belastung der Objekte mit Hypotheken, Dienstbarkeiten u.a., • zur ständischen Zusammensetzung der Wohnquartiere, • zum Gewerbekataster (Apotheken, Bäckereien, Badstuben, Schmieden, Wirtshäuser etc.), • zur Identifizierung der Wohnhäuser von Erfindern, Gelehrten, Künstlern, • zur Lage der Judenviertel, • zu Wohnquartieren von Residenten auswärtiger Staaten, • zum Kauf und Verkauf von Kommunalbesitz. Das Häuserbuch der Sebalder Stadtseite wurde in den 1970er Jahren fertig­ gestellt,35 das Häuserbuch der Lorenzer Stadtseite - 1995 begonnen - soll bis 2005 abgeschlossen sein. Finanziert wird das Projekt vom Verein für Ge­ schichte der Stadt Nürnberg mit Unterstützung der Sparkasse Nürnberg und der Friedrich Frhr. von Haller’schen Forschungsstiftung36. Betreut wird das Projekt vom Stadtarchiv Nürnberg. Es bleibt die Frage, wie der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg all diese Aufgaben finanziert. Für seine Publikationen kommen die Vereinsmit­ glieder mit ihren jährlichen Beiträgen und Spenden auf.37 Diese jährlichen Beiträge - aufgestockt um Zuschüsse der Stadt Nürnberg, der Sparkasse Nürn­ berg und des Bezirks Mittelfranken38 - reichen gerade aus, um den Jahresband, das Vortragsprogramm und die laufenden Verwaltungskosten39 zu finanzieren.

35 StadtAN F 5 Nr. 317. 36 Zu ihr vgl. Michael Diefenbacher: Die Friedrich Freiherr von Hallersche Forschungsstiftung. 50 Jahre Nürnberger Wissenschaftsförderung, in: MVGN 82 (1995), S. 329-335. 37 Im Jahr 2002: €24.562,15. 38 Insgesamt im Jahr 2002: € 7.900. 39 Ausgaben für Druckkosten, Vorträge und Verwaltung 2002: insgesamt € 32.774,43.

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Letztere sind ohnehin gering, da die Arbeit im Verein ebenso ehrenamtlich ist wie die Arbeiten der Schriftleitung an den Publikationen. Die Betreuung des Vereinsarchivs und der Vereinsbibliothek von derzeit etwa 16.000 Bänden so­ wie die Führung der Geschäftsstelle erfolgt durch das Stadtarchiv Nürnberg. Nur in dieser Verbindung mit der Stadt Nürnberg können die Kosten so ge­ ring und der Mitgliedsbeitrag dadurch so günstig gehalten werden. Für die Sonderprojekte40 reichen die Mitgliederbeiträge jedoch nicht aus. Zum Glück wurde der Verein in den Jahren 1991 und 1996 mit zwei Vermächtnissen be­ dacht, die an baren Geldern - in Bundesschatzbriefen angelegt - insgesamt 276.500 DM umfassten.41 Beide Vermächtnisse sollen als Kapitalfonds erhalten bleiben, die Zinseinnahmen daraus jedoch den Vereinszwecken zur Verfügung stehen. Hieraus wurde bislang der Vereinsbeitrag am Häuserbuchprojekt ge­ sichert. Diese Einblicke in die geleisteten und laufenden Tätigkeiten zeigen, dass der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg auch 125 Jahre nach seiner Grün­ dung vor großen Aufgaben steht. Er wird sie lösen können, wenn auch in Zu­ kunft immer wieder genügend Mitglieder zu ihm stoßen, die Geschichte so be­ trachten und einschätzen, wie sie der Literaturhistoriker Wapnewski charakte­ risiert hat: „Wenn Geschichte nicht verwechselt wird mit bloß Gewesenem; wenn Geschichte aktiviertes Gedächtnis ist, eingeholte Vergangenheit; wenn Geschichte betreiben heißt, eine Sache aus ihren Voraussetzungen verstehen und in ihren Folgen; wenn, mit einem Wort, Geschichte als Unterbau der je­ weiligen Gegenwart verstanden wird; als Chance, aus Vergangenem das Ge­ genwärtige zu begreifen und das Künftige zu vermuten: dann ist Geschichte die redlichste Schutzwehr gegen die Verführung durch plakative Illusionen und penetrante Ideologie, gegen die Suggestion der heillosen Heilsversprechung"42.

40 In das Projekt „Häuserbuch“ investierte der Verein 2002: € 10.225,84. 41 1991 das Vermächtnis von Frau Berta Zwingei, vgl. Jahresbericht über das 114. Vereinsjahr 1991, in: MVGN 79 (1992), S. 258, das zum Teil 1993 mit 205.000 DM kapitalisiert werden konnte vgl. Bericht des Schatzmeisters, in: MVGN 81 (1994), S. 338. - 1996 Teile des Vermächtnisses Elisabeths von Praun in Höhe von 71.500 DM - vgl. Bericht des Schatzmeisters, in: MVGN 84 (1997), S. 317. 42 Zitiert nach Gerhard Hirschmann: Begrüßungsansprache zur Hundertjahrfeier am 22. Januar 1978, in: MVGN 65 (1978), S. 1-5, hier: S. 5.

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GESCHICHTSVEREINE IN BAYERN: GESCHICHTE - FUNKTIONEN - PERSPEKTIVEN Von Manfred TremF Zu diesem umfassenden Thema, das aufgrund deutlicher Forschungsdefizite und einer bunten Vielfalt an Aspekten durchaus für eine Habilitation geeignet wäre, lassen sich - aufbauend auf weit verstreuten wissenschaftlichen Erträgen und auf der Verbandserfahrung des Verfassers - nur einige skizzenhafte Über­ legungen beitragen. Ein intensiveres Bemühen der landesgeschichtlichen Fach­ institutionen und des Verbandes der bayerischen Geschichtsvereine, der im Jahre 2006 sein 100-jähriges Jubiläum begeht, steht noch aus. Die Darstellungen zur Geschichte der Geschichtsvereine in Bayern konzen­ trieren sich daher immer noch auf das 19. Jahrhundert und auf die durch kö­ nigliche Verfügung angeregte Gründung von Kreisvereinen seit 1830.1 Eine vom Haus der Bayerischen Geschichte publizierte Bibliografie stellt bestenfalls eine brauchbare Arbeitsgrundlage für weiterführende Studien dar.2 Gleiches gilt für das vom Verband bayerischer Geschichtsvereine herausgegebene „Handbuch“,3 das lediglich den Zugang zu den Einzelvereinen und ihren Pub­ likationen erleichtert. Jubiläumsreden und Festansprachen zu besonderen Anlässen finden sich dort in größerer Zahl, nur wenige davon allerdings bewe­ gen sich auf kritisch-wissenschaftlichem Niveau.4 Gesellschaftsgeschichtliche Fragestellungen und zeitgeschichtliche Problemdiskussionen fehlen fast voll-

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Version eines Vortrags, der am 25. Januar 2003 im Rahmen des Symposions „Geschichtsvereine als gesellschaftliche Kraft“ beim Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg gehalten wurde. Gertrud Stetter: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern bis zur Mitte des 19. Jahr­ hunderts, Diss. phil., München 1963; Siegfried Wenisch: König Ludwig I. und die historischen Vereine in Bayern, in: Johannes Erichsen / Uwe Puschner (Hrsg.): „Vorwärts, vorwärts sollst du schauen ..." Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I. (Veröffentlichungen zur Bayeri­ schen Geschichte und Kultur 9), München 1986, S. 323-339. Gerhard Stalla: Geschichte der Geschichtsvereine in Bayern. Eine Bibliografie (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 7), Augsburg 1999. Handbuch der bayerischen Geschichtsvereine, hrsg. vom Verband bayerischer Geschichtsver­ eine e.V., Bamberg 1993. Positive Beispiele aus jüngerer Zeit: Hubert Glaser: „Der geschichtliche Boden ist ein fester“. Festrede zur 150-Jahr-Feier des Historischen Vereins von Oberbayern, in: Oberbayerisches Ar­ chiv 113 (1990), S. 7-21; Hans-Michael Körner: Der Historische Verein. Kontinuität und Wan­ del einer Erfindung des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Verbands bayerischer Ge­ schichtsvereine 19 (2000), S. 1-18.

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ständig. Heimpels klassische Darstellungen,5 Nipperdeys Anregung zu lokalen und regionalen Studien6 und die von Klaus Pabst empfohlenen Schwerpunkte7 haben in der landesgeschichtlichen Forschung noch zu wenig Niederschlag ge­ funden. In einer Art Zwischenbilanz nehmen die Bensberger Protokolle 19908 immerhin die kritischen Anregungen von Pabst auf und thematisieren auch die Kontroversen zwischen Geschichtsvereinen und Geschichtswerkstätten. Der Band „Aufgabe und Bedeutung historischer Vereine in unserer Zeit"9 nimmt außerdem die Verhältnisse in der DDR und in Österreich in den Blick und legt einen besonderen Akzent auf die landesgeschichtlichen Kommissionen. Fun­ dierte außerbayerische Einzeluntersuchungen zu den Rheinlanden10, zu Göt­ tingen11, Mannheim12 und Hamburg13 berücksichtigen darüber hinaus neue Forschungsansätze und sind durchaus als methodische Schrittmacher zu be­ werten. Besonderes Gewicht hat in den letzten Jahren die Kategorie „Regiona­ les Geschichtsbewusstsein" erlangt, deren Tragfähigkeit Georg Kunz in einer fundierten Untersuchung für das 19. Jahrhundert nachgewiesen hat.14 Eine Stu­ die von Gabriele Clemens rückten den „regionalen Nationalismus" in den Mit-

5 Hermann Heimpel: Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland, in: HZ 189 (1959), S. 139-222; ders: Geschichtsvereine einst und jetzt, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, hrsg. von Hartmut Boockmann u.a., Göttingen 1972, S. 45-73. 6 Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 5), S. 1-44. 7 Klaus Pabst: Historische Vereine und Kommissionen in Deutschland vor 1914, in: Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, München 1986, S. 13-38. 8 Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und Perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsar­ beit. Dokumentation einer Studienkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland / Referat Heimatpflege (Bensberger Protokolle 62), hrsg. von der Thomas-MorusAkademie Bensberg, Bergisch Gladbach 1990, bes. S. 9-32 und 35-40. 9 Aufgabe und Bedeutung historischer Vereine in unserer Zeit. Vorträge eines Symposiums zum 150-jährigen Bestehen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben am 4. Mai 1991, hrsg. von Hans Eugen Specker, Ulm 1992. 10 Gabriele John: 150 Jahre Verein von Altertumsfreunden im Rheinlande, Bonn 1991; Karl-Heinz Debacher: Regionales Geschichtsbewusstsein. Historische Vereine am Oberrhein unter beson­ derer Berücksichtigung des „Historischen Vereins für Mittelbaden“, Offenburg 1996. 11 Waltraud Hammermeister: 100 Jahre Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung 1892-1992, hrsg. vom Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung, Göttingen 1992. 12 Christoph Popp: Der Mannheimer Altertumsverein 1859-1949. Regionale Forschungen, Sozial­ struktur und Geschichtsbild eines Historischen Vereins (Mannheimer Historische Studien 10), hrsg. vom Historischen Institut der Universität Mannheim, Mannheim 1996 (mit vorzüglichem Forschungsüberblick und zahlreichen Literaturhinweisen). 13 Sebastian Husen: Vaterstädtische Geschichte im republikanischen Stadtstaat. Studien zur Ent­ wicklung des Vereins für Hamburgische Geschichte (1839-1914), Hamburg 1999. 14 Grundlegend für alle weiteren Forschungen zur Geschichte der Geschichtsvereine Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewusstsein in den deutschen Vereinen des 19. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), Göttingen 2000.

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telpunkt und bringt den nicht ausreichend berücksichtigten Anteil des Adels an den Vereinsgründungen des Vormärz in die Diskussion,15 obwohl das Ver­ einsleben des 19. und 20. Jahrhunderts inzwischen überzeugend als konstituti­ ves Element der Bürgerkultur erforscht ist.16 Vergleiche zwischen einzelnen deutschen Vereinen,17 mit den Vereinsstrukturen in anderen europäischen Län­ dern18 und mit anderen Vereinstypen bzw. Bereichen bürgerlichen Engage­ ments zum Schutz von Kultur und Natur, die aus der „Mentalität der Ret­ tung“19 entstanden waren, schärfen auch den Blick für die bayerische Vereins­ geschichte. Alle Ergebnisse der regional- und landesgeschichtlichen Forschung sind einzuordnen in den Rahmen, den gesellschaftsgeschichtliche Forschungen zum Vereinswesen,20 zur Kultur und zu den Kommunikationsformen des Bür­ gertums21 und zur bürgerlichen Erinnerungskultur22 abgesteckt haben. 15 Gabriele Clemens: Regionaler Nationalismus in den Historischen Vereinen des 19. Jahrhun­ derts, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 133-159. 16 Michael Sobania: Regeln und Formen bürgerlicher Assoziationen im 19. Jahrhundert, in: Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, hrsg. von Dieter Hein und Andreas Schulz, München 1996, S. 170-190; Ralf Zerhack: München und sein Stadtbürgertum: eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1770-1870, München 1997. 17 Kunz (wie Anm. 14) mit fünf deutschen Vereinen im Vergleich, darunter auch der Historische Verein für Oberfranken in Bayreuth und der Historische Verein zu Bamberg; Clemens (wie Anm. 15) untersucht sechs deutsche historische Vereine, darunter der Historische Verein für München und Oberbayern. 18 Lorenz Mikoletzky: Der Verband der österreichischen Geschichtsvereine - Vergangenheit, Ge­ genwart und ... Zukunft?, in: Aufgabe (wie Anm. 9), S. 41-48; Heinz Dopsch, Geschichtsver­ eine in Österreich, in: BldLG 138 (2002), i. Vorb.; Gabriele Clemens: Historische Vereine in Ita­ lien - Geschichtsschreibung im Dienste des Vaterlandes, in: BldLG 138 (2002), i. Vorb.; Cathrin Friedrich: Die Konstituierung von Regionalgeschichte in Sachsen und in der Bretagne und ihre Rolle für die regionale Identifikation, in: Comparativ 10 (2000), S. 93-107. 19 Thomas Adam: Rettung der Geschichte - Bewahrung der Natur. Ursprung und Entwicklung der Historischen Vereine und des Umweltschutzes in Deutschland von 1770 bis zur Gegenwart, in: BldLG 133 (1997), S. 239-277, hier S. 263; Frauke Michler, Der Gesamtverein und sein Bemühen um die frühe Denkmalpflege, in: BldLG 138 (2002), i. Vorb. 20 Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984; Etienne Frangois (Hrsg.): Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frank­ reich, Deutschland und der Schweiz, 1750-1850, Paris 1986; Wolfgang Hardtwig: Verein, Ge­ sellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner u.a., Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789-829; Heinrich Best (Hrsg.): Vereine in Deutsch­ land. Vom Geheimbund zur freien gesellschaftlichen Organisation, Bonn 1993. 21 Lothar Gail: Adel, Verein und städtisches Bürgertum, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 29-43; Bürgerkultur (wie Anm. 16); Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums: eine Bilanz des Bielefelder Sonderfor­ schungsbereichs (1986-1997), hrsg. von Peter Lundgreen, Göttingen 2000, bes. S. 13-39. 22 Peter Csendes: Vom Speicher des Gedächtnisses zum Gedächtnisort. Historische Vereine, in: Franz Csäky / Peter Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs - Die Systematisierung der Zeit, Wien 2000, S. 103-116.

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1. Geschichte Die Ergebnisse aus diesen Forschungen lassen auch für Bayern ein Phasenmo­ dell der Entstehung und eine grobrasterige Typologie von Vereinen erkennen.23 a) Der aufklärerische Vorlauf Die beiden wesentlichen Wurzeln für die Gründung von historischen Vereinen liegen in der Aufklärung und in der politischen Romantik. Die aufgeklärten „Lesegesellschaften“, typische Kinder der bürgerlichen Emanzipationsbewe­ gung, und die ökonomisch-patriotischen Gesellschaften waren mit ihren Bemühungen um Bildung, Archäologie und museale Sammlungen frühe Vor­ läufer. In München entstand immerhin bereits 1702/03 die „Nutz- und Lust­ erweckende Gesellschaft der Vertrauten Nachbarn am Isarstrom“, in der sich seither weltliche und geistliche Freunde zur Pflege der Historie und zu gegen­ seitiger literarischer „Erheiterung“ zusammenfanden, durchaus ein geistiger Vorläufer der Akademie der Wissenschaften, in der sich seit 1759 ein „breites bürgerlich-adeliges Publikum“ versammelte.24 b) Romantisch-integrative Staatsvereine Von Heimatliebe und Nationalbewusstsein waren die wenige Jahrzehnte später entstandenen „Geschichts- und Altertumsvereine“ geprägt, die aus der „vater­ ländischen“ Begeisterung der Befreiungskriege entstanden und zum Teil be­ reits auf regionalen Vorläufervereinen aufbauten. Zu ihnen gehörten in Bayern der „Historische Verein für Oberfranken“ in Bayreuth und der „Historische Verein für die Pfalz“ in Speyer. Staatliche Verfügungen dienten als Geburtshel­ fer für die übrigen Kreisvereine Bayerns. König Ludwig I. gab in einem Kabi­ nettsbefehl am 19. Mai 1827 dazu den Anstoß. Seit 1830 entstanden in allen Re­ gierungsbezirken entsprechende Vereine, die vor allem als Instrumente staatli­ cher Integration und mit der klaren Zielsetzung einer staatsbayerischen Iden­ tität wirken sollten.25 Nicht zufällig dominierten in ihnen die Beamtenschaft und das Bildungsbürgertum, mit deren Unterstützung oppositionellem Den­ ken vorgebeugt werden sollte. 1835 wurden diese Kreisvereine durch könig-

23 Kunz (wie Anm. 14), S. 26-29, verweist auf die Typologien von Marwinski (Lokalverein, Terri­ torialverein, Regionalverein) und von Schneider (Rekurs auf ehemals selbständiges Territorium, Orientierung an neugebildetem Territorium des 19. Jahrhunderts, Bezug auf überstaatliche Ge­ schichtslandschaft und auf kleinräumig-lokale Ebene). 24 Zerback (wie Anm. 16), S. 72. 25 Stetter (wie Anm. 1); Wenisch (wie Anm. 1).

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liehe Verordnung eng an die Bayerische Akademie der Wissenschaften gebun­ den, in erster Linie, um damit die wissenschaftlichen Grundlagen zu sichern, wohl aber auch, um Spontaneität und politischen Aktionismus zu verhindern. Dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein „verbürgerlichter Adelstypus“26 im Vereinsleben eine weitaus größere Rolle gespielt hat als bisher unter dem Paradigma der Dominanz des Bürgertums angenommen wurde, sollte in weiteren Detailforschungen erhärtet werden.27 c) bürgerlich-identifikatorische Stadtvereine Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts blühte als Konkurrenz das stadtgeschicht­ liche Vereinswesen auf, die „Gruppe der Selbstverständlichkeiten“ mit iden­ titätsstiftender Funktion,28 wobei der Typus der jeweiligen Stadt für die Mitgliederstruktur und die Vereinsziele von entscheidender Bedeutung war. Diese städtischen Honoratiorenvereine wurden häufig geführt von Archivaren, Gymnasiallehrern, Pfarrern, Ärzten und Apothekern, also von Vertretern der gebildeten städtischen Oberschicht, die sowohl über historischen Sachverstand als auch über professionelle Methoden verfügten. Als Zentren lokaler Ge­ schichtspflege leisteten diese Vereine über Jahrzehnte hinweg nicht nur fun­ dierte Forschungsarbeit, sondern trugen auch zur historischen Bildung der Ge­ bildeten bei. Sie sicherten das Wissen über ihre Stadt und Region durch Quel­ leneditionen, lange Zeit unangefochten und konkurrenzlos, aber oft auch et­ was abgehoben und manchmal sogar exklusiv bis elitär. Das Zusammenwirken von regionalem Geschichtsbewusstsein und nationa­ ler Orientierung lässt sich besonders signifikant am „Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg“ nachweisen.29 Gegen den ungeliebten und für die Tradition der ehemaligen Reichsstadt ungeeigneten Kreisverein in Ansbach entstand be­ reits 1833 der „Nürnberger Altertums- und Geschichtsverein“, der allerdings nicht von Bestand war. Einen zweiten, diesmal erfolgreichen Anlauf unter­ nahm man im Gefolge des 25-jährigen Jubiläums des Germanischen National-

26 Zerhack (wie Anm. 16), S. 73. 27 Clemens (wie Anm. 15), S. 140. 28 Heimpel, Geschichtsvereine (wie Anm. 5), S. 53; zur identitätsstiftenden Funktion der stadtge­ schichtlichen Vereine Georg Klötzer: Geschichtsvereine - Mittler zwischen gestern und mor­ gen, in: Der Wormsgau 13 (1979/81), S. 8-13, bes. S. 11; Heinrich Schmitt: Über Geschichts­ vereine und Geschichtsbewusstsein in nordwestdeutschen Hansestädten, in: Hansische Geschichtsblätter 100 (1982), S. 1-20, bes. S. 20; Körner (wie Anm. 4), S. 5 u. 14. 29 Christoph Freiherr von Imhoff: Nürnberg neu entdeckt. Hundert Jahre Geschichtsverein 1878-1978, Nürnberg 1978; Gerhard Hirschmann: Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg e.V., in: Mitteilungen des Verbandes der bayerischen Geschichtsvereine 15 (1991), S. 39-42.

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museums, das 1852 vom Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Alter­ tumsvereine gegründet worden war.30 Am 17. Januar 1878 fand die Grün­ dungsversammlung statt. Ein Vorstand, in dem das alte Nürnberger Patriziat und das höhere Bildungsbürgertum die entscheidenden Funktionen innehatte, nahm sich nun der großen Gestalten, der Kunst, der Bauten und der Privatar­ chive der Stadt an und stimulierte mit dem Blick auf die große Vergangenheit der Stadt den Bürgersinn und das Bewusstsein der Zeitgenossen, um gegenüber Ansbach, der Hauptstadt des Regierungsbezirkes, und vor allem gegenüber der Haupt- und Residenzstadt München mit dem Verweis auf eigenständige kultu­ relle Traditionen den realen Verlust an Autonomie zu kompensieren.31 Durch diesen Schritt wurde ein Schwachpunkt der historischen Vereinsbildung in Bayern entscheidend korrigiert, nämlich die Dominanz gesamtstaatlicher In­ teressen und die Instrumentalisierung für politische Integrationsziele. Neben dem historischen Verein für Mittelfranken in Ansbach entstand so in der ein­ stigen Reichsstadt von europäischem Format, dem früheren „Schatzkästlein des Heiligen Römischen Reiches“, ein vom Geschichtsbewusstsein des höhe­ ren Bürgertums und des alten Patriziats getragener Verein, der durchaus auch in der Vergangenheit Argumente gegen einen fortschreitenden Zentralismus und Begründungen für den Eigenwert des Regionalen und Lokalen fand. Dass dieses regionale kulturelle und politische Erbe, aufbauend auf einem über die Brüche des frühen 19. Jahrhunderts hinübergeretteten Reichsbewusstsein, auch nationale Bezüge aufwies, zeigt nicht nur die enge Verbindung zum Ge­ samtverein, sondern auch die Themenwahl bei Vorträgen und Publikationen, die oft weit über Nürnberg hinaus auf deutsche und europäische Zusammen­ hänge verwies. Am Beispiel Nürnbergs lässt sich auch die zunehmende Diffe­ renzierung des Vereinswesens vorzüglich darstellen, ein Phänomen, das dem Trend zur fortschreitenden Individualisierung zwar entgegenkommt, zugleich aber der Zersplitterung der kulturellen Kräfte Vorschub leistet. Immerhin lei­ sten in Nürnberg heute der „Verein der Altstadtfreunde“, der „Altnürnberger Landschaft“, der „Frankenbund“, mehrere Vorstadtvereine, einige Geschichts­ werkstätten und der Verein „Geschichte Für Alle“ oft neben- und manchmal auch gegeneinander historische Vermittlungsarbeit.

30 Alfred Wendehorst: 150 Jahre Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, in: BldLG 138 (2002), i. Vorb. 31 Werner K. Blessing: Der Schein der Provinzialität: Nürnberg im 19.Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, NF 29 (2000), S. 75: „Auf Dauer zog München mit seinen Museen, einem vitalen Künstlermilieu und einem vor allem durch öffentliche Auftraggeber überlegenem Markt immer mehr Talente ab. Nürnberg verlor auf diesem Sektor weitgehend seine Zukunft.“

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d) Heimatvereine Gegen Ende des Jahrhunderts tauchten populäre Rivalen der bestehenden bür­ gerlichen Vereine auf, Kinder der Heimatschutzbewegung32, ungebärdig wie diese, volksbezogen und oft emotional bewegt. Diese Vereine waren nüchter­ ner Wissenschaftlichkeit abhold; sie propagierten Schutz der und Liebe zur Heimat, gingen über den rein historisch-archäologischen Rahmen weit hinaus ins Volkskundliche und ins Naturkundliche. Sie brachten damit zugleich ein ganzheitliches Element und die engagierte Tatkraft einer Laienbewegung mit ein, die vor allem im ländlichen Raum den traditionellen Geschichtsvereinen das Feld mit Erfolg streitig machte. Sie wurden aber auch geprägt von der Modernisierungs- und Zivilisationskritik, dem Kulturpessimismus und Irrationa­ lismus der Gesamtbewegung, die sich 1904 im Bund „Der deutsche Heimat­ schutz“ organisierte. Trotz dieser ideologischen Bindung wurden viele Heimatvereine in Bayern zu einem bis heute wirksamen Bestandteil regionaler und lokaler Geschichts­ pflege, wenngleich sie häufig neben dem oder manchmal sogar gegen den histo­ rischen Verein der eigenen Region agierten. Noch in den 50er Jahren des ver­ gangenen Jahrhunderts wurde in der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ein kontroverser Disput ausgetragen, der dafür kennzeichnend ist. 1949 hatte der Münchner Lehrstuhlinhaber für bayerische Landesgeschichte, Max Spindler, unmissverständlich erklärt: Die Aufgabe der größeren historischen Vereine liegt auf einer anderen und höheren Ebene als der Heimatkunde und Heimat­ pflege. Sie besteht in der Pflege der Geschichte auf wissenschaftlichem Weg.33 Der populäre schwäbische Bezirksheimatpfleger Alfred Weitnauer artikulierte dazu eine deutliche Gegenposition, indem er die Schwächen der historischen Vereine aufzählte und daraus folgerte: Die Frage liegt nahey ob nicht manche unserer Historischen Vereine, unserer Altertums- und Museumsvereine gegen­ über der fortschreitenden Entwicklung ins Hintertreffen geraten und selbst zu musealen Institutionen geworden sind.34 Dieser vermeintliche Gegensatz zwi­ schen Wissenschaftlichkeit und Volkstümlichkeit, der in der Kontroverse zwi­ schen Spindler und Weitnauer polemisch zugespitzt wurde, gehört auf dem Hintergrund eines gemeinsamen Bemühens um Regionalkultur und regionales Geschichtsbewusstsein, nicht zuletzt durch das institutioneile Zusammenwir32 Karl Bosl: Heimatschutzbewegung und Denkmalpflege im 20. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 14 (1990), S. 3-10; Edeltraud Klueting (Hrsg.): Anti­ modernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991. 33 Max Spindler: Zur Lage der bayerischen Geschichtsvereine, in: ZBLG 15 (1949), S. 262-268, hier S. 264. 34 Alfred Weitnauer: Heimatvereine und Landesgeschichte, in: ZBLG 18 (1955), S. 513-522, hier S. 515.

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ken der drei Dachverbände, des Verbandes Bayerischer Geschichtsvereine, des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege und des Bundes Naturschutz in Bayern, im „Bayerischen Heimattag“ längst der Vergangenheit an und hat einer kooperativen Praxis Platz gemacht. e) „Neue Geschichtsbewegung“ und Bürgerinitiativen Noch waren die Wunden dieser Kämpfe nur oberflächlich vernarbt, da tat sich ein neuer, diesmal mehr ideologisch begründeter Konflikt auf, der zunächst unüberbrückbar schien. Die „Neue Geschichtsbewegung“ der 1960er und 1970er Jahre, die in den Geschichtswerkstätten inzwischen festere Organisati­ onsformen gefunden hatte, kreierte ihr Kontrastprogramm: Neu waren die Formen aktionistischer Darbietung, neu die Themen, polemisch oft auch die Thesen - eine histoire engagee, die jüngere Leute ansprach und meist von jun­ gen Historikern getragen war. Innovativ, phantasievoll und methodisch gut gerüstet gingen sie ans Werk. Sie dachten über Demokratie nach, forcierten Alltags- und Zeitgeschichte, praktizierten die Methode der „Oral history“ und verstanden Geschichtsbetrachtung als politisches Arbeitsfeld. Damit erregten sie Anstoß bei den Etablierten, den offiziellen und anerkannten Verwaltern der Landes-, Regional- und Heimatgeschichte. Nüchtern betrachtet freilich waren weder die Unterschiede unüberbrückbar noch die Zielsetzungen wirklich kon­ trär.35 Inzwischen zeichnen sich weitere, erfreuliche Entwicklungen ab: Sowohl aus Geschichtswerkstätten als auch aus Bürgerinitiativen und lokalen Anliegen heraus entstandene Vereine etablierten sich in den vergangenen zwanzig Jahren als neuer Typus. Zugleich sind die Verbindungen zwischen etablierten und neuen Vereinen enger geworden, Teile der Neuen Geschichtsbewegung haben sich sogar in die historischen Vereine integriert und diese zugleich verjüngt und modernisiert. 2. Funktionen In Bayern gibt es gegenwärtig sicher mehr als 300 Vereinigungen, die sich einem dieser Typen zurechnen lassen. Der Verband bayerischer Geschichtsver­ eine, dem inzwischen sowohl Heimatvereine als auch Geschichtswerkstätten angehören, hat gegenwärtig 210 Mitgliedsvereine,36 deren Abgrenzung gegen35 Sehr pointiert Hugo Stehkämper: Geschichtsvereine und Geschichtswerkstätten. Gemeinsam­ keiten und Unterschiede, in: Geschichtsvereine (wie Anm. 8), S. 73-84; Wilfried Busemann: Ge­ schichtswerkstätten und Geschichtsvereine. Kein Generationenkonflikt, in: Geschichtsvereine (wie Anm. 8), S. 87-96. - Vgl. hierzu auch den Beitrag von Clemens Wächter in diesem Band. 36 Handbuch (wie Anm. 3).

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über Vereinen mit partieller historischer Ausrichtung oft nicht einfach ist.37 Die Wirklichkeit dieses Vereinslebens ist sicher viel reichhaltiger und lebendiger als manche, nicht immer wohlmeinende Untersuchungen vermuten lassen. Ursula Becher38 etwa attestiert den Geschichtsvereinen nicht nur antiquarisches Ge­ schichtsverständnis und ästhetisierenden Zugang zur Vergangenheit, sondern malt auch das obligatorische „bildungsbürgerliche Ghetto“ als Menetekel an die Wand. Wenige Seiten später muss sie allerdings verschämt eingestehen, dass sie als Untersuchungsbasis nur zehn norddeutsche Vereine aufweisen und da­ raus keine so weitreichenden Verallgemeinerungen ableiten kann. Trotz dieser Einsicht hat sie diesen Beitrag 1997 erneut veröffentlicht, ohne die seither er­ schienene Literatur überhaupt zur Kenntnis zu nehmen oder gar die Untersu­ chungsbasis zu erweitern. Derartige „wissenschaftliche“ Analysen fügen sich ein in eine bezeichnende Negativliste, die in den 1960er und 1970er Jahren zum Standardprogramm einer antibürgerlichen Gesellschaftskritik gehörte und in Nachklängen gelegentlich immer noch zu vernehmen ist. Die Geschichtsvereine stellen sich inzwischen immerhin nicht mehr selbst in Frage,39 zum Selbst­ bewusstsein Franz Schnabels, das dieser 1952 beim hundertjährigen Jubiläum des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine gezeigt hat, fehlt aber noch ein ganzes Stück: Es ist der Ruhm unserer Vereine, dass ih­ nen die Beschäftigung mit der Geschichte niemals Selbstzweck und niemals ein müßiges Spiel gewesen ist. Immer war es ein echtes Bedürfnis des Lebens, wenn in einer Stadt, einem Kreise, einer Provinz, einem Territorium Männer und Frauen, die im Leben standen, sich zusammengeschlossen haben im gemeinsa­ men Interesse an der Geschichte der Heimat ...40 Wo aber liegen 50 Jahre später in einer Medien- und Wissensgesellschaft, die scheinbar alle erforderlichen Informationen in beliebiger Fülle und an allen Orten bereit hält, nun wirklich die spezifischen Aufgaben und Funktionen von historischen Vereinen?

37 Mit historischen Themen befassen sich auch Obstbau- und Gartenvereine, Trachtenvereine, Wandervereine oder Theatervereine. Manche Vereine widmen sich ganz speziellen Schwerpunk­ ten, etwa dem Schmied von Kochel oder König Ludwig II. Ungeklärt ist auch die Zuordnung der ständig zunehmenden Zahl zeitgeschichtlicher Vereine, die im Zusammenhang mit Gedenk­ stätten und Erinnerungsorten vor allem des 20. Jahrhunderts stehen. 38 Ursula Becher: Geschichtsverein, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Klaus Berg­ mann u.a., 2. Aufl. Düsseldorf 1985, S. 754-757, 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 732-736. 39 Die inzwischen schon fast sprichwörtliche Frage von Karl Haase: Brauchen wir noch Ge­ schichtsvereine?, in: Göttinger Jahrbuch 16 (1968), S. 231-243, war trotz der schwierigen Zeiten für die Geschichtsvereine nur rhetorisch gemeint. 40 Franz Schnabel: Zum Geleit, in: BldLG 89 (1952), S. VII.

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a) Wissenschaftliche Funktion Geschichtsvereine sind und bleiben auch weiterhin Teil der landesgeschichtli­ chen Forschung, ein lebendiges Wurzelgeflecht, in dem interdisziplinäre Zu­ sammenarbeit praktiziert, die realienkundliche, insbesondere auch die bild­ liche Überlieferung Beachtung findet und die intensive Erschließung des Nahraumes durch Exkursionen regelmäßig praktiziert wird. Ohne die konti­ nuierliche Publikationsleistung der historischen Vereine wäre auch die Ge­ schichte des Landes Bayern nicht zu erforschen, würden Stadtjubiläen und his­ torische Feste entfallen, Stadtgeschichten ungeschrieben bleiben. Erich Maschke hat schon vor über 20 Jahren zurecht festgestellt: Aber man stelle sich einmal vor; die Hunderte landesgeschichtlicher Zeitschriften ... hätte es nie ge­ geben. ... Ein unerschöpfliches Quellenmaterial wäre unzugänglich ... Die Ver­ armung der deutschen Geschichtswissenschaft wäre unvorstellbar;41 Wie leben­ dig diese landesgeschichtliche Szene und die Tätigkeit der historischen Vereine auch auf Bundesebene ist, zeigen Übersichten zur Landesgeschichte42 ebenso wie die vom Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, dem Dachverband der deutschen Geschichtsvereine, Jahr für Jahr veröffent­ lichten „Blätter für deutsche Landesgeschichte“43. Das enge Zusammenwirken zwischen den Vereinen und den Einrichtungen der landesgeschichtlichen For­ schung, den historischen Kommissionen und den landesgeschichtlichen Insti­ tuten, ist weiterhin für beide Seiten von Bedeutung. Die Professionalisierung und Spezialisierung der historischen Wissenschaft hat inzwischen allerdings zu einer deutlichen Verlagerung der Forschung in eben diese Fachinstitutionen geführt. Die gleiche Entwicklung hat sich auch in anderen Bereichen vollzo­ gen, die einst Domänen der Vereine waren, bei der Denkmalpflege, den musea­ len Sammlungen und den Bibliotheksbeständen.44 Dennoch sind die histori­ schen Vereine als Institutionen von Forschung und Vermittlung nach wie vor unverzichtbar. Mit ihren Publikationen, deren Tauschverkehr gelegentlich so-

41 Erich Maschke: Landesgeschichtsschreibung und historische Vereine, in: ders.: Städte und Men­ schen, Wiesbaden 1980, S. 529. 42 Werner K. Blessing: Landesgeschichtliche Arbeit in Bayern seit 1945, in: Methoden und Themen der bayerischen Landes-, Regional- und Heimatgeschichte in Bayern, Sachsen und Thüringen, hrsg. vom Haus der Bayerischen Geschichte, München 1991, S. 21-32; Werner Buchholz (Hrsg.): Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme - Analyse - Perspektiven, Pader­ born u.a. 1998. 43 Die als „Correspondenz-Blatt“ gegründete Zeitschrift des Gesamtvereins wurde 1934 in „Blät­ ter für deutsche Landesgeschichte“ umbenannt und ist inzwischen beim 138. Band angelangt. 44 Vgl. dazu: Im Dienst der bayerischen Geschichte. 70 Jahre Kommission für bayerische Landes­ geschichte. 50 Jahre Institut für bayerische Geschichte, hrsg. von Wilhelm Volkert / Walter Zieg­ ler, München 1998.

