Miss Perfect - Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China 9783839437438

China's new women and their discursive negotiations of identity between traditional gender relations and global con

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German Pages 338 Year 2016

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Miss Perfect - Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China
 9783839437438

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung: Chinas »neue neue Frauen«
Gut ist nicht gut genug – Ratgeber zwischen individueller Selbstverwirklichung und sozialer Normierung
Die Entdeckung des Selbst und die Entstehung des therapeutischen Diskurses
Die Ratlosigkeit der Moderne: Ratgeber als Orientierungsund Optimierungshilfen
Der allwissende Begleiter: Das literarische Genre der Selbsthilfe-Ratgeber
Das Do-it-yourself-Leben – Die gesellschaftlichen Hintergründe der Ratsuche in China
Die Risiken der Zweiten Moderne
DIY-Leben und Bastelbiographie: Die Folgen der Individualisierung
Der Traum vom guten Leben
Selbstkultivierung: Ein neues, altes Phänomen in China
Die feinen Unterschiede – Chinas neue Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung
Die Versuchungen eines geschmackvollen Lebens
Mein Haus, mein Auto, meine Gucci-Tasche: Schichtzugehörigkeit durch Konsum
Eine Frage des Geschmacks: Neue immaterielle Strategien der sozialen Distinktion
Die Waffen der Frauen – Konstruktionen äußerer und innerer Schönheit
30% Natur, 70% Menschenhand: Der Imperativ des Schönheitshandelns
Von »beauty fear« zu »beauty fever«
Eine Prinzessin für den Märchenprinzen: Attraktivität und Partnerwahl
Die neuen Körperklassen
Schön = (erfolg-)reich? Schönheitshandeln zwischen weiblicher Ermächtigung und Normativitätszwang
»Innere Schönheit« und der Mythos der natürlichen Schönheit
Kleidung und Mode als Mittel sozialer Distinktion
»Sanft wie Wasser, hart wie Stahl«: Konstruktionen dichotomer Geschlechterbilder
Die Vereinigung des Schönen mit dem Guten – Weibliche Tugend zwischen Neukonfuzianismus, Mikroaktivismus und der Suche nach Glück
Konstruktionen weiblicher Wesenhaftigkeit
Ethische Verhaltensnormen im Zeichen sozialer Stabilität
Hybride Geschlechteridentitäten zwischen Konfuzianismus und Feminismus
Anderer Wohl, eigene Sicherheit: Aktivismus zwischen Moral, Humanismus und Eigennutz
Glück im Unglück: Die »Zheng Nengliang«-Bewegung und das Paradox des Glücksstrebens
Das Dilemma der »Du Lalas« – Frauen zwischen Unabhängigkeit, Beruf und Familie
Die gewandelte soziale Stellung der Frau seit der Reformzeit
Nur eine selbstbewusste Frau ist eine schöne Frau
»Frauen sind wie Kleidung«: (Un-)Abhängigkeiten in der Geschlechterbeziehung
»Essensmarke mit Beinen«: Über die Rolle des finanziellen Ausgleichs in Intimbeziehungen
Starke Frau statt starke Frau: Frauen in der Berufstätigkeit
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Alles eine Frage der richtigen Einstellung
Theoretisch neutral, praktisch weiblich: Zur Geschlechtergleichberechtigung im Beruf
Erfolgreiche Karriere – was nun? Berufliche Selbstverwirklichung versus Ehe und Familie als Idyll von Privatheit
»Die Liebe nach links, die Ehe nach rechts« – Die Utilitarisierung der Intimbeziehung
Lebensziel Heirat
»Keiner will eine faule Melone«: Kalkulatorische Überlegungen bei der Partnerwahl
Die Liebe und das liebe Geld: Der Konsum der Romantik und die Reinheit des Gefühls
»Sex for Pleasure« und »Sex for Measure« – Weibliche Sexualität zwischen Naturalisierung und sozialen Skripten
Chinas sexuelle Revolution
Sexualität zwischen Natur und gesellschaftlichen Normen
Weibliche Sexualität: Initiation, Instituionalisierung und Interessenausgleich
»Tiere der unteren Körperhälfte«: Geschlechterrollen in der Sexualität
Guter Job, guter Sex? Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer Stellung und Sexualleben
Nachwort: Weiblichkeitsregime oder Selbstermächtigungsstrategien?
Literatur

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Anett Dippner Miss Perfect – Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China

Gender Studies

Anett Dippner (Dr. phil.), geb. 1981, forscht am Institut für Sinologie und der Graduate School for East Asian Studies der Freien Universität Berlin zu Frauenund Genderfragen, Sexualität und Familienbeziehungen in Zeiten gesellschaftlicher Modernisierung und zu Konzepten von Schönheit sowie kulturellen Praktiken des Schönheitshandelns im gegenwärtigen Ostasien.

Anett Dippner

Miss Perfect – Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China

D 188 Gefördert durch Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V., Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung, D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de, Deutscher Akademikerinnenbund

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Fan Yaping: »Xiao nühai (Little girl)«, 2010 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3743-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3743-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Einführung: Chinas »neue neue Frauen« | 11 Gut ist nicht gut genug – Ratgeber zwischen individueller Selbstverwirklichung und sozialer Normierung

Die Entdeckung des Selbst und die Entstehung des therapeutischen Diskurses | 39 Die Ratlosigkeit der Moderne: Ratgeber als Orientierungsund Optimierungshilfen | 44 Der allwissende Begleiter: Das literarische Genre der Selbsthilfe-Ratgeber | 45 Das Do-it-yourself-Leben – Die gesellschaftlichen Hintergründe der Ratsuche in China

Die Risiken der Zweiten Moderne | 51 DIY-Leben und Bastelbiographie: Die Folgen der Individualisierung | 54 Der Traum vom guten Leben | 62 Selbstkultivierung: Ein neues, altes Phänomen in China | 69 Die feinen Unterschiede – Chinas neue Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung

Die Versuchungen eines geschmackvollen Lebens | 77 Mein Haus, mein Auto, meine Gucci-Tasche: Schichtzugehörigkeit durch Konsum | 86 Eine Frage des Geschmacks: Neue immaterielle Strategien der sozialen Distinktion | 92 Die Waffen der Frauen – Konstruktionen äußerer und innerer Schönheit

30% Natur, 70% Menschenhand: Der Imperativ des Schönheitshandelns | 97 Von »beauty fear« zu »beauty fever« | 101 Eine Prinzessin für den Märchenprinzen: Attraktivität und Partnerwahl | 105 Die neuen Körperklassen | 110

Schön = (erfolg-)reich? Schönheitshandeln zwischen weiblicher Ermächtigung und Normativitätszwang | 115 »Innere Schönheit« und der Mythos der natürlichen Schönheit | 119 Kleidung und Mode als Mittel sozialer Distinktion | 128 »Sanft wie Wasser, hart wie Stahl«: Konstruktionen dichotomer Geschlechterbilder | 133 Die Vereinigung des Schönen mit dem Guten – Weibliche Tugend zwischen Neukonfuzianismus, Mikroaktivismus und der Suche nach Glück

Konstruktionen weiblicher Wesenhaftigkeit | 143 Ethische Verhaltensnormen im Zeichen sozialer Stabilität | 145 Hybride Geschlechteridentitäten zwischen Konfuzianismus und Feminismus | 154 Anderer Wohl, eigene Sicherheit: Aktivismus zwischen Moral, Humanismus und Eigennutz | 160 Glück im Unglück: Die »Zheng Nengliang«-Bewegung und das Paradox des Glücksstrebens | 166 Das Dilemma der »Du Lalas« – Frauen zwischen Unabhängigkeit, Beruf und Familie

Die gewandelte soziale Stellung der Frau seit der Reformzeit | 175 Nur eine selbstbewusste Frau ist eine schöne Frau | 178 »Frauen sind wie Kleidung«: (Un-)Abhängigkeiten in der Geschlechterbeziehung | 181 »Essensmarke mit Beinen«: Über die Rolle des finanziellen Ausgleichs in Intimbeziehungen | 185 Starke Frau statt starke Frau: Frauen in der Berufstätigkeit | 197 Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Alles eine Frage der richtigen Einstellung | 201 Theoretisch neutral, praktisch weiblich: Zur Geschlechtergleichberechtigung im Beruf | 211 Erfolgreiche Karriere – was nun? Berufliche Selbstverwirklichung versus Ehe und Familie als Idyll von Privatheit | 216 »Die Liebe nach links, die Ehe nach rechts« – Die Utilitarisierung der Intimbeziehung

Lebensziel Heirat | 229 »Keiner will eine faule Melone«: Kalkulatorische Überlegungen bei der Partnerwahl | 241

Die Liebe und das liebe Geld: Der Konsum der Romantik und die Reinheit des Gefühls | 252 »Sex for Pleasure« und »Sex for Measure« – Weibliche Sexualität zwischen Naturalisierung und sozialen Skripten

Chinas sexuelle Revolution | 267 Sexualität zwischen Natur und gesellschaftlichen Normen | 272 Weibliche Sexualität: Initiation, Instituionalisierung und Interessenausgleich | 278 »Tiere der unteren Körperhälfte«: Geschlechterrollen in der Sexualität | 285 Guter Job, guter Sex? Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer Stellung und Sexualleben | 289 Nachwort: Weiblichkeitsregime oder Selbstermächtigungsstrategien? | 295 Literatur | 309

  

Vorwort

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um die aktualisierte Fassung meiner Dissertation, die 2015 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen und von Prof. Klaus Mühlhahn und Prof. Verena Blechinger-Talcott begutachtet wurde. Mein besonderer Dank gilt Prof. Eun-Jeung Lee für ihre konstante Motivation und Unterstützung meines Werdegangs in der Wissenschaft. Der meiste Dank gilt allerdings denen, ohne die dieses Werk in vorliegender Form nicht hätte entstehen können: Dr. Fehmi Akalin für die zahllosen inspirierenden Gespräche und das unermüdliche Korrekturlesen und meinem Mann Dustyn für sein Verständnis, seine Unterstützung im Alltag und all die erfrischenden Ablenkungen von der Arbeit sowie das »Feintuning« des Manuskripts. Die Realisierung der Publikation wurde von der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung, der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Akademikerinnen Bund e.V. unterstützt. Berlin, im Juli 2016

    

Anett Dippner



Einführung: Chinas »neue neue Frauen«

Die Öffnungspolitik und der ökonomische Aufschwung Chinas in den vergangenen zwanzig Jahren haben in allen sozialen Bereichen des Landes fundamentale Veränderungen nach sich gezogen, auch und gerade in den Geschlechtervorstellungen. Die allenthalben diagnostizierte Pluralisierung und Individualisierung der chinesischen Gesellschaft seit ihrer politischen und ökonomischen Öffnung hat entsprechend auch zu einer Pluralisierung von Geschlechtermodellen, mithin zu einer Revision und Neubetrachtung traditioneller Geschlechterrollen geführt (vgl. u.a. Croll 1995, Evans 1997, Rofel 1999, Browell 2002, West 1999, Wolf 1995, Zhong 2001, Tao 2004, Li 2002, Honig 1988, Hershatter 2007, Spakowski 2006, Yang 1999). Das bis dato gültige, maßgeblich vom Staatsfeminismus beeinflusste, Frauenbild verlor in der Folge zunehmend an Bedeutung und wurde durch eine Vielzahl neuer Entwürfe ersetzt, die jedoch allesamt in der ausdrücklichen Betonung des binären Geschlechterunterschieds konvergieren und sich durch eine explizite Ausrichtung am »femininen Idealbild« auszeichnen (vgl. Barlow 2004, Yang 1999). Ein Beispiel für die Etablierung eines im Vergleich mit dem Frauenbild der vorangegangenen Generationen alternativen Entwurfs weiblicher Identität stellen die so genannten »neuen neuen Frauen« (xinxin nüxing)1 dar, ein Phänomen, das aus den Diskussionen vom »neuen neuen Menschen« (xinxin renlei) der 1990er Jahre resultierte und oft mit der im Zuge der ökonomischen Öffnung und Kapitalisierung von Markt und Gesellschaft neu entstandenen sozialen Gruppierung der (gehobenen) Mittelschicht in Zusammenhang gebracht wird (Wang 2008). Die »neuen neuen Menschen« entwickelten sich von ursprünglich hyperindividualistischen Rebellen erst zum Repräsentantentum der Bobos (Bohéme-Bourgeoise, xiaozi bzw. bubo) (Wang 2005) chinesischer Prägung in Chinas Metropolen;

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Begrifflichkeiten und Zitate aus chinesischsprachigen Quellen – auch Zitate und auch Zitate und Passagen aus den untersuchten Ratgebern – wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Englischsprachige Zitate werden im Original beibehalten.

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anschließend wurde der von ihnen propagierte Lebensstil zunehmend von Konsum und Werbung einverleibt und etablierte sich zum hippen Mainstream der Neureichen. Es entwickelte sich ein Konglomerat aus kosmopolitischwestlichen, konsumbasierten Lebensentwürfen unter dem Motto der individuellen Selbstentfaltung, welche jedoch tatsächlich unter großem Uniformitäts- und Normativitätszwang stand. Demgegenüber lässt sich eine Ausdifferenzierung in eine geschlechtlich abgespaltene Untergruppierung der »neuen neuen Frauen« erst seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre deutlich nachvollziehen. Dieses Konzept umfasst Elemente beider »Interpretationsrichtungen« der »neuen neuen Menschen« respektive Bobos und hebt einerseits das individualistisch-humanistische Argument hervor, fördert jedoch auf der anderen Seite auch sehr stark bourgeoise Fantasien durch die unbedingte Voraussetzung von Konsum. Die Kategorie der »neuen neuen Frauen« ist also ein komplexer, schwer definierbarer Mix aus gewissen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen, der letztlich auf eine schichtspezifische Positionierung einer sozialen Gruppe abzielt, indem bestimmte Faktoren – wie z.B. beruflicher Erfolg, Urbanität, westlicher Lifestyle und Mode, materialistische Befriedigung und feminine Selbstdarstellung – betont als eine Art Klassenhabitus inszeniert und kommuniziert werden. Die Kategorie der xinxin nüxing umfasst Frauen von der Universitätsabsolventin über die Topmanagerin und einfache Büroangestellte bis hin zur Avantgarde-Künstlerin. Es sind Frauen, die sich sowohl in einer gehobenen beruflichen Position befinden, mehr oder minder ambitionierte Karrierepläne hegen, als auch sich mit internationalem Lifestyle, Mode und Trends auseinandersetzen und nach einer sowohl kosmopolitischen als auch chinesischen Identität streben. Dementsprechend lehnen sich die Bezeichnungen und die diskursiv konstruierten und kommunizierten Abbilder dieser Frauen zumeist auch an deren berufliche Positionen an: sie werden oft als White-Collar-Ladies, Office Ladies oder als Pink Ladies bezeichnet (Kong 2008). Ihnen allen gemein ist ein hohes Bildungsniveau, finanzielle Unabhängigkeit, beruflicher Erfolg, materieller Wohlstand und die Disposition über finanzielle und kulturelle Ressourcen zur Praktizierung eines vermeintlich am Westen orientierten Konsum-Lifestyles, demonstrative Individualität, familiäre Unabhängigkeit und persönliche Freiheit. In den Medien werden jene »neuen modernen Frauen Chinas« als die Avantgarde und Botinnen eines westlichen Lebensstils, sexueller Freiheiten, fortschreitender Emanzipation und Gleichberechtigung, aber auch von Materialismus, Hedonismus und Egoismus stilisiert. Sie stellen eine altersmäßig recht homogene Gruppe von jungen Frauen zwischen Anfang und Ende 20 Jahren aus dem urbanen Mittelstandsmilieu dar und geben als die neuen gesellschaftlichen

E INFÜHRUNG

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»Aufsteigerinnen« ein Paradebeispiel ab für sozialen Aufstieg durch Akquise von Wissen und Kultivierung eines bestimmten Habitus sowie der Akkumulation von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital in Zeiten der Formierung von Wissensgesellschaften (vgl. Bourdieu 1982, Rofel 2007, Ren 2013, Tomba 2004, Robi 1996, Cheng 2013, Zhang 2010). Neben Klasse, Alter, Ethnizität und Urbanität nimmt jedoch allen voran der Geschlechteraspekt und seine diskursive Aufarbeitung einen zentralen Platz in ihrer Abgrenzung ein. Tatsächlich scheint diese Kategorie zunehmend zu einem geradezu essentiellen Bestandteil zu avancieren, der mit ebenso viel Ehrgeiz und Aufwand verfolgt wird wie der Karriereaufstieg. Während bis in die 1980er Jahre Geschlecht in den meisten Feldern des öffentlichen Lebens in China kaum eine Rolle gespielt hat – oder wenn, dann eher in Form der Negation des Weiblichen –, ist nun eine starke Verbindung von sozialem Aufstieg bzw. beruflichem Erfolg und geschlechtlicher (Selbst-)Darstellung in Form von Verkörperung und Perfektionierung sozialer Geschlechterrollenbilder zu beobachten. Dass die Frage, ob und wie eine Frau eine Frau ist, weder auf rein biologischer noch individueller Ebene beantwortet werden kann, sondern immer auch eine Frage der sozialen Kommunikation ist und somit stark soziokulturellen Kriterien unterliegt, darüber sind sich Frauen- und GenderwissenschaftlerInnen längst einig. Bei Entwürfen von Geschlechteridentitäten spielt die Auslotung von Eigenentwurf und Fremdprojektion eine essentielle Rolle, da das Geschlecht generell eine gesellschaftlich konstruierte Kategorie ist, die erst durch ein System von Codes der Repräsentation Sinn und damit auch Wirklichkeit schafft. Somit beruhen auch alle individuellen Geschlechtervorstellungen letztlich auf sozial kommunizierten Handlungs- und Verhaltensmustern; mithin steht die Geschlechtsidentität im unmittelbaren Zusammenhang mit den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und enthält soziale, kulturelle, politische und ökonomische Implikationen. Daher sind auch die Inszenierungen von Weiblichkeit der »neuen neuen Frauen« nicht nur interessante Abbilder aktueller Geschlechterrollenvorstellungen und -hierarchien, sondern eröffnen auch einen Blick auf relevante Diskurse der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.

D IE S EMANTIKEN DES W EIBLICHEN – F RAUENRATGEBER ALS U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND In diesem Zusammenhang stellen sich zentrale praktische Fragen, derer sich die rezente Forschung jedoch bislang nicht adäquat angenommen hat. Wie manifestiert sich laut sozial wirksamen symbolischen Ordnungen »Frau-Sein« für die

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neue Generation der White-Collar- bzw. Pink Ladies? Welche sozial wirksamen Attribute besitzt das Frauenbild der »neuen neuen Frauen« und welche Unterschiede ergeben sich daraus im Vergleich mit Weiblichkeitsvorstellungen anderer sozialer Schichten? Wie sind die »neuen neuen Frauen« im Zusammenspiel beider Geschlechter zu sehen? Wie arrangieren oder bewältigen sie die immer noch weit verbreitete berufliche Diskriminierung? Mit anderen Worten: Welches geschlechtliche Selbstverständnis hat das Idealbild der »neuen neuen Frau«? Und in welcher Form und in welchem Ausmaß beeinflussen soziale, ökonomische sowie politische Faktoren diese Konstruktion einer weiblichen Identität? Die vorliegende Studie versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem sie die Geschlechteridentitätsentwürfe der »neuen neuen Frauen« in chinesischen Frauenratgebern rekonstruiert und diese insbesondere unter dem Aspekt sozial zugewiesener Genderrollen, weiblicher Identitätsmodelle und geschlechtlicher Handlungsmuster analysiert, ohne dabei die Möglichkeiten der individuellen Ausgestaltung allgemeingültiger Modelle zu negieren. Die Grundlage der qualitativen Untersuchung bilden ausgewählte Exemplare des Populärgenres der Frauenratgeber (xüxing duwu), die mit so variations- wie klischeereichen Titeln wie: »Das kluge Kopfkissenbuch der Frau«, »Der charmante Plan der glücklichen Frau«, »Sei eine perfekte Frau und koste das perfekte Leben« bis zu »Deine Eleganz ist Millionen wert« und »Das Kapital der Frauen« am Projekt der Schaffung einer »glücklichen«, »erfolgreichen« und »attraktiven« modernen Frau arbeiten. Was also der akademische Diskurs bislang mit generalisierten Thesen und der journalistische Diskurs mit reduzierten Slogans zu fassen suchte, soll nun mit Hilfe der populären Gattung der Frauenratgeber in wünschenswerter Anschaulichkeit konkretisiert, präzisiert werden. Anhand einer soziologisch und kulturwissenschaftlich informierten Diskursanalyse der in diesen Ratgebern propagierten Geschlechter- und Frauenbilder lassen sich nicht nur in monodimensionaler Form Idealvorstellungen zu wünschenswerten Charaktereigenschaften, adäquaten Verhaltensweisen, erstrebenswerten Zielen und Lebensetappen und Partnerschaftsmodellen der »neuen neuen Frau« von möglicherweise involvierten Diskursregimen wie dem Staat und sozialen Institutionen im Zuge der Realisierung der »harmonischen Gesellschaft« bzw. einer »Xiaokang-Gesellschaft« identifizieren, sondern eben auch die weibliche Subjektposition der teilhabenden Frauen selbst, da sie als Leserinnen nicht nur Rezipientinnen, sondern auch aktive Akteurinnen ihrer eigenen Lebensgestaltung sind. Erst durch die Entwicklung des therapeutischen Diskurses (der in den Ratgebern seine populärwissenschaftliche Applikation erfährt) entstand auch das Konzept der individuellen Handlungsmacht an sich, da hier davon ausgegangen wird, dass das Individuum sich und seine Situation reflektiert und an sich »arbeitet«

E INFÜHRUNG

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(vgl. Illouz 2011). Dieser Diskurs sieht Identität als ein offenes Konzept, das nach eigenen Wünschen und Zielen aktiv gestaltet werden kann. Ratgeber eröffnen einerseits Räume der subjektiven Selbstreflexion und -gestaltung, andererseits begrenzen sie diese wiederum durch die Vorgabe von Handlungsmustern. Sie verweisen dadurch auf diverse begleitende soziale, politische und ökonomische Einflüsse, die zur Herausbildung eben jener propagierten spezifischen Semantiken des Weiblichen beigetragen haben, reichen aber auch in die tatsächliche Lebensgestaltung und Selbstdefinition der Adressaten hinein, indem sie als Diskursautoritäten zur Konstitution von sozialem Wissen beitragen. Das hier generierte Wissen wirkt konstitutiv in die Gesellschaft hinein, indem es einerseits Bausteine als auch Kontrollpunkte zur Konstruktion und Ausrichtung der Identität liefert, es wird auch zunehmend zu einer Voraussetzung für soziale Beziehungen. Es entstehen neue soziokulturelle Codes, die das alltägliche Geschlechterverhalten organisieren und Interaktionsrituale strukturieren, so dass die propagierten Doing-gender-Praktiken und Verhaltensmuster nach und nach normativ werden. Die Betrachtung dieser Ratgeber kann also durch die Identifizierung und Analyse einzelner geschlechtskonstruktivistischer Elemente Aufschluss über Genderrollen, geschlechtliche (insbesondere weibliche) Identitäten und geschlechtsbedingte Handlungsmuster in der chinesischen Gesellschaft geben. So sind in diesen Ratgebern in expliziter Form Idealvorstellungen von wünschenswerten Charaktereigenschaften, adäquaten Verhaltensweisen, erstrebenswerten Zielen, erfolgreichen Lebensetappen und Partnerschaftsmodellen für die »neue neue Frau« identifizierbar. Sie lassen ein Panoptikum sozial sanktionierter Geschlechteridentitäten und -rollen durch staatliche Diskursregime und soziale Institutionen als wirkmächtige Rahmenstrukturen erahnen, innerhalb derer sich weibliche Subjektpositionen und Handlungsstrategien entfalten können und verweisen damit auf anschauliche Weise auf vielfältige soziale, politische und ökonomische Faktoren, die zur Herausbildung jener spezifischen Semantik des Weiblichen beigetragen haben. Die Analyse der Ratgeber soll dabei durch die Identifizierung und Herausarbeitung einzelner geschlechtskonstruktivistischer Elemente Aufschluss über Geschlechterrollen in der chinesischen Gesellschaft geben. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei auf Bereiche der Identifizierung und Internalisierung von sozial gratifizierten Denk- und Verhaltensmustern, der sozialen Interaktion und der Partnersuche bzw. Partnerschaft gelegt werden. In einem zweiten Schritt sollen die texthermeneutisch aus der Analyse der Ratgeber rekonstruierten geschlechtsspezifischen Handlungsdirektiven soziohistorisch kontextualisiert werden (vgl. Reichertz/Schröer 1994). Methodologischer Hintergrund dieser Erweiterung des Erkenntnisinteresses ist zum einen die

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Einsicht in die praktische Wirksamkeit der in Ratgebertexten zirkulierenden semantischen Modelle, mithin ihre gesellschaftliche Relevanz. Zum anderen sollen mit der Vergrößerung der Optik komplementär dazu die Möglichkeitsbedingungen der Entstehung dieser semantischen Modelle offengelegt werden. Konkret bedeutet dies, jene gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Transformationsprozesse in China seit den 1980er Jahren unter dem Gesichtspunkt ihrer Strukturierungskraft auf neue Geschlechtervorstellungen chinesischer Frauen einer grundlegenden Analyse zu unterziehen. Ein so umfassender Anspruch kann angemessen nur transdisziplinär bewerkstelligt werden – durch reflektierten Zugriff auf Analyseinstrumentarien, Ansätze und Theorien der Sozialwissenschaften, der Kulturwissenschaften, der Geschichtswissenschaften sowie der Anthropologie. Das Phänomen der »neuen neuen Frau« in China kann mithin nur unter Rekurs auf ein transdisziplinär informiertes Forschungsprogramm sinnvoll erfasst, verstanden und erklärt werden. So hat die entsprechende Forschung mehrfach die Überzeugung formuliert, dass die Evolution des gegenwärtigen Frauenbildes nicht ohne eine Auseinandersetzung mit Theorien der Modernität, Urbanität und Konsumkultur in ihren spezifisch genderrelevanten Dimensionen zu denken ist (vgl. Kong 2008, Rofel 1999 und 2007, Zhu 2007, Judd 2002). Auch spezifischere Fragestellungen erfordern die Übernahme einer transdisziplinären Perspektive: Wie gehen beispielsweise die »neuen neuen Frauen« in concreto mit diesen Leitvorstellungen um und wo positionieren sie sich als medial beeinflusste Ikonen einer neuen, femininen »oriental beauty« auf der Skala zwischen Globalität und Lokalität, »Chineseness« und kosmopolitischer Moderne? Zudem stellt sich aus intersektionaler Perspektive die Frage nach der konkreten sozialen Stratifizierung und Hierarchisierung im Zuge der gesellschaftlichen Schichtdifferenzierung, die zunehmend nicht nur auf ökonomischen Unterschieden basiert, sondern auch immer mehr in den Einzelnen wortwörtlich inkorporiert wird (vgl. Bourdieu 1982, Degele 2004, Posch 2009). Die Entstehung von »Körperklassen« verweist nicht nur auf soziale Distinktionsprozesse der durch Techniken des Selbst hergestellten physischen Merkmale, es lässt sich dabei auch zunehmend eine Segregation gesellschaftlicher Gruppierungen auf der Basis von habituellen Merkmalen feststellen. Als Anschlussfrage ließe sich daher formulieren: Inwiefern »schreibt« sich die soziale Zugehörigkeit auch in die Identitätsentwürfe der »neuen neuen Frauen« ein und beeinflusst deren Selbstverständnis und Selbstgestaltung? Entsprechend lässt sich vermuten, dass die mittlerweile immer stärker expandierende Konsumkultur des »desiring China« (Rofel 2007, Croll 2006) eine wichtige Rolle dabei spielt, das Dreiecksverhältnis von Klasse, Geschlecht und Materialismus auf spezifische Weise zu entschlüsseln.

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Ergänzend lassen sich aber auch von Ratgeberanalysen ausgehend Erklärungen zu verwandten Entwicklungsprozessen abgeben: inwieweit etwa die weiblichen Geschlechteridentitäten, wie sie in den Ratgebern präsentiert werden, von sozialpolitischen Programmen wie zum Beispiel dem Revival des Neukonfuzianismus beeinflusst sind. In konfuzianischen Lehren zur Etablierung eines neuen gesellschaftlichen Wertekonsenses wird von einigen Autoren und Autorinnen auch ein wichtiger Einflussfaktor hinsichtlich gesellschaftlich sanktionierter Vorstellungen von Geschlechterrollen gesehen (vgl. Rosenlee 2006, Tao 2004). Auch in den Ratgebern lassen sich durchgehend Verweise auf traditionell konfuzianische Rollenmuster aufspüren. Zwar wurde die prinzipiell misogyne Haltung der Klassiker durch eine Neuinterpretation größtenteils kritisch revidiert, die darin vertretene Binarität und Komplementarität der Geschlechter blieb im Kern jedoch unangetastet: Mann und Frau sind danach zwei völlig verschiedene Wesen mit jeweils eigener gesellschaftlicher Funktionalität und Stellung, die sich im Ganzen jedoch ergänzen und in ihrer »korrekten« Komplementarität die Grundlage einer harmonischen Gesellschaft bilden. Indem er jedoch sowohl den Geschlechtsunterschied naturalisiert als auch beiden Geschlechtern eine eigene soziale Sphäre zuweist, stellt der Neukonfuzianismus im Prinzip eine deutliche Kehrtwende zur feministischen Agenda dar. Anhand dieser knappen Beispiele ist bereits erkennbar, dass ohne entsprechende Hintergrundinformationen über institutionelle Vorgaben, sozialpolitische Agenden und Veränderungen der Gesellschaftsstruktur sowie über die historische Entwicklung des sozial wirksamen Geschlechter- und Beziehungsmodells in den vergangenen Jahrzehnten eine angemessene Interpretation der Ratgeberbücher nicht in befriedigender Weise möglich ist. Die Einbettung der Untersuchung in einen größeren Kontext weist der Analyse der Ratgeber daher nicht nur eine zentrale Rolle bei der Rekonstruktion von Konstruktionsmodellen weiblicher Identität zu, sondern dies ermöglicht es auch, anhand der Verortung von Geschlechtervorstellungen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext ein Gesamtpanorama zur Stellung der Frau im gegenwärtigen China aufzuzeigen. Zwar bildete sich in den vergangenen Jahren in der kulturspezifischen Frauen- und Genderforschung zunehmend ein Kanon an Forschungsliteratur heraus, der sich mit der aktuellen Jugend- und Konsumkultur in China unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen weiblichen Erfahrung (u.a. Farrer 2002, Adrian 2003, Croll 2006, Zhu 2007, Wang 2008, Rofel 1999 und 2007) befasst, jedoch blieb das Thema in der hier spezifizierten Form bisher völlig unangetastet. Die vorliegende Studie betritt somit weitgehend Neuland und kann sich daher mit Ausnahme von Studien zu verwandten Themen wie Frauen- und Geschlechterforschung und zu sozialen Phänomen im China des 21. Jahrhunderts

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auf wenige Vorarbeiten stützen. Umso wichtiger erscheint daher die Erschließung eines neuen Zugangs zur Geschlechterforschung durch die Berücksichtigung des in chinesischen Ratgebern verhandelten populären Diskurses, der eine neue, kulturspezifische Sichtweise auf Weiblichkeitsvorstellungen und Rollenbilder im gegenwärtigen China jenseits politischer oder feministischer Vereinnahmung ermöglicht, indem er sich den Identitätskonstruktionen von Mittelstands-Frauen über ihr eigenes Selbstverständnis anzunähern versucht.

T HEORETISCHE ANSÄTZE

DER

ANALYSE

Ratgeber als Forschungsmaterial zu verwenden, ist in der Wissenschaft immer noch teilweise umstritten, werden sie oftmals als zu nahe am populären Diskurs angesiedelt und in der Populärkultur verortet gesehen, als dass sie angemessenes wissenschaftliches Interesse erregen könnten. Trotz zahlreicher Beispiele für gelungene Analysen gibt es immer noch Stimmen, die auf die Lücke zwischen Text und Praxis verweisen und monieren, dass man weder wisse, wie genau die Texte eine Normenwirklichkeit abbildeten. Noch sei klar nachvollziehbar, wie relevant die Texte für das Denken und Handeln der Menschen tatsächlich seien – zu krude wirkt in der Tat so manch ausgefallener Ratschlag, als dass eine direkte Umsetzung in die Tat vorstellbar wäre (Heimerdinger 2008). Nichtsdestotrotz lassen steigende Verkaufszahlen von Ratgebern als eine populäre Untersparte des therapeutischen Diskurses das Sujet zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus geraten (vgl. Scholz et al 2013, Bänziger et al 2010, Duttweiler 2007, Oswald-Rinner 2011, Maasen et al 2011). Doch wird das Genre immer noch als Form der Trivial- oder bestenfalls Populärkultur abgetan und gleitet damit wieder aus dem akademischen Fokus. Aber es sind oftmals gerade jene Werke, die eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Bedeutung erlangen, denn »[d]ie populäre Kultur bietet mithin Orientierung, sie sagt klipp und klar: ›So macht man das‹« (Illouz 2013: 28). Eva Illouz sieht populäre Texte denn auch in einem »Resonanzverhältnis« mit der gesellschaftlichen Entwicklung stehen: Sie vereinen konventionelle Themen mit akuten Fragestellungen, Ängsten und Unsicherheiten und geben diesen Aporien nicht nur einen »Namen«, sondern schlagen meist auch Lösungsstrategien vor. Sie transportieren und thematisieren – verschlüsselt oder offen – oftmals soziale Widersprüche: »Institutionalisierte Widersprüche können Desorientierung hervorrufen, und Texte, in die diese Widersprüche eingeschrieben sind, können Popularität erlangen – und zwar insbesondere dann, so könnte man ergänzen, wenn sie es den Menschen ermöglichen, sich neu zu orientieren.« (Ebd.) Dem-

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entsprechend können Bestseller umgekehrt auf eben jene Problematiken, die offensichtlich den »Nerv der Zeit« ansprechen, untersucht werden, um einen Einblick in soziale Brennpunkte und Unsicherheiten zu erhalten. Gerade bei der Frage nach zeitnahen gesellschaftlichen Befindlichkeiten hilft der Blick in den Fundus der Forschungsliteratur oft wenig, setzen sich die meisten Abhandlungen doch aufgrund der wissenschaftlichen und zeitlichen Distanz auf einer zu abstrakten Ebene damit auseinander. Stattdessen gewähren gerade jene Dokumente des Alltags einen ungeahnten Einblick, welche die Wissenschaft oft verschmäht. Als »Warenauslage« aktuell zur Verfügung stehender Sinn- und Deutungsmuster und »Werkzeugkasten« möglicher Handlungsstrategien stellen Ratgeber ohne Zweifel eine spezifische Manifestationsform breiter virulenter gesellschaftlicher Diskurse dar. Die diskursiv vorgestellten Subjektpositionen dürfen freilich nicht mit den tatsächlichen Deutungs- und Handlungsmustern der Akteure und Akteurinnen im Alltag verwechselt werden. Diese sind zwar deren Adressaten und Adressatinnen, aber zugleich auch selbstreflexive Subjekte, die durchaus eigensinnig interpretieren (Hitzler/Reichtertz/Schröer 1999). Deshalb fokussiert die Auseinandersetzung und Analyse nicht schlicht individuelle Positionen und Umsetzungen, sondern soziale Akteure, Prozesse, Grundlagen und Folgen der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit. Es geht weniger darum, detailliert die aufgeführten Praktiken zu extrahieren, sondern deren Skripthaftigkeit – das so genannte »Gebrauchswissen« oder »Rezeptwissen« (Schütz/Luckmann 1979: 139) – erst auf ein standardisiertes Handlungsrepertoire und Formen typisierten Routinewissens zurückzuführen und dieses »Wissen« wiederum im nächsten Schritt auf seine Ursprünge, Umsetzungen, Zirkulationswege und Einflüsse zu untersuchen. Als theoretischer Unterbau für solch ein Vorhaben erscheint insbesondere die wissenssoziologische Diskursanalyse geeignet, da sie sich nicht nur auf den Spuren der hermeneutischen Wissenssoziologie für soziale Konventionalisierungen des Skriptwissens interessiert, sondern sich auch mit den diskursiven Prozessen der Konstruktion, Zirkulation, Transformation und Deutungsmöglichkeiten jenes Wissensfundus auseinandersetzt. Die wissenssoziologische Diskursanalyse verknüpft mit der Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann einerseits und der Diskursforschung nach Foucault andererseits zwei Traditionen der sozialwissenschaftlichen Analyse von Wissen und entwickelt einen systemischen Vorschlag zur Analyse der diskursiven Konstruktion symbolischer Ordnungen. Reiner Keller definiert die wissenssoziologische Diskursanalyse als die »Erforschung der Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene der Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven

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Akteure und um die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse« (Keller 2005: 10). Sie zielt darauf ab Praktiken, Akteure und institutionelle Felder zu untersuchen, die Ordnungen erzeugen, stabilisieren und transformieren, um Prozesse institutioneller Wissensproduktion und öffentlicher Wissenszirkulation und soziohistorische Verläufe und Verhältnisse besser zu verstehen. Sie will somit »(re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hineingeboren in eine historisch und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit verändern. Pointiert: es geht um die Rekonstruktion der Prozesse, wie handelnde Subjekte sich in einer historisch vorgegebenen sozialen Welt immer wieder ›neu‹ erfinden, d.h. auch: zurechtfinden und wie sie dadurch zugleich auch diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern« (Reichertz/Schröer 1994: 59).

Die Theorie der Wissenssoziologie, wie sie nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann in deren 1966 erstmals erschienenem Werk »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (1980) entwickelt wurde, vereint die phänomenologische Analyse der Struktur gesellschaftlicher und subjektiver Wissensvorräte mit der Forschungstradition des symbolischen Interaktionismus und wissenssoziologischen Vorarbeiten. Sie stützt sich auf die Analyse von historisch konkret erzeugtem gesellschaftlichen Wissen und kollektiven Wissensvorräten als Grundlage sozialer Ordnung sowie den Doppelprozess der sozialen Institutionalisierung und individuellen Aneignung von diesen Wissensvorräten, denn »Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Orte und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft. ›Ideengeschichte‹, abgetrennt vom Fleisch und Blut der allgemeinen Geschichte, gibt es nicht. […] Die Beziehung zwischen den Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen ist immer dialektisch. […] Sozialer Wandel muss also immer in dialektischer Beziehung zur Ideengeschichte gesehen werden« (Berger/Luckmann 1980: 137).

Theoretische Ideen und expertengestützte Wirklichkeitsinterpretationen sickern ins Alltagswissen der Individuen ein und formen ihre Handlungsstrategien in gewisser Weise handlungs- und deutungspragmatisch mit. Hierbei gilt alles als »Wissen«, was als wirklich angenommen wird, Sinn stiftet und sinnvoll interpretiert werden kann und in der Praxis der Externalisierung, Stabilisierung, Objektivierung, Institutionalisierung und Wiederaneignung von symbolischen Ordnun-

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gen zum »›soziale[n] Wirklichwerden‹ der Wirklichkeit« (Keller 2012: 213) beiträgt. Berger und Luckmann haben als Schüler von Alfred Schütz dessen Überlegungen, wie einerseits aus subjektivem »Sinn« ein sozial breitflächiger, gültiger und kommunizierbarer »typischer Sinn« entstehen kann und sich andererseits ein allgemeingültiger »Sinn« im Einzelbewusstsein konstituiert, fortgeführt. Sie greifen dazu auf Schütz‘ Überlegungen zur Transzendenz von subjektiven Erlebnissen zu gemeinschaftlich gültigen »Weisheiten« zurück und entwickeln diese weiter. Dabei wird »Sinn« durch die Reflexion über Erfahrungen im Einzelbewusstsein aufgebaut, aber es ist dem Wesen nach immer sozialer Sinn, denn das Ich greift auf individuelles und kollektives Wissen zurück, um aus seinen spezifischen Erfahrungen »Sinn« zu produzieren, ihnen also jenseits ihrer unmittelbaren Manifestation eine weitere »Bedeutung« zu zuschreiben. Deshalb müssen in einer Gemeinschaft geteilte Deutungsschemata vorhanden sein, die als Vorwissen typisiert sind, auf die bei dieser Interpretation von Sinn und Bedeutung zurückgegriffen werden kann (Keller 2012: 186). Die alltäglichen Verstehensleistungen, die von sozialen Akteuren und Akteurinnen erbracht werden müssen, sind also als permanenter Prozess der interaktiven Objektivierung und Stabilisierung sowie sozial bedingte Aneignung von Wissensbeständen zu verstehen: »In Gestalt der existierenden Institutionen zwingt er [der Prozess der vorgedeuteten Interpretation, A.D.] sich der vorsozialisatorischen tabula rasa des individuellen Bewusstseins auf. Die ›objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen Handelns‹ erscheint als Wissen, das über verschiedenste Sozialisationsinstanzen sowie durch Prozesse der Rollenübernahme vermittelt und dadurch subjektiv angeeignet wird.« (Keller 2005: 177)

Somit geht es bei der wissenssoziologischen Analyse vor allem um die Erforschung eben jener Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf Ebene von Institutionen und kollektiven Akteuren und Akteurinnen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Doch eben genau bei der Erschließung dieser Prozesse sieht Reiner Keller den Schwachpunkt der Wissenssoziologie verankert. Er wirft Berger und Luckmann vor, ihr Forschungsprogramm zu sehr auf die mikrosoziologische Ebene herunter gebrochen zu haben und dadurch die Entstehung und Bedeutung von kollektiven Wissensbeständen und Institutionen zu vernachlässigen (Keller 2005: 179). Als Beispiel zitiert er zahlreiche Studien zu Typisierungsprozessen auf der Ebene von individuellen »Sinnwelten« und beklagt, dass dabei die Ebene der institutionell-organisatorischen Wissensproduktion mehr und mehr außer

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Acht geriet. Daher plädiert er für den Einbezug von kommunikativen Gattungen, um auch die institutionelle Seite und Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen im Blick zu haben. Keller erweitert die wissenssoziologische Herangehensweise um den Einbau der Diskursperspektive, da es seiner Meinung nach nicht um eine allgemeine kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit geht, sondern um diskursive Konstruktionen (Keller 2005: 181). Diskurse als systematisierte und institutionalisierte Formen der Wissensproduktion werden bei Berger und Luckmann nicht explizit angesprochen, auch wenn sie bereits unterschiedliche Sonderwissensbestände und Subsinnwelten von Expertengruppen sowie die unabdingbare Rolle der Sprache erwähnen. Hier will die wissenssoziologische Diskursanalyse Abhilfe schaffen, indem »die diskutierten Defizite durch eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf die Wissensbestände und Deutungsleistungen individueller Akteure des Alltags hin zur Analyse von diskursiven Prozessen der Erzeugung, Zirkulation und Manifestation kollektiver Wissensvorräte« ausgeyglichen werden (Keller 2005: 181). Ihr Ziel ist die Rekonstruktion von Prozessen der sozialen Konstruktion, Zirkulation und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf Ebene der institutionellen Felder, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren. Im Anschluss untersucht sie die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse und analysiert institutionell stabilisierte Regeln der Deutungspraxis. Sie interessiert sich insbesondere auch für die Definitionsrolle beteiligter Akteure und Akteurinnen. Sie zielt auf die Objektivierung und Konsequenzen von Diskursen in Form von sozialen Praktiken, Kommunikationsprozessen und Subjektpositionen und begreift damit sozialen Wandel nicht nur als sozialstrukturellen Prozess, sondern als Verschiebung von Wissensregimen (ebd.: 188). Denn das tatsächliche Geschehen sei – mit dem Verweis auf Giddens Theorie der Strukturierung (Giddens 1992) – keine direkte Folge von Strukturen, sondern Ergebnis des aktivinterpretativen Umgangs der Akteure und Akteurinnen mit den Orientierungsmustern: »Sinnkonstruktion geht so zum einen auf Prozesse der Kommunikation und Bedeutungsverleihung von Akteuren, zum anderen auf die strukturellen Ordnungen von Zeichensystemen und Codes zurück, die Raster bzw. ›Bedeutungsgitter‹ markieren. Entschieden abzulehnen sei jedoch ein ›Rückzug in den Code‹ […]. Plädiert wird demgegenüber für eine analytische Vorrangstellung der Semantik, die als Herstellung und Vermittlung von Bedeutung bzw. Sinn im Handeln operiert.« (Poferl 2004: 46f)

Versteht man Diskurse nun mit Foucault als »Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1988: 74), so eröffnet

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eine Analyse derselben eine weitere, spannende Ebene, die über die reine hermeneutische Textanalyse hinausgeht: Anstatt nur die im Zeichengebrauch konstruierten Gegenstände zu untersuchen, nimmt sie den Konstruktionsprozess an sich unter die Lupe. Die Diskursanalyse umfasst also sowohl die Bedeutungsgenerierung von strukturierten Aussagezusammenhängen, die Regulierung von Handlungen, ebenso wie die Rolle der handelnden Akteure und Akteurinnen wie auch die gesellschaftlichen Effekte von Diskursen, denn »[i]n und mittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert« (Keller 2005: 10). Gerade in der postpositivistischen Phase nimmt die Bedeutung symbolischer Ordnungen, die in Kommunikationsund Argumentationsprozessen ausgehandelt werden, für die Vermittlung von gesellschaftlichen Struktur- und Werteverhältnissen rapide zu. Soziale Wirklichkeit wird somit erst diskursiv konstruiert und kommuniziert, indem die verwendeten Zeichen und Symboliken ihre Bedeutung durch die interaktive Bestätigung, Konservierung oder Revision erhalten bzw. verändern. Diskurse stabilisieren (oder hinterfragen) symbolische Ordnungen, schaffen verbindlich einen Sinnzusammenhang und Wissensordnungen. Daher stellen Diskurse – ihr Entstehen unter spezifischen historischen, sozialen und politisch-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ihr unabwägbarer Verlauf und ihre Effekte – die Hauptarenen zur Konstruktion und Kommunikation von »Normalität« dar. Sie tragen damit einen entscheidenden Teil zur Konstruktion der »Lebenswelt« bei, jenem auf Husserl zurückgehenden Begriff für das normale Alltagsleben, welches weitestgehend als »selbstverständlich« angesehen wird, jedoch in der Tat aus einer Vielzahl von Konstruktions- und Interaktionsprozessen besteht. Denn zur alltäglichen Wahrnehmung eines selbstverständlichen »in Gesellschaft seins« bedarf es einer komplexen Sinnstruktur der Sozialwelt, welche sowohl Selbstverstehen als auch Fremdverstehen regelt: erst dadurch macht sämtliche Kommunikation, machen die Erlebnisse, mit denen wir täglich konfrontiert werden, einen »Sinn«. Dabei ist es interessant, eben jene Strukturen und gesellschaftlichen Wissensvorräte – zu denen auch die Selbsthilfe-Ratgeber gehören – zu untersuchen, die bewirken, dass das alltägliche soziale Miteinander so fraglos und selbstverständlich funktioniert. Denn um diese Prozesse transparent zu machen, genügt es nicht, nur die eine Seite der im konkreten Zeichengebrauch konstruierten Gegenstände – sozusagen das sichtbare Endergebnis – zu betrachten, sondern es empfiehlt sich auch, sich an die andere Seite, die der vielfältigen Konstruktionsmöglichkeiten der Zeichen- und Symbolvorräte, heranzuwagen. Diese Zeichen- und Symbolsysteme, die als Speicher von Vorwissen fungieren, auf die soziale Akteur und Akteurinnen bei der Deutung ihrer Umwelt zu-

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rückgreifen können, befinden sich immer im Modus des Typischen, denn eine Welt mit einmaligen Begriffen für einmalige Phänomene wäre nicht interaktiv und kommunikativ stabilisierbar: »Letztlich ist jede Bedeutungsgebung in diesem Sinne ein Typisierungsakt, da es keine zwei gleichen Weltzustände gibt. Kollektives Wissen bzw. gesellschaftliche Symbol- oder Zeichensysteme sind nichts anderes als historisch aufgehäufte und tradierte, veränderliche und immer nur hinreichend bestimmte Typisierungen, die sich in erster Linie aus dem ergeben, was in der Gesellschaft typischerweise als relevant, wichtig und wirklich (oder unwirklich) gilt – und die durch ihren Gebrauch genau diese Relevanzen wiederum mit erzeugen.« (Keller 2012: 187)

Und nichts unterliegt wohl so sehr dem Generalverdacht der klischeehaften Typisierung wie einschlägige Ratgeber, die die Erwartungen der Leserschaft nach dem »typischen Mann«, der nicht zuhört, und der »typischen Frau«, die nicht einparken kann, erfüllen. Und während sich gerade der konstruktivistische Ansatz in der (feministischen) Frauen- und Geschlechterforschung bereits ausgiebig über die Entstehung solcher stereotyper Zuschreibungen im Bildungssystem, ihre vielseitigen Auswirkungen im Berufs- und Alltagsleben bis hin zu daraus resultierenden sozialen Missständen ausgelassen und im Zuge von Diversifikationsbestrebungen sogar die Kategorie »Frau« aufgrund der inhärenten Pauschalisierung und Typisierung grundsätzlich infrage gestellt haben, schlägt die vorliegende Studie genau den entgegengesetzten Weg ein und widmet sich gerade jenen Herausstellungen des »Typischen«, den Klischeebildern und populären binären Geschlechtervorstellungen. Doch dies heißt nicht, dass die mittlerweile brüchig gewordenen Kategorien von »Frau«, »Mann«, »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« unreflektiert aus den Textvorlagen übernommen würden. Vielmehr rücken eben jene sozialen Rollen als Positionen in institutionellen bzw. organisatorischen Settings ins Zentrum der Aufmerksamkeit: »Rollen werden seit den Einwänden des interpretativen Paradigmas gegen die strukturfunktionalistischen Ansätze in den 1990er Jahren nicht mehr als determinierende Mechanismen beschrieben, sondern als Regeln oder Spielanleitungen, die in der Interpretation, Kreativität und dramaturgischen Kompetenz bzw. Performance der Rollenspieler mit ›Leben‹ gefüllt werden.« (Keller 2005: 212)

Der soziale Akteur wird somit nur als »Rollenspieler« gesehen, der typisierte Interpretationsschemata und Identitätsangebote annimmt, die ihm als Bestandteile des historisch kontingenten gesellschaftlichen Wissensvorrats zur Auswahl

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stehen und er sich in Sozialisationsprozessen aneignet. Daher interessiert an den »Rollen« als Dispositive und Semantiken des gesellschaftlichen Diskurses vor allem die Frage, wie diese Klischees und Geschlechter»rollen« ausgehandelt, kommuniziert und reproduziert werden und somit das konstituieren, was in der sozialen Wirklichkeit letztlich als »Frau« oder »Mann« wahrgenommen wird, denn »[n]ur in ihrer Repräsentation durch Rollen manifestiert sich die Institution als wirklich erfahrbar. Mit ihrem Ensemble ›programmierter‹ Handlungen ist sie so etwas wie ein ungeschriebenes Textbuch eines Dramas, dessen Aufführung von der immer wiederkehrenden Darstellung vorgeschriebener Rollen durch lebende Akteure abhängt« (Berger/Luckmann 1980: 79). Damit wird bereits deutlich, dass es hier vor allem um ein interaktionistisches und konstruktivistisches Verständnis von »Geschlecht« in Form seiner symbolischen Repräsentationen und Bildhaftigkeit geht (vgl. Knoblauch/Goffman/Kotthoff 1994, Hagemann-White 1993, Hirschauer 1993). Wenn im Folgenden die Rede von Konstruktionen von Weiblichkeit ist, so bezieht sich dieser Terminus auf die soziale Konstruktion und kulturelle Performanz von Geschlecht durch die Produktion und Reproduktion von interaktiven »Doing gender«-Praktiken auf diskursiver, semantischer und handlungstheoretischer Ebene. Damit stehen die sozialen Prozesse im Zentrum, in denen »Geschlecht« allgemein und »Weiblichkeit« im Spezifischen als sozial normative Kategorien hervorgebracht und verbreitet werden. Durch die Fokussierung auf gesellschaftlich (re-)produzierte Weiblichkeitsbilder als »embodied practices« (Hirschauer 1994: 673) im Populärdiskurs werden Kontingenzen und Effekte institutioneller Reflexivität als Aushandlungsprozesse des Verhältnisses von Gesellschaftsstruktur und Handlung sichtbar. Damit wird die Unterscheidung zwischen individuellen Erfahrungen von weiblicher Identität – denn es gibt spätestens seit Julia Kristeva so viele »Weiblichkeiten« wie es Frauen gibt – und sozio-kulturell strukturell wirksamen Normativen als zwei der Hauptausgangspunkte feministischer Theorien ausgeklammert und sich rein auf den Aspekt der Symbolisierungen und Systematizitäten von Geschlecht im gesellschaftliche Diskurs konzentriert. Denn geschlechtliche Deutungs- und Interpretationsschemata gehören ebenfalls zum sozialen Zeichenkanon des gemeinschaftlichen, historisch und kulturell bedingten Wissensvorrats und sind somit in den Prozess der Rezeption, Aktualisierung und Revision eingebunden wie alle anderen Bestandteile der alltäglichen Lebenswelt. Diese soziohistorisch spezifischen kollektiven Wissensvorräte (Schütz/Luckmann 1979), wie sie eben auch bei der Konstruktion von spezifischen Geschlechtervorstellungen zum Einsatz kommen, lassen sich beispielhaft aus Rat-

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gebern rekonstruieren. Sie leisten durch das Aufgreifen von Problem- und Fragestellungen und die Ausgabe eines dementsprechenden Ratschlags ihren Beitrag zur Konstruktion von alltäglichem »Jedermann-Wissen«, sind aber damit keine institutionalisierten »Vorgaben« zur Lebensgestaltung, sondern unterbreiten ihrer Leserschaft eher potentielle, unverbindliche »Angebote« (vgl. SchwappTrapp 2006). Doch trotz dieser sehr losen und schwer nachvollziehbaren Verbindung zwischen Text und Rezeption stellen die Ratgeber an sich bereits eine Momentaufnahme des gesellschaftlichen Diskurses dar. Denn einerseits entsprechen Ratgeber mit ihrem Pool an Vorschlägen und Möglichkeiten gewissermaßen den Weiten des gesellschaftlichen Wissensvorrats, welcher sehr komplex und keinesfalls homogen und konsistent ist, sondern je nach sozialen Zugängen und Hierarchien der Wissensverteilung unterschiedlich relevant werden kann. Andererseits entstanden sie zudem unter jeweils konkreten sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen und spiegeln diese Bedingungen in ihrer spezifischen Deutung und Interpretation von »Sinn« wider.2 Gleichzeitig sind Ratgeber damit auch »Interdiskurse« (Link 2006), da sie eine Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Spezialdiskursen übernehmen, jedoch nicht nur eine reine Zusammenführung darstellen, sondern aktiv zur Durchsetzung einer bestimmen Sinn- und Wissensordnung beitragen, indem eigene Deutungszuschreibungen auf die Spezialdiskurse projiziert bzw. das Wissen der hinzugezogenen Diskursfelder nur selektiv wiedergegeben wird. Mit dieser Vorauswahl des zur Verfügung gestellten Wissens tragen Ratgeber zu einer Art institutioneller Vorstrukturierung von Deutungs- und Handlungsmustern bei, deren Ziel die Gewinnung eines Charakters der objektiven Faktizität durch Legitimationsstrategien ist. Die einstmaligen »Angebote« werden zunehmend zum normativen Soll-Wert: »Daß Legitimation sowohl eine kognitive als auch eine normative Seite hat, darf nicht außer Acht gelassen werden. Sie ist […] keinesfalls einfach eine Frage der ›Werte‹, sondern impliziert immer auch ›Wissen‹. […] Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, wie sie sind. Mit anderen Worten: bei der Legitimierung von Institutionen geht das ›Wissen‹ den ›Werten‹ voraus.« (Berger/Luckmann 1980: 100)

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Inwieweit eine Ratgeberdebatte mit dem »Zeitgeist« einer Epoche korreliert, zeigen u.a. Sabine Maasen et al. in ihrer Studie zum Ratgeberboom der 1970er Jahre (Maasen et al. 2011).

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Die Deutungsangebote der Ratgeber rekurrieren somit auf kulturelle Legitimationsmuster, die sich in einem diskontinuierlichen Prozess herausgebildet haben (Scholz et al 2013). Daher wird die Konstruiertheit und Abhängigkeit dieser alltäglichen »Gültigkeiten« vom historischen und soziokulturellen Kontext gerade dann deutlich, wenn die in den Ratgebern propagierten »Weisheiten« vor historische und aktuelle sozioökonomische Entwicklungen gestellt oder gar in einen anderen Kultur- und Wissenszusammenhang versetzt werden – wie dies im Rahmen der Cultural Studies geschieht – und durch diese Verschiebung der bisherig uneingeschränkt gültige Bezugsrahmen als »Fremdkörper« umso klarer hervortritt. Gerade in dieser Konstellation verspricht die Analyse von Ratgebern kulturelle Leitideen von Zweierbeziehungen, Geschlechtervorstellungen und –beziehungen im gegenwärtigen China jenseits der bisherigen Ergebnisse der chinesischen und internationalen Frauen- und Geschlechterforschung freizulegen, denn laut Keller eignet sich gerade die wissenssoziologische Diskursanalyse in besonderem Maße zur Analyse derjenigen Phänomene und Fragen des sozialen Wandels, die unter den Begriffen der Wissensgesellschaft, der Informationsgesellschaft, der Kommunikationsgesellschaft, der Risikogesellschaft etc. diskutiert werden: »Wie wir heute unsere Wirklichkeit(en) wahrnehmen, ist nicht nur – und vielleicht nicht einmal mehr hauptsächlich – durch lebenspraktische Erfahrungen und Begegnungen mit signifikanten Anderen bestimmt. Auch die prägende Kraft tradierter Deutungs- und Handlungsmuster hat deutlich abgenommen. An die Stelle überlieferter symbolischer Ordnungen treten die massenmedial vermittelte, ausgedehnte und beschleunigte Welterfahrung einerseits, die wissenschaftliche und professionelle Wissensproduktion und deren Sedimentierung in die außerwissenschaftliche Deutung- und Handlungspraxis andererseits. Diese permanente Erzeugung und Verstreuung von Wissen ist zur allgegenwärtigen Tradition der modernen Gesellschaften geworden.« (Keller 2005: 13f.)

Z UR M ETHODOLOGIE Da die wissenssoziologische Diskursanalyse jedoch nur einen theoretischen Überbau, aber kein konkretes methodisches Forschungsprogramm liefert, ist man gezwungen sich zur methodischen Umsetzung nach einer weiteren Programmatik umzusehen. Als primär empirisch orientierte soziologische Unternehmung wäre die wissenssoziologische Diskursanalyse um eine methodische Reflexion und Kontrolle ihrer Interpretations- d.h. Verstehens- und Erklärungs-

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prozesse zu ergänzen. Passendes Werkzeug hierfür stellt vor allem die Grounded Theory zur Verfügung, die in der Sozialforschung besonders bei Interviewauswertungen oftmals zur Anwendung kommt, jedoch auch für andere Erhebungsmethoden nutzbar ist. Da es bei der Analyse der Ratgeber nicht um die Erfassung des subjektiven Sinns bzw. die individuellen Interpretationen der Rezipientinnen gehen soll, sondern diese Texte als »materielle Manifestationen gesellschaftlicher Wissensanordnungen« (Keller 2012: 74) gesehen werden und ihre Rolle bei der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität untersucht werden soll, bietet sich die Grounded Theory hervorragend als methodische Leitlinie an, um Textinhalte auf abstrakter, theoriebildender Ebene zu rekonstruieren und übergreifende Verweisungszusammenhänge aufzudecken. Die Grounded Theory wurde in den 1960ern von Barney Glaser und Anselm Strauss (Glaser/Strauss 1998) postuliert und später von beiden getrennt fortentwickelt. Inspiriert wurde sie vor allem vom amerikanischen Pragmatismus und der Chicago School, weshalb sie sich gerade durch die Ablehnung der »großen Theorien« auszeichnet und den Interaktionsprozess und die Verschränkungen zwischen empirischer Forschung und Theoriebildung in den Vordergrund stellt. Die Prämisse ist dabei, dass Theorie der Empirie nicht vorangehen kann, sondern es einer induktiven Theoriebildung aus empirischen Forschungsergebnissen bedarf. Somit ist die Grounded Theory ein zur Selbstkorrektur fähiger Prozess der Theoriebildung aufgrund von empirischen Vorlagen und nicht nur die deduktive Anwendung oder Nachweis des Funktionierens einer bereits postulierten, abstrakten Anordnung oder Theorie. Diese »Offenheit« und Variabilität kommt dem vorliegenden Forschungsvorhaben entgegen, da die chinesischen Ratgeber nicht nach Bestätigungen oder Widerlegungen bereits existenter Theorien untersucht werden, um einen bereits etablierten Wissensschatz zu ergänzen, sondern die Materialanalyse neue, bisher noch nicht so postulierte Erkenntnisse zutage fördern soll. Und gerade die Methodik der Grounded Theory fängt diese Wechselspiele zwischen Wirklichkeitskonstruktionen, Wirklichkeitsobjektivierungen sowie Interessen und Strategien der sozialen Akteure und Akteurinnen sehr treffend ein. Doch natürlich kommt weder die Grounded Theory noch die vorliegende Arbeit ohne zwei wichtige Voraussetzungen aus: Erstens muss, um die relativ offene Struktur dieser methodischen Herangehensweise in eine greifbare Fassung zu bringen, sich mit konkreten Forschungsfragen angenähert werden, um die Thematik konzeptionell aufzuschließen. Zweitens bedarf es der stringenten Einhaltung einer vorher klar festgelegten Erhebungsform, die sich letztlich in der Auswahl des Theoretical Samplings manifestiert. An letzter Stelle folgt dann noch ein Überblick über das Auswertungs- und Analyseverfahren.

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1. Forschungsfragen Die vorliegende Studie verortet sich sowohl in den Gender Studies und der Geschlechtersoziologie wie auch in den Kulturwissenschaften. Es sollen mit qualitativen Methoden der hermeneutischen Analyse von Frauenratgebern kulturelle Leitformen geschlechtlicher Ideal- und Leitbilder untersucht werden. Dabei wird auch auf symbolische Dimensionen der Geschlechterordnung rekurriert, wobei diese Diskurse in engem Zusammenhang mit Gesellschaftsdiskursen stehen. Die zentrale Forschungsfrage lautet somit: Wie schlagen sich Chinas massive Transformationsprozesse seit den 1980er Jahren in den Diskursen zu Geschlechterbildern und -ordnungen in den untersuchten Frauenratgebern nieder? Konkret aufgespalten wird diese in folgende Teilfragen: • Auf welches »Problem« und welche »Unsicherheiten« reagieren die Ratgeber? • Welche »Lösungen« und Modellpraktiken werden empfohlen? • Welche Deutungsangebote von Geschlecht (Klischees, Bilder,

Beziehungsgefüge) werden entworfen und wie werden sie legitimiert? • Wie wird anhand dieser spezifischen Deutungsangebote das

Geschlechterverhältnis im Ratgeberdiskurs konstruiert? • Auf welche Wissensbestände oder gesellschaftliche »Wirklichkeiten« wird bei

der Legitimierung dieser Deutungsangebote rekurriert? • Wie manifestieren sich ökonomische, politische, kulturelle und soziale

Umstände und Veränderungen seit den 2000ern in diesen diskursiven Kon struktionen und »Idealbildern« von Weiblichkeit? Lassen sich Transformatio nen von kollektiven Wissensvorräten und typisierten Handlungsrepertoires im Vergleich zu vorangegangenen historischen Epochen – v.a. sozialistische und post-sozialistische Ära bis zu den 1990er Jahren – ausmachen? • Welche Auswirkungen hat dabei die ökonomisch und politisch bedingte Verschiebung und Neuverortung von sozialen Gruppen, insbesondere die Herausbildung der so genannten »neuen Mittelschicht«? • Sind »Leerstellen« in der Diskussion auszumachen, sprich: was wird im thematischen Feld nicht aufgegriffen? 2. Theoretical Sampling Entsprechend den Prämissen der Grounded Theory wurde das untersuchte Datenmaterial im Laufe der Forschungsarbeit akquiriert und stetig angepasst, da die Analyse der Datensammlung und die Fallauswahl sich gegenseitig beeinflussen. Dadurch entsteht ein individuell zugeschnittenes Theoretical Sampling. Bezüg-

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lich der Erhebungsformen haben Aglaja Przybonski und Monika Wohlrab-Sahr (2010) bereits Vorarbeiten geleistet, deren Empfehlungen an dieser Stelle größtenteils übernommen werden sollen. Gemäß ihrer Forschungsanleitung zur Grounded Theory müssen die Datenerhebung und die Auswertung in einem Wechselprozess erfolgen, da die in der Auswertung gewonnenen Ergebnisse und Konzepte die weitere Auswahl des Forschungsmaterials und Vorgehens bestimmen. Durch diese ständige Reevaluation und Revidierung des Untersuchungsmaterials entsteht letztlich ein Theoretical Sampling. Des Weiteren erfolgt die Analyse der Daten durch eine Kodierung. Aus den »Rohdaten«, die in der ersten hereneutischen Auseinandersetzung gewonnen werden, werden allgemeinere Konzepte und schließlisch Kategorien abstrahiert, welche eine übergeordnete Position einnehmen und die Theoriebildung erleichtern. Die Daten werden zudem ständig mittels minimaler oder maximaler Fallkontrastierung verglichen, um diese gewonnenen Konzepte und Kategorien zu präzisieren, zu elaborieren und eventuelle Varianten zu berücksichtigen. Dadurch ist der Forschungsprozess insgesamt nicht linear ausgerichtet, sondern springt oftmals zwischen den einzelnen Stufen hin und her (Przybonski/Wohlrab-Sahr 2010: 194ff). Als erster Schritt wurde ganz im Sinne von Reiner Keller eine »Sondierung des Untersuchungsfeldes« (Keller 2007: 82) vorgenommen, um einen ersten Überblick über den Untersuchungsgegenstand, den Forschungs- und Diskussionsstand, und das anvisierte Feld zu erhalten. Für diesen ersten Einblick in das Forschungsbild diente vor allem die Rezeption der teilweise bereits benannten chinesischen und internationalen Forschungsarbeiten in der Frauen-, Jugend- und Geschlechterforschung, wie auch Schriften zur Konsumkultur, zum neuen Mittelstand und zu sozioökonomischen Transformationsprozessen seit der Reformära. Durch die intensive Einarbeitung in den Stand der Frauenforschung in China und des Studiums der Frauengeschichte mit besonderem Fokus auf gesellschaftliche Transformationen und ihre Rückkopplungen auf die Position der Frauen in der Gesellschaft ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der notwendige Wissenshintergrund geschaffen, um sich mit den Fragen der Geschlechterkonstruktion im gegenwärtigen chinesischen Populärdiskurs unter Berücksichtigung der historischen, sozialen und ökonomischen Hintergrundbedingungen auseinanderzusetzen. Hierbei wurde nicht nur ein Wissensfundus über breit gefächerte Themenbereiche - von feministischen Theorien und ihren Auswirkungen, Kontroversen des Sexualitätsdiskurses bis hin zu Trends wie Body writing durch Literatinnen erarbeitet, sondern auch soziale Phänomene wie die Ausweitung individualistischer Tendenzen in der chinesischen Gesellschaft, die Diskussion um das virulente Wertevakuum nach Zerstörung der sozialistischen Ideologie durch den

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Einbruch kapitalistischer Normativitäten sowie die Auswirkungen der Marktlogik in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens, die Wissensproduktion im Hinblick auf Diskurshegemonien zwischen Staat und Intellektuellen/Wissenschaft als auch diverse konfliktbehaftete Prozesse im urbanen Raum wie Migration, soziale Stratifikation und Mechanismen der In- und Exklusion, Gentrifizierung sowie Agenden der staatlichen Sozialpolitik berücksichtigt. Nachdem so eine forschungslogisch angeleitete Auswertung wissenschaftlicher Sekundärliteratur im Hinblick auf die formulierten Fragestellungen und Erkenntnisinteressen vorgenommen wurde, erfolgte im nächsten Schritt die Auswahl des konkret zu untersuchenden Datenmaterials nach dem Prinzip der Grounded Theory in Abhängigkeit konkreter Forschungsfragen. Durch die bereits in der Fragestellung gezogene Eingrenzung müssen die Analysetexte nicht nur dem spezifischen Genre der Ratgeberliteratur, sondern dem konkreten Sektor der Frauen- und Beziehungsratgeber entstammen. Eine erste Recherche in chinesischen Universitätsbibliotheken und akademischen Datenbanken stellte sich als nicht zielführend heraus, da die meisten davon Bücher dieses Genres als Trivialoder »Vulgärliteratur« nicht in ihr Register aufnehmen. Ergiebiger erwies sich dagegen der populäre Buchmarkt. Nach einer ersten Vorrecherche auf Onlinebuchhandlungen wie amazon.cn und bookschina.com wurden rund 3.000 Bücher als (Ratgeber-)Bücher für Frauen identifiziert.3 Diese Einteilung beruht größtenteils auf der automatischen Kategorisierung der angebotenen Werke durch interne Suchmaschinen der Webseiten und ist daher ein recht unzuverlässiges Raster. Einerseits beinhaltet es oftmals eine Vielzahl von Spezialratgebern, die zur Klärung der Forschungsfragen nicht viel beitragen können, andererseits inkludieren diese Kategorisierungen auch Übersetzungen von Ratgebern westlicher Autoren,

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Die Webseite amazon.cn führt unter dem Suchbegriff »nüxing duwu« 3.133 Treffer auf, die in die Unterkategorien »Ermutigung für Frauen« (nüxing guzhi dushu), »Frauenpsychologie« (nüxing xinlixue), »Populäre Psychologie« (xinlixue tongsu duwu), »Persönlichkeitspsychologie« (renge xinlixue), »Schönheitskultivierung für Frauen« (nüxing meili xiuyang), »Persönlichkeitskultivierung« (geren xiuyang), »Morallehre« (lunlixue), »Ermutigung und Erfolg« (guzhi yu chenggong), »Schönheitsbücher« (meilishu) und »Psychische Gesundheit für Frauen« (nüxing xinli jiankang) unterteilt sind. Die Seite dangdangwang.com führt 95 Treffer zur Kategorie »nüxing duwu« auf, macht allerdings keine weiteren Unterteilungen. Die Seite china-pub.com weist 9 Treffer auf. Die Webseiten 99read.com und bookschina.com geben nur zum Suchbegriff »Frauen« (nüxing) Ergebnisse aus: 99read.com hat dazu 9 Bücher im Angebot; bookschina.com 1.107 Bücher – vom wissenschaftlichen Fachbuch zur Frauengeschichte über Modebildbände bis hin zum Diätbuch für Frauen.

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die jedoch wenig Auskunft über die lokalen Diskurse in China geben und somit für die Untersuchung ebenfalls ungeeignet und damit auszuschließen sind. Die Auflistung der gesamten thematisch mehr oder minder passenden Literatur sprengte nicht nur die Grenzen der materiellen Beschaffungskapazitäten, sondern auch die einer qualitativen Tiefenanalyse, was zum Entschluss führte, das Sample durch anderweitige Recherchemethoden zusammenzustellen. Konkret bedeutete dies den mehrmaligen Besuch diverser gut besuchter und breit sortierter Buchhandlungen in Peking im Ablauf von zwei Jahren (2012-2013) und die Sichtung des dort ausgestellten relevanten Datenmaterials. Hier wurde vor allem alles berücksichtigt, was unter der Kategorie »nüxing duwu« (Frauenliteratur) auslag. Eine systematische Auswahl gestaltete sich jedoch schwierig, da zu dem Genre keine Bestsellerlisten existieren und sonstige Auflagen- oder Verkaufszahlen der Ratgeber sehr schwer ausfindig zu machen sind. Das aktuelle Genre der Frauenratgeber ist in China noch eine sehr junge Erscheinung und erschloss den Buchmarkt erst 2005 mit mittlerweile zunehmender Popularität. Seitdem sind auf dem Markt der »Literatur für Frauen« jährlich enorme Wachstumsraten zu verzeichnen und es wird ein Gesamtumsatz von über 50 Milliarden Renminbi erwartet, so dass sich selbst viele renommierte Verlage zunehmend auf die Diversifizierung dieser Sparte konzentrieren. Dennoch scheint es weiterhin ein eher unliebsames »Steckenpferd« zu sein, zumindest werden offiziell weder bei den Verlagen noch in der Forschung Statistiken über Auflagen und Verkaufszahlen oder sonstige marktforschungsrelevante Daten veröffentlicht.4 Da also weitere Anhaltskriterien zu einer systematischen Auswahl fehlten, beschränkte ich mich auf den Erwerb der jeweils deutlich an exponierter Verkaufsstelle sichtbar auslegten Werke in der Annahme, dass es sich hierbei sowohl um die populärsten Neuerscheinungen als auch die bestverkauften Longseller handeln müsste. Ein weiterer Schritt der Auswahl erfolgte nach dem Prinzip der sowohl minimalen als auch maximalen Fallkontrastierung entlang der thematischen Schlagwörter »Frau« (nüxing, nüren), »Glück« (xingfu), »Schönheit, Charme« (meili), »Stil, Eleganz« (qizhi, youya), »Liebe« (aiqing), »Ehe bzw. heiraten« (hunying, jia), »Mann« (nanren) (allerdings nur im Bezug auf »Frau«),

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Eine Recherche zu den konkreten Auflagen- und Verkaufszahlen blieb erfolgslos. Ich fragte zehn Verlage, die mehr als fünf Frauenratgeberbücher in ihrem Verlagsprogramm führen, sowie drei Buchhandlungen persönlich und per Email an, doch wurde immer mit Pauschalantworten, das »wisse man nicht so genau« oder der zuständige Bearbeiter sei nicht zu sprechen, abgewiesen bzw. erhielt auf die schriftlichen Anfragen keine Antwort.



E INFÜHRUNG

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»Wissen« (zhishi), »Klugheit, klug« (zhihui, congming), »Leben, Lebensart« (shenghuo, huofa). Somit wurden jeweils zwei bis drei laut Titel und Inhaltsbeschreibung sehr ähnliche Werke mit jeweils solchen mit sehr konträren Ansichten gepaart. Im Laufe dieses Recherche- und Sortierungsprozesses wurden zudem folgende Aufnahme- und Ausschlusskriterien formuliert: Ausgeschlossen wurden jegliche Werke der Belletristik und des Sachbuches. Dabei ist die exakte Klassifizierung von Ratgebern oftmals nicht ganz trennscharf möglich. Gerade das populäre Sachbuch (z.B. Sexualaufklärung und -hygiene) kommt der Ratgeberform oftmals sehr nahe. Ebenso Werke der allgemeinen »Lebensweisheit« und der »Erbauung«, welche vor allem aus allegorischen oder metaphorischen Geschichten bestehen und ein ähnliches Ziel der Lebensberatung verfolgen, jedoch keine konkret ausformulierten Botschaften und Handlungsvorschläge darbieten. Des Weiteren ausgeschlossen wurden ebenfalls solche Werke, die zwar die Kriterien des Ratgebers erfüllen und sich explizit an eine weibliche Leserschaft richten, jedoch nicht oder nur am Rande die Themen »Liebe«, »Ehe«, »Sexualität«, »Geschlecht/Geschlechterbeziehung«, »Frausein«, »Weiblichkeit« behandeln, sondern vielmehr Tipps formulieren, die von der beruflichen Karrieregestaltung über gewinnbringende Finanzanlage bis zur erfolgreichen Kindererziehung reichen. Ebenfalls keine Beachtung fanden chinesische Übersetzungen von Ratgebern ausländischer Autoren und Autorinnen. Stattdessen wurde bei der Zusammenstellung des Samples Wert darauf gelegt, dass die Titel der Bücher bereits suggerieren, wie eine Frau »zu sein« bzw. was sie »zu tun« oder »zu haben« hat. Ebenfalls wurde auf ein Erscheinungsdatum nach 2008 geachtet, damit der Entstehungsprozess vor einem ähnlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund garantiert ist. Dadurch entstand im Laufe von zwei Jahren ein Fundus von 40 Frauenratgebern. 3. Auswertung und Analyse Ausgehend von den Prämissen der Grounded Theory und Kellers Ergänzungen (Keller 2007) wie auch der genealogischen Diskursanalyse wurde ein eigenes Verfahren zur Analyse und Auswertung des Datenmaterials entwickelt, das bei allen Texten einheitlich zur Anwendung kam. Die wie oben geschildert zum Sample zusammengestellten Primärliteraturquellen wurden in einem ersten Schritt auf Herkunft und Zielpublikum erfasst und untersucht. Da wie bereits erwähnt wenig zum Hintergrund der Bücher in Erfahrung zu bringen ist, fällt eine genaue Charakterisierung schwer. Auch die Autoren bzw. Autorinnen bleiben oftmals nahezu im Dunkeln. Meist beschränkt sich die Autorenidentität auf

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die Nennung eines Namens auf dem Buchcover, der in einigen Fällen ganz offensichtlich ein Pseudonym ist (z.B. »Hausfrau Xiaoxiao«). Bis auf wenige Ausnahmen von Autoren und Autorinnen, die im Klappentext stichpunktartig vorgestellt werden, lassen sich weder im Buch noch auf der Verlagshomepage oder im Internet genauere Angaben zur Person und ihrer Qualifikation finden. Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei der Autorenschaft nicht um professionelle Fachexperten und Expertinnen mit entsprechender Vorbildung und Fachwissen zum Thema handelt, sondern durchweg um »Laienexperten und -expertinnen«, die sich aufgrund spezifischer eigener Lebenserfahrungen dazu berufen fühlen, ihren Mitmenschen gewisse Erfahrungen und Sichtweisen weiterzugeben, die sie mit selektiven Exzerpten von populärem Fachwissen, historischen und aktuellen Beispielgeschichten, Allegorien und Erfahrungsberichten untermauern. So heterogen diese nahezu unbekannte Autorenschaft auch sein mag, so homogen erweist sich erstaunlicherweise die anvisierte Leserschaft. In der Analyse stellte sich heraus, dass in allen Büchern die zur Legitimierung der jeweiligen Thesen herangezogenen Fallgeschichten ausschließlich von White-Collar-Frauen im Alter zwischen ca. 23 und 30 Jahren handeln. Die Protagonistinnen sind durchweg junge, urbane Frauen mit Universitätsabschluss, die in einem Bürojob tätig sind und sich offensichtlich nicht in akuter ökonomischer Unsicherheit befinden. Es findet sich kein einziges Exempel aus anderen sozialen Schichten (z.B. Unterschicht oder Stadt-Land-Migrantinnen) oder Berufsgruppen (z.B. Servicesektor). Dadurch ist rückzuschließen, dass sowohl die Autoren/innen als auch Leserinnen dieser Ratgeber höchstwahrscheinlich der so genannten »neuen Mittelschicht« Chinas angehören müssen, um sich so eindeutig mit deren spezifischer Lebenswelt und -erfahrung identifizieren bzw. davon berichten zu können. Damit kann zumindest in diesem ersten Schritt der Analyse das zentrale Anliegen sowie die offensichtlich angesprochene soziale Schicht der Ratgeber ausgemacht und für die weitere Untersuchung und Theoriebildung berücksichtigt werden. Die in einer ersten sequenzanalytischen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zum jeweiligen Werk wurden in einem Abstract zusammengefasst. Im zweiten Schritt erfolgte nun die textbasierte Analyse im Hinblick auf die inhärenten Diskurse zu Geschlechtervorstellungen, Liebesideale und Zweierbeziehung. Dabei können die Diskurse sowohl strukturell als auch inhaltlich untersucht werden. Fällt der Fokus vor allem auf inhaltliche Merkmale, kann die Vorgehensweise weiter spezifiziert werden. So können diese nach den behandelten Phänomenen klassifiziert werden, es kann nach kollektiven Deutungsmustern der Diskurse gefragt werden, ebenso wie nach der Phänomenstruktur (Ursache, Verantwortung/Zuständigkeiten, Handlungsbedarf/Problemlösung, Selbstpositi-

E INFÜHRUNG

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onierung, Fremdpositionierung, Wertebezug) und letztlich nach darin verankerten narrativen Strukturen, die die zuvor genannten Elemente miteinander in Bezug setzen und als konfigurativer Akt disparate Zeichen und Aussagen zu einer »Erzählung« der Welterfahrung verknüpfen. Im vorliegenden Fall wurden die Bücher des Samples zunächst im Sinne des close reading gelesen, der rezipierte Inhalt zuerst separiert und dann kategorisiert und den vorläufigen, übergeordneten Dispositiven von »Weiblichkeit bzw. Frausein«, »Schönheit«, Mann – Frau«, »Frau – Familie«, »Frau – soziales Umfeld/Berufstätigkeit« zugeordnet. Diese wurden dann im nächsten Schritt gemäß den Fragestellungen weiter herunter gebrochen und die zugeordneten Textstellen detaillierter daraufhin untersucht. 5 Besonders prägnante Schlüsselstellen zur jeweiligen Thematik wurden einer Feinanalyse unterzogen und kodiert. Die Kodierung stellt gemäß der Grounded Theory ein Verfahren dar, »durch [das] die Daten aufgebrochen, konzeptionalisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozess, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden« (Strauss/Corbin 1996: 39). Dies bedeutet konkret, dass in einem mehrstufigen Prozess aus den Rohdaten zuerst »Konzepte« entwickelt werden, aus diesen dann wiederum durch axiales Kodieren »Kategorien« entstehen, die mit Hilfe des handlungstheoretisch-interaktionistischen »Kodierparadigmas« untereinander in Verbindung stehen und auf die für die Studie relevanten Analysedimensionen Problemdiagnose, Bedingungen, Kontext, Legitimationsstrukturen und korrelierende Wissensbestände, Handlungsstrategien und Konsequenzen abzielen. Alle ausgewählten Ratgeber wurden entlang dieser Analysedimensionen untersucht. Der Vergleich der einzelnen Ratgeber stellt keine zusätzliche Analysekategorie dar, sondern erfolgt parallel zum Forschungsprozess. Bereits während der Analyse des jeweiligen Falls wurden Hypothesen formuliert und Stichpunkte festgehalten, welche im Verlauf der Untersuchung durch weitere Fallvergleiche ergänzt oder revidiert wurden. Dadurch wiederholte sich der Prozess des Kodierens mehrfach: zuerst am einzelnen Ratgeber, dann entlang spezifischer Fragestellungen und schließlich noch im Gesamtvergleich. Im letzten Schritt wurden

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Die chinesischen Quellen wurden nicht vollständig ins Deutsche übertragen, sondern nur die während der Analyse als relevant identifizierten Schlüsselstellen. Im nachfolgenden Text werden diese Exzerpte in ihrer von der Autorin angefertigten deutschen Übersetzung als Originalzitate aus den chinesischen Ratgeberbüchern aufgeführt. Zitate aus englischsprachigen Quellen werden unverändert im Original übernommen.



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die daraus gewonnenen Erkenntnisse in den zeitgeschichtlichen Kontext der Ratgeber eingebettet und in Bezug gesetzt.

AUFBAU

DER

S TUDIE

Nach dieser stichpunktartigen theoretischen und methodischen Einführung erfolgt in den ersten drei Kapiteln der Arbeit zuerst ein Überblick über die möglichen Hintergründe für die zunehmende Popularität von Ratgeberliteratur im gegenwärtigen China. Im zweiten Kapitel wird zuerst die Funktion und Bedeutung von Ratgebern als populäre Formen des therapeutischen Diskurses im gesellschaftlichen »Trend« der Selbstoptimierung diskutiert. Diese tragen nicht nur zur Etablierung eines gewissen Wissensvorrats zur Setzung von Standards von »Normalität« bei, indem sie erstrebenswerte Normative von weniger erstrebenswerten unterscheiden, sondern geben auch das Diktum der Selbstverwirklichung aus. Diese äußert sich gemeinhin in einem »gelungenen, glücklichen Leben«, welches mit der Praxis der beständigen Introspektion bzw. Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung erreicht werden soll. Die Arbeit am Selbst nach Anweisung therapeutischen Beistands wird insbesondere in Gesellschaften mit steigender Komplexität relevant, wo durch Prozesse der Modernisierung und Individualisierung, sowie durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und Auflösung traditioneller sozialer Zusammenhänge und neuen Herausforderungen durch den technischen und ökonomischen Fortschritt dem Individuum die Möglichkeit zur eigenen umfassenden Erfahrungssammlung genommen wird. Auf sich selbst gestellt, trifft das Individuum inmitten seiner Wahloptionen und Normen- und Regellosigkeit auf die »Ratlosigkeit der Moderne«, wo der professionelle Beistand konventionelle Formen der Orientierung wie Religion, Familie oder Ideologie abgelöst hat. Damit dient er als individuelle Ressource für Sinn und Orientierung, zugleich auch als gesellschaftliche Institution für kollektive Bewältigung von kulturellem, sozialem und ökonomischem Wandel. Diese Funktion zeigt sich auch bei einem genaueren Blick auf die Geschichte der Beratung in China im dritten Kapitel. Bereits im historischen Rückblick lässt sich ersehen, dass Medien des Rates in China seit jeher einen fest etablierten Platz in der Aushandlung individueller Handlungsstrategien und gesellschaftlicher Normenvermittlung einnahmen. Dies hat sich angesichts neuer Herausforderungen und struktureller Änderungen seit der Reformära ab 1976 noch verschärft. Mit dem ökonomischen Aufschwung kam es zu einer rapiden Veränderung individueller Lebenswelten durch sozialen Aufstieg, vermehrte Mobilität und dem Wegbruch von traditionellen Familien- und Gemeinschaftsmodellen.

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Die zunehmende Individualisierung bewirkt in Kombination mit dem Rückzug staatlicher Inventionen ins Privatleben und einem gesteigerten Gefühl für soziale und ökonomische Unsicherheit das Phänomen einer beschleunigten »zweiten Moderne« und endet mit der Freisetzung eines im wahrsten Sinne des Wortes rat- und orientierungslosen Individuums aus sämtlichen sozial relevanten Bezugsrahmungen. Im vierten Kapitel wird die Frage nach der Relevanz von Ratgebermedien im gegenwärtigen China erneut aufgegriffen, diesmal jedoch aus der spezifischen Perspektive von strukturellen Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft beleuchtet. Hierbei wird insbesondere die gesellschaftliche Gruppe der neuen Mittelschicht und deren Bemühungen zur sozialen Abgrenzung wie auch ihre Versuche der gruppenspezifischen Identitätsbegründung in den Fokus gestellt. In den darauffolgenden Kapiteln konzentriert sich die Arbeit dann ausschließlich auf die hermeneutische Ratgeberauswertung selbst und stellt, sortiert unter fünf Oberkategorien, die Ergebnisse der Analyse vor. Im fünften Kapitel stehen dabei die Diskurse zum Schönheitshandeln und der Frage nach weiblicher Attraktivität und ihre artifizielle Herstellung, sowie die zunehmend häufiger diskutierten Zusammenhänge von Aussehen und Erfolg im Mittelpunkt. Dem schließt sich unmittelbar eine Diskussion über die Kommunikation von »Natürlichkeit« und »innerer Schönheit« an. Im sechsten Kapitel folgt die Auswertung der in den Ratgebern diskutierten Hinweise zur (moralischen) Selbstkultivierung, welche neben allgemeinen Tugenden des Gutmenschentums auch geschlechterspezifische Attribute wie Sanft heit, Toleranz und Güte inkludiert. Diese werden in Bezug zu neukonfuzianischen Ideen und dem seit den 2000ern aufkommenden Trend des Mikroaktivismus in China gesetzt. Das anschließende Kapitel widmet sich den Themen der weiblichen Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sowie Berufstätigkeit, wobei hier insbesondere Rollenverteilungen, ökonomische und familiäre Geschlechterungleichheiten und die Dilemmata der modernen »Du Lalas« zwischen Haus- und Karrierefrau kritisch beleuchtet werden. Im achten Kapitel steht unter dem Fokus der Intim- bzw. Ehebeziehung das Geschlechterverhältnis unter Beobachtung. Bei der Analyse der Partnerwahl, Eheanbahnung bis hin zum Liebeskonzept wird hier aber vor allem der weibliche Pragmatismus bei der Partnerwahl und dessen Auswirkungen auf Liebessemantiken und -ideale deutlich. Im letzten Kapitel rundet schließlich die Beschäftigung mit Diskursen über Sexualität die Ratgeberanalyse ab. Auch hier werden binäre Geschlechterent-

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würfe, die, wie noch darzulegen sein wird, größtenteils auf einer recht traditionellen geschlechtsspezifischer Sexualität rekurrieren, sichtbar. Abschließend werden die Ergebnisse der Analyse nochmals kurz im Hinblick auf die Frage nach weiblicher Handlungsmacht im von den Ratgebern konstruierten Frauenbild resümiert, offene Fragen skizziert und Anknüpfungspunkte künftiger Forschung markiert.

Gut ist nicht gut genug Ratgeber zwischen individueller Selbstverwirklichung und sozialer Normierung

D IE E NTDECKUNG DES S ELBST UND DES THERAPEUTISCHEN D ISKURSES

DIE

E NTSTEHUNG

Die Auswirkungen des therapeutischen Diskurses in postmodernen Gesellschaften sind geradezu allgegenwärtig: Die Eigenverantwortlichkeit für ein gelungenes Leben, die Arbeit am Ich, welches kontingent und veränderbar wird, die Verwebung ökonomischer Logik mit Konzepten von Authentizität und Emotionalität, die Problematisierung von Intimbeziehungen und Sexualität sind keine »natürlichen« Dispositionen des Lebens, sondern therapeutisch erzeugte Phänomene. Dies sind vielleicht die markantesten Beispiele für die Diffusion von Erkenntnissen des therapeutischen Diskurses in den Alltagsdiskurs, indem sie über den Weg einer flächendeckenden (sozialen) Verbreitung und (psychischen) Internalisierung zu »Weisheiten« wurden. Dabei ist die »Arbeit am Selbst« und dessen Problematisierung und Reflexion die konsequente Folge einer Popularisierung der Psychologie und der Psychotherapie von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst durch die Entwicklung des therapeutischen Diskurses (der im Genre der Ratgeberliteratur seinen populärwissenschaftlichen Niederschlag findet), konnte sich ein Konzept durchsetzen, das man die individuelle Handlungsmacht nennen könnte; dabei geht es im Kern darum, dass das Individuum sich und seine Situation reflektiert und an sich »arbeitet« – in welchem Kontext auch immer (Illouz 2009). Dieser Diskurs sieht Identität als ein offenes Konzept, das nach eigenen Wünschen und Zielen aktiv gestaltet werden kann. Losgelöst von den Fesseln sozialer und ökonomischer Determinanten – die nun allenfalls als Handlungskontexte fungieren –, obliegt in der Moderne die Verantwortung für sich dem Individuum selbst.

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Seinen Anfang nahm die Geschichte der Therapie mit der Erkenntnis der mind-cure-Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass Krankheiten und ungewünschte Lebenszustände durch alleinige geistige Anstrengungen zu heilen oder zumindest zu verbessern seien (Illouz 2006: 70). Dadurch etablierte sich ein Narrativ des Selbstwandels und der Selbstformung. Zeitgleich verloren durch Säkularisierung, Industrialisierung und die Etablierung eines von Politik und weiteren Reglements relativ unabhängigen Bürgertums und der Konstruktion des privaten Raums bisher für die Lebensgestaltung relevante Ideologien und Institutionen, die sich den individualistischen und psychologischen Konzeptionen des Selbst entgegen stellen hätten können, an Einfluss und ebneten den Weg für das Individuum sich seiner selbst anzunehmen. Dieser Prozess intensivierte sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als die Reifung und Ausbreitung der Konsumgütermärkte im Verbund mit individualisierenden Trends wie der sexuellen Revolution zu einer gesteigerten Sichtbarkeit und Autorität der Psychologie im Alltag des und der Einzelnen beitrugen. Denn beide Diskurse – der Konsumismus wie die sexuelle Befreiung – machten in gleicher Weise das Selbst, die eigene Sexualität und das individuelle Privatleben zu Arenen der Bildung und des Ausdrucks von Identität. Doch die reine Fokussierung auf das Selbst ist keineswegs die einzige Operationsweise des therapeutischen Diskurses. Nachdem der Blick auf die Selbstbespiegelung gelenkt ist, muss das Vorgefundene einer kritischen Prüfung unterzogen werden, denn das Narrativ der Selbsthilfe ist über die epistemologische und moralische Komponente eng verwoben mit dem Narrativ der stets vorhandenen Möglichkeit psychischen und sozialen Scheiterns, es wird sogar gewissermaßen von diesem angetrieben – nur wenn etwas nicht funktioniert oder falsch läuft, bedarf es überhaupt einer Korrektur und Verbesserung in der Zukunft. Die Techniken der Selbstergründung funktionieren nur, wenn Komplikationen in der Erzählung des Ich zugelassen werden – »was hindert mich daran, glücklich/ erfolgreich/intim/befriedigt etc. zu sein?« –, und so auf strukturelle Weise das eigene Leben allgemein als unzulänglich und damit als verbesserungsbedürftig begreifen lässt. Die individuelle Handlungsmacht ergibt sich also im aktiven Abwenden und Gegensteuern von negativen Folgen, sie ist somit immer eine gegen das so genannte Scheitern gerichtete Aktivität. Was unter einem »gescheiterten Leben« zu verstehen und was verbesserungsbedürftig ist, erzeugt der therapeutische Diskurs mit der Etablierung eines gewissen Standards von Normalität und dem Diktum der Selbstverwirklichung als Ziel des Selbstnarrativs. Dadurch steht zugleich auch immer das Narrativ der Krankheit bzw. der Abnormalität im Vordergrund, ist dies doch eine Voraussetzung dafür, dass eine Besserung eintreten kann. Aber andererseits sind

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die Definition von Normalität und der dafür benötigte Wissenskanon in der modernen Gesellschaft dem Problem des akuten Werteverfalls ausgesetzt: Was gestern noch als normal und gesund galt, ist es heute womöglich nicht mehr oder gar schädlich, so dass Beratung in letzter Konsequenz sowohl als Problemlöser wie auch als Problemgenerator wirkt. Die unsichere und sich ständig verändernde Dichotomie zwischen Krankheit und Normalität führt dazu, dass das Konzept der Selbstverwirklichung zu einer kulturell und sozial konstruierten und damit zeitlichen, räumlichen und soziokulturellen Faktoren unterliegenden Kategorie wird, die ein sisyphoshaftes Spiel Derridascher Differenzen produziert (Illouz 2006: 75f.). Als Endpunkt der Selbstverwirklichung wird zumeist die Vorstellung von »Eudimonia« imaginiert, ein Zustand des Glückes und der Zufriedenheit oder anders gesagt: ein »gelungenes, glückliches Leben«, welches mit der Praxis der beständigen Introspektion bzw. Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung erreicht werden soll. Der therapeutische Diskurs und die Sprache der Therapie haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Kultur der Moderne bereits so stark und flächendeckend verbreitet wie nur wenige andere kulturelle Narrative. Dieser Diskurs trug wesentlich zu strukturellen Veränderungen in der sozialen und psychischen Selbstbetrachtung, zur Formierung von Wissensgesellschaften und zur (Um-)Formierung kultureller Muster und neuer Selbstverständnisse bei, und fand letztlich seinen Niederschlag in konkreten sozialen Beziehungen und Handlungen. Abgesehen vom Liberalismus und dem Prinzip der Leistungsgesellschaft in der Marktwirtschaft hat wohl kein kultureller Diskurs so viel Einfluss auf die Modi des Selbst ausgeübt und wurde in so hohem Maße institutionalisiert.1 Das therapeutische Narrativ wurde zu einem der wichtigsten Codes, um das Selbst auszudrücken, zu gestalten und anzuleiten. Zugleich erfordert dieser Code immer auch einen spezifischen Wissensfundus – darüber, was aktuell sozial und kulturell als normal und erstrebenswert gilt und mit welchen Methoden dies verwirklicht werden kann – zur Anleitung und Durchführung von Handlungen; dadurch gilt der therapeutische Diskurs als einer der Repräsentanten für die Verwebung von Kultur und Wissen in postmodernen Gesellschaftsgefügen. Er zeigt die Entstehung von wortwörtlichen Wissensgesellschaften, indem Expertenwissen konstitutiv in soziale Beziehungen hineingetragen wird, es geht hier gewissermaßen um ein »Aufplatzen« von Wissen und die Entladung von Wissensbeziehungen in die Gesellschaft hinein (Knorr Cetina 1997). Hierbei spielen gerade

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Zum Beispiel in den Bereichen Erziehung, Unternehmensführung, Resozialisierung, Armee etc.



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die Medien mit diversen Formaten wie Selbsthilfe-Ratgebern, Workshops, Radio- und Fernsehsendungen, Romanen, Zeitschriften und Internetforen eine wichtige Rolle als Plattformen für die Verbreitung des therapeutischen Wissens in der Gesellschaft, wo es zu einem wesentlichen Bestandteil des kulturellen und moralischen Universums vor allem der Mittelschicht wird: »Wissenssysteme und symbolische Systeme machen uns zu denen, die wir sind, weil sie innerhalb von gesellschaftlichen Institutionen in Kraft gesetzt werden, die bestimmten Arten des Wissens und Sprechens Autorität verleihen und sie zur Routine machen. Auf diese Weise können sie zu jenen unsichtbaren semiotischen Kodes werden, die das alltägliche Verhalten organisieren und die Interaktionsrituale des Selbst strukturieren.« (Illouz 2006: 19)

Mit dieser umfassenden gesellschaftlichen Wirkkraft geriet der therapeutische Diskurs bald auch in den Fokus von vor allem kommunitaristischen Gesellschaftskritiker/innen und Gegner/innen der Moderne. So wird der Psychologie und dem therapeutischen Diskurs die Schaffung eines atomistischen Individuums vorgeworfen, das genau das Problem, welches es vorgeblich behandeln wolle – nämlich dass das Eingehen und Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen in der modernen Gesellschaft zunehmend schwieriger wird – überhaupt erst produziere, indem die Menschen dazu ermuntert würden, sich und ihre egoistischen Bedürfnisse unter dem Stichwort der Selbstverwirklichung über die Empathie mit Mitmenschen zu stellen und damit einen utilitaristischen Narzissmus zu fördern (ebd.: 11). Gerade dieser Rückzug ins »leere Schneckenhaus« des Selbst trifft bei Kritikern und Kritikerinnen des therapeutischen Diskurses auf Widerstand, da sie in der Konsumorientierung in Kombination mit der therapeutischen Praxis die Integration des Selbst in die Institutionen der Moderne erkennen, infolge dessen die Opposition gegen die Gesellschaft mit Hilfe von zeitgleich immer schwächer werdenden Kultur- und Wertesystemen an Kraft verliere und damit auch bürgerliches, soziales und politisches Engagement zurückdränge, da das Selbst seines gemeinschaftlichen und politischen Gehalts beraubt und stattdessen einer narzisstischen Selbstbespiegelung den Vorzug gebe. Prominentester Psychoanalyse-Kritiker in diesem Sinne ist wohl Michel Foucault, der in diesem Projekt der Selbstbefreiung nur eine andere Form von Disziplinierung und Unterwerfung unter die Macht der Institutionen mit anderen Mitteln sah und dabei Parallelen zu klassischen Institutionen der Kategorisierung, Normierung und Kontrolle von individuellen Bedürfnissen wie der Beichte zog (vgl. Foucault 1977, Foucault 1993, Foucault et al 1993).

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Dementsprechend entwickelte er daraus seine Theorie der Technologien des Selbst als Ausdruck der Verwebung von Selbst- und Fremdführung aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive. Das wiederum bedeutet, dass Beratung »zur Schlüsselkompetenz von Subjekten in einer neoliberal regierten und neosozial organisierten Gesellschaft [avanciert]. Sie wird zu einer Selbsttechnologie mit sozialitätsstiftender Wirkung, kurz: zu einer Regierungstechnologie.« (Maasen 2011: 17) Das Selbst ist nicht Schicksal, sondern Option und der Imperativ des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2005) verlangt eine Selbstoptimierung in allen Bereichen mit dem Ziel der Maximierung von Lebenschancen unter Einsatz aller verfügbaren Technologien und Wissen, weshalb das Selbst zahlreichen Prozessen der (Re-)Konstruktion und Modifizierung unterworfen werden muss. Das Ethos der Selbstständigkeit und des Selbstvertrauens einer Gesellschaft mit liberalen Zügen machen eine voluntaristische Verantwortung für die Zukunft zur Pflicht des Individuums, »[d]enn wer sein Selbst (seinen Körper, seinen Geist, seine Psyche) nicht modelliert, nicht verbessert oder nicht vervollständigt, huldigt nicht länger der (quasi gottgewollten) Natur, sondern trifft eine bewusste Entscheidung. Das Selbst ist nicht Schicksal, sondern Option« (Maasen 2011: 16).

Dafür braucht das Individuum gewisse Selbstführungskompetenzen, die es im Widerstreit zwischen Pflicht und Anspruch, zwischen Individualität und gesellschaftlichen Erwartungen ausarbeiten muss. Hierbei steht nun wiederum der therapeutische Diskurs als gesellschaftliches Kontroll- und Ordnungsinstrument helfend zur Seite (Hellerich 1985: 15). Er gewährt dem Subjekt durch die Propagierung des Ethos der Selbständigkeit und des Selbstvertrauens die gefühlsmäßige Selbständigkeit, indem durch diverse Techniken der Prävention oder Optimierung (z.B. Gesundheits- oder Hygienepolitik) eine voluntaristische Zukunftsorientierung zur individuellen Pflicht ernannt wird (Illouz 2011: 312). Hier nun können trotz des Imperativs der Selbstkontrolle und -führung gouvernementalitätswirksame Strukturen der Fremdsteuerung und Formung ansetzen: durch die Adressierung individueller Selbstführungskompetenzen werden »indirekte« soziale Erwartungen generiert, die das Individuum zum Aufgreifen bestimmter Optimierungsoptionen zwingen: »Die treibende Kraft zur Gestaltung des eigenen Selbst ist die Furcht, aus (der Mitte) der Gesellschaft herauszufallen« (Maasen 2011: 20), und so schafft die Denormalisierungsangst gesellschaftliche Integration via Normalverteilung. Auf diese Weise setzte der psychoanalytische bzw. therapeutische Diskurs seinen Siegeszug fort und veränderte durch die Einführung von Konzepten wie

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Emotionalität und Authentizität den Kommunikationsstil; er etablierte die Idee der »Selbstverwirklichung« als individualistisches Lebensziel und überantwortete in Zeiten wegbrechender institutioneller und normativer Rahmenstrukturen durch das Narrativ der Arbeit am Selbst die Verantwortung für die Lebensgestaltung dem Individuum selbst. Zugleich sicherte sich der therapeutische Diskurs durch die Konstruktion dieser Narrative eine dauerhaft unabdingbare Position im Lebensalltag, denn der Imperativ der Selbstverantwortlichkeit bedarf einer ständigen therapeutischen Begleitung auf dem Wege der Selbstverwirklichung: eines »Ratgebers«, der aufklärt und in multioptionalen Zeiten den richtigen Weg weist.

D IE R ATLOSIGKEIT DER M ODERNE : R ATGEBER O RIENTIERUNGS - UND O PTIMIERUNGSHILFEN

ALS

Dies wird insbesondere in Gesellschaften mit steigender Komplexität notwendig, wo durch Prozesse der Modernisierung und Individualisierung, mithin durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Auflösung traditionaler sozialer Zusammenhänge sowie durch neue Herausforderungen im Zuge technischen und ökonomischen Fortschritts dem Individuum die Möglichkeit zur eigenen umfassenden Erfahrungssammlung unmöglich gemacht wird: »Die Dynamik der Individualisierung, die Vervielfältigung von Beobachterperspektiven, die Delegitimierung von Letztbegründungen und die Vermehrung des Wissens evozieren Verunsicherungen, die auf Seiten der Individuen als Ratlosigkeit durchschlagen.« (Duttweiler 2007: 46) Dies resultiert in der Diagnose Stefanie Duttweilers in einer »Ratlosigkeit der Moderne« (ebd.). Auch andere Vertreter/innen der Soziologie sehen vor allem im ökonomisch-soziostrukturellen Wandel der Gesellschaft ab den 1960er Jahren eine zentrale Ursache für die steigende Nachfrage nach therapeutischer Beratung und diskursiv-institutionellen Angeboten. Im Hinblick auf den »Psycho-Boom« ab den 1970er Jahren in Deutschland wird hierfür auf die zahlreichen Umbrüche in der »Zeit nach dem Boom« verwiesen: Politik, Wirtschaft und Kultur weisen mit unterschiedlichen Tempi und Dynamiken und allerlei Ungleichzeitigkeiten Phänomene auf, die als strukturelle Veränderungen der Gesellschaft betrachtet werden können. Zugleich ist es eine Phase nach dem Ende des westlichen wirtschaftlichen Booms und die Zeit des Durchbruchs der Globalisierung, während der bereits die Prozesse, die die 1990er Jahre bestimmen, formiert werden. Es kommt zu einem Einbruch neuer Produktions- und Wirtschaftsregime (wie u.a. den digitalen FinanzmarktKapitalismus), einem Strukturwandel des Arbeitsmarktes, einem Fortschreiten

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von wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen (Stichwort: Wissensgesellschaft), einer massenmedialen Revolution und einem zunehmenden Wandel der Sozialstruktur durch eine Verschärfung von sozialen Ungleichheiten in der Massenwohlstandsgesellschaft (Maasen 2011: 24). So erscheint der PsychoBoom in Westeuropa aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive als Reflex auf wirtschafts- und sozialstrukturelle Veränderungen der Gesellschaft nach dem Wirtschaftsboom, zugleich aber auch als ko-konstitutives Vehikel der strukturellen Veränderung von Gesellschaft und Kultur der Zeit (Stichwort: sexuelle Revolution). Er dient somit einerseits als individuelle Ressource für Sinn und Orientierung, aber er fungiert andererseits auch als gesellschaftliche Institution für die kollektive Bewältigung von kulturellem Wandel: »Unter den Bedingungen moderner westlicher Gesellschaften, in denen aufgrund von wachsender Mobilität, struktureller Arbeitslosigkeit oder der Erosion des traditionellen Familienmodells familiäre und freundschaftliche Nahbeziehungen entweder fehlen, gestört sind oder nicht mit individuellen Problemen belastet werden sollen, sucht man professionellen Beistand.« (Ebd.: 11)

Somit scheint Beratung in aller Form generell das Schicksal einer Gesellschaft zu sein, deren Normen flüssig geworden sind (Bänziger et al 2010: 22).

D ER ALLWISSENDE B EGLEITER – D AS G ENRE DER S ELBSTHILFE -R ATGEBER

LITERARISCHE

Wie aber gestaltet sich dieser therapeutische Beistand in seiner populären (Alltags-)Form? Das Genre der Selbsthilfe-Ratgeber, das sich auf dem Buchmarkt, aber auch im Zeitschriftensegment und später vor allem im Internet erfolgreich etablieren konnte, stellt eine populärwissenschaftliche Variante des therapeutischen Diskurses dar. Generell ist die Suche nach Rat freilich kein neuzeitliches Phänomen. Bereits als die orale Tradierungskultur durch die Erfindung des Buchdrucks den Übergang zu textbasierten Erzählstrukturen vollzog, gehörten Schriften, die die Leser/innen instruierten, zu den ersten gedruckten Werken überhaupt (vgl. Messerli 2010: 32). Dass sich gerade diese Medien des Rates besonders im publizistischen Bereich durchsetzen konnten und zunehmend die Autoritäten anderer Formen wie das Lehrgespräch, die Hausväterbücher, die Katechese, den Brief und Roman ablösten, rührt daher, dass sie eine idealisierte Form der Ratsuche darstellen und das persönliche Gespräch durch eine mittelbare, mediale Beziehung ersetzen. Zugleich behält die Textform jedoch Merkmale

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des Dialogs in Form einer inszenierten Mündlichkeit bei, indem zum Beispiel eine vertrauliche direkte Ansprache der Leser/innen aufgegriffen und die Unmittelbarkeit des Gesprächsverlaufs simuliert wird. Dadurch wird nicht nur das Ansprechen von heiklen Themen und peinlichen Fragen erleichtert, deren Antwortsuche die Leser/innen nun ohne Scheu nachgehen können. Diese Form der Beratung kompiliert zudem eine Fülle von unterschiedlichen Wissensbeständen und Erfahrungen in einem relativ leicht zugänglichen Medium. Dadurch wird ein Wissensfundus produziert, der auch außerhalb der Rahmenbedingungen spezifischer individueller Erfahrungen zugänglich wird. Auch ohne selbst diverse Handlungsoptionen in der Realpraxis auszuprobieren und durchzuspielen, können die Rezipienten und Rezipientinnen auf das Wissen anderer zurückgreifen, und so konkretes Agieren vorerst durch symbolisches ersetzen und daraus resultierende Lernprozesse entkontextualisieren und abstrahieren. Die klassische face-to-face Situation mit professionellen Berater/innen wird zunehmend durch einen Fundus medial vermittelter pluralistischer, populärwissenschaftlicher Beratungsmöglichkeiten auf dem Buchmarkt oder im Internet ersetzt. Der Text selbst wird damit zum »Lehrer«, weshalb die literarische Beratung immer durch einen expliziten Verweis auf das jeweils herangezogene Expertenwissen des Autors oder der Autorin als Legitimation gekennzeichnet ist. Dabei gestalten sich die meisten Texte als eine Mischung von Alltagstheorien (persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse), Wissenschaftswissen (in popularisierter Verkürzung und Auswahl) sowie Berufswissen und unterscheiden sich von anderen Kommunikationstypen durch Unterschiede in sachlichen, sozialen und zeitlichen Erwartungsstrukturen (Schützeichel 2004, Fuchs 2000). In der Sachdimension weisen sie sowohl in ihrer Binnenstruktur – z.B. Selektion der Themen, Formen der Mitteilung (face-to-face oder massenmedial), sprachliche Merkmale – als auch in ihrer Außenstruktur – Situationen, Kontexte, soziale Felder – spezifische Strukturmuster auf. Kennzeichen der Beratung ist außerdem, dass sie auf (individuell) bestimmbare und lösbare Probleme spezialisiert ist. Ein »Problem« lässt sich dabei gemäß des therapeutischen Diskurses und des Narrativs der Selbstverwirklichung bestimmen als ein aus drei Komponenten bestehender Sinnzusammenhang: einem unerwünschten Anfangszustand, einem erwünschten Zielzustand und einem Hindernis, das den Übergang vom negativen Ist-Zustand zum positiven Sollzustand blockiert. Wissenssoziologisch haben wir es hier mit der Einheit einer Unterscheidung von Problemdefinition als typisiertem Wissen über Abweichungen vom erwünschten Zustand und von Problemlösung als typisiertem Wissen über Operationen, mit denen das Hindernis überwindbar und das angestrebte Ziel erreichbar erscheint, zu tun.

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Wie wirken diese Ratgebertexte nun in den individuellen Lebensalltag und in gesellschaftliche Strukturbildungen hinein? Generell darf die Wirkmacht dieser Texte nicht überschätzt werden. Die Rezeption erfolgt keineswegs linear und eindimensional, sondern unterliegt vielfältigen Faktoren und individuellen Voraussetzungen. Die Rezeptionsforschung sieht hier eine schwer nachvollziehbare Lücke zwischen Text und Normenwirklichkeit und spricht den »eigensinnigen Lesern und Leserinnen« die Fähigkeit der individuell zielgerichteten Rezeption zu, indem oft nur in der unmittelbaren Praxis anwendbare Versatzstücke ausgewählt werden, während der Rest wenig Beachtung findet. Wirkmächtig sind also nicht einzelne Ratgeber an sich, sondern ihre Inhalte diffundieren zum Bestandteil eines in einer Art Bricolagetechnik synthetisierten Laienwissens, welches sich ebenso aus mündlichen Formen des Austausches, gedruckten wie elektronisch vermittelten Informationen und Geschichten zusammensetzt. Sie sind somit in erster Linie eine »Anleitung zur Praxis«, wo es um die Ausbreitung von Wissensbeständen in pragmatischer Absicht geht (Scholz 2013: 57). Dabei zählt nicht die wissenschaftlich motivierte Suche nach der Wahrheit oder Neuheit des Wissens, sondern vor allem seine zweckmäßige Anwendung: »Ratgeber sind […] eine spezifische Form der Aufbereitung von Wissensbeständen in pragmatischer Absicht [...]. Ratgeber kommen und führen zur Sache, sie informieren und instruieren das Tun, geben Anleitungen zu einer Praxis. […] Ratgeber unterhalten ein ›technisches Verhältnis‹ zu ihren Gegenständen und implizieren ein Erfolgsversprechen, sie suggerieren Machbarkeit, Optimierbarkeit, Effizienzsteigerung. Wer Ratgeber liest, hat ein Interesse an einer Sache, von der er noch nicht genug zu verstehen glaubt, und erhofft sich durch die Lektüre das nötige Know-how.« (Helmstetter 2010: 59f.)

Deshalb orientiert sich das Narrativ zumeist am Skriptkonzept: Akteure und Akteurinnen richten sich in ihrem Handeln an kulturell angebotenen Szenarien und Plots aus, weil sie durch Sozialisation, Aufklärung und eigenes Erleben erfahren, dass sich damit ihre Chancen auf eine gelingende Aktion verbessern (Eder 2010). Die in Ratgebern angebotenen Skripte sind mithin Handlungsanleitungen und Interpretationsoptionen, die nach Bedarf eingesetzt, modifiziert und verworfen werden können. Sie dienen auch als intrapsychische Drehbücher und Modelle für die Selbstherstellung von Geschlecht und als Stimulans zur Selbstführung. Dies wird beispielsweise gerade in Beziehungs- und Frauenratgebern deutlich, welche textuelle Strategien zur Herstellung von idealen bzw. normalen Geschlechterbildern und -beziehungen liefern. Im Mittelpunkt stehen hier Textstrategien, die auf die Herstellung von geschlechtlichen Narrativen, Normalisierungen und Subjek-

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tivierungsweisen abzielen und durch Wiederholungen zu einer Konventionalisierung und Materialisierung führen. Dadurch produzieren sie Wahrheit und Echtheit, indem sie sich wissenschaftlicher Episteme genauso bedienen und Präsuppositionen aus anderen Wissenschaften anrufen wie sie gleichermaßen auf individuelle Erlebnisse und Erfahrungsschätze rekurrieren. Damit können sie als narrative Vorlagen für die subjektive Orientierung dienen und gleichzeitig das Normale vom Anormalen scheiden, zugleich aber auch Identifikationsangebote zur Verfügung stellen und so die Subjektivierung antreiben. Dadurch wird eine mediale moralische Instanz geschaffen, die Autorität, Expertise, Vertrauenswürdigkeit, Wohlwollen und Anteilnahme verkörpert, und die einen Problematisierungsrahmen ermöglicht, der die Bildung von Selbstverhältnissen mit reflexiver Affektivität fördert und Reflexivität geradezu erzwingt. Doch sind die Funktionsweisen von Ratgebern keineswegs auf die individuelle Ebene beschränkt. Sie beinhalten auch immer ein gesellschaftsrelevantes Moment, das auf makrosoziale Gegebenheiten und Problemstellungen hinweist. Denn die individuelle Reflexivität ist mit Hilfestellung der Medien des Rates in einen größeren Zugang des öffentlichen Diskurses eingebettet, indem in der textuellen Aufarbeitung zeittypische Normalitätsentwürfe und Verhaltensstandards, kulturhistorische Gegebenheiten, Zusammenhänge und normative Vorstellungen aufgegriffen werden. Damit werden Deutungsangebote konstituiert, die auf kulturelle Legitimationsmuster rekurrieren, die sich im historischen Prozess herausgebildet haben und nun in die Gesellschaft hineinwirken. Sie reichen damit in die Lebensgestaltung und Selbstdefinition der Adressaten hinein, indem sie als selbsternannte Diskursautoritäten zur Konstitution von sozialem Wissen beitragen. Das so generierte und verbreitete Wissen wirkt konstitutiv in die Gesellschaft hinein, indem es einerseits Bausteine als auch Kontrollpunkte zur Konstruktion und Ausrichtung der Identität liefert, es wird aber auch zunehmend zu einer Voraussetzung für soziale Beziehungen. Denn mit der Verbreitung und Reproduktion spezifischer Narrative und Verhaltensschemata entstehen neue kulturelle Codes, die alltägliche Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen organisieren und Interaktionsrituale strukturieren, so dass die Normativitätsentwürfe nach und nach Gültigkeit erhalten. Damit fungieren Ratgeber als Produzenten von »Jedermann-Wissen«, indem sie Legitimationsmuster für kulturelle Leitideen zur Gestaltung des Lebens anbieten, die in den Bestand des gesellschaftlichen Wissensvorrats diffundieren und diesen erweitern (vgl. Berger/Luckmann 1987, Bohnsack 2007). Sie formen aus wissenssoziologischer Perspektive diskursive Deutungsangebote für die »ideale« Lebensform, für angemessene Geschlechterrollen und gesellschaftlich erwünschte Vorstellungen von persönlicher

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Entfaltung und Lebensgestaltung in allen Bereichen. Sie bieten Orientierungsvorgaben, in denen die Vorstellungen von »richtigem« Leben mit den Anforderungen der Alltagsbewältigung in Einklang gebracht werden. Damit nehmen Ratgeber trotz ihrer vermeintlichen Distanz zur Wirklichkeit immer Bezug auf die real vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und können mehr oder minder aktiv bei deren Transformationsprozessen mitwirken und sind daher wichtige Quellen bei einer Analyse gesellschaftlicher Entwicklungstrends. Ratgeber ermöglichen einerseits den Blick auf den historischen Normenhorizont, an dessen Auflösung oder Aufrechterhaltung sie mitwirken, und andererseits auf den Horizont aktueller Selbstverständlichkeiten und haben daher weitestgehend eine Verweisfunktion, indem sie zwar nicht eins zu eins die Wirklichkeit abbilden, aber im Ansprechen von offensichtlich aktuell vorherrschenden Problemen und Fragestellungen, die eine Ratsuche evozieren, auf veränderte gesellschaftliche Positionen oder Missstände hinweisen (Mahlmann 2003: 31). Darauf wurde in der westlichen Forschungsliteratur zu unterschiedlichen Phänomenen der Beratung vielfach hingewiesen: so führte beispielsweise die Einführung von alternativen Methoden der Babyernährung in den 80er Jahren in Deutschland zu einem Boom an Kleinkind-Ratgebern, welche sich ausführlich mit den Vor- und Nachteilen von Muttermilch vs. Babynahrung auseinandersetzten (vgl. Maasen 2011). Auch die Auswirkungen der sexuellen Revolution nach 1968 auf gewandelte Intimkonzepte finden sich im Zuwachs von Beziehungsund Eheratgebern wieder (Bänziger 2010, Scholz 2013). Inwiefern sich unterschiedliche aktuelle gesellschaftliche Vorstellungen, Normen und Moden in Ratgebertexte einschreiben, hat insbesondere die Untersuchung von Iris OswaldRinner zu wechselnden Sexualmodellen zwischen 1970 und 2000 verdeutlicht, wo sich der Zeitgeist jedes Jahrzehnts parallel auch in den jeweiligen Sexualvorstellungen – vom Adam und Eva-Ideal über das Barbie- und Ken-Modell bis hin zum Selfsex – widerspiegelt (Oswald-Rinner 2011). Dennoch ist die Vermittlung von sozialen Wissensbeständen und sich verändernden Normativitäten nur einer der vielen funktionalen Leistungen von Ratgebern. Darüber hinaus geht es nach Meinung von Tim Heimerdinger aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auch um die symbolische Aneignung lebensweltlicher Arrangements in Abhängigkeit vom jeweiligen soziokulturellen Standort. Das heißt: Ratgeber sind nicht in ihrer eigentlichen Funktion als konkrete Helfer für die Praxis zu sehen, sondern sie verweisen auch auf »Visionen des eigenen, bislang nicht gelebten Lebens«, also einer imaginierten Welt, die durch die Rezeption der Bücher symbolisch angeeignet wird. Sie sind mit dem Versprechen verknüpft, das gewünschte Leben möglicherweise Realität werden lassen zu können (Heimerdinger 2008: 106). Der Leser bzw. die Leserin sucht nach »Le-

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bensstilszenarien«, die im Prozess der kulturellen Selbstverortung Orientierung verheißen und die Identitätsfindung unterstützen. Sie bilden also nicht nur ab, was ist, sondern zeigen auch auf, was fehlt bzw. verweisen durch die fiktionale Erschaffung eines idealen Lebens auf reale Bedürfnislagen der Rezipienten und Rezipientinnen als Ergebnis kultureller Prozesse: »Es geht nicht darum, wo sich die Menschen kulturell momentan befinden oder in Zukunft einmal befinden werden, sondern welche anderen Milieus aktuell für sie die größte Anziehungskraft haben.« (Ebd.: 104) Ratgeber spiegeln damit also in gewisser Weise auch die Sehnsüchte der Rezipienten und Rezipientinnen wider, indem sie Beispiele für gelungene Lebenskonzeptionen vorstellen, die über die Ratgeber symbolisch angeeignet werden können. Damit bildet der Inhalt dementsprechend eine Art imaginierte Welt, eine idealisierte Welt ab, die für die Rezipienten und Rezipientinnen erstrebenswert erscheint. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Analyse von Ratgeberliteratur aus wissenssoziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive überaus gewinnbringend und sinnvoll für das Aufspüren und die Spurensuche von Motiven und Hintergründen gesellschaftlicher Transformationsprozesse sein kann. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive kann den Ratgebern in der sozialen Evolution eine protagonistische Rolle zugesprochen werden: So gibt es beispielsweise Ansätze, die die eigentliche gesellschaftliche Verbreitung des Ideals der romantischen Liebe entgegen den Annahmen der etablierten »Liebessoziologie« auf die enorme Wirkung von Eheratgebern zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen (vgl. Mahlmann 1991). Für Norbert Elias ist gar der ganze Zivilisationsprozess ohne die Breitenwirksamkeit von Benimmbüchern schwer vorstellbar (vgl. Elias 1976). Ratgeber können zwar nicht als Abbilder gelebter Praxis gelesen werden, wohl aber als Manifestationen von gültigen Normen und Idealvorstellungen – und auf diese Weise plausible Rückschlüsse auf das »populäre Denken« zulassen.

Das Do-it-yourself-Leben Die gesellschaftlichen Hintergründe der Ratsuche in China

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Die beschriebenen, für den therapeutischen Diskurs typischen Performanzen der Eigenverantwortlichkeit weisen nicht nur auf den Wegfall von bisherigen institutionellen Ordnungsinstanzen zugunsten individualistischer Strategien und Möglichkeiten hin, sondern beleuchten damit auch zugleich die damit einhergehende Kehrseite der Medaille moderner Gesellschaften: Die in allen Bereichen brüchig gewordenen Lebensumstände antizipieren zugleich auch allerorts neue Bedrohungen und Gefahren des potentiellen, nun selbst herstellbaren Glücks. Wo auf der einen Seite Aufstieg und Erfolg lockt, droht auf der anderen zugleich der tiefe Fall bzw. das Versagen: »Das Selbst erscheint als reflexives Projekt, das sich allein oder mithilfe professioneller Berater […] einem permanenten Selbstmonitoring unterzieht, um die ›Flugbahn‹ seines Lebens immer neu zu adjustieren, wobei mit den Chancen der Selbstverwirklichung stets die Risiken des Absturzes einhergehen.« (Bröckling 2007: 26) Wenn das Lebensglück nicht mehr Schicksal ist, sondern selbst formbare Option in den Händen des Individuums, wachsen die Angst vor dem Versagen und die Angst vor der äußeren Bedrohung. In der Folge machen sich »[d]ie Menschen [...] heute Sorgen um alles: Ruhm und Namen, Status, Reichtum, Liebe, soziale Kontakte, Familie, Gesundheit, Wissen, Beruf« (Bo 2012: 83). Dadurch entstehe ein so großer Leistungsdruck, dass man kaum noch Luft zum Atmen bekomme und sämtliche Freude im Leben verliere. Dieser Leistungsdruck besteht nicht nur in der beruflichen Konkurrenzsituation, sondern hat sich durch die Schaffung eines öffentlichen Diskurses über die Prekarität der Lebenssituation auf alle Lebensbereiche ausgeweitet.

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Eine wichtige Rolle hierbei spielen die öffentlich diskutierten »Semantiken des Risikos« (Beck 2007: 19) und ihre mediale Aufarbeitung und Verbreitung. Diese Semantiken beinhalten gegenwärtig thematisierte zukünftige Gefahren, die oftmals aus den Errungenschaften der Modernisierung resultieren. Durch diese Thematisierung wird überhaupt erst ein Bewusstsein für potentielle negative Entwicklungen oder Gefahren geschaffen und diese damit von der real existenten Gefahr unterschieden. Bedrohungen und Unabwägbarkeiten sind zwar schon immer vorhanden gewesen, doch erst die Semantik des Risikos stellt Wahrnehmungs- und Denkschemata zur Verfügung, um diese auf eine pseudo-objektive Ebene zu heben und in Kategorien der Kontrollierbarkeit und Kompensierbarkeit zu bringen. Damit hat das antizipierte Risiko und die damit einhergehende Unsicherheit die tatsächliche Katastrophe weitestgehend ersetzt und den Weg bereitet für zahlreiche Methoden der Risikobewältigung, -minimierung und -kontrolle zur Konstruktion eines subjektiven Gefühls von Sicherheit. Das gestiegene und mittlerweile omnipräsente Gefühl von (gesellschaftlichen) Unsicherheiten korreliert mit dem Konzept der Zweiten Moderne von Ulrich Beck. Dieser erkennt im steigenden Unsicherheitsbewusstsein den Hauptantrieb für eine reflexive Modernisierung, die die Erste Moderne zunehmend ablöst und damit auch ihre Prämissen und Voraussetzungen – der Nationalstaat, eine Individualisierung im Rahmen von kollektiven Strukturen und Identitäten, eine Mentalität des Arbeits- und Leistungsdenken, die Ausbeutung der Natur und ein Konzept der wissenschaftlichen Rationalisierung und einer funktionalen Differenzierung (Beck/ Bonß/ Lau 2003: 4f.) – hinterfragt. Stattdessen werden diese grundlegenden sozialen Institutionen der Ersten Moderne durch den globalen Sieg (post-)moderner Prinzipien (wie z.B. Marktwirtschaft, Neoliberalismus) und die Nebeneffekte der industriellen Modernisierung immer brüchiger und dysfunktionaler: »Across the world, nation-states, political parties, democracy, market economies, enterprises, welfare-systems, educational and occupational systems, families, gender roles etc. display irreversible weakness in delivering social functions and individual utilities that used to be taken for granted.« (Beck/Grande 2010: 415)

Durch den Zusammenbruch dieser Institutionen wird die Unkontrollierbarkeit der Modernisierung gesellschaftlich deutlich wahrgenommen und die Folgen lassen sich nicht mehr externalisieren, sie werden von den Individuen in die Organisationen getragen. Grob skizziert wird so der Verteilungskampf, der sich bislang um die Güter der Industrieproduktion drehte, durch einen Verteilungskampf um die miterzeugten Risiken überlagert. Dies löst einen Prozess der refle-

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xiven Modernisierung und damit den Übergang zur so genannten Zweiten Moderne aus, wo der Motor der Modernisierung der Moderne nicht länger die Zweckrationalität, sondern der Umgang mit deren Nebenfolgen ist: Gefahren und Risiken der industriellen Produktion, Individualisierung und Globalisierung und die dadurch produzierten strukturellen Brüche, die laut Beck in ihrer Politisierung zur Zweiten Moderne führen (Beck 1996: 45). So ist der Begriff der reflexiven Modernisierung auch als Prozess der Bewusstwerdung der Defizite der Ersten Moderne zu verstehen: »Dieser meint nämlich gerade nicht (wie das Adjektiv ›reflexiv‹ nahezulegen scheint) Reflexion, sondern zunächst Selbstkonfrontation: Der Übergang von der Industrie- zur Risikoepoche vollzieht sich ungewollt, ungesehen, zwanghaft im Zuge der verselbständigten Modernisierungsdynamik nach dem Muster der latenten Nebenfolgen.« (Beck 1993: 38)

Die Phase der Risikogesellschaft im eigentlichen Sinne beginnt jedoch erst dort, wo diese ungewollten, reflexartig auftretenden Nebenfolgen Thema öffentlicher und privater Debatten und in die Institutionen integriert werden. Geschieht dies, so setzt sich ein (aufklärerischer) Prozess in Gang: »Wird dies auf den Begriff gebracht, gesehen, allgemein bewußt, gerät eine ganze Gesellschaft in Bewegung. Was bisher ›funktional‹ und ›rational‹ erschien, wirkt nun lebensbedrohend, erzeugt und legitimiert also Dysfunktionalität und Irrationalität.« (Ebd.: 44) Mit der Modernisierung der Moderne und der Beschleunigung ihrer Zeitdynamiken brechen immer mehr alte Sicherheiten weg, werden tradierte Strategien der Herstellung von Sicherheit in technischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht infrage gestellt. Bisher gültige und erprobte Sicherheitskonzepte verlieren an Überzeugungskraft und Eindeutigkeit, stattdessen kommt es zu einer zunehmenden Integration von Unsicherheit in den Alltag, die prinzipiell nicht mehr völlig auszuschließen ist, sondern höchstens durch selektive Wahrnehmung ausgeklammert werden kann (Bonß 1997: 21). Verstärkende Faktoren sind hierbei der Wegfall stabilisierender Normative wie Religion, Tradition, politische und soziale Utopien, so dass sich der Mensch im Anbetracht aller möglichen positiven wie auch negativen Konsequenzen seines Handelns auf sich selbst zurückgeworfen sieht. Die Ambiguität von Entscheidungen impliziert einerseits zwar Abenteuer, andererseits aber auch Gefahr, welche durch die öffentlich ausgetragenen und diskutierten Semantiken des Risikos in den Vordergrund gerückt werden: »Die eine und einzige Wahrheit ist in Hunderte von Relativwahrheiten zersprungen.«

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(Beck 2007: 22) Dies gilt auch für China, wo Ende der 1990er Jahre insbesondere der Wahlspruch des Fortschritts aufgrund von Wissenschaft und Technik und der Globalisierung seine Wirkkraft stark einbüßte und »[e]ven those with the means to build on and increase their control over daily life became increasingly uncertain about what the future could hold for them personally or for their nation« (Fahrquar/Cheng 2012: 26). Doch Handeln ist nur möglich, wenn sich die Welt als erwartbar stabil darstellt. Eine Lösung für den Umgang mit dieser ständigen Bedrohung bietet die Strategie der Erwartungssicherheit (vgl. Luhmann 1984: 417ff.) als Strukturbildung zur Bewältigung einer prinzipiell unsicheren Zukunft: »Erwartungssicherheiten kommen immer dann ins Spiel, wenn es um die Umdefinition von (nicht handhabbaren) Kontingenzen in (handhabbare) Komplexität geht. Umwandlung von Kontingenzen in Komplexität als Strukturbildung meint hierbei nichts anderes, als dass aus einem Universum denkbarer Möglichkeiten bestimmte Möglichkeiten als handlungsrelevant ausgewählt, andere hingegen als irrelevant ausgeblendet werden, wobei genau dieser Selektionsprozess zu (sozialer) Eindeutigkeit und Sicherheit führt.« (Bonß 1997: 24)

Aus diesem Bewusstsein erfolgt die Suche nach Gegenstrategien zur vermeintlichen Bannung der entstehenden Unsicherheiten.

DIY-L EBEN UND B ASTELBIOGRAPHIE : D IE F OLGEN DER I NDIVIDUALISIERUNG Sowohl Gegenstrategie als auch Symptom der Zweiten Moderne ist die Individualisierung. Für Ulrich Beck hängt der Prozess der Individualisierung sehr eng mit der Modernisierung der Moderne und ihren zahlreichen Umbrüchen im institutionellen Bereich zusammen. Er macht den Individualisierungsprozess an vier grundlegenden Elementen fest: der Enttraditionalisierung, der institutionalisierten Isolation sowie Reintegration des Individuums, der Verpflichtung zur Eigenverantwortlichkeit über das eigene Leben und der Internalisierung von ursprünglich systemischen Risiken (Beck 1986, Baumann 2001). Für ihn resultiert die Individualisierung aus einem Strukturwandel im Bereich der sozialen Ungleichheit, der durch einen rapiden Wandel in den materiellen und soziokulturellen Lebensbedingungen bedingt wurde. Maßgebliche Rollen spielten dabei der Wandel des Arbeitsmarktes, die Ausweitung der Erwerbsarbeit und ihre Bedeutung für die individuelle Identitätskonstruktion. Ein Beruf dient nicht mehr nur

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der Einkommenssicherung, sondern wird zum identitätsstiftenden Merkmal, indem er Zugang zu sozialen Ressourcen wie Status, Ansehen und Kommunikationsbeziehungen öffnet. Zugleich sorgt der »Fahrstuhl-Effekt« einer positiven Wirtschaftsentwicklung für einen allgemeinen, flächendeckenden qualitativen und quantitativen Anstieg des materiellen Lebensstandards, welcher besonders vormals ärmeren Schichten nun den Zugang zu Luxusgütern ermöglicht und die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten steigert. Diese sind wiederum Voraussetzung für weitere Entwicklungen wie beispielsweise dem verbreiteten Besitz von Wohneigentum und der Vertiefung von Phänomenen wie der Mikrofamilie und neuen Formen der Privatheit. Mit der Steigerung der Bedeutung der Erwerbsarbeit und eines gehobenen Lebensstandards nimmt auch die Bedeutung von Bildung zu. Nicht nur wandelt sich dabei die Wahrnehmung von Bildung stark, auch die Aufstiegshoffnungen und -bestrebungen durch Bildung steigen. Andererseits generiert dies einen »Sog von Bildungsaspirationen« (Beck 1983: 50): Bildungszwänge für all jene, die um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, wenn sie nicht auf dem neuesten Wissensstand sind. Auch die zunehmende soziale und räumliche Mobilität trägt zum sozialstrukturellen Wandel bei. Dies alles kumuliert in einer Ethik der Selbstverantwortung und Selbstverbesserung: »Der Individualismus ist als neoliberales Projekt in weiten Bereichen der Gesellschaft fast vollständig absorbiert worden. Es kursiert der Begriff des Selbstunternehmers. […]. Das eigene Leben wird als Unternehmen entworfen, und man muss sich als Kapitalist dem gegenüber verhalten und alle Bezüge des eigenen Lebens mit eigenständigen, vorweglaufenden Gehorsam den Marktbedingungen konform organisieren.« (Beck/Willms 2000: 91)

In China sind diese Phänomene einer Zweiten Moderne ebenfalls auszumachen, sie unterliegen jedoch gesonderten Bedingungen. Wie Beck in seinen aktuelleren Ausführungen zum Kosmopolitismus anerkennt, gestaltet sich der Weg zur Zweiten Moderne außerhalb Europas oftmals sehr unterschiedlich: Die Prozesse einer reflexiven Modernisierung sind zwar in Verbindung mit einem kapitalistischen System universell und unvermeidbar, jedoch können sie sich auf unterschiedlichen Wegen vollziehen und völlig andere Erfahrungen und Formen der Wahrnehmung und des Umgangs hervorbringen (vgl. Beck/Grande 2010). Als ein markantes Beispiel für jene »varities of modernity« zieht er bemerkenswerterweise China heran, wo die Individualisierung jenseits der von Beck zuvor attestierten Rahmenbedingungen und Voraussetzungen – kulturelle Demokratie, Liberalismus, Wohlfahrtsstaat und klassische Individualisierung – verlaufen ist:

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»In china, the neoliberal deregulation of the economy and the labor market of everyday culture and consumption is being initiated before and without the constitutional adoring of individualization as we know it in Europe. As a result, political and social basic rights have to be gained on the basis of a neoliberal, depoliticizing, market-based individualization. One consequence of this inversion is that the authoritarian state, having revoked social guarantees along with the obligations to the collective, is trying to set limits to the claim to political participation, inherent in the process of individualization, by placing a thigh network of control around the individual. Individual rights are being granted as privileges, not as inviolable basic rights that everyone possesses as a citizen. The government is trying to restrict the individualization that it needs by linking it to officially celebrated national and family values. To sum up, one could say that whereas in Europe justice and law speak the language of individualization, in China a practice of tolerated, even enforced individualization is taking place, coupled with an official ideological stigmatization of that same individualization.« (Beck/Grande 2010: 421)

Er spricht in diesem Fall von einer Individualisierung ohne Individualismus und sieht China damit als einen klassischen Fall einer komprimierten Modernisierung, wo die Herausforderungen und Phänomene der Zweiten Moderne entweder noch vor oder gleichzeitig mit denen der ersten Moderne auftreten, im Sinne einer »victim-constellation of late developing countries« (ebd.: 424). Wie Emiko Ochiai anhand der Entwicklungstrends von Geburtenraten und Bevölkerungsentwicklung aufzuzeigen versucht, fehlt in den meisten asiatischen Ländern mit Ausnahme von Japan eine dauerhafte Periode des »goldenen Zeitalters der Moderne« (Ochiai 2013: 141ff.). In Geburtenzahlen gesprochen bedeutet dies, dass – gemessen am westlichen Vorbild – jeweils eine Plateauphase mit relativ stabilem Bevölkerungswachstum zwischen zwei jeweils stark abnehmenden Phasen Ende des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts auf Zeiten der Entfaltung von Moderne hindeuten. In Asien fehlt diese Entwicklung jedoch teilweise oder gänzlich. Eigentlich weist nur Japan eine ähnliche Entwicklung – wenn auch viel kürzer und zeitversetzt – auf, während in allen anderen asiatischen Ländern kaum je eine Phase eines ausgeglichenen Bevölkerungswachstums erreicht wurde. Stattdessen erfolgte seit den 1970ern (Japan) bzw. 1980ern (Restasien) ein rapider Geburtenrückgang unterhalb der Reproduktionsgrenze, wie er auch im Westen mit dem Eintritt in die Spätmoderne charakteristisch ist. Somit stürzten die meisten asiatischen Staaten aus einem mehr oder minder vormodernen Zustand aufgrund der rapiden ökonomischen Entwicklung unvermittelt in die Zweite Moderne. Dementsprechend erreichten auch die Erfahrungen der Moderne Asien im Vergleich zum Westen »verspätet« und bedingten

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sozusagen eine »komprimierte« Auseinandersetzung im Zeitraffer, wie der Soziologe Chang Kyung-Sap für Korea attestiert (Chang 2010). Theorien, Ideen und Entwicklungen, die im Westen einer längeren experimentellen Phase unterlagen und erst schrittweise gesellschaftliche Verbreitung und Akzeptanz fanden, brechen in Asien schlagartig herein und bilden ein Gemenge aus existenten lokalen Denktraditionen und importierten Versatzstücken. Zugleich wächst das Bewusstsein für Risiken – nicht nur die hergestellten Unsicherheiten der Ersten Moderne, sondern auch die so genannten »MängelRisiken« (deficiency risks) (Han/ Shim 2010) als Produkte und Konsequenzen der politischen und sozialen Defizite und Mängel der staatlich und wirtschaftlich forcierten Entwicklungsstrategie vieler asiatischer Länder. Diese und die mittlerweile unentrinnbare Globalität schaffen allerdings zunehmend Diskrepanzen zu den Institutionen der Ersten Moderne wie Nationalstaat, Familie und Gesellschaftsschichten. Was solch eine unfreiwillige Initiation von Modernisierungsbestrebungen »von oben« qua staatlicher (Wirtschafts-)Entwicklungspolitik einerseits und die Paarung mit globalen Trends der reflexiven Modernisierung andererseits in der Entwicklung von Gesellschaft und Individuum anrichten kann, zeigt Yan Yunxiang anhand des Beispiels des Individualisierungsprozesses in China auf. Für ihn beginnt dieser paradoxerweise bereits in der sozialistischen Ära, als das Individuum aus traditionellen Zusammenhängen und gesellschaftlichen Institutionen der Feudalgesellschaft herausgelöst und als auf den großen Steuermann Mao fixierte Bürger/innen neu konstruiert wurde: »The point is that whenever individualization and privatization became necessary, the party-state did not hesitate to use is power to launch institutional changes. […] To a great extent, individualization became a developmental strategy adopted by the party-state and inevitably turned into a highly contested process since it created both losers and winners.« (Yan 2010: 499)

Nach 1976 bedingten wiederum die politischen und ökonomischen Veränderungen, v.a. die Abschaffung des sozialistischen Arbeitssystems und der danweiEinheit sowie das Entstehen eines freien Arbeitsmarkts nach Marktbedingungen, die Fokussierung auf den und die Einzelne. Der zunehmende Rückgang der Parteikontrolle über Ressourcenverteilung und Lebensplanung und die Freisetzung aus der Planwirtschaft und dem sozialistischen Kollektivismus führten zu einer Auflösung der ehemals festen sozialen Position der einzelnen sozialen Akteure und Akteurinnen, die sich zunehmend alleine in der Gesellschaft zurecht finden müssen.

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Die Gesellschaftsentwicklung in China ist seit den 1970er Jahren jenseits von politischen und wirtschaftlichen Änderungen vor allem durch den Einbruch aufklärerischer individualistischer Rationalität geprägt, welche das Individuum einerseits aus etablierten sozialen Strukturen herauslöst, andererseits zugleich die Verantwortlichkeit für sein Leben ihm selbst überantwortet. Die Hauptursache für den Individualisierungsschub liegt in den Bedingungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes. Vor dem Hintergrund eines steigenden Lebensstandards und der Zunahme sozialer Möglichkeiten werden Menschen zunehmend aus traditionellen Schicht- und Milieuzugehörigkeiten und sozialen Bezügen wie der Familie herausgelöst und auf ihr individuelles Schicksal als Mitglied der kapitalistischen Marktwirtschaft verwiesen: Man ist das, was man leistet. Die »Bastelbiographie« tritt an die Stelle gesellschaftlich und politisch vorgegebener Lebensläufe: »As a result, a Chinese version of the American dream began to win over the hearts of many individuals who believed they could become whoever they wanted to be as long as they worked hard by networking and through career development.« (Yan 2010: 502) Diese Identität ersetzt weitgehend andere Identitäten wie Schicht, Familie und Geschlecht oder drängt diese in den Hintergrund bzw. löst die Grenzen auf. Für die Ausrichtung des eigenen Handelns treten anstelle der bisherigen Bindung an soziale Gefüge nun individualistische Existenzformen und selbstzentrierte Lebensentwürfe, was letztlich zu einem tiefgreifenden Strukturwandel der Gesellschaft führt, welcher sich in Form von Verunsicherung und sozialer Neupositionierung bis hinunter auf das einzelne Individuum fortsetzt. So spricht Ren Hai von einem »do-it-yourself way of life« als neuem Gegenpart zum Sozialisationsprozess vorangegangener Epochen über sozialistische Institutionen wie politischer Klassenzugehörigkeit, Houkou-System und Arbeitseinheit (Ren 2013: 125). Durch den Wegfall dieser Rahmeninstitutionen wird die Verantwortung für die Lebensgestaltung dem Individuum selbst überlassen und der Erfolg dieser Anstrengungen zugleich einem marktwirtschaftlich orientierten und dichotomisch angelegten Leistungssystem zwischen Erfolg und Versagen unterstellt: »[T]he DIY way of living also grows out of the global process of neoliberalization in which individuals are encouraged to apply economic rationalism to calculate rather than abide by the rules and laws.« (Ebd.) Daher erlangte seit den 1970er Jahren die Frage nach Selbsteinordnung und wahrnehmung eine neue Dimension, weil es nun nicht mehr nur um die Begründung einer chinesischen Identität auf nationaler Ebene in Kontrast zum Westen ging, sondern Fragen nach Abgrenzungspunkten des Selbst zunehmend auch auf die individuelle Ebene herab gebrochen wurden. Zusätzlich sah sich der soziale Akteur bzw. die Akteurin durch den Wegfall gesamtgesellschaftlich gültiger

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Ideologien und Normen, wie sie beispielsweise noch der Sozialismus zur Verfügung stellte, bei der Suche nach einer Selbstdefinition nun größtenteils auf sich selbst gestellt. Gleichzeitig sorgten die Auswirkungen von unterschiedlichen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen des wirtschaftlichen Fortschritts auf der Mikroebene dafür, dass sich das Individuum zunehmend gezwungen sah, sich fortwährend auf die Suche nach wandlungsfähigen Definitionen zur Stabilisierung des Ich zu begeben, um sich mit diesem transformativen Identitätsentwurf in die sich rapid verändernden Lebensumstände einzupassen. In dieser allgemeinen Verunsicherung, die seit Beginn der Reformen in den 1980er Jahren die gesamte chinesische Gesellschaft erfasste, ist eine konstante Auseinandersetzung mit sozialen und individuellen Entwürfen des Selbst unumgänglich geworden (vgl. Croll 2006). Zeitgleich entdeckten auch Politik und Wirtschaft das Individuum, indem sie sich nach Jahren des politischen Kollektivismus und der konsumfeindlichen Planwirtschaft im Zuge der Markterweiterung wieder mit den Bedürfnissen des und der Einzelnen befassten. Spätestens seit dem Umschwung der Regierungsrichtlinie vom rücksichtslosen ökonomischen Wachstum hin zu einer nachhaltigen, harmonischen Co-Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Fokus auf der Verbesserung des Lebensstandards (Stichwort xiaokang shehui) unter Hu Jintao ist ein neues Bewusstsein für den sozialen Faktor in der Politik zu spüren. Auch die Ökonomie erkennt seit den 1990er Jahren mit der Etablierung eines nationalen Konsummarktes die Rolle des Individuums als Kaufkraft. Die seitdem boomenden Branchen des Marketings, der Werbung und der Marktforschung tragen nicht nur zu einer Diversifikation und Pluralisierung des materiellen Angebots bei, sondern befördern auch eine Diversifikation und Pluralisierung von Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens. Diese wiederum finden aufgrund von veränderten Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen im städtischen Milieu, wo sich der und die Einzelne immer unabhängiger und eigenständiger abseits vom brüchig gewordenen normativen gesellschaftlichen Orientierungsrahmen positionieren kann, auch zunehmend Raum zur Entfaltung. Zugleich bietet die neue Ausrichtung an Materialismus, Konsum, Trends und Lifestyle auch eine willkommene Möglichkeit zur Füllung des ideologischen und kulturellen Vakuums nach Ende der sozialistischen Utopie. Insgesamt lassen sich diese diversen politischen, ökonomischen und sozialen Phänomene zu jenen Faktoren zusammenfassen, die maßgeblich zu einer Individualisierung der Gesellschaft in China beigetragen haben (vgl. Yan 2009, Hansen 2010). Deswegen spricht Guo Jingping in ihrer Abhandlung zum Gefühlsleben der Chinesen seit den 1970er Jahren erst seit Beginn der Reformzeit von einer neuen Modernität (xin xiandaixing) Chinas, da hier erstmals auch die psychologische,

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gedankliche und sozial-normative Handlungsebene berücksichtigt wurden und nicht nur objektive politische und ökonomische Faktoren. In der neuen »Kultur des Individualismus« mit dem Menschen als Mittelpunkt (ren wei ben) wird erstmals Wert auf eine ganzheitliche gesellschaftliche Entwicklung gelegt, die geistigen und emotionalen Bedingungen der Menschen rücken mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Daher zeige sich der Ausbruch dieser »Moderne« nicht nur durch objektive Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, sondern vor allem durch eine veränderte Wahrnehmung und im Denken der Menschen (Guo 2010: 233). Begleitet von einer Lockerung der ideologischen Kontrolle über das Denken zugunsten eines multidimensionalen Einbruchs von meist aus dem Westen importierten ideengeschichtlichen, philosophischen und psychologischen Versatzstücken, rückte die Selbstverwirklichung – ein bis dahin eher fremdes Konzept in China – zunehmend ins Zentrum des sozialen Diskurses und drängte gesellschaftliche und familiäre Normative zurück. Doch zeitgleich mit der Auflösung der vormaligen sozialistischen Großgruppengesellschaft werden auch die Ursachenzuschreibungen sowie Verantwortlichkeiten von sozialen Problemen und Ungleichheiten verlegt und auf eine individualistische Ebene herunter gebrochen. Während im traditionellen Verständnis der Kapitalismus entweder vom ewigen Kampf der Klassen aufgrund von Klassengefälle geprägt ist oder letztlich in Form des klassenlosen Sozialismus wiedergeboren werden muss, ergibt sich hier die Situation, dass durch die Dynamiken des Arbeitsmarktes und der Individualisierung die bisher vorherrschenden Klasseneinteilungen – etwas in Arbeiter, Bauern, Soldaten und die Bourgeoisie bzw. die Klassenfeinde – im existenten Kapitalismus aufgelöst wurden. Doch mit dem Wegfall von Klassen und Klassenzugehörigkeiten treffen Ungleichheiten und Schwierigkeiten des kapitalistischen Systems den Einzelnen direkt ohne schützende Klassenhülle. Die Individualisierung führt also auch zu einer Verschärfung der Unsicherheit, werden doch Systemprobleme nun direkt als persönliches Versagen gedeutet: »In einer enttraditionalisierten Lebensform entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuen und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können.« (Beck 1986: 117)

Zeitgleich mit der Herauslösung aus größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen wird somit die Verantwortung dem Individuum selbst übertragen. Wenn nun nicht mehr soziale Institutionen sowohl als Halt wie auch als Schutz gegen systemische Krisen dienen, obliegt es dem einzelnen Akteur und Akteurin selbst

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möglichst weitgehende Sicherheiten und Rückhalte durch Selbstoptimierung zu schaffen. Die bisherige Vormundschaft von (sozialistischem) Staat und gesellschaftlichen Institutionen der Moral (wie Familie) wird zunehmend relativiert, die Lebensgestaltung wird dem und der Einzelnen überantwortet, die dadurch jedoch nicht nur in Entscheidungs- sondern auch in Zugzwang geraten. Dies betrifft Lebensbereiche wie unter anderem die Berufstätigkeit, welche nun nicht mehr durch staatliche Zuteilung von Arbeitsplätzen geregelt wird, sondern von den Fähigkeiten und Qualifikationen des Individuums auf dem freien Markt abhängt, oder die Wohnsituation, welche durch die Privatisierung von staatlichem Wohneigentum ab 1998 zum heiß umkämpften Statussymbol avancierte (Zhang 2010, Hu 2013). Zudem entwickelten sich aufgrund dieser Eigenverantwortlichkeiten neue soziale Performanzen und Praktiken zum Umgang mit den neuen Herausforderungen und als Ersatz für weggefallene oder sich in der Auflösung befindliche ehemalige Versorgungskontinuitäten. So etablierte sich beispielsweise eine neue Dating-Kultur, die die vorangegangenen Praktiken des Werbens ersetzte, da sich auch die Rahmenbedingungen davon geändert haben. Das ehemals stark ritualisierte Werben im privaten Rahmen unter den strengen Augen von Familie und Gesellschaft mit klaren institutionalisierten Zielvorgaben und Ablaufstrukturen differenzierte sich mit dem Wegbruch familiärer und sozialer Kontrolle in Berufs- und Privatleben sowie der Entstehung einer öffentlichen Konsumkultur in pluralistische Formen der Anbahnung von Zweierbeziehungen jeder Couleur aus (vgl. Farrer 2002, Jankowiak 2011, Croll 1995, Evans 1997, Yan 2003, 2009). Anders formuliert: Das unsicher gewordene Individuum, welches Brüche und Widersprüche in seiner Entwicklung erleben musste, begibt sich auf die Suche nach einer neuen Selbstdefinition zur Stabilisierung des Ich inmitten einer (Konsum-)Kultur des Individualismus. Die Ratgeber fungieren hierbei als Hilfsmittel und Stütze, indem sie vor allem die Imperative der umgebenden Kultur zusammenfassen, vereinfachen und Lösungsstrategien anbieten, wie das Individuum den normativen Ansprüchen genügen kann, um den Konflikt zwischen Ich und Außenwelt möglichst gering zu halten und Reibungspunkte zu minimieren. Eine ähnliche Entwickung bestätigt Cho Joo-hyun für Korea. Sie beschreibt, wie nach der IMF-Krise Ratgeberbücher für junge Frauen im Tenor der Selbstoptimierung einen enormen Popularitätsaufschwung erlebten und erklärt dies damit, dass die Frauen als neoliberale Entrepreneure mit der Adaption von Selbstoptimierungsangeboten den zeitgenössischen ökonomischen Unsicherheiten und sozialem Wandel begegneten (Cho 2009: 26f.).

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D ER T RAUM

VOM GUTEN

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Durch die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und dem Zerbrechen einer kohärenten Welt- und Gesellschaftsordnung nach dem Ende des Sozialismus in kleinteilige Fragmente sowie einer ständigen Bedrohung tradierter Weltanschauungsund Handlungsmuster durch alternative Modelle verbleibt einzig das Individuum als kleinste stabile Einheit und gewinnt dadurch an Bedeutung als Ideologie der Moderne. Jener soziokulturelle Rahmen, der in China bis in die 1980er Jahre hinein noch sehr dominant das Leben der Menschen bestimmte, tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Doch durch die neuen Freiheiten und Unabhängigkeiten eröffnen sich aber auch neue Problemstellungen, wie unter anderem ein vorher nicht gekannter Zwang zur Entscheidung, die das freigesetzte Individuum nun selbstständig zu treffen hat. Zudem geht es dabei nicht nur um eine Entscheidung inmitten der Fülle von Optionen, sondern um die »richtige« Entscheidung zwischen individueller Einzigartigkeit und gesellschaftlichen Normvorgaben, die den in China allgegenwärtigen, diffusen Traum vom »glücklichen Leben« verwirklichen soll. So erscheint der erreichte Lebensstandard für das Individuum, das sich jeden Tag erfolgreich durch den Dschungel der Herausforderungen des Alltags unter den erschwerten Bedingungen von steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen, mangelnder Sozialversicherung und gesellschaftlichem Leistungsdruck kämpfen muss, einigermaßen bedroht und fragil. Der in den 1980er und 1990er Jahren noch enthusiastischen Jagd nach ökonomischem Wohlstand folgt nun Enttäuschung und Unsicherheit, denn für die meisten Chinesen und Chinesinnen »education and employment have not brought them the large wealth that upper-class tycoons who dabble in real estate or the stock market have accrued. Rather, they have plenty of issues to feed their anxieties and insecurities: the skyrocketing housing prices in Chinese metropolises such as Beijing and Shanghai, the widening gap between the rich and poor, uncertain job prospects after college now that the state no longer automatically assigns jobs, food safety incidents that have killed and injured tens of thousands of people, and, last but not least, a vague yet gnawing sense of the loss of basic morality and decency among their fellow Chinese« (Feng 2013: 29f.).

Gerade das neu geschaffene Bewusstsein um die Antizipation von Bedrohung und Gefahr verpflichtet zu vorbeugendem Handeln, zu Maßnahmen des Risikomanagements und der Risikominimierung. Dieser tägliche Kampf um die Wahrung der Existenz führt zu einer Krise des Selbst, die dadurch gelöst wird, indem eine entsprechende Anpassung der Selbstsicht bzw. Selbstdefinition an das so

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geartete Leben dem Ganzen eine sinnhafte Interpretation zu geben versucht. Tatsächlich lässt sich eine Kohärenz zwischen der Zunahme von sozialer Komplexität und dem Wunsch nach (Identitäts-)Stabilisierung feststellen. Eine der Instanzen, die diesen Selektionsprozess begünstigen und unterstützen, ist die Ratgeberliteratur, die sich durch relativ einfach zu verstehende und befolgende Ratschläge und Vorgaben auszeichnet. Sie liefert detaillierte Anweisungen, wie das Individuum sich in der (post-)modernen Gesellschaft zurecht finden könne und stellt die Bausteine zur Errichtung von Identität in einer Zeit, wo nichts mehr sicher ist, bereit, wandelt damit also Kontingenzen in Komplexität um und verringert diese sogleich durch ein eingegrenztes Handlungsangebot. Dies ist je mehr vonnöten, desto mehr die Diversifikation und Pluralisierung von Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens zunimmt. Nicht nur durch die ständige Erweiterung des Marktes und die boomenden Branchen des Marketings, der Werbung und der Marktforschung stehen dem Einzelnen immer mehr (und nicht nur: suggerierte) Wahlmöglichkeiten offen. Auch durch strukturelle Veränderungen des Lebens- und Arbeitsumfeldes mit veränderten Wohn-, Arbeitsund Lebensbedingungen, wo sich der und die Einzelne immer unabhängiger und eigenständiger abseits vom brüchig gewordenen normativen gesellschaftlichen Orientierungsrahmen positionieren kann, entsteht zunehmend Raum für individuelle Entfaltung. Die Rezeption von Ratgebern kann als eine Maßnahme der Konstruktion von Erwartungssicherheit gedeutet werden, da diese bestimmte ausgewählte Handlungen als korrekt und erfolgsversprechend propagieren und deren Anwendung im praktischen Leben als Hilfestellung gegen das potentielle Versagen legitimieren. Dabei rekurrieren sie zumeist auf mehr oder minder logische kausale Analysen der jeweiligen Problemsituation und verlängern vergangene, eigene Erfahrungswerte des Autors bzw. der Autorin in Kombination mit (populär-) wissenschaftlichen Erkenntnissen und Expertenmeinungen in Zukunftsprognosen. Wer einem guten Ratschlag folgt, fühlt sich auf der sprichwörtlich sicheren Seite. Denn sie machen die ungewiss erscheinende Zukunft gewissermaßen kontrollier- und steuerbar. Sicherheit liegt nicht mehr außerhalb der eigenen Welt, ebenso wie durch Säkularisierung der Unsicherheit als kosmologische Bedrohung hin zu einer kausalanalytisch erklärbaren, menschlichen Aktivität diese gesellschaftlich kalkulierbar und beherrschbar werden und den Menschen zum aktiv Handelnden erheben. Dieser ist nicht Spielball ungewisser Mächte und Opfer des Schicksals, sondern Verfechter seines eigenen Glücks. Gefahren und Krisen sind zurechenbar und durch konkrete Strategien beherrschbar. Unsicherheit wird somit vor allem zum Problem mangelnden Wissens und/oder Engagements, dem die Ratgeberliteratur entgegen wirkt. Sie verspricht mit der

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Kumulation von Wissensbeständen die Schließung von potentiellen Wissensund damit auch Sicherheitslücken. Daher stellt sich also die Frage: gegen welche Unsicherheiten gehen die chinesischen Frauenratgeber an? Was ist der Grundtenor der Ratgeber? Was ist die grundlegende Frage, die die Ratsuchenden antreibt? Welche Ratschläge und darin aufgezeichneten Diskursstränge und Narrative lassen Rückschlüsse über soziale Bedürfnislagen ziehen? Nun, prinzipiell zielen alle Ratgeber wohl auf das Erreichen eines so genannten »glücklichen, erfolgreichen Lebens« ab. Hierbei sprechen wir weniger von individuellen Glückserfahrungen, sondern von einer gesamtgesellschaftlich akzeptierten und legitimierten Definition von »Glück« als wünschens- und erstrebenswerten Zustand des Individuums in seiner gesellschaftlichen Position als Konglomerat von individuellen Wünschen und Vorlieben, kollektiven Normen und Erwartungshaltungen. Dies kondensiert der therapeutische Diskurs im Narrativ vom »guten, glücklichen Leben«, welches Elemente aus den Bereichen wirtschaftlicher Ressourcen, beruflicher Chancen, materiellen Lebensstandards, sowie familiären und persönlichen Lebensumfelds umfasst und im gesellschaftlichen Konsens als Ideal und Ziel individuellen Handelns und Strebens konstruiert. Dieser Standard wird in der diskursiven Konstruktion von Normalität als imperativer Soll-Zustand festgesetzt, dem es gilt sich im Prozess der Selbstverwirklichung durch entsprechende Justierungen der eigenen Wahrnehmung, Verhaltensweisen und Einstellungen anzunähern. Damit erzeugt das Narrativ vom guten Leben indirekte soziale Erwartungshaltungen, die das Individuum in seinen spezifischen gesellschaftlichen Normalisierungsbestrebungen zum Aufgreifen bestimmter Optimierungsoptionen zwingen, denn in Zeiten der Selbstoptimierung und Selbstmanagements ist »gut [...] nicht gut genug« (Maasen 2012). Denn zeitgleich mit dem positiven Zielpunkt wird auch immer eine Negativkontrastfolie entworfen: das Narrativ des Scheiterns, des Unglücklich-Seins, welches eintritt, wenn die Strategien der Selbstverwirklichung ignoriert oder nicht korrekt angewandt werden. Dieser negative Zustand ist auch der Ausgangspunkt der Ratgeber: der Leser oder die Leserin ist offensichtlich mit seinem/ihrem Leben unzufrieden und möchte es ändern. Offenbar ist die Rezipientenschaft in China eben nicht glücklich und lebt kein erfülltes, gutes Leben, weshalb es einer Korrektur und Verbesserung, einer Annäherung an den glücksverheißenden SollWert, bedarf. Doch wodurch ein »gutes Leben« definiert ist und wie es verwirklicht werden kann, unterlag aus historischer Sicht schon immer ganz unterschiedlichen

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Interpretationen. Gemein haben die meisten der historischen Konzepte vor allem das Zurückstellen individueller Bedürfnisbefriedigung zugunsten »übergeordneter« Projekte des kollektiven Gemeinschaftswohls, sei es nun das Familien- und Clan-Wohl im feudalen China, die »Rettung der Nation« im republikanischen China oder der Aufbau der kommunistischen Utopie im sozialistischen China. Dementsprechend war das eigene Lebensglück hauptsächlich von den äußeren politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensumständen abhängig und wurde somit an größere Zusammenhänge und Entwicklungen gekoppelt, die außerhalb des Wirkkreises des und der Einzelnen lagen. Glücklichsein war kein individuelles Schicksal, sondern bedingt durch die allgemeine politische, ökonomische und soziale Lage. Umgekehrt bedeutete das aber auch, dass jenes geflügelte Sprichwort der westlichen Aufklärung – dass jeder Einzelne seines eigenen Glückes Schmied sei – nicht galt, da es ja nicht im eigenen Verantwortungsbereich lag. Seit Beginn der Reformära in den 1980er Jahren kam es jedoch zunehmend zu einer Verschiebung dieser Verantwortlichkeit. Durch die Ausrichtung aller politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche am wirtschaftlichen Fortschritt erlebte die chinesische Gesellschaft einen ähnlichen Prozess wie Europa durch die Säkularisierung, nur dass die sozialistische Utopie in diesem Falle die religiöse Ausrichtung ersetzte. Mit dem Zurücktreten des politischen Programms und dessen Einflusses auf das Leben des und der Einzelnen verlagerte sich der Schwerpunkt des Lebens mehr und mehr auf »diesseitige« Interessen jenseits ideologischer Implikationen. Mit den Auswirkungen des Wirtschaftsbooms und dem Aufkommen erster Selfmade-Millionär/innen wird deutlich, dass »Erlösung«, Glück und Wohlstand nicht erst in der sozialistischen Utopie zu finden sind, sondern schon jetzt innerhalb von wenigen Jahren erreicht werden können. Dementsprechend erfolgte eine Verlagerung der Gewichtung auf Autonomie, Selbstverwirklichung und Individualität. Glücklichsein ist nicht mehr externes Schicksal oder Ausdruck weiser politischer Führung, sondern Ergebnis eigener Arbeit und kluger Entscheidungen. Im Zeitalter des unternehmerischen Selbst wird der moderne Mensch zum Verwalter seines persönlichen Glücks ernannt und damit zugleich zum Unternehmer. Er muss sich und sein Leben so managen, dass ausreichend Glück »erwirtschaftet« werden kann und ist deshalb Innovator, Träger von Risiken, Koordinator und günstigenfalls Nutznießer von Gewinnchancen in Personalunion (Bröckling 2007: 111f.). Diese Gleichsetzung des Lebens mit einem managebaren Projekt verlangt vom Individuum zwei Fähigkeiten: die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und zur richtigen Wahl bzw. Selektion dieser, denn selbst wer über alles theoretisch Bescheid weiß, »kann immer noch die falsche Entscheidung

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treffen, sich doch nicht optimal platzieren, doch die falsche Ausbildung, den falschen Job, den falschen Partner, die falsche Kleidung, den falschen Körper wählen« – und damit sein potentielles Lebensglück aufs Spiel setzen (Posch 2009: 54). Diese Qual der Wahl und das damit verbundene Risiko wird noch verschärft durch eine zunehmende »Pflicht zur Individualität« (Luhmann 1991), die sich nicht nur aus den sich stetig diversifizierenden Wahlmöglichkeiten ergibt, sondern auch durch die soziale Mobilität und sich rasant verändernde Lebensbedingungen notwendig wird. Bei der Frage, welches Wissen dafür konkret relevant ist, spielt die inszenierte Antizipation von Unsicherheiten, wie sie in unterschiedlichen Institutionen und Medien durchgespielt werden, eine wichtige Rolle, um die konkrete zeitund raumabhängige Relevanz einer »Gefahr« zu definieren, denn nicht alle möglichen Szenarien sind immer gleich präsent, sondern werden in ihrer Bedrohung unterschiedlich eingestuft. Dies zeigt sich auch an den »Gefahren« und Risiken, die in den Ratgebern angesprochen und behandelt werden. Hier geht es nicht um globale politische oder ökonomische Auswirkungen kapitalistischer Postindustriegesellschaften in der Zweiten Moderne, sondern um die alltäglichen Bedrohungen des persönlichen »kleinen Glücks« auf mikrosozialer Ebene, wie beispielsweise die Bedrohung oder gar Auflösung der Familienstruktur durch einen Seitensprung oder Trennung der Ehepartner oder das richtige Familienmanagement in Anbetracht sozialer Erwartungen und ökonomischer Notwendigkeiten. In Anbetracht der Risiken, die für eine Risikogesellschaft im Allgemeinen oder gar in der Weltgemeinschaft relevant sind, erscheinen diese Probleme eher marginal und vernachlässigbar, doch für die individuellen Akteure und Akteurinnen sind sie durchaus von großer Relevanz für die eigene, als gelungen bewertete Lebensgestaltung. Der öffentliche Diskurs verstärkt durch das Aufgreifen dieser Themen die Entstehung einer Semantik des Risikos, denn Statistiken über steigende Scheidungszahlen oder Seitensprünge alleine sagen noch nicht viel aus. Erst die Deutungen, Reaktionen und Aktionen, die draus abgeleitet und öffentlich diskutiert werden, erzeugen die Konstruktion eines gewissen Risikos und einer Bedrohung. Dabei sind die Kanäle vielfältig – von staatlichen Institutionen über die Medien und Populärkultur bis hin zum alltäglichen »storytelling« interagieren unterschiedlichste Kommunikationsquellen und schaffen damit unterschiedliche, manchmal widersprüchliche Semantiken des Risikos, wie es beispielsweise James Farrer anhand des »sexual storytelling« unter Jugendlichen in Shanghai untersucht hat (Farrer 2002). Hier wurde unter anderem durch warnende Negativgeschichten das Risiko des »Gefühlsbetrugs« – ein Mädchen lässt sich durch das Vorspielen unehrlicher

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Gefühle der Zuneigung zu sexuellen Gefälligkeiten überreden – konstruiert und weitergegeben. Ebenso untermalen die unter Wanderarbeiterinnen populären Geschichten von gescheiterten Beziehungen in der Fremde das Risiko der selbstbestimmten, familienunabhängigen Liebe und plädieren weiterhin für quasi-familienarrangierte Ehen in der alten Heimat (Ma/Cheng 2005). Ähnlich funktionieren auch staatlich eingerichtete oder subventionierte Institutionen der sexuellen Aufklärung, die immer besonders die Risiken unnormalen Sexualverhaltens betonen und zur hygienischen Prävention aufrufen (McMillan 2006, Evans 1997). Auch die aktuell wohl am häufigsten diskutierte Bedrohung durch »di sanzhe« (die »Dritte« im Ehebunde bzw. die Geliebte) und brüchige Beziehungskonstellationen wird auf unterschiedlichsten Kanälen diskutiert. Nicht nur im Internet lassen sich Unmengen relevanter und widersprüchlicher Websites – von virtuellen Klagemauern für Fremdgeher bis hin zu Beratungsstellen für Geliebte – dazu finden, sondern diese Thematik prägt auch beinahe jede Handlung von chinesischen Soap Operas (lianxuju) im TV. Einflussreiche Fernsehproduktionen wie »Divorce Chinese style« (zhongguoshi lihun) (2004) oder »Married ten years« (jiehun shi nian) (2002) bis hin zu »Pink Ladies« (fenhong nülang) (2002) oder »Falling in love« (haoxianghaoxiang tan lian ai) (2005) oder »Men's group« (nanren bang) (2010) kreisen um aktuelle Fragen der Intimbeziehung. Und auch wenn sie zwar mit eher konservativen Auflösungen enden, zeigen ihre Handlungsbögen doch recht deutlich jeweils als Bedrohungen wahrgenommene soziale Phänomene wie uneheliche Partnerschaften, Seitensprünge, Konkubinat, materielle und konsumistische Voraussetzungen und Veränderungen des Liebeskonzepts. Auf diese Weise machen sie die Risiken sichtbar, denen offenbar sinnbildlich jede Intimbeziehung in China theoretisch ausgesetzt ist (vgl. Kong 2008, Dippner 2012). Gleichzeitig erzeugen auch viele Geschichten und Berichte in Frauenzeitschriften wie »Zhiyin« oder »Jiating« ähnliche Semantiken des Risikos, die das Bild einer nahenden und ganz alltäglichen Gefahr ergänzen. Denn Risiken haben an und für sich keine abstrakte Existenz, sie werden nur in der Beurteilung einzelner Gruppen real, wobei so genannte Experten und Expertinnen als Autoritäten eine mächtigere Position in der Konstruktion und Beurteilung dieser Risiken einnehmen als Laien. Diese Experten und Expertinnen rekrutieren sich in China vor allem aus der Wissenschaft oder sie sind selbsternannte Spezialisten und Spezialistinnen, die auf ihre Lebenserfahrung und soziale Beobachtungsgabe rekurrieren. Es entsteht eine neue Riskanz des Risikos, weil die Bedingungen seiner Kalkulation und institutionellen Verarbeitung versagen. Dadurch, dass staatliche Regularien und Institutionen fehlen, um den antizipierten Unsicherheiten entgegen zu wirken, ist das Individuum selbst zu Schutzmaßnahmen aufgefordert.

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Ähnlich wie im Falle der mangelhaften staatlichen Krankheitsversicherung und medizinischen Versorgung, die die Menschen zu eigenen Vorsorgemaßnahmen wie der Yangsheng-Bewegung antreiben (vgl. Farquahr/Cheng 2012), kann der Mangel an staatlicher Absicherung und institutioneller Hilfestellung bei der Regelung von Unsicherheiten in der Zweierbeziehung wie beispielsweise im Bezug auf einen Versorgungsausgleich und einer einheitlichen Regelung der Gütertrennung im Falle von Scheidungen, der Klärung des Sorgerechts und Kindesumgang wie auch im Falle der Trennung von nicht ehelich institutionalisierten Intimbeziehungen als ein Motiv für die Eigeninitiative insbesondere der Frauen gesehen werden, da für diese das »Risiko« in diesen Fällen allgemein als höher bewertet wird. Wenn es also weder im Bezug auf die Regelung von familiären Bedarfsgemeinschaften noch von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitnehmerrechten, über die Krankenbehandlung bis hin zur Nahrungsmittelversorgung kein staatliches Sicherheitsversprechen mehr gibt, das eine gewisse Kontrollierbarkeit und Kompensation der im öffentlichen Diskurs deutlich inszenierten Risiken verspricht, können die in den Ratgebern propagierten Verhaltensnormen auch als ein Versuch der Institutionalisierung und Herausbildung eines alternativen Regelsystems im Umgang mit Unsicherheiten gesehen werden. Denn klare Verhaltensregeln mit relativ verlässlicher Vorausschaubarkeit versprechen Abhilfe und Erleichterung im Kampf mit der ständigen Unsicherheit, indem sie Erwartungssicherheiten durch die Kalkulierbarkeit von Risiken und Investitionen schaffen. Sie bieten relativ genaue Rahmenbedingungen und Ansatzpunkte, die dem Einzelnen bei der Auswahl von Entscheidungen und deren Legitimation helfen und Handlungsschemata vorgeben. Durch das Rekurrieren auf Expertenmeinungen oder »traditionell« erprobte Methoden wie dem konfuzianischen Prinzip der Reziprozität erscheint die als undurchschaubar wahrgenommene Realität der sozialen Kontingenzen auf handhabbare Komplexitäten reduziert und individuell beherrschbar gemacht. Gleichzeitig fällt dazu Perry Links Studie über die butterfly fiction Anfang des 20. Jahrhunderts ein (Link 1981). Er erklärt deren Popularität damit, dass die seichten Liebesgeschichten einen geistigen und emotionalen Rückzugsort für die von der urbanen Konsumkultur einerseits überstimulierte, andererseits jedoch stark verunsicherte Leserschaft der unteren Mittelschicht und Unterschicht mit ländlichen Wurzeln boten und ihnen half mit Widersprüchen zwischen ihren ursprünglichen Erwartungen und der konkreten Lebensrealität umzugehen, indem die im realen Leben enttäuschten Träume und Wünsche in die Fiktion projiziert wurden. Auch die Ratgeber bewahren durch ihre Versprechungen vom greifbaren besseren Leben die Illusion der Überwindung aktuell als prekär emp-

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fundener Lebensumstände und verheißen die letztliche Erfüllung ursprünglicher Glückserwartungen.

S ELBSTKULTIVIERUNG : E IN IN C HINA

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P HÄNOMEN

Die Arbeit am Selbst ist in China kein neues Phänomen, stattdessen kann auf eine lange Tradition der Selbstkultivierung zurückgeblickt werden, welche konzeptuell und strukturell dem modernen therapeutischen Diskurs sehr nahe kommt. Den Anfang stellen die konfuzianischen Analekten dar, die wohl historisch wirkmächtigste Form eines Vorläufers des therapeutischen Diskurses in der chinesischen Geistes- und Kulturgeschichte und das beste Beispiel für die gesellschaftsbildende und -verändernde Wirkung von Ratgebern und Lehrschriften. Die konfuzianischen (Lehr-)Schriften sind formal durch den für Ratgeber typischen Aufbau eines Lehrer-Schüler-Gespräches gekennzeichnet. Sie stellen eine verschriftlichte Form des oralen Lehrgesprächs dar und geben daher in einem hierarchisch geprägten Prozess eine autoritäre Expertenmeinung zu spezifischen, vor allem moralischen Weltanschauungen – von Fragen der Staatsführung, über soziales Verhalten bis hin zur Einbettung des Einzelnen in das Sozialgefüge – wider und fordern den damals männlichen Rezipienten als »Schüler« auf der Suche nach Belehrung zur Nachahmung auf. Zwar sind die Formulierungen zumeist nicht im Imperativ gehalten, doch lassen sich die gegebenen Aphorismen leicht in positive und negative Beispiele bzw. erwünschte und unerwünschte Verhaltensnormen transformieren und bilden damit eine Leitlinie der Handlungsorientierung. Tatsächlich betonen die konfuzianischen Analekten die interund intrapersonellen Prozesse des Lernens (xue), Reflektierens (si) und Wissens (zhi) als Voraussetzung der Persönlichkeitsbildung in der Jugend, welche im mittleren Alter um formale soziale Regularien wie Riten (li) und Tugend (de) ergänzt werden. Erst nach Abschluss dieser »Erziehung«, also der Internalisierung dieses Kanons an Verhaltensregeln, ist der Mensch in der Lage eine eigene ästhetische und soziopolitische Stellung zu beziehen (Hall/Ames 1987). Nur jemand, der die Klassiker ausgiebig studiert hat und alle Regeln und Ordnungen umfassend beherrscht, kann im konfuzianischen Gesellschaftssystem eine autoritäre Stellung einnehmen. Hierbei korrelieren die Internalisierung dieser Regeln und ihre korrekte Wiedergabe mit der sozialen Stellung des Individuums in der Gesellschaft. Die Erarbeitung einer Position und gesellschaftlicher Integration

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bedurfte also neben ökonomischen und politischen Kapitals vor allem der Arbeit am Selbst.1 Das Ziel eines Großteils der damals zirkulierenden und autoritär wirksamen Lehrschriften (z.B. Kongzi, Mengzi) ist die Internalisierung der vorgegebenen Verhaltensstandards und damit der Wandel von Fremdführung (angeleitet durch die Schriften) zur Selbstführung: Das Ideal des qunzi oder ren ist nur durch diverse Techniken der Selbstkultivierung zu erreichen (Hall/Ames 1987: 114ff. und 176ff.) und entspricht damit bereits modernen Technologien des Selbst im Foucault'schen Sinne, denn die Veränderungen und Modifizierungen am Selbst dienen letztlich der Verfestigung gesellschaftlicher Normen und Internalisierung von Regierungstechniken durch eine freiwillige Selbstkontrolle. Damit nahmen die konfuzianischen Schriften bereits in einigen Punkten das Grundkonzept des therapeutischen Diskurses vorweg und erfüllten zu großen Teilen die bereits oben erörterten Funktionen von Ratgeberliteratur. Auffälligster Unterschied des konfuzianischen Modells der Selbstführung zu heutigen Ratgebern ist jedoch die starke Rekurrenz auf etablierte soziale Normen und eine Ausrichtung des Handlungsrahmens entlang streng formaler, dogmatischer Gesellschaftsstrukturen, während der moderne therapeutische Diskurs ja gerade durch den Wegbruch eben jener struktureller Orientierungsgerüste entstanden und notwendig geworden ist und daher dem Individuum nicht nur die Aufgabe der Selbstführung, sondern auch Selbstverantwortlichkeit anträgt. Im Konfuzianismus erschöpfte sich die Selbstverantwortung des und der Einzelnen in der Internalisierung und korrekten Ausführung ritualisierter sozialer Normen und der Einordnung in hierarchische soziale Beziehungen. Soweit dies vorschriftsmäßig erfüllt wurde, konnte der/die Akteur/in durch die Reziprozität des konfuzianischen Konzepts auch entsprechende soziale Akzeptanz erwarten und damit gewisse Erwartungssicherheiten aufbauen. Diese »Garantie« des sozialen Erfolgs fehlt dem modernen therapeutischen Diskurs aufgrund der internen Varianz und Unbeständigkeit nur vorläufig gültiger Normalitätsentwürfe und der generellen Pluralität von Lebensgestaltungsmöglichkeiten in der (Post-)Moderne. Doch nicht nur die konfuzianischen Klassiker und ihre Folgeschriften können in weiten Teilen als Frühformen der Ratgeber gelesen werden. Darüber hinaus existierte im antiken China ein umfangreiches Spektrum an themenspezifischen Anleitungen vom Kochbuch über (meist daoistisch inspirierte) Gesundheitspraktiken, Hilfestellungen bei der Beamtenprüfung bis hin zu »Familienrat-

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Siehe z.B. das chinesische Konzept von »Herrschaft durch Tugend« auf Basis einer konfuzianisch geprägten Kultur von Autorität (Hershock/Ames 2006).