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gar europäische Dimensionen annimmt, leisten sie wissenschaftliche Grundla­ genarbeit, mit Vorträgen und Exkursionen dienen sie der wissenschaftlich ab­ gesicherten Volksbildung. Und auch in der Museumsarbeit und in der Denk­ malpflege sind sie weiterhin wichtige Partner, als ehrenamtliche Mitwirkende ebenso wie als Finanziers, die Sachkunde mit Engagement verbinden.45 b) Gesellschaftliche Funktion In den Vordergrund getreten sind inzwischen allerdings andere Aufgaben, die immer schon Bestandteil des Vereinslebens gewesen sind: Vermittlung und Kommunikation.46 Ich meine, dass ein solcher Verein ... eine große und ent­ scheidende Bildungs- und Kulturaufgabe für alle ansprechbaren Menschen und damit volkserzieherische Zweck für alle Mitbürger seines Bereiches habe, stellte der Landeshistoriker und damalige Vorsitzende des Verbandes bayerischer Ge­ schichtsvereine Karl Bosl schon 1966 fest.47 Diese klare Bildungsorientierung hat ohne Frage Zukunft, vor allem dann, wenn sie neue Formen der Vermitt­ lung erprobt, erlebnishafte Angebote nicht scheut und zugleich zu aktiver Mit­ gestaltung einlädt. Für geschichtliches Orientierungswissen und historische Beratung besteht ebenso ein Bedarf wie für unterhaltsame Bildungsangebote, etwa durch Vorträge, Fahrten, Diskussionen, Seminare, Aktionen u.a.m. Eine zur Oberflächlichkeit neigenden Erlebnisgesellschaft ist dringender denn je an­ gewiesen auf Substanz, Kompetenz und Qualität. Dass diese Form der Popu­ larisierung nicht langweilig sein muss, dass Bildung mit Unterhaltung durchaus zusammengeht, dass Wissenserwerb auch Vergnügen bereiten kann, belegen viele erfolgreiche Beispiele aus der Praxis der Vereine. Seit ihren Gründungsta­ gen sind die Vereine zugleich auch Orte der Geselligkeit und der Begegnung, der Begegnung mit dem heimatlichen Raum, mit Menschen, die gemeinsame Interessen und Vorlieben zeigen, der Begegnung aber auch zwischen Laienfor­ schern und Fachhistorikern, zwischen Geschichtsinteressierten, Heimatpfle­ gern, NaturSchützern und Freunden von Kunst und Kultur. Damit tragen sie wie wenige andere Einrichtungen dazu bei, der institutioneilen Zersplitterung

45 Dazu grundsätzliche Überlegungen von Jürgen Reulecke: Perspektiven für die zukünftige Arbeit der Geschichtsvereine, in: Geschichtsvereine (wie Anm. 8), S. 99-108. 46 Vgl. dazu Friedrich Zunkel: Die gesellschaftliche Bedeutung der Kommunikation in Bürgerge­ sellschaften und Vereinswesen vom 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Hans Pohl (Hrsg.): Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1989, S. 255-283. 47 Karl Bosl: Die Leistungen der historischen Vereine und ihre Bedeutung für die landesgeschicht­ liche Forschung, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 1 (1966), S. 3-16.

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und der Segmentierung unseres Wissens entgegenzuwirken. In Zusammenar­ beit mit allen, denen Geschichte und Gegenwart ihrer Heimat am Herzen liegt, fördern die historischen Vereine daher auch die regionale und lokale Vernet­ zung und unterstützen damit auch umfassende, ganzheitliche Betrachtungs­ weisen, die für die Erhaltung von Kultur und Natur unverzichtbar sind. Der Kreis lässt sich noch ausdehnen im Kontakt mit bayerischen und außer­ bayerischen Vereinen, mit den neuen Bundesländern und den Ländern des ein­ stigen Osteuropa. Ein beeindruckender Rahmen an menschlichen, historischen und politischen Erfahrungen tut sich da auf. Die Vereine haben überdies in der Vergangenheit immer wieder auch ihre Integrationskraft bewiesen, nach 1945 etwa bei der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen, unter denen sich später oft die aktivsten Mitglieder fanden. Und sie haben noch manche Aufga­ ben vor sich, gegenüber Ausländern oder Aussiedlern etwa, wo sie ihre Qua­ lität als „Gedächtnisorte“48 unter Beweis stellen können, die aus ihrer Gegen­ wart Fragen an die Geschichte richten oder den Fremden identifikatorische Angebote unterbreiten und ihnen damit die Eingliederung erleichtern. c) Politische Funktion Historische Vereine haben also, wenn sie sich ihres alten Berufes und Rufes be­ wußt sind, wenn sie weiter in das Ganze unserer Gesellschaft hineinwirken wollen, wenn sie sich verantwortlich für die Erhaltung unseres Erbes fühlen, nicht nur kulturell bewahrende, sondern eine eminent erzieherische, im allge­ meinsten Sinn eine aktuelle politische Aufgabe.49 Auch die politische Funktion gehört, wie Karl Bosl richtig feststellt, von jeher zum Kernbereich der Vereins­ aktivitäten. Als historisches Gewissen einer Region, als Lobbyisten für Ge­ schichtsbewusstsein und Geschichtsinteresse und als Verfechter einer wissen­ schaftlichen Landes- und Regionalgeschichte waren und sind die Heimat- und Geschichtsvereine niemals unpolitisch. Das Spektrum der erforderlichen Akti­ vitäten hat sich nach der Wiedervereinigung sogar ausgeweitet, und im eu­ ropäischen Kontext zeichnen sich zusätzliche neue Aufgabenfelder ab. So kann es den Geschichtsvereinen etwa nicht gleichgültig sein, wenn der Geschichts­ unterricht dem Multimediarausch unserer Tage zum Opfer zu fallen droht. Verantwortlich fühlen sie sich auch für die Qualität und die gesellschaftsrecht­ liche Kontrolle der Medien, als Zuhörer und Zuschauer ebenso wie als Konsu­ menten, deren Macht mit ihrem Organisationsgrad anwächst. Für das regio­ nale Geschichtsbewusstsein hängt nämlich außerordentlich viel von den klein-

48 Czendes (wie Anm. 22), S. 111. 49 Bosl (wie Anm. 47), S. 12.

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räumigen Kommunikationsnetzen ab, die gerade die neuen Medien bereitstel­ len. Das Potential der Kulturvereine ist zusammengenommen durchaus groß genug, um auch bei Leuten Eindruck zu machen, die sonst für Regionalkultur nur ein abschätziges Lächeln übrig haben und Menschen über 50 Jahren als Kunden nicht mehr ernst nehmen. Die Geschichtsvereine sind auch längst, meist ohne es selbst zu wissen, ein besonders stabiler und zuverlässiger Teil einer von ehrenamtlich Engagierten getragenen Bürgergesellschaft, die inzwi­ schen immer häufiger als Garant für ein künftiges Europa beschworen wird, das auf Bürgernähe und Partizipation aufbaut. Zu diesem Zwecke müssen die Vereine mahnen und anregen, Gegenwartsin­ teressen artikulieren und organisieren und sie in Bezug zu Vergangenem set­ zen. Ihre große Chance besteht nämlich darin, ein Forum zu bieten für Bür­ gerbeteiligung in überschaubaren Lebenswelten, für aktive kulturelle Betäti­ gung, für ehrenamtliches Engagement im Dienste der Gemeinschaft,50 für das in unserer Gesellschaft eine sehr viel größere Bereitschaft besteht als gemeinhin angenommen wird. Immerhin sind in Bayern 37 Prozent der Menschen über 14 Jahren in Vereinen engagiert, bei den 14-30-jährigen sogar 39 Prozent. Ne­ ben dem Sport mit 22 Prozent widmen sich immerhin 14 Prozent der Kultur und Musik; bei einem durchschnittlichen ehrenamtlichen Engagement von 18,9 Stunden pro Monat werden 75 Millionen Stunden eingebracht, ein Anteil, der etwa zehn Prozent der Arbeitszeit von fünf Millionen Erwerbstätigen ent­ spricht.51 Dass das Angebot der historischen Vereine nicht den erwünschten Zuspruch findet,52 liegt weder in der Natur der Sache noch am geschichtsfeind­ lichen Zeitgeist, wie oft vermutet wird. Vielmehr gilt es, „Integrations- und Engagementhindernisse“53 ausfindig zu machen, die häufig mit dem verstaub­ ten Image der Vereine, mangelnder Kontaktpflege, zu geringen Mitwirkungs­ möglichkeiten, fehlenden „projektförmigen“ Angeboten und einem schwer einschätzbaren Zeitbedarf Zusammenhängen. Unübertrefflich selbstironisch

50 Vgl. dazu die Schrift: Bürgerschaftliches Engagement - Soziales Kapital fördern und nutzen, hrsg. von Heiner Keup in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen, München 2002. 51 Thomas Gensicke: Freiwilliges Engagement in Bayern: Freiwilligenarbeit, Ehrenamt, Bürger­ engagement, in: Bürgerschaftliches Engagement (wie Anm. 50), S. 71-76. 52 Hartmut Heller: Vereine 2000 - Generationenvertrag zwischen Alt und Jung?, in: Frankenland H. 1 (2000), S. 23-35, stellt fest, dass nur sechs Prozent der im Rahmen eines Projekts befragten 128 Studenten in Geschichts-, Heimat- oder Brauchtumsvereinen Mitglieder sind und dass das Image dieser Vereine bei jungen Leuten außerordentlich negativ ist; ähnliche Ergebnisse finden sich bei Helmut Klages: Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement, in: Bürgerschaftli­ ches Engagement (wie Anm. 50), S. 27, wo auf die allerdings problematische Frage nach dem „Stolz auf Geschichte“ höchst durchschnittliche Bewertungen erzielt werden. 53 Klages (wie Anm. 52), S. 32-35.

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hat Wolfgang Köllmann dieses unausrottbare Klischeebild nachgezeichnet: Verstaubt wie die alten Akten, in denen sie wühlen, realitätsfern bis hin zur Entwicklung abstruser Theorien und ohne Sinn für die Forderungen des Tages seien sie bestenfalls freundliche ältere Zeitgenossen mit einem harmlosen Hobby, schlimmstenfalls seien sie Flüchtlinge, die in der Vergangenheit unter­ tauchten, um dort die verlorenen guten alten Zeiten zu finden, oder gar ver­ gangener Größe nachtrauerten.54 3. Perspektiven a) Wissenschaftliche Funktion Gegen solche Zerrbilder aber hilft nicht die kulturkritische Klage über die Enthistorisierung unserer Gesellschaft, sondern nur ein konsequenter Weg in die Öffentlichkeit. Voraussetzung dafür ist Besinnung auf die Rolle der histori­ schen Vereine in Staat, Gesellschaft und Kultur.55 Der Rückblick auf die histo­ rische Entwicklung kann diesem Anliegen ebenso dienen wie eine gegenwarts­ bezogene Funktionsanalyse,56 die bei der Orientierung und der Aufgabenfor­ mulierung gleichermaßen hilfreich sein könnte. Als zentrale Aufgabe, bei der die Geschichtsvereine ihre Kräfte bündeln und auf Landes- und Bundesebene kraftvoll agieren müssen, kristallisiert sich immer mehr der Erhalt der Landes­ geschichte in Wissenschaft und Unterricht heraus. Von Abschaffung oder Um­ widmung bedrohte landes- und regionalgeschichtliche Lehrstühle und Profes­ suren an deutschen Universitäten haben inzwischen mehrere Landesverbände aufgeschreckt. Gezielt wird sich in Zukunft auch der Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine dieser Aufgabe annehmen: Durch Vertretung im Vorstand des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands ist die enge Verbindung zur Fachwissenschaft gewährleistet, die Blätter für deutsche Landesgeschichte sollen sich wieder zum Forum der deutschen lan­ desgeschichtlichen Forschung entwickeln und die Tage der Landesgeschichte

54 Wolfgang Köllmann: Wozu noch Geschichte in unserer industriellen Welt?, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 88 (1977/79), S. 6. 55 Czendes (wie Anm. 22), S. 112: „Geschichts vereine haben nichts an ihrem Stellenwert einge­ büßt, wie das steigende Interesse an regionaler Geschichte beweist. Es wäre allerdings dringend erforderlich, dass sie selbst über ihre Funktion als Gedächtnisgemeinschaften reflektieren, um den eigentlichen Aufgaben, die in den Statuten in der Regel traditionell unverbindlich formuliert sind, im Dialog mit anderen Institutionen verantwortungsvoll nachkommen zu können.“ 56 Körner (wie Anm. 4), S. 5, nennt die kompensatorische, die nationale und die identifikatorische Funktion.

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werden künftig wieder die Universitätshistoriker einbeziehen und neben dem wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch auch der öffentlichkeitswirksamen Darlegung landesgeschichtlicher Forderungskataloge dienen. Damit lässt sich hoffentlich auch die Erkenntnis vermitteln, dass fehlende landesgeschichtliche Unterweisung an den Universitäten stets auch voll auf den Geschichtsunter­ richt durchschlägt. Die ständige Beobachtung der Lehrpläne und der kritische Kommentar zu ihrer Entwicklung, gelegentlich sogar der massive Protest ge­ gen Irrwege gehören daher in dieses Aufgabenspektrum. Letztlich müssen die Vereine als „Lobbyisten für Geschichtsbewusstsein“ der Öffentlichkeit deut­ lich machen, dass unser föderatives politisches System vom Wissen um „Land und Leute“ abhängig ist und dass sein Weiterbestehen ohne die Vermittlung von lokal-, regional- und landesgeschichtlichem Wissen erheblich gefährdet ist. b) Gesellschaftliche Funktion Um dem umfassenden Anliegen einer Förderung der Regionalkultur mehr Wirksamkeit und Nachdruck zu verleihen, gilt es außerdem, Kooperationsmo­ delle und Netzwerke zwischen den verschiedenen Vereinigungen und Verbän­ den der Kultur, der Kunst, der Heimat- und Denkmalpflege und des Natur­ schutzes zu entwickeln. Thomas Adam leitet aus der gemeinsamen Geschichte sogar ein neuerliches Anknüpfen an den ursprünglichen Rettungsgedanken und dessen zielgerichtetes Ausdehnen auf Landschaft und Natur; mithin eine neue Mentalität der Rettung insbesondere bei den Heimat- und Geschichtsvereinen ab.57 Wichtiger als regierungsamtlich domestizierte Gremien auf Bundesebene sind dabei die institutioneilen Verbindungen auf der Länderebene, wie sie etwa im Bayerischen Heimattag bereits bestehen, und vor allem die ständige Kon­ taktpflege auf der Arbeitsebene vor Ort. Gemeinsam lassen sich auch die viel­ fältigen Bildungsangebote leichter vermitteln, die Heimat und Land bereithal­ ten. Alternativ oder ergänzend zum Schulunterricht und in Verbindung mit der außerschulischen Jugendarbeit z. B. der Jugendringe und des Jugendherbergs­ werks sind Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit ein besonderes Pfund, mit dem eine moderne Exkursionsdidaktik längst zu wuchern versteht. Museen, Archive, historische Stätten, Denkmäler und Bauten, aber auch Landschaften, Naturschutzgebiete und Zeugnisse lebendiger Brauchtumspflege enthalten eine unausschöpfbare Fülle an didaktischen Möglichkeiten. Für die einen bietet die objektbezogene Kommunikation vertiefte Kenntnis und anschauliche Erfahrbarkeit des heimatlichen Raumes und damit Angebote

57 Adam (wie Anm.19), S. 277.

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zur Sinnstiftung und Identitätsbildung, für die anderen, die Fremden, Ver­ ständnishilfen und Integrationsangebote. Die Integration bisher vernachlässig­ ter und daher auch unterrepräsentierter Gruppen wird die Vereine insgesamt mehr beschäftigen müssen. Auch Ausländer und Aussiedler haben in histori­ schen Vereinen ihren Platz, Singles und Senioren sind als eigenständige Ziel­ gruppen ernst zu nehmen, und gegen das vielbeklagte Fehlen weiblicher Mit­ glieder und junger Leute sollten endlich wirksame Konzepte entwickelt wer­ den. Dazu müssen aber nicht nur die Angebotsformen gelockert und das The­ menspektrum ausgeweitet werden, sondern vor allem auch die Vermittlungsin­ halte sich mehr an den Fragen der Gegenwart orientieren. Hermann Heimpel hat diese Forderung schon 1972 erhoben: Sollen die Geschichtsvereine nicht vergreisen, so müssen sie weniger um die Jugend werben als selbst jugendlich sein - zeitgemäß im richtigen, den Wandel der Dinge als geschichtliches Schick­ sal bedenkenden Sinne.5* Der gesellschaftliche Wert des Vereinsangebotes er­ höht sich noch durch die Verbindung von Kompetenz und ehrenamtlichem Engagement, das in Zeiten knapper Kassen gerade für den Erhalt einer leben­ digen Regionalkultur unverzichtbar ist. Denn gerade in der Kombination aus Professionalität und Ehrenamt liegt ohne Frage die Zukunft qualitätsvoller und finanzierbarer regionaler Kulturangebote. c) Politische Funktion So werden die Geschichtsvereine ganz sicher ein besonders stabiler und zuver­ lässiger Teil einer Bürgergesellschaft sein, die inzwischen immer häufiger als Garant für ein Europa beschworen wird, das auf Bürgernähe und Partizipation aufbaut. Darin besteht in der Tat ihre große Chance: ein Forum zu bieten für Bürgerbeteiligung in überschaubaren Lebenswelten, für aktive kulturelle Betätigung, für ehrenamtliches Engagement im Dienste der Gemeinschaft. Bei der noch ausstehenden mentalen Wiedervereinigung Deutschlands kommt den Geschichtsvereinen zusätzlich eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, die vom Tauschverkehr der Publikationen über Begegnungen, Patenschaften und Partnerschaften bis zu gemeinsamen Projekten und Publikationen reichen kann. Diese Allianz der Geschichtsbewussten, denen regionale Kultur ein An­ liegen ist, muss mehr und mehr auch europäische Dimensionen annehmen. Alte historische Verbindungslinien, Städte- und Schulpartnerschaften, die Kontakte anderer Vereine, der Kunstvereine, aber auch der Sportvereine, oder die Verbindungen von Firmen und grenzüberschreitenden Körperschaften wie

58 Heimpel, Geschichtsvereine (wie Anm. 5), S. 66.

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den Euregios können als Wegbereiter gute Dienste leisten. So wird sich aus vie­ len Einzelfäden sicher ein europäischer Kulturteppich weben lassen, der das bunte Muster der Vielfalt zeigt und nicht das entstellte Gesicht einer vom öko­ nomischen Fetisch „Globalisierung" erzwungenen Einheitswelt. Anknüpfend an die Schilderung des Streites um die Nürnberger Stadtmauer im 19. Jahrhundert hat Hermann Heimpel eine bemerkenswerte, bis heute gül­ tige Schlussfolgerung gezogen, die uns auch auf dem Weg in die Zukunft Leit­ linie sein kann: Heute geht es um mehr als die Erhaltung einer gewaltigen, kunstvollen Stadtmauer. Es geht um die Substanz der Räume, in denen wir le­ ben und leben werden. Es geht um die viel berufene Umwelt. Zu reiner Luft, zum Verkehr; der aufhört eine Qual zu sein, zu menschenwürdigen Wohnun­ gen gehört auch die historische Substanz, das allen Bürgern zugängliche Erbe der Geschichte. Sieht man das Gebot der Zeit so, dann muss - sollen Ge­ schichtsvereine jetzt blühen - nicht wie einst in erster Linie der geschichtliche Sinn, sondern zuerst der Bürgersinn selbst „aufgeregt“ werden. Möge dabei von den Geschichtsvereinen, mit dem Göttinger Moritz Heyne zu reden, „ nicht die Asche gesammelt, sondern das Feuer gehütet werden "59

59 Ebd., S. 73.

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EHRWÜRDIG ODER ÜBERHOLT? DIE HISTORISCHEN KREISVEREINE IN BAYERN Von Gerhard Rechter* Als der Sohn des ersten bayerischen Königs Max I. Josef, Ludwig, als Lud­ wig I. im Jahre 1825 den Thron bestieg, setzte er sich als vordringliche Auf­ gabe, die heterogenen Landesteile zu einigen und ein neues, gesamtbayerisches Nationalbewusstsein zu schaffen.1 Dieses Anliegen hatte er, sicherlich nicht zum höchsten Wohlgefallen seines Vaters, schon des öfteren demonstriert, wo­ bei hier der von ihm in seinem Residenzort Würzburg aufgebaute Freundes­ kreis aus fränkischen Adeligen und Künstlern als Beispiel genügen mag.2 „Vaterlandsliebe durch Vaterlandskunde“ - so lautete nun die Devise, die sich in der im Herbst 1826 an die Kreisregierungen ausgegebenen Ordre nie­ derschlug, dafür Sorge zu tragen, dass an Kirchen, Stadtmauern, öffentlichen Gebäuden oder Burgen keine Veränderungen ohne Genehmigung der Bau­ behörden vorgenommen würden. Dies ist mit Fug als das erste Denkmal­ schutzgesetz Bayerns zu bezeichnen, jedenfalls, wenn das Ausschreiben Mark­ graf Alexanders von Brandenburg-Ansbach vom 4. Juli 1771, wonach in den Fürstlichen Landen auf die Erhaltung der Monumente, mit mehrerm Fleiß als vormals, gesehen werden solle, außer Acht bleibt.3 In der Villa Colombella bei Perugia Unterzeichnete Ludwig am 29. Mai 1827 den Erlass, alle Denkmäler der Vorzeit zu erfassen zu sammeln und zu erhalten ... Da Wir die Erhaltung solcher Denkmale zur Belebung des Nationalgeistes, zum Studium der vaterländischen Geschichte und zur Verbreitung der Kunde derselben unter dem Volke für vorzüglich wichtig erachten.4 Diese Kabinettsordre gilt - obwohl darin von „Historischen Vereinen“ als solchen mit keiner Silbe die Rede ist - allgemein auch als „Geburtsurkunde“ der Historischen Vereine in Bayern, jedenfalls derjenigen auf Kreisebene, wes­ halb diese zuweilen etwas leger als „König-Ludwig-Vereine“ bezeichnet wer­ den.

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Version eines Vortrags, der am 25. Januar 2003 im Rahmen des Symposions „Geschichtsvereine als gesellschaftliche Kraft“ beim Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg gehalten wurde. Vgl. Max Spindler: Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825-1848), in: Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4.: Das neue Bayern 1800-1970, München 1970, S. 89-223, hier: S. 130-133. Rudolf Endres: Mittelfranken und sein Historischer Verein, in: JbMFr 89 (1977/1981), S. 1-16, hier: S. 4. StAN, Fürstentum Ansbach, Ausschreiben (systematisch), Vorblatt. Endres (wie Anm. 2), S. 5.

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Der Blick auf die Historischen Vereine auf der Ebene der Kreise und späte­ ren Regierungsbezirke ist freilich untrennbar mit dem auf die Verwaltungs­ geschichte Bayerns im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verbunden. So gilt es sich dem Phänomen „Kreis“ zu nähern, das im vorliegenden Zusammenhang je nach Standort als Organisationsschema, als Korsett oder auch als Bühne der Historischen Vereine betrachtet werden kann. Mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August 1806 hatte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation seinen nicht erst mit der Französischen Revolution 1789 beginnenden Todeskampf beendet.5 Die links des Rheins gelegenen Territorien des Alten Reiches waren zu jener Zeit Be­ standteil des Kaiserreichs Frankreichs, die rechts des Rheines hatten ihre volle Souveränität erlangt - jedenfalls, soweit sie nicht als mediatisierte und säkula­ risierte Gebilde in die Herrschaftsgebiete Mächtigerer eingegliedert worden waren. Nur die beiden stärksten Mächte des Alten Reiches - das Königreich Preußen, das nach dem vierten Koalitionskrieg im Frieden von Tilsit 1807 al­ lerdings große Gebietsverluste hinnehmen musste, und das schon 1804 zum Kaisertum aufgestiegene Österreich - konnten ihre Unabhängigkeit von Frankreich halbwegs verteidigen. Unter Förderung Napoleons stiegen Bayern und Württemberg 1805 zu Königreichen auf, 1806 Baden, Hessen-Darmstadt und Berg zu Großherzogtümern. Die Verletzung des Reichsrechts kulminierte in der Gründung des Rheinbundes am 12. Juli 1806 durch sechzehn süd- und westdeutsche Fürsten, worunter sich auch der bayerische König Max I. Joseph fand.6 Durch die „Lossagung vom Reich“ erhielten die Mitglieder des unter dem Protektorat Napoleons stehenden Offensiv- und Defensivbündnisses, dessen Vorsitz im Bundeskongress dem Reichserzkanzler und Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg zukam, im Innern volle staatliche Freiheiten. Max I. Jo­ seph konnte also seinem Minister Maximilian Joseph von Montgelas bei der Umsetzung der im „Ansbacher Memoire“ von 1796 niedergelegten Reform-

5 Vgl. Max Braubach: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, in: Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, 9. neu bearb. Aufl., hrsg. von Herbert Grundmann (dtvwissenschaft 4214), München 1980, S. 74-81. 6 Ebd., S. 55-62 und 74-81; Eberhard Weis: Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825). § 2. Bayern im napoleonischen Kontinentalsystem (1805-1813). Kampf gegen Napoleon (1813-1815), in: Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, neu hrsg. von Alois Schmid, Teilbd. 1: Staat und Politik, 2., völlig neu bearb. Aufl., München 2003, S. 20—44. Großer Historischer Weltatlas. Dritter Teil: Neuzeit, hrsg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag, 4. überarb. und erw. Aufl., München 1981, Karten S. 38 (Deutschland 1789) und 39 (Reichs­ deputationshauptschluss 1803).

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ideen unbehelligt von den Bestimmungen des alten Reichsrechts freie Hand lassen.7 Rigide wurden auch für Bayern die Grundlagen des modernen Ein­ heitsstaates geschaffen: 1. Einheitliche Behörden (zentrale Bürokratie), Fach­ ministerien und Fachbeamte, 2. Auflösung ständischer Selbstverwaltung in den Kommunen, 3. Garantie bestimmter Freiheiten (Gewerbe, Arbeit, Religion), Steuer- und Rechtsgleichheit, 4. staatliche Kirchen- und Schulaufsicht.8 In den Jahren zwischen 1802 und 1814 wechselte das bayerische Staatsgebiet häufig seine Gestalt, was in der Verwaltung auf der mittleren und unteren Ebene immer wieder zu Umorganisationen zwang.9 Zählte Bayern als mittlere Verwaltungsbehörden 1806 neben der Generallandesdirektion in München vier Landesdirektionen, darunter je eine für die neubayerischen Gebiete in Franken (Sitz Ansbach) und Schwaben (Sitz Ulm), so bestand es nach Verord­ nung vom 21. Juni 1808 aus fünfzehn, nach französischem Vorbild nach Flüs­ sen benannten Kreisen, mit jeweils einem Generalkreiskommissär an der Spitze. Für das Gebiet der heutigen fränkischen Regierungsbezirke waren dies [1.] Mainkreis (Sitz Bamberg), Pegnitzkreis (Sitz Nürnberg) und [1.] Rezatkreis (Sitz Ansbach). Dabei ist darauf aufmerksam zu machen, dass wesentliche Teile des heutigen Oberfranken erst mit dem Übergang des Fürstentums Bran­ denburg-Bayreuth 1810 als Folge des Friedens von Schönbrunn bayerisch ge­ worden sind, während die Fürstentümer Aschaffenburg und Würzburg als Hauptbestandteile Unterfrankens gar erst als Folge des am 3. Juni 1814 ge­ schlossenen Vertrags von Ried an Bayern kamen. Denn nach einem ersten bayerischen Intermezzo seit 1802 war hier 1806 zum Ausgleich für das endgül­ tig bayerisch gewordene eichstättische Unterstift Würzburg als Fürstentum und habsburgische Sekundogenitur an Kurfürst-Erzherzog Ferdinand von Toskana gegeben worden, während aus dem unteren Erzstift Mainz 1803 mit sechs kurmainzischen und einem würzburgischen Amt das dalbergische Fürs­ tentum Aschaffenburg formiert worden war. 7 Vgl. Eberhard Weis: Montgelas’ innenpolitisches Reformprogramm. Das Ansbacher Memoire für den Herzog vom 30.9.1796, in: ZBLG 33 (1970), S. 219-256; Michael Henker / Margot Hamm / Evamaria Brockhoff (Hrsg.): Bayern entsteht. Montgelas und sein Ansbacher Memoire von 1796 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 32/96), München 1996. 8 Eberhard Weis: Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825). § 3. Die Reformen in Staat, Verwaltung und Gesellschaft unter Montgelas (1799 bis 1817), in: Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, neu hrsg. von Alois Schmid, Teilbd. 1: Staat und Politik, 2. völlig neu bearb. Aufl., München 2003, S. 45-95. 9 Das Folgende nach Karl Weber (Bearb.): Neue Gesetz- und Verordnungen-Sammlung für das Königreich Bayern mit Einschluss der Reichsgesetzgebung, Anhangband, München 1894, S. 56-140; Hanns Hubert Hofmann: Franken seit dem Ende des Alten Reiches (Historischer At­ las von Bayern, Reihe II Heft 2), München 1955, passim; Max Spindler / Gertrud Diepolder: Bayerischer Geschichtsatlas, München 1969, S. 36 (Das Werden des neuen Bayern) und 107 f.

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Als Folge des Friedens von Schönbrunn (24. Oktober 1809) erhielt Bayern im Pariser Vertrag (28. Februar 1810) Salzburg, Berchtesgaden, das Innviertel und Teile des Hausruckviertels wie des Salzkammerguts, das 1807 von Preußen an Frankreich abgetretene Fürstentum Bayreuth, verschiedene (in der Regel freilich schon vorher besetzte und einverleibte) Gebiete des Deutschen Ordens und, als Teil des Dalberg-Staates, Regensburg. Dagegen verlor es Südtirol und schwäbische Gebiete. Dieses Territorium wurde nach der Verordnung vom 23. September 1810 in neun Generalkreiskommissariate gegliedert: Mainkreis (Sitz Bayreuth), Rezatkreis (Sitz Ansbach), Regenkreis (Regensburg), Oberdo­ naukreis (Augsburg), Unterdonaukreis (Straubing), Illerkreis (Memmingen), Isarkreis (München), Salzachkreis (Burghausen) und Innkreis (Innsbruck). Für lange Zeit festgeschrieben, nämlich bis zum Verlust der bayerischen Pfalz 1945, wurden die Grenzen Bayerns dann im Wiener Kongress (Oktober 1814 bis Juni 1815). Die dort (mit Verträgen vom 3. und 23. April 1815) in Hin­ blick auf eine Landverbindung zwischen dem rechtsrheinischen Bayern und der Rheinpfalz gemachten Gebietszusagen im Neckar-Odenwald-Raum wur­ den freilich nicht mehr eingelöst.10 Die dritte Kreisreform schuf dann mit Ver­ ordnung vom 20. Februar 1817 acht Flusskreise: Isarkreis (Sitz München), Un­ terdonaukreis (Straubing), Regenkreis (Amberg), Oberdonaukreis (Augs­ burg), Rezatkreis (Ansbach), Obermainkreis (Bamberg), Untermainkreis (Würzburg) und Rheinkreis (Speyer). Allen diesen Kreisreformen war gemeinsam, dass historisch gewachsene Strukturen, die alten Territorialverhältnisse bis hinunter auf die Kirchspiel­ ebene, bewusst zerschlagen wurden, um die Durchsetzung der Reformen zu fördern. Die bewusste Auslöschung staatlicher Elemente des Alten Reiches was natürlich nicht eine bayerische Spezialität war, wenn das ruppige Vorgehen König Friedrichs von Württemberg in den neuwürttembergischen Gebieten, speziell gegen die ehemalige Reichsritterschaft, herangezogen wird - war ein tragendes Moment der Montgelas sehen Reformen. Hierfür mag die Zuwei­ sung von Teilen der ehemaligen Deutschordenskommende Virnsberg an unter­ schiedliche bayerische Landgerichte (Ansbach, Leutershausen und Windsheim11) ebenso stehen wie die (gelungene) Tilgung des Fränkischen Reichskrei­ ses aus dem historischen Gedächtnis der Menschen.12 10 Weber (wie Anm. 9), S. 59 f. 11 Hanns Hubert Hofmann: Neustadt-Windsheim (Historischer Atlas von Bayern, Reihe I Heft 2), München 1953, Karte 3. 12 Rudolf Endres: § 37. Der Fränkische Reichskreis, in: Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, 3. Bd., 1. Teilbd.: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahr­ hunderts, neu hrsg. von Andreas Kraus, 3. neu bearb. Aufl., München 1997, S. 473-477; ders.: § 45. Das Ende des Fränkischen Reichskreises, in: ebd., S. 507-512; ders.: Der Fränkische

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Mit der Thronbesteigung König Ludwigs 1825, dem Sohn Max I., änderte sich die Umsetzung der staatlichen Politik, wobei das strategische Ziel, die Schaffung eines neuen staatsbayerischen Bewusstseins, natürlich gleichblieb gleichbleiben musste. Im Zuge der restauratorischen und integrativen Politik Ludwigs I. erfolgte mit Verordnung vom 29. November 1837 eine weitere Kreisreform, die an die Stelle der Generalkommissäre die Regierungspräsiden­ ten setzte.13 Dabei blieb die Anzahl der Kreise gleich, und es kam auch nur zu wenigen Gebietsveränderungen, aber wichtig und bis heute gültig ist und bleibt, dass die Kreise nicht mehr nach Flüssen benannt wurden, sondern die historischen Namen der in Bayern vereinigten teutschen Volksstämme erhiel­ ten: Isarkreis und Unterdonaukreis wurden zu Ober- (Sitz München) und Nie­ derbayern (Landshut), der Regenkreis wurde zu Oberpfalz und Regensburg (Amberg), der Oberdonaukreis zu Schwaben und Neuburg (Augsburg), der Rezatkreis zu Mittelfranken (Ansbach), der Obermainkreis zu Oberfranken (Bayreuth), der Untermainkreis zu Unterfranken und Aschaffenburg (Würz­ burg) und der Rheinkreis zur Pfalz (Speyer). Die differenzierte territoriale Zu­ sammensetzung der Kreise und nachmaligen Regierungsbezirke drückte sich also auch in der Namensgebung aus. Diese Gliederung sollte dann, mit Aus­ nahme des 1949 zum Bundesland Rheinland-Pfalz geschlagenen Regierungs­ bezirks Pfalz, bis zur Verwaltungsreform von 1972 beibehalten werden. Mit der Festlegung der topographischen Organisation ist das Korsett ange­ legt, die Bühne gezeichnet. Die Akteure könnten nun auftreten! Aber wer sind diese? Mit dem staatspolitischen Auftrag König Ludwigs war eine Wurzel für die Historischen Vereine gelegt. Rudolf Endres hat, zu Recht, in seinem Festvor­ trag zum 150-jährigen Jubiläum des Historischen Vereins für Mittelfranken 1980 darauf hingewiesen,14 dass die andere Wurzel der freie Entschluss der Bürger und Geschichtsfreunde lag, sich zur Ausübung ihrer gemeinsamen In­ teressen zu einem Verein zusammenzuschließen. Dies war ein Zug der Zeit, war der Verein die wohl beliebteste bürgerliche Lebensform des 19. Jahrhun­ derts: Von der Wiege bis zur Bahre begleitete der Verein das Leben des einzel­ nen und gab ihm seinen Rang und seine Stellung in der bürgerlichen Gesell­ schaft. Gerade im Vormärz war der Verein der wichtigste Ausdruck des aufgeReichskreis als regionales Bindeglied, in: Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Ge­ schichte, hrsg. von Werner K. Blessing und Dieter J. Weiß (Franconia 1. Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landesforschung), Neustadt (Aisch) 2003, S. 169-178; ders.: Der Fränkische Reichskreis (Hefte zur bayerischen Geschichte und Kultur 29), München 2003. 13 Weber (wie Anm. 9), S. 137-140; Wilhelm Volkert (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799-1980, München 1983, S. 38-40. 14 Endres (wie Anm. 2), S. 5.