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gebern« inklusive detaillierten Sexualanleitungen (Van Gulik 1974). Es gab auch bereits Schriften zu den äußeren Qualitäten, die eine attraktive Frau aufzuweisen habe. So sollen beispielsweise in einem besonderen Handbuch die Merkmale von Frauen, die für den kaiserlichen Harem infrage kamen, festgehalten worden sein (Messmann 2005). Ebenso finden sich zahlreiche Aufzeichnungen über Techniken und vorbildliche Ergebnisse des Füßebindens als die temporär am weitesten verbreitete Maßnahme weiblichen Schönheitshandelns. Besondere Verbreitung fanden allerdings so genannte erzieherische Tugendschriften, welche die konfuzianischen Verhaltensleitsätze weiter ausdifferenzierten und konkretisierten. Hierzu zählen Werke wie das xiaojing, welches insbesondere innerfamiliäre Beziehungen festlegt, diese jedoch auch auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene erweitert (vgl. Rosemont/Ames 2009). Dies wiederum fand nochmals eine geschlechtsspezifische Untergliederung in Werken wie dem »nü xiaojing« oder »nü jie«, die Darstellungen eines umfangreichen und akribisch angelegten sozialen Verhaltenskanons, der auch die Geschlechterrollen bis ins Detail reglementiert, liefern. Doch anders als die konfuzianischen Klassiker, die bereits das eigentlich moderne Moment der Arbeit am Selbst beinhalten, gestalten sich die konfuzianischen Frauenlehrschriften noch weit dogmatischer und regelhafter. Ihnen fehlt meist die Aufforderung zur Selbstkultivierung und Herausbildung eines moralischen Bewusstseins, stattdessen bleiben sie auf der Ebene reiner Handlungsanweisungen stehen. Denn anders als die an die männliche Leserschaft gerichteten konfuzianischen Schriften, waren die Frauenlehrschriften stark normativ und didaktisch geprägt, da der weibliche Intellekt und seine Lernfähigkeit als dem männlichen weit unterlegen angesehen wurde. Zahlreiche Interpretationen der konfuzianischen Klassiker stützen sich auf Zitate, nach denen Frauen ein aktives Bewusstsein fehle, weshalb sie aufgrund mangelnder Selbstreflexivität und Selbstkontrolle nicht für das Konzept der Selbstkultivierung geeignet seien. Stattdessen sollten sie einfach nur vorgegebene Regeln befolgen und Verhaltensweisen nachahmen. Dadurch gestalten sich die Frauenlehrschriften weniger als universell gültiges, humanitäres Konzept, sondern stellen mehr ein zeithistorisches Abbild von Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Strukturen dar. So erläutert unter anderem das von Liu Xiang kompilierte »Lienü Zhuan« die Kurzbiographien von 125 »vorbildlichen« Frauen der Zhou- und Han-Zeit und unterteilt diese aufgrund ihrer exemplarisch zitierten Taten in Kategorien wie »Mütterlichkeit«, »Güte und Klugheit«, »Fügsamkeit und Keuschheit«, »Treue, Loyalität und Würde« oder »Unheilvolle Frauen und Favoritinnen« (vgl. Raphals 2012: 222f.). Hier ist bereits jene moralische Bewertung zu erkennen, welche die meisten Frauenschriften deutlich kennzeichnet. Es werden zumeist

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Schwarz-Weiß-Bilder von Frauen gezeichnet, welche entweder für den Aufstieg oder Verfall eines Hauses oder gar Reiches verantwortlich gemacht werden, indem sie guten oder schlechten Einfluss auf die jeweils regierenden Männer nahmen. Dadurch wird trotz eines Lobes für relativ unabhängige, loyale Frauen indirekt deren Bedeutung als Entscheidungsträgerinnen kritisiert und für eine Einhaltung des sittlichen Normensystems der räumlichen und gesellschaftlichen Geschlechtertrennung plädiert, welches die öffentliche Einflusssphäre der Frau stark reduziert. In den Folgewerken vermindert sich der Anteil der »starken« Frauen, welche durch Klugheit und Mut ihren Söhnen und Gatten hilfreich zur Seite stehen, zunehmend; dafür nehmen die Abhandlungen über die Einhaltung von Geschlechterhierarchien zu (Vogl 1998: 145). So beschäftigten sich die »Frauengebote« (nüjie) (ca. 106 n. Chr.) von Ban Zhao vor allem mit »Niedrigkeit und Schwäche«, »Ehrfurcht und Vorsicht« der Frau und stellt mit Kapiteln wie »Krumm folgen« und »Mit ganzem Herzen« die Beziehung zum Mann und dessen Familie entlang der drei Abhängigkeiten und fünf Beziehungen in den Vordergrund (vgl. Schilling/Kralle 2001). In gewisser Weise können diese erzieherischen Frauenschriften des traditionellen Chinas durchaus als Vorgänger der heutigen »nüxing duwu« angesehen werden. Abgesehen von der strukturellen und formalen Gestaltung in Form des Lehrgesprächs, befassen sich die Schriften mit der idealen Lebensgestaltung und der gesellschaftlich gratifizierten Geschlechterrolle. Sie geben durch das Zitieren von vorbildlichen oder negativen Beispielen konkrete Anweisungen und stecken den sozial erwünschten Handlungsrahmen ab. Damit spiegeln sie zugleich auch gesellschaftliche und sozialpolitische Strukturänderungen im Laufe der Zeit wider, wie sich beispielsweise im Rückgang der Geschichten von »mutigen« Frauen, die in der öffentlichen Sphäre gleichberechtigt mit dem Mann agierten, und die zunehmende Beschränkung der weiblichen Wirksphäre auf den häuslichen Bereich im historischen Fortschritt ersehen lässt. Auch nach Ende der Kaiserzeit und der entsprechenden Ablehnung konfuzianischer Leitsätze florierte in der Republikzeit das Genre der Ratgeber; Intellektuelle und Reformer diskutierten darin den Neuentwurf einer modernen chinesischen Selbstdefinition – den »neuen Mann« – in Abgrenzung zur als nun negativ empfundenen konfuzianischen Gesellschaftsstruktur der Feudalzeit (Cheng 2009). Wie Frank Dikötter insbesondere anhand von Ratgebern und Lehrschriften zu sexuellen Themen darstellt, wurde das zur damaligen Zeit vorherrschende szientistische Weltbild auch auf das Privatleben übertragen und prägte die Vorstellungen der Geschlechterbeziehung. Sie enthoben das Individuum zwar dem konfuzianischen Regelkanon, betteten es jedoch zugleich in ebenso dogmatische pseudo-wissenschaftliche, zumeist darwinistisch beeinflusste Distinktionen ein

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(Dikötter 1995). So ergingen sich viele, vor allem an eine männliche Leserschaft gerichtete, erbauliche Schriften in der Aufgabe der Errettung der geschwächten Nation durch intellektuelle Mitarbeit an Aufklärung und Fortschritt, während Frauen vor allem über die Wichtigkeit der Mutterrolle als Erzieherin künftiger Reformer und eines gesunden Volkes aufgeklärt wurden. Doch trotz eines allgemein eher szientistisch-darwinistischen Tenors nahmen sich diese Medien des Rates aufgrund unterschiedlichster Inspirationsquellen in jener Zeitepoche äußerst pluralistisch und vielfältig aus. Allenthalben aus dem Ausland importierte und rasant populär werdende Theorien zu gesellschaftlicher Neuerung und Modernisierung – die jeweils ein so genanntes »Fieber« bzw. einen Boom auslösten – wetteiferten untereinander und erzeugten auch in ihrer schriftlichen Ausprägung unterschiedlichste Ansichten und Verfechtergruppierungen. Besonderen Einfluss nahm dabei vor allem die Einführung der Idee des Unterbewussten aus der Psychoanalyse nach Freud und die intellektuellemanzipatorischen literarischen Werke europäischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen (Jiang/Ivanhoe 2013). Daneben etablierte sich ebenfalls ein großer Markt für Ratgeber und Begleiter eines neuen Lifestyles der bourgeoisen »modernen Frau« (modeng nüxing) (vgl. Weinbaum et al. 2008). Sie versprachen jenseits von politischen und ideologischen Implikationen der urbanen Dame von Welt neueste Modetipps oder schürten – vor allem in Form von Groschenromanen der Butterfly-Fiction – die bourgeoise Phantasie der romantischen Liebe (Lee 2007, Mittler 1997, 2003, 2007). Gerade in diesen äußerst populären Publikationen wurden den abstrakten Ideen von Moderne und Modernität erstmalig konkrete Formen und praktische Umsetzungsvorschläge für Jedermann verliehen und damit zur tatsächlichen Verkörperung politisch-ideologischer Konzepte beigetragen. Repräsentationen vom bourgeoisen Leben gerieten nach Durchsetzung der kommunistischen Vorherrschaft rasch aus der Mode und wurden durch neue Ideale ersetzt. Denn auch wenn im sozialistischen China neue Direktiven die nun verbotenen Ratgeber aus der Feudal- und Republikzeit ersetzten, kam die sozialistische Gesellschaft doch auch nicht ohne Ratgeber aus – im Gegenteil: politisch-propagandistische Lehrschriften vom »kleinen roten Buch« (Mao-Zitate) bis zur Modelloper erlebten einen wahren Boom und detaillierte Beschreibungen zum Leben von sozialistische Vorbildfiguren wie Lei Feng gaben konkrete Anstöße zur Nachahmung. Der oder die potentielle Modell-Revolutionär und Revolutionärin bekam von staatlicher Instanz einen ziemlich genauen – meist visuell anschaulichen – Setzbaukasten zur Verwirklichung seiner bzw. ihrer revolutionären Qualitäten in allen Bereichen zur Verfügung gestellt. Es entstand ein detaillierter Kanon mit jenen ideologischen, physischen und psychischen Merkma-

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len, die eine/n guten Klassenkämpfer/in ausmachen sollten. Auch die Vorstellungen der idealen Frau im Sozialismus blieben nicht der Phantasie überlassen: insbesondere Propagandaposter, Filme, Opern und andere visuelle Medien prägten das stereotype Bild der »eisernen Mädchen« (Landsberger 1995, Chen 2002, Chen 1999). Speziell an Frauen richteten sich zudem Ratgeber zur Hygiene, zur Haushaltsrationalisierung, zum sinnvollen Einsatz der weiblichen Produktionskräfte und zur Etablierung einer korrekten Sexualität, da Frauen nach wie vor als Hüterinnen der Moral angesehen wurden und ihre sexuelle Zurückhaltung als Kontrollinstrument männlicher Sexualität und zur Kanalisation sexueller Energien in die Produktion diente (Schweiger 2001, Evans 1997). Die Vielfalt an Ratgebern, Handlungsanweisungen und medialen Vorbildern in der maoistischen Ära erklärt Yan Yunxiang damit, dass in dieser Phase trotz allgemeinem Kollektivismus bereits eine erste Individualisierung der Gesellschaft stattfand, indem der ideale Revolutionär erstmalig radikal aus allen bisherigen sozialen und kulturellen Bezügen freigestellt wird, um als neuentworfener sozialistischer Bürger seine ganze Energie den Parteizielen zu widmen. Damit wurde die Vormachtstellung von Familie und (konfuzianischen) gesellschaftlichen Normen als identitäts- und zugehörigkeitsstiftende Institutionen durch den omnipräsenten Parteistaat abgelöst: »At a deeper level […], the Chinese individual was disembedded, in many cases forcefully, from the traditional networks of family, kinship, and community and the constraints of the traditional, mostly Confucian and patriarchal values and behavior norms.« (Yan 2010: 493) Die Negierung aller bisherigen Bezugsinstitutionen und damit Isolierung des Individuums von jeglichen Orientierungsrahmen wurde in der sozialistischen Phase durch die allgegenwärtige Propaganda abgefangen. Mit dem rapiden Zerfall der sozialistischen Ideologie ab den 1980er Jahren übernahm jedoch keine zentrale Instanz mehr diese Führungsrolle, vielmehr blieben die einzelnen sozialen Akteure und Akteurinnen im Zuge der Individualisierung auf sich selbst gestellt. Dies sieht Yan insofern als ein Problem an, als dass es in China keine individuelle Selbstreferentialität gibt, da sich das Individuum immer noch im Kontext der sozialen Gruppe definiert. Individuelle Interessen und Bedürfnisse bleiben sekundär hinter denen der Gruppe zurück: »[T]he group (be it the family or the state) does not exist to support the individual; it is the other way round – the individual exists to continue the group.« (Ebd.: 493) Dementsprechend unterliegt in China seit jeher das individuelle Handeln einer sehr starken Orientierung an Autoritäten und Institutionen bzw. deren Direktiven in Form von Gesetzen, Normen und Handlungsschemata. Dies erklärt die durchgängige historische Existenz von Beratung bzw. von schriftlichen Handlungsanweisungen seit den

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konfuzianischen Klassikern, die dem größtenteils fremdbestimmten Individuum die jeweils erforderlichen Reglements näher brachten. Und tatsächlich sieht Yang Jie die politische Führungsmacht und Einflussnahme im Leben des und der Einzelnen trotz Individualisierung und neoliberaler Selbstverantwortlichkeiten als nicht geringer als zu Mao-Zeiten an. Nur die Techniken haben sich gewandelt: Anstelle von politischer Indoktrination bei kollektiven Kritiksitzungen vermittelt heute psychologische Beratung durch ehemalige Parteimitglieder und Nachbarschaftskommitees die Parteimaxime der Anpassung an die Marktwirtschaft. Ein gutes Beispiel für die Aktualität psychologisierender Betreuungsmaßnahmen im Zeichen von social engineering ist der verstärkte Einsatz von psychotherapeutischen Ansätzen und Methoden ab Ende der 90er Jahre zum Umgang mit sozioökonomischen Problemfällen wie Massenarbeitslosigkeit, Armut und anderen Kollateralschäden der Privatisierung und des ökonomischen Wachstums. Anstelle von strukturellen Änderungen zur Verbesserung der tatsächlichen Lebenssituation setzt die chinesische Sozialpolitik verstärkt auf psychotherapeutische Strategien von Governance, indem aggressiv Slogans und Kampagnen mit einer psychologisierenden Rhetorik der Arbeit am Selbst zum Erreichen positiver Ziele ausgegeben wurden. Die Verbreitung von therapeutischen Hilfestellungen in Form von Betreuung und Beratung für marginalisierte soziale Gruppen resultierte also aus der sozialpolitischen Agenda: »In the name of caring for those who have been displaced by state-supported privatization reemployment managers […] transform these workers into objects of care, thus translating the exercise of power into an activity of therapy and using therapy to regulate them and harness their potential for the new economy« (Yang 2015: 6).

Dies löste in der Folge einen allgemeinen »Psycho-Boom« aus (Kleinman 2010), der durch ein gesamtgesellschaftlich gesteigertes Interesse an Publikationen zu Psychologie und psychotherapeutischer Beratung gekennzeichnet war, was sich u.a. in der Etablierung zahlreicher therapeutischer Fernsehshow wie der »Psychologischen Talkshow« (xinli fangtan) ab 2005 im staatlichen Kanal CCTV12 niederschlug, die sehr zur Popularisierung von psychologischem Denken und Terminologien beitrugen. Erkenntnisse der Psychologie wie beispielsweise das Narrativ der Selbstheilung durch Reflexion, die aktive Aufarbeitung von Konflikten durch ein emotional geprägtes Gespräch und vor allem die Freisetzung des eigenen, bislang gehemmten Potentials durch eine positive und optimistische Einstellung gingen dadurch schrittweise in das allgemeine Denken ein und wurden Teil des lebensweltlichen Wissens der Durchschnittsbevölkerung. Das seit 2008 populär werdende literarische Genre der Selbsthilfe-Ratgeberbücher ist als

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Ergebnis dieses Psycho-Booms und der aus der zunehmenden Popularität von psychologischem Wissen resultierenden aktiven Suche nach Beratung zu sehen. Die Tradition, sich auf Experten und Expertinnen des Rates zu verlassen und das eigene Leben daran auszurichten, ist somit durch die soziokulturellen und soziopolitischen Spezifika der chinesischen Gesellschaftsstruktur vorgezeichnet. Einzig die jeweils kommunizierten gratifizierten Inhalte und Verhaltensweisen wechselten geschichtlich und insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrmals mit den unterschiedlichen Diskursregimen, wo erst der Parteistaat die Ahnen/Familie als Autoritätsinstanz ersetzte und schließlich zum Übergang ins 21. Jahrhundert wiederum selbst zurücktrat, um einem marktbasierten, selbstverantwortlichen Individualismus Bahn zu geben. So gesehen existiert in China für die Medien des Rates bereits eine lange Tradition. Dennoch verhält es sich gerade beim Genre der Frauenschriften im Unterschied zu antiken Vorformen und den seit den 2000ern populär gewordenen Ratgebern ähnlich wie mit den Benimmbüchern des 19. Jahrhunderts und den Nachkriegs-Frauenratgebern im Westen: die Einführung der selbstgeleiteten Konzepte der Selbstführung und Selbstoptimierung des therapeutischen Diskurses ersetzen das Paradigma der ostentativen Fremdführung, welches frühere Schriften des Genres noch kennzeichnete. Aus dem feudalen Rahmen der »drei Abhängigkeiten« und Vormundschaft der kommunistischen Partei befreit, muss die Frau nun selbst die Verantwortung für sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft übernehmen und sozialen Erwartungen von Normalität entsprechen. Erstmalig ist das Individuum somit quasi mehr oder minder aus der Vormundschaft bisher relativ starrer institutioneller Arrangements entlassen und selbstverantwortlich für die »erfolgreiche« Gestaltung seines Lebens. Gerade im Bereich des Privatlebens, dessen Gestaltung nun historisch erstmals mehr oder weniger frei in den Händen des Individuums liegt, macht sich dieser Rückzug staatlicher und moralischer Instanzen deutlich bemerkbar.

Die feinen Unterschiede Chinas neue Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung

D IE V ERSUCHUNGEN

EINES GESCHMACKVOLLEN

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Einerseits mag die Popularität von Ratgebern in China seit 2005 in individuellen Bedürfnislagen als Hilfestellung und Legitimation von Handlungsmustern sowie als Generator und Instrument zur Schaffung von Sicherheit dienen. Andererseits kann in den Ratgebern auch ein Mittel der sozialen Stratifikation im Sinne der Herausbildung eines neuen sprichwörtlichen »Klassengeschmacks« gesehen werden. So beschrieben auch Stephanie Hemelryk Donald und Zheng Yi die Weiblichkeitsvorstellungen einiger verwandter Werke dieses Genres unumwunden als »a taste of class« (Donald/Yi 2015). Die aktiv durch Weiterbildung und Selbstkultivierung betriebene Veränderung des durch Herkunft und Sozialisation erworbenen Kanons an Denk- und Verhaltensnormen ist in China durch die Verschiebung der sozialen Zugehörigkeit bzw. die Entstehung neuer gesellschaftlicher Schichten und Milieus nach Ende der sozialistischen Gesellschaft notwendig geworden. Durch die Übergangssituation von der proletarischen Einklassengesellschaft des Kommunismus in eine kapitalistische Gesellschaft mit starker sozialökonomischer Schichtsegregation entwickelte sich durch die parallele rasche Diversifikation von sozialen Systemen in der chinesischen Gesellschaft eine individuelle Dynamik. Seit 1978 zeichnet sich in China durch eine sehr flexible Durchmischung gesellschaftlicher Strukturen vor allem die Abspaltung einer ökonomischen Mittel- und Oberschicht ab, die am meisten von den Wirtschaftsreformen profitierten. Dabei ist die Mittelschicht in China an sich kein völlig neues Phänomen, sondern erlebte bereits zu Republikzeiten ein »goldenes Zeitalter« (Bergère 1989), wo rund 3% der Bevölkerung im urbanen Raum zur Mittelschicht gerechnet werden konnten. Unter Mao verschwand sie jedoch durch die Abschaffung von Privateigentum

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und Kollektivierung der Wirtschaft sowie durch Einschränkung beruflicher und sozialer Mobilität mittels Bindung an feste Arbeitseinheiten völlig. Zwar existierte auch da noch eine Schicht von Angestellten und Arbeiter/innen, doch verhinderte die Homogenisierung von Konsumgütern und der erschwerte Zugang dazu sowie die allgemeine politische Verurteilung als bourgeois abgestempelter Lebensstile die Abspaltung differenter sozialer Gruppen. Erst mit Beginn der Reformpolitik unter Deng Xiaoping formierten sich wieder unterschiedliche soziale Schichten: »While Maoist China was characterized by the social ›destratification‹, post-Mao China has seen the gradual return of the pre-1949 social stratification. Since 1978, Chinese society has become increasingly differentiated and stratified.« (Chen 2013: 50)

Dies ist vor allem der Reetablierung von Privateigentum und -wirtschaft sowie der zunehmenden sozialen Mobilität und dem Rückzug staatlicher Interventionen in der Lebensgestaltung wie auch der gestiegenen Bedeutung von »human capital« auf Basis von Wissen und Ausbildung zu verdanken. Dadurch haben sich die ökonomischen und materiellen Lebensbedingungen für unterschiedliche Teile der Bevölkerung je nach individuellem Zugang zu Ressourcen rapide verbessert: »The status hierarchy that places white-collar work above blue-collar work has been established: the managerial-professional personnel are better paid than the blue-collar workers, and the former live a life style that resembles the middle class's life style in the developed world.« (Ebd.: 54)

Gerade die englischsprachige Forschungsliteratur spricht hier von der Entstehung einer neuen »Gesellschaftsklasse« (social class), ohne jedoch näher zu definieren, auf welche Theorien der Klassenbildung sie sich dabei beziehen. Im vorliegenden Fall wird sich im Groben an der Klassentheorie von Pierre Bourdieu orientiert, inbesondere da sie relationale Klassen- und Lebensstilmodelle zusammenbringt. Laut Bourdieu wird der Begriff »Klasse« als ein Ensemble von Akteuren und Akteurinnen verstanden, die homogenen Lebensbedingungen unterworfen sind. Ihnen sind sowohl objektivierte, wie etwa der Besitz von materiellen Gütern, als auch inkorporierte Merkmale, wie spezifische Habitusformen, gemeinsam. Eine objektive Klasse ist laut Bourdieu definiert durch die Struktur der Beziehung zwischen allen relevanten Merkmalen, die in Kombination miteinander spezifische Wirkungen auf die Praxisformen ausüben. Diese Praxisformen, die zwar allgemein von der Klassenzugehörigkeit beein-

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flusst sind, aber sich dennoch individuell ausformen können, subsumiert Bourdieu unter dem Begriff des Habitus, wie beispielsweise ähnliche Arbeitserfahrungen, Formen der Konsumption, der Lebensperspektiven und -ziele etc. (Bourdieu 1987, 1993). Obwohl Bourdieu hier immer noch von Klasse spricht, geht sein Modell über klassische Klassentheorien wie von Marx und Weber hinaus und entspricht – gerade im Hinblick auf spezifische habituelle Praxisformen – eigentlich mehr dem, was heute unter sozialer Schichtung verstanden wird. Denn die Unterteilung in drei hauptsächlich durch ökonomisches Kapital geprägte Klassen ist gerade im Bezug auf zunehmend pluralistische Gesellschaften in der Soziologie größtenteils obsolet geworden. Es folgten zahlreiche Modelle, die sich bei der Sozialstrukturanalyse vielmehr an der Schicht- oder Milieuzugehörigkeit orientieren. Deswegen soll trotz Rekurrenz auf Bourdieu's Klassentheorie im Nachfolgenden von sozialer »Schicht« statt von »Klasse« die Rede sein (außer wenn es um konkrete von Bourdieu geprägte Begrifflichkeiten geht). Der Schichtbegriff bietet sich als geeignetstes Konzept an, da er sich erstens von den – gerade in China immer noch präsenten – politischen Implikationen einer marxistisch motivierten Klassenunterteilung distanziert und zweitens die Zugehörigkeit weniger durch den Besitz von ökonomischem Kapital, denn vor allem anhand berufsspezifischer Merkmale definiert wird (vgl. Geißler 1990, Dahrendorf 1977). Zugleich interessiert er sich auch nicht für allzu fragmentierte Lebensstilszenarien, wie sie die Milieuforschung unter die Lupe nimmt, sondern bietet durch seinen Radius die Möglichkeiten einer milieuübergreifenden, gesamtgesellschaftlich gültigen Aussage. Der Beruf als kontinuitäts- und identitätsstiftender Faktor sowie als Motor für sozialen Aufstieg wie auch als Grund von sozialen Ungleichheiten spielt gerade bei der Formierung von Chinas neuer Mittelschicht eine herausragende Rolle. Hradil definierte als soziale Schicht eine Gruppierung von Menschen mit ähnlich hohem Status innerhalb einer berufsnahen Ungleichheitsdimension, das heißt es geht um Einkommens-, Prestige- und Bildungsschichtungen (Hradil 2001: 36). Wie nun solch eine objektive und subjektive Schichtzugehörigkeit konstruiert werden kann, wird im Folgenden anhand von Chinas neuer Mittelschicht nachgezeichnet. Dabei geht es nicht nur darum, wie sich Prestigepositionen gewandelt haben und welche Indikatoren hierbei eine Rolle der Identifikation bzw. Distinktion spielen, sondern auch um das erstaunliche Verhältnis von objektiven Determinanten der Zugehörigkeit und eigener Einstellung bzw. Gruppenidentifikation.

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Gerade die Gruppenidentifikation ist mit Hinblick auf das Genre der Ratgeber ein spannender und aktuell noch nicht abgeschlossener Prozess. Zwar wird immer mehr ökonomisches Kapital zur Begründung eines gehobenen Lebensstils verfügbar, doch das Vorhandensein materieller Konsumgüter alleine befördert noch keine vergemeinschaftende Identität. Das Bewusstsein über die Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Schicht induziert die aktive Etablierung von Zugehörigkeitskriterien als auch von Distinktionsmerkmalen zur Abgrenzung von anderen Gruppierungen. Oder anders ausgedrückt: erst durch die bewusste Herstellung von spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen, die zwar von einer gewissen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ausgangsbasis abhängig sind, diese jedoch über rein objektive Gegebenheiten hinaus erweitern, kann sich die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht im Sinne Bourdieus definieren und (re-)produzieren. Der Habitus ist nach Bourdieu (1987) als Erzeugungsmodus von Praxisformen dafür verantwortlich, dass soziale Akteure und Akteurinnen sich mit systematisch strukturierten und konstitutiven Handlungs- und Deutungsschemata identifizieren und ihre Identität konstruieren. Der Habitus dient der Kategorisierung von Angehörigen bestimmter sozialer Schichten und Gruppen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und ist zugleich die konkrete Ausformung einer Verinnerlichung kollektiver Dispositionen. Als opus operatum bzw. »strukturierte Struktur« wird der Habitus durch die elementaren Lebensbedingungen in Form von ökomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Voraussetzungen bestimmt. Als modus operandi bzw. »strukturierende Struktur« leitet der Habitus als generatives Erzeugungsprinzip das Handeln des/der Einzelnen an. Denn in der alltäglichen Praxis werden kollektive, generative Schemata und klassenspezifische Dispositionen einverleibt und durch eine daraus resultierende Auswahl aus der insgesamt zur Verfügung stehenden Alltagstheorien, Klassifikationsmuster, ethischen Normen und ästhetischen Maßstäben verortet sich das Individuum in einer gesellschaftlichen Schicht, indem es den Habitus der Zugehörigen dieser Gruppe reproduziert. Somit wird die Art zu denken, die Sichtweise auf die soziale Welt, das Verhalten und Handeln in sozialen Situationen bis hin zu alltäglichen Handlungen von den Dispositionen und Klassifikationen des strukturell angepassten Habitus gesteuert und realisiert. Bourdieu geht in seiner Untersuchung der Strukturen der französischen Gesellschaft in seinem Werk »Die feinen Unterschiede« (1987) von einem bereits etablierten »Klassenhabitus« aus, der insbesondere in Form des opus operatum durch die soziale Herkunft weitergegeben wird und sich auf den eigenen sozialen Lebenslauf prägend auswirkt. Die kollektive Geschichte der eigenen Familie und der Gesellschaftsschicht, der man zugehörig ist, wirken prägend auf die früh-

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kindliche Entwicklung des Habitus ein und fördern die Herausbildung von spezifischen Zeichen der Distinktion wie Sprache oder Werte und sorgen im Prozess der Sozialisation dafür, dass diese identitätskonstituierenden Dispositionen fest verankert werden. Zwar ermöglicht der generative Aspekt des Habitus aus der Sicht des modus operandi die Möglichkeit der Inkorporierung von individuellen Lernakten, die durch das generative Prinzip das Spektrum des sozialisierten Habitus erweitern können. Dennoch bleibt es schwierig, die durch die Schichtzugehörigkeit bestimmte Determiniertheit aufzubrechen, da ihre Auswirkungen unbewusst in eine Vielzahl von Handlungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungssituationen hineinwirken. Somit ergibt sich aber zumindest ein gewisser Spielraum für das Individuum seinen Habitus gemäß veränderten Lebensbedingungen anzupassen und zu verändern, indem es sozialstrukturell beeinflusste Verhaltensformen um nutzungsorientierte Strategien ergänzt und variable, der Situation angemessene Handlungsstrategien aus dem Raum der Möglichkeiten ergreift. Es ist genau dieser Prozess der Anpassung der Dispositionen, Verhaltensmuster und Einstellungen des/der Einzelnen an ein verändertes soziales Umfeld, der in den chinesischen Frauenratgebern aufgegriffen wird. Im vorliegenden Fall – der Analyse besagter Ratgeber – gilt es dabei das Augenmerk insbesondere auf die Angehörigen (bzw. künftigen Angehörigen) von Chinas sogenannter neuer Mittelschicht (xin zhongchan jieceng) als Hauptadressaten der Bücher zu richten. Diese Schicht eignet sich deshalb besonders für Beobachtungen zum Prozess der Herausbildung eines »Klassengeschmacks« und einer schichtspezifischen Identität im Bourdieu’schen Sinne, da sie nicht nur Hauptzielgruppe der auf die Erweiterung des Binnenmarktes fokussierten Wirtschaftspolitik – und somit sowohl Nutznießer/innen als auch Opfer diverser politischer Entscheidungen – ist, sondern auch weil sich durch die Etablierung einer Mittelschicht erstmals eine nachhaltige, von Politik und Ideologie relativ losgelöste Differenzierung vollzieht und eine soziale Schicht entsteht, die es in dieser Form bisher in China nicht gegeben hat. Im Zuge der rapiden gesellschaftlichen Transformationen seit den 1980er Jahren haben sich in China die Schichtzugehörigkeiten nicht selten innerhalb einer einzigen Generation geändert, so dass viele Individuen im Erwachsenenalter aufgrund veränderter Lebensumstände nicht mehr auf die in Kindheit und Jugend erlernten Schemata und Dispositionen zur Lebensbewältigung zurückgreifen können. Vielmehr lassen immer mehr Menschen die distinktiven Beschränkungen einer Schichtzugehörigkeit qua Geburt und jugendlicher Sozialisation bewusst hinter sich. Wer noch in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land geboren und sozialisiert worden ist, kann sich im Erwachsenenalter durch sozialen Aufstieg qua Anhäufung ökonomischen oder kulturellen Kapitals und Stadt-

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migration in ein urbanes Umfeld nicht selten mit komplett anderen Anforderungen konfrontiert wiedersehen. Sie sind stattdessen gezwungen, neue Formen von Handlungsmustern zu generieren, sich mithin einen erweiterten, dem neuen Umfeld angepassten Habitus anzueignen. Damit ist insbesondere die Beherrschung eines Kommunikationscodes in der sozialen Interaktion gemeint, der der gesellschaftlichen Selbstpositionierung dient. Daher erhielten die Formierungsprozesse der sich momentan noch etablierenden neuen Mittelschicht in China bereits verstärkt wissenschaftliche Aufmerksamkeit und es wurden in diversen Projekten unterschiedliche Aspekte und Charakteristika dieser sozialen Gruppierung, ihre Entstehung, ihre Zusammensetzung und ihre Positionierung in der gesamtgesellschaftlichen und ökonomischen Landschaft untersucht (u.a. Zhang 2010, Tomba 2004, Pow 2006, Ren 2013, Cheng 2013, Chen 2013, Goodman 2008). Hierbei standen vor allem zwei Perspektiven im Vordergrund: Einerseits die politikwissenschaftliche Einschätzung dieser Gruppe als mögliche Verfechter einer Demokratisierung sowie als Bürger einer public sphere ihre Involvierung in grassroot-Aktivismus und öffentliche Proteste bezüglich Arbeits-, Eigentums- und Wohnrecht. Andererseits interessierten sich besonders Soziologen und Ethnologen für die Emergenz dieser Schicht aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse vor dem Hintergrund der ökonomischen Umwälzungen seit Ende der 1990er Jahre. Doch trotz dieser wissenschaftlichen Aufmerksamkeit bleibt der Terminus von Chinas neuer Mittelschicht weiter schwer greifbar, da ihre Mitglieder letztlich sehr heterogen sind und bisher oftmals vor allem über Kriterien des materiellen Besitzes und Konsumverhaltens klassifiziert wurden. Zur Mittelschicht gehören in China laut Volksmund pauschal all jene, die ein Auto und Immobilienbesitz ihr Eigen nennen. Die Wissenschaft hat dagegen differenziertere Methoden der Zuordnung entwickelt: es wird eine Herangehensweise verfolgt, welche sich auf bestimmte, objektiv ermittel- und vergleichbare sozioökonomische Schlüsselindikatoren konzentriert. Dazu gehören klassischerweise die Faktoren von Einkommen, Beruf und Bildung (aber nur in Verbindung mit den Faktoren Konsum und Lifestyle). Doch auch die objektive Methode kann wiederum in eine quantitative wie qualitative Messung aufgespalten werden. Bei ersterer zählen allein die Errungenschaften der drei Messfaktoren, um daraus einen Querschnitt der gesellschaftsweiten Verteilung zu errechnen und so die Positionierung mittlerer Sektoren herauszufiltern. Bei einer qualitativen Untersuchung nach neo-marxistischer Manier wird die soziale Verteilung anhand der Kategorien der Bedeutung von Produktion, der Position in der Autoritätsstruktur und dem Besitz von Wissen und Fähigkeiten erstellt (Wright 1997, Chen 2013: 32).

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Die Anwendung dieser vermeintlich objektiven Kriterien stellt sich jedoch in der Praxis als gar nicht so einfach heraus. So schwankt bereits die Einkommensspanne, welche die Mitglieder der Mittelschicht definieren soll, zwischen 3.000 Yuan pro Familie/Monat (Johnston 2004) und 5.000-6.000 Yuan pro Familie/Monat (Goodman 1997) oder 60.000 bzw. 500.000 Yuan pro Jahr (Goodman 2008). Nicht berücksichtigt sind hierbei zudem Einkommensunterschiede und unterschiedliche Lebenshaltungskosten zwischen den urbanen Zentren Chinas und den eher mäßig- bis unterentwickelten ländlichen Regionen. Außerdem sagen statistisch verwertbare Angaben zum Einkommen nur bedingt etwas über den tatsächlichen Lebensstandard aus, da neben der Arbeitsvergütung oftmals weitere Summen aus Vergünstigungen, Aufwandsentschädigungen, Boni oder sonstigen Einnahmequellen anfallen und so das Familieneinkommen teilweise maßgeblich erhöhen (Chen 2013: 335). Auch die Einteilung nach Berufsgruppen ist problematisch. So rekurrieren vor allem westliche Forscher gemäß der qualitativen Herangehensweise in erster Linie auf Unternehmer/innen, Manager/innen in chinesischen und ausländischen Firmen, Professor/innen, Wissenschaftler /innen, hochqualifizierte Techniker/innen, Banker/innen, Börsenhändler/innen, Immobilienunternehmer/innen, Anwälte/Anwältinnen sowie allgemein WeißeKragen-Angestellte in großen privaten oder ausländischen Unternehmen und Prominente im Showbiz und Sportler/innen als Vertreter und Vertreterinnen der Mittelschicht (Goodman 2008: 3), während chinesische Sozialwissenschaftler den Definitionsrahmen oftmals ausdehnen und von Fabrikbesitzer/innen und Manager/innen bis hin zu Industrie- und Landwirtschaftsarbeiter/innen und Servicekräfte alle irgendwo zwischen oberer und unterer Mittelschicht verorten. Demzufolge gehören nur Arbeitslose und Wanderarbeiter/innen nicht zur Mittelschicht (Ren 2013: 37; Lu 2002). Diese Vorgehensweise ist stark politisch ambitioniert und rekurriert auch auf einen politischen statt gesellschaftsstrukturellen Klassenbegriff. Bei dieser großzügigen Betrachtungsweise wird der Widerspruch zwischen dem Anspruch des Sozialismus als klassenlose Gesellschaft und den realen Verhältnissen im gegenwärtigen China aufgelöst bzw. abgemildert, indem die Ideologie der Arbeiterklasse als herrschende Schicht ausgedehnt und eigentlich konträr dazu stehende Erscheinungsformen des Klein- und Großbürgertums bis hin zu kapitalistischen Unternehmern in diese neue, weiterentwickelte und ausgeweitete Form der – zumindest dem Namen nach – Arbeiterklasse inkludiert werden. Damit verliert das Proletariat nicht seine Position als Vorhut des Sozialismus. Stattdessen werden die zunehmenden Inkonsistenzen zwischen sozialistischer Ideologie und Lebenswirklichkeit im Zuge marktwirtschaftlicher Ausrichtung aller Bereiche mit einer Umwertung vom Primat der Arbeiterklasse zu einem diffusen Konstrukt aus allen »produktiven Kräften«, die dazu beitragen

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die Produktion, den Wohlstand und die Nation zu stärken und zu fördern, kaschiert, um die Regierungslegitimation der kommunistischen Partei zu stabilisieren (Guo 2008: 41). Damit ist die Etablierung einer sozial und ökonomisch besser gestellten Mittelschicht mit kleinbürgerlichen Zügen zumindest aus ideologischer Sicht kein Widerspruch mehr. Doch die Absichten der Partei und die politisch motivierten, großzügigen Schichtzuordnungen mancher offizieller chinesischer Forschungsergebnisse finden nur bedingte Resonanz im subjektiven Empfinden der Menschen. In chinesischen Medien bezieht sich die Bezeichnung »Mittelschicht« größtenteils »to a group of people with stable incomes who are capable of purchasing private houses and cars, and who can afford the costs of education and holidays« bzw. auf ein »social stratum lying above ordinary working people but still not the richest« (zit. nach Goodman 2008: 6). Tatsächlich scheint sich der neue soziale Status vor allem durch das Erfüllen gewisser ökonomischer Eckpunkte, wie dem Zugang zu Ressourcen, Konsummöglichkeiten und groben Interessensgleichheiten, zu definieren. Sie alle verbindet die »Suche nach dem guten Leben«, das vor allem auf der Erfüllung materieller Bedürfnisse basiert. Insofern sehen manche das Konzept gar als reine Allegorie für Wohlstand: »Im gegenwärtigen chinesischen Bezug hat das Wort ›Mittelschicht‹ sehr viel Anziehungskraft, es wird mit allem, was begehrenswert ist und einem geschmackvollen Leben assoziiert« (Chen/Yi 2004: I). Die Mitglieder dieser Schicht sind typische Vertreter der »Epoche der Sehnsüchte« (yuwang de shidai) (Guo 2010: 270) und werden beschrieben als »›well-educated and sophisticated singles or couples enjoying a confidence in their own rising standards of living‹, they were linked to the Eisenhower generation in the 1950s America« (Croll 2006: 7). So scheinen neben den in der Wissenschaft bevorzugten objektiven Determinanten der sozialstrukturellen Zuordnung auch subjektive Faktoren eine wichtige Rolle zu spielen. Eine subjektive Herangehensweise fragt vor allem nach der Selbsteinschätzung und -zuordnung zu gesellschaftlichen Schichtkonstrukten und leitet daraus Rückschlüsse über Status und gesellschaftliche Verteilung ab. Da es sich dabei allerdings um subjektive Meinungsäußerungen jenseits vergleichbarer Fakten handelt, ist diese Vorgehensweise teilweise umstritten. So erfragte beispielsweise Li Chunling in ihrer Studie zur Mittelschicht 2004 neben Beruf, Einkommen, Konsum auch die subjektive Selbstzuordnung, woraus sich das interessante Ergebnis ergab, dass 15,9% der Befragten qua Beruf (Partei- u. Polit. Beamte, Manager/innen, Unternehmer/innen, Büroangestellte, technische Facharbeiter/innen, White Collar-Arbeiter/innen) zur Mittelschicht gehören, 24,6% qua Einkommen, 35% qua Konsumverhalten (z.B. durch mittelklassige Konsumgüter, Luxusgüter und Autos), aber ganze 46,8% sehen sich selbst nach eigener

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Einschätzung als Angehörige der Mittelschicht.1 Doch laut einer Statistik von 2005, die lediglich das Einkommen (über 60.000Yuan/Jahr) als Kriterium nimmt, gehören nur 5,04% der Städter dazu (Li 2003: 192). Diese Umfrageergebnisse können allerdings ganz unterschiedliche Rückschlüsse zulassen: Wang Jing sieht darin beispielsweise die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz der Mittelschicht und die Etablierung eines schichtspezifischen Lebensstils in bewusster Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppierungen (Wang 2008: 190f). Für Chen Jie jedoch sind diese Daten Anlass, für eine Abstandnahme von Messungen der individuellen, subjektiven Zuordnung zu plädieren, sieht sie doch in ihnen den Beweis, dass Chinas Bevölkerung noch kein Bewusstsein für soziale Schichtung entwickelt habe und sich daher selbst nicht richtig einordnen könne (Chen 2013: 34). Meiner Meinung nach darf jedoch die eigene, subjektive Einschätzung der eigenen Position im sozialstrukturellen Gefüge nicht unterschätzt werden, denn sie ist nicht nur – wie in diesem Zusammenhang sowieso schon berücksichtigt – ein Motor für politische Partizipation, sondern vor allem ein wichtiger Faktor bei der aktiven Konstruktion und Produktion einer sozialen Identität. Denn Schichtzugehörigkeit und -bewusstsein »implies that a person’s status and role with respect to the economic processes of society imposes upon him certain attitudes, values and interest relating to his role and status in the political and economic sphere. It holds, further, that the status and role of individual in relation to the means of production and exchange of goods and services gives rise in him to a consciousness of membership in some social class which shares those attitudes, values and interests.« (Centers 1949: 28f.).

Auch Bourdieu versuchte durch eine strukturanalytische und erkenntnistheoretisch motivierte Betrachtung, welche großen Wert auf subjektive Einschätzungen und Repräsentation von sozialer Zugehörigkeit legt, die Aushandlungsprozesse zwischen objektiven Voraussetzungen und subjektiver Wahrnehmung offen zu legen und stellte dabei fest, dass Schichtzugehörigkeit und -definition nicht allein anhand objektiver Kriterien festzumachen ist, sondern vor allem sich im Zusammenspiel aller objektiven und subjektiven Faktoren ergibt: »Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal [...], noch durch eine Summe von Merkmalen [..] noch auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem

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Laut dieser Umfrage rechnen sich 40,8% der Menschen mit Grundschulabschluss zur Mittelschicht, 72,9% der Uniabsolventen sehen sich als Mitglieder der Mittelschicht.



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Hauptmerkmal kausal abgeleitet sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselbe wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisform ausübt, ihren spezifischen Wert verleihen.« (Bourdieu 1987: 182)

Daraus ist zu ersehen, dass weder nur auf objektive Zuschreibungen noch auf rein subjektive Zuordnungen fokussiert werden kann, sondern beide gleichermaßen zur Entstehung und Etablierung einer schichtspezifischen Identität beitragen und diese auch prägen. Deshalb bedarf es Praktiken der Distinktion, welche neben subjektiver Zuordnung auch objektive gesellschaftliche Anerkennung versprechen, denn »[a] middle class life has to become intelligible as a middleclass life, has to conform the conceptions of what a middle-class life is, in order to become recognizable« (Ren 2013: 130). Jene Strategien und Techniken der Konstruktion der Zugehörigkeit zur chinesischen Mittelschicht werden im Folgenden genauer begutachtet.

M EIN H AUS , MEIN AUTO , MEINE G UCCI -T ASCHE : S CHICHTZUGEHÖRIGKEIT DURCH K ONSUM Wenn die objektiven Kriterien der Zuordnung äußerst schwammig und variabel sind, bedarf es intersubjektiver, vor allem sozial eindeutig kommunizierbarer Abgrenzungsstrategien. Dazu gehören beispielsweise die räumliche und soziale Segregation (z.B. in Form von gated communities, exklusiven Clubs oder Privatschulen), aber auch der sich rasant erweiternde Markt der Konsummöglichkeiten bietet zahlreiche Ansatzpunkte für die Konstruktion und Präsentation von schichtspezifischen Statussymbolen: »In China over the past two decades, consumption has become one of the main areas of choice which with the promotion of xiaokang, primarly a lifestyle concept, has led to increasing differentiation and more diverse personhoods, lifestyles, social categories and reference groups« (Croll 2006: 22).

Die Auswahl und Anhäufung von Gütern wird zur Konstruktion einer individuellen und kollektiven Identität genutzt und ist Mittel der (Selbst-)Definition und sozialen Verortung, die sowohl Individualität widerspiegelt, als auch zugleich Privilegien und Assoziationen zu einem modernen, westlichen Lebensstil schafft (vgl. Lu 2000). Doch ist dies nicht immer ein rein freiwilliger Prozess. Auch wenn der sozial normative Rahmen, in dem sich die Mitglieder der neuen Mittel-

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schicht bewegen, noch sehr vage ist und einen gewissen Spielraum im Umgang mit gesellschaftlichen Normvorstellungen bietet, da fixe Orientierungspunkte im Laufe der gesellschaftlichen Interaktion erst noch ausgehandelt werden müssen, so haben sich doch bereits obligatorische Eckpunkte eines Bourdieu’schen »Klassengeschmacks« herausgebildet. Diese umfassen sowohl Merkmale der äußeren Repräsentation (wie Kleidung), als auch der Gestaltung des Lebensumfeldes (z.B. Inneneinrichtung) und Praktiken des Alltags (z.B. Präferenzen für bestimmte Hobbys). Wer hier aus dem Rahmen fällt, muss mit sozialer Isolation rechnen (vgl. Zhang 2010). Mit der Etablierung einer Konsumkultur kam es zu einer Neubewertung des materiellen Aspekts in sozialen Beziehungen. Dass die Konsumkultur in China innerhalb kurzer Zeit so an Bedeutung gewinnen konnte, war jedoch kein zufälliges Nebenprodukt der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsausrichtung, denn die Schaffung von Konsumenten ist nicht nur ein zwangsläufiger Prozess in der Umstellung von Planwirtschaft zum marktwirtschaftlichen Sozialismus in der Reformära, sondern auch eine gezielte wirtschaftspolitische Agenda in der Jahrtausendwende. Bereits in den 80er und 90er Jahren waren die Vorläufer einer Konsumkultur zu beobachten, als durch die Einführung eines Marktsystems, das auf Angebot und Nachfrage basiert, die Bürger zugleich auch erstmals in ihrer Kaufentscheidung zu freien Konsumenten wurden. Die Herausbildung eines distinkten Konsumverhaltens bedurfte jedoch erst eines seit 1978 gut zwei Jahrzehnte andauernden Entwicklungsprozesses. Guo Jingping charakterisiert diese erste Phase zwischen 1978 und 1989 als »existenzielle Phase«, wo die Sicherung der eigenen Existenz an erster Stelle stand und es lediglich um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Essen, Trinken und einem Dach über dem Kopf ging (Guo 2010: 238). Die wirtschaftliche Notlage nach Ende der Kulturrevolution machte größtenteils noch für viele Menschen das alltäglich Leben prekär, so dass neben dem Bedürfnis nach Sicherheit und Rückkehr zu Recht und Ordnung vor allem der Wirtschaftsaufbau zur Verbesserung der materiellen Existenz der Menschen und Stabilität der Gesellschaft im Vordergrund stand. Zugleich herrschte nach den vorangegangenen Erfahrungen im maoistischen Sozialismus eine sehr konsumfremde Mentalität vor. Für den sozialistischen Bürger, der hauptsächlich nur als Arbeiter und Mittel der Revolution gesehen wurde, war Konsum als individualistische Bedürfnisbefriedung nicht vorgesehen. Mit der Verneinung jeglicher Individualität und der emotionalen Ausrichtung auf ein rein politisches Ziel, waren in einem Leben, das vornehmlich aus harter und schwerer Arbeit und ideologischer Belehrung bestand, materielle Wünsche oder gar Luxusgüter im wahrsten Sinne des Wortes nicht existent. Stattdessen prägte

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materieller Mangel aufgrund von Misswirtschaft, Armut, Mühsal und Unsicherheit die tägliche Erfahrung. Die Verteilung materieller Güter erfolgte im sozialistischen Staat über ein Rationensystem, durch das der Staat die Existenz des Einzelnen kontrollierte und regulierte. Auch ungerechte Verteilung und Machtmissbrauch förderten das Gefühl einer pessimistischen Lebenseinstellung. Daher ist es nur zu gut verständlich, dass mit Beginn der Reformära sich das Interesse der Menschen von der Politik rasch in Richtung Ökonomie zur Sicherung existenzieller Bedürfnisse verlagerte. Nun wurde der materielle Wohlstand zunehmend wichtiger als politische Gesinnung. Angefangen bei der Befriedigung materieller Bedürfnisse zur Stabilisierung und Harmonisierung der Gesellschaft und als psychologischer und praktischer Ausgleich für die Entbehrungen der Jahre der Kulturrevolution, greift der Wunsch nach konsumierbaren Genüssen bald um sich: der Genuss ersetzt Tabu und Mangel der Vorzeit. Diese Tendenz wurde von den ab den 80er Jahren sichtbaren Zeichen einer Marktwirtschaft begünstigt, ist diese doch per definitionem auf Konsumenten angewiesen. Die Figur des Konsumenten, der voller materieller Wünsche steckt, bildet die Voraussetzung für eine Marktwirtschaft. Die Entstehung des chinesischen Konsumenten erfolgte also durch ein Zusammenspiel von einerseits dem immensen Nachholbedürfnis der Menschen nach den entbehrungsreichen Jahren des Sozialismus, andererseits vor dem Hintergrund einer gezielten Anregung der Nachfrage durch Konsumanreize aufgrund von marktwirtschaftlichen Interessen. Zugleich wird der Mensch mehr und mehr zum »Homo oeconomicus«, der als Lohn für den Ehrgeiz des Geldverdienens durch Konsum Glück und Freude erfahren will. Damit wurde der Existenzialismus der frühen 1980er Jahre von einer Ideologie des Genusses (xiangle zhuyi) (Guo 2010: 258) abgelöst. Dementsprechend entstehen jedoch auch erste soziale, psychologische und seelische Folgeprobleme wie vermehrter Berufsstress, Entfremdung von Familien und Mobilitätseffekte. Zugleich entwickelte sich ein Be- und Entfremden gegenüber der eigenen Umwelt, das den modernen Menschen, insbesondere im konsumdichten, urbanen Umfeld, kennzeichnet. Durch die Diskrepanz zwischen äußerer Entwicklung in Form von Ökonomie, Lebensumfeld, Konsum und innerer Entwicklung in Form von Denkvorstellungen, Normen und Gefühlswelten entstand ein identitärer Bruch, indem die traditionellen Erzählungen des Lebens, die dem Ich Einheit gaben, partikularisiert oder ganz negiert werden. Zugleich erfordert ein auflebender Konkurrenzdruck im Streben nach Wohlstand und Reichtum neue seelische und soziale Dispositionen, die mit einer grundsätzlichen Umstrukturierung bisheriger gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse einhergeht und viele etablierte Institutionen infrage stellt. Dem spielt außerdem das Aufkommen des

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Individualismus mit der Überhöhung eigener Empfindungen und Wünsche in die Hände. Daher ist das Aufeinandertreffen von marktwirtschaftlich geprägten, postmodernen Lebenssituationen und sich nur langsam wandelnder Mentalität in etwa so, wie wenn »[…] noch relativ traditionelle Menschen in ein relativ modernes gesellschaftliches Umfeld geschoben [werden], so als ob man eine Kutsche oder einen Rinderkarren auf die Autobahn stellt« (Guo 2010: 255). Diese Unsicherheiten und alltäglichen Entfremdungen rückten jedoch vorerst vor dem Streben nach Wohlstand in den Hintergrund. Insbesondere in den »goldenen Jahren« 1990-1999 erreichte die »materielle Befreiung« (wuzhi jiefang) alle Bevölkerungsschichten: »Der dringlichste Wunsch der Chinesen der 90er Jahre war, so ›reich wie möglich‹ zu werden. Armut war der am meisten verachtete Feind, Reichtum wurde entsprechend zur neuen Religion (congjiao).« (Ebd.: 258) Nach humanistischen und emotional-individualistischen Bewegungen im Rahmen der Traumata-Aufarbeitung wie u.a. in der Narben- und Wurzelsucheliteratur und der Kunst der 80er Jahre, richtet sich der Fokus in den 90ern zunehmend auf pragmatische Aspekte. Romantische Tendenzen, die aus der aufklärerischen und emanzipatorischen Phase Ende der 80er Jahren überlebten, klingen zunehmend zugunsten eines weltlichen Pragmatismus ab, der jeglichen politischen und geistigen Idealismus ersetzt, welcher immer mehr in Gefühle des Verlustes und einer Leere auf geistiger und emotionaler Ebene mündet und durch Steigerung von materiellem Konsum bekämpft wird. Ursprünglich vor allem zur schnellen Lösung bzw. Ablenkung von den Missständen nach der Kulturrevolution gedacht, werden die Vorteile der Fokussierung auf eine Vergnügungs- und Konsumgesellschaft nicht nur für das Wachstum des neuen Wirtschaftssystems bald erkannt. Auch von politischideologischer Seite ist das allgemeine Streben nach materiellem Wohlstand willkommen, da die Partei nach dem quasi offen eingestandenem Scheitern des bisherigen Modells eine neue Quelle der Eigenlegitimation als Wohltäter, der den Bürgern Wohlstand und Freude durch Konsumbefriedigung bringt, braucht. Insbesondere unter dem Schlagwort der »harmonischen Gesellschaft« (hexie shehui) unter Hu Jintao mit einer Neubewertung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land, Gesellschaft und Ökonomie, Mensch und Natur sowie lokalen und globalen Interessen trat die Etablierung der konsumorientierten »Xiaokang«Gesellschaft als Hauptziel in der Vordergrund. Doch im Versprechen der Etablierung einer neuen Mittelschicht, die die Kluft zwischen Arm und Reich schließen und in den Genuss von vor allem materiellem Wohlstand kommen soll, steckt nicht nur der sozialpolitische Wunsch nach einer Harmonisierung der Gesellschaft und einer Verringerung sozialer Missstände, gärender Unzufriedenheit und sozialen Unruhen. Die neue Mittelschicht spielt als Chinas neuer

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»Speckgürtel« und konsumfreudigste Gruppierung auch im Hinblick auf die zukünftige Reformierung des ökonomischen Systems eine große Rolle, denn zwischen 2000 und 2003 vollzog sich in der staatlichen Wirtschaftspolitik nach den Erfahrungen mit weltweiten Finanzkrisen und schwächelnden westlichen Märkten auf der Suche nach nachhaltigeren Entwicklungsmöglichkeiten ein Wandel vom investmentbasierten zum konsumbasierten Wirtschaften. Die Schaffung eines heimischen Konsummarktes soll zur neuen Quelle und Motor des Wirtschaftswachstums werden und diesen unabhängiger vom internationalen Markt machen. Die heimische Nachfrage soll die Abhängigkeit von Außenhandelspartnern wie den USA verringern und zugleich zu einem balancierteren und nachhaltigeren Wachstum führen, der nicht nur den Vorteil hat, dass Kapital und Waren im eigenen Land zirkulieren und der Anteil von (ausländischen) Investitionen zurückgeht, sondern auch den Nebeneffekt einer sozialen Befriedung nach sich zieht, indem durch steigende Löhne und Beschäftigungsverhältnisse das Einkommensgefälle verringert wird und sich soziale Spannungen aufgrund von ungleich verteiltem Kapitalbesitz lockern. Die 2000 eingeläutete »consumer revolution« (Croll 2006, Davis 2006) mit staatlich forcierten Konsumbedürfnissen und einer neuen Produktschwemme durch die Förderung der Konsummittelproduktion und Leichtindustrie durchlief verschiedene Phasen mit jeweils unterschiedlichen zentralen Objekten der Begierde. Zu Beginn lockte vor allem Markenkleidung, danach wurde der Markt mit Elektroartikeln und Technikprodukten vom Computer bis zum Mobiltelefon erweitert. Danach avancierten hochpreisigere Güter wie Immobilien, Autos, Reisen und Sportartikel zu den begehrtesten Konsumobjekten. Shopping wurde bald zur favorisierten Form der Rekreation und Freizeit zugleich zur sozial anerkannten und honorierten Aktivität. Doch es ging nicht nur um die bloße Anhäufung von Dingen. Die Etablierung und Ausweitung einer konsumbasierten Kultur führte auch zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen und Neukategorisierungen der subjektiven Wertzuschreibung von objektiven Gegenständen. Denn vermeintlich objektive Gegenstände erhalten im sozialen Gebrauch eine sehr unterschiedliche Bewertung, wodurch in einem Prozess der Rückkoppelung der Gegenstand seine individuelle objektive Nützlichkeit erst durch Anlegen von klassenspezifischen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata im praktischen Gebrauch erhält (Bourdieu 1987: 172). Dadurch kann derselbe Gegenstand beim Erwerb von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Kreise völlig andere Bedeutungen erhalten. Mit anderen Worten: es findet eine Ausdifferenzierung in mehr und weniger begehrenswerte Objekte von gleicher Funktionalität statt. Am offensichtlichsten betroffen davon sind die Kategorien Mode, Stil und Luxus.

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Materielle Güter werden Symbolträger der Selbstdefinition und Abgrenzung, indem sie die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kategorien und Gruppierungen signalisieren: »Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum.« (Ebd.: 107) Daher wird der Prozess des Auswählens im Akt des Konsumierens zur entscheidenden Phase, ja sogar wichtiger als das ausgewählte Produkt an sich, denn über eine originelle Konsumbiographie soll zugleich zu einem unverwechselbaren Leben gelangt werden: »Menschen präsentieren ihre Einzigartigkeit über die Kombination dessen, wie sie ihre Wohnungen und Häuser herrichten, wie sie sich selbst herrichten, welche Hobbys und welche Beziehungen sie pflegen.« (Posch 2009: 52) Die Evolution neuer Lifestyles und Identitäten erfolgt also auch dadurch, dass die Eigen- und Fremdbewertung des Wertes einer Person zunehmend von den sie umgebenden materiellen Symbolen abhängt, oder besser gesagt, von deren Besitz oder Nicht-Besitz. Die Akquise von Gütern und deren individuelle Kombination und Anordnung im Lebensumfeld wird unabdingbarer Bestandteil der individuellen und sozialen Identitätskonstruktion und nimmt daher entscheidenden Raum ein: »In China’s new commodity-oriented society, how one consume expresses who one is. […] Thus the ability to consume well – in other words, to have taste – becomes a crucial aspect of identity.« (Zheng 2009: 174) Damit ist Konsum nicht nur ein individuelles Vergnügen zur Ergänzung des eigenen Identitätsprojekts, sondern hat einen sozialen und öffentlichen Charakter, weil durch ihn die soziale Position und Außendarstellung verändert werden soll, wie man beispielsweise sehr deutlich in der Kommunikation über Mode beobachten kann, die sich darum dreht, was man in der sozialen Aushandlung zwischen Individualität und Uniformität anziehen soll bzw. darf (vgl. Posch 2009; Degele 2004, König 2007). Die Verankerung von materiellen Komponenten in die elementarsten Strukturen der Persönlichkeitsbildung, die unter dem Motto »Ich konsumiere und besitze, also bin ich« zusammengefasst werden kann, korreliert mit der allgemeinen Etablierung eines Ethos des Reichtums als Ausdruck von sozialem Status unter dem Motto: »getting rich is glorious« (zhifu guangrong) (Kleinbrod 2006: 259). Angesichts dieser Entwicklungen verwiesen viele Studien (u.a. Andrew/Shen 2002, Luo 2013, Cho 2013) die sich mit neuen Trends und Phänomenen wie z.B. Schönheitspraktiken und Schönheits-Ops beschäftigen, in erster Linie auf die Dominanz der Konsumkultur und die begleitende Generierung und Zurschaustellung von ökonomischem Kapital. Ginge es allerdings nur um den reinen Konsum bzw. die Anhäufung von ökonomischem Kapital, wären Ratgeberbücher, die

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über eine Auflistung der jeweils angesagtesten Produkte – wie z.B. die beliebte chinesische Wochenzeitung »Einkaufs-Kompass« (Gouwu zhinan) – hinausgehen, überflüssig. Dass das Genre dennoch so an Popularität gewonnen hat, weist darauf hin, dass es offensichtlich nicht nur mit dem Erwerb materieller Statussymbole getan ist.

E INE F RAGE DES G ESCHMACKS : N EUE IMMATERIELLE S TRATEGIEN DER SOZIALEN D ISTINKTION Wenn sich immer mehr Menschen immer mehr kaufen können, kann am Besitz von Dingen allein die Schichtzugehörigkeit immer schwieriger bestimmt werden. Insbesondere da der materielle Wohlstand in China beständig steigt und ehemalige Statussymbole wie der Besitz von technischen Haushaltsgeräten oder Kraftfahrzeugen durch eine zunehmend flächendeckende Verbreitung und Zugänglichkeit ihren Distinktionswert eingebüßt haben, bedarf es anderer Unterscheidungsmerkmale. Es bedarf neuer Faktoren der sozialen Distinktion jenseits bloßer ökonomischer Voraussetzungen. Während in den 80ern und 90ern Chinas Wunsch nach Modernisierung nach westlichem Vorbild der Antrieb für sozialen Aufstieg war, findet zunehmend eine Abkehr hiervon statt: »By the end of the 1990's, a temporality founded in ambitious visions of progress had lost its grip on many of China's lived worlds. American material life no longer appeared the be-all and end-all of modernization as a specifically Asian commodity culture began to thrive along city streets and in the media.« (Farquhar/Cheng 2012: 26)

Diese neue Konsumkultur bestand nicht mehr aus dem Erwerb von vornehmlich ausländischen Markenartikeln, um damit die eigene Modernität und Position zu symbolisieren. Der neue Gegenentwurf zum 90er Jahre-Mittelstandsheim mit Farbfernseher und vollautomatischer Waschmaschine besteht stattdessen in der Anhäufung von sozialem und kulturellem Kapital. Modernität drückt sich nicht mehr nur im Besitz materieller Ding aus, sondern mehr und mehr in einem »angemessen modernen« Habitus. Deshalb wird die Kultivierung von »suzhi« (geistige Qualität) und »jieceng wenhua« (schichtspezifische Kultur) zum wichtigen Bestandteil der Identität und zur symbolischen Abgrenzung zu anderen Schichten. Dies gilt vor allem für die Distinktion von jenen sozialen Akteuren und Akteurinnen, die zwar über ebenso viel ökonomisches Kapital verfügen, nicht je-

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doch über das entsprechende Benehmen, sprich: kulturelles Kapital. Auf diese Weise verlieren materielle Statussymbole – und damit letztlich auch objektiv messbare Kriterien – teilweise an Bedeutung für die Schichtzugehörigkeit. Es kommt nun auf die richtige Inszenierung der Güter unter entsprechenden Rahmenbedingungen an. Eine Gucci-Handtasche oder ein Chanel-Kleid alleine genügen nun nicht mehr, um sich Zugang zu gehobenen Schichten zu verschaffen, wenn man darin wie ein Bauerntrampel auftritt. Es bedarf auch der passenden individuellen Inszenierung dieser symbolischen Güter in einem sozial konstitutiven Rahmen. Für die Begründung einer schichtspezifischen sozialen Identität genügt die bloße Akkumulation von Konsumgütern also nicht, es geht vielmehr darum, jene adäquat bewerten und inszenieren zu können, wie auch schon Bourdieu festgestellt hat, denn »[d]ie sozialen Subjekte [...] unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät« (Bourdieu 1987: 25). Die blindwütige Ausstaffierung mit exklusiven Markenprodukten erhielt sogar eine negative Konnotation als Praxis der »Neureichen« mit geringem Bildungshintergrund, denen offensichtlich das entsprechende Wissen zur Beurteilung fehlt und die daher im Bestreben nach Aneignung von materiellen Statussymbolen immer wieder ins Fettnäpfchen treten. Daher gewinnt die Anhäufung von sozialem und kulturellem Kapital wie beispielsweise durch Mitgliedschaften in exklusiven Golfclubs, der Selbstkultivierung und der Erziehung des Nachwuchses zur perfekten »Lady« oder zum »Gentleman« (Zhang 2010) zunehmend an Bedeutung. Die Herausbildung und Kultivierung von Humankapital wird gleichwertig oder gar höherwertig als ökonomisches Kapital. In diesem Prozess spielt auch die Herausbildung eines bestimmten Habitus eine entscheidende Rolle: »Perhaps taste has become the fastest shortcut to higher social class and social status« (Wang 2008: 194). Doch gerade dies ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, da im Gegensatz zu erlerntem Schulwissen der »geschmacksgeleitete« Konsum (von Kunst und Kultur etwa) ein Kommunikationsprozess ist, der im Akt der Dechiffrierung und Decodierung, die Beherrschung eines spezifischen Codes voraussetzt, um den Wahrnehmungsprozess überhaupt in Gang setzen zu können. Fehlt das spezifische Wissen darum, so verschließt sich der Vorgang überhaupt jeglicher Wahrnehmung, weshalb der Besitz von kultureller Kompetenz vor allem den Besitz des richtigen Codes impliziert, welcher das System von bewussten und unbewussten Wahrnehmungs- und Bedeutungsschemata überhaupt erst eröffnen und interpretieren kann. Die alltägliche, nahezu unbewusste Inszenierung eines gewissen sozial

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gratifizierten Stils und von Eleganz sowie eines elitären Lebensstils mag zwar locker und ungezwungen erscheinen, ist jedoch in Wahrheit harte Arbeit am Selbst wie schon Bourdieu wusste: »Um jene Art von ›mondänem Sinn‹ darzustellen, der, auf eine Summe streng abfragbaren Wissens nicht reduzierbar, in der Regel mit einem umfangreichen Erbe an kulturellem Kapital einhergeht, genügt der Vergleich der zwei Dimensionen der kulturellen Kompetenz: das Verfügen über spezifische Kenntnisse […] und das für ihre Verwertung notwendige ›feine Gespür‹, das sich an der Fertigkeit bemisst, unter den diversen vorgelegten Statements dasjenige herauszufinden, was Flaubert als ›schicke Meinung‹ tituliert hätte.« (Bourdieu 1987: 157)

Wichtig ist neben der Akkumulation nun die richtige Umsetzung und Verwertung des entsprechenden Kapitals, um »höchste Vorteile aus einem spezifischen kulturellen Kapital zu schlagen, worin weniger Sachverstand ausschlaggebend ist als vielmehr Vertrautheit mit der Kultur der herrschenden Klasse und Beherrschung der Zeichen und Embleme distinguierten Auftretens und Geschmacks« (ebd.: 237).

Oder wie Wang Jing es formuliert: »[O]ne doesn't have to be aristocrate to act aristocratic.« (Wang 2008: 194) Und hier nun setzt die Ratgeberliteratur an, indem sie Hinweise zum schichtspezifisch korrekten Verhaltenskodex gibt, einen elaborierten Habitus lehrt und prestigegewinnende Handlungen vorstellt. Daher bezeichnen Stephanie Hemelryk Donald und Zheng Yi die Bücher dieses Genres auch als »manuals of elite civility« (Donald/Yi 2015: 342), da sie nicht nur praktische Ratschläge zur basalen Lebensgestaltung liefern, sondern darüber hinaus auch auf die Herstellung einer schichtspezifischen Identität abzielen. In diesem Punkt unterscheiden sich Männer- und Frauenratgeber wenig: Während sich westliche Ratgeber meist ausschließlich einem klar umrissenen Problembereich und individualistischen Lösungen widmen, wird in der chinesischen Version ein Gesamtentwurf von sozialer Identität geschaffen und dieser zugleich in die gesellschaftliche Landschaft eingebettet. »Frau« zu sein – oder respektive eben auch »Mann« – kann in China nicht ohne die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen gedacht werden und dementsprechend spielt auch die Frage der sozialen Positionierung eine wichtige Rolle, wie Donald und Yi mit spezifischen Fokus auf weibliche soziale Identitätskonstruktionen feststellten: »Becoming-woman (zuo nüren) in postsocialist China is, then, a class proposition. […] The transformation

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from appropriate socialist members of the female gender (funü, nütongzhi) to the quintessentially feminine person (nüren) is one part of a response to the need for appropriate class performance.« (Ebd.: 345) Die dargebotenen Tipps zum Modestyling, zur Wohnungseinrichtung, zu angemessenen Hobbys und Freizeitbeschäftigungen bis hin zu Etikette und Höflichkeit im sozialen Umgang festigen das Bild einer von Wohlstand, Zivilisiertheit und einem hohen kulturellen Geist definierten Gesellschaftsgruppe, die sich eben durch jene Rituale der Distinktion und Diskriminierung explizit von anderen gesellschaftlichen Formationen absetzen will: »nüren not only reiterates for a new period the circularity of essential femininity, which is then circumscribed by class performance, but also presupposes the possibilities and luxuries of choice in relatively affluent ›lifestyles‹ that reflect ›quality‹ civility and sentiments in the post-Reform society« (ebd.: 347). Dies gilt gleichermaßen natürlich auch für Männer, für die es ebenfalls eine Armada an Ratgeberformaten in Buchform, Zeitschriften oder online für den distinguierten Auftritt gibt. Dementsprechend finden sich in zahlreichen chinesischen Ratgebern ganz konkrete und detaillierte Anweisungen beispielsweise zur korrekten Gangart, zu richtigem Sitzen und Stehen, adäquatem Lachen und Sprechen bis hin zur Wahl der Kleidung bzw. zum Stilbewusstsein. Es ist der Versuch der Inkorporierung eines als erstrebenswert und elitär gewerteten Habitus durch Wissensaneignung und Training als Ersatz für die fehlenden entsprechenden distinktiven Merkmale qua Geburt. Deshalb befassen sich die Ratgeber gerade mit jenen Lebensbereichen, die nicht in die schulische Bildung und das, was man gemeinhin unter Allgemeinbildung versteht, gekoppelt sind wie etwa Essgewohnheiten, Wohnungseinrichtung, Kleidungsstil, Auftreten und Sprache – alles Merkmale, welche laut Bourdieu die ursprüngliche soziale Herkunft am untrüglichsten verraten, da sie sozusagen als »natürliche« Verhaltensweisen während des kindlichen Sozialisationsprozesses aufgenommen wurden. In den alltäglichen Entscheidungen etwa für ein bestimmtes Mobiliar, eine bestimmte Kleidung oder Essenszubereitung machen sich die tiefsitzenden und überkommenen Einstellungen umso offensichtlicher, als sie, außerhalb des Interventionsbereichs der schulischen Institutionen gelegen, gewissermaßen durch den nackten Geschmack getroffen werden müssen (Bourdieu 1987: 138f.) Schulbildung vermittelt nur in einem begrenzten Bereich eine Abkürzung zur Aneignung von Wissen, lässt jedoch viele Lebensbereiche außen vor, so dass jenen sozialen Aufsteigern aufgrund von Bildungskapital dennoch in vielen Situationen jene Selbstsicherheit und Spontaneität fehlt, welche die Inhaber von Bildungskapital durch familiäres Erbe auszeichnet. Diesen Mangel aufzuholen und auszugleichen ist ein dringendes

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Bestreben gerade der Mitglieder der neuen Mittelschicht in China, welche darauf bedacht sind ihren Status durch den Erwerb nachhaltiger Kapitale abzusichern und weitere distinktive Merkmale jenseits von Konsummöglichkeiten und finanziellen Mitteln zu schaffen. Wenn aber nun gilt, dass der Geschmack einer Person und ihr Stil ihren sozialen Status determinieren, so kann dieser Geschmack nur durch den alltäglichen Lifestyle ausgedrückt werden. Und damit diese Inszenierung auch adäquat gelingt, bedarf es konkreter Anweisungen zur Gestaltung wie sie unter anderem in Form der Ratgeber erfolgen.

Die Waffen der Frauen Konstruktionen äußerer und innerer Schönheit

30% N ATUR , 70% M ENSCHENHAND : D ER I MPERATIV S CHÖNHEITSHANDELNS

DES

Wer in chinesischen Ratgeberbüchern für Frauen Beschreibungen des sonst aktuell in der Medien- und Bildkultur allgegenwärtigem, klischeehaften asiatischen Schönheitsideal mit doppelter Liedfalte, plastischen Gesichtskonturen und hohem Körperwuchs erwartet, wird enttäuscht. Darin kommen – anders als in herkömmlichen Zeitschriften oder sonstigen illustrierten Medien – solche konkreten Normvorstellungen erstaunlicherweise selten explizit textuell oder bildhaft zur Sprache. Wenn, dann ist ganz allgemein die Rede von betörenden Blicken, faltenfreien Stirnen, mandelförmigen Gesichtern, vollen Brüsten und schmalen Hüften (Yang 2010: 182ff). Ein nicht minder klischeehaftes Ideal – aber eines, das weniger ein lokales, denn vielmehr ein globales ist. Das soll jedoch keineswegs bedeuten, dass in rein schriftsprachlichen Ratgebern dem äußeren Erscheinungsbild keine Aufmerksamkeit gezollt würde. Durchschnittlich widmet sich mindestens ein Kapitel der Bücher ausschließlich dem äußeren Auftreten und analysiert von der adäquaten Haartracht, dem schmeichelhaften Schminken des Gesichts, über die beste Farbwahl und Schnitt der Kleidung bis hin zur perfekten Absatzhöhe der Schuhe nahezu jeden Zentimeter des Körpers. Doch trotz recht akkurater Vorstellungen über das materielle Beiwerk, bleibt die Gesamtvorstellung von »Schönheit« hier recht diffus. Es ist zwar regelmäßig die Rede davon, dass Frauen »schön« (mei/meili), »charmant« (meili) und »hübsch« (piaoliang) sein müssen, jedoch gibt es kein konkretes Anschauungsmaterial dazu. Dies soll nicht heißen, dass in Ratgebern von einer natürlich inhärenten Schönheit der Frau ausgegangen würde, wie etwa im Sinne einer christlich motivierten Interpretation, die jedes Individuum als vollkommene Schöpfung be-

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trachtet. Auch geht es nicht nur um Schönheit im metaphysischen Sinne, in Form von Schönheit des Wesens und des Geistes. Wenn es also letztlich der individuellen Vorstellungskraft der Rezipienten überlassen bleibt, wie diese »Schönheit« in der Praxis auszusehen habe, so wird in den Ratgebern doch kein Zweifel daran gelassen, dass diese per se ein unabdingbares weibliches Attribut darstellt und daher unbedingt hergestellt werden muss: sie gilt als »Kapital« (ziben) und »Waffe« (wuqi) jeder Frau schlechthin. Das Idealbild einer attraktiven Frau wird also operationalisiert durch den abstrakten Imperativ des Schönseins bzw. des stetigen Prozess des sich Schönmachens – mit anderen Worten: »Das Streben nach Schönheit ist der unaufhörliche Weg der Frau« (Yang 2010: 191). Diese diskursive Umwertung bewirkt eine Verschiebung der Verantwortlichkeit für das eigene Aussehen: Einem schwer erreichbaren Idealbild kommen nur wenige nahe, aber der Aufforderung zur allgemeinen Verschönerung kann sich niemand entziehen. Gleichzeitig wird dadurch das Aussehen seiner vermeintlichen Naturgegebenheit enthoben. Es ist nicht ein unbeeinflussbares Geschenk bzw. Erbe der Natur, sondern eine aktive individuelle Leistung, oder wie Zhang Ran es formuliert: »Frauen sollen natürlich schön sein, aber die Natur ist nicht unbedingt immer schön« (Zhang 2013: 31). Nur wenige Frauen seien von Natur aus mit Schönheit gesegnet, die Mehrheit habe das Nachsehen und müsse selbst aktiv Hand anlegen. Während so der Zusammenhang zwischen Natur und Schönheit dekonstruiert wird, wird im gleichen Atemzug die »Liebe zur Schönheit« wiederum als »Natur der Frau« konstruiert. Metaphorisch wird das Streben nach Schönheit mit der Biene und ihrer unermüdlichen Suche nach Honig verglichen. Bleibt ihr der Honig respektive Schönheit versagt, müsse sie »sterben«, allegorisch: das Weibliche in ihr stürbe ab (ebd.: 29). Schönheitshandeln wird damit in vermeintlich nichthinterfragbare Prozesse der Natur eingeordnet (wie z.B. auch im Vergleich mit dem Balzverhalten der Tiere) und damit in der Konstruktion als »natürliches Verhalten« jenseits moralischer Beurteilung gestellt. Deshalb betonen die Ratgeber unmissverständlich die Wichtigkeit, aktiv Maßnahmen zur Verschönerung zu ergreifen, als unbedingte Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben, denn nur »Frauen, die sich schön machen können (daban), sind glückliche Frauen« (Yan 2012: 12). Nicht nur das Glück im Allgemeinen, auch das Selbstbewusstsein, die Würde, der Respekt, die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Mitmenschen sowie der gesellschaftliche und berufliche Erfolg hängen demnach von einem attraktiven Aussehen ab. Tatsächlich wird der Aufwand am eigenen Körper damit gerechtfertigt, dass nur 30% der Schönheit naturgegeben sei, 70% aber das Ergebnis von geschickter künstlicher Manipulation (nüren sanfen zhangxiang, qifen daban) (Yan 2012:

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26, Ma 2010: 3). Tatsächlich werden Frauen, die von Natur aus schön sind, geradezu in ein schlechteres Licht gerückt, da sie es versäumten, Techniken der Selbstoptimierung zu erlernen. Sobald aber die Blüte der Jugend und Schönheit vorbei sei – mit ca. 28-29 Jahren –, bleibe ihnen überhaupt keine Attraktivität mehr übrig (Ma 2010: 5). Gerade weil es vor allem um den Aspekt der artifiziellen Produktion einer kulturell definierten Schönheit geht, liegt der Fokus in erster Linie auf dem Herstellungsprozess. Dieser kann insofern den Technologien des Selbst zugerechnet werden, als die artifizielle Manipulation des eigenen Erscheinungsbildes im Zuge reflexiver Moderne zwar mehr und mehr individualisiert wird, jedoch immer noch stark systemischen Zwängen und vor allem gesellschaftlichen Institutionen unterworfen ist. Gerade in China sind die Aushandlungsprozesse zwischen den Polen der Individualität und der Uniformität, die soziale Institutionen wie z.B. die Mode kennzeichnen, noch immer in vollem Gange und der Einfluss von gesellschaftlichen Diskursregimen sehr weitreichend, was besonders bei der diskursiven Herausbildung eines allgemeingültigen Konzepts von weiblicher Schönheit im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdführung deutlich wird. Auf der einen Seite steht die Ermächtigung des Individuums zur aktiven Veränderung und Verbesserung des eigenes Images und damit auch seiner gesellschaftlichen Position durch rationale Investitionen in sein äußeres Erscheinungsbild. Auf der anderen Seite etabliert sich zunehmend ein Zwang zum Schönheitshandeln. Wenn nämlich gutes Aussehen nicht mehr ein zufälliges Geschenk der Natur ist, wird es zu einer sprichwörtlichen Verkörperung des unternehmerischen Ichs, das sein Kapital so managt, dass größtmöglicher Gewinn daraus gezogen werden kann. Da also weniger die Ästhetik im Vordergrund steht, sondern vielmehr das Streben nach Anerkennung, ist Schönheitshandeln (beautification) ein Medium der sozialen Kommunikation und dient mithin zur Inszenierung der eigenen Außenwirkung zum Zweck der Erlangung von Aufmerksamkeit und Sicherung der eigenen Identität im Prozess der sozialen Positionierung (Degele 2004: 10). Dabei symbolisieren die verwendeten Praktiken und Mittel der Körpermanipulation den Zugriff auf bestimmte sozial bewertete Ressourcen wie Vermögenswerte, Freizeit und Wissen und schaffen somit sichtbare Zeichen von sozialer Zugehörigkeit. Schönheitskompetenz ist also zugleich erfolgsorientiertes, instrumentelles Handeln qua Herstellung von Geschlecht durch die erfolgreiche Reproduktion gesellschaftlich-kulturell gratifizierter Gendermotive. In einer ersten Annäherung an den chinesischen Diskurs über Schönheitshandeln in Frauenratgebern ist es zunächst einmal interessant zu sehen, wie dieser den Leserinnen überhaupt vermittelt wird. Wie wird Schönheitshandeln

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bewertet? Während etwa in Deutschland die Objektivierung des Körpers als Projekt, das vom unternehmerischen Ich gestaltet werden muss, und die damit einhergehende narzisstische Fokussierung auf das eigene Körpererleben zumeist euphemistisch als gesunde Wertschätzung des Selbst deklariert wird – ganz im Sinne von »Weil ich es mir wert bin« – und Schönheitshandeln im Gesellschaftsdiskurs einzig und allein dem individuellen »Wohlfühlen« dient (vgl. Posch 2009), tritt der instrumentelle Aspekt der Manipulation und Technologisierung des Körpers in China offener zutage: Schönheit wird hier offen als harte und langwierige »Arbeit« charakterisiert (Yang 2010: 176f.). Dennoch gibt es zunehmend Tendenzen, den Wohlfühl-Diskurs auch in China als Mainstream zu etablieren und auf diese Weise instrumentelle Motive zu verdrängen – unter dem Motto: »Nur wer sich selbst liebt und schätzt, der gibt sich Mühe mit sich selbst und verschönert sich gerne« (Yan 2012: 26). Auch die aktuell in China boomende Wellness- und Kosmetikindustrie forciert mit der Betonung des meditativen, selbstzentrierten Luxus-Beauty-Erlebnisses eine Umwertung vom sozial motivierten Schönheitshandeln zum individuellen Selbstwerterlebnis (vgl. Adrian 2003, Wang 2008, Cheng/Chan 2009). Dennoch steht in den Ratgebern der pragmatische Aspekt immer noch deutlich im Vordergrund, denn alle Mühen am Erscheinungsbild nützen nichts, wenn niemand sie sieht. Schönheitshandeln verlangt immer nach dem Blick des Anderen und ist ein Akt der gelingenden oder misslingenden Anschlusskommunikation, und nicht eine – wie oft propagiert – rein individuelle Handlung. Zugleich bedeutet dies eine zunehmende Verlagerung von »inneren« Qualitäten auf die Oberfläche: die Inkorporierung von Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die einem Menschen allein aufgrund seines Aussehens zugeschrieben werden: »Für Frauen ist natürlich die innere Schönheit (xinlingmei) am wichtigsten, aber in unserer heutigen Zeit der ständig wechselnden Moden und Formen ist es schwierig, diese Schönheit überhaupt zu entdecken. Daher erreicht man andere am direktesten und einfachsten über das Äußere, wie zum Beispiel durch Kleidung, Kosmetik, Sprache und Gestik.« (Bo 2012: 2)

Diese Ausrichtung des eigenen Handels auf eine spezifische soziale Reaktion zeigt sich unter anderem in diversen narrativen Fallbeispielen, die die Thesen der Ratgeberbücher untermauern sollen. In einer dieser Geschichten wird etwa von einer jungen Frau berichtet, die bereits während ihres Studiums jeden Tag eine halbe Stunde das Schminken übte und dafür von ihren Kommilitonen ob dieses augenscheinlich übertriebenen und unsinnigen Unterfangens ausgelacht wurde. Nach dem Abschluss ist sie es jedoch, die als erste eine hoch bezahlte Arbeits-

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stelle bei einem begehrten Arbeitgeber findet, weil sie sich professionell zurechtzumachen versteht und dementsprechend ein »topgestyltes, ansprechendes Äußeres« vorweisen kann (zit. nach Yan 2012: 11f.). Das Fazit bzw. die Moral von der Geschichte lautet: »Die [guten] Chancen bieten sich den Frauen, die sich hübsch machen können, egal ob im Beruf oder in der Liebe.« (Ebd.: 12) Hier wird also die Praxis des Schminkens als rein instrumentelles, weitsichtiges Handeln und Investition in die Zukunft ähnlich wie das Universitätsstudium gewertet, die beide einzig und allein dem Zweck dienen, eine bessere berufliche Position zu erreichen. Daher werden Frauen, die sich schminken und stylen können (daban), in den Ratgeberbüchern auch als »kluge Frauen« gelobt. Frauen jedoch, die ihr Äußeres der Natur überlassen, werden als »faule Frauen« diffamiert: »Es gibt keine hässlichen Frauen, nur faule Frauen!« (Yan 2012: 26). Schönheit gilt als Hilfsmittel zum Erfolg und hat einen extrem hohen ökonomischen Wert: »Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft […] hat Schönheit einen Preis, das Gesicht, der Körper, das Lächeln bis hin zum Gesamtniveau hat einen Preis. Schlaue, schöne Frauen wissen, wie man Schönheit in Kapital umwandelt und im Marktwert steigt.« (Li 2008: 86)

Selbst eine Feministin wie Huang Lin bezeichnet Schönheit als natürliches Kapital wie ein »Edelstein«, und daher als teuren Besitz und viel Geld wert (Huang 2012: 77). Wer dieses »Kapital« nicht einzusetzen wisse, sei dumm. Attraktive Frauen, die durch ihr Erscheinungsbild jeden beliebigen Gesprächspartner erfreuten, ohne daraus einen eigenen Nutzen zu ziehen, seien »Verschwenderinnen« (Yan 2012: 4).

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Doch nicht immer war dieser äußerst pragmatische Tenor im Schönheitsdiskurs vorherrschend, obwohl das äußere weibliche Erscheinungsbild in China bereits seit mehreren Jahrzehnten auf der Agenda der öffentlichen Diskussion steht. Erst Ende der 1980er Jahre ließ sich ein Wandel im sozialistischen Geschlechterbild feststellen, der seinen Niederschlag vor allem auch in der äußerlichen Darstellung fand. Während noch in den 1970ern Frauen im uniformen blauen MaoAnzug allerorts keine Seltenheit waren, wurde das Frauenbild bereits ein Jahrzehnt später von einer Pluralität von Möglichkeiten ersetzt, die doch alle eines gemein haben: sie geben das dargestellte Objekt unzweifelhaft als Frau zu erkennen. Kategorien wie »hübsch«, »schön« und »feminin« werden nach Jahr-

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zehnten der Tabuisierung wieder in sozialen Diskursen gebraucht. Der sich in diesen Jahren etablierende moderne chinesische Mainstream-Feminismus zeichnet sich – ganz im Gegensatz zu seinem westlichen Pendant, das die Aufhebung eines dogmatischen Geschlechterunterschieds auf seine Fahnen geschrieben hat – gerade durch eine Re- statt De-Konstruktion der binären Geschlechterordnung aus (Yang 1999: 36). Nachdem das Geschlecht in der Mao-Zeit zur neutralen (oder besser gesagt: vermännlichten) Kategorie vereinheitlicht und dementsprechend die persönliche Identität nicht über die Geschlechtsdifferenz, sondern über Klassenzugehörigkeit definiert wurde und während der Kulturrevolution jedes Zeichen von explizit weiblichem Aussehen, wie beispielsweise deutlich wahrnehmbare weibliche Formen, lange Haare, feminine Züge und Verhaltensweisen als bourgeois gedeutet und daher zumeist versteckt wurden, avancieren jene Attribute in der neuen Ära zu äußerlichen Kennzeichen einer neuen inneren Identität. Wie Elisabeth Croll feststellte, hat die neue Betonung von selbstreferentiellen Qualitäten die Aufmerksamkeit nicht nur auf distinktive weibliche Attribute gelenkt, sondern auch auf »their difference from the male or the masculine. […] [It] grows out of the explicit rejection of the previous revolutionary ›masculinization of the female‹, ›female man‹ or ›superwomen's masculinization‹ and marks the separation out of the female form the predominantly previous generalized androgynous definition of comrade or worker of predominantly masculine or male image« (Croll 1995:151).

Zeitgleich kam es auch allgemein zu einem Erwachen bzw. einem neuen Bewusstsein von Frauen für Gender-Rechte, was sich unter anderem in einer geänderten Gesetzgebung 1982, der Etablierung eines wissenschaftlichen Zweiges der Frauen- und Genderforschung bis hin zu den im Rahmen des sechsten nationalen Frauenkongress 1988 formulierten so genannten »Vier Selbst« (sizi) (Selbstrespekt, Selbstvertrauen, Selbständigkeit und Selbststärkung) niederschlug und damit den Grundstein für eine neue weibliche Subjektivität legte, sodass nun jenes Selbst, das eben spezifisch weiblich sein sollte, im Vordergrund stand. Im Schutze dieses ideologischen Rahmens entwickelte der Prozess rasch eine Eigendynamik: die Refemininisierung der ehemaligen »eisernen Mädchen« führte zu einer umfassenden Neujustierung der gesellschaftlichen Strukturen. Abgesehen vom Abdrängen weiblicher Arbeitskräfte in bestimmte Nischenwirtschaftszweige durch Berufung auf geschlechtsspezifische Argumente, setzte sich auch im Medien- und Alltagsdiskurs immer mehr die Betonung des Geschlechterunterschieds einschließlich aller dem Klischee innewohnenden Stärken und

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Schwächen durch. Frauen seien eben »anders« als Männer, traditionelle Attribute wie Sanftmütigkeit, Hilfsbereitschaft, Kultiviertheit, Zurückhaltung, Bescheidenheit und Schüchternheit gehörten plötzlich wieder zum Charakterbild einer sozial anerkannten Frau: »The rejection of sameness and pursuit of difference«, schreibt Croll, »has led to an appreciation and cultivation of images based on the traditional definition of the feminine. […] In emphasizing sexual difference rather than the sameness of revolution, attention had to be drawn to the qualities unique to women and female.« (Croll 1995: 153f.) Auch heute noch geben die meisten Frauen in China auf die Frage, was das Weibliche auf Körperebene ausmache, nahezu einhellig an, dass der weibliche Körper nur im Kontrast zum männlichen Körper existiere (Huang 2008: 78). Das Weibliche definiert sich demnach als das Andere des Männlichen, stellt jedoch nicht das Gender-Konzept grundsätzlich infrage, sondern betont eher die spezifisch weibliche Sichtweise und Subjektivität als Identifikationsbasis. Dies hatte in Kombination mit dem Einbruch der Marktwirtschaft und der Ausbreitung einer Konsumkultur den Effekt, dass die »moderne« chinesische Frau der 1990er Jahre zunehmend auf äußerliche doing-gender-Praktiken zurückgriff, um ihr Frau-Sein zu kommunizieren und in Folge dessen diese auch zu internalisieren: Die »beauty fear« der Mao-Jahre wurde geradezu von einem »beauty fever« abgelöst (Yang 2011: 14). Selbst das Parteisprachorgan Zhongguo funü konnte sich dem nicht entziehen. So lancierte die Zeitschrift Anfang der 90er Jahre eine heiße Debatte zum Thema Weiblichkeit und deren äußerliche Repräsentation.1 Während man in einem adretten, gesunden, aber definitiv hübschen Aussehen mehr oder minder einen Konsens fand, zeigte sich jedoch schon bald im Heftdesign der zunehmende Einfluss von Konsumkultur, Schönheitsindustrie und gewandelte Geschlechtsbilder: So versuchte Zhongguo funü Ende der 90er Jahre dem Dilemma zwischen der Hochhaltung parteilicher Geschlechterdirektiven und Marktwettbewerb dadurch zu entgehen, dass fortan immer zwei unterschiedliche Frauenbildalternativen auf Front- und Rückencover gedruckt wurden. Vorne zierte das Heft eine taffe, berufstätige Frau, die Rückseite nahm meist eine attraktive, sexy-feminine Frauendarstellung ein. Eine große Rolle bei der (Re-)Konstruktion eines femininen Frauenbildes spielte auch die Kosmetik- und Schönheitsindustrie als einer der erfolgreichsten Zweige von Chinas neuer Marktökonomie. So berichtet beispielsweise in einem

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Initiiert wurde die Diskussion mit einem Leserbrief über eine feministische Perspektive auf Repräsentationen von Weiblichkeit in der Augustausgabe 1991 und setzte sich bis Dezember 1991 fort.



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Interview eine Mittvierzigerin aus Shanghai von ihrer wundersamen Wandlung, die mit der ersten Benutzung von Make-up im Jahr 1986 begann. Sie beschreibt diese dem weiblichen Geschlecht vorbehaltene Schönheitshandlung als eine »fundamentale Transformation des Standpunktes« (genben lichang de zhuanyi), die mit einem gewandelten Selbst- und Lebensgefühl einhergeht. Auch die Interaktion mit ihrer Umgebung gestalte sich nun anders: Vorher sei sie es gewohnt gewesen laut und burschikos zu sein, »but after applying make-up, she feels she should restrain herself from expression the manly side of herself and behave in keeping with her looks. Make-up has allowed her to discover her feminine side [...] a different gender structure emerges in her, where a male structure no longer overpowers and displaces female subjectivity; now it defines the female by encouraging her to evaluate herself in her reflection in the male« (Yang 1999: 49).

Bemerkenswert an diesem Erfahrungsbericht ist vor allem der Kausalzusammenhang, der zwischen Schönheitsprodukten und Schönheitshandeln bzw. der Entdeckung der eigenen femininen Seite hergestellt wird – was deutlich macht, dass diese nicht allein durch Selbstreflexion zu Tage gefördert werden kann, sondern materielle Unterstützung – sozusagen als eine Art Initiationsritus – benötigt. Als sozial erwartete »rites de passage« stellt auch Bonnie Adrian die aufwendigen Verschönerungsmaßnahmen an der Braut vor der Hochzeit dar: die artifiziell hergestellte Schönheit der Braut symbolisiert die erfolgreiche Partnersuche und prognostiziert einen ebenso erfolgreichen Lebensverlauf als Familie (Adrian 2003). Ihre ausführliche Schilderung aller Rituale vom Facial, Augenbrauenzupfen über Hautbleichung bis zur richtigen Farbe der Lippen stellt das explizite Schönheitshandeln in Kontrast zu den eher dezenten Beautypraktiken des Alltags dar. Gleichzeitig bemerkt sie jedoch auch ein generelles Anwachsen der Kosmetikindustrie sowie eine Zunahme an Schönheitsoperationen: der Körper wird zu einem Projekt, das ebenso gemanagt werden müsse wie andere Lebensbereiche und etabliert sich damit immer mehr zur relevanten Kategorie des sozialen Erfolgs. Dies beweist auch Wen Hua (2013) mit ihrer Untersuchung über die Motive von chinesischen Frauen, die operative Schönheitseingriffe durchführen lassen. Sie stellt einerseits einen klaren Trend in Richtung Sexualisierung und Kommodifizierung des weiblichen Körpers fest. Dementsprechend ändert sich der weibliche Blick auf den eigenen Körper: er wird als ein flexibel und beliebig manipulierbares Objekt wahrgenommen und von der leiblichen Erfahrung gelöst. Andererseits korreliert dies mit dem neoliberalistischen Imperativ der Selbstop-

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timierung, der mit einer neuen Körperideologie des Individualismus, Konsumismus und Hedonismus gepaart wird. Heraus kommt eine sehr utilitaristische Haltung gegenüber Körperalternationen: »If it’s [Schönheits-OPs, A.D.] affordable and safe, and if it makes people happy, why not accept it? When people feel down, they go shopping and buy something to cheer themselves up. I think cosmetic surgery is the same thing.« (Zit. nach Hua 2013: 71)

Wichtig dabei ist der aktive Eigenbeitrag der einzelnen Akteurin als Selbstverantwortliche für ihre Repräsentation von Weiblichkeit respektive damit auch ihres sozialen Erfolgs. Inwiefern Schönheit zunehmend zur Identitätskomponente avancierte, analysiert Xin Yang anhand einer Werbeanzeige für YuesaiKosmetik im Vergleich zu Frauenrepräsentationen wie beispielsweise in Zhongguo funü: »Who she [die dargestellte Frau der Anzeige, A.D.] is and what she does is not important. She is an anonymous symbol, identified by her globe-oriented make-up (Paris-pink) and middle-class lifestyle (pet dog). A new identity is implied: cosmopolitan, leisured, luxurious, and sexy.« (Yang 2011: 19)

Die Einhaltung gewisser kulturell definierter Attraktivitätsmerkmale ersetzt somit andere Identitätsaspekte und wirkt als Repräsentation von sozialem Status, indem sie sozial erwünschte Eigenschaften wie Glokalität, Modernität, Freizeitund Konsumkultur und finanzielle Ressourcen symbolisiert.

E INE P RINZESSIN FÜR DEN M ÄRCHENPRINZEN : ATTRAKTIVITÄT UND P ARTNERWAHL Dementsprechend gilt mehr oder weniger artifiziell hergestellte Schönheit und ein attraktiver Körper längst als Tauschwert auch auf dem Heiratsmarkt. Tang Meiling konstatiert in ihrer Studie über junge White-Collar-Ladies, dass bei Frauen ein ansprechendes Aussehen, jugendliches Alter und hausfrauliche Fähigkeiten als Kapital gewertet werden, das sie gegen anderes Kapital wie Vermögen und soziale Position eintauschen können (Tang 2011: 83). In einem Ratgebertext wird dies treffend formuliert: »Wer einen guten Mann finden möchte, muss zuerst das Beste aus sich selbst machen« (Zhufu Xiaoxiao 2011: 42). Man müsse sich erst selbst in einen weißen Schwan (bai tian'e) bzw. in eine Prinzessin (gongzhu) verwandeln, wolle man sich einen Prinzen angeln, denn

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schließlich müsse man ihm ebenbürtig (peideshang) sein und könne nicht erwarten in der Partnersuche erfolgreich zu sein, ohne sich selbst zu vervollkommnen (wanshan ziji) (Qianqian 2009: 49). Und obwohl an dieser Stelle die Wichtigkeit von inneren Qualitäten nicht unerwähnt bleibt und neben rein körperlicher Attraktivität einen ebenfalls hohen Stellenwert als Erfolgsgarant bei der Paarbildung einnimmt, wird dennoch immer nachdrücklich darauf verwiesen, dass zumindest die Arbeit am Äußeren, um dieses einem durchschnittlichen Schönheitsniveau anzupassen, nicht fehlen dürfe. Wie oben erwähnt, sind die Techniken der Selbstoptimierung – sowohl optisch als auch kulturell und sozial – als Investitionen im marktwirtschaftlichen Sinne zu sehen: »Hübschsein hat einen ganz reellen Marktwert.« (Yan 2012: 4) Tatsächlich wird das künstlich durch Arbeit am Körper erzielte Ergebnis im Privatleben immer wichtiger, denn die (Ehe-)Beziehung wird zum Kapitaltausch, wo unterschiedliche Kapitalsorten wie Geld und Schönheit untereinander gleichwertig verhandelbar sind: »Wenn Du von Natur aus schön bist, dann benutze Dein Äußeres, um es großzügig auszustellen. Achte nicht darauf, wenn andere sagen, du seist nur wie eine Vase schön anzusehen, aber zu nichts nutze oder auf sonstiges Gerede, denn das Aussehen ist eines deiner Kapitale.« (Bo 2012: 102)

Daher gilt es für Frauen möglichst viel »weibliches Kapital« anzuhäufen, das dann in den Verhandlungen der Partnerwahl gegen einen möglichst hohen Zugewinn ausgetauscht werden kann (Zhang 2010: 166, Tang 2011: 83ff.). Hierbei wird auch deutlich gemacht, dass das weibliche Kapital mehr wiegt als andere Attribute oder Leistungen: »For women, wealth is a plus but must be accompanied by a desirable figure and pleasant feminine looks.« (Zhang 2010: 171) Reichtum oder beruflicher Erfolg sind also nur dann zuträglich und steigern den »Wert« der Person, wenn diese zugleich den gesellschaftlichen Normen von Weiblichkeit entspricht. Ein Fallbeispiel handelt etwa davon, wie eine Frau beruflich alles gibt, um die Familie finanziell zu versorgen und sich durch ihre Leistung die Liebe und Anerkennung ihres Ehemannes zu verdienen. Doch dieser verlässt sie am Ende für eine andere Frau. Er erklärt ihr, dass sie zwar zweifellos tüchtig, sehr fähig und talentiert sei, aber durch ihr Karrierestreben und durch die Übernahme von männlichen Verhaltensmustern aus der Berufswelt zu maskulin geworden sei und er sie daher nicht nur nicht mehr attraktiv, sondern geradezu abstoßend finde. (Li 2008: 75)

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Die Übernahme von männlichen Rollenmustern führt in diesem Diskurs zu einer »Geschlechterverwirrung« (xingbie mohu), welche aus biologistischer Sicht verurteilt wird: »Der biologische Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau ist die großartigste und wissenschaftlich sinnvollste Einrichtung Gottes. Das Respektieren dieses Unterschieds ist die größte und schönste und klügste Erkenntnis des Menschseins. Es gibt ein paar falsche und lügende Theoretiker, die Frauen ermuntern genauso zu kämpfen und zu streben wie Männer, aber das ist in Wahrheit nur eine hübsche Falle. Wenn Frauen der sogenannten Unabhängigkeit und solchen Werten nachjagen, mag das vielleicht in der Vergangenheit respektiert worden sein, aber heute und in Zukunft wird es auf jeden Fall verachtet werden.« (Zhang 2013: 76)

Daher sollen Frauen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung auf keinen Fall die Vernichtung des ursprünglichen Geschlechterunterschieds anstreben, denn würden sie zu den gefürchteten »Mannweibern«, so hätte die Unabhängigkeit überhaupt keinen Sinn mehr. Somit bleibt die Geschlechterrolle trotz Ausdifferenzierung der sozialen Identitätsangebote immer noch die wichtigste und essentiellste Identifikationsbasis. Damit wird das Aussehen und der Körper zu einer Ware von Wert und erfordert genauso wie andere Güter auch eine gewissenhafte Bewirtschaftung, um den gewünschten Ertrag abzuwerfen. Daher wird in den Ratgebern den Leserinnen empfohlen gezielt zu investieren (touzi), z.B. sich mit der Lektüre von Modezeitschriften über die neuesten Trends zu informieren, sich Rituale der Körperpflege anzugewöhnen, teure Markenkosmetika zu kaufen, Typberatung und Stylingkurse zu belegen und sich in elaborierter Selbstkultivierung in Mimik, Sprache und Gestik zu üben. Nicht einmal vor Empfehlungen zu Schönheitsoperationen wird zurückgeschreckt, sollten diese zweckvoll sein. Yan Yin, die Autorin des Ratgebers »Das Kapital der Frauen« (nüren de ziben), empfiehlt beispielsweise ohne zu zögern eine Fettabsaugung als optimales Mittel, um dem Schlankheitsideal zu entsprechen, denn nur schlanke Frauen könnten elegant, jugendlich und attraktiv wirken. Ebenso wird auch eine medizinisch-fachliche Behandlung des Busens für die perfekte S-Kurve empfohlen (Bo 2012: 14ff.). Abgesehen von konkreten Tipps zur Selbstoptimierung werden zwei Attribute als Garanten für Attraktivität bei Frauen angepriesen: Weiblichkeit (nürenwei) und »Sexyness« (xinggan). Obwohl das Konzept von Weiblichkeit Elemente der konfuzianischen Geschlechtervorstellung aufgreift und Frauen sich vor allem durch Sanftmütigkeit, Gutherzigkeit, Zärtlichkeit, Fürsorglichkeit, Nachgiebig-

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keit etc. dafür qualifizieren, wird auch hier der körperliche Aspekt in instrumenteller Weise aufgegriffen: »Frauen, die Weiblichkeit haben, sind schön; Frauen, die es verstehen ihre Weiblichkeit zu präsentieren, sind klug« (Xixi 2012: 27). Es geht also vor allem um die Inkorporierung und Inszenierung von Handlungsmustern und Verhaltensweisen, die sozial als weiblich konnotiert sind. Ähnliches gilt auch für die Sexyness, die noch mehr körperfixiert ist. Neben dem Ideal der »guten Mutter und unterstützenden Ehefrau« (xianqi liangmu) erfährt im Zuge der Etablierung einer neuen Definition einer aggressiv-instrumentellen Weiblichkeit sogar die bisher sehr negativ konnotierte Kategorie der »Füchsin« (hulijing) eine Aufwertung: vorher als Synonym für Schamlosigkeit, Unanständigkeit und Vulgarität verwendet, werden ihr nach der Reevaluierung positive Aspekte wie Sexyness, Verführungsgabe und Selbst- und Körperbewusstsein zugeschrieben. Insbesondere ihr Talent, mit ihrer Körperlichkeit Männer zu verführen und an sich zu binden, wird beneidet und Ratgeber regen zur Nachahmung an. So werden die ehemals sozial geächteten »Füchsinnen« neuerdings als andersartig (linglei), gar als avantgardistisch (qianwei) bezeichnet und gelten als Vorbild (ouxiang) für die Frau von heute, denn sie werden als sexy (xinggan), modern (dangdai), westlich (xifang) und aufrührerisch (saodong) charakterisiert. Ihr größter Vorzug sei aber der offensive und erfolgreiche Umgang mit dem anderen Geschlecht. Männer würden Füchsinnen insbesondere deshalb lieben, weil sie es verstünden, sich nach den Wünschen der Männer zurecht zu machen und einen großen Auftritt zu inszenieren. Die Begleitung solch einer Dame gebe dem Mann enormes soziales Gesicht und verschaffe ihr dadurch umgekehrt Vorteile im Wettkampf um die Gunst des Mannes gegen andere Mitbewerberinnen (Ma 2010: 170ff.). Tatsächlich scheint – studiert man die Ratgeberbücher – gerade diese Logik des »Wettstreits um den besten Mann« die größte Motivation zum Schönheitshandeln unter chinesischen Frauen zu sein. Da die Ehe noch immer als essentiellster Baustein des weiblichen Lebens und der Identität betrachtet wird, um den herum sich erst weitere Identitätsfacetten gruppieren können, ist das Gelingen der Ehe ein alternativlos wichtiger Faktor für soziale Akzeptanz und Erfolg. Alle Ratgeber preisen unisono die Ehe als den wichtigsten Lebensabschnitt der Frau an und setzen die Wahl des Gatten mit der Wahl des zukünftigen Lebensschicksals gleich. Auch wenn Scheidung mittlerweile sozial toleriert wird, so herrscht immer noch der Tenor vor, dass eine gescheiterte Ehe vor allem die Frau emotional, psychisch und sozial ruiniere und all ihren Charme und Lebenslust zerstöre. Deshalb wird in Zeiten steigender Scheidungsraten und der allgegenwärtigen Bedrohung durch »die Dritte« (disanzhe, xiaosan) (vgl. Krieg 2005) weibliche

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Attraktivität zum entscheidenden Werkzeug, um sich im »Kampf« (sic!) gegen die Konkurrenz zu behaupten: »Wenn Männer und Frauen zusammenleben, dann müssen sie ununterbrochen füreinander attraktiv und anziehend sein. Männer, indem sie der Frau zeigen, dass ihre berufliche Karriere immer weiter bergauf geht. Frauen, indem sie dem Mann zeigen, dass sie ihr Gesicht immer hübscher machen können.« (Yan 2012: 8f.)

Das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen und die Etablierung von pluralistischen Lebens- und Liebesmodellen führt zu einem erhöhten Krisenbewusstsein bei Frauen, da zwar auf der einen Seite gesellschaftlich immer noch der traditionelle Lebenslauf als Ehefrau und Mutter erwartet wird, dies jedoch auf der anderen Seite in Zeiten wechselhafter (und zunehmend promiskuitiver) Beziehungsmodelle, höherer Erwartungen an die Beziehung, steigender Unverbindlichkeit und pragmatischer Motive bei der Partnerwahl nur noch schwer kontinuierlich und in allen Punkten befriedigend zu verwirklichen ist. So vermittelt der Ratgebermarkt – welcher sich nicht nur auf die Printmedien beschränkt, sondern bis hin zu »Gute Ehefrau«-Seminaren und Kursen reicht – den Eindruck, dass chinesische Frauen sich in größter Sorge um das Finden und Festhalten eines »guten« Ehemannes befinden. Daher gilt es bei der Partnersuche und zum Erhalt und für die Stabilisierung der Ehe das eigene Körperkapital in Bestform zu bringen. Der Standard der Jugendlichkeit und Attraktivität wird, jeglicher zeitlicher Einflussfaktoren enthoben, als universelle Norm gesetzt, so dass auch an ältere Ehefrauen die gleichen Forderungen gestellt werden. Dies zeigt sich unter anderem in einer Beispielgeschichte aus einem der Ratgeber: Im Dialog zwischen einer Frau und ihrem Ehemann möchte der Mann die Frau dazu überreden, sich optisch durch neue Kleidung und einem Besuch bei Kosmetikerin und Friseur zu verbessern, damit er sie bei seinem Klassentreffen präsentieren könne. Als die Frau darauf empört reagiert, dass sie nur deshalb alt und hässlich sei, weil sie ihr Leben lang gearbeitet und sich für die Familie aufgeopfert habe, aber dies nun wohl nicht offen und ehrlich zeigen dürfe, entgegnet er nur, dass sie sich nicht beschweren solle, dass er dann »nicht höflich« (bu keqi) sei, wenn sie sich weigere sich zu verschönern (Yan 2012: 10). Dies ist wohl so zu verstehen, dass er dann durchaus geneigt ist, sich attraktiveren Frauen, die eben jene Schönheitspraktiken anwenden, zuzuwenden und hierfür die Schuld seiner Frau zuweist, da sie die der weiblichen Geschlechterrolle implizite Arbeit an sich verweigere und somit ihre Weiblichkeit negiere.

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Hier tritt also ein weiterer sozialer Aspekt des Schönheitshandelns deutlich hervor: der Mann betrachtet das Aussehen seiner Frau einzig unter dem Blickpunkt des sozialen Prestiges, da ihr Äußeres erst bei der Präsentation vor seinen ehemaligen Klassenkameraden und Freunden Relevanz gewinnt. Die Frau gibt ihrem Ehemann durch ihr Aussehen »Gesicht«, indem sie durch das Zurschaustellen ihres äußeren Körperkapitals darauf verweist, dass der Mann offensichtlich entsprechendes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital besitzen muss, um in der Transaktion der Geschlechter das Nutzungsrecht an einer attraktiven und somit wertvollen Frau zu erlangen und sich die aufwendigen und kostspielen Praktiken zur Herstellung und Bewahrung eines repräsentativen Aussehens wohl leisten könne. Durch die Zurschaustellung und Kontrolle von möglichst attraktiven Frauen im Sinne von »trophy wifes« wird die männliche Virilität, Maskulinität und Fähigkeit in allen Lebensbereichen unter Beweis gestellt. Diese Praxis der Objektivierung der Frau wird in den Ratgebern aufgegriffen – aber nicht etwa kritisiert, sondern instrumentalisiert: »Zu lernen, wie man dem Mann genügend ›Gesicht‹ gibt, ist eine unumgängliche Lektion für Frauen.« (Li 2011: 111) Deshalb werden als »Techniken der klugen Frau zu ihrem Glück« vor allem Schönheitshandlungen genannt: Frauen müssen immer ihre sexuelle Attraktivität bewahren und sich durch Technologien des Selbst kultivieren und ins beste Licht rücken. Dies trifft auch gerade auf verheiratete Frauen zu, die nach Heirat und Geburt oftmals nicht mehr auf ihr Aussehen achten. Doch Männer bevorzugten nun einmal nur attraktive und hübsche Frauen und würden an unattraktiven kein Interesse haben und sie verlassen: »Auch wenn hübsche Frauen totale Dummköpfe sind, werden sie von den Männern geliebt und verwöhnt. Das ist die Ungerechtigkeit des Schicksals. Sich darüber zu beschweren bringt nichts.« (Ebd.: 124) Hier wird deutlich, dass in China Schönheitshandeln vor allem als nutzenorientiertes Verhalten gesehen wird, dessen Zweck der Sicherung des etablierten sozialen Umfelds dient. Selbstbehauptungsversuche von Frauen, sich von diesem Korsett der doing-genderSchönheitspraktiken zu befreien, bezeichnen die Ratgeber als »Selbstbetrug« (zipian), der einzig und allein dazu führen würde, dass jene Frauen vom Ehemann verlassen und von der Gesellschaft geächtet würden und ihnen Karriere und Aufstieg versagt bleiben.

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Weibliche Attraktivität ist nicht nur im privaten Bereich von Relevanz, sondern auch essentiell für den beruflichen Werdegang. Dazu sei noch einmal der ein-

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gangs zitierten Beispielgeschichte der Studentin erinnert, die durch ihr perfektes Styling nach dem Studium einen begehrten Job ergatterte. Auch Zheng Tiantian bestätigt den hier deutlich gewordenen Trend, dass »beauty has become a job requirement for women. As a result, in 2003 a large number of female college graduates attached their half-naked, colorful portraits to their resumes and emphasized that they could sing and dance and that they were beautiful, decorous, gentle and good at socializing and drinking alcohol« (Zheng 2009: 21f.).

Tatsächlich präsentiert Yan Yin in ihrem Ratgeberbuch eine handfeste Tabelle über die Einkommensunterschiede zwischen sozial als attraktiv bewerteten und weniger attraktiv eingeschätzten Frauen und unterstreicht damit, dass es im Beruf für eine Frau unabdingbar sei, eine »Freude für die Augen der Kollegen und des Chefs« zu sein, denn nur wenn man den Anforderungen der Gesellschaft nach weiblicher Schönheit entspreche, könne man eine tatsächlich »starke Frau« (nü qiangzhe) werden (Yan 2012: 6). Damit zeigt sich, dass weibliche Attraktivität nicht nur Voraussetzung und Bedingung für beruflichen Erfolg ist, sondern auch das dauerhafte Bestehen in gehobener beruflicher (und damit sozialer) Position unabdingbar an körperliche Attraktivität gekoppelt ist, womit der Zwang zur Attraktivität auf einer höheren Ebene perpetuiert wird. In Zeiten der erdrückenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird das Aussehen immer mehr zum relevanten Soft skill und Karrierekriterium und gleichwertig mit anderen Hard skills und Qualifikationen wie Ausbildung und Bildungsabschlüsse, die zunehmend ihren Wert als Alleinstellungmerkmal verlieren. Denn staatliche Reformen in der Bildungspolitik seit den 2000er Jahren führten zu einer Kommodifizierung und Vermassung des Hochschulzuganges und daher zu einer Schwemme an Hochschulabsolventen. Dadurch stieg die Arbeitslosigkeit unter Universitätsgraduierten rapide von 0,34 Mio in 2001 auf 1,44 Mio in 2007 – dies bedeutet, dass ca. 30 Prozent der Absolventen und Absolventinnen keinen Job finden (Wen 2013: 84). Durch die Abwertung von Bildungskapital – bisher der Garant für ein ökonomisch abgesichertes Leben und aussichtsreiche Methode des sozialen Aufstiegs – werden andere Kapitale wichtiger. Während sich in den 90er und 2000er Jahren noch durch Zusatzqualifikationen wie einem MBA-Abschluss oder zusätzliche Fremdsprachenzertifikate ein Wettbewerbsvorteil versprochen wurde, ist das berufliche Wettrüsten qua Optimierungsstrategien nun beim Körper angelangt. Deswegen erfreuen sich Schönheitseingriffe besonders unter jungen Abiturientinnen und Studentinnen großer Beliebtheit – so sind in China ca. 70 Prozent aller Patientinnen von Schönheitsoperationen unter 25 Jahre alt. Die Eingriffe

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werden oftmals von den Eltern finanziert, die dies als Investition in die Zukunft ihrer Töchter sehen, die sich auszahlen wird: »If a creas in her eyelids could make her happier and more competitive, why not? […] It’s more brutal for girls [on the job market] as they have fewer opportunities than boys. Although I keep telling my daughter that the most important thing about a person is her good temperament and ability, I know that appearance is absolutely an important element in the keen job market today. If other parents already put investment into their daugther’s appearance, I need do something for my daughter as well. […] A pretty face is a worthwile long-term investment for my daughter’s future!« (Zit. nach ebd.: 77)

Und tatsächlich erleben Frauen beim Berufseinstieg immer öfter Diskriminierungen aufgrund von Aussehen. Eine Studentin fasst ihre desillusionierenden Erfahrungen zusammen: »I was naive to believe that if I study hard, I will get a good job […] But when we were about to graduate, pretty girls and boys could get employed more easily than me. […] To get an opportunity to show my ability, I first needed a pretty picture on my resume.« (Zit. nach ebd.: 79)

Und das hübsche Gesicht wird auch belohnt, wie die Aussage eines HRManagers beweist: »[I]f a pretty woman and a normal looking woman have similar qualifications, of course I chose the pretty one. […] But since they all have college degrees, why not the pretty ones?« (Zit. nach ebd.: 88) Da die physische Diskriminierung von Jobbewerbern in Einstellungsverfahren in China nicht gesetzlich verboten ist, sind Vorgaben zu bestimmten körperlichen Voraussetzungen, vor allem der Körpergröße und des Gewichts, in Stellenausschreibungen nicht selten. So machte in chinesischen Medien ein Fall Furore, wo eine städtische Verwaltung ihren zukünftigen weiblichen Angestellten nicht nur ein bestimmtes Körpermaß, sondern auch symmetrische Brüste abverlangte. Dies provozierte breite öffentliche Empörung, woraufhin sich die Behörde gezwungen sah diese Voraussetzung damit zu erklären, dass weibliche Angestellte meist im Publikumsverkehr tätig sind und daher ein gefälliges Äußeres aufweisen sollten. Wen Hua kritisiert diesen Vorfall als symptomatisch für die Etablierung einer gesamtgesellschaftlichen Körperfixiertheit in China: »Height and breasts have nothing to do with the job seeker’s ability to perform the task in question; however, when height counts and a pair of symmetrical breasts matter in the

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recruitment of government servants, the obsession with physical looks has been instutionalized.« (Ebd.: 92)

Sie erklärt die Bevorzugung von körperlicher Attraktivität vor beruflicher Leistung mit der Rekurrenz auf traditionelle Geschlechterrollen: Es war bis Anfang des 20. Jahrhunderts traditionell ausschließlich der Mann, der eine berufliche Karriere anstrebte, während Frauen dazu ermuntert wurden zurückgezogen im Heim ihre äußere und innere Schönheit zu pflegen. Daran erinnern die heute immer noch gebräuchlichen Redewendungen des »caizi meinü« oder »langcai nümao«, was beides auf die »ideale« Paarung eines talentierten Mannes mit einer schönen Frau anspielt. Somit ist ein attraktives Äußeres für Frauen die elementare Voraussetzung und alle anderen Leistungen und Qualifikationen müssen auf dieser aufbauen. Eine gute Illustration dafür liefert der in China äußerst populäre und einflussreiche Film Go Lala Go (Du Lala shengzhi ji, 2010), in dem die Protagonistin sich parallel zu ihrem beruflichen Erfolg auch äußerlich vom hässlichen Entlein in einen eleganten Schwan verwandelt, der der »Vogue« entsprungen sein könnte. Wie selbstverständlich wird in dem Film davon ausgegangen, dass beruflich erfolgreiche Frauen körperlich sehr attraktiv sein müssen. Dies ist nicht nur ein fiktional idealisierter Relationsbezug, wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass weibliche chinesische Führungskräfte neuerdings tatsächlich ihre Freizeit vor allem in Schönheitskliniken oder Beautysalons, beim Bodyshaping oder beim Shoppen verbringen, während ihre männlichen Kollegen sich auf dem Golfplatz oder beim Sport ein gesundes, kräftiges Aussehen holen – nicht selten kommt bei beiden Geschlechtern sogar der Gang zum Schönheitschirurgen wie selbstverständlich infrage, um auch optisch mit der Konkurrenz mithalten oder sie gar überflügeln zu können (Long/Jia/Huang 2004). Die physische Erscheinung wird zum essentiellen Teil der sozialen Statusrepräsentation wie eine erfolgreiche chinesische Managerin es formuliert: »A dowdy middle-aged woman is certainly not a proper presentation of my social status. It’s OK to be my age, but I need to be gorgeous!« (Zit. nach Wen 2013: 109) Damit wird deutlich, dass die Aufmerksamkeit, die auch im beruflichen Kontext auf die körperliche Attraktivität von Frauen gelegt wird, nicht nur die sichtbaren Zeichen immer noch wirksamer traditioneller Geschlechtermodelle ist, sondern auch ein deutlicher Hinweis auf die zunehmende Bedeutung des Aussehens als Verkörperung gesellschaftlich gratifizierter Werte auch in der Berufswelt und damit zugleich die Entstehung von Ungleichheiten aufgrund physischen Aussehens. Es findet nicht nur eine Inkorporierung von Attributen und Leistungszuschreibungen in der Arbeitswelt statt, die mit einer Entdifferenzierung

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von Kompetenz und Außenwirkung einhergeht, sondern auch eine Etablierung neuer »Körperklassen« als sichtbare Zeichen neuer sozialer Hierarchien (vgl. Posch 2009, Degele 2004). Die Businessfrau präsentiert im teuren Designerkostüm mit trendigem Haarschnitt und perfektem Make-up ihren Erfolg und Reichtum. Das kosmetikfreie, wettergegerbte Gesicht samt praktischem Pferdeschwanz und schlichter Kleidung einer Wanderarbeiterin lässt dagegen auf den ersten Blick auf einen Mangel an materiellen, aber auch sozialen Ressourcen schließen, ist doch der Körper »die unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks« (Bourdieu 1987: 307). Je bedeutsamer jedoch die äußere Erscheinung für die Zuordnung der sozialen Position und respektive auch für das Selbstwertempfinden wird, desto mehr fixiert sich das Auge auf äußerlich bemerk- und messbare Applikationen von Konsumgütern. Daher ist in den Ratgebern selbstredend die Sprache nur von exklusiven Designermarken wie Armani, Gucci, Chanel, Prada etc. als adäquate und einzige Lieferanten von Stil und Eleganz. Die Unabdingbarkeit von teuren Konsumgütern zur Schaffung von Weiblichkeit lässt einen Zusammenhang zwischen Schicht und Geschlecht in einem ganz neuen Lichte vermuten: In dem spezifischen Gender-Diskurs, wie er in den Ratgebern (und diversen anderen chinesischen Medien wie u.a. HochglanzFrauenzeitschriften) geführt wird, bedarf es der Zugehörigkeit zu einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht, um Weiblichkeit überhaupt erst inszenieren zu können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Frauen, die nicht dieser Schicht angehören, auch automatisch von diesen Konstruktionen von Weiblichkeit ausgeschlossen werden, ihnen also schlichtweg das »Frau-Sein« abgesprochen wird. Erst mit der Anhäufung von entsprechendem ökonomischen Kapital wird es möglich symbolisches Kapital zur Inszenierung von Weiblichkeit aufzubauen. Kurz: Frauen, denen die ökonomischen Voraussetzungen fehlen – sprich: die beruflich minder qualifiziert und nicht erfolgreich sind –, können nach dieser Logik nicht schön und attraktiv sein. Umgekehrt verlangt ein gehobener Status zwingend die Inszenierung einer explizit attraktiven Weiblichkeit: Schönheit und (beruflicher) Erfolg wird gleichgesetzt. Zur Illustration hierfür sei wiederum der Film Go Lala Go zitiert: Zu Beginn ist die Protagonistin nicht nur ein hässliches Entlein, sondern wird dazu auch relativ geschlechtsneutral dargestellt. Sie erregt in dieser Phase kein Interesse bei Männern. Erst mit dem Karriereaufstieg und dementsprechendem Anstieg finanzieller Kapazitäten verwandelt sich die Protagonistin durch eine filmisch auch deutlich sichtbar gemachte äußerliche Transformation mit Hilfe von teurer Mode, Kosmetikbehandlungen, Friseur und Styling in eine sexuell attraktive Frau und erst dann erhält sie männliche Aufmerksamkeit.

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S CHÖN = ( ERFOLG -) REICH ? S CHÖNHEITSHANDELN ZWISCHEN WEIBLICHER E RMÄCHTIGUNG UND N ORMATIVITÄTSZWANG Doch abgesehen von der zunehmenden Bedeutung von äußerlichen Merkmalen als Inkorporationen von sozial zugeschriebenen Charaktereigenschaften und ihrer Bewertung im Wirtschaftssystem, stellt sich auch die Frage, wie die Arbeit am Äußeren in Form von Schönheitshandeln aus Sicht der Geschlechterhierarchie zu sehen ist. Denn traditionell wird im klassischen Feminismus die Herstellung eines explizit den sozialen Determinanten von Weiblichkeit entsprechenden Erscheinungsbildes durch Doing-gender-Praktiken als symbolische Zeichen einer Internalisierung von patriarchalischen Machtstrukturen kritisiert. Andererseits erfolgte während der zweiten feministischen Bewegung ab den 1980er Jahren in Europa und den USA eine Re-Interpretation dieses Handlungsrepertoires von Frauen. Die zweite feministische Welle zeichnet sich durch eine Zunahme von explizit femininen Darstellungen in Kombination mit emanzipierten Verhaltensmustern aus, während im Gegensatz dazu die erste Welle für eine Abkehr von typisierten Weiblichkeitsrollen plädierte. Nun gelten Schönheitstechniken nicht mehr als patriarchalische Knebel, sondern als spezifisch weibliche Instrumente zur Machterlangung und -sicherung (Runte/Werth 2007), indem Frauen zu aktiven Akteuren in der Aushandlung von geschlechtlich bedingten Machtverhältnissen werden und ihre spezifisch weiblichen Vorzüge gezielt manipulativ einsetzen, um sich eine Vorrangstellung zu erarbeiten. Catherine Hakim bezeichnet körperliche Attraktivität sogar in Anlehnung an Bourdieu als »viertes Kapital«: Das erotische Kapital eines attraktiven Aussehens könne ebenso für ökonomischen und sozialen Erfolg eingesetzt werden wie Bildung oder andere Qualifikationen (Hakim 2011). Damit werden Frauen aus der Opferrolle in die der bewusst Handelnden gehoben, so dass »[t]he work of creating beauty – dieting, making up, sculpting hair – can be seen as the work of creating wealth and power, not as diversions from such pursuits« (Adrian 2003: 150). Nun stellt sich die Frage, ob das Schönheitshandeln in China, das – wie oben dargelegt – einen instrumentellen Charakter besitzt, auch als ein Prozess weiblicher Bevollmächtigung zu sehen ist. Tatsächlich scheint auch in China ein Bewusstsein für die spezifisch »weibliche« Macht, die sich aus der gezielten Manipulation der Geschlechterunterschiede ergibt, erwacht zu sein. Die Frauenratgeber bestätigen diesen Eindruck, indem sie gerade im Bezug auf das öffentliche Auftreten von Frauen und deren Karrierechancen stets die Wichtigkeit eines weiblichen Aussehens betonen und ein gepflegtes, feminines Äußeres zum Muss machen, denn »hübsch zurecht gemachte Frauen bekommen mehr Aufmerksam-

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keit, in der Arbeit mehr Anerkennung und sind beliebter bei allen« (Yan 2012: 26). Die Fokussierung auf das eigene Aussehen und Auftreten wird als notwendige und begrüßenswerte Weiterentwicklung der Gesellschaft dargestellt. Die Reetablierung eines explizit femininen Frauenbildes und zugleich auch eines bipolaren Geschlechterverhältnisses mit Betonung der Zweigeschlechtlichkeit wird als Zeichen der Emanzipation und des neuen Selbstwertgefühls der Frau gewertet, denn die neuerliche Fixierung auf inkorporierte distinktive Merkmale sei sozusagen der Endpunkt in den unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungsstufen und ihrer spezifischen mikrosozialen Auswirkungen seit der Reformzeit. So schreibt Zhang Ran, dass vor zwanzig Jahren Frauen lieber Kühlschränke und Fernseher für die Familie als Pflege- und Beautyprodukte für sich selbst kauften, um elementare Notwendigkeiten abzudecken. Mit der Zunahme an Konsummöglichkeiten und steigendem Lebensstandard erweiterte sich die Produktauswahl über die reine Notwendigkeit hinaus. Nun avancierten Dinge, die »andere sehen können« zu obersten Entscheidungskriterien des Konsums, wie beispielsweise Markenkleidung (Zhang 2013: 30f.). Erst im weiteren Stadium der fortgeschrittenen, postmodernen Konsumgesellschaft, wo die Grundsicherung gedeckt ist und sich ein gewisser materieller Standard flächendeckend durchgesetzt hat, wird wiederum nun vermehrt Aufmerksamkeit auf nicht direkt sichtbare Investitionen wie Pflege- und Kosmetikprodukte und Wellnessanwendungen gelegt. Doch trotz ihrer unmittelbaren Unsichtbarkeit beinhalten diese Investitionen nicht weniger sozialen Wert und dienen letztlich ebenfalls der gesellschaftlichen Statuszuordnung, indem die Unterscheidungen immer feiner und durch Sublimation in einer jeder Notwendigkeit enthobenen Form stilisiert werden (vgl. Bourdieu 1987). Sie avancieren zu Repräsentanten der eigenen sozialen Identität und wirken damit vor allem auf sozialer statt auf individueller Ebene. Dennoch beinhaltet das Schönheitshandeln in China starken instrumentellen Charakter, insbesondere wenn seine Wirkung auf direkte Vorteile im Berufsund Privatleben abzielt. Ein burschikoses, geschlechtsneutrales oder gar männliches Auftreten gilt als absoluter Karrierehemmer. Teilweise gehen die Ratgeber sogar soweit, ihren Leserinnen anzuraten, sich komplett nach den Vorlieben des Chefs zu stylen und selbst den Nagellack in Farben, die er bevorzugt, zu wählen (Yan 2012: 111). Auch Zheng Tiantian bestätigt aus ihren Untersuchungen zur Konstruktion von Weiblichkeit bei Hostessen, dass Frauen außer über ihr Geschlecht kaum Zugang zur Ökonomie haben: »Sexuality provided one of the few openings for women into the regular economy as sexual attractiveness came to be a vehicle for selling goods. Many jobs now require female applicants to meet

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a certain standard of sexual attractiveness.« (Zheng 2009: 21f.) Tatsächlich erwähnen auch einige der Ratgeber eben jene Berufe, wo Frauen als Objekte »verkauft« werden, wie etwa Models, Stewardessen und Empfangsdamen, als Beispiele für die Bedeutung von körperlichem Aussehen und Auftreten, weshalb »gewöhnliche Frauen gar nicht in diese hochbezahlten Branchen einsteigen« könnten (Bo 2012: 4). Die Instrumentalisierung von Schönheit als Kapital wird bereits in zahlreichen Formen des populären Diskurses aufgegriffen, am deutlichsten wohl symbolisiert im dichotomischen Narrativ des »dakuan« (Reichen) und seinem Pendant, der »meinü« (schönen Frau) (vgl. Farrer 2002). Als ein Beispiel soll an dieser Stelle Qui Huadongs Roman »Xin meiren« (2012) herausgegriffen werden, der von der Verbindung von Aussehen und persönlichem Nutzen handelt: seine Protagonistin ist eine der »neuen Schönheiten« (xin meiren), eine femme fatale, die sehr genau um die Wirkung ihrer penibel hergestellten und gepflegten Attraktivität weiß. Diese setzt sie gezielt auf erfolgreiche und finanziell potente amerikanische, europäische und japanische Geschäftsmänner an und benutzt ihr hübsches Gesicht und ihren verführerischen Körper, um sich ökonomische und soziale Vorteile zu verschaffen. Xin Yang fasst die Essenz der Geschichte folgendermaßen zusammen: »The term ›beauty‹ obviously suggests the role that a pretty face plays in a woman's social mobility.« (Yang 2011: 6) Es findet eine Inkorporierung von ökonomischen Voraussetzungen in den Körper statt, der auf der einen Seite zum wertvollen Kapital, auf der anderen Seite zugleich zum Repräsentanten der klugen Nutzung dieses Kapitals wird. Dies führt zu einer Kommodifizierung und Objektivierung des Körpers, der mehr als Sammlung von unterschiedlich vermarktbaren Einzelteilen gesehen wird denn als phänomenologischer Leib. So belegen beispielsweise chinesische Hostessen ihre einzelnen Körperteile mit unterschiedlichen Preisen je nach »Qualität« und Begehrtheit; diese Preise müssen von Kunden dann für das Anfassen der Körperteile bezahlt werden (Zheng 2009: 185). Durch diese Partikularisierung und Vermarktung des Körpers, die mit einer Ent-Leiblichung einhergeht, erhalten auch die diversen Schönheitshandlungen bis hin zur kosmetischen Chirurgie einen markanten Sinn. Die Optimierung der Produktionsmittel durch Investitionen gehört nämlich zu den völlig legitimen, ja sogar geforderten Handlungsweisen der Marktwirtschaft. Dies erzeugt auch eine veränderte Sichtweise der Frauen auf ihren eigenen Körper: Der männliche Blick wird nicht als bedrohlich, sondern aus einer pragmatisch-kalkulatorischen Distanz wahrgenommen und teilweise sogar adaptiert. Trotzdem bleibt eine Beurteilung der Fokussierung auf das äußere Erscheinungsbild chinesischer Frauen aus feministischer Perspektive zwiespältig. Zwar

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finden sich zahlreiche Belege, dass das Schönheitshandeln als Akt weiblicher Ermächtigung gesehen werden kann und dass durch die Ökonomisierung des Körpers traditionell ungleiche Geschlechterordnungen aufgebrochen werden, da der (weibliche) Körper nun nicht mehr symbolischer Gegenstand patriarchalischer Kontrolle und Unterdrückung ist, sondern ein freies Konsumgut, das den Marktbedingungen von Angebot und Nachfrage unterliegt. Nichtsdestotrotz darf diese Instrumentalisierung von Weiblichkeit als Mittel zur Erlangung von Macht und Erfolg nicht als durchweg positive Entwicklung oder gar ausschließlich emanzipatorische Geste und Postulat der geschlechtlichen Gleichberechtigung missverstanden werden. Auch wenn die Arbeit am eigenen Körper zur Betonung geschlechtstypischer Spezifika in China als aktive, instrumentelle Handlung weiblicher Akteurinnen angesehen werden kann, so trägt das Ergebnis letztlich wohl doch eher zu einer Verfestigung von patriarchalen Strukturen bei, indem diese nicht infrage gestellt und herausgefordert werden, um sozialstrukturelle Änderungen in Richtung Gleichberechtigung einzuschlagen; vielmehr wird die Auseinandersetzung damit und der Widerstand gegen patriarchalische Vormachtstellungen nur umgangen, indem Frauen neue Strategien der Anpassung an die bestehenden Ungleichheiten entwickeln. Als Beispiel kann ein Blick auf die so genannten »Schriftsteller-Schönheiten« (meinü zuojia) dienen, als deren Vorreiterin und Ikone Wei Hui 2000 mit ihrem Roman »Shanghai Baby« es zu internationaler Berühmtheit brachte. Mit der Etablierung des Genres des »body writing« in China rückte für sie nicht nur im literarischen Werk der Körper und seine Erfahrungen an eine prominente Position, sondern auch bei der Inszenierung der Autorinnen selbst steht dieser im Vordergrund. Wei Hui präsentiert sich stets perfekt gestylt und geschminkt im Stile der »asiatischen Schönheit« mit Qipao und in provokativ sexy Manier. Damit avancierte ihr Aussehen zu einem unabdingbaren Bestandteil ihrer öffentlichen und literarischen Identität. Die Fixierung auf körperliche Merkmale sorgte jedoch auch dafür, dass ihr literarisches Schaffen schnell in den Hintergrund geriet und das Stigma der Unseriösität erhielt, da Diskussionen nur noch auf der Ebene der Sexualität und Attraktivität stattfanden (vgl. Zhu 2007). Damit wiederholt sich an ihr das klassische Schema patriarchalischer Geschlechterungleichheit: durch die explizite Darstellung als (sexuell attraktive) Frau erfolgt sogleich eine Abwertung durch den Blick des sexuell dominanten Mannes, der dazu führt, dass auch alle anderen körperunabhängigen Leistungen der Frau diskriminiert und geringgeschätzt werden. Zwar vermag Wei Hui durch das kalkulatorische In-Szene-Setzen ihrer weiblichen Vorzüge ökonomisches Kapital zu generieren, jedoch bleibt ihr letztlich eine gleichberechtigte Stellung in der Geschlechterordnung versagt.

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Im Umkehrschluss steht bei in Männerdomänen erfolgreichen und anerkannten Businessfrauen wie Yang Lan, Deng Wendi, Li Ying, Zhang Xin, Shi Xiaoyan, Yu Yu, Shen Bing ihre Weiblichkeit nur an untergeordneter Stelle. Zwar achten alle genannten Frauen auch im Sinne des geltenden kulturellen Modells auf ein adrettes und einigermaßen ansprechendes äußeres Erscheinungsbild, es finden jedoch vor allem ihre Leistungen, objektiven Qualifikationen und Erfolge in der Geschäftswelt öffentliche Anerkennung – diese werden anstelle von körperlichen Attributen als Schönheit interpretiert und in den Vordergrund gestellt. Ihre Attraktivität ergibt sich aus ihrer Intelligenz, ihrer Fähigkeit, ihrem Unternehmergeist, ihrer Disziplin etc., aber nicht aus rein äußerlichen Dispositionen; so werden sie eher als geschlechtsneutrale Verkörperungen eines erfolgreichen Lebenslaufs, denn als Geschlechtswesen angesehen. Auffällig ist beispielsweise, dass alle einen praktischen Kurzhaarschnitt tragen und auf dezentes, natürlich wirkendes Make-up Wert legen. Zwar geben sie sich unmissverständlich als Frauen zu erkennen und pflegen die sozial vorgeschriebenen Doinggender-Praktiken (tragen z.B. Kostüm/Kleid und Highheels), doch werden sie generell nicht mit Attraktivität oder gar Sexyness assoziiert und höchstens als gute Ehefrauen und Mütter gelobt. Deshalb ist es unter Frauen, die eine Anerkennung ihrer professionellen Fähigkeiten anstreben, heute nahezu verpönt als »Schönheit« (meinü) tituliert zu werden (Yang 2011:10). Damit zeigt sich, dass es nicht einfach damit getan ist, weibliche Attraktivität exzessiv zu inszenieren, um die gewünschte Ermächtigung und berufliche und soziale Anerkennung zu erzielen, sondern dass chinesische Frauen gerade in der Berufswelt und öffentlichen Repräsentation bezüglich ihrer geschlechtlichen Außenkommunikation eine Gratwanderung zwischen Hyperfemininität und Vermännlichung beherrschen müssen.

»I NNERE S CHÖNHEIT « UND NATÜRLICHEN S CHÖNHEIT

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Die Konstruktion von Geschlecht erschöpft sich nicht nur in der Erschaffung eines körperlichen Idealbildes, sondern setzt sich auch in kognitiven Doinggender-Praktiken und internalisierten Verhaltensweisen fort. Somit ist Performing Gender noch längst nicht mit der Herstellung eines geschlechtseindeutigen äußeren Erscheinungsbildes abgeschlossen, sondern bedarf noch interaktiver Ergänzungen auf kognitiver Ebene – sowohl auf Seiten der Herstellung als auch der Wahrnehmung. Wenn Frauen (oder Männern) aufgrund von Geschlechtsstereotypen spezifische kognitive und/oder motorische Operationen und sprachliche

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Muster zugesprochen werden, so ist dies ebenso Teil des Doing genderProzesses wie die äußere Kenntlichmachung des Körpers und Signalisierung von Geschlecht durch Styling und Mode. Aber auch wenn Frauen sich selbst bestimmte Qualitäten und Charaktereigenschaften zu- oder absprechen, ist dies letztlich eine Folge der zweigeschlechtlichen Sozialisation. Daher sind Interaktions- und Kommunikationsmodi ein wichtiges Element gesellschaftlich wirksamer Konstruktion von Geschlecht. Dass Mimik, Gestik, Sprache und bestimmte Charakter- und Verhaltenseigenschaften offensichtlich etwas mit der Herstellung von Geschlecht zu tun haben, wird im chinesischen Diskurs der Ratgeber unmissverständlich deutlich: Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Performanz dieser (im Folgenden konkret aufgelisteten) spezifischen Praktiken und Interaktionsweisen alle dazu beitragen, der Performerin Weiblichkeit (nürenwei) zu verleihen. Die Herstellung von Weiblichkeit – und somit einer eindeutigen geschlechtlichen Botschaft – scheint oberste antizipierte Absicht und Handlungsmotiv der Akteurinnen zu sein. Doch diese anfängliche Eindeutigkeit wird schnell wieder verunklart, wenn man tiefer in den Diskurs eintaucht. Denn obwohl ganz offensichtlich das erklärte Ziel die Herstellung von Weiblichkeit ist, werden kognitive, sprachliche und motorische Doing-gender-Praktiken letztlich dem Postulat der »inneren Schönheit« anstelle der Zweigeschlechtlichkeit unterstellt. Die Rolle der inneren Schönheit (neizaimei) als gleichberechtigt wichtige Komponente neben der äußeren Schönheit bei der Erschaffung einer begehrten und beliebten Persönlichkeit erfährt in den Ratgebern eine exponierte Stellung. Diese Vereinnahmung enthält jedoch zwei Aporien: Einerseits wird so die Herstellung von Weiblichkeit, respektive Geschlecht unter dem Primat der Natur subsumiert, andererseits wird damit der Prozess der Herstellung von sozial konstruierter (Zwei-) Geschlechtlichkeit verschleiert. Denn es geht offenbar darum schön zu sein – und dies ist ja bekanntlich das natürliche Wesen jeder Frau. Die Äquivalenz von Weiblichkeit und Schönheit, welche bereits in punkto äußerer Schönheit diskutiert wurde, setzt sich also auch auf anderer Ebene fort und verleiht Doinggender-Praktiken damit einen Decknamen. Äußere und innere Schönheit werden als zwei Seiten einer Medaille – die der perfekten Frau – deklariert: es gilt weder die äußere, noch die innere Kultivierung zu vernachlässigen, denn nur jemand, der sowohl außen als auch innen schön sei, könne das erstrebenswerte Frauenbild verkörpern. Aussehen alleine sei nicht alles, denn wenn im Hirn Leere vorherrsche und das Benehmen nicht stimme, werde es selbst mit der schönsten Frau nach einer Weile langweilig (Zhang 2013: 112). Das Äußere sei nur die »Verpackung«, deshalb sei es wich-

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tig, die äußeren Vorzüge durch spezifische Qualitäten zu ergänzen: Dazu gehören die Herausbildung von Eleganz, Geschmack, Eloquenz, Wärme, Moralempfinden, Kultiviertheit und sozialer Intelligenz: »Das Gesicht, der Körper, die Sexyness, das Styling, die Kleidung sind nicht alles an Attraktivität einer Frau und schon gar nicht die dafür entscheidenden Faktoren. Sie werden im Laufe der Zeit vergehen und unwichtig werden. Die richtige Einstellung (qizhi), Talent (caihua), Klugheit (zhihui), Können (jineng) und ähnliche innere Schönheit jedoch können einem Menschen ewige Attraktivität verleihen.« (Li 2008: 74)

Diese Erweiterung des geforderten Anforderungsspektrums des Idealbildes auf eine mehrschichtige Ebene hat mit einem veränderten Verständnis von Identität und öffentlicher Identitätspräsentation zu tun. Wie Eva Illouz in ihrer Untersuchung über die Herausbildung einer emotionalen (Arbeits-)Kultur des »authentischen Ichs« im Kapitalismus gezeigt hat, kommt es zu einer zunehmenden Verwebung des Reichs der Gefühle und der Ökonomie: während die ökonomischen Beziehungen immer mehr durch Gefühle bestimmt sind, wird umgekehrt die Gefühlswelt zunehmend von ökonomischen Strategien geprägt (Illouz 2007). In ersterem Prozess spielt das »authentische Selbst« eine Schlüsselrolle in der sozialen Kommunikation individualisierter Gesellschaften. Waltraud Posch sieht das auch so: »Wenn Identität […] zum sozialökonomischen Prinzip wird, sind individuelle Wesenszüge und Eigenschaften sowie das authentische Selbst wichtiger als Leistung im Sinne einer Nutzbarmachung erworbener Fähigkeiten und Qualifikationen. Identität wird demnach zu einer Leistung – unter der Voraussetzung, dass es sich um optimal zusammengesetzte, optimal verkörperte und optimal vermarktete Identität handelt.« (Posch 2009: 40)

Die so entstehende Ökonomie der Identität findet insbesondere über die sozial wirksame Verkörperung von Wesenszügen und inneren Werten ihre Verkörperung und erschafft durch die Einbindung ehemals privater Bereiche wie Emotionalität und Authentizität in die öffentliche Repräsentation eine quasiauthentische soziale Identität – das öffentliche Selbst (vgl. Ilouz 2007 und Hochschild 2006). Eine häufige Darstellungsform dieser Integration der ursprünglich individuellen Identität in die öffentliche Selbstdarstellung und Wahrnehmung ist eben gerade die Zuschreibung von innerer Schönheit, welche meist auf eine harmonische Verkörperung von Identität und Emotionalität abzielt. Der Begriff umschreibt den positiven Eindruck, den ein Mensch auf andere macht und damit vermittelt, dass sein inneres Sein mit dem Bild, das nach außen vermittelt wird,

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deckungsgleich ist. (Selbst-)Zufriedenheit und Ausgeglichenheit mit sich selbst sowie das offene Zugehen auf andere und andere hervorragende soziale Kompetenzen kennzeichnen die innere Schönheit. Wenn die chinesischen Frauenratgeber in Bezug auf die Erschaffung einer inneren Schönheit darauf referieren, dass diese durch kultiviertes Verhalten, eine stabile Laune und Klugheit (zhihui) erzielt werden könne, dann steht hier vor allem die soziale Verwertbarkeit dieser Fähigkeiten im Vordergrund: »[S]ie benutzt ihre Körpersprache, um Dir mitzuteilen, dass sie eine trendige, angemessene, andere respektierende, sich selbst liebende und wertschätzende Weiße-Kragen-Frau ist. Ihr weiblicher Charme genauso wie ihre Fähigkeiten in der Erledigung von Angelegenheiten lassen die Menschen sie mit anderen Augen sehen.« (Zhang 2013: 114)

Die Darstellung von bestimmten Attributen und Eigenschaften in der sozialen Interaktion gehören zur Gesamtinszenierung von Persönlichkeit: sie erschaffen ein Image. Erving Goffman beschreibt das Image folgendermaßen: »Der Terminus Image kann als der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion. Image ist ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild - ein Bild, das die anderen übernehmen können.« (Goffman 1986: 10)

Er beschreibt es als eine Maske des Selbst, wo im optimalen Fall die drei Komponenten der Verhaltensstrategie, des Selbstbildes und der sozialen Reaktion konvergieren. Um das Image zu schaffen und zu wahren, muss eine Verhaltensstrategie konstant durchgeführt werden, um nicht »aus dem Bilde« zu fallen. Hierbei helfen Rituale bei der Aufrechterhaltung, »durch deren symbolische Komponente der Handelnde zeigt, wie achtenswert er ist oder für wie achtenswert er die anderen hält« (ebd.: 25). Die Erschaffung eines Bildes des Selbst dient somit nicht der Identifikation des »wahren« Selbst, sondern ist vor allem eine symbolische Vermittlung von sozialen Indices zur Vereinfachung des sozialen Miteinanders. Das Image ist damit eine Form der sozialen Disziplinierung, um gesellschaftlich relevanten Verhaltensweisen zu entsprechen. Die Identität des Image wird hier zum Image der Identität, die quasi auf eine (körperliche) Oberfläche situiert wird (Zirfas/Jörissen 2007: 117). In der Analyse der chinesischen Frauenratgeber wird der soziale Aspekt schnell deutlich: auch wenn die Bezeichnung »innere Schönheit« dem Namen nach auf individuelle Charaktereigenschaften zu verweisen scheint, handelt es

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sich dabei doch vielmehr um eine Internalisierung und Reproduktion von gesellschaftlich gratifizierten Werten, da die propagierten Qualitäten nur in einer sozialen Situation ihre Relevanz entfalten. So bebildern viele in diesem Zusammenhang zitierten Beispielgeschichten der Ratgeber solche Momente: Es geht meist darum, wie durch die herausragenden inneren Qualitäten der Protagonistinnen eine konfliktäre Situation mit dem Ehemann, den Schwiegereltern oder Arbeitskollegen gerettet oder verbessert werden kann, weil sich die Akteurinnen »richtig« und geschlechtskonform zu verhalten wissen. Sie haben sprichwörtlich sowohl sich selbst als auch dem Gegenüber das Gesicht gewahrt, indem sie intersubjektive Regeln und Symboliken eingehalten und zur Geltung gebracht haben. Die Intention der Arbeit am Selbst im Sinne einer kognitiven Selbstkultivierung ist also nur vordergründig eine individualistische Selbstverwirklichung, vielmehr geht es in der Konstruktion eines öffentlichen Ichs um die Erweiterung der Selbstrepräsentation durch die Gesamtkreation eines stimmigen »authentischen Lebens«. Der Wichtigkeit der äußerlichen und innerlichen bzw. kognitiven Übereinstimmung des Geschlechterbildes begegnete unter anderem auch Mayfair Yang bei ihren Interviews mit Frauen in Shanghai, die sie zu ihren Erfahrungen mit Doing-gender-Praktiken wie Schminken befragte. Eine der Interviewten betonte die Auswirkungen, die die Anwendung von Make-up auf ihr gesamtes Verhalten hatte: wenn sie nun äußerlich schon weiblich aussah, so sah sie sich auch bemüßigt ein weibliches Verhaltensrepertoire an den Tag zu legen (Yang 1999: 49). Um »Frau« zu sein bedarf es also nicht nur eines erkennbaren weiblichen Aussehens, auch gewisse Verhaltensweisen und Eigenschaften gehören unabdingbar dazu. Diese Attribute von Geschlechtlichkeit bedingen sich vor allem durch das richtige Auftreten (qichang), Stil und Eleganz (youya), Geschmack (pinwei) und Temperament (qizhi) als Synonyme für erstrebenswerte Weiblichkeit - »Qizhi ist die Seele der Frau« (Yang 2010: 18). Was jedoch diese konkret im Detail ausmacht, ist schwierig einzugrenzen und variiert nicht nur innerhalb des Ratgebergenres, sondern teilweise sogar innerhalb eines einzigen Textes. Zugleich macht die Verwendung eines eher indifferenten Vokabulars eine spezifische Zuordnung schwierig. So ist zumeist die Rede von »Temperament« oder »persönlichen Eigenschaften« (qizhi) oder »Einstellung« (qichang) und »Eleganz« (youya) als unbedingte Voraussetzungen, zugleich werden diese Begriffe aber untereinander variabel in Bezug gesetzt, wie z.B. qizhi als die Voraussetzung von Eleganz, Eleganz wiederum als ein Ausdruck von qizhi. Deshalb sollen die Begriffe im Folgenden als synonym betrachtet und eine allgemeine Annäherung an das den Ratgebern zugrunde liegenden Konzepts von innerer Schönheit jenseits von linguistischen Spitzfindigkeiten und definitorischen Wortklaubereien

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versucht werden, da der allgemeine Fokus der Analyse mehr auf den gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen liegt. Trotz teilweiser begrifflicher Verwirrung lässt sich sagen, dass qizhi als Lackmus-Test für Authentizität und wahrer innerer Qualität gilt, denn es sei das Ergebnis langjähriger Selbstkultivierung und könne nicht vorgespielt oder aufgesetzt werden wie beispielsweise materielle Attribute oder künstlich hergestellte äußere Schönheit. Obwohl also im Schönheitshandeln das artifizielle Nachhelfen nicht nur erlaubt ist, sondern regelrecht gefordert wird, relativiert das soziokulturelle Narrativ der inneren Schönheit qua qizhi die Herstellung einer als künstlich empfundenen Gesamtidentität, indem es eine Stimmigkeit von äußerer Repräsentation und innerer Selbstdarstellung verlangt. Somit muss körperliches Schönheitshandeln immer mit kognitiver Selbstkultivierung gekoppelt sein, um ein akzeptables Gesamtergebnis von Schönheit zu erzielen. Zusätzlich zu qizhi braucht die moderne urbane Frau laut Ratgebern zudem folgende Eigenschaften: Intelligenz (zhixing), Geschmack (pinwei), die spezifisch den Frauen eigene Emotionalität und Schönheit (shuyu nüxing de qinghuai de meili) und Flexibilität (tanxing) (Zhang 2013: 113). Außerdem verfüge sie über ein gesundes Körpergefühl, liebe das Leben, pflege breite Interessen, bewahre sich ihre kindliche Neugierde, habe immer die Nase am Trend, sei zudem verständnisvoll, charmant, zuverlässig, tolerant, sanft, kooperativ, selbstlos und großzügig. Ziel ist die Schaffung einer sozial verträglichen, aber individuellinteressant wirkenden Persönlichkeit, die daraufhin abzielt möglichst breites gesellschaftliches Interesse und Anerkennung zu erfahren: so sollen Frauen beispielsweise Hobbys wie Malen, Blumen züchten oder Reisen pflegen – nicht, etwa weil es ihnen persönlich Spaß mache, sondern um mit den daraus gewonnenen Eindrücken zu den Gesprächen mit Partnern, Freunden und Kollegen beitragen zu können und sich selbst als vielseitig interessierte Persönlichkeiten darzustellen. Denn ganz ohne Hobby sei man eine langweilige und farblose Person, habe nichts zu erzählen und wirke weder individuell noch originell und werde deshalb schnell vergessen. Doch gilt es dabei die Klischees der Zweigeschlechtlichkeit einzuhalten und nicht zu überschreiten oder herauszufordern, denn dies hätte zwar einen hohen Aufmerksamkeitswert, allerdings im negativen Sinne, da es die Vorstellungen der Zuhörer verwirre bzw. infrage stelle und somit letztlich dem eigenen öffentlichen Image nur Schaden zufüge. Deshalb werden manche Hobbys als angemessen für Frauen kategorisiert, während andere – insbesondere solche, die gemäß dem Geschlechterklischee Männern zugeschrieben werden wie Sport, Fußball, Alkohol trinken, rauchen, bergsteigen und sonstige raue, körperlich anstrengenden Aktivitäten – abgelehnt werden. Daran ist zu ersehen, dass es nicht um die Entdeckung und Kultivierung von individua-

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listischen Vorlieben geht, sondern um sozial gratifizierte Handlungen, die nur dazu dienen, der eigenen sozialen Identität weitere schillernde Facetten hinzuzufügen, die in der sozialen Kommunikation gewinnbringend ausgeschlachtet werden können. Dementsprechend ist trotz der Betonung des Stellenwertes von Weiterbildung und Horizonterweiterung intellektuelle Bildung und reflexives Denken eher von untergeordneter Bedeutung. Denn Frauen fehle es aufgrund ihres Geschlechts im Gegensatz zu Männern sowieso meist an intellektueller Denkfähigkeit (da qingxing), stattdessen seien sie eher schlau in kleinen Dingen und alltäglichen Angelegenheiten (xiao congming) (Li 2008: 1). Deswegen sei es für Frauen angemessen, einige lustige Anekdoten beizutragen, aber es entspreche nicht ihrem Geschlechtscharakter etwas grundsätzlich infrage zu stellen. Zwar wird die Steigerung der Allgemeinbildung durch das Lesen von Büchern und die Erweiterung des Horizonts durch kulturelle Aktivitäten oder Reisen befürwortet, doch die geforderten Fähigkeiten und Qualitäten der Frau, die sie explizit »weiblich« machen, beziehen sich nicht auf eine generelle geistige Weiterbildung, sondern auf eine Optimierung bestimmter geschlechtsspezifischer Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um soziale (Überlebens-)Fähigkeiten zu steigern oder, salopp gesagt, zu lernen wie und mit welchen Methoden man am einfachsten und glücklichsten durchs Leben kommt und den alltäglichen Anforderungen erfolgreich begegnet. So pragmatisch verhält es sich auch mit den Motiven für die Kultivierung »innerer Qualitäten« zur Vervollkommnung des sozialen Images. Ihre Funktion wird oftmals äußerst banal erklärt: Wer nicht von Natur aus mit attraktiven körperlichen Attributen gesegnet sei, der müsse zumindest seine innere Schönheit vervollkommnen, um überhaupt eine Chance zu haben im sozialen Umfeld und auf dem Heiratsmarkt erfolgreich zu bestehen. Selbst jene Frauen, die durch ihr Aussehen bereits Pluspunkte erzielten, könnten diese Wirkung durch Kultivierung von zusätzlichen Eigenschaften noch steigern und Vorteile gegenüber der Konkurrenz erarbeiten: Man solle »schlauer sein als die hübschen Frauen und hübscher sein als die schlauen Frauen« (Xi 2011: 49). Die geistige Selbstkultivierung ist also ebenso wie das Schönheitshandeln eine weitere instrumentelle Komponente der Arbeit am Selbst zur Optimierung und Steigerung der Chance. Optimale bzw. optimierte Identitäten avancieren in dem Maße zum Lebens- und Aufstiegsprinzip von Gesellschaft, wie andere strukturierende Anhaltspunkte an Bedeutung verlieren. Zugleich wird die Kultivierung von mehreren positiven Faktoren als eine zusätzliche Handlungskomponente zur Stabilisierung von Partnerschaft und Ehe beschrieben. Mehrere Fallbeispiele handeln davon, wie Männer ihre attraktiven Frauen dennoch verlassen,

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weil diese im Zusammenleben schwierig sind, da ihnen die entsprechenden weiblichen Eigenschaften wie Wärme, Verständnis, Toleranz und Großzügigkeit fehlen. Dadurch wird deutlich, dass gutes Aussehen alleine noch kein Garant für eine dauerhafte Ehe ist: »Im praktischen Leben beachtet die Mehrheit [der Frauen] nur ihr Aussehen und Styling, aber achtet nicht darauf, ob ihr Temperament (qizhi) anderen ein freudiges Gefühl beschert.« (Zhang 2013:112) Zugleich ist die Kultivierung von sozial verträglichen Eigenschaften und einer positiven öffentlichen Selbstdarstellung ein Mittel gegen die Angst vor der Vergänglichkeit körperlicher Attraktivität im Alter, die in China viele Frauen verunsichert und quält2: »Das richtige Temperament (qizhi) ist eine Kleidung, die niemals alt und hässlich werden wird. Sie lässt Frauen ewig modern, hübsch, sanftmütig und romantisch erscheinen. Diese Art resultiert aus Wissen, Arbeit, Gutmütigkeit, Selbstvertrauen. Sie wird nicht mit der Zeit vergehen, sondern stellt eine Schönheit dar, deren Glanz nicht geringer wird.« (Ebd.: 191)

So erweitern diese inneren Konvergenzen von äußerlicher Schönheit und Weiblichkeit den Kanon der Doing-gender-Praktiken über die äußerlichen geschlechtskonstruierenden Handlungen am Körper hinaus auf die Ebene von Denk- und Verhaltensweisen, um die schöne äußere Hülle mit entsprechendem Inhalt zu füllen: »Frauen sollten von Natur aus Femininität (nürenwei) besitzen. Ein wichtiges Attribut von Weiblichkeit ist nicht ein ›Mannweib‹ (nanrenpo) zu sein und nicht eine starke Frau zu sein, sondern eine Frau mit charmantem Auftreten (meili qichang).« (Zhang 2013: 10) Das Idealbild der Frau in China wird also erst durch eine mit dem Aussehen entsprechend korrelierende weibliche Wesenhaftigkeit komplettiert. Daher widmen sich die chinesischen Frauenratgeber ebenfalls der detaillierten Darstellung und Ausführung von als wünschenswert und für ein erfolgreiches Leben als unbedingt notwendig erachteten Verhal-

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In China ist der Ausdruck »chi qingchun fan« (Frühlingsreis essend) populär. Er zielt darauf ab, dass Frauen die Blüte und Schönheit der Jugend ausnutzen müssen, um den passenden Ehemann zu finden und versorgt zu sein, da mit zunehmendem Alter – ab ca. 30 Jahren – ihre körperliche Anziehungskraft auf das männliche Geschlecht rapide abnehme. Im öffentlichen Diskurs in den Medien wie auch in Umfragen und sozialwissenschaftlichen Studien zum Thema Partnerwahl wird das Klischee bestätigt, dass Männer sich nur zu jungen, attraktiven Frauen hingezogen fühlen und ältere Frauen somit quasi zu asexuellen Wesen werden.

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tensweisen und Charaktereigenschaften, angefangen bei als feminin charakterisierter Mimik und Gestik bis hin zu moralischen Werten, die jede Frau verfechten sollte. Neben dem richtigen Styling und Körperpflege muss der Körper ebenfalls im sozialen Raum richtig positioniert werden und agieren können. Das richtige Auftreten (qichang) wird als eine Art innere Anziehungskraft beschrieben, die die eigene Gesamterscheinung genauso bedinge wie das Aussehen, indem sie dieses mit der Repräsentation von inneren Qualitäten bzw. symbolhaften Zuschreibungen bestimmter charakterlicher Attribute in Körper und Ausdruck ergänze. Dementsprechend wird neben der Perfektion des äußeren Erscheinungsbildes ebenfalls viel Wert auf die Perfektion der Performanz in Form von Mimik, Gestik und interaktivem kommunikativen Verhalten im sozialen Raum gelegt. Denn der erste Auftritt öffne im wahrsten Sinne des Wortes alle Türen, wer mit der entsprechenden Attitüde daherkäme, dem lägen alle zu Füßen, noch bevor er ein Wort sage (Yan 2012: 2). Es geht dabei um die Konstruktion des »gewissen Etwas«, welches einerseits als bewundernswert natürliche Gabe mystifiziert, andererseits aber zugleich als Ergebnis eines Selbstformungsprozesses propagiert wird. Temperament (qizhi) sei somit die wahre Schönheit und lasse sich nicht künstlich herstellen, sondern sei der natürliche (ziran) Ausdruck eines außergewöhnlichen, frischen, großzügigen, sanften, tugendhaften, klugen und fähigen Charakters. Hierfür müssten Frauen Persönlichkeit (renge), Kultur (wenhua), Kultiviertheit (xiuyang), Geschmack (pinwei) und ein ausgeglichenes Gemüt (meihao qingqu) besitzen (Yan 2012: 81). Doch auch wenn diese Attitüde als etwas natürliches beschrieben wird – insbesondere in den erwähnten Fallbeispielen ist den zitierten Frauen sozusagen von Natur aus ein gewinnendes Auftreten eigen – und Künstlichkeit explizit abgelehnt, ja geradezu als das Gegenteil des wünschenswerten Effekts beschrieben wird, muss diese Eigenschaft paradoxerweise dennoch erst in einem Prozess der Selbstkontrolle und -regulierung erarbeitet werden. Dahingehend gleichen die chinesischen Frauenratgeber den europäischen Benimm-Büchern des 19. Jahrhunderts, denn diese sahen die Adaption und Internalisierung eines streng reglementierten Verhaltenskodexes ebenfalls als Mittel und Hilfestellung zur Internalisierung eines tugendhaften Moralempfindens an. Über den Umweg der äußeren Kontrolle von Verhalten sollte eine Rückkopplung auf die innere Einstellung stattfinden und positive Rückwirkungen auslösen. Diese Naturierung der normativen Verhaltensregeln sollte mit der Transformation von Fremd- in freiwillige Selbstkontrolle korrelieren. Die chinesischen Frauenratgeber verweisen deutlich auf diesen Prozess der Internalisierung, wenn etwa empfohlen wird, das eigene Auftreten und Verhalten auf Band

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aufzuzeichnen, dann auszuwerten und schließlich zu analysieren, wo es korrigiert werden müsse. Diese Schwachstellen sollen dann aktiv und bewusst bearbeitet bzw. ihnen gegen-gearbeitet werden, um das Verhalten zu korrigieren und dem erwünschten Ideal anzupassen, und zwar solange bis die korrigierten Verhaltensmodi bereits zur unbewusst ablaufenden Routine internalisiert worden seien (Bo 2012: 24).

K LEIDUNG UND M ODE

ALS

M ITTEL SOZIALER D ISTINKTION

Anders als Frauenzeitschriften verwenden die Ratgeberbücher nur geringen Raum darauf, detaillierte Mode- und Bekleidungsempfehlungen auszusprechen. Dies kommt meist nur als eine Teilkomponente eines größeren Zusammenhangs der Schaffung eines eleganten und stilvollen Images zur Sprache. Anstatt die neuesten Modetrends vorzustellen, werden allgemeine Ratschläge zu gesellschaftlich akzeptabler Bekleidung gegeben. Hinweise darauf, wie sich die modische Erscheinung der potentiellen Rezipientinnen idealerweise gestalten soll, finden sich oft nur in den zitierten Fallgeschichten: »Es gab eine Frau [...], sie war sehr groß und schlank, kleidete sich schlicht und sauber, behielt dabei jedoch ganz beiläufig modische Individualität. Sie trug sehr wenig Make-up auf, bevorzugte eher einen natürlichen Look. Ihr Heim richtete sie sehr locker, unkompliziert und gemütlich ein. Sie mochte lesen und schreiben und wenn sie nichts zu tun hatte, dann malte sie. Sie mochte auch Musik, nicht unbedingt die Werke der Hochkultur, sondern auch ganz normale Gassenhauer, sie hörte sie je nach Lust und Laune. Sie ging auch gerne zum Shopping und wenn sie davon müde war, dann setzte sie sich in ein Cafe. Manchmal sah sie sich auch alleine einen Kinofilm an. In der Arbeit war sie fleißig und gewissenhaft und hatte eigene Ideen. Neben der Arbeit traf sie sich gerne mit Freunden und nahm an allen möglichen außerhäuslichen Aktivitäten teil. Solch ein Leben zählt nicht zu den wohlsituierten, aber es ist sehr natürlich und ungezwungen (xiaosa) und zufriedenstellend (qieyi). Sie wurde von vielen Leuten beneidet und gelobt und als hübsch, liebenswert, aufgeschlossen und mit guter Figur und Laune eingeschätzt.« (Zhang 2013: 20f.) »Eine perfekt geschminkte, von oben bis unten in Chanel gekleidete Frau braucht nicht von Natur aus hübsch zu sein, aber sie kann auch erstaunlich beeindruckende Effekte erzielen.« (Yan 2012: 52)

Die modische Wahl hängt dabei offenbar stark mit dem generellen Konsumstil zusammen, der spezifische schlicht-elegante Stil wird auch in allen anderen

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Lebensbereichen wie im Wohnen oder in der Freizeitgestaltung reflektiert. Wichtige Charakteristika davon sind vor allem die zitierte Ungezwungenheit, eine gewollt beiläufige Lässigkeit sowie eine gewisse individuelle Selbstzufriedenheit, die durch die entsprechende Produktwahl nach außen ausgestrahlt und kommuniziert werden soll. Auch im Bereich Bekleidung wird von opulenten und überladenen Stylings abgeraten, stattdessen wird schlichte, einfach strukturierte Kleidung mit klaren Schnitten und Farben bevorzugt, welche das Gefühl von Frische, geistiger Klarheit, Reinheit und Unkompliziertheit vermitteln solle. Diese müsse jedoch von ausnehmend guter Qualität sein (vorzugweise von namhaften Designermarken), um den Wert der Trägerin symbolisch widerzuspiegeln. Deshalb werden auch natürliche Materialen wie Seide, Baumwolle und Leinen vor synthetischen Produkten bevorzugt. Im Anschluss an die im Kapitel zuvor diskutierten Bedeutung von Chinas neuer Mittelschicht als Hoffnungsträger der chinesischen Konsumwirtschaft und von materiellen Konsummöglichkeiten als Mittel der Identitätskonstruktion und sozialer Distinktion, erscheint dieses Plädoyer für eine vestimentäre Reduktion zur Schlichtheit und Zurückhaltung einigermaßen überraschend. Doch diese Betonung des Ungekünstelten als neue Form von Eleganz ist keineswegs jenseits der Rahmungen des bisher entwickelten Konzepts der neuen Mittelschicht angesiedelt, stellt sie doch eine sichtbare Distinktion zu anderen sozialen Schichten dar. So sind beispielsweise die so genannten Neureichen (xinfu oder baofu) dafür berühmt-berüchtigt, ihren Wohlstand durch die Überhäufung mit teuren Markenkonsumprodukten zur Schau zu stellen. Sie werden persifliert als aufgetakelte Gucci-Handtaschenträgerinnen im wilden Stilmix – Hauptsache teure Marken –, von deren Gürteln und Schuhsohlen sogar goldene Markenlogos entgegen leuchten. Auch die Vertreterinnen der Unterschicht versuchen dem modisch letzten Schrei in einer Art Ultrafashion nachzueifern, um ihre ländliche Herkunft zu kaschieren. Für sie ist Mode und deren Konsum eine wichtige Komponente der Identitätsrepräsentation, sie tragen ihre Konsumkraft im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib mit dem Ziel, eine urbane Identität zu schaffen und sich gegen die Stigmatisierung als »tuqi« (bäuerlich) zu wehren (Zheng 2009: 174). Dabei nimmt Kleidung als sichtbare Widerspiegelung aktueller ökonomischer Kapazitäten einen immer größeren Stellenwert ein, je unabhängiger Schichtzugehörigkeit von der regionalen Herkunft und sozialen Mobilität wird: »If the contrast between the bodily appearance of rural and urban youth has grown smaller, and in this case, it definitely has, clothing has replaced dark and coarse skin as the primary signs of rural origin.« (Ebd.: 197) So kennzeichnet gerade die exzessiven modischen Inszenierungen wiederum gerade das, was sie eigentlich verstecken sollen. Denn was sowohl den Neureichen als auch den

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Land-Migrantinnen in ihrem Streben nach der Inkorporierung von Urbanität und Modernität fehlt, ist der spezifische »Geschmack« und damit das Wissen um die richtige, stilvolle Inszenierung: »In dieser materialistischen Welt voller Verführungen jagen Frauen zu viel falscher Eitelkeit nach: Gold und Schmuck, teure Markenkleidung, teure Kosmetik... Überall sieht man trendige Frauen ins Auge stechen, sie sind jung, hübsch, sexy, außergewöhnlich. Diese Bewunderung gibt den leicht zu befriedigenden Frauen ihre größte Ermunterung. Sie strengen sich an, noch jünger auszusehen, die Figur noch attraktiver zu trimmen, sich noch eleganter zu bewegen. Aber in diesem Streben verlieren sie den Geschmack (pinwei) und auch ihr Selbst (ziwo).« (Zhang 2013: 19f.)

»Geschmack« wird zum Distinktionsmerkmal der neuen Mittelschicht, welche sich von den »grellen« und »unkultivierten« Erscheinungen niedriger und höherer Schichten absetzen möchte. Besonderer Wert wird dabei auf die Abgrenzung zu Neureichen gelegt, welche über die gleichen ökonomische Ressourcen wie die gehobene Mittelschicht verfügen und dadurch potentiell das gleiche Designerkleid erwerben und tragen könnten und somit die Abgrenzungsbestrebungen gefährden. Ähnlich wie das Bürgertum des Biedermeier in Europa sich mit puritanischem Lebensstil von den Ausschweifungen des Adels und der üppigen Dekore der vorangegangenen Phase des Historismus und der Gründerzeit abzugrenzen versuchte, verlagert auch die neue Mittelschicht ihren Fokus auf stilvolle Gemütlichkeit als Ausdruck von Privatheit und Lässigkeit. Dieser Stil impliziert nicht nur materiellen Wohlstand, sondern zugleich eben darüber hinaus auch den Zugriff auf einen spezifischen Wissensfundus und die bewusste Wahl einer sich abgrenzenden Lebenseinstellung. Gerade Eleganz avanciert zum schichtbildenden und -abhängigen Faktor, denn sie setzt nicht nur gewisse ökonomische Möglichkeiten voraus, sondern vor allem auch das Wissen um die Akquise von symbolischen Gütern und die Aneignung eines spezifischen Habitus. Somit ist Eleganz sozusagen eine intersubjektive Veredelung objektiv gegebener ästhetischer Schönheit, indem sie diese um Fähigkeiten und »Wissen« (zhihui) ergänzt und damit erst zur Geltung bringt. Ohne Geld könne zwar auch keine Eleganz geschaffen werden, aber finanzielle Möglichkeiten alleine garantieren wiederum auch noch längst keine Eleganz und Stil. Oftmals wird in den Ratgeberbüchern sogar deutlich angesprochen, dass wahre »Klasse« (sic!) nicht von der Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen abhängig sei, sondern vielmehr durch Benehmen, Bildung und Niveau erschaffen werde (Yan 2012: 10). Daher setzten die White-Collar-Frauen der gehobenen Mittelschicht zu Distinktionszwecken auf modisches Understatement. In Ratgebern wird schlichte

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Kleidung in klaren Farben empfohlen und oftmals auf westliche Stilikonen wie beispielsweise Audrey Hepurn und ihr »kleines Schwarzes« im Film »Frühstück bei Tiffany« (USA, 1961) verwiesen. Hierbei geht es zwar einerseits auch um die Repräsentation von ökonomischen Ressourcen – denn es ist ja nicht irgendein beliebiges Kleid, sondern das eines namhaften Designers – , jedoch auf eine so dezente Art und Weise, dass spezifische Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata vorhanden sein müssen, um diese vestimentäre Kommunikation der Sublimation auch zu verstehen. Gerade in der Reduzierung und Verfeinerung symbolischer Güter wird ein Distinktionszeichen gesetzt, was auch Bourdieu mit der Setzung des Primats der Form gegenüber der Funktion und der Modalitäten gegenüber der Substanz als Zeichen von gehobenem – sprich: gutbürgerlichem – Geschmack charakterisiert (Bourdieu 1987: 25). Zugleich stellt die Reduktion auf eine minimalistische Repräsentation auch gewissermaßen eine Reduktion von Komplexität dar, denn die Vielfalt der Konsumkultur stellt das Individuum zunehmend vor Herausforderungen. Mit der Pluralisierung der Entscheidungsmöglichkeiten wird das Treffen von (Konsum-) Entscheidungen immer schwieriger. Letztlich kommt man aber nicht umhin, etwas aus dem unendlichen Pool von Optionen auszuwählen, was aber auch zugleich bedeutet auf etwas anderes zu verzichten. Doch dies widerspricht dem Zwang zum Konsum als Grundeigenschaft der Identitätskonstruktion in der Konsumgesellschaft und versinnbildlicht das Dilemma zwischen Konsumoption und notwendigem Verzicht. Indem zum freiwilligen Verzicht aufgerufen wird, um den Fokus nur auf einige wenige, markante, modische Aushängeschilder zu legen, wird dieses Dilemma umgangen, zugleich werden auch Legitimationen für einen im Vergleich zu Mitgliedern der Neureichen geringeren Konsum geschaffen und damit gleichzeitig eventuelle finanzielle Nachteile der Mittelschicht kaschiert. Denn anders als die Neureichen, die keinerlei finanzielle Einschränkungen hinzunehmen haben, müssen die Mitglieder der Mittelschicht angesichts zahlreicher finanzieller Verpflichtungen vom Immobiliendarlehen bis zur Schulausbildung der Kinder gewissenhaft mit ihren Einnahmen haushalten. Mit dem erklärten Verzicht auf ausschweifenden Konsum und die Betonung der Bedeutung des subjektiven Werts einzelner Stücke wird die Not zur Tugend erhoben und so gleichzeitig als weiteres Abgrenzungsmerkmal promoviert. Auch bei der Herstellung von Geschlecht spielt Kleidung eine große Rolle. Sie soll die Geschlechtszugehörigkeit des Trägers eindeutig hervorkehren. Von allzu großer vestimentärer Eindeutigkeit wird allerdings abgeraten. Unter der eher konservativen chinesischen Einstellung, dass Mode mehr verhüllen denn enthüllen solle, bleibt die Konstruktion von Weiblichkeit auf Details beschränkt, wie beispielsweise Absatzschuhe, moderat körperbetonte Kleidung und dezente

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Enthüllung von Armen und Beinen (Li 2008: 99; Zhang 2013: 128). Anders als im Bereich des körperbasierten Schönheitshandeln wird hier nicht auf eine hyperfeminine Mode abgezielt, sondern es halten sich hier noch – gerade in der Jugendmode – androgyne Tendenzen. Die oftmals relativ geschlechtsneutral eingestuften Kleidungsstücke wie beispielsweise T-Shirt, Jeans oder weißes Hemd erhalten erst im Prozess des Sampling durch die körperliche Gesamtinszenierung der Trägerin ihre geschlechtliche Aufladung, z.B. indem eine eindeutig weiblich geschminkte und gestylte Frau ein schlichtes, weißes Hemd trägt oder die Jeans mit Highheels kombiniert. Im modischen Bereich wird eine allzu aggressive Darstellung von Geschlecht sogar verurteilt, denn Sexyness komme von innen durch das richtige Temperament und nicht durch billige äußere Reizauslöser (Yang 2010: 67ff., Zhang 2013: 128). So wird explizit eine Abgrenzung gegen gängige Modetrends wie Miniröcke und bauchfreie Oberteile vorgenommen. Diese gelten zwar seit Mitte der 1990er Jahre als hip und modern, jedoch wird den Leserinnen empfohlen, von solchen Modewellen Abstand zu nehmen. Denn auch wenn Männer gerne auf leicht bekleidete Frauen schauten, so sei dieser Blick doch nur von niederen Gelüsten geleitet und zolle der Frau an sich keinen Respekt. Diesen reservierten sie für Frauen, die elegant und klassisch gekleidet seien – wie vorzugsweise auch die eigene Ehefrau (Xi 2011: 119). Deshalb sollen Frauen in Punkto Kleidung immer das »richtiges Maß« wahren und auf den dadurch kreierten Ruf und Ansehen achten – nackte Schultern, Füße und Beine gelten dabei als das Höchstmaß an Freizügigkeit (Yang 2010: 69f.). Insbesondere als Office Lady muss auf eine seriöse und konservative Erscheinung geachtet werden, so dass nicht der Eindruck entsteht, man sei niveau- und geschmacklos (ebd.: 122). So wird zu diesen Anlässen einhellig das Tragen von »Arbeitskleidung« (gongzuo fu) – sprich: eines Kostüms oder Hosenanzugs – empfohlen. Das adrette, korrekte Äußere demonstriert eine wichtige Beziehung zur Arbeit: den räumlichen und sozialen Abstand zur Welt der maschinellen Produktion oder sonstiger laxer Berufe, wo ein legeres äußeres Erscheinungsbild geduldet ist (Kradritzke 2004: 102). Von allzu individualistischen Modeexperimenten wird sowohl im beruflichen Einsatz wie auch im privaten Gebrauch abgeraten. Anders als im Westen, wo Uniformität mit dem Stigma der Langweile, Faulheit und Einfalt belegt ist, scheint sie in China nicht dermaßen negativ konnotiert, sondern als Ausdruck von Standardisierung geradezu empfehlenswert: wer sich im Mittelmaß einrichtet, der kann mit sozialer Akzeptanz rechnen – zumindest von der sozialen Gruppe, deren Anforderungen man gerade erfüllt. Mit der Stilisierung von Mode zum sozialen Statusausdruck und Mittel der Distinktion rückt der ihr inhärente, individualistische Aspekt in den Hintergrund. Zwar ist in den

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Ratgebern die Rede davon, man solle Individualität (gexing) zeigen, doch beweist sich diese beispielsweise durch das dezente Aufpeppen eines schlichten Outfits mit modischen Accessoires wie Ketten, Tüchern oder Taschen. Insofern wird individuelles Styling als Mut zur Ablehnung blinder Markenwut verstanden. Man solle lieber etwas tragen, das dem eigenen Typ schmeichle, statt blindwütig den neuesten Trends zu folgen oder etwas nur zu kaufen, weil es ein teures Produkt einer renommierten Marke sei.