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klärten, emanzipierten Bürgertums, das im Verein alle bürgerlichen Aktivitäten organisierte; zugleich aber war der Verein Begegnungsstätte zur Überwindung der Standesschranken, denn hier trafen Adelige, Geistliche, Staatsbeamte und Bürgerliche zur Verfolgung gemeinsamer Ziele zusammen und pflegten auch gesellschaftlichen Umgang. Aus dem Gebotenen ergibt sich, dass es im rechtsrheinischen Bayern in eng­ ster Anlehnung an die staatliche Verwaltungsorganisation sieben Historische Vereine gab:15 Den für (1.) den Obermainkreis, dann für Oberfranken, mit Sitz in Bayreuth, gegründet am 31. März 1827, (2.) den Rezatkreis, dann in, später für Mittelfranken, mit Sitz in Ansbach, gegründet am 1. Januar 1830, (3.) den Untermainkreis, später Unterfranken und Aschaffenburg, mit Sitz in Würz­ burg, gegründet 1831 - er fusionierte 1948 mit dem 1841 gegründeten Würz­ burger Kunstverein16 -, (4.) den Regenkreis, dann für Oberpfalz und Regens­ burg, mit Sitz in Regensburg, gegründet am 20. November 1830, (5.) den Un­ terdonaukreis, dann Niederbayern, mit Sitz in Landshut, gegründet 1830, (6.) den Isarkreis, dann Oberbayern, mit Sitz in München, gegründet 1837, und (7.) den Oberdonaukreis, dann Schwaben und Neuburg, mit Sitz in Augsburg, ge­ gründet am 11. September 1834. Diese waren freilich nicht aus dem Nichts entstanden, wie die Beispiele Oberdonaukreis17 und Rezatkreis deutlich machen: In Augsburg war fast gleichzeitig mit der Gründung der „Gesellschaft für ältere deutsche Ge­ schichtskunde“ zu Frankfurt am Main 1819 durch den Freiherrn von Stein un­ ter Führung des Regierungsdirektors Johann Nepomuk von Raiser eine „Ge­ sellschaft für Altertumsfreunde“ zusammengetreten, die im September des sel­ ben Jahres die römischen Monumente aufnahm und verzeichnete. Raiser be­ gründete auch ein Publikationsorgan, die „Denkwürdigkeiten des Oberdonau­ kreises“, von denen von 1820 bis 1834 neun Bände erschienen, die hauptsäch­ lich die Römerzeit behandelten und als Monographien, nicht als Zeitschriften erschienen. In Ansbach hatte sich schon im Hungerjahr 1817 die bürgerliche „Gesell­ schaft für vaterländischen Kunst- und Gewerbefleiß“ konstituiert, die alles 15 Vgl. Handbuch der bayerischen Geschichtsvereine, hrsg. vom Verband bayerischer Geschichts­ vereine e.V., Bamberg 1993; vgl. Geschichte der Geschichtsvereine in Bayern. Eine Bibliogra­ phie, zusammengestellt von Gerhard Stolla (Materialien zur Bayerischen Geschichte und Kultur 7/99), München 1999. 16 Siegfried Wenisch: III. Zur Ausstellung „1831-1981. Der Historische Verein von Unterfranken und Aschaffenburg. Ein Rückblick auf Werden und Wirken in 150 Jahren“, in: MJb 33 (1981), S. 45-84, hier: S. 66. 17 Eduard Gebele: 100 Jahre Historischer Verein, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 51 (1934/35), S. 1-64, hier: S.10-12.

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Gute und Gemeinnützige fördern wollte.18 Vor diesem Hintergrund ist auch der 1827 in der Zeitschrift „Hermes“ publizierte Plan des Karl Heinrich Ritter von Lang19 zu sehen, der die Gründung regionaler historischer Museen vorsah. 1829/30 zum Präsidenten des Landrats des Rezatkreises gewählt, nahm Lang sogleich die Realisierung seines Plans in Angriff, und schon am 1. Januar 1830 fand in Ansbach eine Urversammlung mit 33 dortselbst befindlichen Freunden und Liebhabern der Geschichte statt - allen voran Regierungspräsident von Mieg und Appellationsgerichtspräsident von Feuerbach. Für den 11. Februar berief Lang eine zweite Versammlung nach Nürnberg, der zweiten oder „heimlichen“ Hauptstadt des Rezatkreises, ein. Insgesamt wurden für den Ver­ ein sogleich 122 Mitglieder gewonnen, die sich den Langschen Vorstellungen in seinem im ersten Jahresbericht abgedruckten „Plan zu einem historischen Ver­ ein“ im Rezatkreis anschließen könnten. Der älteste der heutigen Historischen Vereine auf Bezirksebene ist zweifel­ los der für Oberfranken, dessen Gründung und Entwicklung Eva Kunzmann kenntnisreich geschildert hat.20 Schon am 28. März 1827 waren in Himmelkron vier Männer zusammengetreten, zwei Juristen, nämlich der 1. rechtskundige Bürgermeister von Bayreuth, Christian Erhard von Hagen, und Regierungsrat Schunter sowie zwei Geistliche, Konsistorialrat Dr Kaiser und Theodor Dorf­ müller; Pfarrer zu Weiden. Nach dem gemeinsamen Entschluß, einen Histori­ schen Verein zu gründen, ging schon am 31. März 1827 die Einladung an alle Interessierten hinaus. Hagen, wohl die treibende Kraft, sprach alle „Freunde der vaterländischen Geschichte und Altherthumskunde“ an, wobei Zweck des Vereins die Bearbeitung und Erforschung der Bayreuthischen Geschichte und Alterthümer des Oberlandes und Unterlandes von ältester Zeit an bis zur Be­ sitznahme durch die Krone Bayerns. 260 Freunde der vaterländischen Ge­ schichte trugen sich in die Subskriptionslisten ein, die in allen Landgerichten auslagen. Am 13. Mai 1830 wandte sich Innenminister Eduard von Schenk an sämtli­ che Regierungspräsidenten, dass nach dem Vorbild des am 1. Januar in Ans­ bach nach der erleuchteten Absicht seiner Königlichen Majestät begründeten Vereins in allen Kreisen des Königreiches und hiedurch Vorbereitung von Spe­ zialgeschichten und kräftige Förderung des Nationalgeistes Nachahmungen

18 Endres (wie Anm. 2), S. 6. 19 Zur Person Heinrich v. Mosch, Karl Heinrich Ritter von Lang, geboren zu Balgheim im Ries, in: JbMFr 89 (1977/81), S. 119-132. 20 Eva Kunzmann: Zur Geschichte des Historischen Vereins für Oberfranken, in: AO 51 (1971), S. 231-276, Zitat S. 234.

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wünschenswert seien. Jeder Regierungspräsident möge eine umständliche Äußerung über seine diesbezüglichen Aktivitäten einreichen.21 Die Gründung der Historischen Kreisvereine war - trotz aller romantisch historisierender Gefühlswallungen22 - also ein genuin staatlicher Akt zur För­ derung wie Einforderung der Loyalität des Beamten- und Bildungsbürger­ tums, der das vom Bürgertum gestaltete wie geprägte Vereinswesen als Vehikel nützte. Die Historischen Vereine auf Kreisebene sind staatliche Gründungen, was bis heute durchschlägt und die saloppe Benennungen als „König-LudwigVereine“ wenn nicht rechtfertigt, so doch verständlich macht. Dies galt für den Verein für den Unterdonaukreis, dessen Statuten vom 13. August 1830 datier­ ten und bei den Präsidialakten der Regierung von Niederbayern zu finden sind,23 ebenso wie für den bei seiner Gründung 171 Mitglieder zählenden Ver­ ein für den Regenkreis (dann für die Oberpfalz und Regensburg), in dessen Ausschuss die Regierung immer wieder vertreten war, etwa 1930 durch den Geheimrat Stöhsel und den Oberregierungsrat Dünnbier.24 Auch wenn die „anderswo" - so Nestler in der eben zitierten Darstellung25 - übliche Gepflo­ genheit, dass der Regierungspräsident selbst Vorstand des Vereines ist, dort nie bestand und bis heute nicht besteht. Soweit ich sehe, ist dies heute auch nur beim Historischen Verein für Mittelfranken der Fall. Es waren immer die gleichen, die da zusammen kamen: Der Direktionsrat, der Forstmeister, der Professor, der k. Rat und Archivar, der Regierungsdirek­ tor und der -rat, der Landrichter, der Stadtkommissär wie der Geistliche Rat, der Legationsrat, der Appellationsgerichtspräsident und (wie es im Neu-Deut­ schen heißt) last - but not least - der Generalkommissär und Regierungspräsi­ dent. Und natürlich auch der Adel, der in Franken hiermit zugleich Staatstreue wie spezielles fränkisches Bewusstsein als letztes Rudiment reichsritterschaftlicher Selbstherrschaft demonstrieren konnte.26 So waren beim Historischen Verein für Mittelfranken noch 1930 24 Mitglieder des hohen und des niederen Adels vertreten, vor zwanzig Jahren waren es noch 16 und heute sind es kaum noch ein Dutzend.27 Die Bildungsträger in der Stadt und auf dem Lande, der Gymnasiallehrer und der Pfarrherr, sie durften ebenfalls beitreten, als lebender 21 Wenisch (wie Anm. 16), S. 48. 22 Vgl. Kunzmann (wie Anm. 20), S. 232 f. 23 J. F. Knöpfler: 100 Jahre Historischer Verein für Niederbayern, in: Verhandlungen des Histori­ schen Vereins für Niederbayern 63 (1930), S. 221-255. 24 Nestler: Hundert Jahre Historischer Verein der Oberpfalz und von Regensburg, in: VHVO 80 (1930), S. 3-23. 25 Ebd., S. 7. 26 Gerhard Rechter: Der fränkische Reichsadel. Eine ständische Utopie oder eine historische Realität?, in: Franken (wie Anm. 12), S. 179-191, hier S. 190 f. 27 Vgl. Endres (wie Anm. 2), S. 11-13.

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Beweis für die Überwindung jeglicher gesellschaftlicher Kluft durch die Idee des bürgerlichen Vereins. Und wenn die wenigen Quellen und dürren Statisti­ ken des Historischen Vereins für Mittelfranken richtig interpretiert werden, wird der Volksschullehrer erst nach dem Ende der staatlichen Schulaufsicht und mit Beginn seiner sozialen Emanzipation nach 1919 wirklich präsent sein (können). Mitglieder waren die staatstragenden, die gehobenen Kreise - ein ge­ sellschaftliches Phänomen, dessen Nachwirkungen wie -wehen die Kreisver­ eine zweifellos auch noch heute kennzeichnen. Bleiben wir, ebenfalls am Beispiel des Historischen Vereins für Mittelfran­ ken, bei den Aufgaben der Mitglieder, die sich, leger gesprochen, nicht allein im Zahlen des Beitrags wie gelegentlicher Präsenz bei den Jahrestagungen oder bei den auf Grund der Verkehrsverhältnisse nur durch von näher Wohnenden be­ suchbaren Vortragsabenden erschöpfte. Aufgabe für jedes Vereinsmitglied wa­ ren auch das Sammeln und das Bewahren von Münzen, Vasen, Figuren, In­ schriften, von Urkunden und Urkundenbüchern, von Codices und Chroniken, aber auch von Volksliedern und Gesängen, von heimatlichen Sagen und Mär­ chen. Das gemeinsame Ausgrabungserlebnis, ein horribile dictu für jeden heu­ tigen Archäologen, war ein wesentliches Moment des Vereinslebens, oder, wie wir heute sagen könnten, der „corporate identity“. Die gesammelten Materia­ lien sollten auch für eigene Forschungen genutzt werden. Für die Geschäfts­ führung wurden ein Bibliothekar, ein Konservator und zwei oder drei VereinsAnwälte bestellt, wozu jederzeit einer der Vorstände der obersten Kreisstellen vorzüglich einzuladen wäre.1* Jedes Jahr sollte eine große, achttägige Ver­ sammlung am Standort einer der vier großen Bibliotheken im Kreis abgehalten werden: in Ansbach, Nürnberg, Erlangen und in Deggingen, wo sich die berühmte Wallersteinsche Bibliothek befand. Mit diesem Plan, der übrigens erst 1933 als Satzung eingetragen wurde, wurde der Historische Verein zum Vorbild aller anderen Historischen Vereine. Nur - Lang war nicht ganz zufrieden, wurden die Historischen Kreisvereine, um dies noch einmal zu betonen, durch die Verpflichtung der Regierungsprä­ sidenten durch das Ministerium, einen solchen Verein einzurichten, gewisser­ maßen zu amtlichen Einrichtungen. Zudem war nicht Lang zum ersten Vorsit­ zenden gewählt worden, sondern der Regierungspräsident von Mieg. Bis heute, und nur von 1926 bis 1956 durch den Ansbacher Gymnasialprofessor und Heimatforscher Dr. h. c. Hermann Schreibmüller29 unterbrochen, fungiert 28 Ebd., S. 7. 29 Günther Schuhmann: Hermann Schreibmüllers wissenschaftlicher Nachlass, in: JbMFr 77 (1957), S. 228-230; Karl Bosl: Hermann Schreibmüller (1874-1956), in: Fränkische Lebensbilder (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe VII A Bd. 13), Neustadt/Aisch 1990, S. 166-171.

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übrigens der Regierungspräsident von Mittelfranken als Erster Vorsitzender des Historischen Vereins für Mittelfranken. Die Vereinsziele sind klar zu umschreiben: Förderung der Erforschung der Geschichte des Regierungsbezirks Mittelfranken unter besonderer Berück­ sichtigung des ehemaligen Fürstentums Brandenburg-Ansbach, sowie Öff­ nung und Vermittlung dieser Ergebnisse für alle Interessierten, mithin histori­ sche Bildungsarbeit.30 Bildungsarbeit wird am erfolgreichsten immer von der unmittelbaren Um­ gebung ausgehen, welche die Menschen kennen und die ihre ersten Fragen nach dem Warum hervorruft. Die Überdehnung der personellen Ressourcen, wobei nicht zu vergessen ist, dass alle Arbeiten im Verein ehrenamtlich neben dem Beruf und/oder Privatleben geleistet wurden und noch heute geleistet werden,31 kommt auch ein Mangel an wissenschaftlichen und finanziellen Mit­ teln hinzu. Der Jahresbericht, der sich über seinen Vereinshintergrund hinaus zum Jahrbuch auf historisch-wissenschaftlicher doch allgemein verständlicher Grundlage wandelte, war auf kompetente Autoren zu regionalen Themen an­ gewiesen. Dabei konnte er freilich nicht beliebig dick werden, und manches musste ungedruckt bleiben. Leicht konnte da das Gefühl des Zurückgesetzt­ seins aufkommen, besonders bei den von ihrem speziellen „Regionalgefühl“ geprägten Franken. Als konkretes Beispiel soll hier nur die Gründung des Hi­ storischen Vereins Bamberg für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums e.V. am 8. Juli 1830 angeführt, der als konkreter Widerspruch zu dem im lutherischen Bayreuth sitzenden Kreisverein vertretenen „Universal­ anspruch“ gelten mag.32 So wundert es nicht, dass auch in Mittelfranken die Zahl der regionalen Ver­ einsgründungen zunahm:33 1878 der Nürnberger Geschichtsverein mit so­ gleich 200 Mitgliedern, 1879 in Gunzenhausen, 1886 in Eichstätt (mit 135 Mit-

30 Satzung [des Historischen Vereins für Mittelfranken], in: JbMFr 91 (1982/83), S. 241-246, hier §1S. 241. 31 Wobei die Klage Nestlers - „Mit Besorgnis nehmen wir wahr, wie schwer es heutzutage ist, un­ besoldete Mitarbeiter zu gewinnen, wie in den Ruhestand Getretene statt nun einen Teil ihrer freien Zeit der historischen Forschung zu widmen in der Erkenntnis, daß die besten Waffen ge­ gen die Beschwerden des Greisenalters die Wissenschaften sind, wegen ihrer geschmälerten Ein­ künfte dem Verein den Rücken zuwenden um die paar Mark Vereinsbeitrag zu sparen, wie jün­ gere Leute sich scheuen, durch Übernahme eines Amtes sich zu binden, auch deshalb, weil der Staat durch seine Sparmaßnahmen die Arbeitskraft seiner Beamten mehr ausnützt als früher, wie überhaupt vor lauter Gegenwartsforderungen der historische Sinn im Schwinden begriffen ist.“ [Nestler (wie Anm. 24), S. 22 f.] - auch heute noch aktuell ist. Hinzu kommt, dass zunehmend auch die Kommunen sich allem Anschein nach der Vereinslasten durch Austritt entledigen. 32 Handbuch (wie Anm. 15), S. 14 f. 33 Nach ebd., passim; Literatur s. Geschichtsvereine (wie Anm. 15), passim.

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gliedern), 1898 Alt-Rothenburg, 1901 in Schwabach, 1909 in Neustadt a. d. Aisch, 1919 in Erlangen und 1933 in Fürth. Diese Gründungen entzogen, auch hier ist Rudolf Endres zuzustimmen,34 dem Kreisverein nicht nur Mitglieder, sie beschlagnahmten auch viele aktive Mitarbeiter, die nun die jeweiligen regionalen Publikationen mit ihren Arbei­ ten bedachten. So wurden im mittelfränkischen Jahrbuch nach Gründung der Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg kaum mehr Nürnberger Themen behandelt. Gleiches gilt für den Bereich Eichstätt, während Gunzenhausen und Rothenburg weniger stark betroffen waren. Im­ mer mehr zog sich der Historische Verein für Mittelfranken auf das Fürsten­ tum Brandenburg-Ansbach als Spezialgebiet zurück, was er heute mit der in die Satzung aufgenommenen Formel unter besonderer Berücksichtigung ka­ schiert, womit er deutlich, obschon durch die normative Kraft des Faktischen gezwungen, von den Intentionen der Gründungsväter abwich. Diesem Trend zur Regionalisierung konnten sich auch die anderen Kreisver­ eine nicht entziehen, wobei der Versuch, die Stellung mit Hilfe des Konstrukts lokaler Ortsgruppen zu halten, wie dies ansatzweise in Oberbayern, erfolgrei­ cher und dauerhaft in Oberfranken und der Oberpfalz durchgeführt wurde, die Entwicklung nur verlangsamte, nicht abstoppte. Die trotz allem lange Zeit unangefochtene Stellung der Historischen Vereine wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die als Kinder der Heimatschutzbewegung ... ungebär­ dig ... volksbezogen und oft emotional bewegt auftauchenden Heimatvereine tangiert,35 deren Vorteil zweifellos in einem ganzheitlichen Element liegt: näm­ lich in der Zusammenführung von Geschichte, Naturschutz und Heimatpflege zum Erhalt der Umwelt (man könnte auch sagen: der Heimat) oder zum Schutz der Lebensqualität in den Kultur- und Siedlungsgebieten Bayerns. Dafür steht im übrigen auch der Bayerische Heimattag, der von den drei „Dachverbänden“, dem Landesverein für Heimatpflege, dem Bund Natur­ schutz und dem Verband bayerischer Geschichtsvereine, in zweijährigem Tur­ nus begangen wird. Den angesprochenen Trends unterlagen übrigens nach 1945 auch große Re­ gionalvereine wie der in Nürnberg mit der Gründung der Altnürnberger Landschaft 1951 und der Altstadtfreunde 1950, die freilich zur heutigen Schlagkraft erst 1973 umgeformt worden sind und sich nicht als genuin histo­ rischer Verein verstehen. Diese Neugründungen - spezialisiert, wie die Alt-

34 Endres (wie Anm. 2), S. 14 f. 35 Manfred Treml: Was sind und wozu braucht man Geschichtsvereine?, in: Geschichtsvereine (wie Anm. 15), S. 6-8, Zitate S. 6.

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stadtfreunde, und generalisiert zugleich, wie etwa der Heimatverein Wilhermsdorf36 - konnten sicherlich nicht zuletzt wegen dieser Ortsbindung - wobei ich das persönliche Engagement der Vereinsführungen damit keineswegs schmälere - durchaus erfolgreich sein. So konnte der 1979 gegründete Heimatverein Wilhermsdorf und Umgebung innerhalb kurzer Zeit 1.650 Mitglieder verzeichnen. Dafür mag natürlich freilich auch ursächlich sein, dass nicht allein historische Themen auf dem Programm standen (und stehen) sondern auch Übungen wie Darbietungen von Mundharmonika-, Theater- und Volkstanzgruppen. Die ge­ schichtliche Abhandlung, das historische Thema ist also nur noch eine Facette des Steins. Auf die seit den 1970er Jahren aufkeimenden (im übrigen erfolgrei­ chen) Geschichtswerkstätten sei hier nur aufmerksam gemacht.37 Die Historischen Kreisvereine stehen also in Konkurrenz nicht nur mit an­ deren Interessens- und Freizeitmöglichkeiten, ebenso sind sie den wechseln­ den Moden des Zeitgeistes unterworfen, wie sich an den nach dem Höchst­ stand der 1980er Jahre bestenfalls stagnierenden Mitgliederzahlen zeigt. Die Frage „ehrwürdig oder überholt?“ stellt sich also sehr aktuell. Wobei es bislang keine statistischen Untersuchungen zur Altersstruktur der Historischen Ver­ eine gibt, wohl auch so schnell nicht geben wird. Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass das Durchschnittsalter der Mitglieder eines historischen Ver­ eins naturgemäß über demjenigen eines Sportclubs liegt. Dagegen sind die Mitgliederzahlen, dank des 1993 vom Verband bayerischer Geschichtsvereine vorgelegten Handbuchs,38 greifbar, wobei zwischen natürli­ chen und juristischen Personen hier nicht unterschieden wird. So zählte der Historische Verein für Oberfranken mit den Ortsgruppen 760 Mitglieder, der für Mittelfranken 564; ferner wurden 2.319 „Freunde Mainfränkischer Ge­ schichte“ gezählt, beim Historischen Verein für die Oberpfalz und Regens­ burg, der ebenfalls Ortsgruppen kennt, 1.088 Mitglieder; der schwäbische Ge­ schichtsverein notierte 710 Mitglieder, der niederbayerische 726 und der ober­ bayerische 2.174 Mitglieder. Insgesamt zählen die „König-Ludwig-Vereine“ also etwa 7.300 Mitglieder, wobei freilich die Vereine in Unterfranken und in Oberbayern circa 4.500 stellen. Die noch 1949 vom damaligen Münchner Lehrstuhlinhaber Max Spindler formulierte Frontstellung zwischen den als Hort der Fachwissenschaft begrif­ fenen König-Ludwig-Vereinen und den Heimatvereinen gilt so heute nur noch teilweise:39 „Die Aufgabe der größeren Historischen Vereine liegt auf einer an-

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Handbuch (wie Anm. 15), S. 157. Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Wächter in diesem Band. Wie Anm. 15. Treml (wie Anm. 35), S. 5 f.

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deren und höheren Ebene als der Heimatkunde und Heimatpflege. Sie besteht in der Pflege der Geschichte auf wissenschaftlichem Weg. ... Versagen die his­ torischen Vereine, so werden von seiten der Heimatpflege Grenzüberschrei­ tungen immer häufiger werden und es wird sich ein übelster Dilettantismus breit machen.“ Der Verein wird - wie den Vorstandsmitgliedern auch des Historischen Ver­ eins für Mittelfranken bewusst ist - von seinen Mitgliedern an seinen Leistun­ gen für sie gemessen. So soll das Jahresprogramm für jeden etwas bieten, es soll allgemein verständlich, aber wissenschaftlich genau sein - und natürlich soll es auch gesellschaftliche Ereignisse wie die Jahrestagung oder Veranstaltungen an ausgewählten, nicht allgemein zugänglichen Orten enthalten. Die Publikatio­ nen haben sich ebenfalls an der Messlatte breiten Interesses zu orientieren, wo­ bei freilich ein Fixpunkt die Fundberichte der mittelfränkischen Archäologie sind. Bei der Durchsicht der Jahrbücher des Historischen Vereins für Mittel­ franken fällt auf, wie hier anzumerken ist, dass im 19. Jahrhundert mehr „posi­ tivistische“ Quellenpublikationen40 geboten wurden, wogegen seit den 1920er Jahren die Darstellung dominiert.41 Ferner sind die Sammlungen zu nennen: Realien, Bücher und Archivalien. Die beiden letztgenannten finden sich seit dem 17. Oktober 1864 in staatlicher Obhut, nämlich bei der Regierungsbiblio­ thek in Ansbach; die reichhaltige Archivaliensammlung wurde dann Ende der 1970er Jahre von dort als Depositum in das für Mittelfranken zuständige Staatsarchiv Nürnberg überführt.42 Während die Archivaliensammlung durch einen im Verhältnis zum 19. Jahrhundert kleineren Markt wie durch ein geän­ dertes Archivbild mit breiterer Zuständigkeit kommunaler wie staatlicher Ar­ chive praktisch nicht mehr wächst, verzeichnet die Vereinsbibliothek nicht zu­ letzt durch einen regen Tauschverkehr jährlich nicht unbeträchtliche Zu­ wächse. Die vor- und frühgeschichtlichen Sammlungen sowie weiteres Mu­ seumsgut finden sich im Markgrafenmuseum Ansbach, wobei der Verein, dank günstiger Finanzlage, in den letzten Jahren auch Zuerwerbungen tätigen konnte. In Vorstand und Beirat des Historischen Vereins für Mittelfranken werden selbstredend auch programmatische Überlegungen zur Gestaltung der künfti-

40 Was hier freilich keineswegs negativ verstanden werden soll; vielmehr lebt auch die Landesfor­ schung noch heute recht oft von solchen in der Regel gut gemachten Quellenpublikationen, die ihren Wert über alle wissenschaftstheoretischen Strömungen hinweg erhalten haben. 41 Vgl. Register zu den Jahresberichten und Jahrbüchern des Historischen Vereins für Mittelfran­ ken, bearb. von Emma Foertsch, JbMFr 88 (1975/76). 42 Repertorium D 12.

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gen Vereinsarbeit diskutiert,43 wobei an endgültige, abschließende Ergebnisse naturgemäß nicht zu denken ist. Dabei herrscht Einigkeit, dass eine breite Streuung der für die Mitglieder gebotenen Themen innerhalb des von der Sat­ zung vorgegebenen Rahmens erwünscht ist. Hierher gehören auch neue For­ men der Vereinsarbeit, wie die Ausweitung über den traditionellen „Gelehr­ tenvortrag" hinaus. Der Erfolg des im Oktober 1999 in Bad Windsheim in Zu­ sammenarbeit mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und dem Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim abgehaltenen zwei­ einhalbtägigen Kolloquiums „Zukunft braucht Herkunft! Zur Geschichte der bäuerlichen Landwirtschaft in Franken", mit zuweilen bis 100 Zuhörern, spricht dafür.44 Ein besonderes Thema stellt die Organisation von ein- und mehrtägigen Ex­ kursionen dar,45 da vor allem letztere für berufstätige Mitglieder oftmals nur schwerlich zu nutzen sind. Ebenso muss darauf geachtet werden, dass diese Veranstaltungen möglichst vielen Mitgliedern zugute kommen können, damit nicht der gefährliche Eindruck entsteht, eine wohlsituierte und noch rüstige „Pensionisten- und Rentnertruppe" nütze den Verein als höchsteigenes Reise­ büro. Zu diesem Spagat kommt noch das sachthematische Problem, dass die Verbindung auch einer solchen Veranstaltung zur (Landes-)Geschichte nicht verlorengehen darf. Hierher gehört eben nicht allein ein Ausstellungsbesuch oder die Besichtigung einer landesgeschichtlich relevanten Stätte, sondern (wie bei der Exkursion 1988 in den Westerwald mit Erfolg praktiziert) auch das Ge­ spräch mit den vor Ort tätigen Historischen Vereinen. Aber natürlich bleibt der Historische Verein eine Plattform für wissen­ schaftliche Publikationen wie für eine anerkannten Standards genügende Hei­ matforschung;46 er ist auch Teil der „Lobby für Geschichte". Seinen Wirkungs­ grad kann er dabei noch durch die Zusammenarbeit mit anderen Vereinen stei-

43 Zu den Funktionen von Vorstand (§ 16) und Beirat (§ 17) s. Satzung [des Historischen Vereins für Mittelfranken], in: JbMFr 91 (1982/83), S. 241-246, hier S. 244 f.; ebenda auch Zuständigkei­ ten und Rechte ordentlicher wie außerordentlicher Mitgliederversammlung (§§ 14 und 1); vgl. auch Oskar Riedmeyer: Rechtsfragen zum Verein, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 21 (2002), S. 1-17; Jorg Wollny, Der Verein und das Finanzamt. Information für die Vereinspraxis, in: ebd., S. 18-39. 44 Gerhard Rechter, Historischer Verein für Mittelfranken e.V. Ein Kolloquium, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 19 (2000), S. 57-59. 45 So etwa die vom 29. bis 31. August 1988 durchgeführte Fahrt in die ehemalige Reichsgrafschaft Sayn-Altenkirchen oder die vom 31. August bis 8. September 1990 durchgeführte Exkursion nach England; vgl. dazu JbMFr 96 (1992/93), S. 257 f. und 263 f. 46 Wolfgang Pledl: Heimatforschung heute. Selbstverständnis, Aufgaben und Perspektiven, in: Mitteilungen des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine 17 (1996), S. 23-32.

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gern, wie dies die mit dem Crailsheimer Historischen Verein e.V. vorgelegte Publikation „Hexenverfolgung im Markgraftum Brandenburg-Ansbach und in der Herrschaft Sugenheim. Mit Quellen aus der Amtsstadt Crailsheim“ von Traudl Kleefeld, Hans Gräser und Gernot Stepper 2001 gezeigt hat.47 Für die Zukunft immer wichtiger wird die Öffentlichkeitsarbeit, wobei ne­ ben den traditionellen Print- und den sogenannten neuen Medien auch die - al­ lerdings erst in Aufbau befindliche - Homepage des Vereins gehört, die neben Informationen über den Verein und einem Verzeichnis der Publikationen auch die Möglichkeit für Anfragen bietet bzw. bieten soll.48 Hierher gehört aber auch die zeitliche Ausweitung des Programms auf die Geschichte des 20. Jahr­ hunderts, die bis 1950 für einen Großteil der Vereinsmitglieder eben nicht mehr erlebte Zeitgeschichte ist.49 Der Historische Verein für Mittelfranken ist freilich in der glücklichen Lage, seine Geschichte in der Zeit des Dritten Reiches nicht - etwa auf Grund von Regime-Nähe - verstecken zu müssen. Der damalige Vorsitzende, Hermann Schreibmüller, war weder Parteigenosse, noch hatte er irgendwelche Sympa­ thien für das Regime. Und für die NSDAP war der nur einer bestimmten Öffentlichkeit bekannte Verein wiederum kein besonders interessantes Objekt - somit waren kaum Berührungspunkte gegeben, man kann vielleicht sogar von einem Nicht-Verhältnis sprechen. Der Verein hat aber auch keinen Anlass, um die neuere Geschichte einen Bogen zu machen, wobei keine Scheu besteht, mit dem Verein „Geschichte Für Alle e.V.“ zusammenzuarbeiten.50 Diese Öffnung ist wohl bei allen Kreisvereinen festzuhalten, was sicherlich ebenso mit der sich verändernden Autorenschaft zusammenhängt wie mit dem Wandel bei Alters- und Sozialstruktur der Mitglieder, die immer weniger dem traditionellen Publikum aus Beamtenschaft, Pfarrern und Lehrern zugehören. Vermehrt kommt der von den Medien, der Zeitung oder gar dem Regional­ fernsehen auf die Geschichte seiner Umgebung oder gar Heimat aufmerksam gemachte Alteingesessene oder Zuzügler, wobei hier auf die zuweilen tragende Rolle der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge für die Heimatgeschichte nach 1954 nur aufmerksam gemacht werden kann. 47 Erschienen als Mittelfränkische Studien 15 wie als Veröffentlichungen zur Ortsgeschichte und Heimatkunde in Württembergisch Franken 19, Ansbach 2001. 48 www.historischer-verein-mittelfranken.de. 49 Vgl. dazu Wolfgang Pledl: Zeitgeschichte und Heimatforschung. Eine Einführung, in: Forum Heimatforschung 6 (2001), S. 5-17. 50 So etwa bei der 2003 angesetzten Vortragsreihe „Mittelfranken in der ersten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts. Kaiserreich, Weimarer Zeit, Drittes Reich und Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945“, bei der Referenten von „Geschichte Für Alle e. V.“ die ersten drei Vorträge bestritten.