»S ANFT WIE W ASSER , HART WIE S TAHL «: K ONSTRUKTIONEN DICHOTOMER G ESCHLECHTERBILDER Die in den Ratgebern am häufigsten genannte weibliche Eigenschaft ist Sanftmütigkeit als unabdingbare natürliche weibliche Wesensart: »Als Frau kannst Du ungezwungen, klug, fähig, geistig wendig, ein Organisationstalent oder eine Karrierefrau sein, aber eines darf nicht fehlen: Du musst sanft (wenrou) sein. Sanftheit ist das wichtigste Element weiblicher Kultiviertheit und das Werkzeug für das Glück der Frau.« (Li 2008: 114)

Dabei wird das sanfte Wesen der Frau als biologisch bedingtes Pendant zur männlichen Stärke konstruiert: »Gott hat den Männern Stärke und Kraft gegeben und den Frauen die Schönheit der Sanftheit.« (Zhang 2013: 15) Damit wird jedoch nicht auf tatsächlich biologische Fakten, denn auf Überlieferungen der traditionellen chinesischen Mythologie und Metaphysik wie der Yin-YangDichotomie rekurriert, welche im Symbol des yang dem männlichen Wesen und im Symbol des yin dem weiblichen Wesen jeweils binäre geschlechtstypische Charakteristika zuspricht. Klassischerweise wird so das Männliche mit Kraft, Stärke, Energie, Leben und Härte assoziiert, während das Weibliche als weich, nachgiebig, passiv und als Sinnbild des Todes beschrieben wird. In der Erweiterung dieser Yin-Yang-Zuschreibungen werden Frauen oftmals mit dem »sanften« Element Wasser verglichen, das an und für sich formlos ist und in der direkten Konfrontation keinen Widerstand leistet, jedoch eine verborgene Stärke in seiner Kontinuität und Menge besitzt: »Männer sind Berge, Frauen sind wie Wasser. […] Männer sind das Symbol für Stärke und Wissen, Frauen sind die Quelle von Wärme (wenxu) und Sanftheit (rouqing). […] Der Berg liebt das Wasser, das Wasser schaut zum Berg auf, der Berg behütet das Wasser, das Wasser umfließt den Berg.« (Ya 2012: 1)

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Gemäß dieses metaphysischen Geschlechterentwurfes wird Sanftheit wie die weiblichen Hormone als »drittes weibliches Geschlechtsmerkmal« – synonym für Weiblichkeit (nüren wei) – naturalisiert. Doch trotz dieser Naturalisierung von Sanftmütigkeit als essentieller, natürlicher weiblicher Wesensbestandteil, muss diese von der Frau erst kognitiv aktiviert und anschließend konstant praktisch in den Verhaltensweisen gepflegt werden. Sanftheit wird als ein zartes Pflänzchen beschrieben, welches ständig und langjährig gepflegt werden müsse, um zu voller Blüte zu gelangen. So müssen Frauen aktiv an sich arbeiten, um die gewünschte Sanftheit herauszubilden und dementsprechend negativen und unweiblichen Gefühlsäußerungen wie Boshaftigkeit, Burschikosität, Wut, Sturheit, Besserwisserei etc. entgegenwirken: »Eine sanfte Frau wird auf keinen Fall, wenn sie auf etwas trifft, was nicht nach ihrem Sinn läuft, wütend oder verärgert reagieren, wird nicht wie Donner explodieren, sie wird ohne etwas zu sagen und die Miene zu verziehen den wahren Hintergrund und das Problem aufspüren und dann mit einer fließenden Bewegung wie beim Taiji jede Art von Schwierigkeiten lösen. Wenn sie mit einem wütenden Mann konfrontiert ist, wird sie ihm mit einem süßen Lächeln entgegnen; wenn ihr ein Mann aufgebrachte Worte entgegen schleudert, antwortet sie mit ruhigem Blick; wenn ein Mann frustriert und deprimiert ist, dann tröstet und ermuntert sie ihn mit liebevollen, warmen Worten wieder aufzustehen.« (Yan 2012: 112)

Dies steht allerdings im paradoxen Verhältnis zur Naturalisierung der Sanftmütigkeit als natur- bzw. gottgegebene weibliche Eigenschaft, denn wenn es eines Inititationsritus und eines Prozesses der Kultivierung bedarf, dann scheint davon ausgegangen zu werden, dass in Männern und Frauen in der Ausgangsbasis durchaus die gleichen Eigenschaften und Emotionen angelegt sind – wie z.B. Wut, aufbrausendes Temperament, Durchsetzungswille, Aktivität –, diese jedoch in einem bewussten Prozess der sozialen Geschlechtskonstruktion selektiert und in einem kulturell bedingten Mechanismus den jeweils binär angelegten Geschlechtern zugeordnet werden. Dadurch entpuppt sich das, was im Diskurs als natürlichste und essentiellste Präsentation von Weiblichkeit dargestellt wird, letztlich als eindeutig soziokulturell formierte, geschlechtskonstruierende Doing gender-Praxis. Das zeigt sich auch daran, dass Sanftheit erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum herausragenden weiblichen Geschlechterklischee avancierte. Während in der Post-Mao-Phase Frauen gemäß dem sozialistischen Ideal des geschlechtsneutralen »tongzhi« in allen Belangen gleichberechtigt auftraten und

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das Einfordern oder Annehmen von männliche Hilfestellung als bourgeoise Praxis geradezu verpönt war, wurde auch der Prozess der Refemininisierung ab den 1990er Jahren immer wieder von Phasen eines eher burschikoseren Frauenbildes unterbrochen. So löste beispielsweise der ursprünglich koreanische, jedoch in China äußerst populäre Film »My sassy girlfriend« (Wo de yeman nüyou) 2001 einen Trend zu jungen, frechen, kompliziert-chaotischen Frauen als Idealtypen aus. Dieser Alternativentwurf der »wilden Freundin« wurde jedoch spätestens 2010 durch »Du Lala« und die Popularität der »Schönheiten«-Stars (meinü) abgelöst, weshalb ein Ratgeber konstatiert: »[E]in wilder, leidenschaftlicher, herausfordernder Charakter (kuangre de tiaozhan xingge) ist zu dieser Zeit schon wieder out.« (Yan 2012: 99) Dies gelte selbst auch für die modischen jungen Frauen, die sich gerne mit individualistischen Charakterzügen wie »wild« (yeman), »andersartig« (linglei) oder »hot« (la) beschreiben. Diese Eigenschaften seien jedoch nur bestenfalls ein modisches Surplus, um das eigene Image aufzupolieren, aber im Grunde müssen auch solche Frauen der Norm von Weiblichkeit entsprechen. Somit avanciert ein sanftes Wesen zum ultimativen Geschlechtsidentifikationsmerkmal: »Wenn eine Frau ihre Sanftheit verliert, dann verliert sie ihre Weiblichkeit.« (Zhang 2013: 15) Als Semantiken der Repräsentation von Sanftheit und somit Weiblichkeit werden am häufigsten folgende Eigenschaften aufgelistet: Sanftheit sei Fürsorge (guanxin), Mitgefühl (tongqing), Anhänglichkeit (titie), Toleranz (kuanrong) und eine sanfte Sprache (xiyu rousheng). Diese treten insbesondere im Umgang mit dem anderen Geschlecht in Erscheinung. Generell wird darauf verwiesen, dass erst der Kontakt mit dem Gegengeschlecht die Anlagen zur Sanftheit in der Frau erwecke: »Sobald man in die Phase kommt, wo man über Heiraten und Familiegründen spricht, muss sich die aufbrausende, leidenschaftliche Art der Frau auf jeden Fall ändern. Es gibt keinen Mann, der es mag, wenn die Ehefrau sich über ihn stellt, sondern das ›kleine, anhängliche, hilfsbedürftige Frauchen‹ (xiaoniao yiren) ist das weibliche Idealbild in den Herzen der Männer.« (Yan 2012: 105)

Männer würden Reinheit und Unbedarftheit (qingchun), Sanftheit (wenrou), Naivität (jiaohan) und ein anständiges und tugendhaftes (xianshu) Wesen der Frau bevorzugen. Als konkrete semantische Praxis in der interaktiven Herstellung von Geschlecht wird beispielsweise das Kopfsenken als wirkungsvolle Demonstration von Sanftheit propagiert: die »Schönheit einer Frau, wenn sie den Kopf senkt« (Xi 2012: 193), zeige ihre Schwäche und Zerbrechlichkeit und wecke den männlichen Beschützerinstinkt und sei daher viel wirksamer als zu

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schimpfen, zu zetern und zu nörgeln. Auch Räume werden geschlechtssymbolisch aufgeladen: So gilt beispielsweise die Küche als ein wichtiger Ort für die Anbahnung von Liebesbeziehungen, weil die Frau sich dort von einer ganz anderen Seite zeige: sie werde hier zur »zhufu« (Koch-Frau, Homonym von Hausfrau) und verkörpere die Attribute der Sanftheit, Weichheit, Natürlichkeit und Fürsorglichkeit, was bei Männern automatisch eine liebevolle Zugewandtheit auslöse: »Die Küche ist ein magischer Ort. Wenn du jemandem Deine Sexyness zeigen willst, dann nimm ihn in deine Küche mit.« (Ebd.: 168) Gerade in der Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau scheint die Reproduktion traditioneller Geschlechterzuordnungen eine große Rolle zu spielen. Nahezu alle Ratgeber schließen sich einhellig dem Plädoyer für eine strikte Einhaltung klischeehafter Geschlechterbilder an, die Mann und Frau eindeutig spezifische Eigenschaften, Verhaltensweisen und Wirkräume zuordnen. Dies wird einerseits mit einer naturgegebenen Bipolarität erklärt, so dass eine Übernahme gegengeschlechtlicher Eigenschaften und Attribute »wider die Natur« und somit ein Frevel an der Schöpfung seien: »Der Grund, warum Frauen existieren, ist, dass sie die Zärtlichkeit besitzen, die den Männern fehlt. Zärtlichkeit und Sanftheit ist ein grundlegendes Kapital und eine Eigenschaft, die man als Mutter und Ehefrau braucht« (Yan 2012: 102f.). Andererseits soll die Einhaltung von geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen das Zusammenleben von Mann und Frau organisieren und reglementieren: »Wir müssen erkennen […], dass die Sanftheit offensichtlich abgenommen hat, besonders bei Frauen, die beruflich Erfolg haben. Diese Abnahme ist nicht normal (bu zhengchang). Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die Zahl der Männer, die zuhause kochen und waschen, zugenommen hat […]. Diese Umkehrung sagt schon einiges aus. Wenn Frauen heute über Sanftheit sprechen, dann fragen sie meist, in welcher Zeit sie denn lebten, was bräuchte man da heute noch Sanftheit. So eine Äußerung verletzt die Männer und lässt sie hilflos zurück. Es muss darauf hingewiesen werden, dass Frauen auch heute während ihres Strebens nach einer unabhängigen Identität nie ihre sanfte Seite aufgeben dürfen. […] Männer brauchen sanfte Frauen, genauso wie Frauen starke (yanggang) Männer brauchen. Dies beruht auf dem psychologischen und biologischen Geschlechterunterschied. Es ist die Voraussetzung, dass Männer und Frauen sich gegenseitig ergänzen.« (Li 2008: 115)

Diese Natur der Zweigeschlechtlichkeit als generatives Muster von sozialer Ordnung ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern erfuhr während des gesamten Laufes des 20. Jahrhunderts eine Rekonstruktion und stetige Verfestigung auf wissenschaftlicher Basis, indem bei der Herstellung von sozialer Wirklichkeit sich die Reflexivität von »Natur« und sozialer Norm immer mehr zu-

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gunsten natürlich-biologischer Tatsachen und Begründungen verschob und somit eine angeblich unumstößliche Substantierung der Differenz bekräftigte. Wie Frank Dikötter aufzeigt, avancierte im postrevolutionären China nach 1911 das aufgeklärte Sprechen über Sexualität zum Symbol für eine Befreiung von den Fesseln der Tradition unter intellektuellen Eliten (Dikötter 1995). Und obwohl die von den unterschiedlichsten Gruppierungen geführten Diskurse sehr heterogen und oft widersprüchlich waren, so sind sie doch alle geprägt von den Schlagworten des Evolutionismus, Nationalismus und Szientismus. Dementsprechend ersetzte ein wissenschaftlich-medizinisch geprägtes Bild von Sexualität und Geschlechtlichkeit als natürlicher Mechanismus die traditionelle Vorstellung des Körpers als mystisch-kosmische Einheit. Dies führte jedoch nicht zu einem Aufbruch klassischer Geschlechterbilder und binärer Differenz, sondern eher noch zu einer Verfestigung durch angeblich unwiderlegbare wissenschaftliche Beweise einer als gesetzt geltender Zweigeschlechtlichkeit. Genderhierarchien wurden als »natürlich« und »fortschrittlich« betrachtet, da es nun sogar biologisch »bewiesen« sei, dass Frauen und Kinder auf einer niedrigeren evolutionären Stufe stünden. Hier also wird die, durch traditionelle Metaphysik begründete Zweigeschlechtlichkeit aufgegriffen und durch Einbettung in einen wissenschaftlichen Erklärungsrahmen legitimiert und ausgearbeitet. Frauen werden als der passive, aber sozusagen spiegelgleiche Gegenpart zum Mann konstruiert, die Vagina als eine Art innerer Penis, die Gebärmutter als nach innen gestülpter Hodensack und die Eierstöcke als Hoden (ebd.: 24). Auch wenn nach Gründung der Volksrepublik die Geschlechterdifferenz im äußeren Erscheinungsbild nahezu nihiliert wurde, so rüttelte dies jedoch nicht grundsätzlich am Konzept der Zweigeschlechtlichkeit, wie Harriet Evans aufzeigt. Sie beweist in ihrer Studie zu wissenschaftlichen Publikationen über Sexualität der Mao-Ära, dass zur besseren staatlichen Kontrolle und Lenkung von Sexualdiskursen die Konstruktion des Geschlechterunterschieds als fundamentale und »natürliche« Erscheinung systematisch vorangetrieben wurde. Tatsächlich lassen sich in den damaligen Texten sogar schon ähnliche Geschlechtscharakterisierungen finden wie die Ratgeberbücher sie heute auch wiedergeben: »Normal male behaviour is outwardly expressive and evident, whereas in the female it is hidden and shy. This signifies a difference between the active and initiating male and the passive female.« (Evans 1997: 33) Die angeblich »naturgegebene« Differenz der Geschlechter als komplementäre, jedoch völlig unterschiedliche Personen bleibt somit bis in die Gegenwart unhinterfragt – ja hat sich sogar noch stärker verfestigt. Das Beharren auf typisch männlichen und typisch weiblichen Geschlechterbildern erfüllt, abgesehen zur Orientierung der eigenen Geschlechtsidentität,

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noch eine weitere Funktion: die Konstruktion konträrer Gegengeschlechtlichkeit in der Widerspiegelung von Gegensätzlichkeiten. Denn dieses »sameness taboo«, das vorschreibt, dass die Geschlechter sich unterscheiden müssen (Lorber 1990, Rubin 1975), konstituiert nicht nur erst die Geschlechtsdifferenz (und alle mit ihr einhergehenden Hierarchisierungen); an der engen Verknüpfung und gegenseitigen Abhängigkeit beider Geschlechtsentwürfe wird vielmehr auch sichtbar, dass die Repräsentation einer expliziten Weiblichkeit vor allem als Kontrastfolie für die (Re-)Konstruktion von Männlichkeit, welche durch die erstarkenden »eisernen Mädchen« der Post-Mao-Ära stark infrage gestellt wurde, dient. Somit führt die Refemininisierung zugleich zu einer Remaskulinisierung, indem vor allem eine Verschiebung von Machtpositionen vonstattengeht. Die staatlich geförderte weibliche Emanzipation und Integration von Frauen in allen Bereichen der Produktion und des öffentlichen Lebens bei gleichzeitiger Entkoppelung einer geschlechtsbedingten Zuordnung von häuslichen oder reproduktiven Aufgaben führte zu einer Verunsicherung der männlichen Identität, welcher es erstmals in der chinesischen Geschichte nun plötzlich an Möglichkeiten der Differenzierung und Abgrenzung mangelte. Während im maoistischen Staat durch den Staatsfeminismus und die zunehmende Präsenz von Frauen in Öffentlichkeit und Berufsleben zwar keine vollkommene Emanzipation der Frau und Loslösung von patriarchalen Machtstrukturen stattfand, so doch zumindest eine deutliche Erstarkung der weiblichen Position erfolgte, macht sich nun wieder eine Rückkehr zur dominanten Rolle des Mannes in Wirtschaft und Gesellschaft und auch im Geschlechterverhältnis bemerkbar. Teilweise lassen sich in historischen Quellen eine Verbindung zwischen dem Geschlechterverhältnis und der nationalstaatlichen Entwicklung feststellen. Anfang des 20. Jahrhunderts revoltierte der schwächliche, impotente Sohn und unmündige Bürger gegen die politischen und gesellschaftlichen Zustände und etablierte zugleich ein neues Modell für Männlichkeit: den rebellischen, gesellschaftlich und sexuell machtvollen und aktiven Mann. Dementsprechend wurde auch ein weibliches Gegenbild dazu als Partnerin entworfen: die moderne, aufgeklärte, gebildete Frau, die den Mann hilfreich unterstützt, anstatt ihm zusätzliche Familienbürden aufzuzwingen, die seine revolutionären Energien verschlingen. Zugleich kam erstmals das Konzept der Seelenverwandtschaft als Basis von Zuneigung und Liebe auf, welche wiederum als neuartige Legitimation für Paarbildung und Heirat angesehen wurde. Andererseits bleibt die Frau aber in einer dem Mann gegenüber inferioren Position, nimmt eher eine Rolle der aufopfernden Schwachen – ähnlich dem Ideal in der klassischen westlichen Romantik –

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ein, an deren Schicksal sich die Liebe und soziale und politische Tatkraft des Mannes erst entzündet (vgl. Lee 2007). Mit der erneuten umfassenden Wende nach Gründung der Volksrepublik 1949 führte wiederum ein Wandel im Männlichkeitsideal zu einer dementsprechenden Widerspiegelung im Frauenbild. Trotz des oft propagierten Bildes des »starken, harten Mannes« mit revolutionärem, proletarischem Äußeren, der mutig die Faust zum Arbeitseinsatz und Klassenkampf reckt, geriet die männliche Identität eigentlich in eine Krise (vgl. Brownell/Wasserstorm 2002). Durch die autoritäre Allmacht der Partei und die unbedingte Ausrichtung auf kollektive Ziele, wurde dem ehemals individuell aktiven Rebellen nicht nur seine Handlungsfreiheit und Eigeninitiative genommen, sondern auch durch die Entsexualisierung der Gesellschaft und Tabuisierung von Sexualität besonders für Frauen seine sexuelle Potenz als Zeichen von Männlichkeit (vgl. Yang 1999). Stattdessen galt die Liebe zu Mao und der Partei als höchstes Ziel und einziges Identifikationsmerkmal. Als Widerspiegelung dieser psychologischen Disposition wurde ein äquivalentes Frauenbild geschaffen, das stellvertretend für die maoistische Unterdrückung von Männlichkeit steht: die emanzipierte Frau, die in allen Belangen mit dem Mann gleichzieht und dessen Stellung in bisher männlich dominierten Sphären bedroht. Zugleich wird die maoistische Frauenfigur auch in der privaten Geschlechterbeziehung und Familienkonstellation als autoritär, ja gar despotisch empfunden. Der Mann fühlt sich im Verhältnis zur (Ehe-)Frau dominiert, unfrei und kastriert – symbolhaft für die Unfreiheiten im maoistischen Regime (vgl. Zhang 2015). Dementsprechend lassen sich in der Rückkehr zum Individualismus und persönlicher Freiheiten ab den Reformjahren im Widerstand gegen einen zunehmend schwachen Staat, der immer mehr an Einfluss auf das Gesellschafts- und Privatleben des Einzelnen verliert, auch Parallelen im Geschlechterverhältnis finden. Zheng Tiantian zieht als Vergleich die Metapher des Bauern, der als unfreier Sklave Korn an den Staat liefern muss, heran, um das Verhältnis des Ehemanns, der Sperma an die Ehefrau liefern muss, in der sozialistischen Ehe zu bebildern (Zheng 2009). Ebenso wie der Bauer – bzw. der moderne Unternehmer – mit subversiven Taktiken gegen den autoritären Staat rebelliert und möglichst viel »Korn« zu hinterziehen versucht, so enthält auch der Ehemann durch die Inanspruchnahme von Prostituierten oder anderen außerehelichen Sexualverhältnissen der Ehefrau das Sperma vor. Als Gegensatz zur männlichen Entmächtigung in der maoistischen Ära, suchen Männer nun erneut eine Ermächtigung auf geschlechtlicher Ebene, indem Frauen sexuell und emotional degradiert werden, da sie als Stellvertreterinnen von sozialistischer Moral und Staat gesehen werden.

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Erst im Widerstand gegen das sozialistische Frauenbild können Männer sich als »richtige Männer« konstruieren: »As post-Mao rebellious men, they attempted to recover their masculinity by establishing a more predatory sexual approach to women.« (Ebd.: 118) Hierzu gehört nicht nur die sexuelle Verfügbarkeit der Frauen, sondern eben auch ihre sexuelle Attraktivität. Frauen werden aufgefordert, attraktiv, erregend und provokativ zu sein, aber diese geschlechtliche Macht nicht selbstbestimmt auszuleben, sondern unter die Kontrolle des Ehemanns zu stellen, der durch die Zurschaustellung und Kontrolle von möglichst attraktiven Frauen im Sinne von »trophy wifes« seine Maskulinität beweist. Die Wiedergeburt der Weiblichkeit ist daher also nicht nur im Wunsch nach einer spezifischen weiblichen Identität im Gegensatz zum androgynen Geschlechtsbild im Sozialismus zu sehen (vgl. Croll 1995: 155), sondern auch vor dem Banner einer unsicher gewordenen männlichen Geschlechtsidentität. Frauen werden durch die Hervorhebung ihrer geschlechtlichen Identität vor anderen Identitätsaspekten und der Stilisierung von Weiblichkeit zum objektivierten Hintergrund, vor dem die männliche Subjektposition stärker hervortreten kann: »[M]ale subjectivity and its power are made invisible, as in the Maoist gender order, but this invisibility is not based on an erasure or blurring of genders but depends on the hypervisibility of the female image.« (Yang 1999: 50) Mayfair Yang zitiert zur Unterstreichung der indirekten männlichen Geschlechtsdefinition durch einen extrem inszenierten weiblichen Gegenentwurf diverse Beispiele aus Werbung und Konsumforschung. Auch andere Forscherinnen befassten sich mit der Objektivierung der Frau in ihrer Präsentation von Weiblichkeit als Gegenpart einer unsicher gewordenen männlichen Identität (vgl. Dai 1999, Erwin 1999). Zheng Tiantian sieht in der durch exzessive Inszenierung von Doing gender-Motiven kreierten Hyperfemininität von chinesischen Hostessen vor allem eine Vorlage für die Produktion von männlicher Geschlechtsidentität: »In the post-Mao era, hostesses provided a foil against which men could redefine themselves as ›real men‹ […]. Their subjugation of women represented the recovery of their manhood in postMao China« (Zheng 2009: 9f.). Je sichtbarer Weiblichkeit kommuniziert wird, desto einfacher wird die gegengeschlechtliche Abgrenzung dazu. Die durch die Emanzipation der Frauen hervorgerufene Krise der Männlichkeit schlägt in China – anstatt neue Geschlechtermodelle und -rollen auszuprobieren und Nischen zu besetzen, von Queer-Identitäten bis zum metrosexuellen Hausmann, wie sich in den Reaktionen auf das gleiche Phänomen im Westen beobachten ließ - also eher den Weg zu einer Rückkehr zu und Verstärkung von »klassischen« Geschlechterrollenbildern ein. Anstelle eines vergrößerten pluralistischen

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Aushandlungsspielraums für eine individuelle geschlechtliche Identität, erlebt die normative Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit in China ein Revival, die nicht nur das geschlechtlich eindeutig zuordenbare äußere Erscheinungsbild umfasst, sondern sich auch bis in die »natürliche Wesenhaftigkeit« der Geschlechter fortsetzt, einer Auffassung, die in der westlichen sozialkonstruktivistischen Geschlechterforschung längst unter scharfer Kritik steht. Allerdings bleibt in China teilweise unklar, inwiefern sich diese gesellschaftlich kommunizierten Geschlechterrollenbilder auf individueller Ebene fortsetzen. Vielmehr erscheinen die Aufforderungen zu mehr Sanftheit, bescheidenem Kopfsenken und der »Schönheit« häuslicher Tätigkeit oft in einem zweideutigen Licht: die dichotomische Geschlechterhierarchie wird vor allem symbolisch konstruiert. Denn Sanftheit ist nicht gleichbedeutend mit Schwäche oder einer tatsächlichen Benachteiligung von Frauen, sondern verweist auf einen Kommunikationscode zur symbolhaften Herstellung und Festigung eines bipolaren Geschlechterkonzepts: Es geht um die soziale Inszenierung von Sanftheit durch Sprechen, Gestik, Mimik und als Ausdruck von zumindest vordergründig hierarchischer Geschlechterdifferenz, indem Frauen in der Praxis unter anderem schüchtern und demütig den Blick senken, nicht barsch und befehlend, sondern sanft und kokett sprechen und den Kanon von Doing gender-Gestiken von Weiblichkeit reproduzieren. Dies zeigt sich auch unter anderem darin, dass Sanftmütigkeit zugleich als Werkzeug und »Waffe« dargestellt wird: »Sanftheit ist die geheime Waffe, um Männer zu überwältigen« (Zhang 2013: 15). Stattdessen wirkt der kluge Einsatz eines sanften, verständnisvollen Wesens beziehungsfördernd, indem die Konfrontation und ein (Geschlechter-)Machtkampf vermieden werden. Hierfür sei der Mann dankbar, dass seine Position als Mann nicht angegriffen und infrage gestellt würde. So werden ein Schmollmund und ein paar Tränchen an der richtigen Stelle als effektivere Mittel zum Durchsetzen eigener Interessen propagiert als das rationale argumentative Bestehen darauf, welches nur zu Streit und Missgunst beider Seiten führe. »Deshalb darf die kluge Frau auf gar keinen Fall zulassen, dass ihre Sanftheit verschwindet, sonst verschwindet damit vielleicht auch das Glück an sich.« (Zhang 2013: 17) Dies darf jedoch nicht als eine Rückkehr zu Geschlechterverhältnissen im vormodernen China missverstanden werden. Denn während das sanfte Wesen einerseits gelobt wird, erfährt Schwäche – verkörpert durch das traditionelle Frauenbild des antiken Chinas – eine rigide Verurteilung. Im sozialen Kontakt ein sanftmütiges und nachgiebiges Wesen an den Tag zu legen und damit das Gesicht männlicher Anwesender zu wahren, schließt nicht aus, das eigene Leben

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selbstbestimmt im Griff zu haben. Eine Frau muss selbständig überlebens- und durchsetzungsfähig sein und darf durchaus in der häuslichen Beziehung informell »die Hosen« anhaben. Nur in der Konstruktion der öffentlichen Selbstpräsentation muss die korrekte »Ordnung der Geschlechter« eingehalten werden, um durch eine klar getrennte, binäre Geschlechterkonzeption allen sozialen Akteuren Sicherheit in ihrer Handlungskompetenz zu verleihen.3

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So ist im Ratgeber »Männer müssen verstanden, Frauen müssen geliebt werden« (Nanren yao bei dong, nüren yao bei ai) die Rede davon, dass die Frau in den eigenen vier Wänden durchaus den Ton angeben darf, symbolisiert durch die beliebte Redewendung »qi guanyan« (von der Ehefrau an der Kandare gehalten). Außerhäuslich müsse sich jedoch ungeachtet tatsächlicher Machtverhältnisse das Verhältnis umdrehen zu »yanguan qi« (Ehefrau streng unter Kontrolle), um einen adäquaten äußeren Eindruck der Familienstruktur zu liefern. (Ya 2012: 6-9).

Die Vereinigung des Schönen mit dem Guten Weibliche Tugend zwischen Neukonfuzianismus, Mikroaktivismus und der Suche nach Glück

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Zusätzlich zu den Attributen von Weiblichkeit und äußerlichen Doing-genderPraktiken findet die Konstruktion von Geschlecht ihre Fortsetzung in der Erschaffung so genannter geschlechtsspezifischer Charaktermuster (Hausen 1976). Hierbei genügt es nicht, wenn Frauen intersubjektive und kognitive Symboliken von Geschlecht (re-)produzieren, sondern dem Geschlecht wird per se eine spezifische Wesenhaftigkeit zugeschrieben, die damit zugleich auch normativ wird. Im Diskurs der Ratgeber werden jene Charaktereigenschaften zwar oftmals noch den Kapiteln der »inneren Schönheit« oder dem Prozess der Kultivierung von Eleganz zugeschrieben, hier soll ihnen jedoch ein eigenes Kapitel gewidmet werden, da sie als tatsächliche Bestandteile der individuellen Identität über reine Performanzen des Images in Form von Erscheinungsbild und Verhalten hinaus gehen. Außerdem geht es dabei nicht nur um die Inszenierung, respektive Klassifizierung von Geschlecht im Alltagsprozess, sondern dieses wird interdiskursiv mit vorherrschenden sozialpolitischen Ideologien in Bezug gesetzt und vereinnahmt. Der Schwerpunkt der Diskussion um die Herausbildung spezifischer Wesenszüge liegt auf der Kultivierung von Persönlichkeitseigenschaften wie Toleranz, Sanftmütigkeit, Gutherzigkeit und Dankbarkeit wie auch sekundärer Tugenden wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeitssinn und umfasst somit insgesamt das Idealbild eines humanistischen Menschen. Gemäß humanistischer Vorstellungen wird ein Gesellschafts- und insbesondere Bildungsideal mit angeblich traditionellen Wurzeln entworfen, welches auf eine ganzheitliche, sowohl intellektuell als auch ethnisch ausgereifte Persönlichkeitsentfaltung Wert

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legt. Ziel ist es, der Gesellschaft durch Zivilisiertheit (wenming hua) zu einer besseren Existenzform zu verhelfen. Ähnlich wie der Renaissance-Humanismus und alle darauffolgenden humanistischen Bewegungen Europas sich entweder auf die griechische oder römische Antike als Ideal und Vorbild beriefen (vgl. Faber/Rudolph 2002 und Helmrath 2013), orientiert sich China dementsprechend am konfuzianischen Erbe. Historisch entkernt dient dieses als Leitbild – ganz ähnlich der altgriechischen Konzepte des Paideia und Dignitas – für sowohl ein humanistisches Gesellschaftsmodell wie auch zur kultur- und sozialpolitischen Orientierung. Dementsprechend wird auch in der Diskussion um das Wesen und die Tugenden der Frau in den Ratgebern die (moralische) Kultivierung betont: »Das wertvollste im Leben ist nicht Position, Ruf, Geld, sondern Kultiviertheit.« (Zhang 2013: 85) Kultiviertheit sei wie ein Glas Tee, dessen wahre Güte sich erst im langsamen Genuss entfalte; sie erhöhe die eigene Definitionskraft (dingli), wie auch die Tugend und Moral, sie sei eine Bereicherung des Wissens und Vervollkommnung des Wesens (ebd.: 86f.). Somit gilt das Trainieren und Herausbilden spezifischer Wesenseigenschaften nicht als das Anlegen einer äußerlichen Regelhaftigkeit, sondern als die Erfüllung der »natürlichen« Wesenhaftigkeit der Frau und als Weg zum persönlichen Glück: die Vereinigung des Schönen mit dem Guten. »Die Rolle, die Frauen im Leben oft spielen, ist hübsch zu sein, süß zu sein, sanft zu sein und andere Menschen zu erfreuen und wie eine strahlende Kerze anzustrahlen. Deshalb darf das Herz nicht eng sein, denn Engstirnigkeit lässt die Kerze verlöschen. Man kann kein schönes Antlitz haben und keinen begehrenswerten Körper, aber wer mehr Güte und Barmherzigkeit hat, den kann selbst das schönste Aussehen nicht überstrahlen, denn sie [die Eigenschaften, A.D.] lassen deine Attraktivität strahlen und sogar Raum, Zeit und alle anderen Hindernisse überwinden.« (Li 2011: 40)

Somit gehört zum Wesen der idealen Frau unbedingt eine humanistische Gesinnung und Nächstenliebe. Es werden dem weiblichen Idealbild Attribute wie Herzensgüte und Humanität (renࠣai) zugeschrieben; sie sei freudig (xile), friedlich (heping), geduldig (renࠣnai), karitativ (enࠣai), gutmütig und wohlwollend (shanliang), warm und sanft (wenrou), tolerant und großzügig; sie könne ihre Emotionen kontrollieren, um niemanden zu brüskieren. Gleichzeitig nimmt die ideale Frau Abstand von bösen, vergifteten Gedanken, Neid, Eifersucht, Hass, Konkurrenz, Beleidigungen, Schikane (wuman), Hinterlistigkeit und Verschlagenheit (guizha), Selbstlob (zikua) und verbreitet keine Gerüchte (zaoyao) (Zhang 2013: 3).

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Dies ist allerdings keine besonders überraschende Charakterisierung der idealen Frau, wurden jene Eigenschaften doch bereits im antiken China jeweils sozial gratifiziert bzw. ihre Negationen stigmatisiert. So gehörten Eifersucht und Geschwätzigkeit bereits zu den sieben offiziellen, legitimen Gründen für Ehescheidung im traditionellen China, wobei in der Praxis auch Hass, Neid, Hinterlistigkeit und Bosheit oftmals zu ähnlichem Ergebnis bis hin zu härteren Verurteilungen und Strafen führten (vgl. Van Gulik 1974). Gleichzeitig loben die vorbildlichen Frauenschriften historische Beispiele für Tugendhaftigkeit, Folgsamkeit, Pflichtbewusstsein, Selbstlosigkeit und Aufopferungsgeist (vgl. Schilling/Kralle 2001). In der Tat scheint sich so der »immerwährende Weg der Frau« mit den fünf Prinzipien der Güte, »rechter Weise«, weiblichen Klugheit und Treue kaum verändert zu haben (einzig der Ritus kann heute vernachlässigt werden). Auch in aktuellen Ratgebern gelten Gutmütigkeit, Gutherzigkeit (shanliang) und Dankbarkeit (gan'en) als oberste Tugenden und »größter Reichtum der Frau« (Zhang 2013: 17), denn nur wer anderen hilft, bekommt selbst mehrfach Liebe zurück, so das Argument. Deshalb sei man allein aus Eigeninteresse dazu verpflichtet, etwas für die Gesellschaft und für andere zu tun und zu geben, unabhängig, wie schlecht die eigene Situation sich darstellt: »Vielleicht besitzen elegante Frauen nichts, aber sie fühlen sich niemals arm und sind innerlich sehr erfüllt und zufrieden. Ihr Herz ist nämlich ganz mit Liebe erfüllt und wird dadurch noch schöner. Es ist sanft wie Wasser und zugleich unglaublich stark. Ihr Herz hat so viele Gründe voller Dankbarkeit zu sein ihre Augen sind oft voller Tränen, auf dem Gesicht tragen sie einen strahlenden Glanz, weil sie so oft von der Liebe gerührt werden. Doch sie bettelt niemals andere um Liebe an, sondern gibt selbst voller Inbrunst Liebe an die Seelen, die Trost brauchen und verlangt dafür keinerlei Gegenleistung. Im Inneren ist sie erfüllt von Liebe wie ein warmes Feuer, das die kalten Herzen anderer erwärmt.« (Ebd.: 3)

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Diese Betonung eines humanistischen Ideals und dessen Inkorporierung in eine geschlechtsspezifische Wesenscharakterisierung korreliert mit der sozialpolitischen Agenda der »Harmonischen Gesellschaft« (hexie shehui), welche als Schlagwort eine Wende vom eindimensionalen effizienzorientierten Wachstum zugunsten eines stärker werteorientierten, nachhaltigen Wachstums einläuten sollte. Es markiert in der chinesischen Sozial- und Wirtschaftspolitik eine Kehr-

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wende im beständigen Austarieren der Gewichtung von ökonomischem Wachstum und Effizienz und sozialer Gerechtigkeit. Während 1993 in der offiziellen Parteirhetorik noch der unbedingte Fortschritt und die Semantik der Modernisierung dominierte, zeichnete sich mit der ersten Erwähnung des Konzepts der harmonischen Gesellschaft 2002 von Jiang Zemin beim 16. Parteikongress bereits ein Richtungswechsel ab. 2005 konstatierte Hu Jintao es in seiner Rede vor der KP-Parteischule schließlich als politisches Leitkonzept, indem er die neuen Ziele von Chinas Entwicklung in der Schaffung einer harmonischen Gesellschaft und politisch und wirtschaftlich nachhaltiger Stabilität umfasste und den Primat von sozialer Gerechtigkeit gegenüber ökonomischem Wachstum festsetzte. Generell avancierte soziale Stabilität insbesondere seit der Wirtschaftskrise und dem verlangsamten Wirtschaftswachstum 2008 zum Schlagwort für politische und intellektuelle Eliten als Gegenmittel zu den befürchteten sozialen Unruhen. Denn der politische Umschwung und die Ausrichtung an einer demokratischen, gleichberechtigten und harmonischen Gesellschaftsentwicklung ist vor allem eine Reaktion auf die seit den 2000ern zunehmende gesellschaftliche Mobilisation auf der Mikroebene, welche sich immer öfter konfliktreich öffentlich entlädt. Insbesondere Arbeitslosigkeit, Korruption und das Auseinanderklaffen von arm und reich gelten als die problematischsten Entwicklungen seit den 1990ern. Zugleich beschwört der Rückgang des Wirtschaftswachstums eine Legitimitätskrise der KP als nationale Führungskraft, da diese sich auf dem Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand und gleichzeitiger Aufrechterhaltung von sozialer und politischer Stabilität gründet, was beides jedoch aufgrund der globalen Wirtschaftslage immer schwieriger zu vereinen ist (vgl. Laliberté/ Lanteigne 2008). Mit der Verlagerung des Fokus auf sozialen Wohlstand – die 1,3 Milliarden Menschen sollen nun die Früchte der sozioökonomischen Entwicklung genießen können (Lee/Hsing 2010:1) – wird einerseits die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit ihren Lebensumständen gemildert, indem Hoffnung auf sofortige und langfristige Abhilfen in Aussicht gestellt wird. Andererseits verschaffte sich die KP durch diverse Reformen in der Sozialpolitik Chinas, wie u.a. Steuerreformen in ländlichen Gebieten, Reformen des Arbeitsrechts, Verbesserungen in Krankenversorgungs- und Pensionsansprüchen und mehr Geld für Schulbildung in unterprivilegierten Familien eine neue Legitimation als Initiator und Wahrer von sozialem Fortschritt und steigendem Wohlstand.1

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Zahlreiche Fallstudien aus unterschiedlichen Bereichen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für staatliche Versuche der Befriedung sozialer Konflikte und gleichzei-

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Doch jenseits konkreter wirtschafts- und sozialpolitischer Agenden liegt ein wichtiger Faktor für die Widerstandfähigkeit der KP, sich in ihrer Position zu behaupten, auch in ihrer Fähigkeit, unterschiedliche semi-staatliche und nichtstaatliche Formen und Methoden von »Governance« zu adoptieren, und so die ideologischen und realen Widersprüche zwischen Parteimaximen und konkreter Lebenswirklichkeit abzuschwächen und auf diese Weise letztlich alle divergenten sozialen Entwicklungen unter dem Narrativ der KP als Wohlstandsgarant Chinas zu einen. Dies wird möglich, indem Verantwortlichkeit und Zuständigkeit zentraler staatlicher Stellen entweder an lokale staatliche Institutionen, welche die Direktiven variabel umsetzen, oder direkt an private, nicht-staatliche Einrichtungen oder gar an die einzelnen Bürger/innen delegiert werden (vgl. O'Brian/Li 2006, Gries/Rosen 2004), um dadurch soziale Konflikte bereits zu kanalisieren und zu minimieren noch bevor sie politische Implikationen und den Wunsch nach politischer Veränderung hervorrufen können. Hierfür bedient sich die Regierung einerseits auf struktureller Ebene der in den vergangenen 30 Jahren stetig gewachsenen Infrastruktur an sozialem Aktivismus, indem beispielsweise Grassroot-NGOs zunehmend staatliche Anerkennung und teilweise auch Förderung erhalten, z.B. als GONGOs (vgl. Lee/Hsing 2010, Perry/Goldman 2007, Schwartz 2004). Diese übernehmen neben teilstaatlichen Einrichtungen wie den Nachbarschaftsgemeinschaften (shequ) (vgl. Xu 2008) oder staatlichen Interessenvereinigungen wie u.a. der chinesische Frauenverband teilweise die Aufgaben der erodierten ehemaligen staatlichen Sozialinstitutionen wie der Arbeitseinheit und dem Nachbarschaftskommitee. Gleichzeitig kümmern sich sozial aktive Gruppen auch um die Folgeprobleme der Wirtschaftsreformen und des kapitalistischen Systems wie Arbeitslosigkeit, Arbeitsmigration, Prostitution, Umweltverschmutzung etc. und entlasten damit die Verantwortlichkeit der staatlichen Führung, die sich dadurch mehr auf das Vorantreiben des Wirtschaftswachstums konzentrieren kann, ohne die Verantwortung für dessen Folgen übernehmen zu müssen. Mögliche negative Begleiterscheinungen werden unter dem Programm der »issue-based politics« auf nicht-staatliche Institutionen, Organisationen und Vereinigungen abgewälzt, um die Integrität und ideologische Konsistenz der KP und ihrer Organisationen nicht zu gefährden (Edwards 2008). Das Konzept der Harmonischen Gesellschaft umfasst also nicht nur vielfältige, offene institutionelle Strukturen von Governance und Kontrolle, wie sie bisher in der wissenschaftlichen Fachliteratur untersucht wurden, sondern setzt

 tigen Aufrechterhaltung der KP-Legitimation finden sich in den Sammelbänden von Lee und Hsing 2010 sowie von Laliberté und Lanteigne 2008.



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durch mittelbare Mechanismen der Norm(alis-)ierung auch direkt beim Individuum an. Hierfür werden die Technologien des Selbst im Rahmen der Machttechnologien der Biopolitik relevant, die eine Normalisierungsgesellschaft zum Standard setzen. Mit dem Ziel der Lebenssicherung und -organisation werden die Subjekte an einer spezifisch festgesetzten Norm gemessen und ausgerichtet. Dies setzt Wissenssysteme und symbolische Systeme voraus, die bestimmten Arten des Wissens und Sprechens Autorität verleihen und sie zur gesellschaftlich festgesetzten Routine machen. Hier geschieht eine oftmals unbemerkte Verwebung der Einflussnahme politischer Machttechnologien auf die individuelle Identitäts- und Lebensgestaltung qua Definitionsautorität der anzustrebenden Normalität, welche zu jenen unsichtbaren semiotischen Codes wird, die das alltägliche Verhalten organisieren und die Interaktionsrituale des Selbst strukturieren. In diesem Prozess der Gouvernmentalität, den Assemblagen aus staatlichen Regierungspraxen und Selbstregierungspraxen jedes einzelnen sozialen Akteurs und Akteurin werden unterschiedliche Institutionen der Kategorisierung, Normierung und Kontrolle von individuellen Bedürfnissen wirksam, die, weit über die reine Kontrolle ökonomischer Produktivität hinausgehend, auch die unterschiedlichen Weisen, wie wir in modernen Gesellschaften gelernt haben zu leben, lenken. Auf all diese in China wirksamen biopolitischen Strategien – von der Geburtenkontrolle bis zum SARS-Krisenmanagement – soll und kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.2 Stattdessen soll der Fokus weiterhin auf die spezifischen Strategien und Methoden der Konstruktion von sozialer Norm und mögliche Gouvermentalitätsansätze qua Geschlecht im Genre der Frauenratgeber gerichtet bleiben. Denn Ratgeber nehmen eine bedeutende Position in der Vermittlung von konstruierten Normalitätserwartungen ein, indem Beratung zur Schlüsselkompetenz von Subjekten in einer neoliberal regierten und neosozial organisierten Gesellschaft avanciert. Sie wird über den Umweg der Selbsttechnologie mit sozialitätsstiftender Wirkung zu einer Regierungstechnologie (Maasen 2011: 17). Unter diesem Aspekt ist auch die Popularität des therapeutischen Diskurses seit den 1990er Jahren zu betrachten. Hilfseinrichtungen wie psychologische Beratungsstellen und lebensberatende Publikationen erhalten den Segen und oftmals sogar Unterstützung von Staat und Partei, da sie ebenfalls eine Form der

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Vgl. dazu Greenhalgh und Winckler 2005, Greenhalgh 2008, Lu 2007, Chen 2012, Wong und Zheng 2004, Kleinman und Watson 2006.

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willkommenen Umverteilung von politischer Verantwortlichkeit auf individuelle Akteure und Akteurinnen darstellen3: »[T]he Cultural Revolution itself and the changing requirements for a market-driven economy together have spawned a number of new and different social problems in China – among them, divorce, layoffs, dislocation, inadequate education, and mental distress. Psychological counseling represents a modern means of dealing with people’s distress that is ›scientific‹ rather than overtly political. As such it too has been gaining public and official acceptance as a means of addressing what are now seen as personal problems.« (Erwin 2000: 151)

Auch Yang Jie (2015) sieht im Aufschwung von therapeutischen Maßnahmen in China eine politische Strategie zur Kontrolle von so genannten »yinhuan« Personenkreisen. Damit sind Personen gemeint, die sich in potentielle oder versteckte Gefahrenherde für die soziale und politische Stabilität entwickeln können, wie z.B. Arbeitslose, Obdachlose, sozial und ökonomisch Benachteiligte, etc. Sie werden bereits auf grassroot-Ebene aufgefangen, indem die Nachbarschaftskommitees als kommunale Ebene statatlicher Politik mit der Ausführung elementarer gemeindschaftlicher Hilfe und Wohltätigkeit beauftragt werden. Vertreter der Nachbarschaftsviertel bieten somit auf staatliche Anweisung hin potentiell gefährdeten Personen mit verschiedenen Techniken des therapeutischen Diskurses psychologischen Beistand und »Hilfestellung« an wie zum Beispiel durch die Praktiken des »wen nuan« (wörtlich: Wärme senden; bezeichnet psychologische Gespräche um eine emotionale Verbindung aufzubauen) oder durch »peiliao« (wörtlich: jemanden zur Konversation Gesellschaft leisten; eine Art Gesprächstherapie). Diese von außen induzierte »Hilfe zur Selbsthilfe« gehört laut Yang als »therapeutic governance« zu einer der wirksamsten Strategien chinesischer Sozialpolitik. Inwiefern Beratung mit sozialpolitischen Agenden korreliert und diese auf die individuelle Handlungsebene herunter bricht, zeigt sich beispielsweise auch in der Propagierung konfuzianischer Tugendideale in chinesischen Frauenratgebern. Dass moralische und ethische Eigenschaften in Frauenratgebern Erwähnung finden, mag insbesondere den westlichen Leser erstaunen, welcher aus den

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So wurde beispielsweise die 1990 ins Leben gerufene »Women’s Hotline« vom Parteiorgan der Frauenkaderschule Shanghai betrieben und die beratenden Experten wa-



ren durchweg Mitglieder der KPCH.

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europäischen und amerikanischen Pendants vor allem eine stark individualistische Fokussierung auf das in den Ratgebern spezifisch behandelte Problem gewohnt ist. Nur selten finden sich darin allgemeine Aufforderungen, sich zu einem »besseren Menschen« und wertvollen Mitglied der sozialen Gemeinschaft durch die Übernahme von sozialer Verantwortung zu qualifizieren; vielmehr geht es in diesen zumeist einzig um die Erfüllung individueller Wünsche. Daher stellt sich die Frage, wie die chinesischen Frauenratgeber, die sich ausgerechnet mit Verhaltensnormen für eine bessere soziale Verträglichkeit befassen und daher auf den ersten Blick unvereinbar mit der Idee einer individualistischen Selbstverwirklichung erscheinen, aus der Perspektive feministischer Emanzipation einzustufen sind. Bei einer populärwissenschaftlichen Klärung dieser Frage wird gerne vorschnell auf kulturelle Interpretationsansätze zurückgegriffen und auf das traditionelle kulturelle Erbe Chinas rekurriert, um Parallelen zwischen der Frauenrolle im antiken China und in gegenwärtigen Diskursen, wie sie in den Ratgebern und Medien geführt werden, aufzuzeigen. Doch dieses Phänomen einfach mit Nachwirkungen traditioneller konfuzianischer Gesellschaftsstrukturen zu erklären, wäre zu kurz gegriffen und ließe zahlreiche Entwicklungen des modernen Chinas außer Acht. In der Tat gestalteten sich die Auswirkungen der sozialistischen Phase Chinas derart tiefgreifend, dass heute kaum noch von tatsächlichen Überlieferungen früherer Traditionen und Bräuche die Rede sein kann. Stattdessen sind jene Sitten, Rituale und Stätten, die heute mit dem traditionellen China assoziiert werden, zumeist das Resultat moderner Rekonstruktionen, gewissermaßen eine »reinvention of tradition«.4 Ein Produkt dieser Wiederbelebung jener, der traditionellen chinesischen Kultur zugeschriebenen, tatsächlich jedoch im aktuellen soziopolitischen Rahmen angesiedelten Denk- und Verhaltensweisen ist die Revitalisierung konfuzianischer Werte im Zuge des Neukonfuzianismus als geistig-moralischer Unterbau der chinesischen Gesellschaft. Zwar hat diese Bewegung ihre Anfänge jenseits politischer Implikationen und wurde vor allem von chinesischen Intellektuellen mit westlichem Bildungshintergrund als Gegenpol zum ideologischen und moralischen Vakuum seit Beginn der Wirtschaftsreformen ins Leben gerufen, doch hängt ihre gesamtgesellschaftliche Ausweitung und das Herunterbrechen der anfänglich stark philosophisch ausgerichteten Abhandlungen zu populären,

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Siehe Zhang Xudong 2008 zur Rekonstruktion von »Tradition« im chinesischen Film und Bailey 2007 zu Konstruktionen von traditioneller Weiblichkeit in der Republikzeit.

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alltagsnahen Bestsellern ebenfalls mit der Entlastung politischer Verantwortlichkeit und der Abwälzung sozial- und rechtsstaatlicher Verantwortlichkeiten auf individuelle Akteure und Akteurinnen zusammen und kann als eine gouvernmentalitätswirksame Strategie der Verteilung von Verantwortlichkeit für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Harmonie, die auf die Mobilisierung der einzelnen Bürger/innen abzielt, gesehen werden. Die ursprünglich in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von westlichen Wissenschaftlern als Erklärungsmodell für das asiatische Wirtschaftswachstum herangezogenen »asiatischen Werte« und der Rekurs auf Traditionen, denen ein konfuzianischer Ursprung unterstellt wurde, erlangte auch innerhalb Asiens rasch Popularität, um die mangelnden Demokratisierungsbestrebungen autoritärer Regime zu erklären. Doch nicht nur für die politische Legitimation ließ sich der Konfuzianismus gut verwenden, auch bei der Bekämpfung von sozialen und ökonomischen Problemen schien die Wiederbelebung konfuzianischer Tugenden zumindest einen vielversprechenden Ansatz zu bieten. Die Wiederbelebung von ethischen Qualitäten wie Mitgefühl, Gerechtigkeit, Fürsorge, Bescheidenheit und Nächstenliebe gemäß der konfuzianischen Ausdehnung der Familienbeziehungen auf alle Gesellschaftsmitglieder könnten als Lösung für diverse gesellschaftliche Probleme dienen. Insbesondere seit den Reformjahren gehören soziale Ungleichheit, innergesellschaftliche Spannungen durch ökonomisches Gefälle, das Auseinanderdriften von Gesellschaftsgruppen bis hin zum Zerbrechen von Gemeinschaften, den rapiden Verlust eines verbindlichen moralischen Wertekanons und gültiger Handlungsnormen, übertriebene Individualisierung und urbaner Hedonismus zu den sozialen Brennpunkten. Zugleich bestärkte die Finanzkrise 1997 diesen Trend des Neukonfuzianismus, indem die Instabilität der Märkte eine veränderte Sicht auf die negativen Seiten des westlichen Kapitalismus eröffnete und die bisherige Wirtschaftsausrichtung und -entwicklung infrage stellte. Statt weiter die Aufholjagd mit dem Westen fortzusetzen, fand eher eine Umkehrung der bisher eher postkolonialistisch geprägten Beziehung zum Westen statt. Statt weiter dem Westen als Ideal und Vorbild nachzueifern, wird die Universalität des westlichen Werte- und Denksystems infrage und ihm das chinesische Modell als positiver Kontrast gegenüber gestellt. Vertreter des konfuzianischen Humanismus wie Tu Weiming und Jiang Qing verweisen auf die Missstände der Moderne im Bezug auf soziales Kapital, kulturelle Kompetenz, ethisches Bewusstsein und geistige Werte als Preis für das schnelle ökonomische Wachstum. Eine tragfähige Wertebasis kann nach Tu Wei-ming aber nicht auf Materialismus, Rationalität und Progressivität allein gründen, vielmehr könne nur eine gesamtheitliche kulturelle Identität, die durch eine Auseinandersetzung mit den Dichotomien des Eige-

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nen/Fremden, Traditionellen/Modernen herausgearbeitet werden müsse, in allen Bereichen neue Orientierung geben. Denn sämtliche politische und gesellschaftliche Agenden, die auf einer technokratischen Mentalität ohne Bezug zu Kultur und Ethik gründen, seien nicht nachhaltig (Tu 2010: XVI). Die Rückbesinnung auf »eigene«, traditionelle Werte verkörpert zugleich aber auch ein neues chinesisches Selbstbewusstsein. Begünstigt durch den wirtschaftlichen Erfolg, machen sich in China zunehmend Tendenzen bemerkbar, die vor allem eigenständige chinesische Leistungen und Erfolge im Modernisierungsprozess hervorstellen. Darunter fällt auch der Konfuzianismus als eine wichtige kulturelle Errungenschaft und die Essenz von »Chineseness«. Im Zuge der Suche nach einer authentischen kulturellen Identität zeigt sich ein China, »that will not be shaped in the image and likeness of the West, but is on its way to realizing a Confucian culture« (Fan 2010:1). Die Distanzierung Chinas vom Westen insbesondere in moralischen und sozialen Fragen zeigt sich beispielsweise in der Verurteilung westlichen »unmoralischen Verhaltens« wie Homosexualität, Promiskuität, die Auflösung von Familienstrukturen und Alleinerziehende, welches der Auslöser für soziale, psychische und physische Krankheiten sei. Hiervon möchte sich China als Hort einer »besseren«, nämlich traditionell konfuzianisch geprägten Moral abgrenzen bzw. einen Gegenentwurf zur westlichen Moderne, der deren negative Begleiterscheinungen ausklammert, formulieren. So herrscht oftmals die Vorstellung vor, es ließen sich ausschließlich eine westliche Moderne und ein kapitalistisches Gesellschaftssystem ohne deren negative Facetten adaptieren, indem die westlich orientierte Modernisierung auf geistiger Ebene gleichzeitig mit traditionellkonfuzianischer Moral- und Gesellschaftsphilosophie verknüpft wird. Diese Vorstellung gewinnt insbesondere seit den 1990er Jahren an Popularität, seitdem die sozialen Schattenseiten der Modernisierungspolitik immer deutlicher zutage treten. Klagen über den Verlust humanistischer Werte zugunsten kapitalistischen Erfolgsstrebens werden laut und Monetarismus gilt als ebenso verhasstes wie begehrtes Zeitgeistphänomen: »The most distrubing aspect of China's social perils […] is the chaos within China's social value system, a result of years of neglect and the incompetent upkeep and cultivation of more positive Chinese values. […] [I]t was a clear indication that the society had lost its basic values and behavior codes. Money-worshipping is everywhere. Some people believe that all methods are justified as long as money can be obtained. There is a widely circulated notion that people are being laughed at for being poor instead of being in prostitution.« (Han 2008: 16)

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Dem soll die Reinstallation eines in seinen Grundzügen universell humanistischen, konkret jedoch Konfuzius zugeschriebenen Moral- und Wertekanons zur »Harmonisierung« zwischenmenschlicher Beziehungen entgegenwirken. Ein weiterer Hintergrund dieser Suche nach »neuen Werten« ist der soziostrukturelle Übergang von persönlichem Vertrauen zu sozialem Vertrauen als eine der gesellschaftlichen Auswirkungen der Modernisierung. Während in der kollektivierten Gesellschaft der 50er und 60er Jahre Vertrauen vor allem durch langjährige direkte, persönliche Verbindungen zu sich im Gesellschaftsgefüge nahestehenden Akteuren und Akteurinnen (z.B. durch Verwandtschaftsbeziehungen oder lebenslanger Zuteilung zu Arbeitseinheiten) gebildet wurde, kam dieses ab den 80er Jahren durch die steigende Mobilität und Freisetzung des Individuums aus seinem gesellschaftlichem Umfeld kaum noch zustande. Statt auf Familie, langjährige Arbeitskollegen und die Nachbarschaftsgemeinschaft zu vertrauen, muss nun eine neue Art Vertrauen zwischen Fremden, die keinerlei Bezug zueinander haben, aufgebaut werden: »In such a society of strangers, social trust is more important than personal trust and morality is based on universal values. Social trust is understood as a more generalized trust in social institutions that will behave in accordance with the stated rules; in experts who will guard the rules to make the institutions work well; and also in strangers who will work for peaceful and non-harmful social interactions.« (Yan 2009: 285)

Soziales Vertrauen bedarf eines einheitlichen moralischen Wertekanons, der durch seine allgemeine Verbindlichkeit Handlungssicherheit und Erwartungshorizonte vorgibt. Hierfür eigenen sich gut universelle Werte wie Nächstenliebe, Toleranz und Respekt, wie sie auch der konfuzianischen Idee zugeschrieben werden, doch deren gesellschaftliche Gültigkeit befindet sich noch in einer Aushandlungsphase mit sowohl positiven als auch negativen Beispielen.5 Doch bei der Wiederbelebung konfuzianischer Werte und Konzepte geht es nicht nur um einen ostasiatischen Gegenentwurf zur westlichen Moderne oder um die Reetablierung eines Moral- und Wertekanons in der Gesellschaft. Durch Rekurrenz auf die dem Konfuzianismus zugeschriebenen Werte und Verhal-

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Als positives Beispiel nennt Yan u.a. die Hilfsbereitschaft der Gesamtbevölkerung nach dem Erdbeben in Sichuan 2008, als negatives die zahlreichen medialen Enthüllungsberichte über Lebensmittelskandale, wo bewusst schädigende Substanzen verarbeitet wurden (vgl. Yan 2009: 285f.).



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tensweisen werden sozialpolitische Aufgaben des Staates partikularisiert und auf das Individuum übertragen. Durch den Prozess der Internalisierung der Aufgaben durch die Technik der Selbstkultivierung wird zugleich ein neues Bewusstsein für die soziale Verantwortung des und der Einzelnen erzeugt und ein moralischer Imperativ geschaffen, der von mangelnder staatlicher Verantwortungsübernahme oder gar Versagen ablenkt. Dieser Prozess der Umverteilung gesellschaftlicher Verantwortung auf private Akteure und Akteurinnen lässt sich unter anderem auch bei der Verbreitung von NGO-Aktivitäten und Social Entrepreneurship in China in den vergangenen zehn Jahren beobachten. Diese übernehmen auf der Mikroebene oftmals die Aufgaben, die eigentlich zu den Angelegenheiten staatlicher Sozialpolitik gehören sollten und entlasten damit einerseits die politischen und ökonomischen Kapazitäten des Staates, während sie zugleich dessen Legitimität nicht untergraben, indem die Arbeit der NGOs nicht als Ersatzhandlung, sondern als selbstgewollter, freiwilliger Beitrag zur sozialen Verantwortung deklariert wird. Deshalb wird Wohltätigkeitsarbeit in China von staatlicher Seite zumeist begrüßt und gefördert, indem z.B. seit 2012 Staatsbetriebe und private Unternehmen auch auf Provinzebene aufgefordert werden, jährliche Berichte über ihre CSR-Aktivitäten (Corporate Social Responsibility Projects) abzuliefern. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Aktivitäten und Versuche, das Netz an Wohltätigkeit zu verstärken und auszubauen (siehe NGO 2.0. oder Net Impact Shanghai).

H YBRIDE G ESCHLECHTERIDENTITÄTEN K ONFUZIANISMUS UND F EMINISMUS

ZWISCHEN

Durch das Revival des Neu-Konfuzianismus als moralphilosophische und ethische Gesellschaftsgrundlage befassen sich auch insbesondere chinesischstämmige Wissenschaftlerinnen außerhalb der VR China im 21. Jahrhundert wieder vermehrt aus einer positiven Warte mit dem Verhältnis von Konfuzianismus und Feminismus. Im Zuge der Wiederbelebung konfuzianischer Klassiker in Form einer Neuinterpretation des Urtextes – das meint insbesondere das Buch der Wandlungen, das Buch der Lieder, Buch der Urkunden und Buch der Riten – rückte auch die Exegese der Geschlechterfrage im Lichte konfuzianischer Schriften wieder in den Fokus. Dies ist insofern beachtenswert, als dass diese Frage bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig geklärt schien und im folgenden Jahrhundert nur selten erneut aufgegriffen oder gar alternativ interpretiert worden ist. Bereits im Rahmen der 4. Mai-Bewegung und der allgemeinen Verurteilung des Konfuzianismus als Überbleibsel der Feudalzeit und

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Grund für gesellschaftliche Missstände sowie politische Schwäche im China der Zeit, standen die Verfechter/innen der »Frauenfrage« sämtlichen konfuzianischen Regelwerken äußerst kritisch gegenüber. Gerade Frauen und ihre Behandlung wurden zum Symbol der Inhumanität (freiren) des konfuzianischen Systems, indem sie als die leidvollsten Opfer der konfuzianischen Gesellschaftsstruktur stilisiert wurden. Zur Untermalung dienten nicht nur abschreckende Zeugnisse von körperlichen Versehrungen wie dem Füße binden, sondern auch kulturelle Praktiken wie die arrangierte Zwangsehe, die Polygamie und das Familiensystem im Allgemeinen. Somit avanciert die Befreiung der Frau aus den vom Konfuzianismus auferlegten Fesseln zum Symbol des Fortschritts; die feministisch-emanzipatorische Bewegung wurde so als notwendige Stufe in der Entwicklung einer humanen Gesellschaft betrachtet (Wang 1999a: 13). Die Inhalte der Bewegung ähneln der der westlichen feministischen Bewegung: es geht um Gleichberechtigung in der Ausbildung und Anstellung, bei der politischen Partizipation, sowie im Bereich Liebe und Familie. Zeugnis der zahlreichen Debatten der Republikzeit bieten vielzähige Publikationen von führenden Persönlichkeiten der Zeit wie Kang Youweis »Datong shu« (erstmals veröffentlicht 1903, komplett veröffentlicht 1935) Hu Shi’s »American Women« (1918), Jin Tianhes »Nüjie zhong« (1903), Zhou Zuorens »On Chastity« (1918) sowie auch die rasante Verbreitung von westlichen Werken mit emanzipatorischem Unterton wie Ibsens »Nora oder Ein Puppenheim« (Aufführungen ab 1918). Auch wenn die emanzipatorische Welle mit dem Auslaufen der 4. MaiBewegung ab den 1925er Jahren stark an Schwung verlor und sich vor allem unter Führung der Nationalisten ein eher konservatives Frauenbild durchsetzte, so blieb der Konfuzianismus dennoch weiterhin das Schreckgespenst weiblicher Selbstbestimmung. Auch nach Gründung der Volksrepublik 1949 bestand ein Großteil der sozialistischen Frauenpolitik darin, die Frauen bis in die abgelegendsten Ecken des Landes aufzuklären und vom feudalen Aberglauben und Überresten von konfuzianisch basierten Gesellschaftsstrukturen zu befreien. Tatsächlich erfolgten in dieser Zeit zahlreiche Reformen zur Verbesserung und rechtlichen Absicherung des Status der Frau, wie unter anderem das Ehegesetz 1951, Bodenreformen etc. Natürlich mag man aus heutiger Sicht über die Stellung der Frau im sozialistischen China streiten (vgl. Wolf 1986, Evans 1997), doch zumindest im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen der Frauenfrage ist eindeutig festzustellen, dass hierbei der Konfuzianismus fast im gesamten 20. Jahrhundert keine Rolle spielte. Erst im Zuge des Revivals des Neukonfuzianismus, der den konfuzianischen Grundgedanken »unverfälscht« aus den Urtexten der Han-Zeit herausfiltern und

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nach dieser Befreiung von allen historischen Altlasten, die durch die jahrhundertelange Tradition der stetigen Neuauslegung angeblich zu einer Verfälschung der ursprünglichen Aussagen führten, die Inhalte durch eine Einbettung in heutige Lebensverhältnisse aktualisieren möchte, wurde erstmals wieder versucht eine positive Verbindung zwischen Konfuzianismus und Gendertheorien herzustellen. So wurde auch die geschlechterspezifische Analyse von historischen konfuzianischen Frauenschriften einer erneuten Lesart unterzogen. Besonders der »Klassiker der vier Schriften« für Frauen (Nü sishu) mit den Bänden des »Nüjie« von Ban Zhao aus der Han-Zeit, das »Nülunyu« von Song Ruoxin und Song Ruozhao der Tang, das »Nei xun« von Königin Wen der Ming und das »Nüfan jielun« von Wang Xiangs Mutter Liu der Qing-Zeit werden zum Gegenstand der Untersuchung, um den bisher geltenden Widerspruch von Konfuzianismus und Feminismus zu widerlegen. Dieser Rückgriff auf traditionelle Quellen resultiert weitestgehend aus den Ergebnissen des postkolonialen Diskurses, der zu einer generellen Infragestellung von aus den Westen importierten Ideen und Theorien – wie eben auch dem Feminismus – führte. Die postkoloniale Emanzipation kritisiert vor allem den eurozentrischen Autoritarismus, der andere Kulturen eine Hierarchie aufzwingt, in der der Westen als einziger Lieferant für Theorien eine dominante (Macht-)Stellung inne hat. Diese koloniale Situation kann nach Vertretern des Neukonfuzianismus nur umgangen werden, wenn das Missverständnis des Konfuzianismus im feministischen Diskurs aufgehoben wird und dadurch eine indigene Alternative, einer feministischen Theorie innerhalb konfuzianischer Ethik, konstruiert werden kann, um einen feministischen Raum innerhalb konfuzianischer Tradition freizulegen (Rosenlee 2006: 149). Einen ersten Ansatzpunkt für die Vereinbarkeit wie auch für die Notwendigkeit der Neubetrachtung des Verhältnisses von Konfuzianismus und Feminismus finden Vertreterinnen wie Rosenlee im Konzept von »Frau« bzw. »Frausein«, welches sowohl im Feminismus als auch im Konfuzianismus anstatt als biologische Determinante als rein kulturell und sozial definierte und überformte Kategorie betrachtet wird. Durch Dekonstruktion wird der Begriff »Frau« an sich unmöglich, weil es »die Frau« als essentielle Kategorie nicht gibt und nur im jeweils spezifischen kulturellen Kontext verstanden werden kann. Dies setzt nun im postmodernen feministischen Diskurs im interkulturellen Kontakt den Einbezug von kulturellen Spezifika zur Schaffung eines grundsätzlichen Geschlechterverständnisses voraus. Voraussetzung hierfür ist die Loslösung aus der eurozentrischen Denktradition, die die Frauen der dritten Welt marginalisiert, unter den Generalverdacht der Unaufgeklärtheit stellt und meist als Opfer einer »unzivilisierten« Tradition stigmatisiert. Daher machen es sich die Verfechterinnen des Neukonfuzianismus zur Aufgabe durch eine neue Lesart der konfuzianischen

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Ethik die Agency und Moderne von indigenen chinesischen Gendermodellen zu beweisen. Dazu müssen die einzelnen Elemente des Konfuzianismus von historischen Sedimenten befreit und »richtig« interpretiert und gemäß ihrer Aktualität unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen neu bewertet werden. Rosenlee konstruiert ihre Theorie einer hybriden konfuzianischen Identität vor allem auf der Grundlage der kindlichen Pietät, die auf alle sozialen Beziehungen ausgeweitet wird. Demzufolge geht sie von der Grundannahme aus, dass sich Identität nur in einem Netz von sozialen Beziehungen entwickeln und sich nur in der Reaktivität und Widerspiegelung in der Interaktion mit dem Anderen ein Selbst konstituieren kann. Somit ergibt sich im Umkehrschluss, dass ein Mensch sich nicht nur durch seinen Umgang mit anderen konstituiert, sondern auch nur in seiner Rolle als soziale/r Akteur/in existiert, oder »[i]n other words, a person is a person only if it is a person-in-relations. Severance of all social relations, in a sense, makes oneself unpersoned« (ebd.: 155). Dementsprechend beinhaltet die Selbst- und Fremddefinition immer eine gewisse soziale Qualifikation, die den »Wert« einer Person bestimmt. Die Einordnung in ein soziales Netzwerk schafft also nicht nur Identität, indem eine bestimmte, zugewiesene Rolle (z.B. die des Vaters/der Mutter, des Ehemanns/der Ehefrau, des Sohnes/der Tochter) übernommen wird, sondern erfordert auch ein entsprechendes Verhalten und das Ausführen von rollenimmanenten Operationen. Die Erfüllung dieser Anforderungen wird mit dem Konzept der »ren« (Humanität) durch die Inkorporierung bestimmter moralischer Normen gewährleistet. Dies entspricht nicht der westlichen Vorstellung von Humanität, die nach Hobbes und Locke von einer voraussetzungslosen Anerkennung der Gleichheit aller Menschen unabhängig ihrer sozialen »Leistungen« ausgeht, indem sie ihnen aufgrund der metaphysischen Annahme, alle seien gleichermaßen Geschöpfe Gottes, bereits per se Menschlichkeit zuschreibt. Durch die Hervorkehrung der sozialen Identität als die maßgeblichste Komponente des Menschseins ist die Eingliederung ins soziale Netzwerk ein wichtiger Prozess. Dieser geschieht über das Prinzip der Ausweitung der kindlichen Pietät als grundlegendstes Handlungsmuster gegenüber allen Personen. Rosenlee nennt das Konzept der gegenseitigen Abhängigkeit in sozialen Beziehungen den »starting point of being human«: »The point of emphasizing the importance of filial piety is to transform the conventional lineal relationships between the caring and the cared-for into a reciprocal one, so that there is no ›naturalized‹ duty or obligation required of one toward the other without reciprocity. Filial piety is the gateway to humanity at the minimal level. One’s genuine care for others is the starting point of being human, without which one is not entitled to anything in

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return. There is, in a word, no entitlement without qualification in Confucian ethics.« (Ebd.: 155)

Dies bedeutet, dass alle sozialen Akteure und Akteurinnen in ein Geflecht aus reziproken Beziehungen eingebunden sind, das für sie entweder die Rolle des fürsorglichen »Beschützers« (Elternrolle) oder des gehorsamen »Kindes« (Kinderrolle) mit den jeweiligen spezifischen Verantwortungen und Aufgaben vorsieht. Damit ist die Einhaltung dieser »Rolle« ein bedeutsames Kriterium für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und das Funktionieren gesellschaftlicher Interaktion, da durch die Performanz entsprechender Rollenmuster soziales Handeln vorausseh- und kontrollierbar wird. Ein in den Ratgeberbüchern zitiertes Fallbeispiel untermalt dieses Prinzip bildlich: Es handelt von einer jungen, promovierten IT-Spezialistin auf Jobsuche. Trotz hervorragender Qualifikationen findet sie jedoch keine Anstellung. Da beschließt sie alle akademischen Würden abzulegen und sich ohne Zeugnisse auf eine durchschnittliche Stelle zu bewerben und wird prompt sofort eingestellt. Im Arbeitsprozess erkennt ihr Chef bald ihre wahren Fähigkeiten und befördert sie auf die ihr aufgrund ihrer Qualifikation eigentlich zustehende Position (Li 2011: 64). Die Rollenverteilung tritt deutlich hervor: die IT-Spezialistin unterwirft sich als Angestellte und gibt jegliche Autoritätsansprüche, wie sie ihr ihre Qualifikation eigentlich verleiht, auf. Dafür wird ihr Chef wiederum seiner Rolle des wohlwollenden »Vaters« gerecht, der selbstlos die Talente seiner Untergebenen fördert. Hier wird von einer reziproken Beziehung zwischen Angestellten und Vorgesetzten ausgegangen, die mit einer Art von konfuzianischem Herrscher-FürstVerhältnis gleichgesetzt wird. Während es dem und der Angestellten unterliegt, seine Fähigkeiten loyal für die/den Vorgesetzte/n einzubringen, obliegt diesen die Anerkennung und Belohnung der Leistungen. So soll der/die Angestellte zum Beispiel berufliche Erfolge mit allen teilen, anstatt für sich alleine zu reklamieren. Besonders dem/der Vorgesetzten soll ein gewisser Anteil der Lorbeeren für den Erfolg überlassen werden, auch wenn diese/r im tatsächlichen Arbeitsprozess gar nicht involviert war. Doch aus der Perspektive der Ratgeber liegt die Mitwirkung und Leistung des/der Vorgesetzten darin, dass er/sie dem oder der Untergebenen diese Chance, sich zu bewähren und Erfolg zu erlangen, überhaupt erst gegeben hat. Zudem wird erwartet, dass der/die Vorgesetzte sich entsprechend revanchiert, indem der/die Untergebene z.B. durch Beförderung belohnt wird (ebd.: 71). Das Prinzip der Reziprozität wird auch auf das Geschlechterverhältnis übertragen. Mit der Begründung einer Zweigeschlechtlichkeit werden beide Ge-

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schlechter binär und komplementär zueinander angelegt und dementsprechend werden auch quasi-hierarchische Positionen vergeben. Da Männer als hart, kraftvoll, stark und rational charakterisiert werden, Frauen dagegen als weich, nachgiebig, emotional und sanft, ergibt sich daraus bereits ein Muster des gegenseitigen Verhältnisses: Männer nehmen die Beschützerrolle ein, während Frauen die untergeordnete, loyale Rolle des »pietätvollen Kindes« übernehmen. Es wird eine Reziprozität beider Geschlechter konstruiert: Frauen »erschaffen« und erhalten mit ihrer Sanftheit und Güte den Mann, dieser revanchiert sich mit einer starken Schulter und treuer und fürsorglicher Liebe zur Frau. Es geht nicht nur um die Ergänzung auf biologischer, körperlicher Ebene durch diametrale Eigenschaften und Voraussetzungen, sondern um eine gesellschaftliche Institutionalisierung als »natürlich« gesetzter Verhaltensweisen, die mit der Ausformulierung von normativen Geschlechterrollen einher geht. Dadurch dass die Frau als von Natur aus schwach, sanftmütig und passiv konstruiert wird, fällt dem Mann im gesellschaftlichen Diskurs aufgrund seiner »naturgegebenen« körperlichen und geistigen Vorteile die Rolle des Beschützers zu. Beispiele hierfür lassen sich u.a. in den konfuzianischen Klassikern finden, die aufgrund der Schwäche der Frau auf die Notwendigkeit männlicher Führung und Anleitung verweisen. Dieses System funktioniert aber nur unter der Voraussetzung von unbedingter Reziprozität, welche alle konfuzianischen Beziehungen kennzeichnet. Dies erfolgt durch eine Universalisierung und Erweiterung der ursprünglichen ElternKind-Beziehung auf alle anderen Beziehungsebenen. Dadurch ergibt sich nach diesem Grundmuster von kindlicher Pietät und elterlicher Autorität der klassische Kernkanon der so genannten »fünf Beziehungen« zwischen Himmel und Herrscher, Herrscher und Fürst, Vater und Sohn, Mann und Frau sowie älterem Bruder und jüngerem Bruder, welche sich jedoch beliebig erweitern lassen, indem jede soziale Beziehung zwischen zwei Menschen in eine hierarchische Struktur mit formal festgelegten gegenseitigen Verantwortlichkeiten transformiert wird. Durch Betonung der Reziprozität der konfuzianischen Rollenmuster ergibt sich für jedes Individuum ein spezifischer Handlungsrahmen gemäß seinen sozialen Beziehungen. Da jedoch der Mensch nur im Rahmen seiner sozialen Beziehungen existiert, ist eine Existenz jenseits des entworfenen reziproken Verhältnisses zwischen Autorität und Folgsamkeit nicht möglich. Der Vorteil dieser Hierarchisierung sozialer Konstellationen liegt in der Verringerung von Komplexität, indem der Umgang formal geregelt wird und dem Einzelnen durch die Vorgabe von bestimmten, einzuhaltenden Rollenmustern Handlungssicherheit verspricht. Daher dient die Einführung von vom Neukonfuzianismus beeinflussten Verhaltensmustern im Grunde nicht nur einer gesamtgesellschaftlichen Stabilisierung durch die Förderung des Gemeinwohls und das

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Pflegen eines sozialstaatlichen Geistes, sondern kann auch als individualistisches Streben nach Sicherheit in einer als unsicher und undurchschaubar charakterisierten Gesellschaft gedeutet werden. Denn solange die zugewiesene Rolle eingehalten wird, darf von der Gegenseite das gleiche erwartet werden. Damit sichert die Einhaltung dieser Rolle auch den Schutz der Frau durch den Mann. Wie im oben zitierten Fallbeispiel erwähnt, kann die Frau durch das adäquate Verhalten eine reziproke Gegenreaktion erwarten und damit eine gewisse Erwartungssicherheit antizipieren. Dies erscheint sinnvoll in einer als unzuverlässig und unüberschaubar wahrgenommenen, gesellschaftlichen Umgebung, wo soziale und ökonomische Risiken nur noch schwer kalkulierbar sind. Angesichts steigender Scheidungsraten, auseinanderbrechender Familienkonstellationen, erodierender sozialer Institutionen und rapider Individualisierung und Nuklearisierung stellt das Konzept der Reziprozität eine Möglichkeit der Schaffung von Handlungs- und Erwartungssicherheit dar, indem die wegbrechenden Sicherheiten bisheriger gesellschaftlicher Institutionen auf die direkte soziale Beziehung übertragen werden. Gerade in einem Land, wo ein »rule by law« noch nicht in allen Bereichen gegeben ist, erscheint ein »rule by social ties« eine wichtige Alternative zur Sicherung eigener Interessen.

ANDERER W OHL , EIGENE S ICHERHEIT : AKTIVISMUS ZWISCHEN M ORAL , H UMANISMUS UND E IGENNUTZ Das Konzept der Reziprozität erfordert für seine Wirksamkeit die Einhaltung gewisser Verhaltensregeln, die im Allgemeinen gerne unter dem schwammigen Begriff eines zivilisierten (wenming) Benehmens zusammengefasst werden. In allen Ratgebern wird unisono vehement schlechten Eigenschaften wie Neid, Eifersucht, Selbstsucht, Egoismus und Ignoranz der Kampf angesagt – Charakteristika, die die individuelle Selbstoptimierung eigentlich nicht tangieren, sondern nur im Hinblick auf das gemeinschaftliche Wohl und somit überindividuell relevant sind. Nicht so jedoch in China: hier wirkt sich das soziale Verhalten laut den Ratgebern unmittelbar auf die eigene »Schönheit« aus – insofern impliziert insbesondere gerade weibliche »Schönheit« in gewisser Weise auch immer sozial verträgliche Schönheit. So empfiehlt Bo Han alle »negativen« Eigenschaften zu überwinden, wie z.B. mangelndes Vertrauen in andere, Eifersucht, Rückzug aus dem kollektiven Leben, etc. denn diese ließen einen kalt, distanziert und lieblos wirken und schadeten dementsprechend dem eigenen Image. Stattdessen solle man die Hilfe für andere sich selbst zum Lebensmotto machen und sich mehr um andere kümmern (Bo 2012: 65).

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Andere Ratgeber gehen durchaus expliziter darauf ein: Yan Yin fordert die Rezipientinnen auf, nicht arrogant und überheblich zu sein, sondern auch trotz bevorzugter sozialer und ökonomischer Stellung einfache Leute und Arme zu respektieren und gerne mit ihnen Umgang zu pflegen, um die eigene Natürlichkeit zu erhalten, denn »[w]ahres elegantes Verhalten kommt von Tugendhaftigkeit/Gutherzigkeit (shanliang), davon, dass man sich um andere Menschen kümmert« (Li 2008: 38). Betont werden hierbei Respekt, Hilfsbereitschaft und Höflichkeit, während Egoismus, Snobismus und Herablassung kritisiert werden. Zudem solle man immer eine helfende Hand für Schwache ausstrecken, sowie Barmherzigkeit, Toleranz, Bescheidenheit beherrschen und anderen den Vortritt lassen, und sich in andere hineinversetzen können, für sie denken und sie niemals bloßstellen (ebd.: 112). Dies gilt auch gerade für die Wahrung des gesellschaftlichen »Gesichtes« von anderen. So soll lieber eine Kränkung der eigenen Person hingenommen werden, denn aus seiner sozialen Rolle zu fallen und andere durch eine öffentliche Kritik ihres Fehltritts bloßzustellen. So berichtet eine Fallgeschichte davon, wie eine Frau die Affäre ihres Ehemannes mit einer Nebenbuhlerin entdeckt. Erzürnt darüber beschließt sie sich an dieser zu rächen und recherchiert in deren privatem Umfeld. Dabei entdeckt sie zahlreiche sexuelle Verwicklungen mit hochrangigen Persönlichkeiten, die alle mit der betreffenden Dame intim waren. Diese Informationen trägt die betrogene Ehefrau an die Öffentlichkeit und löst damit einen Skandal aus, der jene hochrangigen Personen in Mitleidenschaft zieht. Dieses Handeln wird jedoch nicht als Wahrheitssuche gelobt, sondern im Gegenteil schärfstens verurteilt: die Ehefrau habe zur Befriedigung ihrer eigenen, niedrigen Rachegelüste den Ruf und die Position mehrerer anderer Menschen beschädigt, anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es sei von ihr eine absichtlich boshafte und unsoziale Handlung vollzogen worden, sie habe damit das Unglück anderer zum Ziele gehabt, deshalb sei solches Verhalten zu verachten und werde von der Gesellschaft geächtet. In der Tat endet die Geschichte nicht damit, dass nicht die sexuell promiskuitive Nebenbuhlerin und ihre Liebhaber verurteilt und gesellschaftlich exkludiert werden, sondern die ursprünglich gehörnte Ehefrau (Li 2008: 68). An dieser Geschichte wird deutlich, wie normativ die Orientierung und Einhaltung von sozial korrekten Beziehungen und das Zurückstellen von privaten Bedürfnissen hinter sozialen Belangen gültig ist. Dies gilt auch übergreifend für Angehörige anderer sozialer Schichten. So raten die Ratgeber – die sich ja wohlgemerkt an wohlhabende White-CollarFrauen richten – dazu einfache und arme Menschen zu respektieren und jegliches arrogantes und überhebliches Verhalten aufgrund von realer oder eingebil-

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deter ökonomischer Überlegenheit abzulegen (Yan 2012: 38): Ein wahrhaft eleganter Mensch gibt nicht mit seinem Besitz oder Errungenschaften an, stellt sich nicht über andere, ist nicht eingebildet und versnobt: »Wenn man Glück hat, dann muss man nicht damit angeben und sich darin sonnen. Vor allem sollst Du nicht durch Vergleiche Deine Eitelkeit und Ruhmsucht befriedigen. Frauen, die sich andauernd mit anderen vergleichen und gut darstellen, sind nicht glücklich.« (Li 2008: 50). Da die Präsentation von materiellem Wohlstand und der Zugang zu Ressourcen wie bereits erwähnt ursprünglich zu den Distinktionsmerkmalen von Chinas neuer Mittelschicht gehörte, zeichnet sich mit dieser neuen Rhetorik der Bescheidenheit ein Trend zur Sublimation und zu immateriellen Strategien der sozialen Distinktion durch die verstärkte Repräsentation von kulturellem Kapital in Form von vorbildlichen gesellschaftlichen Umgangsformen ab. So zeigt sich die Kultiviertheit und Erziehung (xiuyang) eines Menschen auch im sozialen Umgang anhand seiner hilfsbereiten Haltung. Gleichzeitig ist dies zugleich die Ausgangsvoraussetzung für die eigene erfolgreiche Lebensgestaltung, denn wer »ungehobelt« (zulu) ist, dem bleibe Glück und Erfolg fern, denn dazu brauche es Respekt, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft (ebd.: 39). Doch daran mangele es laut der Autorin in der chinesischen Gesellschaft gegenwärtig sowieso, deshalb klagt sie über einen allgemeinen Sittenverfall: die Frauen auf der Straße seien überhaupt nicht zurecht gemacht, alle klagen, sie hätten keine Zeit für feinere Manieren und drängen in Bus und Fahrstuhl unkultiviert. Dabei assoziiert sie die von ihr diagnostizierte Niveaulosigkeit (meiyou suzhi) mit einem geistigen Mangel, welcher allein durch Selbstkultivierung und -beherrschung zu beheben sei. So lässt sie »Ausreden«, der allgemeine Zustand der Gesellschaft und das Geschlechterverhältnis sowie der Chauvinismus der Männer wären der Grund für das schlechte Benehmen der Frauen, nicht gelten, sondern fordert sie auf – anstatt sich zu beschweren – lieber an sich selbst zu arbeiten und sich zu verbessern, um mit der eigenen Perfektion und Brillanz eventuelle Ungleichheiten zu überwinden. Auch Wohltätigkeit wird explizit positiv besetzt. Es wird sogar eine Verbindung zwischen wohltätigem, humanistisch orientierten Handeln und weiblicher Schönheit hergestellt. So erzählt Xi Yangyang in einem Fallbeispiel von ihrem Gespräch mit einer Kollegin, welche sie bisher immer als relativ unattraktive graue Maus wahrgenommen hatte. Darin berichtet diese Kollegin von ihrer morgendlichen Begegnung mit einer Bettlerin, welche sie um Geld gebeten habe, da ihr Kind krank sei und das Geld für die Behandlung fehle. Sie gab der Frau daraufhin einen großzügigen Geldbetrag. Nun wird sie allerdings von ihren Kolleginnen verspottet, denn diese weisen sie darauf hin, dass dies nur ein Trick der Bettlerin sei an das Mitgefühl der Passanten zu appellieren, aber gar nicht

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der Realität entspreche. Anstatt sich zu ärgern, reagiert die Frau erleichtert, denn dann sei wenigstens kein Kind von Krankheit bedroht und dies sei doch eine gute Sache. Daraufhin erhält die Frau im Kollegenkreis ob ihrer Gutherzigkeit und Menschenfreundlichkeit höchsten Respekt und Anerkennung und auch die Autorin erklärt, sie sähe ihre Kollegin nach diesem Kommentar plötzlich in einem anderen Licht und erkenne ihre »wahre Schönheit« und könne nun verstehen, warum sich alle Männer zu ihr hingezogen fühlten (Xi 2012: 150). Dabei werden die Attribute der humanistischen Nächstenliebe in das weibliche Idealbild inkludiert: Gutherzigkeit (shanliang), Dankbarkeit (gan'en), Menschlichkeit (ren) und ein liebendes Herz (ai‘xin) werden als der größte Reichtum (caifu) einer Frau stilisiert (Li 2011: 8). Wie bereits aus dieser Geschichte ersichtlich ist, geht es in den Ratgebern nicht um die Vollbringung von großen Heldentaten, sondern um Manifestationen des allgemeinen Trends zum Mikroaktivismus (vgl. Lee/Hsing 2010). Jeder Mensch soll im Alltag gegenüber seinen Mitmenschen gute Taten vollbringen und soziale Verantwortung zeigen, z.B. indem er Bedürftigen in öffentlichen Verkehrsmitteln seinen Sitzplatz überlässt, alten Menschen oder Kindern über die Straße hilft, die Nachbarschaft mit Blumen verschönert oder den Müll trennt und Trinkwasser achtsam nutzt. Es werden keine großen Taten gefordert, vielmehr handelt es sich um die Aufforderung zu einer bewussten, ökologischen Lebensweise, die ihre Wirkkraft im Kleinen sieht. Fallbeispiele handeln davon, wie Frauen, die sich in ihrem Hausfrauendasein langweilen, in der Nachbarschafts- und Gemeinschaftsarbeit aktiv werden, in Kindergärten oder Krankenstationen aushelfen oder einfach nur öffentlichen Raum mit Blumen bepflanzen, um ihre Mitmenschen ästhetisch zu erfreuen. Wichtig ist dabei vor allem die Entwicklung eines prinzipiellen Bewusstseins für die Übernahme von sozialer Verantwortung gemäß des sozialpolitischen Plans der Harmonischen Gesellschaft. Der Ratgeberdiskurs versucht mit der Verknüpfung weiblicher Geschlechtscharakteristika und Wohltätigkeit – die sprichwörtliche Vereinigung von Schönem und Gutem – das Bewusstsein für die Rolle der Einzelnen zu schärfen und durch die Herstellung von positiven Kausalzusammenhängen – alle Akteurinnen in den Fallgeschichten erfahren dementsprechende Anerkennung – zur Nachahmung aufzufordern. Sie gehen insofern mit der aktuellen politischen Agenda konform und brechen als ein Mittel der Biopolitik politisch-ideologische Ziele auf eine individuelle Ebene herunter, indem sie zur Konstruktion eines spezifischen sozialen Normenstandards beitragen. Doch sollte bei der Vermittlung von Selbstregularien im Namen von neukonfuzianischen Tugenden die politische Einflusssphäre nicht überschätzt werden. Zwar finden sich darin zahlreiche Referenzen auf das sozialpolitische Programm

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der Harmonischen Gesellschaft, doch finden sich auch Verweise, dass entsprechende Handlungen auf Mikroebene keineswegs nur aus Gründen der Normentsprechung oder gar der reinen Philanthropie aufgegriffen werden. Stattdessen wird darin auch immer ein individualistisches Moment sichtbar, indem der Zusammenhang zwischen Tugendhaftigkeit bzw. Gutmenschtum und persönlichem Vorteil herausgestellt wird. Dadurch ist tugendhaftes Verhalten gleichzeitig auch immer von pragmatischen und instrumentellen Kalkulationen motiviert. So mag ein Grund für einen freundlicheren Umgang mit wirtschaftlich nicht ganz so gut gestellten Bevölkerungsgruppen im so genannten »Reichen-Hass« (choufu), ein zunehmender öffentlicher Ausdruck des Ärgers und der Ablehnungshaltung gegenüber wohlhabenden Schichten, liegen (Zhang 2008: 55). Dabei wird sehr reichen Bevölkerungsschichten eine »ursprüngliche Schuld« (yuanzui) für die heutigen Missstände in der chinesischen Gesellschaft zugewiesen und kritisiert, dass ihr Reichtum in den meisten Fällen durch unlauteres Vorgehen und moralisch und/oder rechtlich nicht legitime Praktiken wie der Unterschlagung von Volkseigentum oder Korruption erzielt wurden. Zudem isolieren sich wohlhabendere Kreise bewusst vom Rest der Gesellschaft und kommunizieren diese soziale Distinktion auch deutlich z.B. durch die Exklusion anderer Gruppen aus bestimmten Räumen (Gated Communities, LuxusEinkaufs- und Vergnügungscenter, exklusive Clubs) oder materielle Statussymbole wie hochpreisige Luxusautomobile, wodurch soziale Ungleichheit eklatant ins Auge sticht und zunehmend Unmut erzeugt. Gerade die so genannte »Zweite Generation der Reichen« (fu erdai), also die Kinder von hohen Parteifunktionären oder in der Wirtschaft zu Wohlstand gekommenen Eltern, sind in China geradezu verschrien für ihre elitäre und snobistische Haltung, welche sich in ihrer menschenverachtenden Haltung gegenüber ökonomisch schlechter gestellten Personen zeigt. Mitglieder dieser Rich kids tauchen vor allem in medial ausgeschlachteten Skandalen um Orgien der unmäßigen Verschwendung und um die Missachtung von Recht und Gesetz und jeden moralischen Anstands sowieso auf. So erregte die mediale Berichterstattung über zahlreiche Fälle von Diskriminierung und Misshandlung unterpriviligierter Bürger und teilweise auch die schlichte Missachtung von Gesetzen oder der grundlegenden Menschenwürde, indem sich Wohlhabende durch Korruption über das Gesetz stellen bzw. dieses nach ihren Wünschen biegen, die Gemüter und fachte eine empörte öffentliche Diskussion über die Maß- und Regellosigkeit ökonomisch besser gestellter Schichten an. Dies wiederum führte zu einem gesteigerten Unsicherheitsgefühl im Kreise wohlhabenderer Schichten, welche sich nun mit steigendem Lebensstil vermehrt der Gefahr von Übergriffen ausgesetzt und als Ziel krimineller Aktivitäten wie

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vor allem Diebstahl, Entführungen, Erpressungen und Sachbeschädigung sehen. Auch hier lösten mediale Berichte über Verzweiflungstaten sozial benachteiligter Personen eine abstrakte Panik aus, welche in erster Linie mit finanziellem Mehraufwand und technischer Aufrüstung (z.B. in Form von verstärkter Bewachung und Einsatz ausländischer Wach- und Servicekräfte) bekämpft wurde. Daher liegt es sowohl im Interesse von staatlicher Sozialpolitik als auch der betroffenen Individuen selbst, das Verhältnis zwischen arm und reich zu entspannen und gegenseitige Vorurteile abzubauen. Ein höfliches, respektvolles und zuvorkommendes Auftreten gegenüber sozial niedriger gestellten Personen kann somit als ein Mittel des Risikomanagements gesehen werden. Dieses erhält gerade für die mittlere und untere Mittelschicht besondere Bedeutung, da ihnen die extensiven ökonomischen Mittel einer völligen Segregation von anderen sozialen Schichten fehlen wie es beispielsweise die reiche Oberschicht praktiziert. Die Mitglieder der mittleren bis unteren Segmente der Mittelschicht sind gezwungen im praktischen Alltag noch in Kontakt mit wirtschaftlich benachteiligten Personengruppen zusammenzuarbeiten und gar zu leben (z.B. Servicepersonal und Haushaltskräfte). Aufgrund ihrer ökonomischen Überlegenheit qualifizieren sie sich zum gefährdeten Angriffspunkt, können sich jedoch keine gesonderten Abwehrstrategien leisten. Somit erscheint der freundliche und respektvolle Umgang ein probates Mittel, um einerseits soziale Konflikte und damit Unsicherheitsfaktoren möglichst zu vermeiden und um sich andererseits auch von wohlhabenderen Schichten zu distanzieren. Ähnlich dem Bürgertum im 18. Jahrhundert, das durch die strenge Einhaltung von Sitte und Norm sich vom als dekadent und moralisch verkommen stigmatisierten Adel abgrenzen wollte, kann die Rekurrenz auf Anstand und gutes Benehmen im chinesischen Gesellschaftsdiskurs der neuen Mittelschicht als Abgrenzungsversuch zu den in der öffentlichen Meinung in Verruf geratenen »verhassten Neureichen« gesehen werden. Es ist ein Abwägen der eigenen sozialen Position im Verhältnis zu unterlegenen und überlegenen Schichten durch die Etablierung gruppen- bzw. schichtspezifischer Verhaltensmerkmale (vgl. auch Yan 2009a zu neuen Vorstellungen des »guten Samariters«). Die Propagierung dem Konfuzianismus zugeschriebener Tugenden und Umgangsregeln kann aber nicht nur im Bezug auf die soziale Positionierung und der Ausbalancierung der Verhältnisse nach unten und oben betrachtet werden, sondern birgt auch konkrete individuelle Vorteile. So wird ein respektvoller und höflicher Umgang mit anderen auch deshalb empfohlen, um ebenfalls Respekt und Anerkennung vom Gegenüber zu erlangen und dadurch die sozialen Beziehungen zu verbessern. Motivation des Handelns ist somit nicht die reine Nächstenliebe, sondern vor allem die erhoffte soziale (Gegen-)Reaktion: bei anderen

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beliebt sein führt zu besseren Chancen, mehr Hilfestellungen und größeren Karriereaussichten. Zwar wird dieser Kausalzusammenhang in den untersuchten Werken nicht ganz so stringent dargestellt – sondern man solle als erstes von sich aus andere mögen, um seine Art und Charakter soweit zu verbessern, um die Gegenliebe der anderen zu erhalten –, doch zielen fast alle genannten Aktivitäten auf eine reziproke Gegenleistung ab – und sei es auch nur dass das nette Entgegenkommen anderer die eigene Laune steigere. Es wird in den Ratgebern kein Beispiel genannt, wo adäquates, freundliches Verhalten nicht umgehend »belohnt« würde und damit das System kompromittiert. Wer sich immer nett, höflich und hilfsbereit verhält, der erntet dafür ähnlich wie Hans im Glück auch selbst ein glückliches, erfolgreiches Leben. Dafür werden negative Erlebnisse umgehend auf das eigene mangelhafte Verhalten zurückgeführt: Wenn die Kollegen und Kolleginnen einen mobben, solle man sich selbst fragen, was man falsch gemacht habe oder wenn man keine Lohnerhöhung oder Beförderung erhält, so solle man sich überlegen, ob man genug Einsatz für die Firma bringe (Yan 2012: 64f.).

G LÜCK IM U NGLÜCK : D IE »Z HENG N ENGLIANG «B EWEGUNG UND DAS P ARADOX DES G LÜCKSSTREBENS Es zeigt sich also, dass die Motive für die Etablierung einer neuerlichen konfuzianisch geprägten Tugendkultur keineswegs nur in einer rein humanistischen Gesinnung zu finden sind, sondern im Austradieren von sozialen Spannungen zur Sicherung des eigenen Wohles und der eigenen sozialen Position begründet liegen. Tugendhaftes Verhalten ist somit unter dem Aspekt der Reziprozität ein Mittel zur Herstellung von Erwartungssicherheit in einer zunehmend als unsicher empfundenen Lebenswelt. 6 So wird das (Über-)Leben in der gegenwärtigen

 6

Siehe auch dem vom britischen Thinktank »Legatum Institute« errechneten »Prosperity-Index«, der neben objektiven Daten wie GDP auch Aussagen über die allgemeine Lebenszufriedenheit machen will. China liegt auf dem 51. Platz von 142 untersuchten Ländern und punktet vor allem mit wirtschaftlichem Wachstum (7. Platz), hat jedoch noch große Defizite in der Kategorie »persönliche Freiheiten« (111. Platz). Damit wird China eine »Avarage Life Satisfaction« von 5,1 von 10 zugesprochen (unter: http://www.prosperity.com/#!/). Beim »Happy-Planet-Index« des ebenfalls britischen Thinktanks NEF erreicht China den 60. von 151 Plätzen mit einem Durchschnittswert von 44,7 Punkten, wobei allerdings unter den einzelnen Berechnungskategorien das »experienced well-being« mit gerade mal 4,7 Punkten auf Platz

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chinesischen Gesellschaft offensichtlich als generelle Herausforderung gesehen, die dem Individuum täglich zahlreiche Leistungen abfordert und es damit oftmals überfordert: »Wer in heutigen harten Konkurrenzkämpfen und den komplexen Beziehungen der Gesellschaft als Frau herausragend (jingcai) leben will, hat es sehr schwer. Die Anforderungen dieser Gesellschaft an die Frauen sind zu tiefgreifend: in der Firma soll man eine her ausragende Mitarbeiterin sein, in der Familie die gute Mutter und treusorgende Ehefrau, in der Gesellschaft soll man ein gutes Bild abgeben…Wenn Du nicht etwas berechnend bist, wie kannst Du dann in der Familie, im Job und in der Gesellschaft Status (diwei) gewinnen?« (Yan 2012: 1)

Die vielfältigen Anforderungen, die an die Frauen herangetragen werden, können laut Ratgeber nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn die Frau einen »berechnenden Plan« (xinji) hat, denn wer heute Erfolg haben will, muss unbedingt berechnend und kalkuliert sein (ebd.: 2), insbesondere was den Umgang mit Männern und das berufliche Umfeld angeht. Es geht also darum, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und durch die »richtige« Geisteshaltung aktiv positiv zu beeinflussen: »Sich den ganzen Tag zu beschweren, es laufe nicht wie man wolle, ändert nichts an der Realität, es lässt einen Tag für Tag nur kummervoller werden. Der Mensch muss aber glücklich sein, also muss man aufhören sich zu beschweren und sich selbst verändern.« (Ebd.: 64) Deshalb solle man immer optimistisch in die Welt und auf das Leben blicken: »Sehr viele Frauen beklagen sich oft, dass sie nicht glücklich sind, weil sie immer im Angesicht der Wahl, wie sie dem Leben begegnen wollen, die negative Sicht wählen.« (Li 2011: 2) Stattdessen wird empfohlen sich bewusst für eine positive und optimistische, fröhliche Einstellung zu entscheiden: »Das Leben ist eine Entscheidung: die Entscheidung, wie man den Umständen begegnet.« (Ebd.) Deshalb hänge die Lebenszufriedenheit nicht von äußeren oder materiel-

 106 liegt. Deshalb fällt das Gesamturteil moderat aus: »China૽s HPI score reflects a relatively high life expectancy, low levels of experienced well-being, and a moderate ecological footprint.« Dieser »Glücks-Index« ist jedoch kritisch zu betrachten, da der ökologische Fußabdruck bei der Berechnung ebensoviel zählt wie das Gefühl der Lebenszufriedenheit der Bevölkerung. Dadurch landen Länder wie USA und Europa insgesamt nur im unteren Mittelfeld, während Südamerika und Indien beispielsweise ein höherer »Glücks-Index« attestiert wird. Dies korreliert jedoch nur bedingt mit der tatsächlichen Lebensrealität vor Ort. Siehe: http://www.happyplanetindex.org.countries/china/

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len Umständen ab, sondern allein vom individuellen Umgang mit Freude und Schmerz. Denn schlimme Dinge wie Liebeskummer, Ehescheidung, Jobverlust oder Tod von Angehörigen können jederzeit jedem passieren und es gäbe keine Möglichkeit dem zu entgehen, daher müsse man lernen richtig damit umzugehen. Deshalb gehört auch die Zufriedenheit mit dem Status quo und den bisherigen Erfolgen im Leben zu den Faktoren eines glücklicheren Lebens. Anstatt mit ihren privaten und beruflichen Errungenschaften zufrieden zu sein, würden viele Frauen stattdessen darauf warten, dass das Glück eines Tages »vom Himmel fällt« oder sich erst dann einstellt, wenn ein spezifisch gesetzter Meilenstein wie mehr Gehalt, die Beförderung des Ehemannes oder ein geringeres eigenes Körpergewicht erreicht sind. Dies wiederum läge vor allem daran, dass eine Kultur des Vergleiches und des Neides vorherrsche: Alle vergleichen sich ungeachtet unterschiedlicher Voraussetzungen und Gegebenheiten und sehen dadurch vor allem ihre Defizite hervorstechen, oder: »Alle wollen heute so viel haben, daher schmeckt das Leben bitter wie Kaffee.« (Li 2008: 40) Das bereits Erreichte erscheint im Kontrast dazu als ungenügend und mangelhaft und schürt die Unzufriedenheit, weshalb viele dem Leben, dem Schicksal, oder den sozialen und politischen Umständen die Schuld daran geben, dass sie unglücklich sind. Die Ratgeber akzeptieren diese Delegation der Verantwortlichkeit auf außerpersonelle Gegebenheiten jedoch nicht, sondern geben sie dem Individuum postwendend zurück: man sei selbst daran schuld, weil man nicht die richtige Einstellung und Sichtweise auf das Leben habe, bzw. jeder sei für sein Glück selbst verantwortlich (Li 2008: 38): »Viele Frauen sind unglücklich. Das liegt nicht daran, dass ihnen zu viele unschöne Dinge passieren, sondern dass sie immer nur die negative Seite sehen und dieses Unschöne dann übersteigern. Deshalb sehen glückliche Frauen bei allem immer nur die positive Seite und können mit einer optimistischen Einstellung (jiqi xintai) dem Leben begegnen« (Li 2011: 14). Diese erreiche man, indem man selbstbestimmt (zizhu xing) das »schwache« Selbst besiege (zhansheng ziwo) und sowohl Enttäuschungen als auch Rückschlägen im Leben mit Stärke begegne: »Egal was passiert, Du musst Deinen persönlichen Schmerz hinter einem Lächeln verstecken und weitermachen« (Li 2011: 4) oder: »Wenn Du nicht die Schwache sein willst, dann werde zu einer eisernen Rose im Wind und Sturm« (Li 2008: 12). Dies beinhaltet die Unterdrückung von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen ebenso wie zu viel Nachdenken, Zögerlichkeit und Zweifel mit der gleichzeitigen Förderung von Selbstbewusstsein und Selbstüberzeugung:

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»Wenn andere Deinen Besitz, Deinen Ehemann, Deinen Job... alles von dir wegnehmen, dann genügt das nicht um zu zeigen, dass Du ein schwacher Mensch bist. Denn wenn niemand Dir Deine Freude, Dein Selbstvertrauen, deine innere Ruhe nehmen kann, dann bist du so stark, dass niemand dagegen ankommt.« (Li 2011: 4f.)

Letztlich wird der Aufbau von Stärke allerdings auch als einziger Ausweg aus den gegenwärtigen Bedrohungen der Zweiten Moderne geschildert, denn wer im Angesicht von Schwierigkeiten verzage oder sich gar zurückziehe, den würden die Probleme nur umso unerbittlicher und größer jagen. Die Konfrontation mit den unangenehmen Seiten des Lebens wird somit als natürlicher Zustand im Leben erklärt, dem niemand entkommen könne: »Wenn Frauen erwachsen werden, dann ist das in der Tat ein Prozess der Überwindung [...]. Nur wenn sie lernt stark zu sein, dann wird sie Status erreichen können und alles unter Kontrolle haben«, denn Tränen, Nörgeleien, Jammern und schlechte Laune werden als psychologische Schwäche und niedrige Frustrationsschwelle ausgelegt (Li 2008: 16). Frauen, denen dieser Perspektivenwechsel gelungen ist, werden als »sonnige Frauen« (yangguang nüren) beschrieben: sie sind nicht kalt und distanziert, haben keine komplizierten Gedanken, sind nicht bedrückt, sondern licht und durchscheinend wie ein Diamant in der Sonne (Li 2011: 7). In dieser Rhetorik des Überwindens von Schwierigkeiten dank eigener Stärke und der Betonung einer positiven und optimistischen Grundeinstellung manifestiert sich neben der Popularisierung von moralischem Verhalten gemäß konfuzianischer Tugenden ein weiterer, neu entstandener Diskurs über das Streben und Erreichen von individuellem Glück durch das eigene versteckte Potential (zheng nengliang). Dem liegt die Idee des Buches »The Luck Factor: The Four Essential Principles« von Richard Wiseman (2003) zugrunde, dass jeder Mensch durch Arbeit am Selbst sein wahres, inhärentes Potential verwirklichen und ein neues, selbstbewussteres, positiveres und glücklicheres Ich erschaffen könne, wodurch er wiederum auch positivere Reaktionen des Umfelds erfahren und somit seinem gesamten Leben eine Wendung zum Guten geben könne. In seiner Studie zur »Psychologie des Glücks« rekurriert der populärwissenschaftliche Psychologe Wiseman stark auf die Macht der Selbstoptimierung und den Imperativ der Arbeit am Selbst des therapeutischen Diskurses, wenn er konstatiert, dass jeder für sein Glück im Leben selbst verantwortlich sei. Für ein Maximum an Glück identifiziert er eine Kombination aus positivem Denken und Verhaltensänderungen durch bewusstes, praktisches Handeln, sowie hilfreiche Strategien im Umgang mit negativen Erfahrungen. Diese Methoden sind für jedermann erlernbar, weshalb er in Folge diverse Bücher mit Anleitungen zur indivi-

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duellen Glücksmaximierung veröffentlichte (Wiseman 2003, 2004, 2009, 2012).7 »Glück haben« bzw. »Pech haben« werden damit zu beeinflussbaren Größen, die weder als vom Schicksal gegeben hingenommen, noch durch dubiose Praktiken des Aberglauben beschworen werden müssen, sondern steuer- und kontrollierbar in der Hand der oder des aktiven Einzelnen liegen. Hier setzt das Konzept der individuellen Handlungsmacht an, wo das Individuum sich und seine Situation reflektiert und an sich entsprechend »arbeitet«, um einen als wünschenswert deklarierten Zustand zu erreichen, welcher als Normativ der Normalität gesetzt wird. Dementsprechend befasst sich das daraus entstehende Narrativ der Selbstformung mit einerseits den bisherigen Voraussetzungen des Scheiterns und andererseits mit Strategien zur Überwindung dieser Probleme. Als Techniken der Glücksbeeinflussung werden beispielsweise das stoische Bewahren einer optimistischen Sichtweise genannt, das Vertrauen auf Intuition und Gefühle, sowie der unerschütterliche Glaube an die eigenen Fähigkeiten sowie zukünftiges Glück und Erfolg. Konkret werden damit diverse Methoden der Selbstoptimierung in Denken, Verhalten und Selbstrepräsentation mit dem Ziel der Erschaffung einer neuen individuellen und sozialen Identität umfasst. Die »Zheng nengliang«-Bewegung hat in China bereits zahlreiche Anhänger gefunden und die psychologischen Thesen der positiven Selbstbeeinflussung finden Wiederholungen in den Medien, wie u.a. in unzähligen Populärzeitschriften, im Internet – oder eben in den Ratgeberbüchern. Im Netz versorgt beispielsweise die Homepage »Zheng nengliang jiayou zhan« (Glücks-Tankstelle) den Leser mit neuen, internationalen »Erfolgsgeschichten«, in denen die Protagonisten und Protagonistinnen ihr Leben aktiv zum Positiven veränderten. Besonders beliebt sind hierbei die Schicksalsgeschichten von Menschen, die aufgrund einer Behinderung, einer Krankheit oder ungünstiger sozialer und ökonomischer Bedingungen, prinzipiell benachteiligt sind und es dennoch schafften, die sozial festgelegten »Ziele« von Normalität wie beispielsweise eine Heirat, eine berufliche Karriere oder mediale Berühmtheit zu erreichen. Ebenfalls beliebt ist der Austausch von erbaulichen Sprüchen, Parabeln, Bildern und Liedern, die »glückliche Momente« dokumentieren bzw. denen eine inspirierende und glücksfördernde Wirkung unterstellt wird.

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Wisemans Bücher »Rip it up« (2012) und »59 seconds« (2009) erschienen im Jahr ihrer englischen Erstpublikation auch bereits in Übersetzung auf dem chinesischen Buchmarkt. Es folgten Übersetzungen von »Did You Spot the Gorilla? How to Recognise Hidden Opportunities in Your Life« in 2011 und »The Luck Factor« in 2013.



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Die Frauenratgeber greifen die Theorien der »zheng nengliang«-Bewegung inhaltlich auf, auch wenn dabei nicht explizit auf den dahinterstehenden externen Diskurs verwiesen wird, sondern die Anweisungen zur »wahren Lebenseinstellung« sich nahtlos in die allgemeinen Unterweisungen zur Selbstoptimierung in allen Bereichen eingliedern. Dabei wird das chinesische Verständnis der ursprünglichen Idee von Wiseman zusätzlich um humanistische Elemente wie der Nächstenliebe und sozialen Verantwortung erweitert. Gute Taten werden als Ursprung von Glück propagiert: »Nur wer andere glücklich macht, wird selbst noch glücklicher.« (Li 2011: 8) Außerdem avanciert »Zheng nengliang« im spezifischen Ratgeberdiskurs zu einer nahezu umfassenden Verkörperung aller positiven menschlichen Eigenschaften: Neugierde, Aktivität, Abenteuerlust, Lebensfreude, Energie, Tatendrang, Ideenreichtum, Kreativität, Liebesfähigkeit, Klugheit, Weisheit, Ehrgeiz, Leistungsfähigkeit, Engagement, Nächstenliebe etc. Zudem wird das Konzept des »Zheng nengliang« zugleich auch immer mit der Metapher des großen Lebenstraums, den es zu verfolgen gilt, verbunden. Man müsse Träume (mengxiang) im Leben haben, sonst sei es fade und sinnlos. Diese Träume sollen einerseits ambitioniert und hoch gesteckt sein, um einen zu immer neuen Höchstleistungen anzuspornen, andererseits aber nicht zu hoch gesteckt und somit unrealistisch. Während im »Zheng nengliang«-Diskurs die Arbeit am Selbst durchweg positiv konnotiert ist, zeigt die Auflistung all der erstrebenswerten Eigenschaften und Taten in den Ratgeberbüchern bereits das dem Prinzip inhärente Paradoxon auf: Der beschworene eudaimonistische Zustand kann anscheinend nur durch schlichtweg utopische Idealvorstellungen erreicht werden. Durch die logische Verbindung von »Glück« und »Fähigkeiten« werden Selbstoptimierung und die unaufhörliche Arbeit am Selbst zu unabdingbaren Voraussetzungen für Glück: glücklich zu sein ist nicht ein erfreulicher, zufälliger Zustand, sondern das Ergebnis harter Arbeit. Damit wird Glück auf der einen Seite zwar kontrollier- und im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitbar, auf der anderen Seite allerdings zum ehrgeizigen Projekt – und dadurch seiner modernen Interpretation als subjektives Empfinden beraubt. Stattdessen liegt eine eher veraltete Glücksvorstellung nach objektiven Maßstäben (z.B. das Erreichen bestimmter Lebensetappen oder materieller Güter) zugrunde, deren Erfüllung dem Individuum zum Glück verhelfen sollen, während sich das moderne westliche Glückverständnis in Philosophie und Soziologie vor allem durch eine Subjektivierung kennzeichnet, dessen Merkmale gerade die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Auffassungen vom guten Leben und eine prinzipielle Neutralität gegenüber divergierenden Glücksvorstellungen sind (vgl. Thomä 2003 und Hoyer 2007). Auch wenn diese Auffassung in den Ratgebern und im »Zheng-nengliang«-Diskurs zu Teilen bereits

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aufgegriffen wird, bleiben die Voraussetzungen für Glück dennoch relativ normativ (siehe obige Aufzählungen) und setzen klare Ziele – wie Heirat, Eigenheimkauf, Kinder, erfolgreiche Karriere –, die die sicht- und nachprüfbaren Manifestationen von Glück verkörpern. Insofern beugt sich die »Zheng nengliang«-Bewegung – anstatt für eine individualistische Lebensgestaltung zu plädieren – stark gesellschaftlich und politisch vorherrschenden Normalitätsentwürfen und entwirft, ganz im Sinne des therapeutischen Diskurses, nur Anpassungsstrategien an diese. Ein gutes Beispiel hierfür sind die »glückliche Hausfrauen«-Kurse (hao taitai xingfu peixunban), die seit 2011 in diversen chinesischen Großstädten regelmäßig angeboten werden. Sie gehören ebenso wie die hier analysierten Bücher zum wachsenden Markt an therapeutischen Hilfsangeboten in China. Die Grundlage dieser Kurse ist die Annahme, dass das Gelingen oder Scheitern der Ehe allein in den Fähigkeiten der Frau liege und diese daher ihren »EQ« (EheQuotient) durch Lernen und Weiterbildung – ähnlich wie andere Wissensbereiche in Schule und Ausbildung – erhöhen müsse, um zur »Modell-Hausfrau« (mofan taitai) zu werden. Glück wird damit mit einer gelingenden Ehe und Familie gleichgesetzt – und dies wiederum ist durch »Arbeit« und »Qualifikation« zu erreichen. Das eigene Glück – respektive die Intimbeziehung – wird somit von der Arbeit der Frau an sich und ihren »Fähigkeiten« (nengli) abhängig gemacht: »Menschen mit geringem IQ können tendenziell schlecht rechnen. Menschen mit geringem EQ kommen tendenziell mit anderen nicht so gut aus. Menschen mit geringen Finanzverwaltungsfähigkeiten können tendenziell ihre Finanzen schlecht zusammenhalten. Und Menschen mit geringem Ehe-Quotient sind tendenziell schuld daran, dass die Ehe nicht glücklich ist.« (Yun/Ai 2012: 25)

Im Umkehrschluss werden in ihrer Ehe unglückliche Frauen selbst für den Zustand verantwortlich gemacht, da es ihnen offensichtlich an den entsprechenden Fähigkeiten für die Etablierung einer glücklichen Ehe mangele. Dies schafft die Legitimation für das Eingreifen korrektiver Maßnahmen des therapeutischen Diskurses in Form von Ratschlägen und Kursen. Dadurch, dass die Eigenleistung zum entscheidenden Garant über Gelingen oder Scheitern stilisiert wird, werden andere, äußere Einflussfaktoren ausgeschlossen: So wird beispielsweise negiert, dass die Ehe unglücklich verläuft, weil das Konzept der Monogamie in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen in China nur noch schwer aufrecht zu erhalten ist, oder weil ökonomische Erwartungen das Zusammenle-

D IE V EREINIGUNG

DES S CHÖNEN MIT DEM

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ben erschweren – all jene sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme werden in der Leistungsfähigkeit der Frau personalisiert. Dies lässt auf eine Individualisierung von Fehlstellungen in der Gesellschaftsstruktur schließen. Mit ihrer Orientierung an gesellschaftlichen Normalitätsentwürfen kann sich die »Zheng Nengliang«-Bewegung nicht völlig jenseits gouvernmentalitätspolitisch relevanter Mechaniken positionieren, obwohl die Glückssuche auf den ersten Blick wie ein rein individualistisches Bestreben wirkt. Doch indem gesellschaftliche und ökonomische Ängste individualisiert und der Lösungsansatz in den Machtbereich des Individuums gelegt werden, ändert sich die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit für das Gelingen des individuellen Lebensentwurfs. Der und die Einzelne muss immer mehr das selbst tragen, was vormals der Staat oder gesellschaftliche Institutionen übernommen haben, was jedoch mit dem neoliberalen Paradigma der freiwilligen Selbstoptimierung getarnt wird. Dabei ist es in Zeiten schwächelnder bis nicht vorhandener Sozialleistungen nur vernünftig, sich selbst bestmöglichst auf alle Hürden vorzubereiten. Auch Yang Jie, die sich mit den Individualisierungs- und Psychologisierungsstrategien der chinesischen Sozialpolitik und dem Aufschwung des therapeutischen Diskurses in China befasst hat, attestiert Phänomenen wie der »Zheng nengliang«-Bewegung und anderen ähnlichen medialen Präsentationen die Konstruktion von »fake happiness« (Yang 2013). Sie identifiziert diese oftmals staatlich subventionierten Programme und Aktionen als politische Strategien gegen gesellschaftliche Instabilität, indem riskante Personengruppen durch die Rhetoriken der therapeutischen Selbsthilfe in Form der omnipräsenten Aufforderung zur Kultivierung einer glücklichen und positiv-optimistischen Lebenseinstellung besänftigt und kontrolliert werden sollen: »Indeed, what better way for the government to legitimate crippling economic restructuring and intensified social stratification than to deploy programs that suggest that these processes are actually an opening for people that could lead to their happiness?« (Yang 2015: 37) Deshalb spricht sie geradezu von einem »Happiness turn« in China: Staatliche Propaganda und Medienberichte sind voll von Berichten über glückliche Menschen – insbesondere die vermeintliche »Freude der Armen« (qiong ren de kuaile) an den kleinen Dingen des Alltags wird dabei in den Vordergrund gestellt, obwohl in der Realität diese sozial benachteiligten Gruppen wenig zu Lachen haben. Indem einzelne Fallbeispiele von Individuen, die es trotz schlechter Voraussetzungen geschafft haben, ihr Glück zu finden, demonstrativ als Vorbilder in den Vordergrund gestellt werden, entsteht ein von der realen Lebenssituation unabhängiger Imperativ zum Glücklichsein, der zugleich von tatsächlichen (staatlichen) Verantwortlichkeiten für die dafür notwendigen Verbes-

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serungen der strukturellen Rahmenbedingungen ablenkt. Die ständige Hervorstellung von Glück, Potential und Optimismus gehört somit zum politischen Programm, denn »positive psychology […] gives people new social horizons for imagination and deters them from reacting too negatively to their current economic struggles. […] Happiness has become a governing technology for maintaining social harmomy« (ebd.: 36). Die individuelle Handlungsmacht ermächtigt die Akteure und Akteurinnen zwar einerseits zur freien, individuellen Lebensgestaltung jenseits von Regularien, andererseits wird die aktive Lebensgestaltung aber auch zwingend notwendig, da es durch den Rückzug staatlicher Kontroll- und Interventionsstellen und Versorgungsstrukturen (wie z.B. der Arbeitseinheit) sonst keinerlei institutionellen Rahmen mehr gibt, der für das individuelle Wohl Sorge trägt. Gleichzeitig wird von systemischen Schwachpunkten und institutionellem Versagen abgelenkt, indem Probleme personalisiert werden. Somit ist an keiner Stelle die Rede von eventuellen Mängeln und Fehlentwicklungen der Gesellschaftsstruktur an sich, sondern der Grund für das Gelingen bzw. Misslingen eines glücklichen Lebens wird ausschließlich im individuellen Verhalten gesucht, welches durch therapeutische Maßnahmen korrigiert und wieder »in die Spur« gebracht werden soll. Doch die beständige Aufforderung zur Selbstoptimierung avanciert schnell zur Belastung, da der in Aussicht gestellte Erfolg (und damit das Glück) faktisch nicht für jeden in gleichem Maße erreichbar und von zahlreichen externen Faktoren abhängig ist, denn allein durch Anstrengung lassen sich nun mal nicht alle ökonomischen und sozialen Hürden überwinden. Zugleich werden antizipierte Schwächen und Fehler in der Persönlichkeit wie auch alternative Lebensstile immer weniger toleriert und meist nur noch als Ansatzpunkt für noch mehr Korrekturen und verstärkte Arbeit am Selbst gesehen. Der Konjunktiv, nur mit dem Erreichen der vorgegebenen Maßstäbe könne sich auch Glück und Anerkennung einstellen, erzeugt einen starken Leistungs- und Erfolgsdruck, der mit einer allgegenwärtigen Versagensangst einher geht. Und damit erschafft der therapeutische Diskurs paradoxerweise gerade das, wogegen er Abhilfe verspricht: All die positiven Geschichten des »Zhengnengliang«-Diskurses und der Frauenratgeber erleichtern nicht das als bedrückend empfundene Leben in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft, sondern schüren nur noch mehr die Erwartungen und Anforderungen an den und die Einzelne/n, denn wenn andere es geschafft haben, so kann man selbst nicht zurückfallen. Die Suche nach dem Glück wird zur Quelle des Unglücklichseins.

Das Dilemma der »Du Lalas« Frauen zwischen Unabhängigkeit, Beruf und Familie

D IE DER

GEWANDELTE SOZIALE R EFORMZEIT

S TELLUNG DER F RAU

SEIT

Kein Lebens- und Identitätsbereich der Frau erweist sich als so widersprüchlich und umkämpft wie die Diskussion über deren berufliche und familiäre Zuständigkeiten. Während noch bis in die 1980er Jahren hinein – trotz einer bereits frühen Herauslösung der Funktionsrolle »Frau« aus der Familie und ihrer Einbettung in den Produktionsprozess oder zumindest an der Ermöglichung öffentlicher Teilhabe im Sozialismus – Familie, Ehe und Beruf als Bündelung von Lebensplänen, Lebenswelten und Biographien eine relativ große Verbindlichkeit besaßen, sind diese Absprachen und Pläne durch den Wegbruch normativer sozialer und institutioneller Bezugsrahmen immer leichter aufkündbar und damit auch legitimationsabhängig. Insbesondere in den vergangenen beiden Jahrzehnten verschob sich die arbeitsmarktbezogene Teilhabe der Frauen zunehmend von der einfachen, ungelernten Arbeiterin hin zur hochqualifizierten Fachkraft, indem Frauen zu mehr Bildung ermutigt wurden.1 Seit der Reformära legt die Politik im Zuge der Wirt-

 1

Zwar belegen diverse Studien zu geschlechtlich beeinflusste Bildungschancen und Ungleichheiten in China (z.B. Hooper 2015), dass Mädchen oftmals immer noch eine geringere Ausbildung erhalten als Jungen, doch haben die Bildungsaspirationen von Mädchen und Frauen seit Ende der 1990er Jahre rapide zugenommen, so dass zumindest im urbanen Raum hier kaum mehr Benachteiligungen ausgemacht werden können.



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schaftsankurbelung konstant Wert auf das Anheben des Bildungsgrades, der Professionalität sowie des wissenschaftlichen und technischen Wissens. Frauen gelten hierbei als »eine von zwei Händen«, deren Beteiligung somit einerseits als essentiell für die Modernisierung gilt, andererseits kann auch gemäß der Leitlinien des Staatsfeminismus eine geschlechtliche Gleichberechtigung nur durch die Teilnahme an den immer vielfältigeren Bildungschancen realisiert werden. Doch das in China stetig steigende Bildungsniveau, das gerade auch für Frauen zum Dreh- und Angelpunkt für den beruflichen Aufstieg wird, korreliert nicht mit einer dementsprechenden Erweiterung der Arbeitsmarktchancen für Frauen: Türen, die in der Bildung geöffnet werden, werden auf dem Arbeitsmarkt wieder zugeschlagen und der »gläserne Boden« männlicher Hierarchie und Dominanz ist dick (vgl. Brooks 2006, Hooper 2015, Wei/Bo 2015). Frauen müssen sich oft immer noch mit den eher randständigen und unwichtigen Aufgabenbereichen und Branchen zufriedengeben. Die vier Modernisierungen wirkten sich negativ auf die soziale Stellung der Frau aus und stellten viele Errungenschaften der ökonomischen Gleichberechtigung wieder infrage. Wie Gail Hershatter und Elisabeth Croll aufzeigen, traf die Umstellung von Kollektivwirtschaft auf selbstständige Produktion die weiblichen Arbeitskräfte am nachhaltigsten, da sie als »überflüssiger Ballast« mit weniger körperlicher Einsatzfähigkeit und mehr Fehlzeiten in Folge von häuslichen und familiären Verpflichtungen dem neuen Profitstreben im Wege standen (Croll 1995, Hershatter 2007, Honig/Hershatter 1988). Während der Reformjahre betrug der Anteil weiblicher Arbeitskräfte zwar 40 Prozent, aber davon waren 90 Prozent in schlecht bezahlten, »minderen« Bereichen tätig. Ausgeschlossen aus der Sphäre der (Schwer-)Industrieproduktion, eroberten Frauen vor allem den Sektor der Nebenerwerbsproduktion und den Dienstleistungsbereich sowie Sparten der Leichtindustrie, welche traditionell eher mit weiblichen Arbeitskräften besetzt werden (Textilbranche, Kunsthandwerk, Lebensmittelindustrie) (Liu 2007). Doch mit dieser geschlechterorientierten Branchenaufteilung vergrößerte sich nicht nur das Verdienstgefälle zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen, laut Untersuchungen des Chinesischen Frauenverbands müssen Frauen auch vermehrt mit schlechteren Arbeitsbedingungen, Lohndumping und fehlender sozialer Absicherung kämpfen. Zudem erleben Frauen eine zunehmende Diskriminierung in der Entlohnung: während 1990 das durchschnittliche Einkommen von Frauen 77,5% des männlichen Einkommens betrug, sank dieser Wert trotz boomender Wirtschaft und allgemeiner Zunahme des Wohlstandes und Lebensniveaus 2010 auf nur noch 67,3%. Zugleich nimmt die Berufstätigkeit von Frauen ab: während 1990 noch 77,4% der Frauen eine Arbeitsstelle hatten, sind dies 2010 nur noch 60,8%. Zeitgleich wuchs die männ-

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liche Arbeitnehmertätigkeit von 91,9% auf 97,7% (Fincher 2014:36). Diese Zahlen legen offen, dass Arbeitslosigkeit in China vor allem fast ausschließlich Frauen betrifft. Während weltweit die Geschlechterkluft in der Berufstätigkeit tendenziell abnimmt, hat diese sich in China in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark erweitert. Enttäuscht und desillusioniert vom Auseinanderklaffen von Realität und kommunistischem Ideal der Gleichberechtigung stehen daher viele Frauen vor der Erkenntnis: »[T]he rhetoric of equality did not match with female experience of inequality either in the past [...] or in new reform.« (Croll 1995: 110) Auch im soziopolitischen Bereich schürten zahlreiche problematische Entwicklungen und Phänomene der Reformjahre wie Arbeitsplatzknappheit und Jugendarbeitslosigkeit den Rückzug – oder wie es euphemistisch offiziell genannt wird – die Rückbesinnung der Frauen auf ihre angeblich »natürlichen« weiblichen Wesenszüge und Zuständigkeiten. Insbesondere im Rahmen des erstarkenden Nationalismusgedanken und dem Revival traditioneller Geschlechterklischees wie das der klugen Ehefrau und guten Mutter (xianqi liangmu) machte sich eine antiemanzipatorische ideologische Ausrichtung und gesellschaftliche Praxis bemerkbar, die jedoch im populären und staatlichen Diskurs nicht als Rück-, sondern Fortschritt deklariert wurde (Hooper 2015, Ochiai 2013). Hier findet sich die Fortsetzung der bereits erwähnten biopolitischen Agenda, welche in ähnlicher Weise in der sozialistischen Phase eingesetzt wurde: Mit der Betonung ihrer Rolle als Garanten der Wohl- und Fortentwicklung der Nation, »[a]ls Mütter, Ehefrauen und Hausherrinnen nehmen Frauen in der Familie einen wichtigen Platz ein, im Aufbau des Sozialismus können sie in neuen Modellfamilien ihre speziellen Nutzfunktionen vollkommen zur Entfaltung bringen« (Schweiger 2001: 75). Diese Rücksendung in Familie und Heim wurde jedoch von den Frauen – und selbst auch von explizit feministisch orientierten Vertreterinnen – nicht als Rückschritt im Emanzipationsprozess und als Degradierung der Frau empfunden, sondern im Gegenteil sogar begrüßt. Vom beständigen Wettkampf mit den männlichen Arbeitsmarktkonkurrenten entlastet, stand Frauen nun erstmals wieder ein eigenes Refugium der (Selbst-)Verwirklichung offen, wo es keine nach männlicher Arbeitsleistung festgelegten Produktionssölle zu erfüllen gab. Zudem erschien die Betonung des spezifisch Weiblichen als eine Alternative zum Staatsfeminismus der Kommunistischen Partei, welcher die Gleichstellung der Geschlechter in der Auslöschung weiblicher Attribute und Angleichung an ein männliches Ideal erfüllt sah. Gerade durch die Abkehr vom männlichen Vorbild – und damit eben auch einer als männlich attribuierten Arbeitswelt – findet der moderne chinesische Feminismus neue Möglichkeiten der Selbstdefi-

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nition. Auch in anderen asiatischen Ländern lässt sich ein ähnlicher Trend erkennen: In Japan verzichteten Frauen im Zuge des industriellen Booms in den 60er und 70err Jahren größtenteils auf eine Teilhabe am öffentlichen Raum und begnügten sich mit hausfraulichen Kulissen. In Südkorea ist »die Tatsache, dass die Frauen am heutigen ökonomischen Reichtum entscheidenden Anteil hatten, […] im öffentlichen Bewusstsein verblasst und räumt den Platz für eine Wiederbelebung ›weiblicher Werte‹ – zumeist in Form von Frauen benachteiligenden Familienstrukturen« (von Ilsemann 2005: 37). Auch in Thailand und Vietnam richtet sich der Fokus in der gesellschaftlichen Beurteilung von Frauen wieder (oder immer noch) mehr auf ihre familiäre Tugend und Schönheit denn auf Karriereerfolge und Teilnahme am öffentlichen Leben (ebd.: 35ff).

N UR

EINE SELBSTBEWUSSTE SCHÖNE F RAU

F RAU

IST EINE

Nach den detaillierten Anweisungen der Ratgeber zur sozialen Assimilation und Anpassung an sowohl gesellschaftliche Erwartungen und Normen als auch familiäre Strukturen, überrascht die Betonung von Unabhängigkeit und Selbstständigkeit als eine der Säulen der modernen, glücklichen Frau. Dennoch findet sich dazu in der Mehrzahl der untersuchten Werke mindestens ein Kapitel, das sich im Groben mit den Prämissen des sechsten nationalen Frauenkongress von 1988 deckt: Demnach sollen die Eckpunkte der weiblichen Identität in den so genannten »Vier Selbst« (sizi) – Selbstrespekt (zicun), Selbstvertrauen (zixin), Selbständigkeit (zili) und Selbststärkung (ziqiang) – verankert sein, wobei in den aktuellen Ratgebern insbesondere das Selbstvertrauen und die Selbständigkeit in Ergänzung zur Selbstliebe (zi’ai) den meisten Raum einnehmen, sich jedoch auch die anderen Begrifflichkeiten an untergeordneter Stelle häufig finden lassen (vgl. Croll 1995: 150). Doch werden in den Ratgebern diese Begriffe heute weit variabler definiert. Vorherrschend ist – wie bereits im Rahmen der »Zheng nengliang«-Bewegung angesprochen – der Konsens, dass das Glück der Frau nur in ihrer eigenen Hand liege und sie es nur aufgrund ihrer eigenen Einstellung und »korrekten« Verhaltens gegenüber sich selbst und anderen erreichen könne (Li 2011: 134). Grundvoraussetzung ist hierfür, dass Frauen selbständig (zili), selbstbewusst (zixin), fähig und tüchtig (qingming ganlian), tolerant (kuanrong) und dankbar (gan’en) sind, generell von einer fröhlichen Grundstimmung seien (kuaile de xinqing), aber nicht nach Ruhm und Ehre streben (Li 2008: 80). In einem anderen Ratgeber umfasst bereits allein das Selbstbewusstsein als Überkategorie eine ähnliche

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Bandbreite an Attributen wie Gelassenheit, Höflichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, attraktives und jugendliches Aussehen, Arbeitseinsatz, Großzügigkeit, Fröhlichkeit, der Glaube an die eigene strahlende Zukunft und die Ermutigung anderer. In einem anderen Fall bedeutet »zixin« zu wissen, was man will und sich jederzeit unter Kontrolle zu halten, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, gelegentliche Misserfolge problemlos zu überwinden und in etwas Positives zu verwandeln. Zugleich nehme eine Frau mit Selbstbewusstsein für andere eine Vorbildfunktion ein und habe ihnen gegenüber dementsprechend eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, indem sie alle ihr auferlegten Aufgaben und Verpflichtungen souverän und gewissenhaft erledige (Zhang 2013: 5). Ein anderer Ratgeber bringt das Selbstbewusstsein wiederum mit »Bereitschaft« (she de) in Verbindung: der Bereitschaft und dem Wissen zum adäquaten sozialen Handeln, je nachdem wie es die Situation erfordert (Li 2011: 137). Als Feinde des Selbstbewusstseins werden Traurigkeit, depressive Stimmung, negative Einstellung, Entmutigung, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstzweifel genannt, die es vor allem durch psychologische Autosuggestion zu überwinden gilt, indem man eine überaus positive Einstellung sich selbst gegenüber entwickelt und diese gegenüber äußeren Störfaktoren isoliert (Yan 2012: 56). Im Zuge der Herausstellung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls wird jedoch auch immer sofort auf die Abgrenzung zur Arroganz und Überheblichkeit verwiesen, welche unbedingt zu vermeiden seien. Trotz großer Überzeugtheit von der eigenen Person, sollen Frauen dennoch herzlich, aufgeschlossen, hilfsbereit und demütig auf andere Menschen zugehen und diese nicht aufgrund ihrer eventuell sozial unterlegenen Stellung verurteilen. Statt in einem übersteigerten Selbstbewusstsein eine Gefahr für soziale Beziehungen zu sehen, wird es eher umgekehrt zum Fördermittel derselben, indem nur die selbstbewusste Frau sich voller Energie anderen widmen könne und durch ihre bescheidene Art in der Beliebtheit aller sonne. Es gilt also einen Mittelweg zwischen Selbstbezug und Fremdbezug zu finden. Zugleich nimmt die Selbstliebe (zi'ai) heute einen größeren Raum ein: Frauen sollen lernen sich selbst zu bewundern (xinshang) (Li 2008: 78), indem sie ihre persönlichen Vorzüge entdecken und eine positive, unkritische Haltung sich selbst gegenüber entwickeln. Obwohl Selbstreflexion als Mittel der Selbstkultivierung erwähnt wird und als wichtiges Werkzeug zur korrekten Selbsteinordnung in soziale Zusammenhänge gilt, spielt es in Bezug auf die eigene Selbsteinschätzung nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird eher eine übersteigert positive Selbstwahrnehmung und -wertschätzung empfohlen. Da es aufgrund der traditionellen Tugend der Bescheidenheit in China üblich sei, die eigene Attrak-

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tivität und die von nahe stehenden Personen eher herabzuwürdigen, denn zu loben, müsse jede Frau sich selbst in einem aktiven Prozess von ihrer Schönheit überzeugen. Dies gelinge zum Beispiel damit, dass eigene Vorzüge bewusst wahrgenommen und herausgestellt werden. Es wird wiederholt betont, wie wichtig es sei, sich selbst zu lieben und wertzuschätzen und an die eigene Schönheit und Attraktivität zu glauben, diese Überzeugung auch trotz Gegenstimmen stoisch beizubehalten (Zhang 2013: 8). Zugleich wird Frauen sogar als Steigerung der Selbstliebe eine Portion Narzissmus (zilian) empfohlen, der sich vor allem in der Überzeugung äußert, selbst herausragend zu sein und daher von allem das Beste zu verdienen. Insofern wird der Ausdruck »zilian kuang« (Narzist) im Ratgeber positiv konnotiert, da es der höchste Ausdruck von Selbstbewusstsein sei (Yan 2012: 50). Jedoch handelt es sich trotz Betonung des individuellen und einzigartigen Charakters einer selbstbewussten Persönlichkeit letztlich vor allem um sozial gratifizierte Vorzüge wie z.B. ansteckende Fröhlichkeit, Hilfsbereitschaft, extravaganten Geschmack, besondere Hobbys etc. Weniger positiv konnotierte, aber dennoch genauso menschliche Eigenschaften und Charakterzüge wie Nachdenklichkeit, Schüchternheit, Menschenscheu etc. können dagegen nicht als Grundlage für Selbstbewusstsein und Selbstliebe gewertet werden. Sollte sich ein Mensch durch diese Eigenschaften auszeichnen, so darf er sie nicht als Bestandteile seines »wahren Selbst« anerkennen, als individuelle Persönlichkeit akzeptieren und ob seiner Individualität stolz sein, sondern wird durch die diskursive Zuordnung solcher Attribute in die Nähe von krankhaften psychischen Deformationen zu einer strikten Ausmerzung dieser durch Selbstkontrolle und Selbstoptimierung aufgefordert. Wer zurückhaltend, melancholisch oder kontaktscheu sei, muss dies unbedingt überwinden, um eine »normale« freundliche, aufgeschlossene (yangguang) Persönlichkeit zu entwickeln. Die propagierte Selbstliebe bedeutet also nicht das wertfreie Annehmen der eigenen Person so wie sie ist, sondern ist vielmehr die Belohnung für eine optimierte, sozial verträgliche Persönlichkeit, die man nur aufgrund ihrer positiven Attribute mögen kann. Dadurch erscheint die These zur Selbstliebe in den Ratgebern mehr in enger Verbindung mit dem Erfüllen des Normativs einer sozial verträglichen Persönlichkeit zu stehen, denn ein Aufruf für eine individualistische Selbstliebe im Sinne der Akzeptanz des »wahren Selbst« zu sein. Dies lässt sämtliche, zuvor zitierten Aufrufe zur selbstbewussten Herausstellung der eigenen Persönlichkeit in einem anderen Licht erscheinen und schmälert ihr emanzipatorisches Potential, da es offensichtlich im Grunde doch nicht um eine Anerkennung von Individualität, Subjektivität und Einzigartigkeit geht, sondern mehr um die Entsprechung eines Idealbildes.

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»F RAUEN SIND WIE K LEIDUNG «: (U N -)ABHÄNGIGKEITEN IN DER G ESCHLECHTERBEZIEHUNG In der weiteren Untersuchung wird deutlich, warum Selbstbewusstsein, Selbstliebe und Stärke nicht mehr im Zeichen einer eigenständigen weiblichen Subjektivität wie zu Anfangszeiten des chinesischen intellektuellen Feminismus in den 1980er und Anfang der 1990er Jahren steht. Heute scheinen die ehemaligen Schlagworte weiblicher Emanzipation einem eher pragmatischen Kalkül zu dienen. Denn die Notwendigkeit der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Frau wird nicht als prinzipielles Grundrecht statuiert, sondern oftmals im direkten Bezug auf das patriarchalisch-hierarchische Geschlechterverhältnis erklärt: Es geht dabei darum, dass sich Frauen in einer männlich dominierten Welt eine eigene finanzielle und emotionale Basis schaffen, um einerseits weiterhin attraktiv und begehrenswert zu bleiben, und andererseits im Falle eines Scheiterns der Beziehung abgesichert zu sein. Selbstbewusstsein wird also in erster Linie zur Behauptung eigener Interessen im offensichtlich als prekär eingeschätzten Geschlechterverhältnis benötigt. Denn Männer verlören mit der Zeit das Interesse an ihrer Angetrauten, sie erscheine ihnen durch die Routine des Alltags zwangsläufig früher oder später langweilig und gewöhnlich. Zudem würden sie die Leistungen der Frauen für Ehe und Familie im Laufe der Zeit immer geringer schätzen und als gegeben hinnehmen, was dazu führe, dass sie zunehmend eine Abneigung gegen die eigene Frau und Interesse an fremden Frauen entwickelten (Li 2011: 135). Der Verlust der Zuneigung und Bereitschaft des Mannes zur Beziehung scheint die größte Angst zu sein, der es entgegenzuwirken gilt. Diese Unsicherheit über die Instabilität von Paarbeziehungen in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft wird explizit geschürt: »Heute noch kannst du völlig überzeugt sein, dass bei Dir alles gut läuft und dass Dein Mann so etwas nie tun würde, aber schon morgen kann er dir die Scheidungsvereinbarung auf den Tisch legen und gehen.« (Wang 2012: 29) Es wird durch rigide Vergleiche und abschreckende Beispielgeschichten ein sehr negatives Bild vom verantwortungs- und rücksichtslosen Mann gezeichnet. So heißt es zum Beispiel, dass für Männer alle sozialen Bezugspersonen – mit Ausnahme der Eltern und leiblicher Kinder – ausgetauscht werden können und auch das berüchtigte Zitat aus dem Roman »Shuihu zhuan«, das Frauen mit beliebig wechselbarer Kleidung synonym setzt (nüren ru yifu), sei heute wieder aktuell, da Männer alles nur als ökonomische Transaktion betrachteten: »Welcher Mann zieht sein ganzes Leben nur ein einziges Kleidungsstück an? Deshalb ist der Austausch von Frauen eine so gewöhnliche Sache wie nur sonst was.«

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(Wang 2012: 30) Für Männer sei es ein »naturgegebenes« (tianxing) Verhalten, auf »zwei Booten zu stehen« und »den Esel zu reiten, um nach einem Pferd Ausschau zu halten« (ebd.). Durch die Naturalisierung dieses Verhaltens wird zugleich dessen Unausweichlichkeit betont und somit die Frau bereits auf ihr »Schicksal« vorbereitet. Damit wird deutlich, dass die gestiegenen Scheidungszahlen sowie die zunehmende Aufnahme von Themen wie der Konkubinen-Problematik in den öffentlichen Diskurs, sich in einem gesteigerten Unsicherheits- und Risikobewusstsein niedergeschlagen haben, das den Mythos der lebenslangen monogamen Ehe mit dem oder der richtigen Partner/in, wie er noch in den 80er und 90er Jahren existierte, weitestgehend ersetzt hat. Obwohl die Ehe immer noch das erstrebte Ziel ist und sozial gratifizierte Partnerschaftsstrukturen auf Dauerhaftigkeit ausgelegt sind, scheint andererseits paradoxerweise der Glaube an die lebenslange, monogame Beziehung bereits verloren gegangen zu sein. Da also der Mann ein unabschätzbarer »Risikofaktor« ist, wird Frauen empfohlen, sich erstens einen Partner zu suchen, der bereits aktuell die Kapazitäten hat ihr sofort alle ihre Wünsche erfüllen anstatt auf spätere »Entlohnung« ihres emotionalen Engagements zu warten; zweitens soll die Frau selbst auch »gewissenlos« (lang) sein und ein unabhängiges Leben mit eigenem Beruf und Karriere führen, denn jeder Mensch sei letztlich auf sich selbst gestellt (Wang 2012: 30; Li 2011: 135). Dabei brauche er nicht auf die Hilfe von »Heiligen« oder »Edlen« – eventuell ein Verweis auf die konfuzianische Bezeichnung des Edlen (qunzi) als Synonym für die ideale männliche Geschlechterrolle – hoffen (Li 2011: 141). Denn halte sich die Frau nicht an diese Ratschläge, so sei sie am Ende die Leidtragende, da immer noch der Tenor vorherrscht, dass trotz gesellschaftlicher Akzeptanz von Scheidung eine gescheiterte Ehe vor allem die Frau emotional, psychisch und sozial ruiniere und all ihren Charme und Lebenslust zerstöre, denn: »In Gefühlsdingen ist es immer die Frau, die die Verletzte ist. Der Hauptgrund dafür ist, dass Frauen die Liebe als das wichtigste im Leben sehen, sogar als das einzige im Leben. Viele Frauen haben gar nichts außer der Liebe.« (Ebd.: 134) Daher sollen sie ihr Schicksal nicht von anderen abhängig machen, sondern unbeirrt ihren Weg beschreiten und an erster Stelle ihre Ziele verfolgen, denn zuallererst käme ihre Person selbst und erst danach Ehemann, Kinder und Familie (ebd.: 136). Zudem sei die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls die Voraussetzung für eine gelingende Beziehung: »Wenn du eine selbstbewusste Frau geworden bist, wirst du merken, dass du fröhlicher als vorher bist, denn du wirst nicht mehr alles nur auf den Mann setzen, sondern das machen, was du machen willst und eifrig ununterbrochen dich selbst verbessern. Wenn du also eine

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reife und selbstbewusste Frau bist, dann wird sich dein Mann noch mehr um dich kümmern, denn so eine faszinierende und herausragende Frau wird er keinesfalls anderen überlassen wollen.« (Zhang 2013: 7)

Daher gilt es für Frauen sich ein Gegengewicht zur Familie zu schaffen und sozusagen bereits einen Fluchtraum für den Notfall vorzubereiten. Dies geschieht unter anderem mit einem eigenen Freundeskreis, eigenen Hobbys und einem eigenen Beruf. Gerade die Schaffung eines eigenen, engen sozialen Netzwerks steht oft im Mittelpunkt des Rats. So lobt Yan Yin das Modell der Frauenfreundschaft wie in »Sex and the City«, wo Frauen füreinander die wichtigsten Bezugspersonen seien und Männer sozusagen nur das Sahnehäubchen. Doch in China sei die Liebesbeziehung und Bindung zum Mann immer noch wichtiger als Freundschaft, was im Falle des Scheiterns allerdings zu sozialer Verwaisung führe (Yan 2012: 43). Es wird empfohlen sich einen Kreis von vertrauten Freundinnen (guimi) zuzulegen, um alle Sorgen und Probleme zu besprechen. Dies hätte zudem den Vorteil, dass der Ehemann nicht mit für ihn unverständlichen Tratsch und Jammern belastet wird. Auch Hausfrau Xiaoxiao sieht den Sinn von weiblichen Freundinnen vor allem darin, den Mann von den Pflichten des emotionalen und seelischen Beistands zu entlasten, indem die Frau ihn nicht mehr damit »belästigen« muss, sondern diese Dinge von der Beziehung in den Freundeskreis auslagern kann. Zudem seien Frauen »Herdentiere«, die nicht wie Männer allein sein könnten und sozialen Anschluss brauchten (Yan 2012: 45). Insgesamt lässt sich also konstatieren, dass alle untersuchten Ratgeber die Selbständigkeit der Frau postulieren. Das abhängige, unselbständige Hausmütterchen ist passé, es wird als »huanglianpo« (gelbgesichtige Alte) und Anti-Ideal der modernen Frau kritisiert und karikiert. Stattdessen wird der Entscheidungsautonomie und Eigenverantwortlichkeit der Frau ein hoher Stellenwert beigemessen. Die moderne, selbstständige Frau weiß, was sie will, und setzt dies kompetent und ohne Hilfe in die Tat um. Doch bei näherer Betrachtung erfährt diese neue Selbständigkeit der Frau eine Einschränkung. Denn diese bezieht sich in erster Linie darauf, dass die Frau ihre Angelegenheiten und die der anderen Familienmitglieder eigenständig und verantwortlich regelt und damit zur Entlastung des Mannes beiträgt: »Das eigene Leben gut regeln (dali), um den Mann nicht zusätzlich zu belasten.« (Ya 2012: 124) Wenn in den Ratgebern die Rede von Selbstständigkeit ist, so wird diese meist in Bezug zu sinnvollen praktischen Aufgaben gesetzt: beim Familienmanagement, bei der Effizienz hauswirtschaftlicher Belange und bei der Erledigung beruflicher Aufgaben wird Eigenengagement und Leistungsbereitschaft willkommen geheißen.

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In anderen Bereichen, insbesondere in der Zweierbeziehung, wird diese neue Selbständigkeit jedoch wieder ausgebremst. Hier wird der Frau eine bewusst passive Rolle zugewiesen, welche sie durch das Zeigen von Schwäche und Nachrangigkeit im Vergleich zur männlichen Position verkörpern soll: »Die Ehe ist eigentlich eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau, keiner der Beteiligten ist höher oder niedriger gestellt. Aber die Frau, die dem Glück etwas näher kommen möchte, lernt ihre Position angemessen zu erniedrigen und zum Mann aufzuschauen.« (Ya 2012: 33)

Sie darf beruflich nicht erfolgreicher und tougher sein als der Mann und auch in der Familie bleibt der Mann letztlich der Ernährer und damit das Oberhaupt, welches in den Momenten seiner Anwesenheit oberste Priorität genießt. Damit zeigt sich, dass die neue Selbstständigkeit und Emanzipation der Frau letztlich nur dann erwünscht ist, wenn sie zur Entlastung des Mannes beiträgt, nicht jedoch, wenn sie sich gegen die Männer richtet und diese in ihrer Rolle herausfordert oder eigene Interessen gegen deren Willen durchsetzt. Karriere und Selbständigkeit schön und gut – aber bitte nicht in Konkurrenz mit dem Mann. Dieser kann weibliche Errungenschaften in Bildung und Beruf nur dann wertschätzen, wenn sie die Frau zum »trophy wife« qualifizieren: Eine respektable Ausbildung, ein solider Job in einer anerkannten Branche steigern durchaus das Heiratskapital einer Frau. Erstens lernen Frauen in diesem Umfeld aussichtsreiche Kandidaten kennen und zweitens suchen gerade die begehrtesten Junggesellen der oberen sozialen Schichten heutzutage gebildete Frauen, um die Qualität ihres Nachwuchses zu sichern und um soziales Ansehen zu generieren: »The fact that their children’s mother is, or was once, a lawyer for instance – as long as they were not overshadowed themselves – would give them much ›face‹ in front of peers and could lend their own family considerable prestige.« (To 2015: 19) Dennoch bleibt die Hauptbestimmung der Frau – wie das Zitat bereits deutlich macht – ihre Aufgaben und Pflichten als Ehefrau und Mutter, welche nach der Hochzeit oftmals zum Vollzeitjob avancieren und in jedem Fall in der gesellschaftlichen Beurteilung die Leistungen im erlernten Beruf ersetzen. Dieses Phänomen des geschlechtlichen Verlustes an Fachkräften lässt sich noch stärker in Japan und Korea beobachten, wo ein Großteil gut gebildeter Frauen nach Studium und nur wenigen Berufsjahren mit der Hochzeit ins Hausfrauendasein verschwinden. Diese Parallelität zwischen unabhängiger Selbstverwirklichung und dem Dasein für die Familie zeigt die Unentschiedenheit des weiblichen Individualisierungsprozesses, welcher in China noch keinesfalls abgeschlossen, sondern als

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ein Prozess der Vergesellschaftung zu sehen ist: Die weibliche geschlechtliche Identität wird, anstatt freigesetzt, zunehmend erneut von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Anforderungen besetzt. Somit ist die Entdeckung neuer Identitätsfacetten und Persönlichkeitsaspekte durch eine selbstbestimmtere Lebensgestaltung eher ein zufälliges Beiprodukt der weiblichen Pseudo-Emanzipation der Ratgeber, deren Zweck eigentlich in der Absicherung weiblicher Interessen in einer stark patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstruktur liegt. Insofern weisen die Aufforderungen zu mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit durchaus positive Auswirkungen auf – wie die verstärkte Teilnahme am sozialen Leben, berufliche Weiterentwicklung, finanzielle und emotionale Unabhängigkeit, Auflösung des ökonomisch bedingten Ungleichgewichts in der Beziehung –, auch wenn diese, anders als in der westlichen Feminismus-Debatte, nicht bei der Schaffung eines ideologischen Bewusstseins für Ungleichheit, sondern direkt bei der Handlungsebene ansetzt und gesellschaftliche Normative und Geschlechterideologien an sich unangetastet lässt. Eventuelle Geschlechterungleichheiten werden in den Ratgebern – außer in den Verweisen über die Unzuverlässigkeit und Schlechtigkeit der Männer – überhaupt nicht thematisiert – schließlich liegt es ja den Frauen selbst in der Hand, was sie aus ihrem Leben machen, so der Tenor. Stattdessen wird gleich einen Schritt weitergegangen und, anstatt den Kern des Problems zu identifizieren und zu thematisieren, an möglichen praktischen Lösungsansätzen gearbeitet, damit sich Frauen trotz ungleicher Rahmenbedingungen mit klugem Handeln und Vorsorge sozusagen dennoch ihr Stück vom Kuchen sichern können.

»E SSENSMARKE MIT B EINEN «: Ü BER DIE R OLLE DES FINANZIELLEN AUSGLEICHS IN I NTIMBEZIEHUNGEN Unter den diversen Lösungsofferten und Strategien im Umgang mit geschlechtsbedingten Machtungleichheiten ist den Ratgebern die finanzielle und ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann besonders wichtig. Deshalb stehen die meisten untersuchten Ratgeber dem Sprichwort »Gut zu arbeiten ist nicht so gut wie gut zu heiraten« (gande hao buru jiade hao) eher kritisch gegenüber und empfehlen ihren Leserinnen zumindest sich einen Notgroschen zurückzulegen. Die Frau solle nicht nur in Finanzdingen entsprechende eigene Rücklagen bilden, sondern auch über das nötige Knowhow verfügen, um die Familienfinanzen gewinnbringend managen zu können (Zhufu Xiaoxiao 2011). Der Schlüssel dazu ist die eigene Berufstätigkeit und sei sie auch nur in Teilzeit oder ehrenamtlich ausgeübt. Sogar Verfechterinnen des Hausfrauendaseins

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wie die Autorin mit dem bezeichnenden Pseudonym »Hausfrau Xiaoxiao« sehen eine vorangegangene Karriere und die dadurch gebildeten finanziellen Rücklagen als unabdingbare Grundvoraussetzung für jede Frau an. Auch wenn nun der Ehemann für den Lebensunterhalt sorgt, vermittelt ihnen das eigene Geld ein Gefühl von Sicherheit, indem die unbedingte ökonomische Abhängigkeit vom Mann zumindest in der Theorie aufgehoben wird und die Vorstellung einer Scheidung oder Trennung somit neben dem emotionalen Rückschlag nicht auch noch zum ökonomischen Desaster avanciert. Sogar auch Hausfrauen sollen sich zudem vom Ehemann für ihre Hausarbeit bezahlen lassen, um über eigenes Geld zu verfügen und zugleich ihren Wert für den Mann zu steigern. Denn wenn Frauen nicht finanziell unabhängig sind, werden sie von Männern nicht respektiert und wären zudem grau und unscheinbar, da sie nie aus dem Schatten des Versorgers hervortreten können (Li 2008: 75). Wenn ein Paar seine Finanzen nicht klar trenne, so spreche dies von einer »niederen Qualität« der Beziehung und eine Ehefrau, die kein Geld beisteuere, ruiniere die Beziehung. Durch das deutliche Abhängigkeitsverhältnis verlöre der Mann, der zugleich auch Ernährer ist, relativ rasch das Interesse an der Frau und würde sie zwangsläufig früher oder später betrügen oder gar die Partnerschaft auflösen, da Männer als Jäger beschrieben werden, denen eine ihnen schutzlos ausgelieferte Beute als reizlos erscheint. Zugleich erleichtere ein eigenes, beruhigendes finanzielles Polster den Kampf um den Mann und gäbe der Frau im Konkurrenzkampf einen entscheidenden Vorteil, da sich Frauen, die sich nicht täglich über ihre ökonomische Zukunft sorgen müssen, beispielsweise mehr dem Erhalt ihrer Schönheit und Jugend widmen und somit länger als Trophäe die Begehrlichkeiten des Mannes am Leben erhalten können. Außerdem hätten sie mehr Zeit und Muße, um intensiver und individueller auf die Bedürfnisse des Mannes einzugehen und somit ein stabileres emotionales Band zu knüpfen (Zhufu Xiaoxiao 2011: 66). Allerdings kommen wissenschaftliche Untersuchungen paradoxerweise zum gegenteiligen Ergebnis: fließen die Einnahmen beider Partner nicht einheitlich auf ein gemeinschaftliches Familienkonto, so gefährdet dies den familiären Zusammenhalt und das Wir-Gefühl. Fälle mit getrennten Kassen kamen in der Studie nur in verschwindend geringer Anzahl vor, allenfalls behielten die Beteiligten zusätzliche Einkünfte neben dem regelmäßigen Gehalt wie Boni oder Gewinnbeteiligungen für sich, während über den Rest gemeinschaftlich verfügt wurde (vgl. Zuo/Bian 2015). Die Ratgeber sprechen sich also nur insofern für eine Auflösung des Status quo der Familienfinanzen zugunsten der Frau aus, dass diese ihre Einkünfte eigenständig behält, während das Einkommen des Mannes weiterhin in vollem Maße in die Familienkasse fließt. Dadurch wird es Frauen möglich ein eigenes

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finanzielles Polster zu bilden, während bisher alle Mittel in gemeinschaftlichem Besitz waren. Dies legt metaphorische Parallelen zu den Anfängen der Privatisierungspolitik Chinas nahe, wo ebenfalls neben der kollektiven Staatswirtschaft zunehmend noch eigene Initiativen und Nebeneinnahmen befürwortet wurden. Sinnigerweise stammen die Einnahmen von Chinas ersten Millionären in der Reformzeit nicht aus dem Einsatz im Kollektiv, sondern resultieren aus deren privatwirtschaftlichem Unternehmergeist (vgl. Zhu 2008). Nun wird ebenfalls der von Zuo/Bian (2015: 408) attestierte Familienkollektivismus zugunsten privater Interessen und Vorteilnahmen unterlaufen, was jedoch – mit Hinblick auf die ökonomische Entwicklung Chinas seit den 80er Jahren – für das Konzept der Familie eine Partikularisierung und zunehmende Markt- und Profitorientierung, eben eine Privatisierung der Familienmitgliedschaft, prognostizieren würde. Das Streben nach (finanzieller) Unabhängigkeit vom männlichen Wohlwollen mag der Grund dafür sein, warum zunehmend Frauen ungeachtet der allgemeinen sozialen Geringschätzung. 2 nach eigener finanzieller und materieller Anhäufung von Kapital streben. So gehören unter anderem gerade junge Frauen zu einer der neuen Hauptzielgruppen der Immobilienbranche, die mit speziellen Angeboten und Arrangements finanzkräftige, berufstätige White-Collar-Frauen zur Investition ins Eigenheim locken, obwohl bereits mindestens eine Wohnimmobilie, die als Hauptwohnsitz des Ehepaares oder der Familie genutzt wird und zumeist vom Mann erstanden wurde, vorhanden ist (vgl. Wang 2008). Frauen fühlten sich damit »wohler« und »sicherer« (tashi), wenn sie über eigenes Kapital verfügen und dies wird auch in den Ratgebern befürwortet, denn dann könnten sie sich erst tatsächlich voll und ganz entspannt der Liebe widmen und sie genießen, wenn sie sich nicht andauernd Sorgen um das Auskommen machen müssten, denn »Männer sind keine Bäume, sie haben Beine und sie haben ihre eigenen Pläne und sind sehr veränderlich. Wenn sie wollen, dann hauen sie ab, daher dürfen sie nicht Dein Ganzes sein. Geld ist etwas totes, hat keine eigenen Pläne und auch keine Beine. Wenn Du es verwenden willst, so kannst Du es verwenden. Im Vergleich mit Männern ist es gehorsamer und zuverlässiger. Also behalte es bitte bei Dir, denn auch wenn der Mann abhaut, bist Du immerhin nicht so bedauerlich, dass Du gar nichts mehr hast« (Feng 2012: 23).

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Zhang (2010) beschreibt in ihrer Studie detailliert, dass selbst erworbener ökonomischer Wohlstand gesellschaftlich immer noch schwer mit dem weiblichen Idealbild



des »kleinen Frauchens« (xiaoniao yiren) zu vereinbaren ist.

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Doch was in den Ratgebern durchaus positiv und emanzipatorisch klingt, erscheint im Abgleich mit der aktuellen gesellschaftlichen Situation in einem etwas anderen Licht. Zwar wurde bereits während des Emanzipationsdiskurses der 4. Mai-Bewegung festgestellt, dass ohne die Voraussetzung einer eigenen ökonomischen Basis ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben schwer zu verwirklichen ist, doch kann diese Unabhängigkeit damals wie heute nur teilweise und auch nur mit männlicher Beihilfe realisiert werden. Zu Republikzeiten lag es vor allem an den damaligen ökonomischen Bedingungen, die eine Befreiung der Frauen aus ihren häuslichen und familiären Fesseln verhinderten, da aufgrund der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im öffentlichen Raum nur sehr eingeschränkt selbst für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen konnten (vgl. Wang 1999a). Dieses Bewusstsein für die Verflechtung von gesellschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen und weiblicher Emanzipation fand seine Fortsetzung auch in der marxistisch ambitionierten Sozialpolitik der kommunistischen Partei, deren Agenda die Herauslösung der Frau aus der Familie und ihre Einbindung in den wirtschaftlichen Produktionsprozess zur eigenständigen Sicherung ihres Lebensunterhalts war. Dies führte in der Umsetzung einer staatsfeministischen Gleichstellungspolitik zu einem umfassenden Strukturwandel und der tatsächlichen Verringerung von traditionellen ökonomischen und gesellschaftlichen Abhängigkeitsfaktoren von Frauen (z.B. das Recht auf Eigentums- und Grundbesitz, Ausbildung und Berufstätigkeit für Frauen). Mit Ende der sozialistischen Ära rückten Geschlechterungleichheiten erneut deutlicher ins Bewusstsein. Im Marktkapitalismus werden Frauen als schwächstes Glied ausgesondert und von den Früchten des Erfolgs ausgeschlossen; zugleich werden sie durch die Reetablierung traditionell-patriarchischer Geschlechterrollen zudem wieder mehr in ihre »natürlichen« häuslichen Pflichten zurückgedrängt und in familiären Konstellationen benachteiligt. Mit dem zunehmenden ökonomischen und sozialen Konkurrenzdruck und der daraus resultierenden Benachteiligung in der Wirtschaft wird daher die private Absicherung durch Heirat für Frauen wieder ein relevantes Thema: »The revival of femininity, set against the awareness of fewer educational and employment opportunities and the official stress on women’s domestic role, has strengthened the traditional alternative female vision of a desirable personal future: not one’s own socioeconomic advancement but marriage to a man who is himself on the path to success.« (Hooper 2015: 10)

Ähnliche Worte findet auch die chinesische Feministin Huang Lin:

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»Heute ist das Phänomen, dass Frauen gering geachtet werden und die Gesellschaft Vorurteile gegen Frauen hegt, überall zu beobachten: Frauen finden schwerer Arbeit, Frauen werden gezwungen früher in Rente zu gehen als Männer, Frauen steigen schwieriger auf. Deshalb sehen sich Frauen gezwungen, sich wieder mehr in Richtung ›Ehe-Wirtschaft‹ (hunyin jingji) zu orientieren, oder gar in Richtung traditionelles Ehekonzept [wo der Mann die Versorgung sicherstellt, A.D.], um ein abgesichertes Leben führen zu können« (Huang 2012: 75f.)

Oder wie ein chinesisches Sprichwort es auf den Punkt bringt: »jiahan jiahan chuanyi chifan« (einen Mann zu heiraten bringt Kleidung und Essen). Dies zeigt sich auch im Wandel der Partnerwahl, wo ökonomische Überlegungen und pragmatische Aspekte seit den 90er Jahren aufgrund desillusionierender sozialer Erfahrungen immer mehr gegenüber dem sozialistischen partnerschaftlichen Ideal gleicher Gesinnung überwiegen. Dem Mann wird nach Ende der gleichberechtigten Produktionsgemeinschaft unter Mao wieder die hauptsächliche Ernährerrolle in der Familie – insbesondere wenn Kinder zu versorgen sind – zugeschrieben. Tatsächlich wird der Ehemann unumwunden als »Langzeit-Essensmarke« (changji fanpiao) bezeichnet, also als eine Art Grundsicherung des Lebensunterhalts: »Heute sind Frauen gleichberechtigt und haben die Voraussetzungen zur Unabhängigkeit. Aber in den Augen der großen Mehrheit der Frauen hat sich der Nutzen des Mannes im Vergleich zu einigen hundert Jahren zuvor nicht geändert. […] Ein Mann mit Karriere kann erst Wohnung, Auto und Diamantring zur Verfügung stellen und der Frau eine langfristige Essensmarke bieten. Frauen sind gerne bereit nur eine Rippe des Mannes zu spielen und ihm die ganzen Bürden zu überlassen.« (Xi 2011: 140)

Die Rekurrenz auf das sozialistische Güterverteilungsprinzip mit Essensmarken erinnert dabei bewusst an die Versorgungssicherheit der »eisernen Reisschüssel« – nur dass nun die Versorgung nicht mehr dem sozialistischen Staat, sondern dem Mann überantwortet wird. Eine interviewte Frau gesteht dies auch ganz offen: »As people become mature, they tend to grow realistic and snobbish to a certain extent. Although I was no longer fixated on handsome men, to my mind marriage was inseparable from possession of a house and a car, not to mention having the daily necessities taken care of. My goal was to find a rich man.« (Zit. nach Wu 2012: 178)

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Nicht zufällig stiegen mit der Privatisierung und Eingliederung weiblicher Arbeitskräfte in die Privatwirtschaft ab den 1970er Jahren auch sprunghaft die Brautpreise, da nun nicht nur die Frau, sondern in erster Linie die Wirtschaftskraft, die sie verkörpert, »ausgelöst« werden muss (vgl. Hershatter 2007: 8f.). Gleichzeitig entwickelte sich verstärkt eine Verbindung von Männlichkeit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (Farrer 2002: 16): nämlich die Fähigkeit, im Konkurrenzkampf um materiellen Wohlstand, den früher der Staat gewährleistete, den Sieg davon zu tragen. In dieser Rolle werden sie für Frauen erst attraktiv, denn »[s]ince women are the first to be laid off when enterprises downsize, they look to men for material security […] in making a good match« (Hershatter 2007: 10). Diese Mentalität zeigt sich unter anderem auch beim Sichten von Heiratsannoncen in chinesischen Zeitschriften. Chinas bekannteste Sexualforscherin Li Yinhe fand heraus, dass in 94,7 Prozent der von ihr untersuchten Anzeigen an erster Stelle der Beruf des Heiratswilligen genannt wurde, denn in China ist der Beruf das wichtigste Zeichen des sozialen Status und lässt Rückschlüsse auf das Einkommen zu (Li 2002: 8). Hinzu kommen Angaben zu Wohneigentum oder sonstigem materiellen Besitz, Bildungsgrad oder gar die unumwundene Nennung des Jahresverdienstes. Insbesondere Männer betonen oftmals ihren Arbeitseinsatz und Ehrgeiz im Beruf. Charaktereigenschaften, Hobbys und Interessen – alles, was die Persönlichkeit ausmacht – werden dagegen kaum genannt. Auch der auf die männliche Lesergruppe zugeschnittene Ratgebermarkt liefert mit entsprechenden Titeln wie beispielsweise »Männer müssen unbedingt Geld verdienen« (Nanren yiding yao chuan qian, von Wang Yingbo), »Männer – Nur wer Geld verdient, hat es geschafft« (Nanren, zheng qian cai shi zhen benshi, von Lü Shuchun), ein Echo auf die Vorstellung, dass der männliche Part für die materielle und finanzielle Sicherheit des weiblichen zu sorgen habe. Frauen wiederum äußern umgekehrt bei der Partnersuche ebenfalls dementsprechende Auswahlkriterien: so wünschen sich 46% der befragten Frauen einen Mann, der sich für Beruf und Karriere einsetzt. Damit avanciert die Arbeitstätigkeit zum wichtigen Auswahlkriterium. 37% suchen einen Mann mit (ökonomischem) Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie (Tang 2011: 89). Denn trotz steigender finanzieller Kapazitäten von White-Collar-Frauen obliegt beispielsweise die Verpflichtung, für das (Eigen-)Heim der Familie zu sorgen, immer noch dem Mann und der Immobilienbesitz fungiert als Symbol für Männlichkeit: »A house is a manƍs dignity.« (Zhang 2010: 168) Versagt der Mann aufgrund von mangelnden finanziellen Ressourcen im Erwerb von Wohneigentum und muss gar in die von der Frau gekaufte Wohnung mit einziehen, so bedeutet dies einen enormen Gesichtsverlust und eine symbolische Kastration der

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Männlichkeit. Zhang Li berichtet von gescheiterten Ehen, wo der Mann diese Schmach einfach nicht verkraftete und aufgrund von beständigen Minderwertigkeitskomplexen letztlich aus der Beziehung floh (ebd.: 169). Andererseits pflegen viele Frauen eine sehr abstrakte und idealistische Erwartungshaltung gegenüber der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mannes – und wenn dieser dem Standard nicht entsprechen kann, wird lieber der Mann ausgetauscht als die Erwartungen zurückzuschrauben. So berichtet eine Frau: »At heart I felt, as a little woman, such a pitiful life [ohne große Einnahmen und Konsumkraft, A.D.] could be forgiven, but as a man, my boyfriend had been pathetically down and out for more than two years: the shoes on his feet had been repaired time and again. The more I looked at him the more convinced I was he wasn’t going to come out of this. So I decided to split. […] My greatest hope then was to find a boyfriend who could afford a house for me..« (Zit. nach Wu 2012: 100f.)

Eine andere Fallgeschichte berichtet von einem jungen Arbeiter in Beijing, der aufgrund geringer schulischer Qualifikation sich mit diversen ungelernten Nebentätigkeiten durchs Leben schlägt. Dennoch beginnt er eine Liebesbeziehung mit einer Wanderarbeiterin und beide schaffen es ihr Leben zwischen Mühsal und Arbeit mit wenigen glücklichen Stunden der Zweisamkeit zu gestalten. Doch aufgrund des ständigen ökonomischen Drucks geht die Freude und der gegenseitige Austausch bald verloren und eines Tages ertappt er seine Freundin mit einem anderen, älteren Mann, dessen Geliebte sie geworden war. Sie rechtfertigt ihr Tun damit, dass sie »keine Wahl« (meiyou yudi) gehabt hätte (Guan 2012: 45). Daher konstatiert er am Ende: »Wenn du nur ein ehrliches, leidenschaftliches Herz hast, dann wirst du in dieser pragmatischen Welt die Liebe nicht halten können. […] Das Glück der Seele [sprich: Liebe, A.D.] baut auf materiellen Grundlagen auf. Diese Leute, die sagen, dass man ohne einen Pfennig glücklich sein könne, halte ich alle für Lügner, die Vorstellung ist geradezu krank.« (Zit. nach Guan 2012: 35-43)

Die Ratgeber betonten die Bedeutung des an und für sich traditionellen Partnerwahlprinzips von »mendang hudui« (standesgemäße Wahl) (Zhufu Xiaoxiao 2011: 51) und fordern die Frauen auf, ihren Zukünftigen vor der Hochzeit bezüglich seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit und finanziellen Familienhintergründe genau zu durchleuchten, um zu sehen, ob er ein wirtschaftlich abgesichertes Leben bieten könne. Männer werden damit zur Ersatzstrategie für die

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Sicherung ökonomischer Interessen von Frauen in Zeiten geschlechterdiskriminierender Wirtschaftsstrukturen. Insofern erscheinen die Aufforderungen zu mehr finanzieller Unabhängigkeit eher fragwürdig, da sie nicht wirklich zu einer generellen ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen von Männern führt. Der eigene Verdienst bzw. das Bilden von eigenen Reserven ist vor allem als eine Strategie gegen den ökonomischen Abstieg im Falle einer Trennung zu sehen, nicht jedoch als Basis für die Errichtung einer ökonomisch gleichberechtigten Beziehung. Denn das Verfügen über ein eigenes Vermögen ändert nichts an den generellen ökonomischen Verhältnissen innerhalb einer Ehe/Beziehung, wo die generelle Versorgerpflicht immer noch beim Mann bleibt und deren Erfüllung auch immer noch eng an Vorstellungen von Männlichkeit und weiblichen Erwartungshaltungen geknüpft ist. Alle ehe- und familienrelevante Investitionen hat dennoch hauptsächlich der Mann zu tragen, die Frau steuert ihr Vermögen nicht in den gemeinsamen Topf bei, sondern gönnt sich davon höchstens eigenen Luxus wie Shopping, Schönheitspflege und Reisen. Damit eröffnet sich für die Frau jedoch ein Teufelskreis, denn ein Mann stellt einen nicht minder unsicheren Faktor dar wie der Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsentwicklung, denn er kann im schlimmsten Fall »weglaufen« und damit die ökonomische Basis der Frau gefährden. Und so scheint trotz eventueller eigener finanzieller Rückhalte die größte Angst immer noch im Verlust des Versorgers zu bestehen – zumal in Zeiten steigender Scheidungsraten.3 Deshalb werden, anders als im Westen, wo sich nach Giddensƍ Ideal der partnerschaftlichen Liebe und der Luhmann'schen Skizze eines Liebessystems die Beziehung jenseits ökonomischer oder sonstiger praktischer Vorteile anzusiedeln hat (Luhmann 1994, Giddens 1993, Illouz 2003) und allzu finanziell orientierte Partnerschaften im sozialen Diskurs sanktioniert werden, in China die materialistischen Ansprüche von Frauen im gegenwärtigen Kontext nicht sozial negativ bewertet. Vielmehr bestätigen und festigen Mediendiskurse wie zum

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Seit Beginn der Reformpolitik und den damit einhergehenden sozioökonomischen Begleiterscheinungen stieg die Scheidungsrate in China – wie in allen asiatischen Ländern – sprunghaft an. So hat sich beispielsweise die Scheidungsrate in Hongkong von 1974 bis 1996 verdreifacht. In Festlandchina betrug der Scheidungsquotient im Jahr 2010 0,21, d.h. theoretisch wurde fast jede vierte Ehe geschieden. In Ländern wie Japan, Korea und Taiwan erreicht die Scheidungsrate mittlerweile ähnliche Zahlen wie ein Westeuropa und den USA (vgl. Ochiai 2013:121f.).