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Dabei muss aus Vereinssicht ein Ziel sein, den Konsumenten zum (im wahrsten Sinn des Wortes) Mitarbeiter werden zu lassen. Auch ist historische Bildungsarbeit didaktisch immer besser aufzubereiten, denn das die klassische „Vorlesung“ gewöhnte Publikum gibt es so kaum mehr. Zudem ist bürgerliche Bildung kein allgemein verständlicher und akzeptierter Codex mehr: Nicht die fließende Beherrschung von Latein oder gar Griechisch ist Bildungsgut, son­ dern, um ein Beispiel zu nennen, das Erkennen von strukturellen Gemeinsam­ keiten zwischen dem 30-jährigen Krieg und den Vorgängen auf dem Balkan. Bildungs- wie Themenwandel werden auch an den Kreisvereinen nicht Vorbei­ gehen. Vereine, die sich nicht wandeln können, ohne sich dabei freilich dem oft platten Zeitgeist anzupassen, werden sicherlich nicht verschwinden wie einst die Dinosaurier, sie werden vielmehr an den wissenschaftlichen Rand ge­ drängte gesellschaftliche Zirkel ohne jegliches öffentliche Interesse sein. Die Kreisvereine: Ehrwürdig oder überholt? Wie ist die Frage zu beantwor­ ten? Nicht mit ja oder nein, sondern differenzierter: Ehrwürdig sicherlich vom Alter wie von den Verdiensten für den Erhalt von Quellen und die historischen Einsichten weiterbringende Forschungen. Aber auch überholt, wenn der bei ihrer Entstehung herrschende staatliche Konnex betrachtet wird. Der Wandel vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie, zur pluralen und offenen Gesellschaft lässt auch die Kreisvereine nicht unberührt, und soweit ich sehe, begreift sich keiner mehr als „Verein zur Pflege vaterländischen Bewusstseins“, als Mittel der Sicherung nationaler Identität. Was nicht überholt ist, ist das Bewusstsein, vor dem wissenschaftsethischen Hintergrund Solidität „Volksbildung“ zu be­ treiben; nur kann dies heute nicht mehr im bildungsbürgerlichen Verkün­ dungsstil erfolgen, bei dem die Autorität als „Hüter am Tor zur Geschichte der bayerischen Stämme“ gnädigst einen Eindruck ihres Wissens gibt, sondern muss in Akzeptanz der Bedürfnisse des zu Bildenden wie zu Überzeugenden erfolgen. Denn die Menschen kommen kaum mehr zu uns, sondern wir müs­ sen uns überlegen wie wir sie erreichen, erreichen können. So mögen die Kö­ nig-Ludwig-Vereine, um mit Manfred Treml zu sprechen,51 „mahnen und an­ regen, Gegenwartsinteressen artikulieren und organisieren und sie in Bezug zu Vergangenem setzen.“ Mögen sie auch weiterhin für „aktive kulturelle Betäti­ gung Raum bieten, das für die weitere Zukunft unverzichtbar sein wird.“

51 Treml (wie Anm. 35), S. 6 f.

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BÜRGER- UND VORSTADTVEREINE IM WANDEL ZUR GEGENWART Von Hartmut Heller Man sagt den Deutschen viele Eigenschaften nach; zu den gutmütigsten gehört, sie seien Vereinsmeier, Vereinshansel oder, abgeleitet von der Figur des „deut­ schen Michel“, Vereinsmichel. Gern würde man wissen, ob es wirklich in anderen Ländern so viel weniger Vereine und Clubs gibt!1 1. Vereinsstatistik Sind wir Deutschen tatsächlich solche Vereinsmeier? Und: Ist der Verein be­ vorzugt nur ein Tummelplatz der Männer, wie es in diesen Spottbegriffen den Anschein hat? Leider ist niemand imstande, darüber umfassend exakte An­ gaben zu machen.2 Weder das Statistische Bundesamt noch das Bayerische Statistische Landesamt erheben das Vereinswesen in toto. Mühsam Zusammen­ tragen ließe sich die Gesamtzahl bestehender Vereine, freilich auch nur be­ schränkt auf die registergerichtlich angemeldeten e.V.’s, allein über die Amts­ gerichte. Eine Stichprobe für das Stadtgebiet Nürnberg, Stand 1. September 1999, überraschte: 2450! Auf so viele hätte wohl keiner geschätzt! Ob das alte Naturgesetz vom ständigen Erlöschen und neuer Geburt dabei derzeit zu einem Aufwärts- oder Abwärtstrend führt, bleibt unbekannt. Noch breiter wird die Szene durch nicht rechtsfähige Vereine, lockere Bürgerinitiativen und jede Menge anderer „informeller Gruppen“. Es herrscht ein Pluralismus, den man als Zersplitterung der Kräfte möglicherweise auch kritisieren könnte. Was kann man sonst noch sagen? 1 Vortrag beim Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg im Rahmen des Kolloquiums „Geschichtsvereine als geschichtliche Kraft“ am 25. Januar 2003; überarbeitete und erweiterte Fassung eines bereits veröffentlichten Beitrags von Hartmut Heller: Vereine 2000 - Gene­ rationenvertrag zwischen Alt und Jung?, in: Zs. Frankenland 52 (2000), S. 23-35; ders.: Epilog auf Männerbünde. Volkskundliche Untersuchungen an vermeintlich geschlechtsspezifischen Grup­ pen. Kriegervereine und Fanclubs, in: Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg (Hrsg.): Matreier Gespräche zur interdisziplinären Kulturforschung 1984 (Festschrift Walter Hirschberg 85 Jahre), Wien / München 1989, S. 80-89; ders.: Franken im Herzen Bayerns. Zum 75-jährigen Be­ stehen des Frankenbundes, in: Literatur in Bayern 40 (1995), S. 71-74; ders.: Hat der bürgerliche Kulturverein noch Bedeutung und Chancen im 21. Jahrhundert?, in: Zs. Frankenland 51 (1999), S. 65-69; ders.: Organisierte Regionalidentität. Der Frankenbund e.V., in: Werner K. Blessing / Dieter J. Weiß (Hrsg.): Franken - Vorstellung und Wirklichkeit (Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landesforschung 1), Neustadt (Aisch) 2003, S. 381-390. 2 Vgl. Siegfried Kett (Hrsg.): Kulturelle Freizeit in Nürnberg. Vereinsatlas, Nürnberg 1980/81, S. 9.

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2. Festschriftrituale, aber wenig Literatur Uber Vereine zu forschen ist einfach und schwierig zugleich! Jeder Verein bringt irgendwann zu seinen Jubiläen eine „Festschrift“ heraus, oft nur ein paar Seiten, manchmal dicker. Diese Textgattung gedruckter Festgaben ist geradezu symptomatischer Teil der „Vereinskultur“ selbst, gehört zur Vereinsehre. Sie sind Anlass, sich zu erinnern an die Gründergeneration, die Ziele, das Grup­ penleben, eventuelle Durchhänger, Wandlungen, neue Anläufe. Vor allem aber sind sie Ort der gemeinsamen Selbstversicherung. In den Festansprachen ver­ einen sich Rückblick und Zukunftsprogramm. Vereinsfeste sind wesentliche Höhepunkte im Jahreskalender, und zwar nicht nur intern der Mitglieder, sondern darüber hinaus der ganzen Stadt und erst recht der Dörfer,3 deren „Kulturbetrieb“ teilweise fast identisch ist mit den Vortragsabenden, Festzeltgeselligkeiten, Umzügen ihrer Korporationen. Den Festschriften vorangestellte Grußworte des Bürgermeisters, des Pfarrers, des Landrats bestätigen diese innige Beziehung: Der jeweilige Verein wird zum Symbol für den ganzen Ort stilisiert. Und: Man kommt, begriffen als Affirma­ tion von Bedeutung, endlich mal in die Zeitung! Das so vorfindbare Schriftgut weiter zu verarbeiten, ist jedoch schwierig, weil man in diesem Meer von Kleinbroschüren und nur gruppenintern-lokal interessanten Einzelheiten schier ertrinkt. Wie soll man von da auf ein Verall­ gemeinerungsniveau gelangen? Es gibt, soweit ich sehe, wenig Literatur, die sich die Mühe solchen Zusammenfassens und größerer Überblicke macht.4

3 Hans-Jörg Siewert: Der Verein. Zur lokalpolitischen und sozialen Funktion der Vereine in der Gemeinde, in: Hans Georg Wehling (Hrsg.): Dorfpolitik. Sozialwissenschaftliche Analysen und didaktische Hilfen, Opladen 1978, S. 65-83; Albrecht Lehmann: Vereinsstruktur und Dorfgesellschaft. Ergebnis einer empirischen Gemeindeuntersuchung, in: ZAA 27 (1979), S. 105-118; Dieter Jauch: Die Wandlung des Vereinslebens in ländlichen Gemeinden Südwest­ deutschlands, in: ZAA 28 (1980), S. 48-72; Herbert Schwedt: Vereine im ländlichen Raum, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 16 (1984), S. 56-65; Hans-Georg Wehling: Heimat Verein. Leistung und Funktionen des lokalen Vereinswesens, in: ders. (Hrsg): Heimat heute, Stuttgart 1984, S. 86-99; Heinrich Becker / Michael Heinz SJ: „Dörfer sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren“. Dörfliches Sozialleben im Spiegel der Vereine, in: ZAA 50 (2002), S. 106-115. 4 Richard Martischnig: Vereine als Träger von Volkskultur in der Gegenwart. Am Beispiel Mattersburg (Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde 9), Wien 1982; Hans-Friedrich Foltin: Geschichte und Perspektiven der Vereinsforschung, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 16 (1984), S. 3-31; Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und bürgerliche Ge­ sellschaft in Deutschland (Historische Zeitschrift Beiheft 9 NF), München 1984; Gerhard Kratzsch: Vereinsbildung und Vereinswesen, in: Westfälische Forschungen 39 (1989), S. 1-17; Heinrich Best (Hrsg.): Vereine in Deutschland. Vom Geheimbund zur freien gesellschaftlichen Organisation, Bonn 1993; Elisabeth Roth: Vereine in der Region. Kulturelle Bereicherung und soziale Verantwortung, in: Zs. Frankenland 47 (1995), S. 272-277.

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3. Blick zurück ins 19. Jahrhundert Deutsches Vereinswesen beginnt im 19. Jahrhundert - sofern man als Kri­ terium das bekannte Kürzel „e.V.“ (eingetragener Verein) hernimmt. Solch registergerichtliche Zulassung war in den Tagen der Restauration nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) und dem Hambacher Fest (1832 „Zehn Arti­ kel“) natürlich zuvorderst ein politisches Kontrollinstrument, umstürzlerische Zusammenrottungen zu erkennen. Sogar harmlos-brave Zusammenschlüsse wie der Nürnberger Lehrerverein (gegründet 1821) und der daraus hervor­ gegangene Allgemeine Lehrerverein in Bayern (1823) wurden damals zeit­ weilig verboten; zur Erneuerung kam es erst wieder 1861.5 Zünfte, Wallfahrtsbruderschaften, die Brauchhandlungen der Dorfburschen, Dichterbünde, Freimaurerlogen, Landsmannschaften an den Universitäten, Gelehrtenzirkel der Aufklärung waren die älteren Vorläufer gewesen. Selbst­ redend hatten auch sie stets obrigkeitlicher und kirchlicher Duldung bedurft. Trotzdem aber sah nachromantisches Denken darin etwas Natürlich-Ur­ sprüngliches, weswegen man den eingetragenen Verein der eigenen Gegenwart als organisiert und eher künstlich abtat. Dies hatte zur Folge, dass zumindest volkskundliche Forschung, nur am so genannten „Echten“ interessiert, das Gebilde „Verein“ jahrzehntelang völlig ignorierte. Erst 1959 forderte Hermann Bausinger den Paradigmenwechsel.6 Es entstanden nun einige Monographien zur Entwicklung des Vereinswesens in Hamburg, Nürnberg, Graz, München.7 Und es bestätigte sich im Fall dieses Vereinswesens abermals jenes kulturelle Grundgesetz, dass Novationen zumeist in den großen Städten entstehen und erst mit Zeitverzug auch das flache Land erreichen.8 Nur die wenigsten Dorf­ vereine, am ehesten die Sänger, datieren schon vor der Jahrhundertwende. Die Sachkultur, die der Volkskundler gern mit berücksichtigt sähe, kommt in den meisten dieser gebietsorientierten, teils ja auch von Historikern oder Sozio-

5 Max Liedtke: Lehrervereins-Protokolle Nürnberg 1821-1830. Aus den Anfängen der Lehrer­ vereinsbewegung, Bad Heilbrunn 1989; ders.: Die Geschichte des BLLV beginnt 1823. Die Ge­ schichte des Allgemeinen Lehrervereins in Bayern, Trostberg 1995. 6 Hermann Bausinger: Vereine als Gegenstand volkskundlicher Forschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 55 (1959), S. 98-104. 7 Herbert Freudenthal: Vereine in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde von Ge­ sellschaft, Hamburg 1968; Wolfgang Meyer: Das Vereinswesen der Stadt Nürnberg im 19. Jahr­ hundert (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 3), Nürnberg 1970; Elisabeth Katschnig-Fasch: Vereine in Graz, Graz 1976; Ingo Tornow: Das Münchner Vereinswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Miscellanea Bavarica Monacensia 75), München 1977. 8 Ernst M. Wallner: Die Rezeption stadtbürgerlichen Vereinswesens durch die Bevölkerung auf dem Lande, in: Günter Wiegelmann (Hrsg.): Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, Göttingen 1973, S. 160-173.

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logen gemachten Arbeiten zu kurz. Wir können den unvermeidlichen Apparat der Fahnen, Pokale, Bierhumpen, Anstecknadeln, Gruppenuniformen, Groß­ fotos und sonstiger Embleme, die im Vereinszimmer eines Dorf- oder Vorstadt­ wirtshauses die Wände schmücken oder den Vereinsschrank füllen, um dann bei öffentlichen Auftritten stolz vorgezeigt zu werden, hier nur so kurz summarisch erwähnen. Für ältere Zunft-Zeiten würde sich ein Gang durch die Abteilung „Handwerk" im Germanischen Nationalmuseum empfehlen (Zunftladen, Will­ komm- und Schützenpokale, Prozessionsstangen, Sargschilde u.ä.) oder auch zu den Sammelgräbern etlicher Handwerke auf dem St.-Johannis-Friedhof. 3.1 München um 1850: Gemütlichkeits-, Schützen- und Hilfsvereine Was aber erhellt sich aus jenen eher statistisch-strukturellen Untersuchungen zum 19. Jahrhundert? Nürnberg, jetzt genau 100.000 Einwohner groß, wies 1880 bereits 455 Vereine auf. Bis zur Jahrhundertwende (261.000 Einwohner) verdoppelte sich der Bestand mit jedem Jahrzehnt.9 Da sich die Nürnberger Verhältnisse in der Dissertation von Wolfgang Meyer aber nicht so schön aus­ zählen lassen wie bei Ingo Tornow für München,10 schauen wir parallel für den Zeitraum 1800-1850 kurz dorthin. Neben reinen Gemütlichkeitsvereinen tra­ ten unter insgesamt 198 Gründungen zwei Typen besonders hervor: Sieben Prozent kann man im weitesten Sinn den Schützenvereinen zurechnen (zum Beispiel „Bolzschützengesellschaft zur Eintracht", „Kgl. Hauptschützen­ gesellschaft", „Pfeilschützengesellschaft zur Rose", „Bolzschützengesellschaft beim Kreuzbräu", „Ballesterschützengesellschaft", „Schützenkränzchen"). Sportgeselligkeit, worin sich bereits unsere Zeit vorankündigte, mischte sich dabei tief mit vaterländischer Gesinnung - derselbe kämpferische Patriotismus beziehungsweise Nationalismus, der damals nicht minder die Gesangvereine und die Turnbewegung durchströmte. Die größte Gruppe aber (24 Prozent) bildeten so genannte Hilfsvereine, die notwendig waren, weil staatliche Sozial­ versicherungen vor der Bismarck-Ara ja noch völlig fehlten. So gab es bei­ spielsweise einen „Unterstützungsverein für Herrschaftsdiener", ebensolche für das „Amts- und Kanzleipersonal im Isarkreise" oder für „Seilergesellen", einen „Verein zur Unterstützung der bedürftigen Bewohner Münchens mit Brennmaterial", einen „Frauenverein zur Förderung der Suppenanstalten", einen „Kranken-Unterstützungs- und Leichenverein der Glacehandschuh­ machergehilfen", den „Frauenverein zur Unterstützung armer verehelichter Wöchnerinnen" usw. Zur Gegenwart hin haben sich diese politischen und so­ zialen Implikationen des historischen Vereinswesens teilweise verloren. Die 9 Meyer (wie Anm. 7), S. 266. 10 Tornow (wie Anm. 7), S. 277-283.

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Doppelnatur wurde abgetreten an die Parteien, die Rentenkassen usw. Das Ka­ ritative formiert sich vereinslos wie neuerdings zum Beispiel in der „Tafel“.11 In der hochindustriellen zweiten Jahrhunderthälfte kam ein neuer Paralle­ lismus hinzu; er zeichnete die gesellschaftliche Spaltung in Bürgertum und Arbeiterklasse nach: Den Honoratiorenvereinen, in denen „Proletarier“ un­ willkommen waren, stellte der vierte Stand nun gleichsinnig eigene Gründun­ gen gegenüber. Es entstanden Arbeitergesangvereine, der Arbeiterradfahrclub „Solidarität“, die „Naturfreunde“ als sozialistischer Wanderverein, der Arbei­ ter-Turnerbund, wo man sich statt mit dem „Gut Heil“ der bürgerlichen Tur­ ner mit „Frei Heil“ grüßte.12 Egalisiert hat sich diese Unterschiedlichkeit der Mitgliederstrukturen nie. Zumindest in der Erinnerungspflege fühlt man sich nach wie vor teils dem einen, teils dem anderen Lager zugehörig. Und selbst noch die Gladiatorenszene der Fußballbundesliga perpetuiert solche Anta­ gonismen, zum Beispiel bei Lokalderbys wie 1860 München gegen Bayern München, Kickers Stuttgart gegen den VfB, St. Pauli Hamburg gegen den HSV; in Fankreisen oder im Journalistendeutsch sind dies Chiffren für volkstümlich und Arbeitermilieu versus vornehm, Geld, Arroganz. In Nürnberg dagegen blieb der Arbeitersport zersplittert in viele Kleinvereine, so dass ein echtes Gegenstück zum großen 1. FCN fehlt. 3.2 Vorstadtvereine Gleichzeitig (und mit langem Nachlauf bis heute) formierten sich in mentaler Gegenwehr gegen den wuchernden Moloch Großstadt, der Dorf um Dorf am Rande auffraß, die ersten „Vorstadtvereine“. Die Identität des alten Dorfes, das nun eingemeindeter Stadtteil wurde,13 sollte darin noch ein bisschen weiterleben - etwas vom Baucharakter, Erinnerungen an historische Funktionen, beispiels­ weise die Steinhauer in Mögeldorf, die einst so vielen Wirtshäuser im Grenzund Zollort Schweinau, die Pflege der Hesperidengärten in St. Johannis. 32 sol­ che Bürger- und Vorstadtvereine gibt es heute in Nürnberg wie beispielsweise: Bürgerverein St. Johannis-Schniegling-Wetzendorf (1874), Vorstadtverein 11 Pfannenmüller (wie Anm. 20). 12 Rainer Schoch: Die Arbeiterbewegung als Kulturbewegung, in: Gerhard Bott (Hrsg.): Leben und Arbeiten im Industriezeitalter (Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum), Stuttgart 1985, S. 451-503; Paul Pach: Arbeitergesangvereine in der Provinz. „Vorwärts Pirkensee“ und „Volkschor“ Maxhütte (Regensburger Schriften zur Volkskultur 3), Regensburg 1987; Wessel (wie Anm. 20). 13 Hermann Matzerath: Städtewachstum und Eingemeindungen im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die deutsche Stadt im Industriezeitalter, Wuppertal 1978; Hermann Rusam: Untersuchung der alten Dorfkerne im städtisch überbauten Bereich Nürnbergs (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 27), Nürnberg 1979.

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Nürnberg-Wöhrd e.V. (1877), Bürgerverein Gostenhof, Kleinweidenmühle, Muggenhof und Doos (1880), Vorstadt-Verein Nürnberg-Süd (1881), Arbeits­ gemeinschaft für Belange und Geschichte Mögeldorfs e.V (1890), Vorstadtver­ ein Nürnberg-Laufamholz e.V. (1901), Vorstadtverein Luitpoldhain-Dutzend­ teich (1903), Vorstadtverein Nürnberg-Nord 1906 e.V. (1906), Vorstadtverein Zabo e.V. (1925/1951), Bürgerverein Nürnberg-Langwasser e.V. (1954), Ar­ beitskreis der Worzeldorfer Vereine (1970), Bürgerverein Nürnberg Höfles e.V. (1970), Bürgerverein Nürnberg Südost e.V. (1974).14 Eine vergleichende Untersuchung, was diese Vorstadtvereine im Jahreslauf leisten, inwiefern sie sich unterscheiden, auf welche übergeordnete Ziele hin sie in einer Arbeitsgemeinschaft kooperieren, steht noch aus; sie wäre wünschens­ wert. Wenn man sich oftmals synonym „Bürgerverein“ nennt, ist das nun nicht mehr im Sinn des 19. Jahrhunderts ständisch gemeint, sondern bekenntnishaft, hier als Einwohner auch emotional-aktiv verwurzelt zu sein. Der Vorstadtver­ ein wählt für sich einen engen lokalen Horizont, inkorporiert aber zugleich mehr: Durch seine Entstehungsgeschichte ist er eingepasst in den historischen Urbanisierungsprozess; indem er über seine eigene Vereinsgeschichte als Teil der Ortsgeschichte reflektiert, wird er zum Lokalgeschichtsverein. 3.3 Vereine als Wegbereiter der Flüchtlingsintegration Eine bedeutsame Rolle spielte das Vereinswesen dann weiterhin in den Nach­ kriegsjahren ab 1945. Für viele Flüchtlinge waren damals gerade die Vereine vor Ort erste Anlaufstationen zur Neubeheimatung. Indem mancher bald sogar Vorstandsaufgaben übernahm, gedieh der Prozess des Aneinandergewöhnens wechselseitig um so rascher. In einem gewiss verallgemeinerungs­ fähigen Aufsatz über Diepersdorf (Landkreis Nürnberger Land) haben Escher, Jurczek und Popp dies für 1980 weiter ausdifferenziert:15 Bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Geflügelzuchtverein und bei den Bienenhaltern blieben die Altansässigen gleichsam defensiv unter sich. Gemischt zeigte sich der Gesang­ verein. Am leichtesten gelang den Neuen der Einstieg über den Sportverein, zumal Sport für das traditionelle Dorf damals insgesamt ein Novum darstellte.

14 Kett (wie Anm. 2), S. 176-182; Telefonat mit Herrn Kraus, Aktionsgemeinschaft Nürnberger Vorstadtvereine, am 9.12.2002. 15 Anton Escher / Peter Jurczek / Herbert Popp: Zum aktionsräumlichen Verhalten und zur Ortsintegration von Alt- und Neubürgern am Rand von Verdichtungsräumen. Fallstudie Diepersdorf (Landkreis Nürnberger Land), in: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft 27/28 (1982), S. 351-415. - Vgl. auch Paul Hugger: Heimatvereine in der Schweiz. Zu ihrer Bedeutung für die sekundäre Integration der städtischen Bevölkerung, in: Schweizer Archiv für Volkskunde 85 (1989), S. 153-182.

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Dasselbe Muster wiederholte sich, als in den 1960/70er Jahren städtische Randwanderer „draußen im Grünen“ ihr Eigenheim bauten. Und was im Moment erst exotischer Einzelfall ist, wird sich fraglos auch im multikulturell gewordenen Franken künftig noch zahlreicher ereignen: In den Trachtenverein Neunkirchen am Brand (Oberfranken) trat der junge Türke Ceki Ozkirim ein; in Kniehose, roter Weste und Dreispitz macht er nun mit beim Volkstanz auf fränkischen Heimatabenden; zur Fronleichnamsprozession trägt er, der Moslem, die Fahne.16 Die Existenz gesonderter Folklore- und Sportvereine der Türken, Kroaten, Griechen, Spanier, Italiener usw. in unseren Städten wäre daneben ein eigenes Thema.17 Es sind dies Diasporavereine von gleicher Machart wie einst „Die Steigerwaldler“ (gegr. 1902), der Stammtisch-Zusammenhalt von Zuzüglern aus Gunzenhausen (1898), Königstein/Oberpfalz (1909), vom Hesselberg (1900), oder ähnlich der Badener (1893), Rheinpfälzer (1893) und Württemberger (1894), die sich sammelten, als sich etliche von dort nach Landfluchtbewe­ gung, Kettenwanderung und Binnenmigration in dieser Fabrikstadt Nürnberg wiederfanden.18 Auch die bis heute im Vertreibungsschicksal des Zweiten Weltkriegs traumatisierten Landsmannschaften der Schlesier, Pommern, Brüxer, Komotauer und anderer Glieder der Eghalanda Gmoi gehören hierher.19 Segregation oder Integration, Abschottung nach außen und Bereitschaft zum Mitmachen in der umgebenden Gesellschaft - Vereinsideologien haben stets von beidem etwas und vererben sich oft lang auf Kinder und Kindeskinder. Insgesamt führen solche Vereinigungen einzelner Volksgruppen und auslän­ discher Minderheiten fast immer zum Profit für alle, wenn sie beispielsweise zu Festumzügen bunte Folklore beisteuern und hier zugleich Momente finden, in denen sie unangepasst und mit Stolz angestammte Identität ausleben dürfen. 4. Dorf- und Vorstadtvereine heute Bleiben wir nun in der Gegenwart! Nach zurückliegendem genetisch-typologischen Überblick ist weiter zu fragen, wie all diese Vereine sich nun heute ört­ lich zum Mosaik zusammenfügen und welche Einflüsse den einzelnen Verein

16 Zeitungsnotiz, bestätigt durch Telefonat mit der Vereinsvorsitzenden am 14.9.1999. - Vgl. auch Heller: Organisierte Regionalidentität (wie Anm. 1). 17 Kett (wie Anm. 2), S. 378-385. 18 Kett (wie Anm. 2), S. 111-148. 19 Kett (wie Anm. 2), S. 118. - Vgl. auch Elisabeth Fendi: Deponien der Erinnerung - Orte der Selbstbestimmung. Zur Bedeutung und Funktion der Egerländer Heimatstuben, in: Hartmut Heller (Hrsg.): Neue Heimat Deutschland. Aspekte der Zuwanderung, Akkulturation und emotionalen Bindung (Erlanger Forschungen, Reihe A, 95), Erlangen 2002, S. 63-78.

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im Lauf der Zeit innerlich transformiert haben. Da solche Exploration auf­ wendig ist, nutzte der Verfasser seine Möglichkeit als Fachvertreter für Landes­ und Volkskunde an der Universität Erlangen-Nürnberg, dazu mit Studenten ein Projektseminar durchzuführen und außerdem mehrere einschlägige Exa­ mensarbeiten zu vergeben.20 Zunächst wurde, gleichsam experimentell, eine Kontrastsituation gesucht: Verglichen wurden ein eingemeindeter Großstadt­ vorort und ein Dorf an der äußeren Peripherie des Nürnberger Einzugsgebiets. 4.1 Ettenstatt (Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen) Ettenstatt liegt im südlichen Albvorland, zehn Kilometer abseits der Kreisstadt Weißenburg/Bayern; eine der Studentinnen kam von dort. Sie war selbst er­ staunt, in dem kleinen Bauern- und Auspendlerort bei nur 421 Einwohnern sieben Vereine anzutreffen. Nach ihrem Alter ordnen sie sich wie folgt: Frei­ willige Feuerwehr (1879), Kriegerverein (1889), Männergesangverein (1894), Schützenverein (1924), Motorradclub (1951), Landjugend (1952) und als größ­ ter der Sportclub (1966). Als weitere vereinsähnliche Gruppierung existiert ein Posaunen- und Kirchenchor. 4.2 Vereine im Nürnberger Stadtrandviertel Reichelsdorf Noch mehr aber überraschte das an der südlichen Nürnberger Stadtgrenze herangewachsene Wohngebiet Reichelsdorf mit sogar 28 Vereinen.21 In einer

20 Proseminar im Sommersemester 1999 (15 Teilnehmer) sowie vom Verfasser betreute unpublizierte Zulassungsarbeiten zur Ersten Staatsprüfung für ein Lehramt an Grund-, Haupt- oder Realschulen (hier nur Auswahl für den Großraum Nürnberg): Tina Hoekstra: Der DeutschAmerikanische Frauenclub Nürnberg-Fürth. Geschichte, Organisation, Struktur, Aktivitäten und Zukunftsaussichten (1992, Teilabdruck in: Zs. Frankenland 44 (1992), S. 376-389); Susanne Kraetsch: Der Nürnberger Schembartlauf bis 1539. Eine Studie über die Entwicklung dieses Brauches in Vergangenheit und Gegenwart am Beispiel der Nürnberger Schembart-Gesellschaft (1999); Ilona Kurzer: Reitvereine im Nürnberger Raum (1981); Christiane Läufer: Lehrer im Verein. Vereinszugehörigkeit als Beispiel außerschulischer Tätigkeiten des Lehrers (2002); Horst Ottmann: Traditionspflege in Krieger- und Soldatenvereinen (1997); Klaus Pfannenmüller: Das tägliche Brot der Nürnberger Armenfürsorge. Die „Nürnberger Tafel“ im Kontext der Nürnberger Armenfürsorge und ihrer Geschichte (1998); Renate Pfohlmann: Untersuchungen an Gesangvereinen im nördlichen Steigerwald (1985); Florian Schäfer: Angler. Historische Ent­ wicklung, Aktivitäten, Selbstperspektive und Darstellung in der Öffentlichkeit (2003); Helmut Stillkrieg: 10 Jahre Bürgervereinigung „Altstadtviertel St. Michael“ in Fürth/B. (1986); Iris Stuhlmüller: Altstadtfreunde Nürnberg e.V. Nürnbergs größte kulturelle Bürgerinitiative (1985); Valeska Waszak: Die Altstadtfreunde Nürnberg e.V. im Spiegel der Presse (2002); Frank Wessel: Der Touristenverein „Die Naturfreunde“ in Nürnberg. Ein Verein zwischen Tradition und Wandel (1992); Harry Windisch: Die Fanclubs des 1. FC Nürnberg (1986). 21 Hermann von Vogelstein (Hrsg.): Reichelsdorf 700 Jahre jung. Ein Heimatbuch, 1998.

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offenbar überall ähnlichen Grundausstattung deckte es sich mit Ettenstatt. Ausgesprochen bunt aber wurde das Bild durch gleich mehrere Neigungs­ gruppen, wie man sie oft belächelt als typische Skurrilitäten deutschen Ver­ einslebens, zum Beispiel ein Verein der Kaninchenzüchter, unter dem Namen „Rednitzbote" die Brieftaubenhalter oder im Club „Rauchschwalbe" versam­ melt etliche Pfeifenraucher. Parallel zur Bevölkerungszunahme - das alte Dorf wurde 1922 nach Nürn­ berg eingemeindet und vergrößerte sich seither auf über 10.000 Einwohner kann man drei Vereinsgründungswellen unterscheiden: Das 19. Jahrhundert ist nur mehr durch die (anfangs „Liederkranz" geheißene) „Sängervereinigung" von 1858 und den Imkerverein von 1891 vertreten. Die zweite Phase wider­ spiegelt den Urbanisierungsprozess zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg, als Leute mit schmaler Lohntüte sich in Selbsthilfe zur „Siedler- und Kleingärtnervereinigung e.V." (1932) beziehungsweise dem „Evangelischen Verein für Randsiedlung" (1934) zusammenschlossen oder ihre Ernährungs­ lage aufbessern wollten durch Eigenerzeugung im genannten „Imkerverein", im „Geflügelzuchtverein" (1900), im „Obst- und Gartenbauverein" (1913). Lediglich ein kleiner Rest - zwei der fünf Sportclubs, eine Ortsgruppe des Fränkische-Alb-Vereins (1952) und eine Bürgerinitiative zum Schutz des Red­ nitztals (1973) - entstand erst nach 1950. Mag das Ursprungsmotiv auch allmählich weggebröckelt sein, der Verein blieb! Was zählt für die Mitglieder von heute, ist schwer zu ordnen; in den Selbstaussagen der Vorstände mischt es sich unentwirrbar: Der namengebende Gründungszweck mitsamt Vorträgen, Lehrfilmen, Dia-Abenden? Freizeit­ gestaltung verknüpft mit Nutzen? Das Licht der Öffentlichkeit, wo man „etwas darstellt" bei Gemeindefesten und Auftritten andernorts? Die Hoff­ nung auf soziale Wärme unter Gesinnungsfreunden, mit denen man sich trifft zu sonntäglichen Frühschoppen, Grillparties, Weinfesten, Weihnachtsfeiern, Faschingsbällen, Ausflugsfahrten? Selbst noch im Tode scheint es manchem wichtig, dass, mangels anderer herausragender Lebensspuren, in der Todes­ anzeige wenigstens die Mitgliedschaft beispielsweise in der Straßenbahner­ kameradschaft erwähnt wird und die zurückbleibende Gruppe für einen ge­ meinsamen Kranz sammelt. Auffällig ist, dass es sich bei vielen dieser Reichels­ dorfer Vereine um Kleingruppen handelt, bei Mitgliederzahlen zwischen 40 und 70 also mit eher familiärer, stammtischähnlicher Atmosphäre. Wirklich groß mit einigen hundert Beitragszahlern sind nur die Sportclubs. Nicht klären ließ sich ohne Direktbefragung, inwieweit die Reichelsdorfer Bürger außerdem in gesamtstädtische oder gar überregionale Organisationen eingebunden sind. Dass man neben den geschilderten Lokalstrukturen auch Kontakte nach draußen pflegt, ist gewiss.

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5. Ausgewählte Vereinstypen - Beispiele inneren Wandels Was tun Vereine heute? Wie hat sich ihr Binnenleben verändert gegenüber früher? So wenig man das pauschal beantworten kann, so sicher darf man doch sein, dass wie seit jeher der größte gemeinsame Nenner allen Vereinswesens im urmenschlichen Bedürfnis nach Geselligkeit liegt.22 Darüber hinaus aber muss jeder Vereinstyp individuell durchleuchtet werden. Ausgehend von der bereits oben geäußerten These, dass im Grunde jeder Verein durch seine Vereins­ geschichte ein Geschichtsverein ist, soll daher das Folgende keineswegs nur eingeengt werden auf dem „Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg“ in der Absicht historischer Bewusstseinsbildung verwandte Heimat-, Vorstadt-, Trachten- oder sonst bodenständig definierte Regionalvereine, wie etwa den „Frankenbund“.23 Kräfte der Geschichte und Kräfte der Gesellschaftsentwick­ lung vermengen sich auch in anderen Beispielen. 5.1 Lust auf Mittelalter: Die Schembart-Gesellschaft Nürnberg e.V. In einer Examensarbeit untersuchte Susanne Kraetsch die so seltsam klingende „Schembart-Gesellschaft e.V.“ in Nürnberg.24 Sie besteht seit 1974 (ein Foto belegt allerdings eine ähnliche, quellenmäßig nicht mehr greifbare Gruppe auch schon in den 1920er Jahren) und zählt im Moment etwa 60 Mitglieder Tendenz überalternd, nach Berufen großenteils Akademiker, ausgeglichen Männer und Frauen, die keineswegs nur in Nürnberg wohnen. Ihrem Namen nach setzt die Schembart-Gesellschaft einen Fastnachts­ brauch des 15./16. Jahrhunderts fort, den der reichsstädtische Rat 1539 verbot. Zuvor ein Eklat: die Maskierten hatten den sauertöpfischen Hauptprediger Osiander gar zu arg verspottet.25 Wiedererwecker einer alten Tradition will man also sein! Im größeren Zusammenhang gehört die Schembart-Gesellschaft

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Vgl. Foltin (wie Anm. 4). Heller: Organisierte Regionalidentität (wie Anm. 1). Kraetsch (wie Anm. 20). Hans-Ulrich Roller: Der Nürnberger Schembartlauf. Studien zum Fest- und Maskenwesen des späten Mittelalters (Volksleben. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 11), Tübingen 1965; Wilhelm Müller: Der Nürnberger Schembartlauf. Herkunft und Deutung, in: Archiv für Oberfranken 62 (1982), S. 63-91; Jürgen Küster: Spectaculum vitiorum. Studien zur Intentionalität und Geschichte des Nürnberger Schembartlaufes (Kulturgeschicht­ liche Forschungen 2), Remscheid 1983; Dietz-Rüdiger Moser: Fastnacht-Fasching-Karneval, Graz / Wien / Köln 1986; Peter J. Bräunlein: Das Schiff als „Hölle“ im Schembartlauf des Jahres 1506. Eine Deutung im zeitgeschichtlichen Kontext Nürnbergs, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 17 (1994), S. 197-208; Wolfgang Brückner: Schembart gleich Scheinbote?, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 18 (1995), S. 145-154.