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Beispiel in TV-Dramen den Wahrheitsanspruch und die Normativität solcher Verhaltensweisen vom weiblichen Pragmatismus und Materialismus in der modernen chinesischen Gesellschaft (vgl. Dippner 2013). Warum ausgerechnet Frauen aufgefordert werden größtmöglichen ökonomischen Nutzen aus einer Ehe zu ziehen und umgangssprachlich »ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen«, zeigt sich allerdings erst auf dem zweiten Blick – nämlich dem Blick auf die tatsächlichen Besitzverhältnisse und die geltende Rechtspraxis im Falle einer Trennung. So entwickelte sich beispielsweise in jüngster Zeit insbesondere unter jungen, neuvermählten Paaren zunehmend der Trend zum gemeinsamen Erwerb der eigenen Wohnung aus der Notwendigkeit, dass durch die gestiegenen Immobilienpreise ein Alleinverdiener kaum mehr in der Lage ist die finanzielle Bürde allein zu tragen. Dennoch ist es in China gemäß der traditionellen Einstellung, dass der Mann als Familienoberhaupt und somit Finanzverwalter gesehen wird, weiter Usus, dass alleinig der Name des Mannes im Grundbuch eingetragen wird, auch wenn beide Parteien gleichwertig finanziell zum Erwerb beisteuern. Laut der Umfrage einer chinesischen Immobiliengesellschaft von 2013 besitzen 51,7% der verheirateten Männer alleinig Wohneigentum, aber nur 13,2% der verheirateten Frauen, obwohl 90% der Frauen einen finanziellen Beitrag zum Erwerb leisten (Fincher 2014: 46). Da Immobilien in China die einzig rentable Geldanlage sind und zumeist auch den größten Wertbestand im persönlichen Besitz ausmachen, sind Frauen durch den meist freiwilligen Verzicht auf Wohneigentumsrechte vom größten Reichtum akkumulierenden Kapitalmarkt Chinas ausgeschlossen. Dementsprechend raten mediale Diskurse Frauen zunehmend dazu sich entgegen der verbreiteten Praxis eines gemeinschaftlichen, unter dem Namen des Mannes subsumierten (Ehe-)Besitzes ihren Anteil zu sichern. Die Protagonistin Gong Haiping der beliebten TV-Soap »Woju« (China 2009) fasst die materialistische Komponente gegenwärtiger Geschlechterbeziehungen repräsentativ zusammen: »Wenn ein Mann eine Frau wirklich liebt, dann spart er sich die Worte [Schmeicheleien und Komplimente, A.D.], sondern schenkt ihr erstmal ein Aktienpaket, um der Frau ein Gefühl für Sicherheit zu geben. Danach schenkt er ihr noch eine Wohnung, denn selbst wenn er die Frau irgendwann verletzen sollte, fällt zwar ihr Herz ins Bodenlose, aber ihr Körper hat wenigstens ein Heim.« (Zit. nach Huang 2012: 61)

Dass dieses Szenario nicht realitätsfern ist, zeigt die chinesische Rechtsprechung in der Scheidungspraxis. Bei einer gerichtlichen Gütertrennung im Streitfall gilt

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zwar prinzipiell die Begünstigung von Frau und Kindern, doch nur zwei Fünftel aller Scheidungen verlaufen einvernehmlich und oftmals unterstützen unklare Besitzverhältnisse und undurchsichtige Finanzverwebungen im Klan- und Guanxi-Netzwerk die Verschleierung wahrer Einkommens- und Besitzverhältnisse (Palmer 2012) – zumal die Gesetzgebung noch kaum detaillierte Richtlinien zur Aufteilung von gemeinsamem Besitz vorsieht und die Praxis oftmals so aussieht, dass beide Parteien zur außergerichtlich, gütlichen Einigung aufgefordert werden, wovon der Partner mit der größeren Durchsetzungskraft profitiert: »The lack of detail and precision in these rules seems unlikely to assist the position of the divorcing wife.« (Palmer 2007: 132)4 Diese Situation wurde durch eine Revision des Ehegesetzes 2011 noch verschärft: die seit 1950 geltende gleichberechtigte Güteraufteilung im Sinne einer Zugewinngemeinschaft zwischen Eheleuten wurde wieder aufgehoben: Grund- und Wohneigentum gehört nun alleinig demjenigen, dessen Name im Grundbuch eingetragen ist – und dies ist in 70 Prozent der Fälle der des Mannes (Fincher 2014: 7f.). Damit wird die Scheidung zu einer existentiellen Bedrohung für die Frau, bei der sie im schlimmsten Fall alles verlieren kann: das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, ihren Wohnsitz und ihre ökonomische Grundlage. Denn das chinesische Familienrecht kennt keine Bevorzugung der Mutter als erste Bezugsperson für Kinder, sondern spricht das Sorgerecht oft dem Elternteil zu, das nach der Trennung die beste ökonomische Absicherung bieten kann – was natürlich oftmals der Vater ist, der die in seinem Namen registrierte ehemalige eheliche Wohnung behält und als Familienernährer auch über den besseren Verdienst verfügt. Damit wird es für Frauen gerade im Streit um Söhne schwer ihren Sorgerechtsanspruch

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Ein Beispiel ist der Fall Li Yang, dessen amerikanische Frau Kim Lee wegen exzessiver häuslicher Gewalt die Scheidung einreichte und es daraufhin zwischen 2011 und 2013 zu einem medial breit debattierten Rechtsstreit kam. Obwohl Li als Geschäftsmann des Fremdsprachen-Lernsystems »Crazy English« und Multimillionär landesweit bekannt ist und der Fall vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, gelang es ihm vor Gericht mehr als zwei Drittel seines Vermögens und Besitzes durch Verschleierungen im Verwandtschaftsnetzwerk zu unterschlagen, so dass seine Frau mit der vergleichsmäßig geringen Summe von 12 Mio RMB abgefunden wurde, deren Zahlung er zum Großteil auch noch säumig blieb. Der Fall machte jedoch medial positive Furore und entfachte insbesondere in sozialen Netzwerken breite Diskussionen, da Kim Lee erstmals öffentlichkeitswirksam der in China weit verbreiteten Praxis der häuslichen Gewalt sowie der Angst misshandelter Frauen vor einer unfairen Scheidungsregelung ein Gesicht verlieh (vgl. Fincher 2014, S.148ff).



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durchzusetzen. Doch selbst wenn ihr dies gelingt, sind die Aussichten auf eine Leben als Alleinerziehende düster, denn die chinesischen Gesetzeslage sieht keine klare Absicherung für die Frau in Form von gesetzlich geregelten Ehegattenunterhalt und Versorgungsausgleich vor, da von einer Berufstätigkeit bzw. einer prinzipiellen Befähigung zur Berufstätigkeit beider Parteien ausgegangen wird. Somit sind Unterhaltsansprüche in China nur sehr selten durchsetzbar (Cook 1992: 397). Sollte eine Partei nach der Scheidung in finanzielle Bedrängnis kommen, so sei die andere zwar verpflichtet zu »assistieren«, doch in welchem Umfang und Rahmen wird nicht näher definiert. Zwar gibt es Regelungen zur Zahlung von Kindesunterhalt, jedoch scheint dieser oftmals in der Praxis schwierig und unsicher durchzusetzen zu sein und meist nur auf dem Papier zu bestehen. So handeln beispielsweise viele »Schicksalsgeschichten« in chinesischen Frauenzeitschriften von Frauen, die durch die Trennung in eine prekäre finanzielle Lage gerieten und aus Not und Verzweiflung eine Straftat begingen. Durch die geringe gesetzliche Unterstützung und Regelung kann eine Scheidung also für die Frau durchaus eine ernsthafte Bedrohung ihrer Lebensgrundlage darstellen, wie auch Michael Palmer erkennt: »There is a real danger that the rights and interests of the divorcing wives are insufficiently safeguarded.« (Palmer 2007: 130) Eine Scheidung bedeutet also im Regelfall eine eklatante Verschlechterung des Lebensstandards, da sich Frauen bei der Partnerwahl sozial und ökonomisch nach »oben« orientieren oder selbst gutausgebildete White-Collar-Paare nur mit Doppeleinkommen den enormen finanziellen Verpflichtungen von der Immobilienhypothek bis zur Schulausbildung des Kindes nachkommen können; ganz zu schweigen von jenen Frauen, die den sozialen Aufstieg qua Ehe vor allem dank ihres weiblichen Kapitals der Jugend und Attraktivität erreichten, und nach etlichen Ehejahren im Falle einer Scheidung – wenn Jugend und Schönheit vergangen sind – durch das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit prinzipiell auf ihr ursprüngliches soziales Niveau zurückfallen würden. Insgesamt lässt sich also zusammenfassen, dass das Bild des männlichen Versorgers also durch die finanziell ebenfalls abgesicherte Frau zwar erschüttert, teilweise dekonstruiert und zunehmend ersetzt wird durch eine ökonomisch gleichberechtigtere Partnerschaft, wo beide Beteiligten sich gleichermaßen materiell und finanziell einbringen. Anlass hierfür ist allerdings nicht der emanzipatorische Gedanke, der bereits von den Reformern der 4. Mai-Bewegung als Kernpunkt zum Wandel der Stellung der Frau in der Gesellschaft identifiziert wurde, nämlich dass weibliche Selbstbestimmung nur durch wirtschaftliche Unabhängigkeit möglich ist. Stattdessen resultieren die Ratschläge zur materialistischen

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Nutzbarmachung von Geschlechterbeziehungen aus den desillusionierenden Lebenserfahrungen in der chinesischen Gesellschaft, wo noch jeder rechtliche und institutionelle Schutz weiblicher Interessen fehlt und Frauen daher angehalten sind sich selbst abzusichern – sowohl gegen die Benachteiligung auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt wie auch im Privaten gegen patriarchische Familieninteressen. Paradoxerweise wird hier also auf ein gesteigertes Risikobewusstsein mit einer ebenso riskanten Absicherung reagiert: wirtschaftliche Geschlechterdiskriminierung soll durch die Investition in private (männliche) »LangzeitEssensmarken« ausgeglichen werden, welche sich jedoch wiederum im Falle einer Trennung als unbeständige und oftmals fatale Lösung herausstellen. Aus diesem Kreis der riskanten Abhängigkeiten und Enttäuschungen keimt aber kein feministischer Gedanke von weiblicher Selbstbestimmung, sondern das patriarchalische Abhängigkeitssystem verschiebt sich nur zugunsten des Mannes, indem die Frau aus Angst vor sozialem Abstieg im Falle der Trennung selbst Vorsorge trifft und damit die konfuzianisch-moralische reziproke Verpflichtung des Mannes, für die Frau zu sorgen, aufhebt. Gleichzeitig geht die eigene finanzielle Absicherung der Frauen allerdings nicht mit einer weiblichen Ermächtigung, einem gestiegenen Selbstbewusstsein und mehr Mitspracherecht einher, sondern belässt sie dennoch weiter in einer Art freiwilliger Abhängigkeit vom männlichen Ernährer. Hausfrau Xiaoxiao fasst dies folgendermaßen in ihrem Ratgeber zusammen: Sie schreibt, der Aktien- u. Immobilienmarkt könne zusammenbrechen, alle Geldanlagen können verloren gehen, daher sei der Mann immer noch das beste Kapital und es müssen daher die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden, dass er viel arbeiten und dementsprechend verdienen kann. Zudem läge es an der Frau, ihn trotz der Arbeitslast noch bei Laune zu halten, damit er die Familie nicht verlässt (Zhufu Xiaoxiao 2011: 39). Trotz möglicher Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Frau entscheidet sich diese, statt zu rebellieren, bewusst für eine Kooperation mit den gegebenen patriarchalischen Strukturen aufgrund von ökonomischen Vorteilen. Dieser Grundtenor findet sich auch in jenen Ratgeberbüchern, die die Zweischneidigkeit von weiblicher Abhängigkeit durchaus bewusst ansprechen und dabei die Vorteile, die die Frau daraus gewinnen kann, hervorheben: »Wenn Männer glauben, dass sie die Fähigkeit haben, alle Dinge erledigen zu können, dann werden sie alle Dinge im Leben aktiv angehen und gerne noch mehr Verantwortung übernehmen. Frauen müssen nur ihre Abhängigkeit von Männern und ihre folgsame Stellung bewahren, aber dann müssen sie nicht so viel Mühsal auf sich nehmen, um Geld zu verdienen und die Familie zu ernähren. Stattdessen übernehmen Männer gerne und freiwillig die Bürde, die Familie zu ernähren.« (Feng 2011: 34)

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Durch diese aktive Reflexion der eigenen Position und das Einnehmen einer Geschlechterrolle der konstruierten Abhängigkeit aus pragmatischen Gründen zur Erlangung von wirtschaftlichen und finanziellen Vorteilen erreichen Frauen durchaus eine gewisse Handlungsmacht. So wird die Einnahme der Rolle des Ernährers durch den Mann nicht mehr als Relikt der patriarchalischen Familienstruktur und Einschränkung weiblicher Entwicklungsmöglichkeiten gesehen, sondern als Erleichterung für die Frau: sie wird dadurch aus diversen wirtschaftlichen Pflichten und Bürden entbunden wie z.B. jener für eine Ehewohnung oder ein regelmäßiges Einkommen sorgen zu müssen. Die Ratgeberautorin Feng Xiaochong findet daher die Forderung der Männer nach beidseitiger Gleichberechtigung – nämlich dass Frauen auch die gleichen Pflichten und Bürden im Bezug auf die Sicherstellung der Lebensgrundlagen, Familienernährung und Konsummöglichkeiten wie die Männer übernehmen sollen – lächerlich und anmaßend. Sie beschimpft jene Männer als »fiese Betrüger«, die von den Rechten der Frauen ablenken und deren Emanzipation schaden wollen, denn laut ihrer Argumentation zerstörte erst die historische Einführung des Patriarchats die vorher offenbar als gesetzt gegebene Geschlechtergleichberechtigung, daher läge es in der Pflicht der Männer nun für einen Ausgleich und eine Entschädigung der Frauen zu sorgen (z.B. indem sie freiwillig die Versorgerpflichten übernehmen) und für eine Wiederherstellung einer gleichberechtigten – bzw. bevorzugten – Stellung der Frau zu sorgen (ebd.: 47). Dennoch wirkt sich diese »gegenseitige Ausbeutung« letztendlich negativ auf das Geschlechterverhältnis aus, indem beide Geschlechter die sozial auferlegte Rolle des Anderen zwar für ihren Vorteil nutzen, nicht aber respektieren. So vergleicht Feng Xiaochong Männer aus dem Blickwinkel der Frauen einerseits mit Ratten, die verachtet werden und andererseits auch mit Eseln, die arbeiten und schuften müssen.

S TARKE F RAU STATT STARKE F RAU : F RAUEN DER B ERUFSTÄTIGKEIT

IN

Angesichts der eben erwähnten ökonomischen Bedingungen in der Ehe und mit dem Risiko einer Scheidung wird Frauen in der überwiegenden Mehrzahl der Ratgeber empfohlen, nach der Eheschließung und Familiengründung unbedingt weiter einen Beruf auszuüben, auch wenn dies nicht zur finanziellen Absicherung der Familie notwendig sei. Denn Beruf und Karriere wird eine wichtige Funktion bei der Schaffung von Selbstvertrauen, Selbstwert und Identitätsbestätigung zugesprochen (Li 2011: 136). Im Arbeitsumfeld habe die Frau die Möglichkeit ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und dementsprechend Anerken-

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nung für ihre Leistungen zu erhalten, was sich positiv auf das Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Leistungen auswirkt. Zahlreiche Fallgeschichten berichten von Frauen, die nach der Hochzeit ihre Berufstätigkeit aufgaben, sich jedoch schnell vom Hausfrauendasein gelangweilt und unterfordert fühlten und dementsprechend auch die Beziehung darunter litt. Im idealen Fall nimmt die Protagonistin wieder eine Teilzeit-Erwerbstätigkeit oder ehrenamtliche Aktivität auf, die ihr in erster Linie Spaß und Erfüllung bringt, während der kaum nennenswerte finanzielle Ausgleich eine eher untergeordnete Rolle spielt, da ja der Ehemann als Hauptverdiener und Ernährer der Familie fungiert. So handelt eine dieser Geschichten von einem Akademikerpaar, das sich bereits zu Unitagen kennen und lieben lernte. Nach dem Bachelor folgte die Hochzeit und bald auch die Geburt der Tochter, welche das Ende der akademischen Karriere der Frau bedeutete. Der Mann hingegen drückte weiter die Schulbank bis zum Doktorgrad und strebte eine wissenschaftliche Karriere an. Mit seinem Erfolg ist es für seine Frau auch nicht mehr notwendig arbeiten zu gehen und sie widmet sich ganz der Familie. Doch bald merkt sie, dass sich ihr Mann immer weniger mit ihr unterhält und mehr die Nähe zu Freunden und Kollegen sucht. Darauf angesprochen, teilt er ihr mit, dass er sich nicht mehr mit ihr unterhalten könne, da ihr Horizont aufgrund der reinen Hausfrauentätigkeit zu gering sei und ihre Interessen sich daher nicht mehr glichen. Die Frau kann die Ehe letztlich nur dadurch retten, indem sie sich ebenfalls zum Magisterstudium einschreibt und sich damit zur interessanten und ebenbürtigen Gesprächspartnerin für ihren Mann weiterqualifiziert (Zhang 2013: 193f.). In einem negativen Beispiel scheitert die Ehe dagegen, als der Mann die faule Hausfrau für eine beruflich engagierte, fleißige Frau verlässt. Es gilt somit das Ideal, dass das berufliche Engagement das Familienleben noch glücklicher und harmonischer macht und nur eine arbeitende bzw. sich außerhäuslich engagierende Frau eine wirklich »schöne« Frau sei und den Respekt und die Anerkennung ihres Mannes erhalte (Li 2008: 185f.). Außerdem könnten Frauen im Berufsleben Eigenschaften trainieren und Fähigkeiten erlernen, die ihnen auch beim Familienmanagement von Nutzen sind, wie beispielsweise finanzielle Kompetenzen und Kapitalanlage sowie Verwaltungs- und Organisationstalent, Zeitkoordination und eine wissenschaftlich basierte, methodische Herangehensweise an alltägliche Aufgaben wie u.a. die Überprüfung der Lebensmittelsicherheit beim Einkauf oder die Optimierung von Haushaltsabläufen, um ein gesundes (jiankang), sauberes (jiezheng), hygienisches (weisheng) und sicheres (anquan fangxin) Zuhause und Familienleben garantieren zu können. Daher laste viel Verantwortung auf den Schultern der Frau in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau, weshalb sie Kompetenzen, die

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normalerweise der Arbeitswelt zugeschrieben werden, benötigt, um auch unter Zeitdruck effiziente, umsichtige und rationale Entscheidungen zum Wohle der Familie treffen zu können, denn »[n]ur wenn das Leben gut verwaltet und gemanagt ist, kann die Hausfrau daraus ein delikates Menü kreieren, das jeder gerne lange ohne Verdruss genießt« (Zhufu Xiaoxiao 2011: 9). In der Tat scheint die Furcht von der »Unzulänglichkeit« der Frau weit verbreitet zu sein, ebenso wie die Rhetorik eines geringeren Niveaus (di suzhi) von Frauen, welches sich ab der Reformzeit als Legitimation für die Akzeptanz des erneuten Aufflammens von Geschlechterungleichheiten in allen Bereichen etablierte (vgl. Hooper 2015). Diese impliziert mit der Aufforderung der Selbstverbesserung zugleich die Prädisposition, dass Frauen offenbar geringer qualifiziert sind als Männer und daher mehr an sich arbeiten müssen, um einen gleichberechtigten Ausgangspunkt zu erreichen (Wang 1999: 35). Die Berufstätigkeit der Frau erfolgt also offenbar nicht aus reiner ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus persönlichem, immateriellem Mehrgewinn in Form von Arbeit am Selbst, Wissenserweiterung, Selbstbestätigung und sozialer Anerkennung. Die Ausübung einer Arbeitstätigkeit wird damit zu einem weiteren Aspekt des Ethos der beständigen Selbstverbesserung, indem vor allem nur die positiven Effekte herausgestellt werden, eventuelle Schattenseiten gänzlich verschwiegen bleiben. Die Arbeitstätigkeit wird in Kontrast zum Stillstand gesehen, einem sowohl in der protestantischen Ethik als auch im maoistischen Sozialismuskonzept unduldbaren Zustand. So schrieb schon die staatliche soziale Erziehungskampagne 1963-65 vor, dass nur mit einem entsprechenden ideologischen Bewusstsein und der unbedingten Teilnahme an der Produktion der Weg zur weiblichen Emanzipation beschritten werden könne, während die Fokussierung auf das Privat- und Familienleben als selbstsüchtig und bourgeois verurteilt wurde (vgl. Wang 1999: 26). Wer nicht arbeitet, der steht still, der qualifiziert sich nicht weiter, der fällt zurück und wird im Prozess der sozialen Auslese irgendwann »aussortiert«. Tatsächlich argumentieren die Ratgeber teilweise in solch sozialdarwinistischem Ton: »Wenn es die Ehefrau versäumt mit dem Mann Schritt zu halten [durch ständige Selbstverbesserung, A.D.] und daher vom Mann zurückgelassen wird, dann ist sie niemand, den es zu bedauern gilt.« (Zhang 2013: 36) Daraus lässt sich ersehen, dass es weder um den ökonomischen Nutzen einer Berufstätigkeit geht, noch um die konkrete Tätigkeit an sich, sondern um einen generellen Imperativ zur Aktivität, einem »korrekten Bewusstsein«, wie es bereits Ziel der politischen Agenden im sozialistischen China war. Doch anstelle des Bewusstseins für politische Partizipation und Arbeit für den sozialistischen Aufbau, geht es nun um das Bewusstsein um die Notwendigkeit der Arbeit am Selbst. Diese »Arbeit« muss nicht unbedingt in produktiver

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Leistungsfähigkeit, Entgeltentlohnung oder politischem Engagement gemessen werden. Denn in vielen Fallbeispielen geht es nicht einmal darum, dass Frauen ihren ursprünglich erlernten Beruf oder eine hochspezialisierte Tätigkeit mit ökonomischem Mehrwert ausüben oder eine Karriere anstreben. Oftmals engagieren sich die Protagonistinnen nur als ehrenamtliche Kindergärtnerinnen oder in Charity-Organisationen oder beginnen ein weiterführendes Studium. Daraus wird ersichtlich, dass die Beschäftigung nicht im Hinblick auf finanziellen Zugewinn angeraten wird, sondern dass generell »etwas zu tun« mit Fokus auf geistige und persönliche Weiterbildung im Vordergrund steht. Dies ist gewissermaßen ein Echo auf die politische Ideologie in den 50er und 60er Jahren zur Integration der Frauen in die politisch und wirtschaftlich aktive Volksmasse: »Revolutionary consciousness plays a decisive role. Without self-consciousness, a person will be unwilling to fly through the sky [which] is high, but will confine herself to her socalled warm small family and indulge herself in material life and comforts, stick to her present situation, refuse to make progress, and idle away her precious time. She will certainly come to her ruin and miss all the favorable conditions that have been created for women of our age.« (Croll 1974: 90)

Es ist eine Rhetorik der Abgrenzung der sich ihrer Aufgabe der Selbstverbesserung bewussten Mittelschichts-Hausfrau zum traditionellen bourgeoisen Frauenbild einerseits und den als faul und unfähig kritisierten »Neureichen-Frauen« der Oberschicht andererseits. Der reine Genuss materiellen Wohlstandes und den damit verbundenen Vorzügen wie Freizeit ohne Eigenengagement wird verurteilt als nutzlose Verschwendung von Zeit und Ressourcen: »Es gibt den Satz ›gut arbeiten ist nicht so gut wie gut zu heiraten‹ und daher genießen viele Frauen gerne, dass der Mann draußen für sie sorgt. Aber sie nutzen die freie Zeit nicht, um zu lernen und Bücher zu lesen, sondern verschwenden sie in Kaufhäusern und an Mahjong-Tischen.« (Zhang 2013: 222)

Arbeit ist somit, ganz im Sinne der Weber'schen protestantischen Ethik, ein identitätsstiftender Selbstzweck, auch wenn der Begriff »Arbeit« in diesem Sinne nur sehr unklar definiert bleibt. Denn diese Rhetorik konstruiert sich vor allem auf der ideologischen Ebene der Selbstverbesserung durch Aktivität: »›Self-improvement‹ rather than ›equality‹ has become the baseline of the WF's [Women Federation] policy« (Wang 1999: 35).

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Die Wichtigkeit der Weiterbildung zur Optimierung der Investitionen zeigt sich vor allem im »richtigen Bewusstsein«, da in der konkreten Lebenspraxis kaum Unterschiede wahrzunehmen sind: auch wenn die konkrete Lebensgestaltung von Frauen der Mittel- und Oberschicht kaum differieren mag, so postulieren die Frauen der Mittelschicht durch ihren Arbeitseinsatz zum Erhalt ihrer physischen Schönheit, Kindererziehung und Ausbau ihrer geistigen Qualitäten zum Vorteile der Familie (z.B. durch Kenntnisse in Ernährung, Psychologie etc.) eine moralisch überlegene Stellung gegenüber den untätigen Frauen der Oberschicht. Somit unterliegen die Forderungen nach der Arbeitstätigkeit der Frau in den chinesischen Ratgebern trotz vordergründig feministischer Agenda der Selbstverwirklichung letztlich einer kapitalistischen Ethik. Den Frauen wird nicht die Wahl ihrer Lebensgestaltung selbst überlassen – zumal offensichtlich keine wirtschaftliche Not besteht –, sondern sie werden mit Verweisen auf die negativen sozialen Auswirkungen der Arbeitsverweigerung zur Eingliederung in den kapitalistischen Produktionsprozess gezwungen.

D IE V EREINBARKEIT VON B ERUF UND F AMILIE : A LLES EINE F RAGE DER RICHTIGEN E INSTELLUNG In der Auseinandersetzung mit dem außerhäuslichen Engagement wird jedoch die Doppelbelastung von Beruf und Familie größtenteils überhaupt nicht angesprochen. Sie scheint, glaubt man zumindest dem Ratgeberdiskurs, für chinesische Frauen nahezu inexistent zu sein. Nur ein Ratgeber geht darauf ein: »Für berufstätige Frauen ist der arbeitsbedingte Druck noch größer als für Männer, besonders für verheiratete berufstätige Frauen, die zusätzlich noch Ehefrau und Mutter sind und trotzdem im Job genauso herausragend arbeiten müssen wie ihre männlichen Kollegen. Gerade dieser Rollenwechsel fällt Frauen oft sehr schwer, daher ist es wichtig sich einen vernünftigen Arbeitsplan zu erstellen.« (Li 2008: 138)

Dennoch wird auch hier kein Verständnis für die doppelte Belastung der Frau aufgebracht und eine Erleichterung durch beispielsweise eine gleichberechtigte Aufteilung häuslicher Pflichten auf beide Geschlechter gefordert, sondern dafür plädiert, dass Frauen sich einfach nur noch mehr anstrengen und besser sein müssten, um alles zu schaffen:

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»Wenn eine Frau von der Gesellschaft anerkannt werden will, so muss sie genauso aufopferungsvoll arbeiten wie Männer. Denn sie weiß, dass Männer zwar oft von der Respektierung der Frau sprechen, aber diese in Wirklichkeit nie ernst genommen haben. Frauen müssen ihre eigenen Arbeitserfolge herausstellen, um den Männern zu beweisen, dass sie im Beruf keineswegs schlechter sind als die Männer. Sie müssen sich wie die Männer selbst einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen.« (Ebd: 185)

Es wird also in der Berufswelt die gleiche Leistung von Frauen wie von Männern gefordert und keinerlei geschlechterspezifische Rücksichtnahme in Aussicht gestellt. So sollen Frauen allein mit Selbstvertrauen, Stärke und Durchhaltevermögen alle Schwierigkeiten überwinden, bei Rückschlägen sich nicht entmutigen lassen und trotzdem lächelnd weitermachen. Sie sollen »eiserne Rosen« sein, die den Druck und Stress im Job, weil dieser männerdominiert ist und Frauen hier prinzipiell weniger Erfolgschancen haben, und die daraus resultierenden Frustrationen ohne mit der Wimper zu zucken wegstecken, dann auch zusätzlich noch den Großteil von Haushalt und Kindererziehung übernehmen: »In der Gesellschaft ist die Erfolgsquote von Männern höher als die von Frauen, weil viele Frauen, wenn sie einmal scheitern, sich ins Private zurückziehen und komplett Hausfrau werden. Von da an ist ihr Leben fade, während die erfolgreichen Frauen, die bis zum Ende durchhalten, erfüllt und fröhlich leben.« (Zhang 2013: 69)

Doch trotz dieser Heraus- bzw. Überforderung soll die Frau keine negativen Gefühle zulassen, sondern souverän darüber stehen und alles brillant und erfolgreich meistern und jeden Tag erneut voller Optimismus und Zuversicht starten (Yan 2012: 48). Dass solche Durchhalteparolen nicht unbedingt der realen Lebenssituation chinesischer Frauen entsprechen, bedarf eigentlich gar nicht erst eines wissenschaftlichen Gegenbeweises.5 Doch geht es im Ratgeberdiskurs in diesem Falle – anders als beispielsweise bei den Schmink- und Stylingtipps – nicht um konkrete Praxisanleitungen zur Bewältigung einer Problemsituation, sondern hier finden sich unterschiedliche Rhetoriken der chinesischen Frauenpolitik des letzten halben Jahrhunderts wieder: Im sozialistischen China wurde die doppelte oder

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So schreibt beispielsweise Beverly Hooper (2015: 8) – an dieser Stelle stellvertretend genannt für eine Reihe ähnlicher Forschungsergebnisse –, dass 1983 noch 76,5% der befragten Studentinnen Schwierigkeiten darin sahen, später in ihren Jobs erfolgreich zu sein und gleichzeitig die ihnen auferlegte häusliche Rolle adäquat zu erfüllen.



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gar dreifache Belastung der Frauen durch Familienpflichten, Berufstätigkeit und politischer Aktivität ebenfalls ignoriert und damit gerechtfertigt, dass politische Ziele über private Belange zu stellen seien. Der Ethos der Aufopferung des Privatlebens zugunsten des öffentlichen Wohls galt als allgemeiner Konsens: »[T]he state fostered both the idea that family or individual matters must take second place to public needs and that the relation between political duty and family life shoud be handled through heroic conduct, such as working very long hours. The power of ‹will‹ was thus termed decisive.« (Wang 1999: 28)

Als Erfolgsgeheimnis von vorbildlichen Frauen, die sowohl im politischen Feld aktiv waren als auch ihren Pflichten als Mutter nachkamen, wurde das Mantra des »not let herself down in the face of the heavy burden« (ebd.) veröffentlicht. Und genau dies findet auch heute seine Wiederholung in den chinesischen Frauenratgebern. Anstatt Tipps zur Bewältigung von vielfachen Anforderungen, geben die Ratgeber abstrakte Durchhalteparolen aus und orakeln über einen geistigen und emotionalen Ausgleich und Rückhalt, den Frauen für ihre erbrachten Leistungen erhalten würden und dass alleine eine positive, optimistische Ausstrahlung und ein unerschütterliches Selbstvertrauen der Schlüssel zum Erfolg seien. Frauen, die unter Stress und Belastung durch Haushaltspflichten, Berufstätigkeit und Familie leiden, wird angeraten einfach die Perspektive zu wechseln und ihr Leben mit einer anderen Einstellung (taidu) zu betrachten: »Wenn Du mit all der Arbeit fertig bist, reicht Dir der verständnisvolle und gutmütige Ehemann eine Tasse heißen Tee, so dass der frische Teegeruch Dir die Nase füllt und das Innere erwärmt. Das Kind stürzt in Deine Umarmung und lauscht Deinen Geschichten über vergangene Zeiten mit neugierigen und freudigen Augen. In dem Moment wirst Du fühlen, wie erfüllt das Leben ist, wie harmonisch und glücklich. Das ist Freude. Freude setzt sich aus vielen alltäglichen und gewöhnlichen Dingen zusammen. Freude ist die Ungezwungenheit des Geistes, Transzendenz des Individuellen (gexing de zhaoyue), die Erhöhung des Geistes. Freude ist eine äußerst positive, enthusiastische (jiqi xiangshang) Einstellung.« (Li 2008: 41)

Erstaunlicherweise handelt tatsächlich keine einzige Fallgeschichte davon, dass Frauen von der Doppelbelastung Beruf und Familie überfordert sind oder aufgrund von Stress ihren Familienpflichten nicht perfekt nachkommen können. Solche Verweise fehlen vollkommen, ebenso natürlich dementsprechende Ratschläge zum Umgang mit der zweifachen Belastung. Stattdessen ist des Öfteren die Rede davon, dass eine Frau den Ansprüchen des Mannes nicht genügt, weil

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sie sich sozial und beruflich nicht genug engagiert und weiterqualifiziert. Es wird das Bild gezeichnet, dass Männer Frauen offensichtlich nur dann lieben und respektieren können, wenn sie gute Ehefrauen und Mütter UND zugleich erfolgreich außerhäuslich engagiert sowie vielfältig interessiert und sozial eingebunden sind – sie sind »Super-Moms«, glamouröse und energetische Karrierefrauen, die Arbeit und ein erfüllendes Familienleben problemlos vereinen (vgl. Brooks 2011: 33). Es stellt sich natürlich die Frage, warum in den Ratgebern trotz seitenlanger Ausführungen zu korrekter Arbeitskleidung und Bürosmalltalk ausgerechnet die offensichtlich größte Problematik der berufstätigen Frau – das Dilemma zwischen Familienpflichten und Erwerbsanforderungen – nicht thematisiert wird, warum ausgerechnet bei der prekärsten Frage moderner weiblicher Identität eine solch eklatante Leerstelle klafft. Denn auch wenn die Frauenratgeber sich zu dem Thema ausschweigen, in der Realität existiert diese Doppelbelastung durchaus, wie beispielsweise in diversen Internetforen nachzulesen ist.6 Studien über die Verteilung von familiären Aufgaben zeigen, dass es trotz voller Berufstätigkeit größtenteils den Frauen obliegt, sich um Haushalt und Kinderbetreuung zu kümmern. Eine qualitative Studie in Beijing zeigt, dass die

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So schreibt die »PCLady« (bang nülang), eine Kummerkasten-Autorin der »Pacific Style« Seite (taipingyang shishang): »Diese zivilisierten Zeiten, wo der hohe Immobilienpreis Männer und Frauen zur «Gleichberechtigung« zwingt, ist für die Männer ein Segen und für die Frauen ein Fluch! Welche Männer hatten in der feudalen Gesellschaft die Qualifikation zum Heiraten? Die, die ein Haus errichtet haben, die einen Beruf hatten, die eine Heiratsvermittlerin engagieren konnten, die eine Frau und Kinder ernähren konnten (und es war eine ganz Schar Kinder)... Also egal ob er ein reicher Erbe war, keine Kultur hatte oder ob er gesund war, Männer mussten immer zu 100% die Familienversorgung übernehmen. Und die Frauen in der alten Gesellschaft? Die mussten sich nur um Haushalt, Pietät gegenüber den Schwiegereltern und Kindererziehung kümmern. […] Und heute in dieser Gesellschaft, wo Männer und Frauen angeblich gleichberechtigt sind? Frauen müssen ›gleichberechtigt‹ in der Firma mit den Männern wettstreiten, müssen ›gleichberechtigt‹ mit die Familienausgaben und Immobilienhypothek bezahlen, aber immer noch den Großteil des Haushalts, die Pietät gegenüber den Schwiegereltern und die Kindererziehung übernehmen – und darüber hinaus noch eisern darauf achten ihre Figur und Aussehen zu bewahren und zu verhindern, dass der eigene Ehemann, sobald er etwas Geld übrig hat, sich eine Ernai nimmt (oder wenn er kein Geld hat mit der Kollegin anbandelt).«; unter: http://emotion.pclady.com.cn/97/972650.html



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Aufteilung von Hausarbeit bei Doppelverdiener-Paaren immer noch sehr ungleich verteilt ist, obwohl es von den meisten als faire Aufteilung gesehen wird (Zhang/Hannum/Wang 2015: 25). So sorgen Frauen in White-Collar-Positionen insbesondere hauptsächlich für Ernährung, Wäsche und Kindererziehung, während sich nur ein Drittel der Männer vor allem beim Geschirrspülen und Einkaufen beteiligt: »Married women and mothers are also those who spend the most time on housework, even if they have the same level of human capital and political capital as men and even when they work as many hours in paid labor as man.« (Ebd.: 41) Aber trotzdem finden nur 36% der befragten Frauen Beruf und Familie schwer zu vereinen (Tang 2011: 74), während 63% sich in ihren intimen Beziehungen nicht vom Job beeinträchtigt fühlen; 46% fühlen sind wegen dem Beruf zuhause überhaupt nicht negativ gestresst und nur 32% der Frauen finden, dass ihr Beruf ihnen die Zeit kostet, die sie mit der Familie verbringen sollten, während gut ein Drittel (31,4%) der Frauen mit Kind sogar jede Woche mehr als einmal Überstunden im Job macht (ebd.: 67). Insgesamt machen sich 53% der Befragten keine Gedanken über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dies bereitet nur 11,9% große Sorgen und nur 9% fühlen sich mit der Vereinbarung von Job und Familie überfordert (ebd.: 120). Dies sind erstaunliche Ergebnisse angesichts der Tatsache, dass unter den Befragten trotz Nachwuchs die Vollzeitarbeit beider Elternteile nahezu 80% erreicht (Ochiai 2013: 148). Zwar beteiligen sich im innerasiatischen Vergleich die chinesischen Männer noch am meisten an der Hausarbeit, aber gleichzeitig finden in China Aussagen wie »Der Ehemann sollte außerhaus arbeiten und die Ehefrau kümmert sich ums Heim« und »Für eine Ehefrau ist es wichtiger den Ehemann zu unterstützen anstatt selbst Karriere zu machen« unter jungen Altersgruppen den meisten Zuspruch: »Wir erkennen ein gegenläufiges Phänomen, dass unter den Chinesen die meiste Geschlechtergleichberechtigung in der Altersgruppe über 50 vorherrscht und die wenigste in der Gruppe unter 40.« (Iwai/Yasuda 2009: 63) In der Tat scheint die Bereitschaft der Männer, einen Teil der haushaltlichen Bürden zu übernehmen, stetig abzunehmen. Ellen Efron Pimentel befragte chinesische Paare zu ihrer Beteiligung an den Haushaltspflichten und zugleich ihrer Zufriedenheit mit der Ehe und kam zu dem Ergebnis, dass jüngere Ehemänner bis 35 im Vergleich zur Generation der 50-60-jährigen sich am wenigstens in den häuslichen Alltag einbringen und mehr die Rolle des Ernährers einnehmen, dafür aber auch am unzufriedensten mit der Beziehung sind, wenn ihnen Haushaltsaufgaben angetragen werden. Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen von Iwai und Yasuda dahingehend überein, dass »the push to egalitarianism in family and social struc-

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ture and state-mandated attitudes seems to have produced a blacklash among men.« (Pimentel 2015: 271) Da eine Beleuchtung der offensichtlich ungleichen realen Arbeits- und Lebenssituation von Frauen in China keine Antwort auf die Frage, warum die Ratgeber diese Problemstellung ignorieren, bieten kann, ist es sinnvoll sich stattdessen auf die Diskursebene zu begeben, um in der Frage nach der Existenz eines Bewusstsein für diese Ungleichheiten einen Anhaltspunkt zu finden. Geschlechterbasierte Ungleichheiten existieren immer auf zwei Ebenen: einmal auf der tatsächlichen, objektiven Lage, dann aber auch in deren Bewusstwerdung und Delegitimierung im öffentlichen Diskurs. Dabei wird nicht unbedingt eine Parallelität beider Phasen vorausgesetzt und oft werden Ungleichheiten real lange hingenommen, bevor sie bewusst und problematisiert werden. Eine Bewusstwerdung erfolgt oft gerade dann, wenn entweder bereits der Stein der Gleichberechtigung durch eine verwandte Debatte ausgelöst wurde und auf verschiedene andere Bereiche überspringt und diese auch hinterfragt oder wenn in ehemals traditionell festgeschriebenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern Entscheidungen freigestellt und legitimationsabhängig werden, indem Rollen- und Verhaltensvorgaben aufgelöst und damit aushandlungsbedürftig werden. Daran schließt sich meist eine Diskussion über die neue Aufgabenverteilung an, welche auch die damit einhergehenden Belastungen offenlegt und die unterschiedlichen Folgen und Risiken für Männer und Frauen herausarbeitet. In China ist die Diskrepanz zwischen Bewusstsein bzw. Bewusstwerdung und Praxis in der Geschlechtergleichstellung an und für sich kein neues Phänomen. Obwohl die kommunistische Geschlechterpolitik bereits Meilensteine für die Emanzipation der Frau aus ihrer traditionellen Rolle setzte und grundlegend dazu beitrug, sie aus ihrer Beschränktheit auf häusliche Zuständigkeitsbereiche herauszulösen, blieben diese Veränderungen zumeist nur auf Ideologie und Bekenntnissen auf Papier beschränkt und führten nicht zu einem grundsätzlich veränderten Bewusstsein in der Gesellschaft. Zwar wurden Frauen im sozialistischen China gemäß Marx’ Theorie von der ungenutzten weiblichen Arbeitskraft, welche in Heim und Reproduktion verschwindet, von der Hausarbeit und den Erziehungspflichten weitestgehend entbunden und entlastet, um ihre Energie für Erwerbstätigkeit zu nutzen, doch geschah dies nicht durch eine neue Ausbalancierung der häuslichen Aufgabenverteilung der Geschlechter, sondern durch eine Kollektivierung ehemals privater Verantwortungen. Die Kindererziehung wurde an Horte und Internate delegiert, haushaltliche Alltäglichkeiten in kollektive Einrichtungen wie Kantinen, Waschküchen etc. verlegt, wodurch sowohl Frau als auch Mann von diesen Pflichten gleichermaßen befreit wurden. Dies führte zwar in der Tat zu einem mehr oder minder freiwilligen rapiden

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Anstieg der Erwerbstätigkeit bei Frauen und einer breiten Akzeptanz, ja gar Erwartung von Berufsausübung von Frauen, aber andererseits wurde den Männern – als ebenbürtige Mitglieder der Familie – die Möglichkeit genommen, ein entsprechendes Bewusstsein für eine gleichberechtigtere Aufgabenverteilung im familiären Bereich zu entwickeln, so dass ihre Mithilfe durch die Auslagerung und Kollektivierung der Aufgaben gar nicht erst gefragt war. Dies mag der Grund sein, warum nach Ende des Sozialismus und der schrittweisen Auflösung sozialistischer Institutionen das Geschlechterverständnis sich wieder der prä-sozialistischen Ausgangsposition annähert. Nachdem die Einrichtungen und Institutionen, welche bisher kollektiv die Erledigung von haushaltlichen und familiären Verpflichtungen übernahmen, entweder privatisiert – und damit für viele finanziell nicht mehr erreichbar – oder ganz abgeschafft wurden, fallen diese Aufgabenbereiche wie selbstverständlich zurück an die Frau. Es obliegt nun wieder allein der Frau sich adäquat um die Kindererziehung und Versorgung aller Familienmitglieder zu kümmern, während sich die Position des Mannes innerhalb der Familie kaum verändert hat. Er gilt weiterhin (sogar wieder verstärkt) als Familienoberhaupt und weitestgehender Ernährer und gemäß des Geschlechterrollenstereotyps bleibt für ihn Erfolg maßgeblich an ökonomische und berufliche Leistungen geknüpft, während Frauen zunehmend vorrangig über das gelingende Familienleben definiert werden. Dies bedeutet im Vergleich zur sozialistischen Phase, dass das (männliche) Arbeitsvermögen wieder mehr an Bedeutung für die Stellung und Rollenzuweisung innerhalb der Familie gewinnt, während im sozialistischen China erstens die Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zweitrangig für die soziale Position und den Lebensstandard waren, und zweitens diese Bürde der wirtschaftlichen Basis auf Mann und Frau gleich verteilt wurde. Mit der Reassoziation des männlichen Geschlechterbildes mit der Ernährerrolle folgt parallel die Wiederbelebung der Rolle der Frau als Mutter und Haushälterin. Saxonberg und Sirovatka sprechen in diesem Zusammenhang von einer Retraditionalisierung und Refamilisierung in asiatischen Gesellschaften, die sich in der Transformation zu Marktwirtschaften befinden (Saxonberg/ Sirovatka 2006): Durch das Wegbrechen sozialer Institutionen und Infrastrukturen der Versorgung und Wohlfahrt rückt die Rolle der Familie als Mittelpunkt sozialer Absicherung wieder mehr in den Fokus und dementsprechend drängt der aufflammende Familismus feministische Ideen vermehrt in den Hintergrund. Damit werden erneut traditionell geprägte Geschlechterrollenmodelle entworfen und gesellschaftlich praktiziert, welche jedoch in der Realität auf Komplikationen stoßen. Denn die langjährigen Erfahrungen mit der sozialistischen Geschlechterpolitik sind schwerlich aus den Köpfen zu löschen und das Bewusstsein für eine

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Teilhabe der Frau an öffentlicher Arbeit ist tief verankert. Der Rückzug in die heimische Sphäre als Vollzeithausfrau galt bis Ende der 1990er Jahre noch als weitestgehend verpönt und war als Unlust, sich nützlich zu machen, und als unpatriotische Arbeitsverweigerung stigmatisiert. Doch mit der Rückführung häuslicher Pflichten als primärem Aufgabenbereich der Frau kollidierten die Erwartungshaltungen an die Frauen nach einer öffentlichen Gleichstellung mit einer privaten Ungleichheitswirklichkeit, so dass sich Frauen nun mit der Doppelbelastung von Familie und Beruf konfrontiert sahen.7 Hier nun setzt das in den Ratgebern unisono wiederholte Narrativ der beidseitig voll engagierten Frau als sowohl Produktions- wie auch Reproduktionskraft an: Gleichstellung im Feld der Erwerbstätigkeit und zugleich Beibehaltung der traditionellen Arbeitsteilung sind kein Widerspruch, die Rhetorik der Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau koexistiert paradoxerweise mit einer Rhetorik der klassischen Rollenaufteilung. Legitimiert wird diese Ambivalenz von alten Erwartungen und neuen Rollenverteilungen zumeist durch den Verweis auf »natürliche« Geschlechterzuständigkeiten – ein Argument, das auch im westlichen Diskurs über die Wirksphären der Frau nur allzu oft eingesetzt wurde: »Nach der bewährten Regel, wo Gleichheit droht, muss Natur her, täuschen sie […] über die Widersprüche […] mit biologischen Begründungen der herrschenden Ungleichheiten hinweg. Von der Gebärfähigkeit der Frau wird auf die Zuständigkeit für Kind, Hausarbeit, Familie […] geschlossen.« (Beck 1986: 173)

So wird in den Ratgebern an keiner Stelle die (fehlende) Partizipation des Mannes an der Hausarbeit hinterfragt. Stattdessen wird nur wiederholt auf die Zuständigkeiten der Frau für das Wohl der Familie als ihre natürliche Pflicht und Aufgabe verwiesen, welche gewissermaßen bereits von Geburt an qua Geschlecht in ihr angelegt sei. Gestützt wird dies zusätzlich mit der Rhetorik, dass der Mann bereits komplett vom Beruf okkupiert sei und keine Kapazitäten für zusätzliche Erledigungen im häuslichen Feld übrig habe: »In der heutigen Welt, wo die Wirtschaft rasant wächst, muss der Mann den ganzen Tag mit Kontrahenten kämpfen, sein Körper und Geist sind komplett von der Arbeit gefesselt.

 7

Denn, so fand Pimentel ebenfalls in ihrer Studie heraus, auch junge Frauen werden zunehmend unzufrieden mit ihrer Ehe/Beziehung, je weniger sich der Mann an den Haushaltspflichten beteiligt (Pimentel 2015: 271).



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Wenn er einen Tag hart gearbeitet hat und abends müde heimkommt, wünscht er sich ein sauberes, herzliches Zuhause vorzufinden.« (Ya 2012: 134)

Die Zuständigkeiten des Mannes sind somit vollkommen mit seiner außerhäusigen Erwerbstätigkeit abgegolten, während die Frau zusätzlich für die Schaffung eines angenehmen heimischen Umfeldes verantwortlich ist. In China scheint der Prozess der Bewusstwerdung und Problematisierung der Doppelbelastung von Frauen also noch nicht so weit fortgeschritten zu sein wie beispielsweise in Europa, wo besonders die feministischen Debatten seit den 1980er Jahren dieses Thema zum Kernpunkt des Geschlechterkonflikts erhoben. Betrachtet man vor allem die Diskurse in chinesischen Frauenratgebern, so scheint es keine geschlechtlichen Ungleichheiten bei der Verteilung der Aufgaben und damit verbundenen Risiken zu geben. Dies kann einerseits an der bereits relativ langen und gesamtgesellschaftlich etablierten und staatsfeministisch geprägten Frauen- und Familienpolitik liegen, die die Teilnahme der Frau mit der Erwerbstätigkeit des Mannes gleichsetzt. Oder aber man kann darin Bestrebungen zur Konstruktion neuer Legitimationen einer biologisch-natürlichen Rollenverteilung zugunsten ökonomischer Erfordernisse erkennen, wie es vergleichsweise auch im Rahmen der Industrialisierung im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts geschah, wo sich die Kleinfamilie als traditionelles Familienmodell im Kontrast zur modernen Industriegesellschaft etablierte. Wie bereits im europäischen Kontext mehrfach untersucht und aufgezeigt wurde (Hausen 2007, Mahlmann 2003, Beck 1986, Beck-Gernsheim 2010), bedarf die marktorientierte Industriegesellschaft sozusagen einer halbierten Moderne, welche gerade im privaten Bereich der Geschlechterbeziehung durch eine natürliche Geschlechterrollenverteilung sowohl Moderne – zumeist in Form des erwerbstätigen, wettbewerbsorientierten Mannes – und Gegenmoderne – in Form der am kollektiven Familienwohl interessierten und engagierten Frau – vereint. Durch diese Aufteilung der Zuständigkeiten und der Konstruktion zweier sich gegenseitig bedingender Sphären kann die Semantik der Industriegesellschaft von der Zweiteilung in Arbeit und Leben aufrecht erhalten werden (Beck 1986: 174). Denn die Alternative – die Ausdehnung der Arbeit und völlige Modernisierung aller Lebensbereiche nach den Gesetzen der Industriegesellschaft – würde eine radikale Individualisierung und Anpassung an die Markterfordernisse ohne Rücksicht auf private Belange und damit in letztendlicher Konsequenz eine Single-Gesellschaft mit lauter Individuen als Produktionsmittel bedeuten. Dies würde allerdings eklatante Einschnitte im Bereich des Familienlebens und der Kinderbetreuung bedeuten, da diese Bereiche der so genannten unsichtbaren

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Arbeit oder auch Scheinerwerbstätigkeit angehören, welche keinen konkreten Nutzen und positive Auswirkungen auf die ökonomische Absicherung hat. Sie ist mehr oder weniger ein unentgeltlicher, freiwilliger Dienst, welcher allerdings die humanen Ressourcen schmälert, die für die richtige Erwerbstätigkeit zur Verfügung stehen. Dadurch finden sich gerade Frauen, welche durch die historische Entwicklungen und durch Analogien zu ihrer natürlichen Fähigkeit des Kindgebärens, klassischerweise oftmals in erster Linie mit der Ausführung eben jener unsichtbaren, familiären Pflichten betraut werden, in der Situation wieder mit Mehrfachambitionen zwischen Beruf und dessen Mobilitätsanforderungen, Bildungszwängen und Kinderverpflichtungen und Haushaltsaufgaben jonglieren zu müssen, ohne eine Lösung für die Mehrfachbelastungen, die Moderne und Gegenmoderne gleichzeitig an sie stellen, in Aussicht zu haben. Ulrich Beck identifiziert genau diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Erfordernisse, welche in der Kleinfamilie auf engstem Raum zusammentreffen und auf individuelle Ebene heruntergebrochen werden, als Auslöser für Geschlechterkonflikte und -diskussionen im westlichen Kulturkreis seit den 1980er Jahren (Beck 1986). Während in Europa im Zuge fortschreitender Modernisierungen, die auch zunehmend in den weiblichen Lebenszusammenhang hineingeführt werden, Rollenmuster zunehmend infrage gestellt und revidiert werden und es zu immer individuelleren Aushandlungen von Familien- und Verantwortlichkeitsstrukturen kommt, ist in China das klassische Familienmodell noch sehr stark verbreitet und populär. Dies bestätigen auch andere, sonst eher liberal ausgerichtete Wissenschaftler wie Li Yinhe (Li 2002) oder Pan Suiming, der den »primary life cycle« jedes Menschen immer noch um die Dreiecksachse von Vater-MutterKind als elementarste Einheit (danwei) von Gesellschaft und Staat konstruiert (Pan 2006). Ann Brooks stellte bei ihrer Studie zu White-Collar-Angestellten in Hongkong fest, dass die Verpflichtung gegenüber Familie, Kindern und Haushalt für Frauen das entscheidendste Kriterium zur Aufgabe oder Zurückstellung ihres Berufes ist (Brooks 2006). Dementsprechend wird auch auf diskursiver Ebene im Bezug auf familiäre Verpflichtungen und Teilnahme an der Produktion das Konfliktpotential minimiert und die natürliche Rolle der Frau als Familienversorgerin betont, um in Zeiten gesellschaftlicher Modernisierung und zunehmender Loslösung von Entscheidungen an vorgegebene Normative zugunsten individueller Möglichkeiten das Konstrukt der Kleinfamilie als notwendiges Modell der industriellen Marktgesellschaft aufrecht zu erhalten. Und dieses Modell sieht relativ statische Geschlechtscharaktere und Rollenmuster vor, die den Mann als Familienernährer in die Produktion und die Frau als Heimverwalterin in die Reproduktion verweist. Es ist in China auch das einzige politisch und institutionell anerkannte und ge-

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förderte Lebensmodell, obwohl das Single-Dasein besonders unter sehr gut ausgebildeten Frauen zunimmt. Doch diese werden immer noch überwiegend von Gesellschaft und Politik kritisch beäugt: »Women […] are still under pressure to get married, and being single, whether successful or not, is still a deviant activity, as is the decision not to procreate« (Brooks 2006: 87). Gerade in Zeiten der Krise und des wirtschaftlichen Wettkampfes werden erfolgreiche SingleFrauen rasch zum »widernatürlichen« Sündenbock stigmatisiert, die sozusagen in fremden Sphären wildern und dadurch die soziale Ordnung gefährden. Dabei wird für Frauen angesichts der Doppelbürde der Spagat zwischen erfolgreicher Karriere und Mutterschaft immer schwieriger, der Zeitpunkt für die Fortpflanzung zum kniffligen Arrangement: Einerseits soll erst einmal durch Arbeit ein gewisser sozialer und ökonomischer Status erreicht und eine gewisse materielle Basis geschaffen werden, andererseits droht das Stigma der Spätgebärenden. 8 In beiden Fällen behindert die Reproduktionsfähigkeit der Frau ihr berufliches Fortkommen: entweder als Mutter durch die Doppelbelastung von Familie und Beruf oder als Frau ohne Kind,9 da Unternehmen in China Frauen über 28, 29 Jahre ohne Kinder nur sehr ungern anstellen, da sie baldige Ausfallzeiten wegen Mutterschaftsurlaub befürchten (Tang 2011: 111). Dieses Dilemma wird in den Ratgeberbüchern überhaupt nicht aufgegriffen, da offensichtlich davon ausgegangen wird, dass die Familiengründung als essentieller Bestandteil des Lebens ungeachtet aller Schwierigkeiten sowieso erfolgt.

T HEORETISCH NEUTRAL , PRAKTISCH WEIBLICH : Z UR G ESCHLECHTERGLEICHBERECHTIGUNG IM B ERUF Tatsächlich lassen sich in den chinesischen Frauenratgebern trotz zunehmend affluenter Lebensalternativen im urbanen Raum immer noch deutliche Hinweise auf die Konstruktion eines Narrativs der Kleinfamilie als Ideal und Lebensziel aufspüren, welches sich unter anderen in der Propagierung von »typisch weiblichen« Aufgabenbereichen und Zuständigkeiten äußert. Trotz gewisser Forderun-

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Im Chinesischen wird dieses Dilemma humorvoll mit der Entweder-oderGegenüberstellung der Homonymen »sheng« (aufsteigen) oder »sheng« (gebären) diskutiert.

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Die Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung noch kein Kind hatten, gaben als Grund für die Kinderlosigkeit einhellig an, dass ein Kind ein Hindernis in der beruflichen Karriere darstelle (vgl. Tang 2011: 80).



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gen nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Frau erfahren diese zugleich wieder Einschränkungen: »Wenn man davon spricht, dass Frauen unabhängig sein sollen, dann denken alle gleich an das Bild einer die Fahne hoch schwingenden, auf jeden Fall in erbitterten Konkurrenzkampf mit den Männern tretende Frau. Dieses Bild wurde früher auf der ganzen Welt verbreitet und daher glauben nicht wenige, das sei mit der Unabhängigkeit der Frau gemeint. Aber eigentlich bedeutet weibliche Unabhängigkeit nicht den Kampf mit Männern, sondern die Suche nach einem eigenen Platz, so dass man nicht von Männern abhängig ist.« (Li 2008: 75)

Frauen sollen also weder um Karriere, Ansehen oder Gehalt in den Wettbewerb mit Männern treten – schon gar nicht mit dem eigenen Ehemann (Ya 2012: 43). Dessen überlegenen Status gilt es auf jeden Fall – notfalls künstlich, indem sich die Frau bewusst zurücknimmt – zu wahren, auch wenn die Frau in der Tat über bessere Qualifikationen verfügt. Die Frau wird also aufgefordert sich eine eigene Nische zu schaffen, jedoch nicht im vom Mann besetzten öffentlichen Raum, denn sie soll ja nicht als Konkurrentin in männliche konnotierte Bereiche treten. Deshalb gehen einige Ratgeber sogar soweit, Frauen explizit bestimmte Berufe und Tätigkeitsfelder, die »besonders für Frauen geeignet sind«, vorzustellen und nahezulegen, nicht selten wird dies mit dem Verweis auf wissenschaftliche Grundlagen wie beispielsweise der Theorie, dass Frauen mit dem Schwerpunkt auf der rechten Gehirnhälfte mehr der Intuition und Kreativität, denn Logik und abstraktem Denken zugetan wären, begründet (ebd.: 127). So gelten die Branchen der Erziehung und Bildung, der Servicesektor, die Buchhaltung, Werbung und Medien, Kunstgewerbe und Öffentlichkeitsarbeit wie auch der Investmentmarkt und Verwaltung als frauenaffine Sektoren, die den »natürlichen« Begabungen der Frauen wie Mütterlichkeit, Kreativität, Detailgenauigkeit und soziale Kompetenz entgegen kommen würden. Doch auch in diesen Berufen sollen Frauen den Wettkampf mit männlichen Kollegen um berufliche Positionen und Gehaltserhöhungen meiden und sich stattdessen ihrer »spezifischen weiblichen Qualitäten« besinnen, wie beispielsweise eine weibliche Perspektive, die mehr von Intuition denn Rationalität geprägt ist, und den Fokus auf vermeintlich weibliche Kompetenzen wie soziale Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Interaktionsfähigkeit legen. Nichtsdestotrotz wird die Gleichberechtigung im beruflichen Sektor auf formaler Ebene in allen Ratgebern unisono als vollständig erfolgreich abgeschlossen darstellt – auch wenn die reale Situation auf dem chinesischen Ar-

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beitsmarkt das Gegenteil aufzeigt,10 daher müssten Frauen heute ihre Gleichwertigkeit zum männlichen Kollegen nicht mehr beweisen, da dies bereits allgemeiner gesellschaftlicher Konsens sei. Stattdessen gilt es nun zu beweisen: Ich bin eine Frau! (Zhang 2013: 38) Die »starke Frau« (nü qiangren), das Vorgängermodell der beruflich erfolgreichen und selbständigen Frau aus den 90er Jahren, gerät ins Abseits und wird als »Mannweib« (nanrenpo) stigmatisiert, da ihr elementare Attribute des sozial konstruierten und dem medialen Diskurs zugrunde gelegten Modells von Weiblichkeit wie Sanftheit und Eleganz fehlen. Dies gehöre heute aber unbedingt zur erfolgreichen Frau dazu: »Wenn du eine beliebte Frau sein willst, bitte denke daran: sei nicht eine starke Frau (nü qiangren), sondern eine starke Frau (qiang nüren).« (Zhang 2013: 11) Ein Fallbeispiel untermalt die in den Ratgebern propagierte Vorstellung der neuen starken Frau: Die Protagonistinnen Xie Na und Liu Mei besetzen zur gleichen Zeit eine ähnliche Position in der gleichen Firma und haben daher beide die gleichen Ausgangsvoraussetzungen. Jedoch ist Liu Mei vom Wesen her sanftmütig und nachgiebig, spricht leise und gefällig, erledigt Aufgaben zögerlich und langsam und weckt dadurch in jedem Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Bei Fehlern guckt sie so mitleidig, dass sie nicht getadelt wird. Sie bittet oft die Kollegen um Mithilfe und jeder steht ihr gerne bei, weil sie so schwach und hilflos wirkt. Trotzdem ist sie äußerst beliebt und verfügt über sehr viele hervorragende soziale Beziehungen. Xie Na dagegen ist fähig und talentiert, durchsetzungsstark, anspruchsvoll und setzt auf Leistung, weswegen sie hohe Erwartungen an sich und andere hat. Da sie so stark und unnahbar ist, mag sie keiner in der Firma und pflegt auch keine sozialen Beziehungen mit ihr oder bietet gar seine Hilfe an. Bei Herausforderungen muss sie sich alles selbst aneignen. Zum Jahresende erweist sich, dass gerade Liu Mei, die sich immer so verhält, als überfordere sie jede noch so kleine Aufgabe, das beste Arbeitsergebnis von allen hat und dementsprechend befördert wird. Auch in der gehobenen Position führt

 10 So sind Stellenausschreibungen in China oftmals offen geschlechtsdiskriminierend, indem bereits in der Anzeige explizit das erwünschte Geschlecht genannt wird. Dies hat zur Folge, dass vor allem in technischen und leitenden Positionen Männer erwünscht sind, während Frauen für Verwaltungsaufgaben bevorzugt werden. Damit sind jedoch auch zugleich die Einkommensmöglichkeiten geschlechtlich zweigeteilt: Jene Stellen, die aufgrund von Qualifikationen und Verantwortung ein hohes Einkommen versprechen, werden besonders oft explizit für Männer ausgeschrieben (Woodhams/ Lupton/ Xian 2015).



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sie ihre »weibliche« Wesensart der Sanftheit und Nachgiebigkeit unvermindert fort und ist weiterhin genauso hilflos und schwächlich und auf die Mitwirkung anderer angewiesen. Die Kollegen nehmen ihr dies jedoch nicht übel, da Liu Mei mit ihrer Art allgemeine Sympathieträgerin ist. Xie Na ist dagegen vom Ergebnis verbittert und frustriert, weil sie trotz aller Leistungen und Anstrengungen keine Anerkennung findet (Li 2011: 101f.). Die Geschichte spricht sich explizit für das Einsetzen von »weiblichen Waffen« wie Schmeicheleien, Zeigen von Schwäche, Tränen und Erregen von Mitleid zum Karriereaufstieg aus. Die Charakteristik von Liu Mei vermittelt nicht den Eindruck einer »starken Frau«, die selbstbestimmt und gleichberechtigt an der Arbeitswelt teilnimmt. Trotzdem verkörpert gerade sie das Ideal der neuen starken Frau in China: Anstelle der Ausmerzung von Geschlechterungleichheiten zur Schaffung einer gleichberechtigten, genderunabhängigen Ausgangsposition werden die Geschlechterunterschiede geradezu plakativ inszeniert und instrumentalisiert: »Der größte Fehler der Frau ist zu vergessen, dass sie eine Frau ist.« (Ya 2012: 30) Dies kann im Sinne einer weiblichen Ermächtigung durch die Okkupation bisher patriarchalisch vereinnahmter Geschlechterrollen interpretiert werden: Indem sie durch die sozial wirksame, öffentliche Kommunikation ihrer Geschlechtlichkeit durch Doing-gender-Motive die Konkurrenzsituation außer Wirkung setzt – unter dem Motto: ich bin eine Frau und nicht Dein JobKonkurrent –, bedient sich die »sanfte« Frau ihrer »weiblichen Schwäche«, um ihr (männliches) Umfeld zu manipulieren, um durch den Verweis auf die inhärente Reziprozität der binären, sich ergänzenden Geschlechtskonstruktion Unterstützung einzufordern. Denn wenn die Frau ihr Geschlechterrollenbild einhält, so ist auch der Mann ebenfalls dazu verpflichtet seiner Rolle zu entsprechen – und die sieht in der hierarchischen, konfuzianisch geprägten Mann-Frau-Beziehung nicht den Wettbewerb, sondern Hilfe und Unterstützung vor. Deshalb gelten ein paar Tränchen der Verzweiflung und die Bitte um Hilfe und Anweisung (qingjiao) als wirksameres Karriereinstrument denn unbedingter Einsatzwille und Entschlossenheit. Frauen, die sich wie »Pferde und Kühe« abrackern, gelten als überholt und altmodisch; die moderne Frau weiß sich durch den Einsatz ihrer Geschlechtlichkeit die Arbeit zu erleichtern (Xi 2011). Deshalb wird sogar angeraten, eine »faule Frau« zu werden und sich vom Mann bedienen zu lassen. Fleißige Frauen würden nicht verwöhnt, da sie ja alles selbst erledigten – und ernteten am Ende noch nicht einmal Lob und Anerkennung dafür. Stattdessen sollen Frauen sich auf Geschlechterklischees berufen und sich nur des Aufgabenbereichs annehmen, welcher ihrem Geschlecht zugeteilt ist (Reproduktion und Hausarbeit) und ansonsten ihre geschlechtlichen Vorzüge pfle-

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gen, z.B. auf ein ansprechendes Äußeres achten oder eine sanfte Wesens- und Sprechart kultivieren (Ya 2012: 45). Ob deshalb jene oben zitierten Aufforderungen zur Aufgabe emanzipatorischer Verhaltensweisen von Frauen nun nicht im Licht einer geschlechterdiskriminierenden Zurückstellung der Frauen zu sehen sind, sondern als ein Mittel der Ermächtigung gewertet werden können, da im Doing Gender eine neue, konfliktarme Strategie der Selbstbehauptung in männerdominierten Sphären adaptiert wurden, steht jedoch infrage. Dass sich Frauen explizit auf ihre selbsterklärte, geschlechterspezifische Nische – ihre Weiblichkeit – zurückziehen, liegt zu einem großen Teil wohl auch an der zunehmenden Diskriminierung von Frauen in geschlechtlich assoziierten Berufszweigen, die Frauen dazu zwingt, sich neue Strategien zu erschließen. Die Geschlechterdiskriminierung wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Vordergründig sind Frauen beim (Aus-)Bildungsgrad sogar auf dem Vormarsch. An chinesischen Hochschulen überragt mittlerweile nicht nur die Zahl der Studentinnen die ihrer männlichen Kommilitonen – laut der Statistik des chinesischen Bildungsministeriums sind jeweils 51 Prozent der Bachelor- und Masterabsolventen weiblich und selbst unter den Promovierten sind knapp 49 Prozent Frauen –, auch in der Exzellenz überflügeln chinesische Studentinnen zunehmend ihre männlichen Mitstreiter. Laut einem Bericht der China Youth Daily liegt die Geschlechterratio zwischen männlichen und weiblichen Studenten an manchen Hochschulen schon im Verhältnis von 1:9 wie beispielsweise an der Jiangsu Second Normal University bzw. 1:13 an der Foreign Language School of Shandong Normal University, 1:7 an der Nankai University und 1:5 an der Beijing Language and Culture University (Zhuge 2015). Dennoch erschweren und verschließen geschlechterdiskriminierende Praktiken immer noch den Zugang zu insbesondere so genannten männeraffinen Berufen in Bereichen wie Politik, Ingenieurwesen und Technik. So verlangen beispielsweise die Zugangsbedingungen der Beijing China University of Political Science and Law in naturwissenschaftlichen Fächern ein höheres Prüfungsergebnis von Frauen als Männern: Männern wird bereits mit 588 erzielten Prüfungspunkten der Zugang zur Hochschule gewährt, Frauen aber erst ab 632 Punkten. Damit soll laut Universitätsleitung der Frauenanteil unter den Studenten prozentual auf einem Viertel gehalten werden, da die »Natur ihrer späteren Karrieren« – also der Verweis auf ihre »natürliche« Rolle als Mutter und Hausfrau – es bedinge, dass Frauen sowieso keine politischen Führungsstellen übernehmen und daher die Ausbildung denjenigen vorbehalten sein solle, die sie auch nutzen (Fincher 2014:35). Und selbst wenn heute die meisten Hochschulen einen egalitären Zugang zu Studienfächern gewähren, so holt die geschlechterdiskriminierende Realität die

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Studentinnen spätestens nach dem Abschluss ein: in männerdominierten Berufssektoren werden weibliche Absolventinnen trotz hervorragender Ergebnisse nicht eingestellt und zumeist schon in der ersten Bewerbungsrunde ausgesiebt. So berichtet der chinesische Frauenverband auf seiner Homepage vom beispielhaften Fall von 18 Absolventinnen des Studienganges Meerestechnologie, von denen keine einzige eine Anstellung in diesem Berufsfeld fand, während die Branche zugleich händeringend nach Fachkräften sucht und männlichen Absolventen attraktive Angebote macht (Li 2015). Angesichts der alltäglichen Diskriminierungen, mit denen sich auch gut ausgebildete Frauen in China auseinander setzen müssen, wirkt die Propagierung des Einsatzes von »weiblichen Waffen« zur Schaffung einer geschlechterspezifischen Nische ebenso wie der Verweis auf »frauengeeignete« Berufsgruppen in den Ratgebern weniger emanzipatorisch als eher wie eine Resignation und das Arrangement mit den gegebenen gesellschaftlichen Zuständen. Dabei werden die diskriminierenden Praktiken weder angesprochen noch hinterfragt, sondern es wird allenfalls versucht mit Verweisen auf die »richtige« Berufswahl für Frauen – also in frauendominierten Branchen – und gedämpften Karriereerwartungen die zu erwartende Enttäuschung abzumildern, indem sich Frauen freiwillig in die Biotope der Weiblichkeit zurückziehen anstatt in allen gesellschaftlichen, politischen und beruflichen Bereichen mit Männern um aktuell unerreichbare Gleichberechtigung wettzueifern.

E RFOLGREICHE K ARRIERE – WAS NUN ? B ERUFLICHE S ELBSTVERWIRKLICHUNG VERSUS E HE UND F AMILIE ALS I DYLL VON P RIVATHEIT Doch nicht nur im Berufsleben sind der Unabhängigkeit und Stärke der Frau Grenzen gesetzt. Gerade in der intimen Geschlechterbeziehung wird weiblicher Ehrgeiz, Unabhängigkeit und berufliches Karrierestreben zum Stolperstein: »Heute, wo im realen Leben überall um uns herum fähige und starke ›Mannweiber‹ (nanrenpo) auftauchen, rufen die Männer einheitlich: Wir wollen Frauen, die 100% weiblich sind (nürenwei shizu)!« (Li 2011: 107) Das »Mannweib« gilt als Schreckgespenst, das alle – sowohl Männer als auch Frauen – abstößt und daher konsequenterweise unter völliger sozialer Isolation leidet. Gerade Männer fühlen sich von starken Frauen, die sich durch »männliche« Verhaltensweisen in der Berufspraxis behaupten, verängstigt und abgestoßen. Solchen Frauen würde bestenfalls Respekt und Anerkennung entgegen gebracht, jedoch wolle kein Mann sie heiraten (Zhang 2013: 15). Daher müssen Frauen sich »angemessen

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zurücknehmen« (shedu shouqian) und ihr berufliches Streben in Einklang mit weiblichen Geschlechterrollenmustern bringen, indem sie je nach Situation in unterschiedliche Rollen schlüpfen, welche – metaphorisch mit dem An- und Ablegen der Arbeitskleidung verglichen – den jeweiligen Anforderungen des Umfelds entsprechen. Der Begriff der »Rolle« (juese), der bereits von Goffman im westlichen Diskurs über soziale Kommunikation und Interaktion gewinnbringend ins Spiel gebracht wurde (vgl. Goffman 1983), wird hier sogar explizit aufgegriffen: »Es ist die Verpflichtung jeder Frau sich [in Berücksichtigung ihrer beruflichen Identität, A.D.] über ihre Rolle in der Familie im Klaren zu sein und den Respekt des Ehemanns zu bewahren und sein Herz zu halten.« (Zhang 2013: 43) Diese Einstellung etablierte sich bereits mit der Revitalisierung von konservativen Familienwerten und dem Revival des Familien- bzw. Privatlebens jenseits politischer Direktiven und staatlicher Interventionen ab den 1980er Jahren. Im Zuge der Individualisierung und Diversifikation der Identitätskomponenten jenseits der Beschränkung einer politischen Klassenidentität erlangte das private Leben neue Bedeutung als identitätsstiftender Bezugspunkt (vgl. Yan 2003, 2009). Dementsprechend kehrte sich die sozialistische Opferbereitschaft für das kollektive Wohl zu einer neuen individuellen Wertschätzung der partikularen Familie und des Privatlebens um. Die öffentliche Identität, Beruf und kollektive Aktivitäten, sollten das Primat des Privatlebens nicht mehr überschatten oder gar stören und gerade Frauen, denen familiäre Aufgaben immer noch per se als »natürlicher« Zuständigkeitsbereich zugewiesen werden, bekommen für das Tradieren und Gelingen des Familienlebens den Großteil der Verantwortung übertragen. Es wird von Männern erwartet, dass Frauen diese Rolle »von Natur« aus als ihre primäre Obliegenheit erkennen und ihr adäquat nachkommen: »Chinese men today like to see women [...] ›handle the relationship between their careers and their personal or family lives correctly‹.« (Wang 1999: 32) Dazu gehört zum Beispiel auch, dass Frauen trotz beruflichen Erfolgs zuhause dennoch die geschlechtlich festgeschriebene Rolle des sanften, schwachen, anschmiegsamen »Frauchens« spielen sollen und alles Dominanz- oder Autoritätsverhalten, das sie eventuell im Beruf gegenüber Untergebenen zeigen, zuhause gegenüber dem Ehemann ablegen, damit dieser genügend Raum zur Verwirklichung der ihm auferlegten männlichen Geschlechterrolle hat und sich nicht von der dominanten Ehefrau in die Ecke gedrängt und in seiner Geschlechtsidentität herausgefordert fühlt. Diese weibliche Fokussierung des Privaten und des Reproduktiven gegenüber öffentlicher, produktiven Aktivitäten wird damit gerechtfertigt, dass beruflicher Erfolg einer Frau sowieso kein wirkliches Glück bringen könne, dies

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könne ihr nur eine glückliche Familie und die Liebe des Ehemanns schenken (Zhang 2013: 44). Hausfrau Xiaoxiao bringt diese Vorstellung auf den Punkt, wenn sie den zunehmend auch medial populär werdenden alternativen Lebensentwurf von beruflich erfolgreichen White- und vor allem Gold-Collar-Frauen, die sich gegen dieses konservative Familienideal zugunsten einer eher hedonistischen Selbstverwirklichung stellen, explizit aufgreift und konterkariert. Sie spricht dabei von der größer werdenden Schar der »Du Lalas« in der chinesischen Gesellschaft, Bezug nehmend auf den Film »Go Lala Go« (China, 2010). Der Film, basierend auf dem Bestseller »Du Lala shengzhi ji« (Das Tagebuch von Du Lalas Karriereaufstieg) von Li Ke aus dem Jahr 2007,11 erfreute sich landesweit extremer Beliebtheit und avancierte zum Flaggschiff einer ganzen Generation von jungen, berufstätigen, urbanen Frauen – den so genannten »Du Lalas« (Du Lalamen) –, die sich in den alltäglichen Irrungen und Wirrungen des beruflichen Fortkommens in einer vom Konkurrenzkampf geprägten Arbeitswelt und der gleichzeitigen Suche nach dem Märchenprinzen der Protagonistin Du Lala selbst wiedererkennen und ihre eigenen Lebensvorstellungen wie auch Probleme in der Roman- bzw. Filmheldin personifiziert sehen. Seitdem hat sich die soziale Gruppe der Du Lalas im Zuge des chinesischen Gesellschaftstrends der Herausbildung von »Neo-Tribes« (Wang 2005) als Mittel der sozialen Differenzierung und Individualisierung auch als eigene Kategorie der Konsumkultur etabliert. Nicht nur die chinesische Version von »Harperƍs Bazaar« (shishang chupin) widmete im April 2010 den Du Lalas eine eigene Sonderausgabe mit dem Fokus auf der erfolgreichen Businessfrau, auch die Textil-, Kosmetik-, Fitness- und Bauindustrie reagiert mit Segmentierung auf diese soziale Gruppe, die ihre Position aufgrund ihrer überdurchschnittlichen finanziellen Ressourcen und hedonistischen Lifestyles besonders gerne durch den Konsum hochpreisiger und exklusiver Güter abgrenzen. Gerade die massenmediale Verbreitung und das wiederholte Aufgreifen der Figur der Du Lala (wie z.B. in der gleichnamigen Soap) sorgte für eine breite Popularisierung des Begriffs und prägte die Symbolkraft der Figur als Synonym für die erfolgreiche, unabhängige, urbane White-, Pink- und Gold-Collar-Frau, 12 die den Karrierepfad unaufhaltsam beschreitet, deren privater Weg jedoch dafür holprig ist.

 11 2009 und 2010 folgten die Fortsetzungsromane »Du Lala 2: Die Jahre vergehen wie Wasser« (Du Lala 2 hua nian sishui) und »Du Lala 3: So habe ich ein Jahr gekämpft« (Du Lala 3 wo zai zhe fendou de yi nianli). 12 Die Bezeichnungen »Pink Collar« und »Gold Collar« stellen eine Erweiterung und Ausdifferenzierung der White-Collar-Gruppe dar und verweisen auf eine jeweilige Steigerung der ökonomischen Ressourcen im Vergleich zu »normalen« White-Collar-

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Auch die Ratgeber-Autorin Hausfrau Xiaoxiao greift die Bezeichnung »Du Lala« als symbolische Verkörperung der erfolgreichen, modernen Frau in ihrem Ratgeber auf, wenn sie gleich im ersten Kapitel danach fragt, was Frauen denn dann machen sollten, wenn sie nun endlich den Status einer Du Lala erreicht haben (Zhufu Xiaoxiao 2011: 1). Diese Frage weckt Assoziationen zu Lu Xuns ähnlich formulierter Frage danach, was passiere, wenn Nora gegangen sei. Im gleichnamigen Aufsatz von 1923 setzt sich Lu Xun (1923) unter der allegorischen Bezugnahme auf Hendrik Ibsens Figur der Nora aus dem zur damaligen Zeit in China äußerst populären Theaterstück »Nora oder Ein Puppenheim« (Erstaufführung in China 1918) mit den Konsequenzen einer weiblichen Emanzipation in China auseinander und kommt zu dem Schluss, dass trotz entsprechender Forderungen aus politischen und intellektuellen Reformerkreisen der 4. Mai-Bewegung nach der Befreiung der Frau aus traditionellen und familiären Fesseln dies unter den gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen im Grunde nicht möglich ist, da zuerst ein struktureller Wandel zur Öffnung eines öffentlichen Raumes für die bisher strikt in die häusliche Sphäre verbannten Frauen vorangehen müsse (vgl. Wang 1999a). Damit spricht er das an, was viele romantisch-idealistisch ambitionierte Reformer der Zeit in ihren Forderungen nach weiblicher Emanzipation übersahen: Dass Emanzipationsbestrebungen sich nicht auf die rein ideologisch-individuelle Ebene beschränken und durch Aufklärung und Mobilisierung der Frauen vonstattengehen können, sondern dass vor allem soziale und ökonomische Faktoren eine wichtige Rolle bei der tatsächlichen Umsetzung spielen und ihnen nur unter entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen auf struktureller und institutioneller Ebene ein Erfolg beschieden ist. Wenn Hausfrau Xiaoxiao nun fast ein Jahrhundert später rhetorische Anleihen daraus macht, so stellt sie hier wiederum die Frage nach der Durchführbarkeit weiblicher Emanzipation unter gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen. Tatsächlich übt Xiaoxiao ähnlich wie Lu Xun mit ihrer Frage Kritik an medial allzu enthusiastisch gefeierten emanzipatorischen Ideen, wie sie in der Figur der Nora/Du Lala verkörpert werden. Beruhend auf

 Angestellten. Während »Gold Collar« geschlechtsübergreifend verwendet wird, zielt »Pink Collar« vor allem auf jene Frauen ab, die einerseits über eine sehr hohe Bildung und berufliche Position verfügen, sich andererseits dennoch als sehr weiblich – eben durch die sprichwörtliche Vorliebe für die Farbe pink – inszenieren. In China gelangte dieser Begriff vor allem durch diverse TV-Soaps – u.a. »Fenhong nülang« (Pink Ladies) (2002) – zu Popularität.



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eigenen Erfahrungen als Eliteuniversitätsabsolventin und dem harten Berufsalltag in der Finanzwelt, kommt sie zu dem Schluss, dass ein Dasein als erfolgreiche Du Lala ihr keine emotionale und seelische Befriedigung verschaffte. Sie empfand ihr Leben als fremdbestimmt, lieblos, farblos und ständig durch die allgegenwärtige Konkurrenz in jedem Bereich bedroht. Zudem litt sie unter der erzwungenen Entweiblichung in der Berufswelt durch die Angleichung an männliche Kommunikations- und Verhaltensweisen. Erfolg und materieller Wohlstand seien nur ein flüchtiger Trost gewesen, jedoch nicht fähig die tatsächliche Leere in ihrem Leben zu überdecken: »Xiaoxiao war im Grunde wie ›Du Lala‹, aber dann stellte sie fest, dass sie eine klassische ›alte Jungfer‹ (shengnü) geworden war. Daher begann Xiaoxiao darüber nachzudenken, was wir nach ›Du Lala‹ tun sollten?« (Zhufu Xiaoxiao 2011: 3) Das Streben nach weiteren beruflichen Erfolgen und ökonomischen Sicherheiten erscheint ihr nach der bereits erreichten Sättigung zunehmend reizlos, stattdessen gerät die Idee der Familie als Hort der (Zwischen-)Menschlichkeit in den Fokus, denn es bringe nichts, noch mehr Luxusartikel und Kosmetik zu kaufen, wenn man den schönsten und erholsamsten Schlaf sowieso dann habe, wenn man nicht alleine schlafe. Zwar befassen sich die Ratgeber einerseits teilweise sehr ausführlich mit dem Berufsalltag und befürworten die Arbeitstätigkeit und berufliche Karriere von Frauen, andererseits sehen sie die Frau dennoch in erster Linie in der Familie verwurzelt. Familie und Ehemann werden als vorrangige Quellen der Identität und des Glückes genannt. Das Heim wird als »Festung« für den Mann und »Paradies« für die Frau stilisiert, als Ort des Rückzugs und der Selbstverwirklichung in einer sonst als bedrohlich wahrgenommenen Umwelt (Ya 2012: 133). Der Unpersönlichkeit und Kälte der Berufswelt wird die Geborgenheit und Wärme der Familie entgegengesetzt und die Wahl einer neuen Gewichtung der weiblichen Lebensplanung zugunsten des Privatlebens, wie Xiaoxiao sie eingeschlagen hat, wird somit nicht individuell formuliert, sondern erhält – ähnlich wie bei Lu Xun – eine gesamtgesellschaftliche Relevanz. Huang Lin sieht diesen Trend aus pragmatischer Sicht: »Da der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft wohl noch eine Weile dauert, wird der Raum der Privatfamilie (siren jiating kongjian) zum Haupthandlungsraum, um ökonomische Ressourcen zu sammeln und die Belastungen dafür zu teilen.« (Huang 2012: 59)

Damit wird die Kernfamilie ähnlich wie zur Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa als Gegenpol und Rückzugsort zum als zunehmend feindlich wahrgenommenen öffentlichen Raum konstruiert. Ehe und Familie mutieren in der unübersichtlichen, fremden, verwirrenden Außenwelt zum Refugium der Sicher-

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heit, Geborgenheit und der Rückzug in Heim verspricht Erholung und Regeneration vom »Kampf« in der öffentlichen Sphäre. In Europa ging damit die Stunde der Geburt von Privatheit und Intimität einher. Das Privatleben in der Familie erhielt einen exklusiven Charakter und die Öffentlichkeit wurde davon ausgeschlossen (Mahlmann 2003: 53). Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in China erkennen, wo häusliche Privatheit bzw. Privatsphäre zum neuen Schlagwort avanciert.13 Dementsprechend wird die Ehe mit neuen Erwartungen und Ansprüchen als Idyll und Zuflucht, als Hilfe bei der Reduktion sozialer Komplexität und als Ort der Selbstbestätigung und sozialen Anerkennung symbolisch aufgeladen. In der Ambivalenz der weiblichen Geschlechterrolle zwischen traditioneller Zuweisung »weiblicher« Aufgaben und beruflicher Teilhabe kann durchaus ein Vergleich zur Situation der Frauen im industriellen Europa gezogen werden. Hier löste die Industrialisierung in Kombination mit den emanzipatorischen Forderungen nach der Herausbildung des rationalen Menschen der Aufklärung die Frau aus traditionell familienbeschränkten Zusammenhängen. Im Wandel von der ständischen zur industriellen Gesellschaft veränderte sich die Position der Frau einerseits durch die Aufhebung von moralischen und religiösen Direktiven, andererseits durch neue ökonomische und soziale Verhältnisse mit der Herausbildung einer Arbeiterklasse, wo beide Geschlechter gleichermaßen zum Unterhalt der Familie beitrugen. Hier wurde erstmals das weibliche Geschlechterrollenbild als reine Haushaltshilfe grundsätzlich infrage gestellt und die als gesetzt geltenden Geschlechtscharaktere gerieten ins Wanken. Demzufolge prädestinieren bestimmte Geschlechtseigentümlichkeiten und Gattungsmerkmale den Mann für den öffentlichen und die Frau für den häuslichen Bereich, verweisen den Mann also auf die gesellschaftliche Produktion und die Frau auf die private Reproduktion (Hausen 2007: 367). Diese Konstellation wurde grundsätzlich im Zuge der Forderung nach der Herausbildung des vernünftigen Menschen und Emanzipation der Frau aus dem

 13 Dies zeigt sich beispielsweise in der neuen Abgrenzung von privaten Räumen: Während noch bis in die 80er und 90er Jahre das häusliche Leben sich teilöffentlich abgespielt hat und die Nachbarschaft ausgiebig darin einbezogen war, herrscht nun ein Trend zur Abgrenzung und Rückzug vor. Dies spiegelt sich in architektonischen Neuerungen wider, wie beispielsweise den »Gated communities«, der Beliebtheit von freistehenden »Villas« und »Townhouses« mit privatem Umland anstelle von Wohnungen im Verbund eines Hochhauses. Auch im Haus werden Räume so gestaltet, dass alle Familienmitglieder über Privatsphäre verfügen und das in China obligatorische Haus-



haltspersonal weitestgehend daraus exkludiert wird (vgl. Sun 2008, Zhang 2010).

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männlichen Regiment samt Integration in die bürgerliche Gesellschaft im Rahmen der Aufklärung und Französischen Revolution herausgefordert. Doch diese Neuerungen bargen die Bedrohung etablierter Ordnungen und vor allem auch Familienverhältnisse in sich und daher wurden zunehmend Stimmen als Reaktion auf die unerwünschten Emanzipationsforderungen laut, die neue Legitimationen für die Beschränkung des Aktionsraums der Frau suchten, indem einerseits zwar die postulierte Entfaltung der vernünftigen Persönlichkeit als Bürger mit andererseits der als wünschenswert erachteten Familienverhältnisse ausgesöhnt wurden. Die Lösung wurde in den unterschiedlichen natürlichen Begabungen beider Geschlechter gefunden, welche später von der Psychoanalyse weiter verfestigt wurde: »Die Gleichrangig- und Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausdrücklich betonend, wird folgenreich für die angemessene soziale Position die unterschiedliche Qualität der Geschlechter herausgearbeitet« (ebd.: 372). Hierzu gehörte die Definition der Frau durch Ehe und Familie, während der Mann zunehmend unabhängig davon betrachtet wird. Interessant ist bei dieser Konzeption vor allem die Komplementarität der Geschlechter, die nur zusammen in der Summe alle menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse sich zu realisieren vermögen. Unter der Prämisse der Ergänzung sind die Geschlechter nicht antagonistisch angelegt, sondern komplementär und sich harmonisch zusammenfügend. Damit erfährt die häusliche Sphäre der Frau sozusagen eine Aufwertung, da diese – zumindest in der Theorie – nicht als geringer als die Produktionstätigkeit des Mannes betrachtet wird, sondern ebenfalls einen markanten Beitrag für die Harmonie von Familie (und damit auch Staat) leistet. Dieser besteht nicht nur in der Reproduktion, sondern auch in der Schaffung eines »harmonischen Heimes« als Gegenpart und Rückzugsort zur grausamen Arbeitswelt, das besonders für den Mann zur Rekreation wichtig wird. Da dieser gemäß seines Geschlechterideals hauptsächlich im »Berufsmenschen« verkörpert wird, der sich im Jobwettbewerb kontinuierlich verausgaben, ja quasi ausbeuten und Karrierezwänge verinnerlichen muss, bedarf er des durch die Erfindung der Privatheit und den Rückzug in die Familie von der Frau kultivierten Refugiums immer dringlicher. Zugleich wird der Mann, dadurch, dass er aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung und »natürlicher« Anlagen von bestimmten Bereichen freigestellt wird, zunehmend emotional abhängig von der Unterstützung der Frau, da viele Fähigkeiten im Umgang und Regulierung der Zweierbeziehung und nicht ökonomischen Familienangelegenheiten an die Frau delegiert werden. Die Verfestigung von obligatorischen Geschlechterrollen wird somit auch in Asien zur Voraussetzung für die gesellschaftliche Bewältigung der Moderne oder wie Maila Stevens es formuliert:

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»Women are the bearers of this vision of family, it’s keepers, it’s producers. The family is the bulwark against the social costs of modernity (and of dissent) and the dangers of fragmenting national and personal identities produced in the current (post) modern order. The autonomous and sexualized modern woman threatens to break this complementary dualism of public and private, male and female, tradition and modernity.« (Stevens/Sen 1998: 17)

Die Ratgeber betonen die Verantwortung der Frau zum Gelingen einer intakten Ehe und Familie und legitimieren dadurch die Herausbildung und Pflege von »spezifisch weiblichen Fähigkeiten« wie Gutherzigkeit, Toleranz, Nachgiebigkeit und Intuition als unabdingbare Eigenschaften, um dieser Verantwortung gerecht werden zu können. Diese gilt es als Verkörperungen von Weiblichkeit zu wahren, obwohl sie durch die Teilnahme am öffentlichen Bereich bedroht werden. Diese Bedrohung des Wesens der Frauen durch die Teilhabe an der Erwerbswelt fürchtete man bereits zu Biedermannzeiten in Europa. Demgemäß wurden Frauen, die als Arbeiterinnen dem Einfluss der Gesellschaft direkt ausgesetzt sind, aufgeklärt, kaltherzig und rational-bewusst angesehen, denn »[n]ichts ist ihrer ursprünglichen Natur fremdartiger, ja schadhafter« (Hausen 2007: 379). Daher sahen bis ins 20. Jahrhundert selbst Frauenbewegungen die »Kulturaufgabe« der Frau darin, in der inhumanen Männerwelt durch Weiblichkeit mehr Humanität zu verwirklichen, indem sie ihre weiblichen Qualitäten auch außerhalb des Wirkkreis der Familie zum Einsatz bringen, um die menschenfeindliche, kalte Welt durch weibliche Wärme und Emotionalität zu erwärmen. Dieses Konzept drängt sich auch bei der Analyse der chinesischen Frauenratgeber auf. Tendenzen dazu lassen sich in der Argumentation von Hausfrau Xiaoxiao und anderer Ratgeber erkennen: Die Erfahrung von Authentizität, Intimität und Selbstentfaltung wird vom öffentlichen Raum der Arbeitswelt zurück in das Private transferiert und immaterielles Kapital wie zwischenmenschliche Beziehungen, Familie und individuelle Befriedigung und Entfaltung des Selbst erhalten eine höhere Bewertung als materieller Wohlstand. Die Rückwendung zur Familie wird außerdem damit erklärt, dass der Job den Frauen in den seltensten Fällen wirklich Spaß mache und stattdessen nur eine notwendige Quelle des Geldverdienens sei. Zudem unterdrücke er das Ausleben ihrer Weiblichkeit. Daher dürfe er nur eine Zwischenstation, aber nicht das Endziel des Lebens darstellen. Yan Yin geht sogar so weit zu behaupten, dass das Dasein als »starke Frau« keine freiwillige Entscheidung sei, sondern allein den gesellschaftlichen Umständen geschuldet und eine »erzwungene« Lebensweise, weil

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Partnerschaft und Familienpläne gescheitert sind. Hierzu ergänzt eine der interviewten alleinstehenden Karrierefrauen: »Ich finde, dass Frauen von Natur aus nicht nach Erfolg im Beruf streben. Ich denke, wenn sie die Wahl haben, dann würde die große Mehrheit der Frauen lieber zuhause ›kleine Ehefrau‹ (xiaoqi) sein« (Yan 2012: 111).