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als eine der frühesten unter jene zunehmend vielen Gruppen, die sich in einem gegenwärtigen Modetrend darin gefallen, auf Ritterturnieren, Altstadtfesten und Festspiel-Bühnen kostümiert Mittelalter und Renaissance zu spielen. Es verlockt zu fragen, wie historisch genau sie dabei wirklich handeln - sehr weit her ist es damit nicht! Ursprünglich war der Schembartlauf ein reines Privileg der Metzgergesellen gewesen, dann, als sie der Metzgerzunft diesen schönen Brauch abkauften, der Patrizier und, für die damalige Zeit selbstverständlich, stets Männern Vor­ behalten. Um es historisch richtig zu machen, holte man auch bei der Neu­ gründung 1974 zunächst betont Angehörige des Fleischerhandwerks in den Verein (damals 23 Prozent). Heute stimmt diese soziale Zuordnung nicht mehr; man pflegt ein Freizeithobby berufs- und geschlechtsunabhängig. Als „Schembartläufer“ trägt man eine Gugel als Kopfbedeckung und am Körper ein enges Miparti-Wams, längs halbiert rot-weiß: Kostensparend besitzt man gruppeneinheitlich nur dieses eine, welches scheinbar typisch die Reichsstadt­ farben hervorkehrt. Im 15./16. Jahrhundert aber war dieses Muster in Wahrheit viel weniger starr; man kombinierte zu immer wieder anderer Zweifarbigkeit. Die Glattlarve vor dem Gesicht, von der nach gängigster Deutung der Begriff Schembart (= Schönbart beziehungsweise Scheme) überhaupt kommt26, lässt man, weil gar so unbequem, heute meist weg. Beim Nürnberger Faschingszug zieht man einfach so mit, eine Abteilung unter vielen, ohne dass sich zuletzt das früher hauptsächliche Finale anschließt, nämlich das Erstürmen und Verbren­ nen eines mitgeführten Fahrzeugs, das in alljährlich variierter Satansgestalt (zum Beispiel Kindleinfresser, Basilisk, Drache) „die Hölle“ hieß. Religiös aus­ gedeutet war das der Sieg der Guten über das Böse. Heute ist das vergessen jedes Jahr eine neue „Hölle“ zu bauen, wäre überdies zu teuer, das Feuer­ spektakel inmitten von Zuschauermassen auch zu gefährlich. Statt dessen miss­ verstehen die Schembartler, wie die meisten Leute heute, Fastnachtsbrauchtum in erster Linie als Winteraustreiben.27 Sie inszenieren daher als jetzige Haupt­ aktion einen zweiten Auftritt kurz vor Frühlingsanfang: Umrahmt von „mittel­ alterlichen“ Tänzen lassen sie dabei auf einem Altstadtplatz symbolisch eine kleine Strohpuppe in Flammen aufgehen. Aus einem einst genau terminierten

26 Vgl. dazu als Mindermeinung Dietz-Rüdiger Moser (wie Anm. 25), S. 186-203, der „Schembart“ aus einer Lesart „Scheinbot“ ableitet und daher der „Scheinwelt“ des Teufels zuordnet; als Schembartläufer wende man sich dem Sinn nach gegen dieses Höllische, handle also als Anhän­ ger Gottes. Widerspruch von Wolfgang Brückner (wie Anm. 25). 27 Zu diesem erst im 20. Jahrhundert aufgebauten Interpretament Werner Mezger: „Rückwärts in die Zukunft“. Metamorphosen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht, in: M. Matheus (Hg.): Fastnacht / Karneval im europäischen Vergleich (Institut für geschichtliche Landeskunde der Universität Mainz: Mainzer Vorträge 3), Stuttgart 1999, S. 121-173.

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Lokalbrauch wurde eine „Aufführung“,28 wurden im Plural Aufführungen; denn man beteiligt sich jetzt unter anderem auch bei Eröffnungszügen zu Alt­ stadt- und Volksfesten im Herbst und weiteren Gelegenheiten. Zuletzt über­ steigerte man das bis zum Brauchexport, indem man sich ebenso in anderen Orten Frankens zeigt und einmal 1977 sogar bis in die Schweiz nach Win­ terthur reiste. Dass der Verein der Schembartläufer Traditionspflege leiste, ist damit hoch­ gradig nur mehr Vorwand, obgleich wahrscheinlich selbst geglaubt. Stärker sind die Gesetze der natürlichen Gruppendynamik: Um eine Gemeinschaft zu­ sammenzuhalten, braucht es in kürzeren Abständen als einem Kalenderjahr immer wieder neue Ziele, für die man planen, sich treffen und bereden, etwas organisieren und proben muss - Anlässe, dann hinterher auch noch ein biss­ chen gemütlich beisammen zu sitzen, das Motiv Geselligkeit also. Und Wortführer verändern die Richtung weiter. Der „alte“ Fastnachts­ brauch tritt inzwischen in der Schembart-Gesellschaft zunehmend in den Hin­ tergrund. Die heutigen Hauptaktivisten interessieren sich viel mehr für Tänze und die Musik der Renaissancezeit, die sie im Kleid damaliger Mode auf re­ konstruierten Instrumenten nachspielen und ebenso pseudohistorisch choreographieren. Neue Mitglieder lockt der Verein vor allem damit an - Geschichte als Maske, hinter der man Verschiedenstes tun kann! Der Verein selbst ent­ fremdet seinen Namen „Schembart“ zur nur mehr chronologischen Chiffre für Frühneuzeit... 5.2 Der Boss und sein Spielzeug: 1. SC Feucht Als modernen Sportverein nahmen wir, d.h. ein Student mit dortigen Insider­ erfahrungen und weiteren gezielten Nachfragen, willkürlich den SC Feucht heraus. Als „Nürnberger“ wohnt man gern in Vororten wie Feucht - eine auf­ strebende „Speckgürtel“-Gemeinde mit jetzt schon über 13.000 Bürgern, ost­ wärts an der Straße nach Neumarkt (Oberpfalz) gelegen. Mit 730 Mitgliedern ist der 1. SC Feucht nach dem TSV Feucht, der 2.000 Mitglieder hat, der zweit­ größte und Zweitälteste Sportverein am Ort, gegründet 1920. - Wovon lohnt es hier zu reden? Aushängeschild ist die erste Fußballmannschaft. Sie spielt zwar nur in der vierthöchsten Klasse, der Bayernliga, ist aber deshalb um so mehr interessant als Indikator, wie tief mittlerweile die Professionalisierung der sogenannten Freizeitbeschäftigung Sport auch schon die Basis des Vereinswesens durch-

28 Selbstanzeige in Kett (wie Anm. 2), S. 113.

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drungen hat. „Verein“ wird dadurch zu einer neuartigen Dreiecksfigur. Er ist nicht mehr nur eine Teilfraktion der Gesamtbevölkerung, sondern verteilt grundsätzlichere Rollen. Da ist zunächst der Vereins„boss“, ein wohlhabender Unternehmer, der, kinderlos, den ganzen Betrieb sponsort und gut zwei Drittel der Kosten trägt. Er bringt sich dadurch in die lokale und regionale Honoratiorenriege ein und wird ein Stück weit beliebt, weil sportliches Aufsehen den Bekanntheitsgrad des Ortes allgemein erhöht. Die Fußballmannschaft selbst ist das dazu nötige Werkzeug. Ihre Qualität entsteht, indem von irgendwo „fertige“ Spieler eingekauft (Grundgehalt, Prä­ mien, Autoleasing) und etwaige Versager sang- und klanglos wieder ausge­ mustert werden. Längst spielt kein einziger gebürtiger Feuchter mehr in der ersten Mannschaft! Es wohnt auch kaum einer hier, sie kommen bis zu 200 Kilometer weit viermal wöchentlich zum Training, jeden zweiten Sonntag zum „Heimspiel“. Gleichwohl lernen sie alle rasch, zum Beispiel in Presse­ gesprächen, zu mimen, wie treu sie zu „ihrem“ Verein stehen und „für Feucht“ kämpfen werden. Ein paar Monate später werden sie anderswo dasselbe sagen. Von Saison zu Saison ändert sich das Gesicht der Mannschaft tiefgreifend. Wir haben es nicht mehr mit Fortsetzungen früherer Dorfburschengemeinschaft, sondern mit hochmobilen Arbeitnehmern zu tun. Die sonstigen Vereinsmitglieder sind, obwohl natürlich als Beitragszahler willkommen, in einem solchen System beinahe am unwichtigsten. Viele wollen selbst nur individualistische Nutznießer sein, weil man zum Beispiel ohne Aschenplätze nicht Tennis spielen, ohne Kegelbahn nicht kegeln könnte. Der Verein ist deshalb vorteilhaft durch seine Infrastruktur, durch sein Dienst­ leistungsangebot. Umgekehrt braucht auch „der Verein“ seine Mitglieder nur sporadisch, nämlich als Zuschauermenge, wenn besagte Bayernliga-Elf spielt und angefeuert werden soll. Wechselnd kommen da 500 bis 1.200 Zuschauer. Sonstiges Vereinsleben entwickelt sich nicht und wird auch nicht inszeniert; einzige Ausnahme ist die meist schlecht besuchte Weihnachtsfeier. Höchstens in den Jugendmannschaften findet ein integratives Miteinander von einhei­ mischen und Neubürger- beziehungsweise Ausländerkindern statt. Kann auch ein Sportverein historische Relevanz besitzen? Wir entdecken sie unerwartet am stärksten bei jenen oft ungut beleumundeten „Fans“, die immer im Fußballstadion dabei sind. Sie folgen uralten Verhaltensmustern der Hel­ denverehrung, wenn sie Spieltag für Spieltag von der Tribüne aus ihren Idolen zujubeln, andere gnadenlos auspfeifen und Autogramme beziehungsweise Starfotos ihrer Lieblinge sammeln. In Wahrheit jedoch hängt ihr Herz zuvor­ derst am Vereinsnamen - einer letztlich abstrakten Größe, die gleichwohl merkwürdige Territorialität hat wie ein Ortswappen und früher die Fahne 57

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beim Militär. Im Banne eines fast mystischen Bezuges kleidet sich der Fan grell in die Vereinsfarben, ist begeistert oder erstarrt unansprechbar in dumpfer Ver­ zweiflung und weint bitterliche Tränen, selbst öffentlich in der U-Bahn, wenn der 1. FC Nürnberg mal wieder aus der Ersten Bundesliga absteigt. Aber unabhängig von den dafür verantwortlichen Spielern, die hernach großenteils abwandern, empfindet er treu, ungebrochen zuversichtlich und opferbereit29 genauso wieder mit den neu verpflichteten Legionären der nächsten Saison. Denn, so das allgemein gewordene Glaubensbekenntnis aller „echten Cluberer“: „Die Legende lebt!“ Die Sympathie gilt dem Verein an sich, mehr noch Nürnberg und Franken insgesamt, mit denen sich zu identifizieren der „ruhm­ reiche FCN“ ein Ausdrucksmittel ist. Weit verteilt bis in den Norden Deutsch­ lands und nach Tirol gibt es heute 387 1. FCN-Fangruppen, in denen sich über 10.000 Anhänger vereinen.30 5.3 Alte Kameraden: Kriegervereine in Stadt und Dorf Martialisch „Krieger- und Kampfgenossenverein“ hieß der 1889 gegründete „Soldaten- und Kameradschaftsbund Ettenstatt“, bevor er sich später begrifflich etwas verharmloste. Der darin mitschwingenden Tradition wollen wir nach­ spüren und fragen: Passen Kriegervereine überhaupt noch in Friedenszeiten, wie sie der Bundesrepublik nun gottlob schon seit bald sechzig Jahren beschert sind? Wurzel dieses Vereinstyps war die allgemeine Wehrpflicht, die nach napoleonischem Vorbild 1805 in Bayern und dann auch den anderen deutschen Staaten eingeführt wurde.31 Nicht mehr Söldner, sondern Selbstverteidigung: Jeder Ort schickt seither seine eigenen Söhne in den Soldatendienst, freut sich mit den Rückkehrern, beklagt die Gefallenen und Blessierten. Als Veteranen der Befrei­ ungskriege von 1813 erstmals in ihren Heimatorten solche Kriegervereine grün­ deten, ging es ihnen um zweierlei: Sie wünschten sich bei ihrem Ableben ein ähnlich würdiges Militärbegräbnis wie draußen im Feld mit großem Leichen­ zug, Ansprache des Offiziers, Ehrenbezeigungen, Salutschüssen - daheim ein Distinktionsmerkmal gegenüber den nichtgedienten Mitbürgern oder bloßen 29 Geldaufwand für Eintrittskarten, Fanartikel und Reisen in andere Bundesligastadien bis zu 10.000 Mark jährlich, vgl. Windisch (wie Anm. 20). 30 Heller: Epilog auf Männerbünde (wie Anm. 1); Siegfried Zelnhefer: „Als Club-Fan bist du nie allein“, in: Erlanger Nachrichten vom 28729.8.1999. 31 Vgl. Hans Joachim Henning: Kriegervereine in den preußischen Westprovinzen (1860-1914), in: Rheinische Vierteljahrsblätter 32 (1968), S. 430-475; Heller: Epilog auf Männerbünde (wie Anm. 1); Harm Peter Zimmermann: „Der feste Wall gegen die rote Flut“. Kriegervereine in SchleswigHolstein 1864-1914 (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins 22), Neumünster 1990; Kurt Dröge: Zwischen Volksfest und Soldatenstammtisch. Zum Festwesen der Kriegervereine von 1871 bis 1993, in: Festkultur in Lippe, 1993, S. 185-252.

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Reservisten. Außerdem sollte durch solidarische Hilfe die Versorgung der Kriegsinvaliden, Witwen und Waisen sichergestellt werden. Viele neue Krieger­ vereine entstanden nach dem siegreichen Feldzug 1870/71 gegen Frankreich. Dieser Welle gehören auch die nachfolgend näher untersuchten Beispiele am Stadtrand von Erlangen an.32 Zum ursprünglichen Ziel, das Erlebnis der Schlachtfelder und Frontkameradschaft ins Zivilleben zu verlängern, kam nun aber noch verstärkt die vaterländische Begeisterung für Kaiserdeutschland. Kriegervereine wurden daher auch offiziell gefördert als Stimmungskulisse, Propagandaforum und politisches Bollwerk gegen die SPD, die damals „Reichs­ feind“ war. Von Dachorganisationen, die viele Zehntausende Orts vereine „schlagkräftig“ zusammenfassten, wie dem „Preußischen Landkriegerverband“ (1899), dem „Kyffhäuserbund“ (1900) und später dem „Stahlhelm“ muss hier nicht die Rede sein. Doch waren sie mit die Ursache, dass alle deutschen Kriegervereine nach 1945 von den Alliierten als typische Organe des deutschen Militarismus zunächst verboten wurden. Lange dauerte diese Pause aber nicht. Durch Neugründungen, wie zum Beispiel in Unterferrieden (Landkreis Nürn­ berger Land) erst 1976, wurde das Netz sogar noch dichter. Die alten Aufgaben sind auch die jetzigen; die Tragödie des Zweiten Welt­ krieges verstärkte noch ihre Sinngebung: Der Kriegerverein kümmerte sich um Invalide und Hinterbliebene, betreut das örtliche Gefallenendenkmal, macht Spendensammlungen für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge und übernimmt die Hauptrolle bei der alljährlichen Totenehrung am Volks trauertag im Novem­ ber. Nach wie vor wird die Beerdigung verstorbener Mitglieder feierlich ver­ schönt durch eine Fahnenabordnung, durch Sargträger in Uniform, drei Stro­ phen des Liedes vom „Guten Kameraden“, Kranzniederlegung, militärischen Gruß und eine letzte Böllersalve, danach Leichentrunk im Vereinslokal. Die pa­ thetischen Töne von früher aber sind dabei weitgehend verstummt; obenan steht heute persönlicher die Idee soldatischen Füreinander-Einstehens, der ver­ storbene Vereinsbruder darin ein Vorbild. Darüber hinaus ist der Kriegerverein, wenn er uniformiert und mit Musik hinter seiner Fahne mitmarschiert, ein wichtiges Requisit von Fronleichnamsprozessionen und anderen Festumzügen. Nun könnte man meinen, es würden sich Kriegervereine durch das Ableben der Kriegsteilnehmergeneration allmählich wie von selbst erledigen. Das vermu­ tete Nachwuchsproblem existiert jedoch bisher so nicht: Wie schon in längeren Friedensperioden des 19. Jahrhunderts sichert man den Fortbestand des Vereins dadurch, dass man auch junge Reservisten der heutigen Bundeswehr und sonstige Befürworter des Soldatentums aufnimmt. Im Gegensatz zur Großstadt lassen 32 Insbesondere Kleinseebach, Hemhofen, Dechsendorf und Langensendelbach; Heller: Epilog auf Männerbünde (wie Anm. 1); Ottmann (wie Anm. 20).

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sich dafür draußen auf den Dörfern noch erstaunlich viele gewinnen, so dass die Kriegervereine der untersuchten sechs Orte mit 25 bis 156 Mitgliedern im Moment recht stabil und - längst sind Bundeswehrsoldaten gegenüber Angehö­ rigen der ehemaligen Wehrmacht in der Überzahl - sogar altersmäßig besonders gut durchmischt erscheinen; der Schwerpunkt liegt bei den 40-jährigen. Die näch­ ste Krise könnte allerdings kommen durch die fortschreitende Wehrmüdigkeit, d.h. die Alternative Zivildienst, sowie demnächst vielleicht die Einführung der Berufsarmee. Entweder geht dann auch dem Dorf der traditionelle Kriegerverein verloren. Oder er opfert, um trotzdem zu überdauern und wenigstens als Forum von Geselligkeit weiter zu bestehen, lieber auch noch sein bisher konstituierendes Selektionsmerkmal Soldat zugunsten konturlos allgemeiner Männermitglied­ schaft. Bedroht wäre dann freilich auch ein wesenhaftes inneres Ritual bisheriger Kriegervereine, das sogenannte „Kameradschaftsschießen“, bei dem man sich, weil sonst strikt waffenlos, auf Kasernengelände und munitioniert von der Bun­ deswehr mit befreundeten Orten zu SchießWettbewerben trifft. Der früher üb­ liche regelmäßige Stammtisch im Wirtshaus beginnt bereits jetzt zu zerfallen. Und längst bedrängt außerdem die Frauenemanzipation diese Relikte reiner Männerfreuden. Immer häufiger bieten die Jahresprogramme der Kriegerver­ eine daher auch Veranstaltungen an, bei denen die ganze Familie willkommen ist, zum Beispiel Stiftungsfeste, Sommerausflüge, Grillabende, Weinproben, Weihnachtsfeiern; dasselbe gilt für die große landesweite Soldatenwallfahrt nach Vierzehnheiligen. Die Satzungen fortschrittlicher Ortsvereine schließen sogar die Vollmitgliedschaft von Frauen nicht mehr aus! Die anders strukturierten Traditionsverbände bestimmter Truppeneinheiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die sich in der Bundeswehr nicht mehr fortsetzten, zum Beispiel das Bayerische Reserve-Infanterieregiment 23, und deshalb auch keinen Nachwuchs mehr erwarten dürfen, haben das bereits vor­ gemacht. Schon im Nürnberger Vereinsatlas 1980 antwortete eine Pionierka­ meradschaft dahingehend lapidar: „Wenn Männer verstorben, kommen die Witwen weiter zu uns“. Oder das erwähnte Infanterieregiment 23: „Wir Töch­ ter (21), auch bereits zwischen 60 und 70 Jahren, kommen zur privaten Unter­ haltung zusammen. Wer von unseren alten Leuten noch kann, ist ab und zu mal dabei. Die alten Mitglieder (noch 16) sind teils weit über 80 Jahre alt ,..“33 Heute, weitere zwanzig Jahre später, lebt davon wohl keiner mehr. Selbst in der größeren Population von Städten hatten diese zahlenmäßig ja von vornherein beschränkten Traditionsverbände nie ein großes Reservoire. Alljährlich im Mai bei einer gemeinsamen Gefallenenehrung vor Gedenktafeln an der Friedhofskir­ che St. Johannis treten ihre Nürnberger Reste aber noch immer in Erscheinung. 33 Kett (wie Anm. 2), S. 161-162.

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Insgesamt befinden sich die klassischen Kriegervereine somit in einem immer wieder neuen, aber dennoch keineswegs schon finalen Anpassungsprozess! 5.4 Lieder mit Berufskollegen: Der Lehrergesangverein Nürnberg e.V. Wird ein solcher Wandel auch dem Prototyp alter deutscher Vereinskultur ab verlangt, dem Gesangverein? Über die besondere Rolle Frankens in der Ge­ schichte des deutschen Sängerwesens hat zuletzt Friedhelm Brusniak umfas­ send publiziert.34 Dingliches Erinnerungsgut und Archivalien dazu zeigt er im wiedererstandenen Museum des Fränkischen Sängerbundes in Feuchtwangen. Nach dem Vorbild der monarchisch gesonnenen Berliner „Liedertafel" (Karl Friedrich Zelter 1809) und des mehr auf Volksbildung zielenden Züricher „Lie­ derkranzes" (Hans Georg Nägeli 1810) entstanden als regional früheste Sing­ vereine diejenigen in Marktbreit 1816, Naila 1823, Sommerach 1824, Würzburg und Nürnberg 1829. Vielerorts sind daher jetzt 160-, 150-, 125-jährige Jubiläen angesagt - groß der Stolz, groß die Feier! 1845 fand in Würzburg das erste gesamtdeutsche Sängerfest statt, das nächste 1861 in Nürnberg. Mitsamt den Coburger und Passauer Sängertagen der 1850er Jahre waren sie wichtige Statio­ nen jener charakteristischen Mixtur von Sangesfreude, demokratischer Über­ windung von Standesunterschieden und Nationalpatriotismus,35 die schließlich 1862 in Coburg zum Zusammenschluss im „Deutschen Sängerbund" führte. Mit 1.625 Chören (= neun Prozent) und 131.174 Mitgliedern (= acht Prozent) in 1.146 Vereinsorten (= zwölf Prozent) ist der Fränkische Sängerbund innerhalb des Deutschen Sängerbundes nach wie vor einer der größten.36 Aus unserer Festkultur, seien es selbständige Auftritte, Mitwirkungen beim örtlichen Maibaumaufstellen, Sonnwendfeuer u.ä. oder individuelle Hochzeits- und Geburts­ tagsständchen, ist der Gesangverein bis heute fast nicht mehr wegzudenken. Urform war der reine Männergesangverein - manchmal so honorig, dass man, so zum Beispiel die „Concordia Baiersdorf" (gegr. 1834/39), nicht einmal Dienstboten und Lehrlinge, obwohl doch männlich, mitmachen ließ.37 Die in Kriegervereinen noch junge Diskussion, wie man es mit Frauen halten solle, entschieden die Gesangvereine jedoch schon um die Jahrhundertwende positiv. Meist richtete man nun, so in Baiersdorf 1894 oder im oberfränkischen Schney 1919, einen gemischten Chor zusätzlich zum Männerchor ein. Trotzdem blieb die Männerdominanz ungebrochen, bis heute, wie die statistische Verteilung 34 Friedhelm Brusniak: Das große Buch des Fränkischen Sängerbundes, München 1991. 35 Dietmar Klenke: Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches National­ bewusstsein von Napoleon bis Hitler, Münster / New York / München / Bonn 1998. 36 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1985, S. 383. 37 Erlanger Nachrichten vom 14.4.1999.

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1985 zeigt: 844 sind reine Männerchöre, 736 gemischte Chöre und nur 45 Frau­ enchöre. Nach aktiven Mitgliedern gezählt, liegt die Geschlechterproportion bei fünf zu zwei.38 Die Fotoseiten in Brusniaks Buch, also Zustandsbilder um 1990, bestätigen dies Ort für Ort: Intaktes, auch im Altersgefüge halbwegs ge­ sundes Vereinsleben, sangesfrohe Gesichter, die Soprane und Altstimmen vorne, die Tenöre und Bässe hinten, dort auch die fast durchweg männlichen Funktionsträger des Vereinsvorstands, einheitliche Kleidung - sei es was man als „Tracht“ versteht oder Gleichfarbigkeit in Sakko und Hose beziehungs­ weise Rock und Bluse, oft mit Vereinskrawatte oder Wappenaufnäher, alles dies gleichermaßen Zeichen von Identitätsstiftung wie Luxurierung. Was man nicht sieht, sind die Sorgen um geeignete Chorleiter, die überall gleichen Dis­ ziplinprobleme bei Übungsstunden und jene zwischenmenschlichen Eifer­ süchteleien, die jeder Verein kennt! Neben Singvereinen, die für jedermann offen sind und, bei mehreren am selben Ort, bisweilen munter rivalisieren, gibt es berufsständische Chöre. Auf­ gezählt seien für Nürnberg aktuell die „Sängergesellschaft der Bäcker-In­ nung“, der „Gesangverein der Fleischerinnung“, der „Metzgerbund“, die „Sängerrunde der Friseure“, der „Polizeichor“, der „Post Chor“, der „Lieder­ chor Siemens-Schuckert“, der „Männerchor der Städtischen Werke.39 Ob das in Nürnberg, der Stadt der Erinnerungen an Hans Sachs und die anderen handwerklichen „Meistersinger“, besonders ausgeprägt ist, wäre interessant. Die Entwicklung zum heutigen Zustand solch berufsständischer Laienchöre können wir dank Max Liedtke gut am Beispiel des Nürnberger „Lehrergesang­ vereins“ verfolgen.40 Als 43 Nürnberger Lehrer ihn - nach einem ersten Anlauf 1824/26 - im Jahr 1878 (wieder)begründeten, ging es ihnen nicht nur um „edle kollegiale Geselligkeit“ und im politischen Zeitgeist um „Volkslieder“, denen sie sich ja ohnehin in der Schule und im Gemeindedienst genug zu widmen hatten. Sie wollten ferner zeigen, dass sie trotz „nur“ seminaristischer41 Musikaus­ bildung genauso fähig waren, anspruchsvolle Kompositionen aufzuführen wie Absolventen höherer Lehranstalten. Durch solch offensichtliche Leistungen 38 Nicht im Deutschen Sängerbund organisiert sind allerdings Kirchenchöre und Volksmusik­ gruppen, die zweifellos einen deutlich höheren Frauenanteil haben. 39 Kett (wie Anm. 1), S. 48-51. 40 Max Liedtke: Zur Geschichte des Lehrergesangvereins Nürnberg, in: Friedhelm Brusniak / Diet­ mar Klenke (Hrsg.): Volksschullehrer und außerschulische Musikkultur (Feuchtwanger Beiträge zur Musikforschung 2), 1998, S. 75-126. - Vgl. auch Dietmar Klenke: Volksschullehrer und Ge­ sangverein. Über das außerschulische Engagement in der Vereinskultur vom Deutschen Kaiser­ reich bis in die 1980er Jahre, in: ebd., S. 55-73; Heinrich Weber: Die Geschichte des Lehrer­ gesangvereins Nürnberg e.V. 1878-2003. Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum, Nürnberg 2003. 41 Zum Besuch des Lehrerseminars (zwei Jahre) genügten damals Volksschulabschluss und zwei beziehungsweise drei „Präparanden“jahre.

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hofften sie auch sonst im Standesansehen zu steigen! Lehrer war damals noch ein reiner Männerberuf. Für die Ambitionen des Chors jedoch empfand man diese Abgrenzung bald als schlecht; denn große A-capella-Werke brauchen ja ebenso Frauenstimmen. Wie schwer sie sich aber gleichzeitig damit taten, dann natür­ lich kein echter Lehrerchor mehr zu sein, zeigt die betont vorsichtige Formulie­ rung beim ersten Schritt der Öffnung im Jahr 1880: Nun konnten auch Frauen und Töchter der Lehrer sowie „ausnahmsweise andere sangeskundige, Lehrer­ familien befreundete Damen“ Mitglied werden. Schon 1885 entfiel dann für Sängerinnen jegliche Einschränkung. Männliche Nichtlehrer wurden erstmals 1913 zugelassen, zunächst zwar nur als passiv fördernde Mitglieder, 1928 - nach dem Blutzoll des Ersten Weltkriegs - bei „musikalischer Eignung“ aber endlich auch als aktive Sänger. Die letzte berufsständische Klausel, dass zumindest zwei Drittel der Bässe und Tenöre Lehrer sein müssten, gab man nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Heute ist „LGV“ nur mehr ein Traditionskürzel. Lehrer sind dort kaum noch zu finden. Der mittlerweile weitgehende Übergang des Lehrberufs auf Frauen und eine Lehramtsprüfung (seit 1978), in der man das Fach Musik völlig umgehen kann, sind Teilgründe dafür. Inzwischen hat sich das Problem des sogenannten „Lehrergesangvereins“ nochmals weiter zugespitzt: Jetzt muss er kämpfen, überhaupt noch genügend Herrenstimmen aufbieten zu können und sich auf Zukunft insgesamt zu verjüngen. Nürnbergs Konzertpublikum verdankt diesem örtlichen Lehrergesangverein viel: Gerade durch ihn konnte es die großen Oratorien, Passionen, Messen oder Beethovens „Neunte“ hören, über ein Jahrhundert auf hohem Laienniveau. Vielleicht müsste er nun, um neue Sänger zu finden, zuletzt auch noch dieses Repertoire verändern ... Umfassend studieren wir insofern am „Nürnberger Lehrergesangverein“ jenen Vorgang ständigen Umbaus, der das Vereinswesen als Teil der Gesamt­ gesellschaft zeigt. 6. Das „Ohne-mich“ der Lehrer - ein Kontinuitätsproblem? Mit gezielter Absicht steuerte das letzte Kapitel auf die Lehrerschaft zu: Außer Frage steht, dass überdurchschnittlich oft schwungvolle Lehrer es gewesen waren, die im 19. Jahrhundert Vereine mit gründeten oder in einem Verein das geistige Rückgrat bildeten. Massenhaft lässt sich das belegen für alle Arten von Singvereinen,42 aber auch für Heimat- und Geschichtsvereine43 oder die Trach­ tenerhaltungsvereine, deren ersten 1883 in Bayrischzell der Lehrer Vogel ins Leben rief. Seit einer Generation aber scheinen die Lehrer von den Vereinen 42 Roth (wie Anm. 4), S. 273; Liedtke (wie Anm. 40), S. 83; Erlanger Nachrichten vom 14.4.1999. 43 Ursula A. J. Becher: Geschichte als „Schöner Leben“ ? Fragen an einen Geschichtsverein, in: Gerhard Huck (Hrsg.): Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1982, S. 329-346.

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abzurücken.44 Das ist gefährlich, denn Mangel an Führungskräften zerstört schnell Vereinsstrukturen. Nachwuchssorgen plagen neuerdings viele Vereine. Dieses Lamento könnten wir dutzendfach abrufen. In unserem erwähnten Projektseminar an der Erzie­ hungswissenschaftlichen Fakultät wollten wir aber lieber noch von einer anderen Seite her fragen und speziell von unseren Lehramtsstudenten erfahren, also der künftigen Lehrerinnen- und Lehrergeneration an Grund-, Haupt- und Realschu­ len, wie sie über Vereine denken. Gehören sie selbst schon Vereinen an? Könnten sie sich das für die Zukunft immerhin vorstellen? - Zwei Studentinnen interview­ ten dazu in der Mensa proportionsgerecht (84 Prozent zu 16 Prozent) 108 weib­ liche und 20 männliche Kommilitonen, ihrem Alter nach zwischen 19 und 30. Nur jeder zweite (52 Prozent) war in einem Verein, ein Drittel davon in mehreren. Überraschender aber noch, dass auch von den Nichtmitgliedern die meisten schon Vereinserfahrung haben, jedoch bereits wieder ausgetreten sind! Überwiegend waren sie von Freunden oder Eltern mit in einen Verein gezogen worden (80 Prozent). Mehr als Interesse am Vereinszweck wirkte also sozialer Einfluss; erlahmt dieser, verliert auch die Sache. Dass man am liebsten in Sport­ clubs geht (57 Prozent der jetzt Vereinszugehörigen), verwundert in dieser ju­ gendlichen Altersklasse nicht. Dass aber danach - hinter christlichen Gemein­ schaften, karitativen, politischen und berufsständischen Organisationen sowie Naturschutzgruppen - die Typen Geschichts-, Heimat-, Brauchverein fast ver­ schwinden, ganze acht Mal genannt (nur sechs Prozent aller Befragten), wirkt desolat. Heutige Junglehrer/innen scheint weder die Stimmung der Eltern­ häuser und Peer Groups, noch der Geist der Universität in diese Richtung zu lenken! Und manchmal schreckt wohl auch die Selbstdarstellung dortiger Gralshüter ab: Befragt nach „Kulturvereinen“ urteilten unsere Studenten je­ denfalls aus ihrer Außensicht eher distanziert und ablehnend: Nur 47 Prozent würdigen sie wenigstens grundsätzlich als „positiv“, „gemeinschaftsfördernd“, „traditionswahrend“. Weiteren 14 Prozent sind sie etwas für „ältere Leute“. Ist das die Haltung der nachwachsenden „Bildungselite“ schlechthin? Zur Kontrolle dehnten wir dieselbe Befragung auch noch auf die Kollegstufe zweier Gymnasien in Nürnberg und Stein aus - Großstadtabiturienten also, die sich bald auf verschiedenste Studiengänge und Berufsziele verteilen werden und daher ein breiteres Neigungsprofil erwarten ließen. Die Ergebnisse waren ziemlich iden­ tisch. Als Nachteile jeder Vereinsmitgliedschaft nannten die Schüler gleicherma­ ßen Zeitaufwand und Verpflichtungsdruck, „Vereinsmeierei“ und die Kosten ... Ob Idealismus und Bedürfnis nach Verein in höherem Lebensalter wohl noch einmal wachsen? 44 Läufer (wie Anm. 20).

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NEUE GESCHICHTSBEWEGUNG UND ALTERNATIVE GESCHICHTSVEREINE Von Clemens Wächter" In der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichte der arrivierte Historiker und Sozialwissenschaftler Hans-Ulrich Wehler 1985 einen Beitrag zur gerade sich etablierenden Neuen Geschichtsbewegung mit dem Untertitel „Wie bei der Suche nach dem Authentischen Engagement mit Methodik verwechselt wird“, in welchem er aus seiner Ablehnung der damals noch jungen so genannten „Ge­ schichte von unten“ keinen Hehl machte, und der zu einem regelrechten Eklat innerhalb der Historikerschaft führen sollte: Neuerdings machen [...] alterna­ tiv-kulturelle „ Geschichtswerkstätten(< von sich reden, wo mit historischen Pro­ jekten experimentiert, gleichzeitig aber auch in geschäftiger Betriebsamkeit [...] auf Selbstfindungs- und Selbsterweckungserlebnisse gewartet wird. In die­ sen basisdemokratischen „ Initiativgruppen “ wird manchmal, vor allem durch zur Zeit arbeitslose Historiker, seriöse Lokalforschung betrieben. Öfters aber ist eine handwerklich und methodisch exakte Geschichtswissenschaft keineswegs gewährleistet. [...] Unstreitig besteht [...] ein symbiotischer Zusammenhang zwischen Alternativkultur, grüner Bewegung und Alltagsgeschichte - besser: einer Mehrheit jüngerer Alltagshistoriker. Deshalb kann man in der Tat die vielen schwachen alltagsgeschichtlichen Studien grünlich schillernde Seifen­ blasen nennen.1 Die damalige Stimmungslage, die Wehlers Beitrag zugrunde lag, ist heutzu­ tage einer wohltuenden Unaufgeregtheit gewichen. Die Vehemenz der seiner­ zeitigen Diskussion um die Neue Geschichtsbewegung, die in Deutschland weitaus heftiger als in anderen Ländern war, lag nicht zuletzt darin begründet, dass diese geschichtsdidaktische Debatte einherging mit der Veränderung auch der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse und der politischen Landschaft, worauf die harsche Kritik an Wehlers Standpunkt - insbesondere an seiner po­ lemischen Bemerkung von den „grünlich schillernden Seifenblasen“ - seiner­ zeit fußte. Wurzeln der Neuen Geschichtsbewegung In Großbritannien basierte die Neue Geschichtsbewegung auf den „HistoryWorkshops“, die auf die Anfänge der Studentenbewegung zurückgehen. 1966 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Version eines Vortrags, der am 25. Januar 2003 im Rahmen des Symposions „Geschichtsvereine als gesellschaftliche Kraft“ beim Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg gehalten wurde. 1 Hans-Ulrich Wehler: Geschichte - von unten gesehen. Wie bei der Suche nach dem Authenti­ schen Engagement mit Methodik verwechselt wird, in: Die Zeit, 3.5.1985, S. 64.

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wurde im „Ruskin-College“ in Oxford, einer nicht-akademischen, gewerk­ schaftseigenen Bildungsstätte, ein Projekt gestartet, in dessen Rahmen For­ schungen zur Industrie- und Arbeitergeschichte angestrengt werden sollten. Hieraus entwickelten sich jährliche „History-Workshops“, deren theoretische Implikationen sich im Zuge der Studentenunruhen ab 1968 von der ausschließ­ lichen marxistischen Sichtweise ab- und einem breiteren Spektrum zuwandten und schließlich 1971 in die Gründung der „Oral History Society“ mündeten.2 Auch dem französischen Pendant, der „action culturelle“, liegen die Ge­ schehnisse aus der Zeit der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre als Anfang zugrunde. Hier war es jedoch kein vorrangig historisches Interesse, das als Motor fungierte, sondern vielmehr die Suche nach einer neuen kulturellen Praxis und damit die Umkehrung des Lernverhältnisses zwischen Kulturschaf­ fenden und Kulturkonsumenten. Initiator der Bewegung war Jean Hurstel, der mit seinen Mitstreitern ab 1977 im Sinne einer „montage sur la memoire collective“ (also dem „Zusammenbau eines Kollektivgedächtnisses“) Exkursionen in Dörfer des Lothringischen Kohlereviers unternahm, um jedwede historische Zeugnisse wie beispielsweise Gegenstände, Liedtexte oder Interviews zu sam­ meln. Für die Verhältnisse in Deutschland gab dieses französische Vorbild ins­ besondere Anstöße für die Stadtteilkulturarbeit.3 Ein wichtiger Impetus für die europaweite Entwicklung der Neuen Ge­ schichtsprojekte war schließlich die „Grabe-wo-du-stehst-Bewegung“ in Schweden - benannt nach dem 1978 erschienenen, gleichnamigen Buch des schwedischen Schriftstellers Sven Lindqvist.4 Entstanden war das Projekt Mitte der sechziger Jahre, als Lindqvist aufgefallen war, dass die Geschichte der schwedischen Industrie nur aus der Perspektive deren Besitzer und Direktoren behandelt werde, nicht aber aus dem Blickwinkel der Arbeiter, und Firmenge­ schichten überdies meist bezahlte Auftragsarbeiten darstellten. Daraus leitete Lindqvist ab, dass die Industriegeschichte von Arbeitern geschrieben werden müsse, die folglich ihre eigenen Arbeitsplätze untersuchen sollten, und ging von der Grundannahme aus, dass jeder Arbeiter alleiniger Experte über seine

2 Eva Sperner: Die neue Geschichtsbewegung. Geschichtswerkstätten und Geschichtsprojekte in der Bundesrepublik, Bielefeld 1985, S. 9-11. 3 Jean Hurstel: Die „action culturelle“. Bemerkungen zu einer kulturpolitischen Initiative, in: Hubert Chfristian] Ehalt / Ursula Knittler-Lux / Helmut Konrad (Hg.): Geschichtswerkstatt, Stadtteilarbeit, Aktionsforschung. Perspektiven emanzipatorischer Bildungs- und Kulturarbeit (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 20), Wien 1984, S. 77-82; Sperner (wie Anm. 2), S. 11-13. 4 Sven Lindqvist: Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989 (schwedische Originalausgabe 1978 u. d. T. Gräv där du star).

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Arbeitserfahrungen und somit als Laienforscher prinzipiell dem Experten gleichberechtigt sei. Vor diesem Hintergrund wollte er sein Buch „Grabe, wo du stehst" nicht als ein weiteres Produkt der Industriegeschichtsschreibung verstanden wissen, sondern als ein populärwissenschaftliches, aus heutiger Sicht allerdings etwas arg hemdsärmelig geschriebenes Handbuch zur eigen­ mächtigen Erforschung der Historie. Als Beispiel verlegte er sich auf die schwedische Zementindustrie, da sein Großvater als Arbeiter in dieser Sparte tätig gewesen war. Ziel des Projektes war die Darstellung der Berufs- und Le­ bensverhältnisse von Arbeitern mit der Auswertung von Haushaltsbudgetauf­ zeichnungen aus dem Jahr 1912 als Ausgangspunkt. Lindqvist stellt in seinem Buch das Auffinden und die Auswertung von 30 verschiedenen Informations­ quellen wie Briefe, Tagebücher, Denkmäler, Interviews, Erfindungen, Biblio­ theken oder Archive dar - wobei er allerdings eine etwas zu hoffnungsvolle Schilderung dessen, was in kürzester Zeit an Unternehmensgeschichte durch Sichtung eines einzelnen Aktes herausgefunden werden könne, vornimmt. Lindqvist, selbst kein Historiker sondern freier Schriftsteller, erstrebte nicht, die Arbeiter zu Historikern mutieren zu lassen, sondern sie auf dem Feld ihrer Kompetenz ihre eigene Geschichte schreiben zu lassen - was sich schließlich in der Praxis jedoch als nicht allzu einfach erweisen sollte. Seine Bewegung brei­ tete sich schließlich über ganz Schweden aus und wurde hier von der tradierten Arbeiterbewegung aufgegriffen und organisiert.5 Entwicklung der Neuen Geschichtsbewegung in Deutschland Die Neue Geschichtsbewegung in Deutschland hat ihre Wurzeln in den ausge­ henden siebziger Jahren und deren gesellschaftlichen Umbruch.6 Grundlage war der Vorwurf an die Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, ihren Anspruch aus den Endsechzigern, Anworten auf die Fragestellungen der Poli­ tik und Zukunftsplanung zu finden, nicht zu erfüllt zu haben - gepaart mit einer Skepsis gegenüber den großen politischen Theorien wie etwa dem Neo-

5 Sven Lindqvist: Grab[e], wo du stehst, in: Ehalt / Knittler-Lux / Konrad (wie Anm. 3), S. 69-76; Sperner (wie Anm. 2), S. 7-9. 6 Vgl. zum folgenden Hans-Ulrich Wehler: Das neue Interesse an der Geschichte, in: ders. (Hg.): Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 26-33; Hannes Heer / Volker Ullrich (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Rein­ bek b. H. 1985; Hilmar Hoffmann: Was kommt nach der „Spurensicherung“? Geschichtswerk­ stätten und kommunale Kulturpolitik, in: Ursula A. J. Becher / Klaus Bergmann (Hg.): Ge­ schichte - Nutzen oder Nachteil für das Leben? Sammelband zum 10jährigen Bestehen der Zeit­ schrift „Geschichtsdidaktik“ (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien 43), Düsseldorf 1986, S. 86-90; Hermann Glaser: Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 3: Zwischen Protest und Anpassung. 1968-1989, Frankfurt a. M. 1990, S. 332-337.

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marxismus, die an ihre Grenzen gestoßen waren. Hieraus resultierte die Auf­ wertung des überschaubaren Rahmens, die Hinwendung zur Lokal- oder Re­ gionalstudie und eine verstärkte Beschäftigung mit historischen Sachverhalten. Die stetig steigende Absolventenzahl an den Universitäten führte nicht zuletzt dazu, dass die Neue Geschichtsbewegung vom historischen Nachwuchs als willkommenes Betätigungsfeld und als Profilierungsmöglichkeit entdeckt wurde. Förderlich für die Entwicklung der Neuen Geschichtsbewegung war nicht zuletzt die Tatsache, dass die Geschichtsbetrachtung in den letzten zwei Jahr­ zehnten zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückte und hinsichtlich dieser Popularisierung des Geschichtsgedankens geradezu von einer „Renais­ sance der Geschichte" gesprochen werden kann. Diese äußerte sich auf breiter Ebene etwa in Filmserien wie „Holocaust" oder „Heimat", Spielfilmen wie „Schindlers Liste" oder jüngst Roman Polanskis „Pianist" und populärwissen­ schaftlichen Geschichtsbüchern wie beispielsweise der Chronik-Serie. Im Rah­ men einer allgemeinen Popularisierung des Geschichtsgedankens zählt hierzu auch die Vermarktung gelebter Alltagsgeschichte wie kürzlich mittels des Vier­ teilers „Schwarzwaldhaus 1902" im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wobei die Grenze zur Trivialisierung nicht immer leicht zu ziehen ist.7 Der Paradigmenwechsel bezüglich des historischen Interesses Ende der siebziger Jahre spielte sich vor dem Hintergrund zunehmend krisenhafter Rahmenbedingungen ab: Umweltprobleme, der die Friedensbewegung evozie­ rende Rüstungswettlauf zwischen Ost und West, erstmals auf breiterer Ebene sich abzeichnende Technologiekritik oder die steigende Massenarbeitslosigkeit verschafften einen Erfahrungshorizont, der die Grenzen wirtschaftlichen Wachstums aufzeigte und die bis dahin scheinbar ungebrochene Fortschritts­ euphorie tiefgreifend dämpfte. Das gleichzeitige Hervortreten der sozialen Kosten des Modernisierungsprozesses lenkte den Blick auf den wesentlichsten Forschungsgegenstand der Neuen Geschichtsbewegung: die Geschichte der Unterprivilegierten und der Arbeiterschaft. Diese Gedankengänge wurde zwar nicht erstmals von der Neuen Geschichtsbewegung und ihrem institutionellen Erscheinungsbild, den Geschichtswerkstätten, aufgegriffen und waren bereits schon in der Vergangenheit von den tradierten Geschichtsvereinen thematisiert worden, erfuhren nun aber eine vermehrte Wertschätzung und Widerspiege­ lung im politischen Alltagsgeschehen. Erste Organisationsstrukturen der Geschichtswerkstättenlandschaft mani­ festierten sich zu Beginn der achtziger Jahre. Als eine der Initialzündungen gilt 7 Rainer Gries / Volker Ilgen / Dirk Schindelbeck: Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern, Münster 1989.

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der 1981 im Recklinghauser Stadtteil Hochlarmark initiierte und durch das dortige Kulturreferat unterstützte „Geschichts-Arbeitskreis“, in dessen Rah­ men 20 Bergarbeiter und Bergarbeiterfrauen die Geschichte ihrer Lebenswelt recherchierten, persönliche Erinnerungen, Fotos, Miet- und Arbeitsverträge, Flugblätter und Zeitungsartikel sammelten und die Ergebnisse mittels einer Broschüre im Umfang von mehreren hundert Seiten publizierten.8 Im gleichen Jahr wurde im damaligen West-Berlin eine erste Geschichtswerkstatt unter die­ sem Namen gegründet. Sie diente zunächst vor allem als Diskussionsforum für Geschichtsforscher und Projektgruppen, die aus ihrer Arbeit berichteten. Da­ raus entstanden allmählich eigene Projekte der Geschichtswerkstatt, beispiels­ weise eine Arbeitsgruppe zur lokalen Nachkriegsgeschichte. Wichtige Maxi­ men der Organisationsstruktur waren die Forderungen, dass die Arbeit anstatt durch den vereinsrechtlich vorgeschriebenen Vorstand durch die Aktiven selbst bestimmt werden und die Geschichtswerkstatt jedermann zugänglich sein sollte.9 Breiteren Bekanntheitsgrad auch außerhalb der Historikerschaft erreichte die Neue Geschichtsbewegung, als 1983 - im Zuge der zahlreichen geschichts­ wissenschaftlichen Aktivitäten zum 50. Jahrestag der so genannten Machter­ greifung - ein großer Report der Wochenschrift „Der Spiegel“ erschien.10 Am 28. Mai dieses Jahres kam es auch - nach weiteren lokalen Initiativen, zumeist unter dem Namen „GeschichtsWerkstatt“ - zur Gründung des überregionalen Dachverbandsvereins „Geschichtswerkstatt“. Anstoß war die beabsichtigte Gründung einer neuen Zeitschrift durch junge Historiker an Hochschulen, welche nicht nur auf den akademischen Bereich beschränkt sein sollte. Das erste Heft der Zeitschrift „Geschichtswerkstatt“ erschien schließlich noch im selben Jahr; 1992 ging aus diesem sehr engagiert politischen Periodikum die mehr an akademischer Auseinandersetzung orientierte Zeitschrift „WerkstattGeschichte“ hervor. Neben der Bildung von Arbeitsgruppen zu Schwerpunkt­ themen war ein öffentlichkeitswirksamer Ausfluss des Dachverbandes „Ge­ schichtswerkstatt“ die Ausrichtung von „Geschichtsfesten“, mehrtägigen Ta­ gungen mit bundesweitem Einzugskreis, die aus Seminaren, Workshops, Dis­ kussionen und Ausstellungen bestanden und deren erste 1984 in West-Berlin stattfand. Weitere Treffen wurden 1985 in Hamburg, 1986 in Dortmund und

8 Stadt Recklinghausen (Hg.): Hochlarmarker Lesebuch. Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhr­ gebietsgeschichte, Oberhausen 1981. 9 Die Berliner Geschichtswerkstatt, in: Ehalt / Knittler-Lux / Konrad (wie Anm. 3), S. 83-86. 10 „Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit“. Spiegel-Report über die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik, in: Der Spiegel, 6.6.1983, S. 36-42.

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1988 in Hannover abgehalten.11 Da eine der zentralen Triebkräfte der Ge­ schichtswerkstättenbewegung die Schaffung neuer Betätigungsfelder und Ar­ beitsplätze für Historiker war, bestand folglich ein wichtiger Tätigkeitsbereich des Vereins aus der Lobbyarbeit für arbeitslose Historiker. Auch speziell für die bayerischen Geschichtswerkstätten existiert inzwi­ schen ein Publikationsorgan: die Zeitschrift „Geschichte quer“ mit dem Un­ tertitel „Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten“. Sie erscheint seit Juli 1992, nachdem die Idee erstmals auf einem Treffen der bayerischen Ge­ schichtswerkstätten in Regensburg 1989 erörtert worden und im Herbst 1991 als Nullnummer Gestalt angenommen hatte. Die Zeitschrift steht jeweils unter einem bestimmten Generalthema und beinhaltet die Vorstellung von Projek­ ten, Informationen zu Veranstaltungen, Berichte über Quellenfunde, Autobio­ graphien von Zeitzeugen und Interviews sowie Diskussionsforen.12 Die Wesenszüge der Neuen Geschichtsbewegung lassen sich unter - grob gefasst - sechs Gesichtspunkten betrachten, ohne diese allerdings in dem vor­ gegebenen knappen Rahmen ausführlich diskutieren zu können.13 Als erstes zu nennen ist die Forderung, Geschichtsforschung solle nicht nur durch Akademiker, sondern insbesondere auch aus der Sicht und durch die Be­ troffenen selbst geschehen. Basis hierfür war die Ansicht, nur diese seien für ihr spezielles persönliches Umfeld genügend kompetent - worauf ja auch die „Grabe-wo-du-stehst-Bewegung“ Lindqvists fußte. Schon Bertolt Brecht hatte dieser Forderung ein literarisches Zeugnis gesetzt in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, das den Vorwurf thematisierte, es werde immer nur die Geschichte der „Großen“ geschrieben, nicht aber diejenige des Arbeiters, der ebenso an den „großen“ historischen Prozessen beteiligt ge­ wesen sei.14 11 Geschichtswerkstatt Hannover (Hg.): 4. Geschichtsfest ’88. Arbeit und Arbeiterleben - Ge­ schichtsarbeit heute - Kinder und Kultur - Nationalsozialismus, Hannover 1988. 12 Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten (2002 erschien Heft 10 „Kavaliersdelikt und Kapitalverbrechen“). - Vgl. zur Historie der tradierten Vereine in Bayern Gerhard Stalla: Geschichte der Geschichtsvereine in Bayern. Eine Bibliographie (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 7/99), Augsburg 1999. 13 Vgl. zum folgenden Hubert Chfristian] Ehalt: Geschichte von unten, in: ders. (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags (Kulturstu­ dien 1), Wien u. a. 1984, S. 11-39; Gerhard Paul / Bernhard Schoßig: Geschichte und Heimat, in: dies. (Hg.): Die andere Geschichte. Geschichte von unten - Spurensicherung - Ökologische Ge­ schichte - Geschichtswerkstätten, Köln 1986, S. 15-32; Sperner (wie Anm. 2). - Vgl. auch die Vorstellung einzelner Projekte bei Bernd Jaspert (Hg.): Geschichte von unten. Modelle alterna­ tiver Geschichtsschreibung (Hofgeismarer Protokolle 274), Hofgeismar 1990. 14 Wer baute das siebentorige Theben ? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? / Und das mehrmals zerstörte Babylon / Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern / Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? /

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Hieraus ergibt sich der zweite Wesenszug, nämlich die vergleichsweise breite Palette an Vermittlungsstrategien des Erarbeiteten durch Vertreter der Neuen Geschichtsbewegung, die auf verschiedenste, teils aktionistische Dar­ bietungen setzen. Drittens soll nach dem Verständnis der Neuen Geschichtsbewegung die Be­ schäftigung mit historischen Vorgängen - und hier handelt es sich in der Tat um einen wesentlichen Unterschied zur tradierten Praxis - Hilfestellung für aktu­ elle Probleme liefern und identitätsbildend wirken. Wenn in Vergessenheit ge­ ratene Gesellschaftsgruppen und Klassen wiederentdeckt werden sollen, so stehen hierbei jedoch nicht der historische Erkenntnisgewinn und die Rekon­ struktion vergangener Lebensumfelder als solche im Vordergrund, sondern vielmehr die Wiederbelebung alter Traditionen, etwa aus der Arbeiterkultur, und die Möglichkeit für den Forschenden zur Einbindung in eine identität­ schaffende Gruppe. Daraus resultiert im Rahmen des historiographischen Per­ spektivenwechsels der siebziger Jahre die besondere Hinwendung zu der ge­ meinhin als Alltagsgeschichte bezeichneten Forschungsrichtung. Dieser etwas ungenaue Begriff subsumiert in nicht ganz schlüssiger Abgrenzung Einzelbe­ reiche des menschlichen Daseins wie beispielsweise Wohnen, Kindheit, Gene­ rationenverhältnisse oder Arbeit, aber eben auch Sparten, die gerade nicht un­ ter den ursprünglich im engen Sinn zu fassenden Begriff des Alltags fallen wie Festkultur oder Urlaub. Alltagsgeschichtliche Arbeiten beschäftigen sich hier­ bei insbesondere mit den Lebensumständen der Unterprivilegierten in der Zeit ab Beginn der Industrialisierung, da diese in den Familientraditionen noch prä­ sent ist. Allerdings ist hinzuzufügen, dass bislang nur wenig tatsächlich ge­ glückte Alltagsgeschichten existieren, da viele den geschichtswissenschaft­ lichen Standards nicht gerecht werden. Aus der zentralen Stellung der Alltagsgeschichte folgt als vierter Wesenszug der Neuen Geschichtsbewegung, dass der jeweils thematisierte Rahmen eher kleinräumig ist und die Fragestellungen und Ergebnisse auf eine Mikrostruktur begrenzt sind unter Auslassung übergreifender Entwicklungen. Daraus ergibt sich insbesondere ein neues Verständnis des Heimatbegriffes, das fernab von Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war / Die Maurer? Das große Rom / Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen / Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz / Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis / Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang / Die Ersaufenden nach ihren Skla­ ven. / / Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? / Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte / Unterge­ gangen war. Weinte sonst niemand? / Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer / Siegte außer ihm? / / Jede Seite ein Sieg. / Wer kochte den Siegesschmaus? / Alle zehn Jahre ein großer Mann. / Wer bezahlte die Spesen? // So viele Berichte. / So viele Fragen (zit. nach: Ber­ tolt Brecht: Werke 12, Frankfurt a. M. 1988, S. 29).

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„heimattümelnden“ Konnotationen oder nostalgischer Sinnstiftung „Heimat“ als praktikables Lebensumfeld, nicht als Herkunftsausweis, betrachtet, und ihm eine kulturell und politisch zukunftszugewandte Wertigkeit zuordnet. Be­ züglich der Wertschätzung der Mikrostruktur ist jedoch die Gefahr zu erwäh­ nen, dass die Liebe zum Detail zur Vernachlässigung der großen Entwick­ lungsstränge führen und die Kenntnisvermittlung des allgemeinen geschicht­ lichen Überbaus fehlen kann. Insbesondere ist hier der oft geäußerte Vorwurf anzuführen, die Alltagsgeschichte könne zwar Episoden aus dem Alltag schil­ dern, nicht jedoch eine umfassende Geschichte des deutschen Alltags. Auch existiert die Gefahr, eine neue Art von Sozialromantik heraufzubeschwören und dem Mythos von der „guten alten Zeit“ neue Nahrung zu geben.15 Fünftens ging aus der Neuen Geschichtsbewegung die Wertschätzung für andere, insbesondere dialogische Methoden hervor. Hierbei ist insbesondere die so genannte Oral History zu nennen, den Erfahrungsgewinn mittels Befra­ gung von Zeitzeugen. Dabei kann sich die Historikerschaft heutzutage auf bes­ sere Voraussetzungen stützen, da ihr im allgemeinen nicht mehr der moralische Vorwurfs-Duktus der Achtundsechziger-Generation mit generalisierenden Schuldvorwürfen hinsichtlich der Verstrickung in die NS-Zeit innewohnt. Hingegen mangelt es jedoch oft an fehlendem theoretischen und methodischen Vorwissen, um mittels durchdachter Auswahlkriterien der Zeitzeugenbefra­ gung präzisen Erkenntnisgewinn folgen zu lassen.16 Sechstens und letztens wohnte der Neuen Geschichtsbewegung - zumin­ dest in ihren institutioneilen Anfängen - eine fundamentaloppositionelle Per­ spektive inne, verbunden mit dem - bisher von mir wegen seiner Mehrdeutig­ keit vermiedenen - Begriff der „Geschichte von unten“. Zum einen umfasst dieser natürlich den bereits angesprochenen Subjektwechsel, nämlich die Be­ teiligung von Arbeitern und Nicht-Akademikern an der Geschichtsarbeit. Zum anderen impliziert er aber auch eine bewusste Konfrontation im Sinne ei15 Lutz Niethammer: Anmerkungen zur Alltagsgeschichte, in: Klaus Bergmann / Rolf Schörken (Hg.): Geschichte im Alltag - Alltag in der Geschichte (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien 7), Düsseldorf 1982, S. 11-29; Hans-Ulrich Wehler: Aus der Geschichte lernen?, in: Wehler (wie Anm. 6), S. 11-18; Christian Meier: Notizen zum Verhältnis von Makro- und Mikrogeschichte, in: Karl Acham / Winfried Schulze (Hg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Ge­ samtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 6), München 1990. - Vgl. hierzu auch die Redebeiträge der Podiumsdiskussion des 35. Historikertages in Berlin 1984, herausgegeben als Kurseinheit der Fernuniversität Hagen durch F. J. Brüggemeier / J. Kocka: „Geschichte von unten - Geschichte von innen“. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985. 16 Zur Problematik der Oral-History-Methode vgl. Ronald J. Grele: Ziellose Bewegung. Metho­ dologische und theoretische Probleme der Oral History, in: Lutz Niethammer (Hg.): Lebenser­ fahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt a. M. 1980, S. 143-161.

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ner Tätigkeit entgegen herrschende Lehrmeinungen. Offenkundig wird dies, vergleicht man den Begriff der „Geschichte von unten“ mit anderen so ge­ nannten Von-unten-Bewegungen aus denselben Jahren wie etwa mit der „Kir­ che von unten“, die diametral entgegen der hierarchisch strukturierten katholi­ schen Amtskirche argumentiert. Dieser Wesenszug einer Fundamentalkritik, gepaart mit dem Vorwurf, es existiere eine quasi dogmatisch-offizielle tradierte Geschichtsinterpretation, der entgegenzuwirken sei, ist freilich nicht einheit­ lich zu bewerten. Mancherorts führte er zu unfruchtbarem Aufbruch von Grä­ ben zwischen tradierter und neuer Geschichtsarbeit, die so weder nötig noch nachvollziehbar waren. Andernorts hingegen machte gerade diese Konfronta­ tion sowohl historische Sachverhalte als auch mangelnde Bereitschaft zu un­ voreingenommener Forschungsarbeit erst publik und offenbarte mögliches Versagen der traditionellen Geschichtsarbeit. Als Beispiel für letzteres wären etwa die Auseinandersetzungen in dem Ort Pottenstein in der Fränkischen Schweiz zu nennen, wo seit über zehn Jahren ein Streit um die Form des Ge­ denkens an die Opfer des dortigen Außenlagers des Konzentrationslagers Flossenbürg schwelt.17 Diese unterschiedlichen, zu Ende der achtziger Jahre mit Vehemenz ausgefochtenen Standpunkte wurden beispielsweise auf einer von der ThomasMorus-Akademie Bensberg und dem Landschaftsverband Rheinland 1989 in Köln veranstalteten Studienkonferenz „Geschichtsvereine - Entwicklungsli­ nien und Perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit“ mehr als deut­ lich. Die Sichtweise der Geschichtsvereine vertrat Hugo Stehkämper, damals Leiter des Historischen Archivs der Stadt Köln und Vorsitzender des Gesamt­ vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, die Seite der Ge­ schichtswerkstätten Wilfried Busemann, weiland Mitarbeiter bei der Ge­ schichtswerkstatt Bonn. Prononciert aus der Argumentationsweise der Ge­ schichtsvereine warf Stehkämper den Geschichtswerkstätten vor, sie pflegten das Vorurteil, es gebe eine „offiziöse“ Geschichtsschreibung einer Stadt oder einer Region, der sich die Geschichtsvereine verpflichtet fühlten, und besäßen eine problematische Einstellung zur methodischen Quellenkritik und politi­ schen Neutralität. Unter dem Vorwurf, die Geschichtswerkstätten wollten mittels des Bemühens um die Unterprivilegierten - politische Werbung betrei­ ben, betonte er, auch die tradierten Geschichtsvereine hätten sich - neben ihrer Arbeit an zahlreichen anderen Themen - seit jeher der Fragestellungen der All­ tagsgeschichte angenommen, und diese sei keine Erfindung der Geschichts­ werkstätten. Busemann konterte unter anderem mit dem Verweis auf die Tat17 Peter Engelbrecht: Touristenidylle und KZ-Grauen. Vergangenheitsbewältigung in Pottenstein, Bayreuth 1997.

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Sache, die Geschichtswerkstätten würden neue Horizonte erschließen und Quellengattungen eruieren, welche die Historikerschaft bislang vernachlässigt habe - beispielsweise Fotoalben, Handwerkszeug, alte Maschinen oder münd­ liche Zeugnisse.18 Die Befehdungen fanden jedoch nicht nur zwischen den Vertretern der tra­ dierten und der neuen Geschichtsvereine statt, sondern auch zwischen letzte­ ren und den Archiven und Geschichtsmuseen. Im Zentrum der Vorwürfe der Geschichtswerkstätten gegenüber den Archiven standen überkommene Vorbe­ halte, so etwa die Benachteiligung nicht-akademischer Forschungsprojekte durch die Archive, die Zurückhaltung von Unterlagen gegenüber so bezeichneten nicht-herrschaftskonformen Forschern und die zu breite Auslegung von Datenschutzbelangen vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit in Lesung be­ findlichen Archivgesetzgebung. Heftige Dispute bezüglich der inhaltlichen Grundtendenzen ergaben sich auch in der Gründungsphase der beiden deut­ schen Geschichtsmuseen Mitte der achtziger Jahre, dem „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn schräg gegenüber dem (ehemali­ gen) Bundeskanzleramt und dem damals noch vis-ä-vis dem Reichstag als Ge­ genstück zum Ost-Berliner „Museum für Deutsche Geschichte“ geplanten „Deutschen Historischen Museum“ in West-Berlin. Inzwischen sind jedoch auch diese Grabenkämpfe weitgehend beigelegt.19 Die Strukturen der Organisation und der Projekte der Neuen Geschichtsbe­ wegung erweisen sich als sehr heterogen und lassen sich in drei große Gruppen einteilen. Zum ersten die Projekte in öffentlicher Trägerschaft. Es handelt sich hierbei um staatliche, halbstaatliche und kommunale Einrichtungen wie Volkshoch­ schulen, Jugendzentren oder Stiftungen. Als ein bekanntes Beispiel hierfür sei der „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsi­ denten“ zu nennen, in dessen Rahmen Jugendliche in ihrem lokalen Umfeld zu gestellten Themen (mittels Oral History, Archivarbeit oder historischer Zei­ tungslektüre) forschen, die Ergebnisse - als Hinführung zu wissenschaftlich-

18 Thomas-Morus-Akademie Bensberg (Hg.): Geschichtsvereine - Entwicklungslinien und Per­ spektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit (Bensberger Protokolle 62), Bensberg 1990, vgl. hier die Beiträge von Hugo Stehkämper: Geschichtsvereine und Geschichtswerkstätten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, S. 71-84, und Wilfried Busemann: Geschichtswerkstätten und Geschichtsvereine. Kein Generationskonflikt! ?, S. 85-96. 19 Geschichtswerkstatt Berlin (Hg.): Die Nation als Ausstellungsstück. Planung, Kritik und Uto­ pien. Zu den Museumsgründungen in Bonn und Berlin (Geschichtswerkstatt 11), Hamburg 1987; Frank Thomas Gatter: Institutionen der „Wende“: Häuser der Geschichte und die Rolle der Archive, in: Heide Gerstenberger / Dorothea Schmidt (Hg.): Normalität oder Normalisie­ rung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, Münster 1987, S. 204-211.

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historischem Arbeiten - auswerten und diese schließlich in schriftlicher Form, als Fotodokumentation, Videopräsentation, Theaterstück oder Collage vor­ stellen. Während der Wettbewerb zunächst zwar neue Arbeitsmethoden for­ cierte, in seinen Themenstellungen zur deutschen Ereignisgeschichte aber noch Althergebrachtem verhaftet war, fand 1977 mit dem Motto „Arbeitswelt und Technik im Wandel“ - noch vor Beginn der Neuen Geschichtsbewegung - ein Wechsel zur Alltags- und Sozialgeschichte statt.20 Zum zweiten sind zu nennen die Projekte im organisationspolitischen Spek­ trum. Sie sind meist der Arbeiterbewegung, Parteien oder der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (WN-BdA)“ nahestehend, können aus gewachsenen Strukturen schöpfen, entwickeln ihre Fragestellungen aus den täglichen Anforderungen der Arbeits­ welt und bedienen sich meist konventioneller Vermittlungsmethoden wie etwa Bildungs- und Vortragsabenden. Als Beispiel sei das zweijährige DGB-Projekt „Geschichte von unten“ genannt, in dessen Rahmen eine Bestandsaufnahme der geschichtsforschenden Gruppen und Personen auf lokaler Ebene ange­ strengt und ein Erfahrungsaustausch der Projekte mit konkret fachlicher Bera­ tung hergestellt wurde.21 Zum dritten - und hier kommen wir nun zu den Geschichtsvereinen im en­ geren Sinn - die Projekte im Spektrum der Neuen Sozialen Bewegungen, zu denen etwa die Friedensbewegung, die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung, die Antiatomkraftbewegung und viele Bürgerinitiativen zählen. Ohne organisationspolitische oder institutionelle Vorgaben entwickelten sich hierbei die so genannten Geschichtswerkstätten als Zentren der neuen Geschichtsar­ beit. Dabei unterschieden sich die Denkformen und Verhaltensweisen der hier Aktiven, die sich als Reaktion auf konkrete lebensweltliche Gefahren oder Zu­ stände herausbildeten, von der traditionellen Linken, deren geistiger Überbau allgemeine gesellschaftskritische Fragestellungen gewesen waren. Das Selbst­ verständnis der ostentativ basisdemokratischen Geschichtswerkstätten lag zu­ mindest in der Gründungsphase in der Kritik am etablierten Historikerbetrieb und in der Forderung nach Beseitigung geschlechtsspezifischer Dominanzen, hierarchischer Strukturen und Benachteiligung von Minderheiten, nach Schaf­ fung neuer sozialer Formen der Forschungsorganisation und nach Erweite-

20 Körber-Stiftung (Hg.): Spurensuchen Spezial. 25 Jahre Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg 1998. - Der Wettbewerb firmiert inzwischen unter dem Titel „GeschichtsWettbewerb des Bundespräsidenten. Jugendliche forschen vor Ort“. 2002/03 lautete das Thema „Weggehen - Ankommen. Migration in der Geschichte“. 21 Manfred Scharrer: Macht Geschichte von unten. Handbuch für gewerkschaftliche Geschichte vor Ort, Köln 1988.

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rung von Fragestellungen, Untersuchungsmethoden und fachlichen Grenzen durch Kontakt zu anderen Disziplinen sowie nach Ergebnisorientierung der Geschichtsarbeit auf Fragen der zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung.22 Nach einer mehrjährigen Selbstfindungsphase sind die Geschichtswerkstät­ ten inzwischen beim historiographischen Alltag angelangt. Dies nicht nur, da der Bereich der lokalen Alltagsgeschichte inzwischen allgemein wissenschaft­ lich anerkannt ist und sich steigender Wertschätzung erfreut, sondern auch auf­ grund des starken Bedeutungszuwachses des kulturellen Freizeit- und Touris­ musmarktes, der auf dem Geschichtsvereinssektor insbesondere von Projekten der Neuen Geschichtsbewegung bedient wird. Außerdem besteht aufgrund der äußeren Umstände der Zwang zur Professionalisierung hinsichtlich der Anschaulichkeit und Seriosität der Geschichtsvermittlung (etwa beim Publika­ tionslayout), was den Ausleseprozess zwischen einerseits laienhaft organisier­ ten Gruppierungen und andererseits professionell durchstrukturierten Anbie­ tern auf dem Geschichtswerkstättenmarkt begünstigt hat. Dies bedeutet für die Projekte der Neuen Geschichtsbewegung überdies eine soziale Öffnung zu den traditionellen Geschichtsvereinen, womit auch eine Veränderung der Zu­ sammensetzung der Adressatenschaft einhergeht. Manifestationen der Neuen Geschichtsbewegung in Nürnberg Der folgende Versuch einer Bestandsaufnahme soll nicht auf die Geschichts­ vereine im engeren Sinn beschränkt bleiben; vielmehr wird versucht werden, das gesamte Spektrum der Aktivitäten im Zuge der Neuen Geschichtsbewe­ gung mit seinen Methoden, Themen und institutionellen Verankerungen anzu­ reißen. Auch in Nürnberg begann das Hervortreten neuer Geschichtsinitiativen im Verlauf der achtziger Jahre. Ein erstmaliges, aus den Kreisen der Neuen Sozia­ len Bewegungen erstelltes und 1981 erschienenes alternatives „Stattbuch“ ver­ zeichnet noch keinen expliziten Eintrag zur Existenz einer Geschichtswerk­ statt oder vergleichbaren Einrichtung.23 Ebenso weist ein von der Stadt Nürn­ berg herausgegebener Vereinsatlas 1980/81 keine spezielle Geschichtssparte aus; unter der Rubrik „Heimatpflege“ finden sich zahlreiche Heimatvereine 22 Heide Gerstenberger / Dorothea Schmidt: Von den Festen zu den Alltagen und zu neuen Auf­ gaben, in: Geschichtswerkstatt 24 (1991), S. 7-13; Alfred Georg Frei: Geschichtswerkstätten als Zukunftswerkstätten. Ein Plädoyer für aufklärerische Geschichtsarbeit, in: Paul / Schoßig (wie Anm. 13), S. 258-280. 23 Netzwerk Selbsthilfe Franken e. V. (Hg.): Stattbuch Nürnberg - Fürth - Erlangen, Nürnberg / Erlangen 1981.

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(beispielsweise die Egerländer Gemeinde Nürnberg) wie auch die Altnürnberger Landschaft und die Altstadtfreunde.24 Allein ein so genannter alternativer beziehungsweise „antifaschistischer“ Stadtführer thematisierte zu Beginn der achtziger Jahre die Vergangenheit Nürnbergs im Rahmen der Neuen Ge­ schichtsbewegung.25 Vergleichbar mit dem oben erwähnten Hochlarmarker Geschichtsprojekt entstand auch in Nürnberg eine erste neue Geschichtsinitiative im Oktober 1982 im als „Südstadtladen“ firmierenden Kulturladen im Stadtteil Steinbühl.26 Hier wurde ein „Stadtteilgeschichtserzählkreis“ für Senioren initiiert, in dem Erinnerungen aus der Arbeitswelt und dem privaten Leben ausgetauscht wur­ den betreffend die Wohnverhältnisse, die Veränderung des Stadtviertels, den Einfluss der Industrie auf das Leben im Stadtteil oder die Modifikation von Le­ bensgewohnheiten. Als Ergebnis der Arbeit entstand zunächst 1983 eine kleine Ausstellung und ein Stadtteilspaziergang während des Südstadtfestes; schließ­ lich gingen die Erzählungen in drei Broschüren „Kennen Sie Steinbühl?“ ein, die zwischen 1984 und 1989 erschienen.27 Ein weiteres Projekt betreffend Arbeitererinnerungen, welches 1984 eben­ falls als Publikation erschien, war der vierte Band der Schriftenreihe des Cen24 Stadt Nürnberg - Amt für kulturelle Freizeitgestaltung (Hg.): Wer - was - wo. Kulturelle Frei­ zeit in Nürnberg. Vereinsatlas 1980/81, Nürnberg [1980]. - Das 1993 publizierte Handbuch der bayerischen Geschichtsvereine verzeichnet im allgemeinen die traditionellen Geschichtsvereine; für Nürnberg sind neben dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg die Gesellschaft für Fa­ milienforschung in Franken und die Naturhistorische Gesellschaft aufgeführt (Verband bayeri­ scher Geschichtsvereine (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichtsvereine, Bamberg 1993, S. 106-108). 25 Komitee gegen Neonazismus (Hg.): Kennen Sie das andere Nürnberg? - Naziterror und Wi­ derstand in Nürnberg, Nürnberg 1981; später als: Walter Bauer / Elke Mahlert: Kennen Sie das andere Nürnberg? Ein antifaschistischer Stadtführer, Nürnberg 1994. - Vgl. hierzu in überre­ gionaler Hinsicht Eike Hennig: Zur Einschätzung verschiedener Lernfelder: Spurensicherung und Stadtrundfahrten, in: Benno Hafenegger / Gerhard Paul / Bernhard Schoßig (Hg.): Dem Fa­ schismus das Wasser abgraben. Zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus, München 1981, S.135-163. 26 Stadt Nürnberg - Amt für Kultur und Freizeit - Abteilung] dezentrale Begegnungsstätten: 15 Jahre Kulturläden. Ein Bericht, Nürnberg [1992]; Hermann Glaser: Kommunale Kommunika­ tionszentren, in: Ernst Pappermann u. a. (Hg.): Kulturarbeit in der kommunalen Praxis, Köln 1984, S. 183-193. - Zur Neuen Kulturszene und Kulturladenszene vgl. auch Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 479-487. 27 Stadt Nürnberg - Amt für kulturelle Freizeitgestaltung - Südstadtladen - Kulturladen in Stein­ bühl (Hg.): Kennen Sie Steinbühl? Bd. 1: Ein Stadtteilspaziergang in die Vergangenheit - nach Erzählungen von Bewohnern aus Steinbühl und Rabus. Bd. 2: Das Alltagsleben in einer Straße Steinbühls bis 1945 - erzählt von ihren Bewohnern. Bd. 3: Steinbühler berichten über die Zeit von 1945 bis 1960, Nürnberg 1984 / 1985 / 1989. - Vgl. hierzu auch Ilona Porsch: Leben in der Südstadt. Projekt zur Stadtteilgeschichte in einem Nürnberger Kulturladen, in: Paul / Schoßig (wie Anm. 13), S. 203-220.

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trums Industriekultur „Aufriss“. Es handelte sich um ein Begleitheft zu einer Ausstellung gleichen Titels und enthält Erinnerungen von 66 ehemaligen Nürnberger Metallarbeitern, mit denen lebensgeschichtliche Interviews und Videoaufnahmen durchgeführt worden waren.28 Ein erster eigener Verein aus dem Spektrum der Neuen Sozialen Bewegun­ gen, der sich insbesondere auch mit Geschichtsarbeit befasste, war das im Ok­ tober 1984 gegründete „Feministische Informations-, Bildungs- und Doku­ mentationszentrum (Fibidoz)“, nachdem sich vergleichbare Institutionen be­ reits in West-Berlin und Frankfurt am Main konstituiert hatten. Schwerpunkt der Arbeit war die Frauengeschichte in Süddeutschland respektive in Nürn­ berg, insbesondere die Sammlung von Materialien wie Grauer Literatur und die dokumentarische Tätigkeit; ferner wurde 1987 ein Oral-History-Projekt mit Seniorinnen durchgeführt und sich 1990 am Kulturprojekt „Kommen Bleiben - Gehen“ mit einer Ausstellung über Schicksale von vertriebenen Frauen beteiligt.29 Eine intrastädtische Kooperationsbasis für die verschiedenen Initiativen wurde 1988 geschaffen, als auf Anregung einer Nachbarschaftskonferenz der Oberbürgermeister zur Intensivierung der kulturellen Zusammenarbeit die „Arbeitsgemeinschaft Kultur im Großraum Nürnberg-Fürth-ErlangenSchwabach“ gegründet wurde. Unter Teilnahme unterschiedlichster Gruppie­ rungen, so auch der Neuen Geschichtsbewegung, veranstaltete die Arbeitsge­ meinschaft mehrere historisch orientierte Kulturprojekte etwa zu den Themen „40 Jahre Bundesrepublik“, „Migrationsbewegungen“ und „Amerika“.30 Den größten Erfolg einer Gruppierung aus der Neuen Geschichtsbewegung durfte der Verein „Geschichte Für Alle“ für sich verbuchen. Auf Initiative einiger Geschichtsstudenten der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg - ohne konkretes Vorbild aus anderen Städten - 1985 gegründet, setzte man sich das Ziel, Alltags- und Sozialgeschichte auf lokaler Ebene an­ hand von historischen Stadtrundgängen, einem damals neu sich manifestieren28 Stadt Nürnberg - Schul- und Kulturreferat - Centrum Industriekultur (Hg.): Aufriss. Schrif­ tenreihe des Centrum Industriekultur. Bd. 4: Arbeitererinnerungen. Begleitheft zur Ausstellung gleichen Titels, Nürnberg 1984. 29 Fibidoz e.V. (Hg.): Fibidoz. Frauenspuren sichern. Eine Dokumentation über die Arbeit des Feministischen Information s-, Bildungs- und Dokumentationszentrums in Nürnberg 1985-1993, Nürnberg 1993; Fibidoz e.V. u. a. (Hg.): Flucht - Vertreibung - Exil - Asyl. Frauen­ schicksale im Raum Erlangen, Fürth, Nürnberg, Schwabach (Frauen in der einen Welt Sonderbd. 1), Nürnberg 1990. 30 Arbeitsgemeinschaft Kultur im Großraum Nürnberg-Fürth-Erlangen-Schwabach (Hg.): Ge­ burt einer Republik, Nürnberg 1989; dies. (Hg.): Kommen - Bleiben - Gehen, Nürnberg 1990; dies. (Hg.): Facing America. Ein Mosaik. Texte - Fakten - Meinungen. Lesebuch zum Kultur­ projekt 1992 „Facing America“, Nürnberg 1992.

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den Markt, zu vermitteln. Hierdurch unterscheidet sich der Verein von den meisten „Geschichtswerkstätten“ andernorts, deren Initialzündung nicht der Stadttourismusbereich war. 1986 fanden unter Leitung von „Geschichte Für Alle“ erstmals die Rundgänge „Das ehemalige Reichsparteitagsgelände, „Le­ ben in einer mittelalterlichen Stadt“ und „Fürth“ statt, wobei in diesem Jahr bereits 144 Gruppen mit circa 3.600 Interessierten teilnahmen. Die erste Un­ terstützung kam von Seiten der Nürnberger Jugendherberge, die dem neuen Verein Gruppen vermittelte. Ab 1989 bot der Verein auch Touren für Einhei­ mische und Einzeltouristen an Wochenendterminen an. Neben der Rundgangstätigkeit, die dem Verein bereits 1992 die zweite Stelle im Bundesvergleich - nach „Stattreisen Berlin“ - sicherte, wurde schließlich auch die Projektarbeit in das Tätigkeitsspektrum mit aufgenommen. 1989 ini­ tiierte man den Austausch mit einer Krakauer Studentenorganisation - eine nach dem weltpolitischen Umbruch neue und von den tradierten Geschichts­ vereinen kaum wahr genommene zwischenstaatliche Option. Um die Jahr­ zehntwende erfolgte die Beteiligung an verschiedenen Geschichtsaktivitäten in Nürnberg wie etwa dem Projekt „Geburt einer Republik“ mit der Ausstellung „So viel Anfang war nie“ 1989 und „Facing America“ 1992. Im gleichen Jahr konnten die Ergebnisse eines Geschichtsprojektes der ÖTV-Jugend Nürnberg und des Kreisjugendrings Nürnberg-Stadt, das von „Geschichte Für Alle“ fachlich und didaktisch betreut wurde, vorgestellt werden. 1993 erfolgte die erste Ausstellungskonzeption in der Vereinsgeschichte zum 40. Jubiläum des EWAG-Hochhauses am Plärrer, der zahlreiche weitere Aus­ stellungen folgten, so etwa zur Kulturgeschichte verschiedener Haushaltsgeräte in Zusammenarbeit mit der Firma AEG im Museum Industriekultur. Im Stadt­ jubiläumsjahr 2000 entstanden eine Ausstellung im DB-Museum zur Ge­ schichte des Nürnberg-Tourismus und eine durch die Nürnberger Behinderten­ werkstätten angeregte Ausstellung zur historischen Entwicklung des Umgangs mit Menschen mit Behinderung am lokalen Beispiel Nürnbergs und der Region. In der ureigensten Domäne der Neuen Geschichtsbewegung, der Recher­ chearbeit mittels Gesprächskreisen und Zeitzeugenbefragungen, fand bei­ spielsweise 1994 die Beteiligung von „Geschichte Für Alle“ an der Ausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte „Schön ist die Jugendzeit...?“ über das Leben junger Leute in Bayern mit einem eigenen Ausstellungsbeitrag zur Nürnberger Jugendkultur in den fünfziger Jahren statt. Im Gegensatz zu vielen anderen Oral-History-Projekten, die meist nur punktuell ins Leben gerufen werden, konnte sich im Rahmen von „Geschichte Für Alle“ ein weiteres sol­ ches Projekt auch dauerhaft etablieren: Unter Beteiligung von Vischers Kultur­ laden findet seit mehreren Jahren ein Senioren-Erzählcafe statt. Es handelt sich hierbei um eine feste Gruppe von Senioren, die Themen aus ihrem persön-

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liehen Erfahrungshorizont wie etwa die Erfahrung des Bombenkrieges oder den Stellenwert von Sitte und Moral in der Nachkriegszeit erarbeiten und diese auf Anfrage vor Schulklassen zur Diskussion stellen. Im Jahr 2002 führte „Geschichte Für Alle“ - aus dem früheren Namenszu­ satz „Verein zur Förderung junger Historiker und Historikerinnen“ war längst „Institut für Regionalgeschichte“ geworden - über 3.300 Programme mit mehr als 85.000 Teilnehmern durch; zu den thematisch vielfältigen Rundgängen durch das Städtedreieck Nürnberg-Fürth-Erlangen waren zwischenzeitlich verschiedene museumspädagogische Angebote im neu entstandenen Doku­ mentationszentrum Reichsparteitagsgelände und im Jüdischen Museum Fürth hinzugekommen sowie die Betreuung amerikanischer Schiffstouristen auf dem Rhein-Main-Donau-Kanal.31 Den Wandel von „Geschichte Für Alle“ von der studentischen Initiative zur arrivierten Einrichtung spiegelt auch dessen Finanzierung wider. Bis der Verein Mitte der neunziger Jahre eine Haushaltsstelle im Etat der Stadt Nürnberg und somit nicht nur eine gesicherte Finanzbasis für langfristige Konzeptarbeit, son­ dern auch eine entsprechende ideelle Anerkennung seitens der Kommune (zu­ sammen mit der Verleihung des städtischen Kulturförderpreises 1994) erhielt, kamen die Mittel - abgesehen von den wichtigen Mitgliedsbeiträgen - in Form von bloßen Zuschussgeldern aus dem „Fonds zur Unterstützung von Selbst­ hilfegruppen und selbstorganisierten Projekten im Kultur-, Sozial-, Ökologieund Gesundheitsbereich“, kurz „Alternativtopf“ genannt. 1985 nach dem Vor­ bild ähnlicher Fördertöpfe in West-Berlin, Bremen und anderen Städten einge­ richtet und bis 1996 existent, sollten mittels dieses Fonds alternative Projekte unter Wahrung ihrer Autonomie entsprechend ihrem sozialen Anteil an der Gesellschaft und dem politischen Umfeld unterstützt werden, wobei die Mittel weitgehend eigenverantwortlich untereinander aufgeteilt wurden, aber eben jährlich neu zu erstreiten waren.32 Die Aktiven des Vereins „Geschichte Für Alle“ konnten das seit den achtzi­ ger Jahren einsetzende verstärkte Geschichtsinteresse, vor allem hinsichtlich 31 Alexander Schmidt / Bernd Windsheimer: „Eine der reizvollsten Städte der Welt? Heimatpflege, Bild der Stadt und Geschichtskultur in Nürnberg, in: Schönere Heimat 83 Sonderheft 10 (1994), S. 39-42; Siegfried Zelnhefer: Stadtrundgang für Fortgeschrittene. Der Verein „Geschichte Für Alle“, in: Nürnberg Heute 51 (1991), S. 58-61. - Zu den Ergebnissen des Oral-History-Projektes „Schön ist die Jugendzeit...?“ vgl. Rainer Mertens: Vom Soap Box Race zur Moped-Gang. Ju­ gend und Amerika im Nürnberg der fünfziger Jahre, in: Harald Parigger / Bernhard Schoßig / Evamaria Brockhoff (Hg.): „Schön ist die Jugendzeit...?“ Das Leben junger Leute in Bayern 1899-2001 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 27), Augsburg 1994, S. 66-69. 32 Stadtratsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen (Hg.): Die Stadt der Grünen. Die Grünen der Stadt, Nürnberg 2001, S. 38-39.

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der Lokal- und Regionalgeschichte, geschickt nutzen, um die kleine studenti­ sche Initiative zu einem florierenden Unternehmen auszubauen. Dabei galt es, die heutzutage größere Vorbildung und vor allem auch die höheren Erwartun­ gen des Publikums zu berücksichtigen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Neuen Geschichtsbewegung und den tradierten Geschichtsvereinen be­ steht in der touristischen, stadtdidaktischen Arbeit, die einen großen Tätig­ keitsbereich ersterer - in Nürnberg wie anderswo - abdeckt. Nachdem erst­ mals zu Beginn der achtziger Jahre durch das Nürnberger Centrum Industrie­ kultur Publikationen in thematisch und didaktisch neuer Form auf der Basis von Stadtrundgängen publiziert worden waren,33 wurde dies schließlich einer der Schwerpunkte der Arbeit von „Geschichte Für Alle“. Denn aus dem neuen Geschichtsinteresse und der daraus resultierenden neuen Geschichtskultur war eine verstärkte Offentlichkeitswirksamkeit der Geschichte erwachsen, die sich nicht nur in einem breiten Absatz von Publikationen,34 sondern auch in der ge­ steigerten Nachfrage nach Stadtrundgängen und Städtereisen äußerte - im Zuge eines neuen, „sanften“ Tourismus mit gestiegenen Ansprüchen der Rei­ senden an die Inhalte des zu Vermittelnden.35 In diesem Zusammenhang er­ folgte auch in den Jahren von 1994 bis 1997 die Erstellung von fünf Themen­ heften für Schulklassen zur Nürnberger Geschichte als Vor- und Nachberei­ tung einer Nürnberg-Reise, nachdem auf einem Kongress der Internationalen Tourismus-Börse Berlin beklagt worden war, es mangele allgemein an Infor­ mationen für Schul- und Jugendfahrten.36

33 Stadt Nürnberg - Schul- und Kulturreferat - Centrum Industriekultur (Hg.): Industriekultur­ lehrpfad. Bd. 1: Eine stadtgeschichtliche Wanderung im Pegnitztal. Bd. 2: Eine stadtgeschichtli­ che Wanderung durch St. Leonhard und Schweinau, Nürnberg 1983 / 1985. - Vgl. auch VSAVerlag (Hg.): Nürnberg zu Fuß. 20 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart (mit Fürth und Erlangen), Hamburg 1988. 34 Als Beispiele für die zahlreichen Publikationen aus dem mit „Geschichte Für Alle“ verbundenen Sandberg-Verlag seien genannt: St. Johannis. Geschichte eines Stadtteils (Nürnberger Stadtteil­ bücher 7), Nürnberg 2000; Ingmar Reither: „Worte aus Stein“ und die Sprache der Dichter. Das Reichsparteitagsgelände als poetische Landschaft (Nürnberger Stadtgeschichte(n) 4), Nürnberg 2000; Architektur Nürnberg. Bauten und Biographien. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Wieder­ aufbau, Nürnberg 2002; Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, 3. Auf­ lage 2002. 35 Alexander Schmidt / Bernd Windsheimer: Geschichtskultur, Geschichtsmarkt und Neuer Stadt­ tourismus, in: Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten 2 (1992/1993), S. 4-8. 36 Congress- und Tourismus-Zentrale Nürnberg. Verkehrsverein Nürnberg e.V. (Hg.): Junges Rei­ sen in Nürnberg. Vorschläge und Tipps für Schul- und Jugendfahrten nach Nürnberg. Ein Handbuch für Lehrer und Jugendleiter, Nürnberg 1994; die zugehörigen Themenhefte: Bd. 1: Nürnberg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Nürnberg im Nationalsozialismus. Bd. 3: Nürnberg und die Religionen. Bd. 4: Nürnberg in der Zeit der Industrialisierung, Nürn­ berg 1994-1997.

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Als mögliche Alternative zu den Stadtführungen erwuchsen aus den neuen didaktischen Konzepten auch so genannte Stadterkundungsspiele, in deren Rahmen die Teilnehmer, ausgerüstet mit Fragebögen, Wegbeschreibung, Karte und Fotoapparat, in der Stadt verschiedene Aufgaben - auch durch Befragung der Anwohner - lösen müssen, die dann des Abends in Form eines Diavortrags ausgewertet werden. Aus dem durch das seit 1985 existierende Freizeitheim Reichelsdorf veranstalteten Stadterkundungsspiel mit Kindern und Jugend­ lichen aus Reichelsdorf und Mühlhof war schließlich sogar eine der ersten Publikationen des Vereins geworden.37 Die verstärkte Gründung von Stadtführungen veranstaltenden Geschichts­ vereinen auch andernorts führte bald zur Notwendigkeit einer überregionalen Dachorganisation. Die Idee zur Gründung des „Arbeitskreises Neue Städte­ touren“ als Zusammenschluss von gemeinnützigen Stadtreiseinitiativen wurde 1988 auf einem in Nürnberg abgehaltenen Modellseminar des Starnberger Stu­ dienkreises für Tourismus mit dem Thema „Praxis der Stadterkundung für Ju­ gendliche“ unter der Regie von „Geschichte Für Alle“ und „Stattreisen Berlin“ geboren. Der „Arbeitskreis Neue Städtetouren“ organisierte seitdem gemein­ same Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildung und Schulungen; 1990 wurde er ein offizieller Arbeitskreis innerhalb des „Reisenetzes“, einem seit 1986 existieren­ den Zusammenschluss nichtkommerzieller Jugendreiseveranstalter. 2000 er­ folgte die Institutionalisierung des „Forums Neue Städtetouren“ als eigenstän­ digem Verband, welcher derzeit aus 17 deutschen, belgischen und schweizeri­ schen Mitgliedsvereinen besteht, die zumeist unter der Bezeichnung „Statt­ reisen“ firmieren.38 Auch im Stadttourismusbereich lässt sich jedoch ein gewisser Konzentra­ tionsprozess beobachten, und kleine Vereinigungen haben es oftmals schwer, den fortwährenden Anforderungen eines laufenden Betriebes, der gesetzte Standards nicht preisgeben will, mit meist ehrenamtlichem Personal gerecht zu werden, welches überdies - etwa angesichts der zahlreichen studentischen Mit­ arbeiter - eine hohe Fluktuationsrate aufweist. Während etwa die Bamberger Geschichtswerkstatt „Impuls“ im institutioneilen Rahmen des freien Bildungs- und Kulturvereins, die jüngst mit einem weit beachteten und den ge­ schichtswissenschaftlichen Standards in jeder Hinsicht entsprechenden um37 Stadt Nürnberg - Jugendamt - Freizeitheim Reichelsdorf / Geschichte Für Alle e.V.: Reichels­ dorf - Mühlhof - Reichelsdorfer Keller. Geschichte dreier Stadtteile, Nürnberg 1991. 38 Die Mitgliedsvereine im einzelnen: Stadtbekannt & Co. Aachen, Stattreisen Berlin, Stattland Bern, Stattreisen Bonn, ARAU Bruxelles, Igeltour Dresden, Vistatour Freiburg, Stattreisen Hamburg, Stattreisen Hannover, Geo Step by Step Kiel, Stattreisen Köln, Geographie Für Alle Mainz, Stattreisen München, Stattreisen Münster, Geschichte Für Alle Nürnberg, Geographie ohne Grenzen Saarbrücken, Stattreisen Weimar.

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fangreichen Buch zur Arisierung in der fränkischen Domstadt hervorgetreten ist,39 weiterhin selbstständig existent ist, hat sich der 1994 gegründete Bamberger Verein „Schleichwegla“, der Stadtrundgänge durchführte, nun dem Verein „Geschichte Für Alle“ in Nürnberg angeschlossen, welcher die Rundgänge in Bamberg unter dem alten Namen weiterführt. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Verein „Geschichte Für Alle“ und den anderen lokalen Projekten aus dem Spektrum der Neuen Geschichts­ bewegung liegt nun darin, dass dieser tatsächlich dauerhaft neue Arbeitsstellen für Historiker schaffen und sich auf dem Geschichtsmarkt als Dienstleistungs­ unternehmen etablieren konnte, während die Existenz einer Vielzahl anderer Einrichtungen von dem Erhalt öffentlicher Fördermittel abhing. So musste etwa nach deren Ausbleiben die Tätigkeit des bereits angeführten „Feministi­ schen Informations-, Bildungs- und Dokumentationszentrums“ im Jahr 2001 beendet werden.40 Einige weitere Projekte der Neuen Geschichtsbewegung in Nürnberg während der letzten knapp zwanzig Jahre - seien sie institutionell verankert oder frei existent - sollen abschließend noch kurz angerissen werden. So for­ mierte sich 1985 im damaligen „Kommunikationszentrum“ im ehemaligen Künstlerhaus eine Gruppe „Bildungsbereich“, die den als „Vorderer Bereich“ firmierenden Eingangsbereich an der Königstraße bespielte, um das erneut in eine Akzeptanzkrise geratene Kommunikationszentrum wieder zu beleben und - allerdings mit zweifelhaftem Erfolg - neue Besucher anzulocken.41 Auf Anregung des Personalrats der Stadt Nürnberg initiierte 1987 das da­ malige Hauptverwaltungsamt der Stadt Nürnberg, also eine ansonsten eher wenig mit Historiographie befasste Einrichtung, ein Seniorengeschichtspro­ jekt. Unter dem Titel „Erinnerungen aus der Stadtverwaltung“ wurden per­ sönliche Berichte ehemaliger Stadtverwaltungsangehöriger aus den zwanziger bis fünfziger Jahren gesammelt und in einer neuen, von der Stadt Nürnberg herausgegebenen Reihe „Werkstattbuch“ publiziert.42 Als zweite Publikation dieser Reihe erschien noch im gleichen Jahr eine Dokumentation des auch mit

39 Franz Fichtl / Stephan Link / Herbert May / Sylvia Schaible: „Bambergs Wirtschaft judenfrei“. Die Verdrängung der jüdischen Geschäftsleute in den Jahren 1933 bis 1939, Bamberg 1998. 40 Die Vereinsakten und die Literatursammlung wurden im gleichen Jahr dem Stadtarchiv Nürn­ berg übergeben, vgl. StadtAN E 47 (E 47/1: Akten, E 47/11: Graue Literatur, E 47III: Bibliothek, E 47/IV: Audiovisuelle Sammlung). 41 Komm e.V. (Hg.): Komm-Profil, Nürnberg [1996]; Thomas Röbke: Das Nürnberger Kommu­ nikationszentrum KOMM (1973-1990). Ein Beitrag zur Geschichte der Basisdemokratie (Cam­ pus Forschung 661), Frankfurt a. M. / New York 1991. 42 Stadt Nürnberg - Hauptverwaltungsamt (Hg.): Seniorengeschichtsprojekt: Erinnerungen aus der Stadtverwaltung. Von den 20er bis zu den 50er Jahren, Nürnberg 1989.

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Oral-History-Methoden durchgeführten Vereinsgeschichtsprojektes über die beiden Sportvereine DJK Falke und TV Glaishammer.43 Außer dem erwähnten Südstadtladen etablierten sich auch in den anderen Kulturläden verschiedene an der Geschichtsarbeit interessierte Gruppen. So wurde während einer Jahreshauptversammlung des Kulturfördervereins Gar­ tenstadt die Gründung einer Geschichtswerkstatt angeregt, die schließlich zu einer festen Institution im 1990 gegründeten Kulturladen wurde. Nach mehr­ jähriger Arbeit entstanden nicht nur zwei Hefte zur Vergangenheit der Gar­ tenstadt, sondern auch ein eigenes Archiv der Geschichtswerkstatt zur Ge­ schichte dieses Stadtteils.44 Eine weitere Gruppierung, die sich zwar nicht ausschließlich der Ge­ schichtsarbeit widmet, aber auch hinsichtlich eines Teils ihrer Arbeit der Neuen Geschichtsbewegung zuzuordnen ist, stellt das 1998 gegründete und vom Bayerischen Sozialministerium sowie von der Stadt Nürnberg unterstützte „Zentrum Aktiver Bürger" dar, welches Rahmenbedingungen entwickeln soll, die den Anforderungen an das so genannte Neue Ehrenamt entgegenkommen. In dieser Organisation fand sich ein Kreis ehrenamtlicher Geschichtsforscher zusammen, der - ausgehend vom Jahr des 950jährigen Stadtjubiläums 2000 Ausstellungen zur Stadtteilgeschichte erarbeitete mit der Motivation, den Stadtteil als Arbeits- und Lebensmittelpunkt in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Ziel war neben der geschichtlichen Darstellung eine Förderung der Kommunikation der Stadtteilbewohner untereinander. Unter fachlicher Anlei­ tung des Vereins „Geschichte Für Alle" entstanden so fünf Ausstellungen mit Begleitpublikationen, wobei mit jeder ein bestimmter, für diesen Stadtteil cha­ rakteristischer Gesichtspunkt der allgemeinen Stadtentwicklung verknüpft wurde: Ziegelstein (Schwerpunkt Vereinsleben), Erlenstegen, St. Jobst und Nordostbahnhof (Schwerpunkt Wohnen), Gleißhammer (Schwerpunkt Stadt­ teilveränderung), Langwasser (Schwerpunkt Migration und Integration) sowie St. Leonhard und Schweinau (Schwerpunkt städtische Infrastruktur).45

43 Stadt Nürnberg - Amt für Kultur und Freizeit - Kulturladen Zeltnerschloss (Hg.): „Herbei, herbei, ihr Turner all Geschichte zweier Sportvereine aus Gleißhammer, Nürnberg 1989. 44 Stadt Nürnberg - Kulturladen Gartenstadt - Geschichtswerkstatt (Hg.): Die Gartenstadt Nürn­ berg. Geschichte und Geschichten. Bd. 1: Von der Gründung bis zur NS-Zeit (1908-1933). Bd. 2: Von der NS-Zeit bis zum Ende des Wiederaufbaus (1933-1953), Nürnberg 1996 / 1999. 45 Geschichte Für Alle e.V. (Hg.): Nürnberger Stadtteilhefte. Bd. 1: Vereine und Vereinsleben in Ziegelstein. Geschichte und Gegenwart. Bd. 2: Zwischen Villa, Altenheim und Mietwohnung. Wohnen in Erlenstegen, St. Jobst und am Nordostbahnhof. Bd. 3: Gleißhammer - ein Stadtteil verändert sein Gesicht. Bd. 4: Langwasser. Heimisch werden in Nürnbergs jüngstem Stadtteil. Bd. 5: St. Leonhard und Schweinau. Mehr als Schlachthof und Gaswerk, Nürnberg 2000-2002.

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Vergangenes Jahr wurde mit dem Nürnberger „Erinnerungsparlament“ ein weiteres neues Projekt erstmals durchgeführt, in dessen Rahmen am 27. Okto­ ber 2002 etwa 80 Jugendliche sowie 40 Wissenschaftler und Zeitzeugen im Caritas-Pirckheimer-Haus und im Dokumentationszentrum Reichsparteitags­ gelände tagten. Ausgezeichnet mit dem Innovationspreis der Region Nürnberg und ausgestattet mit einem Preisgeld der Nürnberger Nachrichten beinhaltete dieses Projekt der Kooperationspartner des Studienforums am Dokumentati­ onszentrum Reichsparteitagsgelände verschiedene Podiumsgespräche und Workshops, um mehrere Generationen miteinander über die Zeit des Natio­ nalsozialismus ins Gespräch zu bringen.46 So bleibt zu hoffen, dass sich das Spektrum der geschichtsdidaktischen Pro­ jekte weiter auffächert, ohne die Substanz der geschichtswissenschaftlichen Standards anzugreifen und überflüssige Gräben aufzuwerfen. Die Entwick­ lung der Neuen Geschichtsbewegung von ihren improvisierten Anfängen hin zur heutigen professionellen Tätigkeit mag dafür ein Ansporn sein.

46 NN, 28.10.2002, S. 5.

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ÜBERLIEFERUNGEN DER WIRTSCHAFT IM STADTARCHIV NÜRNBERG1 Von Michael Diefenbacher 1. Wirtschaftsüberlieferungen der Reichsstadt Nürnberg Die Reichsstadt Nürnberg war eine der ganz großen Wirtschaftsmetropolen des alten Reichs, deren wirtschaftlicher Reichtum auf zwei Säulen ruhte: dem Fernhandel ihrer Großkaufleute und dem Gewerbefleiß und der Geschicklich­ keit ihrer Handwerker.2 Der Fernhandel reichte von Lissabon und London bis Lemberg und Asow, von Trondheim und Nowgorod bis Sevilla und Sizilien; auch in Indien und Südamerika waren Nürnberger Kaufleute zu finden. Für manches Handelsgut hatte Nürnberg eine Monopolstellung inne, so für Safran aus Italien, Südfrankreich und Spanien, für Kupfer aus Mitteldeutschland und Oberungarn sowie für verschiedene Textilwaren und textile Farbstoffe. Unter­ stützt wurde der Nürnberger Handel durch massive Investitionen in auswärti­ gen Montanrevieren (Mitteldeutschland, Ungarn, sogar Kuba) und ein weit­ verzweigtes Finanz- und Kreditsystem, das Nürnberg auch zu einem führen­ den Finanzmarkt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit machte. Feste Grundlage des Nürnberger Handels waren die Erzeugnisse der Nürn­ berger Handwerker vor allem im metallverarbeitenden und im Textilsektor.3 Die Handwerke unterstanden in Nürnberg der strikten Kontrolle des Rates. Zünfte - in anderen Städten die berufenen Organe handwerklicher Selbstver­ waltung mit oftmaliger Beteiligung an der Stadtregierung - waren in Nürnberg strengstens verboten. Das völlige Fehlen handwerklicher Mitbestimmungs­ rechte ermöglichte dem patrizischen Rat der Reichsstadt eine geradezu plan­ wirtschaftliche, allein an den Exportchancen und damit an den Bedürfnissen des Handels orientierte Lenkung der handwerklichen Produktion. Zur Kon-

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten am 16. Oktober 2002 auf einem Seminar der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag zum Thema „Wirtschaft­ liche Überlieferung in Stadtarchiven“ in Bitterfeld. 2 Vgl. hierzu und zum Folgenden Michael Diefenbacher: Handel im Wandel: Die Handels- und Wirtschaftsmetropole Nürnberg in der frühen Neuzeit (1550-1630), in: Stadt und Handel, hrsg. v. Bernhard Kirchgässner / Hans-Peter Becht (Stadt in der Geschichte 22), Sigmaringen 1995, S. 63-81, hier: S. 66 f., und die einschlägigen Artikel in: Michael Diefenbacher / Rudolf Endres (Hrsg.): Stadtlexikon Nürnberg, 2. Aufl. Nürnberg 2000. 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden Michael Diefenbacher: Massenproduktion und Spezialisierung. Das Handwerk in der Reichsstadt Nürnberg, in: Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. v. Karl Heinrich Kaufhold / Wilfried Reininghaus (Städteforschung A 54), Köln / Weimar / Wien 2000, S. 211-228.

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trolle der Handwerker richtete man 1470 ein eigenes Amt, das so genannte Rugamt4, ein. Die Überlieferung jenes reichsstädtischen Rugamts ist der zentrale Bestand5 amtlicher Provenienz zur Überlieferung der Wirtschaft des reichsstädtischen Nürnberg im Stadtarchiv Nürnberg. Sachlich war diese Behörde zuständig für die Vorbereitung von Entscheidungen des Inneren Rats in Handwerkssachen, die Ausarbeitung der Handwerksordnungen, die Überwachung ihrer Einhal­ tung, die erstinstanzliche Entscheidung von Streitigkeiten als Handwerks­ gericht (Ruggericht6), die Leitung der Handwerksversammlungen, die Bestäti­ gung der Handwerkerwahlen, die Einschreibung der Lehrlinge und Gesellen und die Verleihung des Meisterrechts sowie die Überwachung und zum Teil Führung der auswärtigen Korrespondenz der Handwerke.7 1808 gingen die Kompetenzen des Rugamts auf die Polizeidirektion als zen­ trale staatliche Behörde des neuen Königreichs Bayern in Nürnberg über. Die Polizeidirektion übernahm auch die Weiterführung der 1710 vom Rugamt ein­ gerichteten eigenen Registratur. Sie behielt jedoch nur die jüngeren, voraus­ sichtlich noch für Verwaltungszwecke erforderlichen Akten und Bände. Der Hauptteil wurde zum Einstampfen an eine Papierfabrik verkauft. Dieses Mate­ rial des 18. Jahrhunderts macht die Masse des Bestands B 12 im Stadtarchiv Nürnberg aus. Altere Dokumente des 16./17. Jahrhunderts bilden aufgrund der Vernichtungsaktion Anfang des 19. Jahrhunderts die Ausnahme. Die Ge­ samtlaufzeit umfasst die Jahre 1529 bis 1808, insgesamt handelt es sich um 808 Einheiten. Den zweiten großen Komplex der Wirtschaftsüberlieferung der reichsstäd­ tischen Zeit im Stadtarchiv Nürnberg bildet der Sammelbestand der Hand­ werksarchive8. Hier sind 85 Archive reichsstädtischer Handwerke, aber auch der in bayerischer Zeit gebildeten Innungen überliefert. Das Material stammt also überwiegend aus privater Provenienz. Es handelt sich teilweise um Ankäufe der Stadt Nürnberg, um Schenkungen an das Stadtarchiv, um Leih­ gaben des Germanischen Nationalmuseums oder um Deposita. Der Gesamt­ umfang des Bestandes E 5 (Handwerksarchive) liegt bei 35 laufenden Regal­ metern, die Laufzeit umfasst das 15. bis 20. Jahrhundert. Geordnet sind die Handwerksarchive alphabetisch von Alabasterer bis Zirkelschmiede, größere Komplexe bilden:

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Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 915. StadtAN B 12. Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 916. StadtAN B 12, Vorwort zum Findbuch. Vgl. hier auch das Folgende. StadtAN E 5.

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Überlieferungen der Wirtschaft im Stadtarchiv Nürnberg

- die Archive des reichsstädtischen Metzgerhandwerks, der Nürnberger Rinds- bzw. Ochsenmetzgervereinigung und der Fleischerinnung: 357 Ein­ heiten, Laufzeit 16.-20. Jahrhundert,9 - die Archive des reichsstädtischen Bäckerhandwerks bzw. der Bäckerinnung: 230 Einheiten, Laufzeit 15.-20. Jahrhundert,10 - das Archiv der Goldschläger: 100 Einheiten, Laufzeit 16.-19. Jahrhundert,11 - das Archiv der Schlosser mit den Handwerken der Blattschlosser, Uhr­ macher, Büchsenmacher und Windenmacher: 99 Einheiten, Laufzeit 17.-19. Jahrhundert,12 - das Archiv der Rotschmiede mit den Handwerken der Rot- bzw. Messing­ gießer, der Glocken- und Geschützgießer: 82 Einheiten, Laufzeit 16.-20. Jahrhundert,13 - das Archiv der Drechsler: 75 Einheiten, Laufzeit 17.-20. Jahrhundert,14 - das Archiv der Kammmacher mit den Handwerken der Kammmacher, der Hornrichter und Hornpresser: 75 Einheiten, Laufzeit 17.-19. Jahrhundert.15 Den wohl wichtigsten Bestand der reichsstädtischen Wirtschaftsüberliefe­ rung im Stadtarchiv Nürnberg stellt das Archiv des Handelsvorstands dar.16 Der Nürnberger Handelsvorstand wurde 1566 nach einer sechsjährigen Kon­ stituierungsphase als korporatives Selbstverwaltungsorgan der hiesigen Kauf­ mannschaft von 61 Kaufleuten gegründet.17 Das Gremium kontrollierte von da an das Handelsgebaren der Reichsstadt und beriet den Nürnberger Rat in den entsprechenden flankierenden obrigkeitlichen Steuerungsmaßnahmen. Ebenso organisierte der Handelsvorstand die notwendigen Handels- und Transportsys­ teme. Auf sein Anraten hin und unterstützt von bedeutenden internationalen, an der Pegnitz ansässigen Handelshäusern gründete der Nürnberger Rat nach den Vorbildern von Amsterdam und Hamburg 1621 eine Giro- und Deposi­ tenbank, den so genannten Banco Publico18, und - mit der Bank engstens ver­ bunden - das reichsstädtische Bancoamt19, dem die Handelsjustiz übertragen

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

StadtAN E 5/47. StadtAN E 5/4. StadtAN E 5/30. StadtAN E 5/61. StadtAN E 5/56. StadtAN E 5/17. StadtAN E 5/37. StadtAN E 8. Vgl. hierzu und zum Folgenden Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 401-404. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 99. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 99 f.

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wurde. Auch diese beiden Institutionen wurden fortan vom Handelsvorstand, seinen Marktadjunkten und Marktvorstehern dominiert. Der Handelsvorstand bildete eines der wenigen reichsstädtischen Gremien, das institutionell nahezu unverändert in bayerischer Zeit bestehen blieb.20 1854 wurde der Handelsvorstand mit der 1842/43 neu gegründeten Handelskammer für Mittelfranken fusioniert und übernahm fortan die Funktion eines Handels­ rates. Mit der Fusionierung ging auch das Archiv des Handelsvorstands in den Besitz der Handelskammer als dessen Rechtsnachfolgerin über. 1895 überließ die Industrie- und Handelskammer Nürnberg dieses Archiv als Depositum, d.h. unter Eigentumsvorbehalt, dem Stadtarchiv Nürnberg.21 Das Depositum umfasst nur das Archiv des Handelsvorstands bis 1854, ab­ gesehen von einigen vereinzelten späteren Stücken derselben Provenienz. Das­ jenige der Handelskammer ab 1842 ist wegen ihrer Zuständigkeit für den Re­ gierungsbezirk Mittelfranken im Nürnberger Staatsarchiv hinterlegt, mit dem das Stadtarchiv bis in die 1960er Jahre hinein immer wieder einzelne Pertinen­ zen austauschte.22 Den Kern des Bestandes bildet das Archiv des alten Marktgewölbes.23 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wuchsen diesem auch die Archive des Bancoamts und des Bancogerichts zu, weil die Marktvorsteher als Leiter des Han­ delsvorstands wichtige Funktionen in diesen Behörden ausübten. Die Akten und Bände des Banco Publico wurden nach dessen Auflösung 1806 aus dem Rathaus ins benachbarte Bancohaus, den Sitz des Handelsvorstands, der ja den Untergang der Reichsstadt als Institution überlebte, verlagert und dort mit dessen Archivgut vermengt. Ebenso geriet am selben Standort die Registratur des Königlich Bayerischen Ober- und Appellationsgerichts, des Rechtsnach­ folgers des reichsstädtischen Appellationsgerichts, ins Archiv des Handelsvor­ stands. Zudem übten die Marktvorsteher und der Handelsvorstand insgesamt eine dominierende Rolle im Größeren Rat der Reichsstadt, dem so genannten Genanntenkollegium, aus, so dass zumindest jüngere Teile aus dessen Archiv beim Untergang der Reichsstadt ebenfalls ins Archiv des Handelsvorstands wanderten.

20 Vgl. hierzu und zum Folgenden Michael Diefenbacher: Archiv des Nürnberger Handelsvor­ stands, in: Mittelfränkische Wirtschaft. Monatsmagazin der Industrie- und Handelskammer Nürnberg 9/1996, S. 20-23. 21 Depositalvertrag in: StadtAN C 7/1 Nr. 10047, Bl. 326 f. 22 Zu den einzelnen Tauschaktionen vgl. die Dienstakten des StadtAN unter Aktenzeichen 412-31-06/6. 23 Vgl. hierzu und zum Folgenden StadtAN E 8, Vorwort des Findbuchs.

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Im Zuge einer 15 Jahre währenden Verzeichnungsarbeit fanden die Nürn­ berger Archivare zwischen 1951 und 1966 in diesem Bestand somit zwei reichsstädtische und eine königlich bayerische Fremdprovenienz - die schon erwähnten Archive des Genanntenkollegiums und des Königlich Bayerischen Ober- und Appellationsgerichts sowie dasjenige des reichsstädtischen Zollund Waagamts. Wie und wann letzteres dem Archiv des HandelsVorstands zu­ geführt wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht geschah es durch einen für beide Archive zuständigen Registrator, vielleicht durch die amtliche Funktion eines Marktvorstehers im Zoll- und Waagamt, wahrscheinlich aber infolge bloßer Unachtsamkeit. Auf Betreiben des Stadtarchivs überließ die Industrie- und Handelskammer 1964 diese drei Fremdprovenienzen der Stadt als Eigentum.24 Nach der 1966 abgeschlossenen Neuverzeichnung umfasst der Bestand E 8 heute insgesamt 5.237 Archivalieneinheiten im Wesentlichen aus dem Zeitraum zwischen 1560 und 1842. Er gliedert sich in das eigentliche Archiv des Han­ delsvorstands (3.670 Einheiten), in die Archive des Bancoamts (517 Einheiten) und des Banco Publico (668 Einheiten) sowie in mehrere Anhänge (382 Ein­ heiten). Uber die engeren organisatorischen und personellen Belange des Han­ delsvorstands, des Bancoamts und des Banco Publico hinaus beziehen sich die Unterlagen vor allem auf den Aufbau, die Organisation und Kontrolle des Nürnberger Botenwesens25, das die Verbindung der Reichsstadt zu wichtigen Handelsplätzen und politisch bedeutsamen Orten (Augsburg, Bamberg, Bres­ lau, Frankfurt/Main, St. Gallen, Hamburg, Heilbronn, Leipzig, Oettingen, Re­ gensburg, Salzburg, Schaffhausen, Straßburg, Stuttgart, Ulm, Wien, Würz­ burg) ständig aufrechterhielt, auf das Post-, Fuhr- und Staffelwesen, auf das Geleit, auf das Wechsel- und Münzwesen, auf Steuern und Zölle, auf Militär, Krieg und Einquartierung, auf die Handelsgerichtsbarkeit, die Handelskassen, auf Lage, Niedergang und Wiederbelebung einzelner Handwerks- und Gewer­ bezweige in der Stadt, soweit sie den Handel berührten, auf Messen, Märkte, Preise, Maße und Gewichte sowie auf Verkehrsangelegenheiten. Aus obiger Aufzählung lässt sich unschwer die Bedeutung dieser Unterla­ gen ablesen. Es handelt sich zweifellos um die zentrale nicht- bzw. halbamtli­ che Überlieferung zur Nürnberger Wirtschaftsgeschichte des 16. bis 19. Jahr24 Es sind die heute im StadtAN verwahrten Bestände B 3 (Genanntenkollegium) und B 18 (Zollund Waagamt). Die Registratur des Königlich Bayerischen Ober- und Appellationsgerichtes wurde dem Sammelbestand B 14 (Reichsstädtisches Stadtgericht) zugeführt, wo die reichsstäd­ tischen Provenienzen heute noch zu finden sind - bei der provenienzmäßigen Neuerschließung des Bestands werden sie den neu zu bildenden Beständen B 33 und B 34 zugeordnet werden die Provenienzen aus der bayerischen Zeit finden sich dann im Bestand C 1 (Kriminalgericht). 25 Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 152 f.

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hunderts. Unterstrichen wird die Bedeutung dieses Archivs von der eingangs erwähnten überragenden Rolle, die Nürnberg als europäischer Handelsplatz ersten Ranges zumindest bis in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs hinein ein­ nahm, und von der Einmaligkeit des Quellenwertes mancher Teile dieser Über­ lieferung. Als Beispiel für das Letztgesagte mögen die Schuldbücher des Banco Publico dienen.26 Diese 56 großformatigen Bände stellen ähnlich wie die Jour­ nale des Banco Publico einen seriell geschlossenen Quellenbestand der Jahre zwischen 1621 und 1786 dar, zu dem es in ganz Europa nur noch in Amsterdam eine annähernd vergleichbare, aber dort nicht vollständig erhaltene Überliefe­ rung gibt. Weil in der Reichsstadt Nürnberg Bancozwang bestand, sind in den Schuldbüchern sämtliche Handelszahlungen unter den an der Pegnitz ansässi­ gen Kaufleuten erfasst. Allein die seit 1994 vorliegende wissenschaftliche Aus­ wertung der Schuldbücher der Jahre 1621 bis 1624, also von drei dieser 56 Bände, mit ca. 50.000 Geschäftsvorfällen rückte die bisherige Forschung zur Nürnberger Wirtschaftsgeschichte jener Zeit in ein völlig neues Licht.27 2. Wirtschaftsüberlieferungen in den amtlichen Beständen der bayerischen Zeit (19./20. Jahrhundert) Die Bestände der Handwerksarchive und des Handelsvorstands leiteten schon zum zweiten Bereich der Überlieferungen der Wirtschaft im Stadtarchiv Nürn­ berg über, nämlich zur Wirtschaftsüberlieferung in den amtlichen Beständen der bayerischen Zeit. Hier sind im Folgenden vier Teilbestände vorzustellen, die so genannten Niederlassungsakten, die Gewerbean- und -abmeldungen, Gewerberegister, die Gaststättenakten sowie die Gewerbekarteien des Ord­ nungsamtes. Der schlicht als „Niederlassungsakten“ bezeichnete Teilbestand der zentra­ len Nürnberger Registratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts28 enthält, je nach Anlass im Einzelfall, Ansässigmachungs-, Verehelichungs-, Konzessions­ und Bürgerrechtsgesuche und deren Behandlung durch den Magistrat. Die in­ haltliche Qualität der Einzelfallakten differiert von Fall zu Fall. Vom bloßen entsprechenden Gesuch und dessen Beantwortung bis hin zu umfangreichen Korrespondenzen, die unter Umständen die Rekonstruktion eines gesamten Lebenslaufs zulassen, sind Unterlagen vorhanden.

26 StadtAN E 8 Nr. 4291-4345a. 27 Lambert F. Peters: Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Struktur­ komponenten, Unternehmen und Unternehmer. Eine quantitative Analyse (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 1), Stuttgart 1994. 28 Bestand StadtAN C 7/II.

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Im Stadtarchiv wurden die schon bei der Hauptregistratur als Einzelfallak­ tenserie geführten und in mehreren Schüben an das Archiv abgegebenen Akten nach 1945 mit den einschlägigen Unterlagen aus den Provenienzen Polizeidi­ rektion und Ältere Magistratsregistratur, also aus den Zeiten 1806-1818 und 1818-1837, zusammengefasst. Vorhanden sind die (Laufzeit-)Jahrgänge 1806 Februar 1861, September 1877 - Juni 1887, 1906, 1907 und 1909. Die übrigen Jahrgänge sind 1945 verbrannt.29 Insgesamt umfasst der Bestand „Niederlassungsakten“ ca. 23.800 Einheiten. Für das hier zu behandelnde Thema sind selbstverständlich die darin enthalte­ nen Gewerbekonzessionen von Bedeutung. Der Bestand ist einerseits durch ein alphabetisches Gesamtrepertorium der Namen der Niederlassung Suchen­ den und andererseits durch eine alphabetische Berufskartei erschlossen. Unter einem eigenen Teilbestand der Überlieferung des Nürnberger Amtes für öffentliche Ordnung sind die Gewerbean- und -abmeldungen bzw. die Ge­ werberegister des 19. und 20. Jahrhunderts zusammengefasst.30 Von den ca. 98 laufenden Regalmetern Archivalien sind erst ca. 6.500 Einheiten systematisch erschlossen. Diese betreffen die Gewerbeabmeldungen der Jahre 1938, 1939, 1940 sowie die Gewerbeabmeldungen mit Register des Jahres 1911. Ansonsten existieren zu dem Bestand diverse Manuskripte, Typoskripte, Zettelkarteien diverser Formate, Listen unterschiedlichen Umfangs und oft zweifelhafter Qualität sowie eine gebundene Einzelblattsammlung, klassifiziert nach Nürn­ berger Stadtgebiet und den frühen eingemeindeten Orten des so genannten Burgfriedens mit einer kurzen Beschreibung der Besitzgeschichte einzelner alter Nürnberger Gaststätten.31 Ebenfalls zur Provenienz „Amt für öffentliche Ordnung“ gehört der Teilbe­ stand der Gaststättenakten32. Die hier zusammengefassten Einzelfallakten sind aus der Kompetenz der ehemaligen Gewerbepolizei, dem späteren Gewerbe­ amt und heutigen Amt für öffentliche Ordnung, für die Erteilung von Konzes­ sionen und die Überwachung der ordnungsgemäßen Führung von Gastwirt­ schaftsbetrieben entstanden.33 Ab 1977 wmrde der heutige Bestand mit 9.345 Einheiten und einer Laufzeit vom 19. Jahrhundert bis 1995 formiert. Geordnet ist der Bestand nach Straßen und Hausnummern. Inhaltlich findet man darin Unterlagen über Neubau- und

29 Herbert Schmitz, Übersicht über die Bestände, Findmittel und sonstigen Hilfsmittel (= StadtAN GSI 156), C 7/II. 30 Bestand C 22/IL 31 Schmitz (wie Anm. 29), C 22/II. 32 Bestand StadtAN C 22/III. 33 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schmitz (wie Anm. 29), C 22/111.

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Bauveränderungen, über Namensänderungen und Besitzwechsel, Kontrollberichte über den jeweiligen Betrieb, aber auch Dokumente, die Auskunft über die Arisierung eines Betriebes oder das Entnazifizierungsverfahren für einen Besitzer/Pächter geben können. Der letzte, in diesem Zusammenhang vorzustellende Teilbestand des Nürn­ berger Ordnungsamts im Stadtarchiv Nürnberg sind die Gewerbekarteien34. Der Bestand besteht aus mehreren chronologisch unterteilten und nach Na­ men bzw. Firmenbezeichnungen alphabetisch geordneten Serien von Kartei­ karten, denen später auch Korrespondenzen zugeordnet wurden. Er umfasst die nach 1945 abgemeldeten Gewerbe- und Reisegewerbebetriebe und er­ streckt sich somit auf die reale Laufzeit von 1945 bis 1995. Es ist aber durchaus möglich, dass aus den Archivalien im Einzelfall auch Informationen über Fir­ men aus der Zeit vor 1945, zurückreichend bis 1914, zu ermitteln sind. Die Karteien enthalten neben den Namen der Inhaber bzw. der Firmenbezeich­ nung, die jeweils auch Suchkriterien innerhalb der (zurzeit 574) Einheiten sind, den Zeitpunkt der An- und Abmeldung des Gewerbes sowie auch Angaben über Sitz, Branche, eventuell erfolgte Ummeldungen oder Umbenennungen etc.35 3. Wirtschaftsarchive im Stadtarchiv Nürnberg Den letzten großen Komplex der Überlieferungen zur Wirtschaft im Stadtar­ chiv Nürnberg bilden die Wirtschafts- und Firmenarchive.36 Eine vom damali­ gen Archivleiter Mummenhoff 1901 initiierte Aktion, sämtliche in Nürnberg beheimateten Wirtschaftsverbände und Handelsfirmen anzuschreiben und um Abgabe von Drucksachen und sonstigen für die Geschichte ihrer Unterneh­ men wichtigen Unterlagen zu bitten, bildete den Grundstock für diesen Sam­ melbestand37. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten gelangten daraufhin Materialien unterschiedlichster Quantität und Qualität in das Archiv, zum Teil als Geschenk, als Depositum, aber auch durch Kauf oder Tausch. Heute sind hier Materialien von ca. 600 verschiedenen Firmen mit einem Gesamtumfang von etwa 90 laufenden Regalmetern vereinigt, wobei die Be­ zeichnung „Materialien“ umfassend auszulegen ist: Neben Druckschriften, wie beispielsweise Prospekten und Katalogen, finden sich Korrespondenzen,

34 35 36 37

Bestand C 22/IV. Schmitz (wie Anm. 29), C 22/IV. Sammelbestand StadtAN E 9. Horst-Dieter Beyerstedt / Herbert Schmitz: 125 Jahre Stadtarchiv Nürnberg (Ausstellungskata­ loge des Stadtarchivs Nürnberg 5), Nürnberg 1990, S. 15.

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Handlungs-, Brief-, Geheim-, Kopier-, Fremden-, Kassen-, Konten- und Schuldbücher, Journale, Bilanzen, Geschäftsberichte, Rechnungen, Quittun­ gen, Preislisten, Inventare, aber auch Urkunden, (Lehr-)Verträge, Pläne, Fotografien, Postkarten, Erzeugnisse und Beispiele der hergestellten Produkte etc. Innerhalb des Sammelbestandes ist jeder einzelnen Firma eine Nummer als Einzelbestandssignatur zugeteilt, danach folgen die jeweiligen Bandangaben, sofern eine weitere Erschließung vorliegt.38 Aufgrund ihres Umfangs bzw. ihrer Bedeutung sollen aus den ca. 600 Fir­ menarchiven folgende zehn hervorgehoben werden: 1. Die Spiegel- und Messingfabrik, Manufakturwaren- und Exporthandlung Förster und Günther mit Unterlagen, die bis 1740 zurückreichen, sich in ihrer vollen Breite aber auf die Zeit zwischen 1800 und 1880 beziehen. Das insgesamt 267 Einheiten umfassende Archiv wurde dem Stadtarchiv Nürnberg im Jahre 1900 geschenkt.39 2. Die Materialienhandlung und spätere Drogerie C. A. Bäumlers Söhne mit insgesamt 261 Einheiten. Die Drogerie existierte von 1763 bis 1938, unsere Un­ terlagen reichen bei Vorgängerfirmen zurück bis 1536. Das Archiv wurde dem Stadtarchiv Nürnberg 1943 von einem der letzten Mitinhaber der Drogerie überlassen, lediglich einige besonders wertvolle Stücke wurden zurückbehal­ ten, die dann zusammen mit dem Anwesen der Drogerie 1945 verbrannten.40 3. Die Buchhandlung Johann Andreas Endter. Von dieser im 16. Jahrhundert gegründeten und im 17. und 18. Jahrhundert bedeutendsten Nürnberger Buch­ handlung, die bis 1854 bestand und so berühmte Werke wie die Nürnbergischen Hesperides von Johann Christoph Volkamer bzw. die Teutsche Academie der Bau- Bild- und Mahlerey-Künste von Joachim von Sandrart verlegte, besitzt das Stadtarchiv Nürnberg zwölf kaiserliche Druckprivilegien bzw. Kundmachungspatente der kaiserlichen Bücherkommission zu Frankfurt/ Main aus der Zeit zwischen 1742 und 1783.41 4. Die Firma Georg Zacharias Platner, eines der bedeutendsten Kolonialwa­ ren- und Wechselgeschäfte Nürnbergs, dem 1829 die Tabakfabrik Platner & Comp, angegliedert wurde. Das Archiv mit 48 Journalen, Hand- und Schuld­ büchern deckt lückenlos den Zeitraum zwischen 1677 und 1800 ab. Es gelangte 1966 als Dauerleihgabe des Germanischen Nationalmuseums ins Stadtarchiv Nürnberg.42 38 39 40 41 42

Schmitz (wie Anm. 29), E 9. StadtAN E 9/1. StadtAN E 9/15. StadtAN E 9/23. StadtAN E 9/170.

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5. Ein Kuriosum innerhalb des Sammelbestandes „Nürnberger Wirtschafts­ archive" stellt die Sammlung von Geschäftsbriefen, Rechnungen, Fuhrmanns­ und Frachtbriefen, Waag- und Postscheinen sowie Warenpreislisten von insge­ samt 105 Nürnberger Firmen aus dem Zeitraum 1793 bis 1893 dar, die bei einer Firma im oberbayerischen Tittmoning (Landkreis Traunstein) eingingen. Die Unterlagen, die aus der aufgelösten Registratur des Tittmoninger Geschäfts­ hauses stammen, erwarb das Stadtarchiv Nürnberg in den Jahren 1966-1968 teilweise durch Kauf, teilweise durch Tausch.43 6. Die Firma Lödel und Merkel einschließlich ihrer Vorgängerfirmen. Bei diesem Archiv handelt es sich mit 294 Einheiten von 1614 bis 1855 um eine der geschlossensten Wirtschaftsüberlieferungen im Stadtarchiv Nürnberg. Lödel und Merkel war eine der bedeutendsten Nürnberger Kolonialwarenfirmen und Farbenhandlungen, die 1624 begründet wurde, um 1820 nach dem Kauf einer Papiermühle bei Nürnberg um den Zweig der Papierherstellung erweitert wurde, um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Bankhaus tätig war und 1874 Konkurs anmelden musste.44 Die Unterlagen kamen zum überwiegenden Teil 1966 als Dauerleihgabe an das Stadtarchiv Nürnberg. Der kleinere Teil mit den ältesten Stücken wurde 1904 durch die Universität Frankfurt/Main an­ tiquarisch erworben und 1994 von der Fachbereichsbibliothek der dortigen Wirtschaftswissenschaften nach kurzen Verhandlungen dem Stadtarchiv Nürnberg geschenkt.45 7. Ebenfalls als Kuriosum kann man die Sammlung von 79 Rezept- und Ko­ pierbüchern von 36 Nürnberger Ärzten des 17.-19. Jahrhunderts bezeichnen, die 1967 vom Germanischen Nationalmuseum an das Stadtarchiv Nürnberg abgegeben wurden.46 8. Die Firma TEKADE. Die Süddeutsche Telefon-Apparate-, Kabel- und Drahtwerke AG TEKADE wurde 1912 durch Übernahme von Anteilsschei­ nen und der Nürnberger Zweigniederlassung der Felten & Guilleaume AG ge­ gründet, 1964 in die Sektoren Kabel- und Apparatebau aufgespalten und 1979/82 in den Philips-Konzern eingegliedert.47 Das im Stadtarchiv Nürnberg verwahrte Archiv mit 59 Einheiten aus den Jahren 1904-1969 mit Firmenun­ terlagen, Gehaltsbüchern, Bauplänen, Presseveröffentlichungen, Prospekten, Fotografien etc. übergab die Firma als Leihgabe nach einer im Jahre 1967 vom

43 44 45 46 47

StadtANE 9/171. Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 638. StadtAN E 9/172. StadtAN E 9/233. Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 1065.

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Archiv veranstalteten Ausstellung über „Die Industrialisierung Nürnbergs im 19. Jahrhundert“.48 9. Die Nordbayerische Flughafengesellschaft. Die Flughafen GmbH Nürn­ berg überließ dem Stadtarchiv Nürnberg 1968 die Unterlagen ihrer 1950 ge­ gründeten und bereits 1957 wieder liquidierten Vorgänger-GmbH, von denen insgesamt 60 Einheiten als archivwürdig bewertet und anschließend unter den Rubriken Organisation, Flugsicherung, technischer Betrieb, kaufmännische Verwaltung, Jahreshaushaltsrechnungen und Sonstiges verzeichnet wurden.49 10. Die Metallwarenfabrik Louis Vetter. Sie wurde 1847 als erste Metallfla­ schenkapselfabrik Deutschlands in Nürnberg-Doos gegründet, zehn Jahre später nach Nürnberg-Schniegling verlegt und 1883 um die Produktion von Tuben erweitert. Seit 1878 betrieb man u.a. eine Firmenniederlassung in Wien. Die Firma blieb bis 1968 anteilig in Familienhand und existierte bis 1998 unter dem Namen „Luis Vetter Tuben-Fließpreßteile“.50 Ins Stadtarchiv Nürnberg gelangte 1989 zunächst ein Splitter der vorhandenen Firmenüberlieferung Geschäftsbücher, Archivalien über Grundbesitz und Eigentumsverhältnisse, Nachrichten und Bildmaterial vom Firmenjubiläum 1903 -, der bei einer ersten Verzeichnung in 30 Einheiten aus der Zeit von 1841 bis 1937 zusammengefasst wurde. Diese Unterlagen waren von einem Archivbenutzer auf einer Auktion zu Schleuderpreisen erworben und an das Archiv weitergegeben worden. Der größere Teil - Akten, Bände und Sammlungsgut aus den Bereichen Firmenlei­ tung, Betriebsführung und Verwaltung, Produktion und Betriebsrat mit um­ fangreichen Korrespondenzen und Materialsammlungen vor allem aus der Zeit nach 1945 - wurden dem Stadtarchiv Nürnberg in der Liquidationsphase der Firma 1997 geschenkt. Damit umfasst das im Jahr 2003 neu verzeichnete Fir­ menarchiv nun in Auswahlarchivierung der ehemals vorhandenen Überliefe­ rung insgesamt 604 Bände aus dem Zeitraum 1841 bis 1998.51 4. Neueste Erwerbungen 1941 wurde in Anlehnung an die Tradition der fränkischen Bildwirkerei und im Zusammenhang mit der vom NS-Regime geplanten Ausschmückung der Kongresshalle auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände die Nürnberger Gobelin-Manufaktur gegründet.52 Sie war neben der Manufaktur in Halle/ 48 StadtAN E 9/376. 49 StadtAN E 9/378. 50 Vgl. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 1140, ergänzt um neuere Angaben aus dem Findbuch zu StadtAN E 9/564 (Vorwort von Christa Gott-Schmitz und Gesche Lipecz). 51 StadtAN E 9/564, besonders das Vorwort von Christa Gott-Schmitz und Gesche Lipecz. 52 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 759.

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Saale die einzige dieser Art in Deutschland und wurde als Gesellschaft von der Stadt Nürnberg zum größeren und vom Freistaat Bayern zum kleineren Teil getragen. Die Nürnberger Gobelin-Manufaktur restaurierte Tapisserien und fertigte als Auftragsarbeit neue Bildteppiche mit zeitgenössischen Motiven an. Im Juli 2002 hatte der Nürnberger Stadtrat im Einvernehmen mit dem Freistaat Bayern beschlossen, aus Gründen der Haushaltskonsolidierung die Nürnber­ ger Gobelin-Manufaktur zu liquidieren. Das Stadtarchiv Nürnberg wird quasi als amtliche Überlieferung die Registratur der Nürnberger Gobelin-Manufak­ tur bewerten und die archivwürdigen Teile übernehmen. Zum Jahresende 2000 fusionierten die Stadtsparkasse Nürnberg, Bayerns äl­ teste und nach München zweitgrößte Sparkasse53, und die Kreissparkasse Nürnberg, die in ihrem ältesten Teilbereich, der ehemaligen Sparkasse Hersbruck, bis 1832 zurückreicht.54 Seit Frühjahr 2002 stand die Übernahme der historischen Archive des jetzt Sparkasse Nürnberg genannten Instituts zur Verhandlung. Diese bestehen aus dem Archiv der ehemaligen Stadtsparkasse Nürnberg mit ca. 115 laufenden Regalmetern Archivgut und Sammlungen seit 182155 und den Archiven der ehemaligen Kreissparkasse Nürnberg mit ca. 170 laufenden Regalmetern Archivgut, verteilt auf fünf Standorte in Nürnberg und im Landkreis Nürnberger Land.56 Das Archiv der ehemaligen Stadtsparkasse wurde vor ca. 10 Jahren verzeichnet und geordnet, die Ordnung jedoch aus Unachtsamkeit wieder zerstört. Das Archiv der ehemaligen Kreissparkasse ist völlig ungeordnet und unverzeichnet. Seit 2000/2001 war das Stadtarchiv Nürnberg mit der Übernahme des Ar­ chivs einer der bedeutendsten Nürnberger Firmen des 19. Jahrhunderts, der Firma Spaeth & Co., befasst. Diese wurde 1825 von Johann Wilhelm Spaeth am Nürnberger Dutzendteich als mechanische Werkstätte gegründet und bis 1842 zur ersten Maschinenfabrik Nürnbergs ausgebaut. Im Zuge des Eisenbahnbaus ab 1835 wurde aus Spaeth eine Firma europäischen Rangs. Der Aufschwung der Firma dauerte bis zum Ersten Weltkrieg. In den 1920er Jahren reduzierte man die Produktion auf die Zulieferung für den Eisenbahnbedarf. Der Ausbau des NS-Reichsparteitagsgeländes, dem die Firmengrundstücke im Wege stan­ den, und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs leiteten den Niedergang der Firma ein, die schließlich 1960 endgültig liquidiert wurde.57

53 54 55 56 57

Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 1025. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 584. StadtAN E 53/2. StadtAN E 53/3. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 1002 f.

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Ins Stadtarchiv Nürnberg gelangten aus den Firmenunterlagen Spaeth zu einem heute nicht mehr zu bestimmenden Zeitpunkt einige wenige Druck­ schriften und Faszikel mit Fotos der Jahre 1899-1940.58 1996 überließ ein da­ maliges Nürnberger Stadtratsmitglied dem Stadtarchiv Nürnberg aus seinem Familienbesitz mehre Anleitungshefte, Personal- und Lohnzahlungslisten etc. der Jahre 1821, 1859-1915 und 1938-1944.59 Ebenfalls 1996 wurden dem Archiv vier Spaethsche Werkstattinventare der Jahre 1826-1866 geschenkt60 und 1998 erwarb es ein Konvolut von Geschäftskorrespondenz mit der Firma Spaeth aus den Jahren 1896-1901.61 Bereits Anfang 1986 waren dem Archiv von den Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg unzählige großformatige Konstruktions- und Produktionspläne der Firma überlassen worden, die bis heute in einem konservatorisch sehr bedenklichen Zustand sind und bislang auch nicht verzeichnet wurden. Seit 2000/2001 stand nun die Überlassung des restlichen und nach Ansicht des Stadtarchivs Nürnberg kompletten Firmenarchivs aus Privatbesitz an, mit Werkstattjournalen, Briefkopierbüchern, Bestellungsbüchern, Materialbüchern, Versendungsbüchern, Gießereijournalen, Arbeiter- und Lohnlisten, Cassa- und Hauptbüchern, Musterbüchern, Magazinbüchern, EinlaufJournalen, Korres­ pondenzen, Patenten, Versicherungspolicen etc. aus der 135-jährigen Firmen­ geschichte. Die technikgeschichtlich orientierte Bibliothek der Firmeninhaber sowie eine kleinere Sammlung von Kunstgegenständen ergänzen das Firmen­ archiv. Als Teil des Spaethschen Firmenarchivs hat sich auch das Archiv der Dut­ zendteich-Park-AG, eine der ältesten Aktiengesellschaften Bayerns, gegründet 1823, gefunden, deren Ziel es war, das Gelände um die Dutzendteiche als städ­ tisches Naherholungsgebiet zu organisieren.62 Im Zuge des Baus des Reichs­ parteitagsgeländes wurde die AG, deren letzter alleiniger Aktionär die Firma Spaeth war, liquidiert. Erhalten blieben die Pachtverträge, die Korrespondenz und Steuererklärungen, die Inventare über Immobilien und Grundstücke, die Unterlagen zu Bauaktivitäten, die Konferenzprotokolle der Generalversamm­ lung der Aktionäre, Vorstandsunterlagen, Aktionärslisten, Verträge etc. aus der Zeit zwischen 1823 und 1939. Die Übernahme beider Archive wurde im Rahmen einer Stiftung geregelt, die im Juli 2002 als nichtrechtsfähige Stiftung (Sondervermögen der Stadt

58 59 60 61 62

StadtAN E 9/379 Nr. 1-12. StadtAN E 9/379 Nr. 13-21. StadtAN E 9/379 Nr. 22-25. StadtAN E 9/379 Nr. 26. Stadtlexikon (wie Anm. 2), S. 229.

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Nürnberg) im Sinn des Artikels 84 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern eingerichtet wurde. Ziel ist die „Erforschung der Sozial-, Wirtschafts-, Technik- und Industriegeschichte Nürnbergs im 18. und 19. Jahrhundert sowie die wissenschaftliche Bearbeitung und Nutzbarmachung des Firmenarchivs Johann-Wilhelm-Spaeth“. Dieser Stiftungszweck soll durch Stipendien für Doktoranden und Diplomanden, durch Zuschüsse zu spezifischen For­ schungsprojekten und Druckkostenzuschüsse sowie durch die Archivierung von Dokumenten im Rahmen des Stiftungszweckes im Stadtarchiv Nürnberg erfüllt werden. In der zugehörenden Stiftungsurkunde wurde auch festgelegt, dass alle zum Zeitpunkt der Errichtung der Stiftung im Eigentum der Stifter befindlichen und in Zukunft von diesen erworbenen Dokumente, die zur Erfüllung des Stif­ tungszwecks geeignet sind, als Zustiftung dem Stadtarchiv Nürnberg übereig­ net werden. Namentlich werden hier das Firmenarchiv Spaeth, das Archiv der Dutzendteich-Park-AG und Familiendokumente genannt. Das Firmenarchiv Spaeth befindet sich seit Juli 2002 im Stadtarchiv Nürnberg,63 das Archiv der Dutzendteich-Park-AG wurde am 1. Oktober 2002 übernommen.64 Mit der Verzeichnung von letzterem wurde bereits begonnen mit dem Ziel, die Archi­ valien in einer Magisterarbeit auszuwerten. Im Anschluss daran wird - ausge­ stattet mit einem Stipendium der Stiftung - das Firmenarchiv verzeichnet wer­ den und eine Monographie über die Firma Spaeth als Doktorarbeit entstehen.

63 Es wird weiterhin die Signatur StadtAN E 9/379 behalten. 64 Signatur: StadtAN E 9/614.

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Abb. 6: Wappenbrief für den Drucker und Verleger Johann Martin Endter, 1743. (StadtAN A 1 Nr. 1743 Jan. 31 GF)

Abb. 7: Geschäftsbuch der Firma Georg Zacharias Platner, 1696/97. (StadtAN E 9/170 Nr. 17)

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