Diese Ansicht findet sich ebenfalls in anderen Schicksalsberichten von alleinstehenden Frauen: »As time goes by I long more than ever to find a true love and get married, and I ache to have a real home of my own. But I’ve failed to meet even one man who could give me his heart. Many of my girl friends often claim – especially in the presence of men – that they are single by deliberate choice, but in fact they are just like me – and very lonely. We need emotional warmth and comfort more than young girls and married wives do.« (Zit. nach Wu 2012: 122)

So stellt Xiaoxiao den Beruf (zhiye) der Berufung (congshen shiye) als Ehefrau und Mutter gegenüber und plädiert für eine Entscheidung zugunsten von Familie, da diese als nukleare Einheit von Staat und Gesellschaft viel endgültiger und zuverlässiger sei als jeder Arbeitgeber (Zhufu Xiaoxiao 2011: 10), daher sei es wichtiger und sinnvoller seine Zeit und Energie, anstatt sie in einen unbefriedigenden und zeitlich befristeten Job zu stecken, der Begründung und Aufrechterhaltung einer harmonischen Familie zu widmen: »Eigentlich braucht am Ende jede erfolgreiche Du Lala eine eigene Familie, einen Ehemann, Kinder, ein Heim, für ein glückliches Leben. Wenn sie eine Familie haben, müssen die Du Lalas lernen diese richtig zu managen (jingying), denn nur so bekräftigen sie ihren Anspruch auf dauerhaftes Glück.« (Ebd.: 5)

Damit spricht sich Hausfrau Xiaoxiao letztlich auch für das Nachgehen einer Arbeit der Frau aus – jedoch in diesem Falle nicht der Lohnarbeit, sondern der Arbeit für die Familie, der ihr durch die Professionalisierung der Hausfrauentätigkeit zur »Familienmanagerin« den Status einer Berufstätigkeit verleiht. Dazu gehören u.a. die Familienfinanzen, die Befriedigung und Unterhaltung des Ehemannes, die Kindererziehung, die Erhaltung der eigenen weiblichen Attraktivität und das Sorgen für den Wohlstand und die Gesundheit der Familie, womit jede Frau zu »100% beschäftigt« sei (shifen mang) (ebd.: 6).

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Die Grundidee, die hinter dieser naturalisierten, geschlechtlichen Sphärenzuschreibung steckt, kann auch in der konfuzianischen Geschlechtervorstellung und -rollenverteilung gefunden werden und setzt sich auch in modernen Rekonstruktionen wie dem Neukonfuzianismus fort. Dort wird zwar für die wechselseitige geschlechtliche Durchdringung beider Sphären des Häuslichen (nei) und Öffentlichen (wai) plädiert, jedoch wird die Teilnahme der Frau an der Öffentlichkeit auf Basis der Grundannahme einer prinzipiellen spezifischen geschlechtlichen Zuständigkeit der beiden Bereiche konstruiert: Auch wenn die Frau nun am wai teilnehmen darf, so basiert ihre soziale und persönliche Geschlechteridentität dennoch vorrangig auf ihrer weiblichen Wesensart, welche sich über ihre Rolle als Mutter und Ehefrau definiert. Die Pflichten der Frau als Ehefrau und Mutter werden der Teilnahme am öffentlichen Leben vorangestellt werden. Dies entspricht letztlich dem konfuzianischen Ideal der weiblichen Geschlechterrolle, das grundsätzlich in der Sphäre des nei verankert ist und nur optional erweitert werden kann: »Women must first and foremost derive their gender identity from the familial roles in the nei, and only by extension can women’s engagement in literacy arts be justified.« (Rosenlee 2006: 115) Zwar steht Frauen also die Teilnahme am wai prinzipiell offen und dementsprechende Zusatzqualifikationen werden geschätzt, doch bedeutet dies nicht automatisch die Schaltung einer neuen weiblichen Identifikationsbasis. Wenn Frauen im traditionellen China aus der häuslichen Sphäre herausgetreten sind, so wurde ihre Teilnahme am wai in den Bereichen von Literatur und Politik nur durch eine Erweiterung ihrer prinzipiellen Geschlechterrolle legitimiert, wie zum Beispiel zur Unterrichtung des Sohnes oder Beratung des Ehemannes. Die Teilnahme am wai war kein Selbstzweck oder gar als Ersatz für die Pflichten im häuslichen Bereich zu sehen, sonst wäre es ein Verstoß gegen die Moral und die Geschlechterrollen gewesen. Die Geschlechteridentität speiste sich dennoch ausschließlich über die zugewiesenen familiären Rollen und erhielt durch die Teilnahme am wai zwar einen zusätzlichen Aspekt, der die grundsätzliche Orthodoxie der Genderdistinktion jedoch prinzipiell unangetastet ließ. Insofern kann die Idee eines konfuzianisch fundierten Feminismus, wie ihn Rosenlee entwirft, als gescheitert angesehen werden. Ihr Entwurf einer »hybriden« feministischen Theorie innerhalb eines konfuzianistischen Rahmens beruht auf der Aufhebung der Sphärentrennung, die Frauen nicht mehr nur auf rein funktionale Wesen des Inneren beschränken: »[T]he problem of gender disparity in Chinese society is also a problem of the ritual boundary of the nei and wai as a gender-based division of labor and sphere of activities. The dynamic interplay between the nei and wai, on the one hand, robs women of any

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legitimate access to the wai realm of literary learning, and on the other hand, conceals women’s achievement, especially in the areas of wen and zheng.« (Rosenlee 2006: 153)

Zwar ist tatsächlich eine Modifizierung des nei-wai-Verhältnisses zugunsten einer Aufhebung der geschlechterspezifischen Sphärentrennung zu beobachten, indem der Frau Zugang zum wai gewährt wird. Doch damit hebt sich nach wie vor nicht ihre alleinige Zuständigkeit für das nei auf. Ihr Wirkbereich wird lediglich auf die Teilnahme am öffentlichen Leben erweitert. So sehen die untersuchten Ratgeber die Frau sowohl in der öffentlichen als auch privat-familiären Sphäre aktiv tätig, wobei es unterschiedliche Prioritätszuschreibungen gibt. Für einige Autorinnen ist die finanzielle Unabhängigkeit der Frau, wie sie sich durch die eigene Berufstätigkeit ergibt, unbedingte Voraussetzung. Selbst wenn der Mann mit seinem Einkommen aktuell die Familie ernährt, so soll die Frau zumindest ausreichend eigene Ersparnisse haben. Andere wiederum sehen die Berufsausübung als Ort der Selbstverwirklichung, der Stärkung des Selbstbewusstseins und der gesellschaftlichen Anerkennung. Kein Ratgeber legt seinen Leserinnen nahe, auf die Teilnahme am wai (in Form einer Berufstätigkeit oder außerhäuslichen Engagements) vollkommen zu verzichten. Doch trotz der selbstverständlichen Teilnahme am öffentlichen Leben weisen die Ratgeber den häuslichen Bereich immer noch als spezifisch weibliches Feld aus. So sei der »natürliche« (tiansheng) Einsatzort der Frau die Küche, das Wohnzimmer und der Garten (Zhufu Xiaoxiao 2011: 11). Gemäß des konfuzianischen Leitsatzes »Den Körper kultivieren, das Heim ordnen, das Reich regieren, alles unter dem Himmel befrieden« (Xiu shen, qi jia, zhi guo, ping tianxia), müssen, »[u]m das Heim zu ordnen, […] die Frauen ins Heim zurückkehren und nicht ›Du Lalas‹ sein, sondern anfangen Hausfrauen zu werden« (ebd.: 10). Die auferlegte Geschlechterrolle sieht die Frau in erster Rolle immer noch als »gute Ehefrau und Mutter« (xianqi liangmu), deren Aufgaben die Unterstützung des Gatten und Erziehung der Kinder ist. Es findet sich in den Ratgebern der Verweis darauf, dass »hinter jedem erfolgreichen Mann eine großartige Frau« stehe (Zhang 2013: 35; Ya 2012: 136), die ihm als »Hilfe im Inneren« (nei zhu) nicht nur im familiären Bereich den Rücken freihalte, indem sie Haushalts- und Familienpflichten übernimmt, sondern zugleich auch im Bereich des wai ihm mit ihren sozialen Fähigkeiten und als Repräsentations- und Prestigeobjekt zur Verfügung steht. »Egal in welcher Branche der Mann arbeitet, die Ehefrau hat die Verpflichtung (zeren) an sich zu arbeiten und sich zu verbessern. Denn wenn die Ehefrau mit den Mitmenschen und Kollegen gut auskommt und genug Fähigkeiten im sozialen Umgang hat, dann kann sie die Chancen für den Erfolg des Mannes um ein Vielfaches erhöhen.« (Zhang 2013: 36) Daher wird die ideale Frau aus Männerper-

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spektive oftmals als »sowohl gut in der Küche als auch repräsentativ auf der Bühne« (xia chufang, shang tingtai) beschrieben. Es werden Geschichten von Frauen zitiert, die durch die Erfüllung ihrer Geschlechterrolle dem Mann im öffentlichen Umfeld »Gesicht« gaben und somit die Bewunderung und Anerkennung von Vorgesetzten und Kollegen errangen. Damit ist zwar in der aktualisierten Version konfuzianischer Ethik, wie sie in den Ratgebern vertreten wird, Frauen der Zugang zum Bereich des wai in Form von Berufstätigkeit und Teilnahme am sozialen Leben gestattet und sogar ausdrücklich erwünscht, dennoch scheint es so, dass sich an der Rolle der Frau im Bereich des nei wenig verändert hat. So hat sich beispielsweise der Sphärentausch nicht in beiden Richtungen durchgesetzt, also so, dass auch der Mann wahlweise für den Bereich des nei zuständig sein kann. Seine Position bleibt unverändert rein auf das wai beschränkt. Das Modell eines Hausmannes gilt immer noch als verpönt. So wird nicht nur in der realen Lebenspraxis die Hausarbeit immer noch weitestgehend als Frauenaufgabe angesehen, weil die berufliche Arbeitsleistung der Frau im Vergleich zum Mann als geringer geschätzt wird. Auch die Herstellung eines harmonischen Heims und einem glücklichen Familienleben obliegt in erster Linie der Frau als Familien- und Ehemanagerin, während Männer von dieser Pflicht entbunden werden, weil sie qua Geschlechtscharaktermuster zu wenig emotionale Intelligenz und Einfühlungsvermögen dafür besäßen (Zhang 2013: 44). Damit wird die Verantwortung für das Gelingen von Ehe und Familie – also die Sphäre des nei – ausschließlich der Frau überantwortet, während beide Partner gleichberechtigt zum Gelingen des wai beitragen sollen. Damit können wir zwar von einer Ausweitung der Wirksphären der Frau sprechen, die nun sowohl nei als auch wai erobert hat, jedoch nicht von einem grundsätzlichen Wandel ihrer Stellung. Tatsächlich verlangt die immer noch bestehende Trennung zwischen nei und wai – symbolisiert durch Berufs- und Privatleben – eine geradezu schizophrene Geschlechteridentität von Frauen, die im Bereich des wai einerseits stark, unabhängig und emanzipiert auftreten, jedoch zugleich im Bereich des nei in die vollkommen gegensätzliche Rolle des kleinen, abhängigen Frauchens (xiaoniao yiren) schlüpfen sollen. Damit muss die Frau über ein in sich völlig konträres Rollenrepertoire verfügen. Somit hat sich die Geschlechterrolle im Bereich des nei nicht verändert, stattdessen erfolgte nur eine Erweiterung ihrer Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten.

»Die Liebe nach links, die Ehe nach rechts« Die Utilitarisierung der Intimbeziehung

L EBENSZIEL H EIRAT In der chinesischen Kultur nimmt die Eheschließung als sexueller und sozialer Rite de passage einen wichtigen Stellenwert im Leben ein. Insbesondere die weibliche Identität scheint selbst heute noch stark von der gesellschaftlichen Institutionalisierung der (Liebes-)Beziehung abzuhängen. Auch wenn voreheliche Beziehungen und sogar sexuelle Erfahrungen mittlerweile keine Seltenheit mehr sind, bleibt im dominanten Diskurs der Intimität das Endziel dennoch auf das Erreichen der Ehe fixiert. Tatsächlich sind in China nur 1,3 Prozent der Männer und 4,2 Prozent der Frauen über 30 Jahre nicht verheiratet (Pan et al. 2004: 414), das heißt, die überwiegende Mehrheit folgt der Norm. So schreibt Li Yinhe, die den »Heiratszwang« als spezifisch chinesisches, soziokulturell generiertes Phänomen betrachtet: »[I]n China müssen alle heiraten. Keiner fragt warum, keiner weiß warum, aber es heißt automatisch ›Wenn Männer erwachsen sind, heiraten sie; wenn Frauen erwachsen sind, werden sie geheiratet‹, als gäbe es gar keine andere Wahl. Und selbst wenn das Heiratsalter sich nur im Vergleich zum Durchschnitt um drei Jahre vor oder zurück verschiebt, ist das schon ein Grund für allerhand Verdächtigungen und Getuschel und bringt dem Betroffenen Kummer und Ärgernis.« (Li 2002: 68) Die Eheschließung gilt als derart unumstößliche und damit selbstverständliche Etappe im Leben, dass die meisten Frauen in einer Befragung, warum sie heiraten möchten, noch nicht einmal einen konkreten persönlichen Beweggrund benennen können, sondern sich zumeist nur allgemein darauf beziehen, dass es »traditionell dazugehöre« und »jeder mache«. Allein die Frage nach der Motivation, die ja eben auch die Möglichkeit des Nicht-Wollens impliziert, stößt auf Empörung. So antwortete eine 31-jährige IT-Managerin darauf: »I have wanted

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to get married every year since I was 25! I think it is lisuo dangran [selbstverständlich, A.D.] […] How can I not get married? I’ve always believed in that. I can be very laid back about other things in life, but in terms of marriage I think it must be done.« (To 2015: 10) Selbst in der spezifischen Formulierung der Gesetzgebung schlägt sich die Prämisse nieder, dass im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass eine Frau in China mindestens einmal im Leben heiratet und mindestens ein Kind zur Welt bringt (vgl. Mann 2011: 67f.) Auch in einer 2013 von mir in Beijing durchgeführten nicht repräsentativen Umfrage unter White-Collar-Frauen zwischen 20 und 30 Jahren konnten sich nur drei der insgesamt 50 befragten Frauen vorstellen nicht zu heiraten. Dagegen sahen 39 Frauen trotz ökonomischer Selbständigkeit nur in einer formalen Eheverbindung ihr Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt und sagten aus, nur in der Ehe könnten sie psychisches und emotionales Wohlbefinden finden. Dementsprechend besteht vor allem für Frauen eine sehr große Angst und Sorge darin, diese Lebensaufgabe nicht erfolgreich in der dafür vorgeschriebenen Zeit meistern zu können. Frauen, die darin »versagen«, werden zu so genannten »Übriggebliebenen« (shengnü) stigmatisiert. Im Gegensatz zu den unverheirateten Frauen vorangegangener Epochen, die zumeist ein zurückgezogenes Leben führten,1 gilt den neuen »Übriggebliebenen« aktuell die breite öffentliche Aufmerksamkeit – sie wurden sogar zum Politikum. 2007 gab das chinesische Bildungsministerium eine offizielle Definition der »sheng nü« heraus: Dabei handele es sich um urbane, professionelle Frauen über 27 Jahre, die über ein hohes Bildungsniveau, hohes Einkommen, hohe Intelligenz und eine attraktive Erscheinung verfügen, jedoch genauso hohe Erwartungen an potentielle Ehepartner hegen und daher auf dem Heiratsmarkt schwer

 1

Unverheiratete Frauen sind keineswegs nur eine gegenwärtige Erscheinung in China. Während im antiken China die Heiratsquote bei Frauen nahezu 100% betrug (vg. Mann 2011), stieg die Zahl der freiwilligen oder unfreiwilligen Heiratsverweigerinnen seit der Taiping-Rebellion, wo es bereits Zusammenschlüsse von ledigen Frauen gab, und spätestens seit der beginnenden Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Meist war es jedoch die wirtschaftliche Not, die Frauen zwang sich als Arbeiterinnen in Fabriken zu verdingen und dadurch das Heiratsalter hinauszuzögern, da die Unternehmen aus Angst vor Ausfallzeiten durch Familie meist nur ledige, junge Frauen einstellten. Oder in manchen Fällen mussten Frauen als älteste Schwester nach dem Tod der Eltern die Bürde der Erziehung und Versorgung der jüngeren Geschwister übernehmen und konnten dadurch ihre Geburtsfamilien nicht verlassen (vgl. Brooks 2011: 83ff.).



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vermittelbar sind (To 2015: 1). Dass trotz weitestgehender Privatisierung und Individualisierung des Lebensraumes und der Lebensgestaltung von staatlichen Interventionen seit den 1980er Jahren die Frage, ob und wann Individuen unter die Haube kommen, erneut staatliche Reaktionen provoziert, liegt vor allem an biopolitischen und demographischen Überlegungen – allen voran die wachsende Sorge über sinkende Geburtenraten seit den 2000ern. Nachdem 2014 die Geburtenbeschränkungen bereits erneut gelockert wurden und die Ein-Kind-Politik zunehmend zur Zwei-Kind-Politik wird, stehen gerade die besonders hochgebildeten Frauen im Zentrum von staatlichen Familienplanungskampagnen, denn einerseits zeigt sich diese Zielgruppe besonders unwillig zur Reproduktion, andererseits wird gemäß der in China immer noch in der Gesellschaftsentwicklung weit verbreiteten und einflussreichen sozialdarwinistische Theorien erwartet, dass jene Frauen aufgrund ihres eigenen gehobenen Lebens- und Bildungsniveaus auch »qualitativ hochwertigen« Nachwuchs hervorbringen, der ebenfalls die beste Förderung erhält und somit langfristig die »Qualität« der Bevölkerung hebt.2 Deshalb zielt die gesamte öffentliche und politische Diskussion um die »Übriggebliebenen« allein auf hochqualifizierte Frauen ab; unverheiratete und kinderlose Frauen aus bildungsfernen und ökonomisch schlechter gestellten sozialen Schichten oder auf dem Land erhalten dagegen kaum Aufmerksamkeit und werden im Allgemeinen auch nicht unter dem Begriff der »shengnü« subsummiert. Doch nicht nur die ungenutzten Reproduktionsmöglichkeiten motivieren ein staatliches Eingreifen. Da durch embryonale Geschlechterselektion noch immer ein Männerüberschuss in der Gesamtpopulation vorherrscht und dieses Ungleichgewicht durch weitere sozioökonomische Entwicklungen wie der Abwanderung von Frauen vom Land als Arbeiterinnen in städtische Regionen und dem Trend zur Hypergamie, also der weiblichen Erwartungshaltung in ökonomisch besser gestellte Verhältnisse einzuheiraten, verstärkt wurde, entsteht nicht nur am oberen Ende des sozialen Stratums das Phänomen einer wachsenden Gruppe von unvermittelbaren (v.a. weiblichen) Singles, sondern auch gerade am unteren Ende wächst die Gruppe von unverheirateten Männern, den so genannten »nackten Stöcken« (guanggun), die es metaphorisch nicht schaffen Zweige und Triebe zu bilden. Schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Prozent der Männer in ländlichen Regionen gelingt es aufgrund ihrer dürftigen ökonomischen Voraussetzungen und prekären Lebensumstände nicht, eine Ehefrau zu finden (Mann 2011:

 2

Siehe dazu u.a. das chinesische Eugenik-Programm (yousheng youyu) als essentieller

 Bestandteil staatlicher Gesellschaftsplanung (Greenhalgh/Winckler 2005).

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65).3 Bereits im antiken China wurden diese als Gefahr für die soziale Stabilität und als potentielle Herde für Aufruhr und Kriminalität gesehen, da die Not und Verzweiflung – schließlich galt die Fortführung der Ahnenlinie durch einen Sohn als oberste Pietätspflicht – sie oftmals zu die soziale Ordnung gefährdende Taten wie Vergewaltigungen, Entführungen und Frauenhandel veranlassten. Deshalb bestand eine der Motivationen für eine Änderung der Familien- und Ehegesetzgebung der Kommunisten unmittelbar nach Machtübernahme darin, die Anzahl der alleinstehenden Männer zu reduzieren, indem Frauen auf verschiedene Weise verfügbar gemacht wurden: durch das Verbot von Konkubinat und Prostitution wurde die Akkumulation von Frauen in ökonomisch besser gestellte Familien verhindert, ebenso trug die Propagierung der Wiederheirat von Witwen – ein insbesondere während der Qing-Zeit gesamtgesellschaftlich verbreitetes moralisches Tabu – zu einer Entspannung der Frauenknappheit bei. Deshalb bezeichnet Susan L. Mann die Umwandlung der Klassenstruktur nach Gründung der Volksrepublik nicht nur als politisch und sozial bedeutsame Transformation, sondern auch als einen geschlechtsspezifischen Prozess, der nicht die völlige geschlechtliche Gleichberechtigung im Sinne hatte, sondern vor allem auf soziale und politische Stabilität abzielte, indem jedes Individuum durch Heirat in eine Familienstruktur eingebunden und mit dieser Einflechtung in intime Netzwerke und familiäre Abhängigkeitsverhältnisse zugleich unter Kontrolle gehalten und zum »guten Bürger« erzogen wurde (Mann 2011: 60f.). Auch heute noch gilt aus soziopolitischer Sicht die Familie als Nukleus und Grundzelle von Gesellschaft und Staat. Selbst Sozial- und Sexualwissenschaftlicher wie Pan Suiming, der eigentlich eher einen Namen als Verfechter der sexuellen Revolution in China erlangte, entwirft, um das Verhältnis von Liebe, Ehe und Sexualität im gegenwärtigen China aufzuzeigen, das Modell eines »primären Lebenskreises« (primary life cycle): eine typische Vater-Mutter-Kind-

 3

Die Ausweitung der Heiratsmigration seit den 1990er Jahren durch bessere Infrastruktur der Transport- und Kommunikationswege verstärkt diesen Trend der alleinbleibenden Männern in besonders armen Regionen Chinas, da die ursprünglich in diesen Regionen beheimateten, heiratsfähigen Frauen lieber durch Heirat in ökonomisch besser gestellte Provinzen wie Hebei, Anhui, Jiangsu und Zhejiang migrieren. So wird rund 40% der interprovinziellen Migration von Frauen in ländlichen Gebieten durch Heirat induziert, allerdings verlassen dagegen nur 3% der Männer ihr Heimatdorf durch Heirat. Dadurch bleiben gerade in ökonomisch und geographisch benachteiligen Regionen wie Yunnan, Guizhou, Guangxi und Sichuan immer mehr unverheiratete Männer zurück (vgl. Davin 2014; siehe auch Poston/Glover 2005).



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Konstellation als elementarste »Einheit« (danyuan) der Gesellschaft (Pan 2006). Dementsprechend erscheint die seit den 1990er Jahren erneut wachsende Anzahl an unverheirateten Individuen beiden Geschlechts und sowohl am oberen als auch am unteren Ende des sozialen Stratums als eine Gefährdung der sozialen Ordnung wie auch der politischen und ökonomischen Stabilität. So wurden beispielsweise alleinstehende Karrierefrauen für die Verschlechterung des Jobmarktes, Massenentlassungen und härteren Wettbewerb in Hongkong verantwortlich gemacht, weil sie ihre qua Geschlecht zugedachte Rolle als Mutter und bestenfalls Nebenverdienerin transgrediert und damit das soziale Gefüge aus dem Gleichgewicht gebracht hatten (Brooks 2006: 87). Daher wird der Terminus der »Übriggebliebenen« von staatlichen Institutionen und Medien vor allem zur Durchsetzung demographischer Ziele, zur Steuerung der Bevölkerungsentwicklung und des »social engineering«, wie auch zum Erhalt der sozialen Ordnung aktuell so häufig aufgegriffen und perpetuiert – oder wie Leta Hong Fincher vermutet: »the term existed to make women return to the home« (Fincher 2014: 11). Nichtsdestotrotz steigt die Zahl der unverheirateten Frauen. Insbesondere in Hongkong (20%), Taiwan (11%), Malaysia (15%) und Manila (20%) sind viele Frauen bis zum Alter von 34 Jahren noch nicht verheiratet (Brooks 2011: 65). Dies liegt meist an den »klassischen« Faktoren einer verlängerten Ausbildungszeit, härterer Arbeitsmarktkonkurrenz und ökonomischer Selbstständigkeit, die Frauen zögern lassen den traditionellen Weg einzuschlagen. Denn dieser endet – wie im vorherigen Kapitel beschrieben – zumeist in einer patriarchischen Rollenverteilung, die für Frauen meist nur die Rolle als gute Ehefrau und Mutter vorsieht. Mit finanzieller Eigenständigkeit eröffnen sich Frauen jedoch auch zunehmend Wahlmöglichkeiten: von der selbstbestimmten Wahl des Partners bis hin zur Wahl des Lebensmodells. Inwiefern insbesondere urbane White-CollarFrauen diese Möglichkeiten nutzen, hat Sandra To in ihrer Studie über die »Übriggebliebenen« untersucht. Sie identifizierte dabei vor allem die berufliche Exzellenz der Frauen als Grund für das Alleinbleiben: Ökonomisch erfolgreiche Frauen erzeugen in Männern übermäßigen Druck noch erfolgreicher als die Frau sein zu müssen, denn anderenfalls fühlten sie sich unterlegen und fürchteten um die soziale Anerkennung bzw. den Verlust ihrer Männlichkeit, da diese ja an ihre Leistungsfähigkeit als Familienernährer gekoppelt ist. Andererseits entzünden sich aber gerade mit jenen Alpha-Männern, die selbst erfolgreich genug sind, um sich nicht bedroht zu fühlen, Geschlechtskonflikte, da diese meist auch stark patriarchische Rollenvorstellungen hegen, jedoch viele Karrierefrauen sich ungern nur mit der tatenlosen Rolle der »trophy wife« begnügen möchten. Diese Kombination aus einerseits arg beschränktem Kandidatenpool und hohen An-

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sprüchen der Frauen an eine egalitäre Beziehungsgestaltung führen dazu, dass sich gerade gut gebildete und erfolgreiche Frauen vom chinesischen Heiratsmarkt ausgeschlossen fühlen (To 2015). Doch auch weniger exzellente und erfolgreiche Frauen tragen sich zunehmend mit dem Gedanken des Alleinbleibens, da die Institution Ehe in der Form, wie sie in China praktiziert wird, zunehmend als Belastung für die Frau wahrgenommen wird: es wird von Frauen erwartet ihrem Mann in allen seinen Entscheidungen zu folgen und ihren »ehelichen Pflichten« – von der Haushaltsführung bis zur sexuellen Verfügbarkeit – nachzukommen und dafür die eigenen Interessen zurückzustellen. Gleichzeitig werden unter dem Mantel der Ehe einige Grundrechte aufgehoben wie z.B. der Schutz vor körperlicher Gewalt und das Recht auf Besitz – häusliche Gewalt wird selten konsequent strafrechtlich verfolgt und obwohl Frauen in den meisten Fällen ihre sämtlichen Ersparnisse in den gemeinsamen Familienbesitz investieren, verbleibt im Falle einer Scheidung oftmals alles alleinig beim Mann. Dies schreckt gerade ökonomisch selbständige Frauen zunehmend vor einer übereilten und frühzeitigen Ehe ab. Eine der befragten Frauen fasst es treffend zusammen: »Women’s investment in the marriage is invisible…The woman’s duty is to take care of the child, take care of the elderly, give birth to the child, do the housework – these burdens are all taken for granted. Hardly anyone thinks that these are the man’s obligations. This is so unfair […]. The institution of marriage basically benefits men…The most rational choice is to stay single.« (Zit. nach Fincher 2014: 187)

Dass Frauen, die sich dem chinesischen Heiratszwang widersetzen dennoch kein glückliches, erfülltes und selbstzufriedenes Leben führen, enthüllt Wu Shuping in seiner Interviewsammlung mit »Übriggebliebenen«. In den Interviews schildern Betroffene detailliert ihre Beweggründe für und die Auswirkungen des Single-Daseins auf ihre Lebensentwürfe. Bereits im Vorwort verweist er darauf, dass nur unverheiratete Frauen, die älter als 25 Jahre sind, individuelle, außergewöhnliche Geschichten erlebt hätten, während Verheiratete mehr oder weniger alle uniforme Geschichten und Erlebnisse teilten. Erstere besitzen also im Gegensatz zum Durchschnitt einen gewissen »Sensationswert«, es sind die Unverheirateten, die in gewisser Weise anormal und deshalb zu kreativen Lösungen gezwungen sind. Sie werden bei Wu als Symbole für die Veränderungen in der chinesischen Gesellschaftsstruktur stilisiert, da an ihren Schicksalen die negativen Auswirkungen neuer sozialer Phänomene beobachtet werden könne. In dieser Formulierung wird jedoch bereits deutlich, dass diese Entwicklung zu pluralen Möglichkeiten der Partnerschaftsgestaltung insgesamt negativ bewertet

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und der Durchschnittslebenslauf immer noch am Ideal der Ehe ausgerichtet wird. Dies gibt Wu auch unumwunden zu und erklärt die gesellschaftliche Perspektive für »Ausreißer« aus diesem Schema anhand der Bezeichnung »Great Northern Wildernis« (bei da huang)4 als Synonym für unverheiratete Frau zwischen 28 und 38 Jahren in urbanen Zentren Chinas: »The buzzword reflects a social phenomenon. Single woman status is not generally endorsed in Chinese society: such women have yet to be ›developed‹.« (Wu 2012: 35) Am häufigsten trifft dieses Schicksal Frauen, die die »san da« (drei hohe)-Kriterien erfüllen: hohes Alter, hoher Bildungsgrad, hohes Einkommen bzw. hoher sozialer Status. So etablierte sich in der chinesischen Populärkultur die humoristische Redensart von den drei Sorten von Menschen, welche sich in Männer, Frauen und Frauen mit Doktortitel unterteile – da promovierte Frauen aufgrund ihres Bildungsstandes und ihrer sozialen Stellung sich jenseits aller gesellschaftlichen Normen befänden und es für sie daher wahrscheinlicher sei mit dem Flugzeug abzustürzen als einen Ehemann zu finden. In der Tat klingen auch die Lebensberichte der interviewten Frauen alles andere als selbstbestimmt und zufrieden. Vielmehr schimmert oft die Sehnsucht nach dem klassischen Modell der Ehe durch: »As time goes by I long more than ever to find a true love and get married, and I ache to have a real home of my own. But I’ve failed to meet even one man who could give me his heart. Many of my girl friends often claim – especially in the presence of men – that they are single by deliberate choice, but in fact they are just like me – and very lonely. We need

 4

»Bei da huang« ist eigentlich ein Begriff aus dem Bereich der politisch motivierten Landverschickung von Intellektuellen und Rechtsabweichlern nach 1957 zur ideologischen Umerziehung und Urbanmachung von großen Gebieten brachliegender Landstriche v.a. in der nordöstlichen Manschurei. Hier nun wird der Begriff in einen völlig neuen Kontext gesetzt: Während sich das »da« (groß) auf das fortgeschrittene Alter und »bei« (Norden) auf Beijing als bevorzugtem Lebens- und Arbeitsraum vieler White-Collar-Chinesinnen bezieht, bleibt durch das »huang« (wild, ungezähmt) der Tenor der ursprünglichen Bedeutung teilweise erhalten. Damit wird verdeutlicht, dass für viele Frauen die Entscheidung, sich in Beijing niederzulassen, zu einer ähnlichen Situation wie die der Landverschickten führe: sie müssen sich alleine in der Fremde durchschlagen, ohne Heim, ohne Familie, ganz auf sich gestellt. Der Ausdruck illustriert damit nicht nur das Single-Dasein, sondern auch die damit verbundene Einsamkeit und Verzweiflung der Betroffenen sowie deren Überlebenskampf in der rauen sozialen Umgebung des urbanen China.



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emotional warmth and comfort more than young girls and married wives do.« (Zit. nach Wu 2012: 122)

Damit erscheint das Alleinbleiben mehr als eine Art trotzigen Widerstands gegen die erfahrenen Schicksalsschläge, die einer misogynen Gesellschaftsstruktur zur Last gelegt werden, denn als eine selbstbestimmte Wahl. Der Single-Zustand wird als einziger Hort der Zuflucht vor emotionaler Enttäuschung in einer unsicher gewordenen Welt gesehen: »We live in an age of emotionalism, falsity appears true, so that what seems true will be false. How do you know who really has true feelings? Which man can you believe? I am really afraid of marriage. I feel more and more convinced that spinsterhood is the only safe option: it avoids trouble, and keeps life safe and straightforward.« (Ebd.: 17)

Das Single-Dasein ist also kein bewusst gewählter alternativer Lebensentwurf, sondern vielmehr die Notlösung resultierend aus einer allgemeinen Verunsicherung im Konzept der Ehe durch die Erfahrungen komplexer Lebens- und Liebesrealitäten mit zunehmend polygamen oder episodischen intimen Lebensläufen. Viele der interviewten Frauen berichten vom Dilemma zwischen Ehezwang und Liebesideal, das zu Verwicklungen führt, wenn zum Beispiel der geliebte Partner anderweitig vergeben ist und sich aus moralischen Gründen oder sozialem Druck nicht trennen kann. Dies führt zwar teilweise zur Entwicklung von alternativen Paar- und Lebensmodellen, wie z.B. einer sozial nicht anerkannten festen Partnerschaft zweier anderweitig verheirateter Individuen, welche sich jedoch stetiger Kritik und sozialem Stigma ausgesetzt sehen. Keine der interviewten Frauen hat ihr Single-Dasein unabhängig und freiwillig gewählt, sondern sieht es als Konsequenz gewisser traumatischer Erfahrungen wie u.a. Seitensprüngen des ehemaligen Partners, sexueller Belästigung und Übergriffen oder aus unerfüllten Erwartungen an den Partner aufgrund einer sehr konservativen Einstellung zu Liebe und Sexualität. Auch Li Yinhe unterteilt die von ihr untersuchten alleinstehenden Heiratsverweigerer in die Kategorien des idealistischen Romantikers, des Asexuellen, Homosexuellen und Konservativen (Li 2002: 73-82). Auffällig dabei ist, dass ihrer Meinung nach augenscheinlich keiner der Befragten ohne objektiven »Grund« das Single-Dasein gewählt hat, sondern sich offenbar größtenteils aufgrund sexueller oder ideologischer Einstellungen dazu gezwungen sah. Auch in den Ratgebern wird die Eheschließung durchweg als eines der bedeutendsten Ziele im Leben einer Frau und als Hauptgrund für die zuvor genannten Bemühungen zur Selbstoptimierung, Verschönerung und Perfektionierung

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der Weiblichkeit gesehen. Je nach Ratgeber wird dabei der Fokus mehr auf die Anbahnung oder die Aufrechterhaltung der Ehe gelegt. Die Ratgeber, die sich hauptsächlich mit dem Zustandekommen der Ehe befassen, drängen ihre Leserinnen zur Eile: »Wer mit 23 Jahren noch nicht ans Heiraten denkt, wird möglicherweise zur alten Jungfer.« (Wang 2012: 19) Wie sich herausstellt, ist diese »Drohung« keinesfalls übertrieben: In den meisten Ratgebern wird das geeignete Alter zur Eheschließung für Frauen zwischen dem 21. und 25. Lebensjahr festgelegt. Diese Zeitspanne wird durch diverse Faktoren legitimiert: Mit der Rekurrenz auf nicht weiter spezifizierte wissenschaftliche Quellen wird konstatiert, dass Frauen zwischen 18 und 25 Jahren den Höhepunkt ihrer Attraktivität erreichen, welche danach rapide absinke und daher die Partnerfindung erschwere (ebd.: 20). Zudem befänden sich in diesem Zeitraum die meisten potentiellen männlichen Kandidaten auf dem Partnermarkt, welcher sich mit fortschreitendem Alter immer mehr ausdünne und dann nur noch »Nieten« zu bieten habe. Aber auch wissenschaftliche Studien in China unterstützen tatsächlich das relativ eng gefasste Heiratsalter und begründen die Aufforderung an die Frau, zeitig »zuzugreifen«, damit, dass das durchschnittliche Heiratsalter von Männern bei 25,8 Jahren liege. Da Männer sich bei der Wahl der Partnerin alterstechnisch nach »unten« orientierten und zumeist nur jüngere oder gleichaltrige Frauen infrage kämen, sei es schwierig für die »Übriggebliebenen« über 26 Jahre noch einen freien Partner zu finden (Tang 2011: 76). Ein etwas älterer Mann könne immer noch eine junge Frau wählen, aber niemand wolle mehr eine ältere Frau ehelichen, deren Frühling vorbei sei. Varianzen werden hierbei nur ungern geduldet: »Die Gesellschaft hat festgelegt, dass der Einzelne innerhalb eines begrenzten Zeitraumes sich selbständig und unabhängig einen Partner suchen kann. Aber wenn diese Gelegenheit nicht genutzt wird und der festgesetzte Zeitrahmen überschritten ist, dann wird der Einzelne nur noch schwer einen geeigneten Partner finden und ist sogar dem Risiko ausgesetzt, ein Leben lang allein bleiben zu müssen.« (Li/ Deng/ Xiao 1999: 9)

Wie ergebnisorientiert und zeitfixiert die Liebesbeziehung vor allem für Frauen ist, zeigt auch dieser zitierte Erfahrungsbericht: Eine junge Frau lebt bereits seit zehn Jahren glücklich in einer festen Partnerschaft und seit sechs Jahren wird auch eine gemeinsame Wohnung geteilt, doch als ihr Freund selbst an ihrem 29. Geburtstag noch zögert sie zu heiraten, verlässt sie ihn, obwohl sie selbst sagt, dass er sich früher oder später wohl irgendwann zu diesem Schritt überwinden können würde und ihr gemeinsamer Alltag bisher eigentlich sehr friedlich und wohletabliert in festen, eheähnlichen Bahnen verlief. Doch ihr ist der formelle

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Schritt der Ehe so wichtig, dass sie lieber auf die langjährige Beziehung verzichtet und kurz darauf eine neue Bekanntschaft heiratet (zit. nach Guan 2012: 228238). Wie gesellschaftsweit gültig und wirkmächtig dieses Diktum und wie markant der Zeitraum im Selbstempfinden und in der eigenen Identitätskonstruktion für Frauen zwischen 25 und 30 ist, zeigt sich in eben solchen Fallgeschichten und Erfahrungsberichten, die davon handeln, wie Beziehungen, die vorher ein halbes Dutzend Jahre hervorragend ohne Trauschein Bestand hatten, plötzlich scheitern bzw. von der Frau freiwillig aufgegeben werden, weil sie im betreffenden Zeitraum aus unterschiedlichen Gründen nicht in die formale Form der Ehe umgewandelt werden konnten. Stattdessen stürzen sich jene Frauen nach dieser Erfahrung oftmals in eine übereilte Heirat mit einer anderen Person – ganz nach dem Motto: Hauptsache verheiratet, egal mit wem –, die sie im Nachhinein bereuen und ihrer vergangenen Liebe nachtrauern, welcher jedoch paradoxerweise ohne fristgerechte Ehe-Institutionalisierung keine Zukunft unterstellt wurde.5 Hierbei offenbart sich ein Widerspruch im romantischen Ideal: Einerseits hat sich die Prämisse, Liebe sei die Basis und Voraussetzung für die Ehe, im öffentlichen Diskurs fest etabliert, andererseits scheint die Liebe ganz ohne Ehe jedoch auch nicht existieren zu können. Auch Pan Suiming hat dieses Dilemma erkannt und schreibt, dass eigentlich bereits seit der 4. Mai-Bewegung Verwirrung im Liebeskonzept in China vorherrsche. Zwar würde eine Ehe ohne Liebe mittlerweile in der Gesellschaft mehrheitlich als unmoralisch angesehen und es gelte der Leitsatz des »Erst verlieben, dann heiraten« (xian tanlian'ai, hou jiehun) im Gegensatz zur bis in die 80er Jahre hinein noch gültigen umgekehrten Maxime, doch sei die Liebe in China dennoch prinzipiell ergebnisorientiert (Eheschließung) und finde nicht wie im Westen im Prozess an sich bereits ihre Erfüllung (Pan et al 2004: 2). Das erklärte Ziel ist hierbei das Erreichen der amtlichen Eheschließung mit Rechtsgültigkeit. Andere Formen der Partnerschaft wie beispielsweise nicht-eheliche Lebensgemeinschaften oder eine bloß zeremonielle Ehe werden als Alternativen ausgeschlossen. Es gilt beinahe ausnahmslos die rechtsgültige Vermählung als Ziel jeder intimen Beziehung und einzige Legitimation einer Partnerschaft.

 5

Vgl. die Interviews »Ich habe so viele Jahre für die Liebe verschwendet - zu welchem Zweck?«, »Zu heiraten nur um zu heiraten ist die dümmste Sache, die ich tun konnte«, »Diese Ehe ist nicht die Erlösung unserer beider jeweiligen Liebe zu anderen« u.v.m.

 in Guan 2012.

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Deshalb drängen die Ratgeber zwar einerseits auf gewissenhaftes Abwägen der Partnerwahl, andererseits aber auch auf eine rasche Annäherung ans Ziel, denn die erste Verliebtheit halte nur bis zu 14 Monate an und in dieser Zeit müsse geheiratet werden, sonst sähe der Mann keinen Grund mehr dazu, insbesondere wenn sowieso schon eine eheähnliche Lebensgemeinschaft ohne Trauschein geführt würde: »Wenn er das Hochzeitsdatum nach 2020 verlegt, dann kannst Du am nächsten Tag gleich versuchen einen neuen Freund zu finden.« (Wang 2012: 3) Zum Dilemma zwischen Liebe und Ehe äußern sich die Ratgeber oftmals sehr widersprüchlich. So schreibt Wang Siyu einerseits: »Egal wie schön die Liebe ist, wenn man letztlich nicht heiraten kann oder die Hochzeit nicht das Ziel ist, dann ist der Schaden und die Verletzung für die Frau umso größer, je länger es andauert«, fügt aber auf der gleichen Seite hinzu: »Aber wir haben nicht nur eine Liebesbeziehung, um zu heiraten. Wenn Liebe und Ehe nicht beides vollkommen ist, dann kann die Frau doch besser gleich Single bleiben.« (Ebd.: 57) So ist es wohl gerade diese dissonante Verknüpfung von romantischer Utopie und Alltagsnorm, die das allgemeine Kopfzerbrechen um die Intimbeziehung produziert. Einerseits wird die Liebe als Triebkraft zur Transzendierung des Alltags vom episodischen Sondererlebnis zur Standardvoraussetzung ernannt, andererseits scheitert die soziale Verwirklichung des romantischen Ideals dann an der gesellschaftlichen Norm der zwanghaft institutionalisierten Ehe. Dies führt letztlich zunehmend zu einer Dissoziation von Liebe und Ehe und im schlimmsten Fall zu einer distanzierten Haltung sozialer Akteure und Akteurinnen gegenüber beidem. Dieser Skepsis wird in den Ratgebern mit Pragmatik begegnet: allein weil die Familie es verlangt und alle anderen es tun, müsse man letztlich doch irgendwann heiraten, also sei es besser die Sache gleich selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb sollen Frauen ihre Jugend und Schönheit nutzen, um möglichst früh damit anzufangen sich Gedanken über potentielle Kandidaten zu machen: »Mit 23 [Jahren] erreichen Mädchen schon ein späteres Heiratsalter als das Gesetz vorschreibt. Deshalb denke keinesfalls, dass du noch ein kleines Mädchen bist. Wenn Du noch zwei, drei Jahre wartest, wird sich ein Krisengefühl einstellen und Dich in Furcht versetzen und Dich seufzen lassen, dass die Jugend zu schnell vorbei ging. Kluge Mädchen werden die aktive Entscheidungsmacht auf dem Heiratsmarkt ergreifen und ihre Vorzüge gebrauchen und nicht darauf warten morgen eine verwelkte Blume zu sein oder verschämt die passive Position einnehmen und darauf zu warten vom Mann ausgewählt zu werden.« (Wang 2012: 20)

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Es geht also nicht nur darum einen Mann zu finden, sondern auch die bestmögliche Wahl zu treffen, was leichter fällt, wenn noch ein größerer Pool an Kandidaten zur Auswahl steht. Wer also nicht schnell auf dem Heiratsmarkt zuschlägt, der hat das Nachsehen. Denn wer zu eben jenen »Übriggebliebenen« zählt, ist selbst schuld. So identifizieren Li Yu und Xu Anqi in ihrer Studie zur Partnerwahl junger Chinesen folgende Faktoren für das »Heiratsversäumnis«: Frauen würden oftmals von zu hohen Ansprüchen und idealistischen Wunschvorstellungen daran gehindert sich trotz vorhandener Angebote frühzeitig zu binden; oder aber sie entsprechen nicht den Anforderungen der Männer an körperliche Attraktivität und besitzen nicht genügend »Weiblichkeit«. Ein weiterer Grund soll darin liegen, dass sie nicht im passenden sozialen Kreis verkehren oder generell zu wenig Sozialkontakte haben, um einen geeigneten Kandidaten kennenzulernen. Andernfalls seien sie zu sehr mit Beruf und Karriere beschäftigt oder haben ihren Wohnort gewechselt, so dass in der Fremde das familiäre und soziale Geflecht der Partnervermittlung – die meisten Beziehungen kommen immer noch über Vermittlungen im Freundes- oder Familienkreis zustande – nicht greift (Li/Xu 2004: 80f.) Hierbei wird bereits deutlich, dass die »Schuld« für das Nichtzustandekommen im »Versagen« der Frauen begründet wird: entweder sind sie zu wählerisch, besitzen zu wenig Sozialkompetenz, sind zu passiv oder haben sich zu wenig selbst optimiert. Auch die Ratgeberbücher schlagen in diese Kerbe und verurteilen vor allem allzu wählerisches Verhalten und zu hochgesteckte Erwartungen an den Zukünftigen, wodurch einem, ehe man sich versieht, alle sich bietenden Chancen ungenutzt durch die Finger rinnen. Der perfekte Mann habe zu viele Kriterien wie gutes Aussehen, finanzielle Kapazitäten, sozialer Status sowie romantische Feinfühligkeit zugleich zu erfüllen – insbesondere seitdem ein romantisches Wesen (fengliu) und Verbalkompetenz (huishuohua) zu Hauptkriterien eines begehrenswerten Mannes avanciert sind (vgl. Yan 2003: 77ff.). Des Weiteren wird in den Ratgebern oftmals »unweibliches« Verhalten und ein mangelhafter Charakter als Grund für das Scheitern aufgeführt. Zahlreiche Fallbeispiele handeln von Frauen, die auf den ersten Blick durchaus liebenswert erscheinen, jedoch in der weiteren Kennenlernphase inakzeptable »Macken« offenbaren, wodurch alle Kandidaten in die Flucht geschlagen werden. Die hartnäckige Verweigerung zur Eheschließung von männlicher Seite wird zumeist nicht dem Mann angelastet, sondern im Fehlverhalten der Frau gesucht. Als mögliche Gründe für das Scheitern des Heiratsplans werden so unter anderem das Zusammenwohnen vor der Hochzeit, sexuelle Freizügigkeit und/oder voreheliche Sexualkontakte, emotionale Verschlossenheit oder ein mangelhafter

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Charakter und eine fehlende Zielstrebigkeit der Frau diagnostiziert (Wang 2012: 98-113). So wird das Nichterreichen des Ziels der Heirat in erster Linie auf das »Versagen« der Frau zurückgeführt und der Verdacht geschürt, die Frau habe eklatante psychische, physische, emotionale oder soziale Defizite, die das Scheitern bedingten. Insbesondere charakterliche Schwächen wie Ungeduld, fehlende Sanftmütigkeit, Zickigkeit, Nörgelei und Dickköpfigkeit werden als hinderliches Problem betrachtet: »In der Welt der Liebe ist ein mangelhafter Charakter (xingge de quexian) die Schwachstelle der Frauen. Wenn wir das nicht verstecken, kontrollieren und verbessern können, könnten wir vielleicht schon bald in der Liebe verlieren. Ein guter Mann steht nicht nur für eine Frau zur Verfügung, und tolle Mädchen gibt es überall.« (Ebd.: 6)

So handelt eine Beispielgeschichte von einer hübschen, aber launenhaften jungen Frau, die durch ihre hitzige Unbeherrschtheit den Freund vergrault. Eines Tages verspricht er nach der Arbeit mit ihr bummeln zu gehen, vergisst es jedoch und geht stattdessen mit Freunden trinken. Als er am Abend heimkehrt, macht die Freundin ihm eine Szene und verzeiht ihm nicht, selbst als er sich für das Vergessen entschuldigt. In Folge davon ist er von ihrer Launenhaftigkeit genervt und beendet die Beziehung. Im Fazit der Geschichte wird die junge Frau beschuldigt ihr Liebesglück und die Chance auf einen potentiell guten Ehemann durch ihr aufbrausendes und unkontrolliertes Temperament verspielt zu haben (ebd.). Damit wird einerseits die Kritik an und soziale Exklusion von unverheirateten Frauen als »anormale« und »mangelhafte« Charaktere zusätzlich geschürt und gesellschaftliche Vorurteile bestätigt; andererseits wird den Rezipientinnen durch Abschreckung die Orientierung am Normativ mit Nachdruck ans Herz gelegt und damit der Heiratszwang reproduziert.

»K EINER WILL EINE FAULE M ELONE «: K ALKULATORISCHE Ü BERLEGUNGEN BEI DER P ARTNERWAHL Um der Schreckensvorstellung der »Übriggebliebenen« zu entgehen, gilt es für Frauen frühzeitig aktiv zu werden. Anders als in ländlichen Regionen, wo heutzutage die Auswahl eines Heiratskandidaten zwar nicht mehr allein von den Eltern arrangiert wird, jedoch zumeist immer noch die ganze Familie involviert, ist es in Städten seit den 1990er Jahren weitestgehend üblich, dass die Kandidaten durch die Praxis des Datings selbst ein passendes Pendant suchen und ihre Wahl erst beim Aufkeimen von Heiratsabsichten von Eltern und Familie abseg-

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nen lassen. Jener Prozess der Suche nach einem geeigneten Partner wird jedoch von vielen als äußerst anstrengendes und mühsames Unterfangen wahrgenommen. Die Eheanbahnung wird auch unter günstigen Umständen als stolpersteinbehafteter Hindernislauf beschrieben, auf dessen Pfad es für Frauen gar nicht so einfach sei, die »Beute« einzufangen. Männer werden dabei als »schlüpfriger Fisch«, der nicht an die Angel will, beschrieben, während »sich das Frauenherz nur nach heiraten, heiraten, heiraten« sehnt (Wang 2012: 2). Welche Frau nicht das Glück hatte, einen Studienkommilitonen oder Arbeitskollegen »dingfest« zu machen, quält sich zumeist durch eine Reihe von so genannten »Blind dates« mit Männern, mit denen sie entweder flüchtig durch den erweiterten Freundeskreis oder durch Geschäftskontakte bekannt gemacht wurden, ihnen ihre Eltern vermittelt haben 6 oder sie in Online-Partnerbörsen kennengelernt haben. Auch wenn China erst relativ spät ins Geschäft des professionellen Online-Datings eingestiegen ist, überflügelt der chinesische Markt in Nutzerzahlen und Einnahmen weit seine westlichen Vorgänger. 2003 ging die erste chinesische Onlinepartnervermittlung »Jiayuan.com« an den Start, die 2012 bereits 63 Millionen Nutzer verzeichnen konnte. An zweiter Stelle folgte die Konkurrenzseite »Zhenai.com« mit 30 Millionen Nutzern. Alle Webseiten des Genres verzeichnen jährliche Wachstumsraten von rund 20 Prozent (Steinfeld 2015: 36). Dennoch darf die Popularität des Online-Datings nicht mit einer zunehmenden Beliebigkeit in der Partnerwahl und Zunahme von Casual Sex-Beziehungen assoziiert werden, wie es den neuen Online-Liebes- und Umwerbungspraktiken im Westen als Folge des unerschöpflichen und unverbindlichen virtuellen Angebots oftmals unterstellt wird. Chinesische Nutzerinnen von Dating-Plattformen agieren meistens sowohl virtuell als auch real sehr konservativ und überlegt und überprüfen beim ersten Blind Date ihr Gegenüber vor allem auf seine Heiratsfähigkeit – also ob er über ein entsprechendes Bildungsniveau, einen aussichtsreichen Job, guten Verdienst und ernste Absichten verfügt. Vor jedweden Annäherungen oder gar Austausch von Zärtlichkeiten muss ein Mann erst sorgfältig geprüft werden – so raten die Ratgeber –, ob er als künftiger Ehemann taugt und sich die Anstrengungen eines Umwerbens lohnen. Dies soll Frauen insbesondere davor schützen sich körperlich »aufzuopfern« (xisheng), indem sexuellen Forde-

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Die so genannten »Heiratsmärkte« in öffentlichen Parkanlagen in Chinas Großstädten, wo Eltern die Steckbriefe und Fotos ihrer Sprösslinge aushängen bzw. unter diesen Annoncen geeignete Bewerber für den eigenen Nachwuchs suchen, haben mittlerweile internationale Berühmtheit erlangt.



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rungen des Mannes entgegen gekommen wird, die sich später für die Frau nicht in Form einer vorteilhaften Beziehungskonstellation »auszahlen«. Körperliche und vor allem sexuelle Kontakte mit einem Mann, der sich nicht als der Richtige herausstellt, gilt es möglichst zu vermeiden. Zwar sind voreheliche sexuelle Erfahrungen kein Tabuthema mehr, doch hält sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Anzahl von Sexpartnern gerade bei Frauen noch im sehr niederen Bereich auf. Die Internalisierung dieses Normatives ist auch unter jungen urbanen Frauen immer noch weit verbreitet: viele Frauen fühlen sich nach sexuellem Verkehr einem Mann »zugehörig«, da sie sich in der Logik passiver weiblicher Sexualität ihm hingegeben haben und somit in ein emotionales und körperliches Abhängigkeitsverhältnis geraten sind (siehe nächstes Kapitel). Deshalb wird eine sexuell fundamentierte Paarverbindung oftmals auch dann nicht mehr gelöst, selbst wenn sie sich für die Frau als enttäuschend, frustrierend oder gar körperlich oder seelisch verletzend herausstellen sollte. Und da häusliche Gewalt in der Ehe in China immer noch nicht gesetzlich geahndet und von öffentlichen Stellen zumeist nachlässig als »familieninterne Unstimmigkeiten« abgetan wird, ist es für Frauen schwierig ohne eklatante eigene Verluste – z.B. Verlust von Aufenthalts-, Wohn- und Sorgerecht – aus einer unbefriedigenden oder gewalttätigen Ehe wieder herauszukommen.7 Deshalb muss ein Mann noch vor dem Eingehen einer Beziehung bereits auf seine potentiellen Qualitäten als liebender Ehemann und fürsorgliches Familienoberhaupt überprüft werden, damit es nach der Hochzeit kein böses Erwachen gibt. Insofern ist nachvollziehbar, warum die chinesischen Frauenratgeber sich so extensiv der Auswahl des richtigen (Ehe-)Partners widmen. Anders als westliche Beziehungsratgeber, deren Hauptanliegen vor allem Strategien der Annäherung zur Anbahnung einer intimen Beziehung ist, die jedoch keineswegs in einer Ehe münden muss, nehmen Kriterien der sorgfältigen Partnerwahl in chinesischen Ratgebern einen großen Raum ein. Denn hier gilt es nicht nur irgendeinen Mann zu verführen, sondern einen potentiellen Ehepartner zu identifizieren und das Eingehen einer ehelichen Verbindung ist – aus oben genannten Gründen – gerade für die Frau eine Entscheidung von großer Tragweite und bedingt ihr ganzes weiteres Lebensschicksal: »Die Frau ist im Familienleben immer in der schwächeren Position, deshalb ist die Heirat für die Frau eine sehr risikobehaftete Entscheidung.« (Feng 2011: 88) Daher müssen Frauen, bevor sie sich binden,

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Zu den legalen Missständen, die ein familien- und gesellschaftsgestütztes »Netz des Missbrauchs« ermöglichen und fördern siehe »Wifes caught in China‘s net of abuse« in: Fincher 2014: 140-164.



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den Mann erst genau unter die Lupe nehmen, um das Risiko abschätzen zu können. Denn »[f]ür Frauen ist die Bedeutung von Heirat unvergleichlich größer. […] Man kann sehen, dass das Familienleben für den Verfall und gesundheitlichen Ruin der Frau zweifellos große Auswirkungen hat, daher müssen Frauen vorher sich genügend seelisch darauf vorbereiten und sich klar darüber sein, dass ihr Leben dadurch in eine Phase vergleichbar einer Gefängnisinhaftierung eintritt« (ebd.: 87).

Dies macht deutlich, dass die Frau das »Schicksal« ihres restlichen Lebens komplett dem Mann überantwortet und im Regelfall aufgrund von zusätzlichen Bürden des Familienmanagements und der Haushaltsführung von einer Verschlechterung ihres Ist-Zustands ausgeht. Dadurch erscheint die Heirat keineswegs in einem romantisch-verklärten Licht einer Liebesvereinigung, sondern eher wie ein notwendiger Deal, der aus rein sozialen Gründen zu bestmöglichen Konditionen eingegangen werden muss. Dies gilt insbesondere für Frauen aus ökonomisch weniger gut gestellten Ursprungsfamilien, die sich durch die Heirat einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg erhoffen. In diesen Fällen wird die Heirat vor allem als das Eingehen einer Allianz zwischen zwei Familiennetzwerken gesehen, die sich daraus einerseits einen gegenseitigen Nutzen – z.B. die Ausweitung und der Profit eines gemeinsamen guangxi-Beziehungsnetzwerkes – und andererseits eine Aufteilung des Risikos – z.B. durch geteilte Privatkredite und finanzielle Hilfen aus der erweiterten Verwandtschaft im Krankheitsfall – erhoffen. Daher erscheint es naheliegend, dass eine ganz rationale und pragmatische Risikominimierung in Form einer kalkulierten Partnerwahl betrieben wird. Dass hierbei nicht unbedingt das Gefühl und die individuelle Anziehungskraft ausschlaggebend sind, erscheint dabei mehr als logisch: »Kein Mensch möchte auf den Gemüsemarkt gehen und eine faule Wassermelone nach Hause tragen. Bei der Wahl des Ehemannes ist es auch so. Deshalb nenne ich es nicht pragmatisch, sondern darwinistische Auslese (yousheng lietai).« (Wang 2012: 59)

Deshalb entwerfen die Ratgeber zur Hilfestellung der Leserinnen bei der Partnerwahl unterschiedliche, klischeehafte Kategorien von Männern. Hierbei fällt auf, dass – neben der klassischen Unterscheidung zwischen geeigneten und ungeeigneten Kandidaten – auch Unterschiede zwischen dem »realen« Mann und dem »idealen« Mann gemacht werden. Diese Unterscheidung sei wichtig,

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helfe sie doch einen realistischen Blick bei der Partnerwahl zu bewahren und sich nicht in unrealistischen Erwartungen zu verlieren. Aber auch die Charakterisierung des »idealen Mannes« bleibt schwierig, ist sie doch wiederum vom Bild des »idealen Partners« zu unterscheiden, denn offenbar fallen nach chinesischem Verständnis beide Kategorien nicht synonym. Ein Mann verdient sich das Prädikat der Männlichkeit durch Zurschaustellung von stereotypen männlichen Attributen und Verhaltensweisen wie zum Beispiel Dominanz, Unabhängigkeit, Kampfgeist und Aggressivität. So werden Männer, die mit Eifer und vollem Einsatz beim Fußballspiel um den Sieg wettstreiten als männlich und begehrenswert beschrieben; ebenso Männer, die Lastern wie dem Rauchen und Alkoholgenuss ohne Schuldempfinden frönen und sich ungeniert »nehmen, was sie wollen«, während Frauen diese Willkürlichkeit aus Anstandsgründen vorenthalten bleibt (Feng 2011). Einerseits löst solches Verhalten Kritik aus, andererseits erhöht es aber auch aus weiblicher Sicht durch die Betonung der Andersartigkeit und Grenzüberschreitung die Attraktivität. Daher lässt sich konstatieren, dass das weibliche Phantasiebild eines erotisch anziehenden Mannes sich an animalischen und phallischen Eckpunkten festmacht. Anders dagegen die Vorstellung des »idealen Partners«. Indem dem Mann nun eine andere Rolle zugeschrieben wird – die des domestizierten Versorgers anstelle des erotischen Objekts – werden nun komplett andere Kriterien zur Bewertung angelegt. Anstelle von Männlichkeit und Dominanz tritt nun vor allem das soziale Verhalten in den Vordergrund. Zusammen mit der zunehmenden Popularisierung eines eher weiblich-schönen Mannes mit schmächtiger Statur und androgynen Zügen taucht vor allem in den medialen Idealrepräsentationen von Männlichkeit vermehrt auch der neue Typus des »soften«, verständnisvollen Mannes auf, dessen größtes Kapital und Geschenk an die Frau in seiner liebevollen Hingabe und Aufopferung besteht. Eine Vorreiterfunktion in der Etablierung dieses Typus hatten vor allem aus Korea importierte TV-Soaps mit extrem feminin gezeichneten männlichen Protagonisten und romantisierten Handlungsplots jenseits des alltäglichen, materiellen Pragmatismus. Aber auch die Literatur griff dieses Modell schnell auf, insbesondere der jugendliche Liebesroman vor dem Hintergrund erster College- oder Universitätslieben und der subversive Undergroundroman, z.B. der so genannten »schönen Schriftstellerinnen« (meinü zuojia) wie Zhou Weihui oder Mianmian, deren Protagonistinnen und Alter Egos sich oft im Dilemma zwischen sanften und liebevollen, aber impotenten und mittellosen Partnern und dominanten, leistungsfähigen, phallischen, aber emotionsarmen Liebhabern befinden (vgl. Wei 2002). Laut einem Ratgeber definiert sich ein »guter Mann« dadurch, dass er die Frau glücklich macht und ihr ein glückliches Leben ermöglicht. Dies spiegelt in

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gewisser Weise den Trend zu einem neuen Typus Mann, der neben finanziellen Leistungen der Frau auch noch emotionale und geistige Befriedigung verschafft, wider, auch wenn die ökonomische Komponente nach wie vor stark bleibt, da ohne entsprechenden finanziellen Hintergrund das Glücklichsein per se in Abrede gestellt wird.8 Doch werden die Traumgebilde des »idealen Partners« in den Ratgebern ebenso dekonstruiert. Ausgehend von einem medial konstruierten, diffusen Bild des Traumprinzen findet eine Entzauberung statt: So ist die Rede davon, dass Frauen in ihrer Jugendzeit dem Idealbild des Traumprinzen in ihrem Kopf hinterherjagen, aber wenn sie ins Heiratsalter kommen, dann »korrigieren sie innerhalb kürzester Zeit ihre emotionalen Erwartungen und betrachten die Frage [der Partnerwahl] ganz rational. […] Ökonomie ist die Grundlage, also suchen sie einen Reichen. Aber da reiche Männer nicht für alle verfügbar sind, muss am Ideal Korrekturen vorgenommen werden. […] Zuletzt können Frauen unter dem Eindruck der ›Zerrüttung‹ von Realität und Schicksal nicht anders, als ihr Ideal aufzugeben und einen Mann zu heiraten, der wahrscheinlich himmelweit entfernt ist von ihrem ursprünglichen Wunschbild. […] Von da an werden Frauen sich nicht mehr die Zukunft rosa ausmalen, nicht mehr träumen, sondern mit Leib und Seele ihre Rolle in der Realität spielen« (Feng 2011: 90).

Generell tendieren die Ratgeber zu einer eher realistischen Einschätzung der Lage und zur Abstandnahme von allzu überhöhten oder romantisierten Vorstellungen der Geschlechterbeziehung. Stattdessen charakterisieren sie die Möglichkeiten mit äußerst ernüchterndem Blick: »Männer, die gut aussehen, gehen fremd. Männer, die Karriere machen, sind nicht liebevoll und aufmerksam zu Dir. Männer, die ehrlich und solide sind, sehen nicht gut aus. Männer, die anhänglich und aufmerksam sind, führen noch was anderes im Schilde.« (Ebd.: 83)

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In Japan und Korea ist eine ähnliche Entwicklung und eine zunehmende Popularität des »weiblichen« Mannes zu verzeichnen; ein Phänomen, das auf die veränderten Partnerwünsche der neuen selbstbewusste und selbständige Frauen reagiert und traditionelle Männerrollen wie die des japanischen »Salaryman« ablöst (vlg. Iida 2005 und Elfving-Hwang 2011).



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Während also Fernsehen, Filme und Romane den Traumprinzen als weibliche Fantasiefigur konstruieren, dekonstruieren die Ratgeber diesen wiederum zurück zum ganz und gar hässlichen Frosch, indem sie die Realität als desillusionierend, enttäuschend und beängstigend überzeichnen. So nimmt die Warnung vor »schlechten Männern« (huai nanren) auch einen bedeutend größeren Raum ein als die freudigen Aussichten auf das glückliche Zusammenleben. Zu jenen Männern, die Frauen unbedingt meiden sollen, gehören unter anderem die so genannten »Helden« (yingxiong). Beispielhaft wird aus verschiedenen klassischen chinesischen Heldenepen zitiert, um deutlich zu machen, dass das Leben an der Seite eines Helden zwar prestigeträchtig und aufregend sein mag, jedoch vor allem sehr unstet, einsam und entbehrungsreich (ebd.: 52f.). Die Heldenfiguren übernehmen keine Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Familien, tragen generell eher sporadisch zur wirtschaftlichen Grundlage bei, stürzen sie durch einen frühen Heldentod gar in eine ökonomische Notsituation, glänzen durch lange Abwesenheiten und stehen durch die öffentliche Aufmerksamkeit unter zu großem psychologischen Leistungsdruck, um sich im Privatleben liebevoll Frau und Kindern widmen zu können. Sie versagen also insofern, als dass sie ihrer Partnerin kein ökonomisch abgesichertes, ruhiges Leben garantieren und auch sich selbst aufgrund anderer Anforderungen nicht genügend in die Beziehung einbringen, der Frau liebevolle Aufmerksamkeit und Begleitung schenken können. Obwohl dieser Männertypus aufgrund der Rekurrenz auf fiktive Figuren des Altertums eher lebensfern wirkt, ergeben sich dennoch deutliche Parallelen zu aktuellen Rollenmodellen, spiegelt sich darin doch zugleich auch das inhärente Dilemma wider: Während die Aufopferung des Privatlebens für den Beruf – wenn man das karriereorientierte Beschäftigungsverhältnis als Heldendasein nach heutigen Maßstäben definieren will – mittlerweile zunehmend als negative Eigenschaft gilt, wird zugleich die ökonomische Absicherung durch den Mann erwartet. Zeitgleich weist diese Konstellation der Frau eine passive Rolle zu, indem sie auf die Rückkehr des Helden aus der Schlacht wartet und finanziell wie emotional in einem Abhängigkeitsverhältnis steht. Der zweite Typus von »schlechtem Mann« beschreibt den so genannten »Herumtreiber« (Langzi oder xiao hunhun), dessen Charme aus seinem unabhängigen Vagabundendasein, kombiniert mit emotionaler Verletzlichkeit, Weltschmerz, Leidenschaft und seiner sozial subversiven Andersartigkeit resultiert. Dennoch sei eine Verbindung mit ihm für die Frau nur von Schaden, da er kein Pflichtbewusstsein habe, keine Verantwortung übernehme, unstet, impulsiv und wankelmütig sei und sich nie zu einem normenkonformen Durchschnittsleben bekehren lasse (ebd.: 55). Er betrüge die Frau um sexuelle Gefälligkeiten, wäh-

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rend die Frau sich »aufopfere«, um ihn zu retten, das heißt sie erbringt »Leistungen«, für die sie vom Mann jedoch keinen materiell oder sozial anrechenbaren »Gegenwert« erhält. Ebenfalls nicht erstrebenswert als Partner ist ein so genannter »Schönling« (huamei nan). Dieser tritt als ein noch relativ neues gesellschaftliches Phänomen auf, nach dem Männer zunehmend auch nach ihrer physischen Erscheinung beurteilt werden. Feng Xiaochong gibt die Popularität von koreanischen TVSoap-Operas im chinesischen Fernsehen als Grund für die zunehmende Fixierung auf Äußerlichkeiten und die Tendenz zur sexuellen Objektivierung des Mannes durch den weiblichen Blick an. Die Zahl von metrosexuellen Männererscheinungen, die durch Schönheitshandeln Makel kaschieren und Vorzüge betonen und an die die gleichen Attraktivitätskriterien wie an Frauen angelegt werden (große Augen, lange Beine, modisches Styling), hat sich vermehrt. Jedoch wird von der Wahl eines solchen Partners dringend abgeraten. Es sei »komisch« (jiguai), wenn ein Mann mehr Wert auf das Aussehen lege wie die Frau (ebd.: 62). Zudem seien schöne Männer selbstverliebt, unzuverlässig und würden ihr Aussehen gezielt bei Frauen einsetzen, um sich Vorteile zu verschaffen. Paradoxerweise wird die Übertragung dieser Strategie des Einsetzens eines attraktiven Äußeren zum »Partnerfang«, die für Frauen gesellschaftlich breit akzeptiert und in selbigen Büchern ja sogar angeraten wird, auf das männliche Geschlecht (meinan ji) als Bedrohung gesehen: »Das bereitet einem wirklich Kopfschmerzen: Jetzt müssen Frauen nicht nur aufpassen, Männern, die sie mit Geld verlocken wollen, zu widerstehen, sondern auch noch vorsichtig sein, dass Männer sie nicht mit ihrem Aussehen ködern und selbst ausnehmen.« (Ebd.)

Zuletzt wird noch das »romantische Talent« (fengliu caizi) als Männertypus genannt, von dem Frauen Abstand halten sollten. Dazu zählen unter anderem Künstler, Intellektuelle und Kreative mit großer Begabung und leidenschaftlicher Bewunderung des weiblichen Geschlechts als Muse und Inspiration. Doch leider sei diese Bewunderung nicht auf ein Individuum beschränkt, sondern umfasse das gesamte Geschlecht, so dass die Liebe hier niemals exklusiv und einzigartig sei. Zwar werden die romantischen Beteuerungen in Form von Gedichten oder Liedern nicht generell abgelehnt, aber die mangelnde Exklusivität, indem auch der nächsten Frau mit gleicher Leidenschaft ein weiteres Gedicht gewidmet wird, führt zu solcher Empörung, dass dieser Typus Mann als der schlimmste von allen und als »literarischer Schurke« (wenxue liumang) bezeichnet wird (ebd.: 65).

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Zusammenfassend finden wir also übertriebenes Karrierestreben, mangelndes Pflicht- bzw. Verantwortungsbewusstsein gegenüber Frau und Familie, Übersteigerung der äußerlichen Attraktivität, das Fehlen von ernsten Absichten und Schürzenjägerei als schwerwiegendste negative männliche Eigenschaften und größte Hemmschuhe für das Glück der Frau. Die Stigmatisierung bestimmter Männertypen mit negativem Einfluss kennt man auch aus der westlichen Ratgeberliteratur, wobei sich die ausgemachten Feindbilder im Groben ähneln: sowohl im westlichen Kulturkreis als auch in China werden Männer, die keine langfristige, verantwortungsbewusste Bindung anstreben, missbilligt. Jedoch liegt in China die Betonung hierbei mehr auf dem Eingehen einer Bindung in Form einer Ehe, während im westlichen Blickpunkt die Bindungsform nicht genauer spezifiziert wird, da hier unterschiedliche Modelle – auch nichtinstitutionalisierte – gesellschaftlich relativ breit akzeptiert sind. Dennoch bleibt offensichtlich die weibliche Grundsorge bestehen, »frau« könne etwas leisten, ohne eine »Gegenleistung« zu erhalten, wobei die Leistung der Frau in erster Linie aus ihrer sexuellen Verfügbarkeit besteht. Auch in Zeiten des One-NightStands scheint die Reduzierung des Kontakts auf rein sexuelles Interesse dennoch aus weiblicher Perspektive im Allgemeinen immer noch kein erstrebenswertes Ziel zu sein. Um also nicht an einen solch ganz und gar ungeeigneten Frosch zu geraten, wird in den Ratgeberbüchern angeraten, in der Kennenlernphase den potentiellen Ehemann ja genau unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls bereits im Vorfeld nicht erfolgversprechende Kandidaten auszusortieren. Hierbei wird sehr zielorientiert vorgegangen und sogar anhand von »Checklisten« die EhemannTauglichkeit eines Kandidaten getestet, indem beispielsweise dessen Verhalten gegenüber Kindern (Vaterschaftsqualitäten), sein Verhältnis zu den Eltern und familieninterne Beziehungen (erblich bedingte Verhaltensweisen? Hinweise auf häusliche Gewalt?), Hobbys und Vorlieben (Tischtennis und Badminton spielende Männer gelten als gute Kandidaten) und Grad der Teilnahme am sozialen Leben (rege soziale Kontakte und ein selbstsicheres, kommunikatives Auftreten erhöhten die Chancen auf beruflichen Erfolg) genau kontrolliert und bewertet wird. Hier wird nun abermals eine Differenzierung vorgenommen in bereits perfekte Kandidaten und »Spekulationsaktien« (gufen, gupiao): der perfekte Mann erfüllt bereits in dieser Phase alle Kriterien, um der Frau ein ökonomisch und materiell abgesichertes Leben zu bieten, der Aktien-Mann hat zwar aufgrund seines Bildungshintergrundes die begründete Aussicht, dies in absehbarer Zukunft auch leisten zu können, jedoch bedarf es zunächst einmal des Verzichtes und gewisser Investitionen von weiblicher Seite, die sich – so die Hoffnung – bald auszahlen mögen (Wang 2012: 35). Da der perfekte Kandidat selten

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anzutreffen sei und gerade reiche Männer umschwärmt und begehrt sind, raten viele der Bücher zur Investition in einen Aktien-Mann, der sich später für die Frau »auszahlen« könne. Sollte er die gewünschten Kriterien erfüllen und somit als potentieller Ehemann infrage kommen, so gilt es keine Zeit zu verlieren und die Sache zügig voranzutreiben. Mit Berufung auf nicht weiter konkretisierte, vermeintlich wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse ließe nämlich nach spätestens 18 Monaten Beziehung das Gefühl der Verliebtheit nach und dann sollte der Bund fürs Leben bereits geschlossen sein, da der Mann sonst mit nachlassenden Gefühlen keinen Grund mehr dafür sehe und zudem im längeren Zusammensein immer mehr Macken und Schwächen ans Tageslicht kämen, die den Partner vergraulen könnten. Falls also nach drei Jahren Dating der Mann immer noch keine Anstalten mache vor den Traualter zu treten, solle die Frau ihn lieber verlassen als noch länger zu warten, denn die verrinnende Zeit sei das kostbarste Gut der Frau. Hat der Kandidat die Vorauswahl erfolgreich bestanden, wird der Frau, anders als im Bereich des Sexuellen, wo sie passiv auf die Aktion des Mannes wartet (siehe nächstes Kapitel), bei der Partnerwahl angeraten, durchaus selbst die Initiative zu ergreifen: »Wenn Du einem Mann begegnet bist, der Dein Herz rührt, dann musst Du ihn Dir unbedingt schnappen und festhalten. […] Kluge Frauen werden das Band der Gefühlsbindung in die Hand nehmen und aus mehreren Richtungen und Perspektiven versuchen, den Mann, auf den sie es abgesehen haben, zu fangen.« (Yan 2012: 118)

Hierbei wird nichts dem Zufall überlassen. Die Frau orchestriert und steuert von ersten Gelegenheiten des Kennenlernens über weitere Treffen bis hin zur Hochzeit minutiös jede Entwicklungsstufe der Beziehung, hat jederzeit volle Kontrolle über ihre und seine emotionale Lage und weiß die Gefühle und Reaktionen des Gegenübers geschickt mit weiblichen Waffen zu manipulieren. So soll das erste Date beispielsweise am besten zwischen drei und fünf Stunden dauern, nachmittags beginnen, eine Kinovorstellung und ein Abendessen umfassen, dann jedoch abrupt enden. Abendliche Treffen sind erst nach Etablierung einer verbindlichen Paarbeziehung vorgesehen. Es gibt Regelungen, wann wie lange telefoniert werden soll, wer wem zuerst antworten muss und welche Themen wann angeschnitten werden dürfen. Es obliegt auch meist der Frau romantische Szenarien zu entwerfen und sie entweder selbst umzusetzen oder den Mann detailliert damit zu beauftragen. Sie trägt auch Sorge dafür, dass keine unvorhergesehenen Zwischenfälle und Missverständnisse wie verpasste Dates, ungünstige

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Anrufe, unvorbereitete Spontantreffen etc., die nicht im Skript stehen und die Entwicklung behindern könnten, eintreten. Frauen sollen durch demonstratives Lob und Schmeicheleien, Anhänglichkeit und Fürsorglichkeit sowie der Zurschaustellung weiterer weiblicher Tugenden gezielt das positive Gefühl des Gegenübers beeinflussen, aber einen angemessenen Grad an Reserviertheit und Zurückhaltung wahren, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Natürlich geschehe diese Steuerung der Ereignisse und gefühlsmäßige Manipulation auf unterbewusster Ebene durch das gezielte Setzen von positiven und negativen Reizen und Reaktionen, denn für den Mann sei es trotz allem wichtig, das Gefühl der Eroberung (zhengfu gan) zu haben. Es dürfe keinesfalls so wirken, als kontrolliere die Frau das Geschehen. Während der Anbahnung der Beziehung nimmt die Frau also die zentrale Rolle ein und bestimmt zu großen Teilen das Zustandekommen oder Scheitern der Verbindung, denn in der Liebe würden Frauen erst stark und Männer durch sie schwach. Im emotionalen Feld kehrt sich also die traditionelle Geschlechterhierarchie um und Machtpositionen werden untergraben, indem durch die binäre Geschlechterkonstruktion emotionale Belange ausschließlich der Frau zugesprochen werden, da der Mann hierfür zu unsensibel sei. Damit avanciert das Feld der Beziehungsanbahnung und -pflege, ebenso wie das spätere Familienmanagement, zur Domäne der Frau: »Das alles [Partnersuche] hängt nicht nur vom Zufall und Schicksal ab, sondern beruht auch darauf, wie viel Du Dich anstrengst (nuli). Nach der Hochzeit musst Du dich anstrengen die Familie zu managen, vor der Ehe musst Du Dich anstrengen die Liebe zu managen, vor der Liebe musst du Dich anstrengen eine Person zu suchen, die mit Dir eine Liebesbeziehung eingehen möchte. Wenn Du Dich nicht genug anstrengst, dann wirst Du bestimmt die Frucht des Versagens schmecken.« (Wang 2012: 55)

So schreibt die Ratgeberautorin Feng Xiaochong, dass Männer nur während der Phase des Werbens verliebt seien. Dieses Gefühl raube ihnen sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand und befähige sie zu diversen irrationalen Handlungen in Form von Balzritualen, welche zu den Semantiken und symbolischen Codes von Romantik gehören und so von den Frauen als Zeichen der Liebe gedeutet werden und dementsprechend Anklang finden (Feng 2011: 126). Verfestigt sich dann jedoch die Beziehung, so verschiebt sich die Gefühlslage. Nun liegt es an der anfänglich emotional zurückhaltenden Frau, durch ihre Liebe die Beziehung weiter aufrecht zu halten, während der Partner sich emotional mehr und mehr zurückzieht und nun eine eher emotional passive Rolle einnimmt. Deshalb müssen Frauen »in der späteren langen Zeit des Zusammenle-

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bens so viele emotionale und seelische Enttäuschungen hinnehmen und immer vorsichtig und umsichtig handeln, nur um die Liebe des Mannes zu erhalten« (ebd.: 126). Dazu gehört beispielsweise das Aufrechterhalten ihrer Attraktivität und des männlichen Begehrens, mütterlicher Beistand und seelischer Trost, liebevolle Aufmerksamkeit, Verständnis und Toleranz. Generell herrscht unter den Ratgeberautoren und -autorinnen die Meinung vor, dass Männer emotional unbeteiligter sind oder dass Emotionen gar für Männer überhaupt keine Rolle spielen. Es ist die Rede vom triebgesteuerten Mann, der nur deshalb heiratet, um eine billige »Baomu« (Haushaltshilfe) zu bekommen, die ihm den Haushalt macht, die Kinder aufzieht und ihm Rückhalt gibt (ebd.: 119f). Es gibt dagegen so gut wie keine Beispiele für Männer, die einfühlsam und liebevoll sind und der Frau emotionalen Rückhalt oder gar Erfüllung geben. Tatsächlich wird die Liebe als rein weibliches Metier geschildert, worin sich Frauen nur allzu gerne blind verlieren: »Wie eine Larve sich in ihren Kokon einspinnt, so wickeln sie [die Frauen] sich tief in die Liebe ein und geben alles für den einen Mann hin« (ebd.: 126). Der Mann jedoch bleibt emotional unabhängig und äußert seine Gefühle eher durch das Übernehmen von Verantwortung und formale Zugeständnisse (Ehebereitschaft) oder finanzielle und materielle Geschenke. Dementsprechend liegt es an der Frau mit ihrem Gefühlsüberschwang für eine ausreichende emotionale Unterfütterung der Beziehung zu sorgen. Auch wenn also in den Medien – vor allem in TV-Dramen und koreanischen TV-Soaps – vermehrt das Bild des »soften Mannes« propagiert wird, findet sich in den Beschreibungen der Ratgeberbücher kein Hinweis auf die Etablierung eines neuen Männertypus mit Fokus auf emotionale statt pragmatisch motivierte Gegenleistungen. Zwar soll der ideale Ehemann durchaus liebevoll, zärtlich und anhänglich (titie) sein, jedoch werden diese Verhaltensweisen eher als Ausprägungen eines positiven Charakters gewertet denn als Zeichen der Liebe. Die Anwendung von Liebescodes wird bei einem Mann offensichtlich nur in der Phase der Initiation der Beziehung erwartet, im späteren Zusammenleben jedoch nicht mehr. Hier genügen formale und materielle Leistungen des Mannes als Liebesbeweis.

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Diese übersteigerte Überprüfung potentieller Kandidaten nach rationalen Kriterien und die Auswahl nach Maßgabe ökonomischer Kalkulationen führt letztlich zu einer zunehmend utilitaristischen Ausrichtung der Bedeutung der Ehe. Be-

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trachtet man die untersuchten Frauenratgeber, so wirkt die Suche nach dem Lebenspartner recht kalkulatorisch und pragmatisch. Fragen der emotionalen Harmonie oder der Kompatibilität von Persönlichkeiten kommen bei der Kennzeichnung von idealen und weniger idealen Heiratskandidaten gar nicht erst zur Sprache. Tatsächlich scheinen Gefühle bei der Entscheidung sogar fehlzuleiten, wie die Charakterisierung der »schlechten« Männer beweist: den zitierten Exemplaren mangelt es zumeist nicht an emotionalem Engagement und gefühlsmäßiger Verbundenheit, sondern an ökonomischen Grundlagen bzw. der Bereitschaft sich ökonomisch verantwortungsvoll in eine institutionell gefestigte Langzeitbeziehung einzubringen. Dem reinen Gefühl als Grundlage der Intimbeziehung wird offenbar generell misstraut: »Love and marriage don’t have to go together. Sometimes I think love can be beautiful and romantic but marriage must be very realistic. Of course, if love and marriage can be unified completely, it is a rare gift from the gods and one to be cherished. However, such ideal marriages are as rare as hen’s teeth.« (Zit. nach Wu 2012: 149)

Tatsächlich wächst in China die skeptische Haltung gegenüber der Ehe als vollkommenster Ausdruck der Liebessemantik, wie auch der Titel einer Sammlung von Interviews – »Die Liebe nach links, die Ehe nach rechts« (Aiqing xiang zuo, hunyin xiang you) von Guan Denghao (2012) – indiziert: Liebe und Ehe gehen offensichtlich nicht unbedingt einher, sondern schlagen manchmal sogar diametrale Richtungen ein. Dass die Idee der Liebesheirat immer weniger Anhänger findet, resultiert aus zwei Dilemmata: Erstens der Prämisse, dass bei der Eheschließung ökonomische, soziale und materielle Faktoren neben dem Gefühl eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen. Zweitens, dass Liebe allein ohne entsprechende ökonomische Rahmenbedingungen nicht zur Ehe führt, ja dass die Liebe an sich ohne diese Überformungen nicht existieren kann: »Als Frau möchte sie sich an seine kraftvolle Schulter legen, sie wünscht sich einen Mann, der mehr Macht und Einfluss hat als sie, der charismatischer ist, der ihr [durch seine Exzellenz] Ruhm und Erfolgserlebnisse gibt; und nur wenn er diese Voraussetzungen erfüllen kann, kann sie ihm auch mit wahrer Liebe entgegen treten.« (Yan 2012: 62)

Doch bei aller Pragmatik ist ein romantischer Hintergedanke im chinesischen Liebesdiskurs nicht völlig abwesend – im Gegenteil, das Dilemma chinesischer Frauen bei der Partnerwahl ergibt sich gerade erst aus der Parallelität eines stark romantizierten Liebesideals und der pragmatischen Abwägung wirtschaftlicher

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Vorteile. Während sich auf der einen Seite seit den 80er Jahren das Ideal der individualistischen Liebe als zwischengeschlechtliche Höchstrelevanz etablierte, fordert der Einbezug marktwirtschaftlicher Logik in die Intimbeziehung die Ausrichtung an ökonomisch pragmatischen Faktoren. Doch nicht immer fällt die Liebe ausgerechnet auch auf den ökonomisch gesehen bestmöglichen Kandidaten. Somit stellt der Konflikt zwischen »Herz und Hirn« – oder weniger salopp formuliert: die kontroversen Narrative neoliberaler, individualistischer Konzepte von Liebe und Romantik und der traditionellen Belegung von Weiblichkeit mit einem ökonomischen Tauschwert – das maßgebliche Problem in der Geschlechterbeziehung in China dar. Prinzipiell sind »romantische« Liebesvorstellungen, wie sie auch im Westen als Revision des ursprünglichen romantischen Konzepts seit dem 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert vor allem medial konstruiert werden und Verbreitung finden, in China kein neues Phänomen. Bereits in der 4. Mai-Bewegung fand ein von der westlichen romantischen Literatur beeinflusstes Liebesideal Einzug in die chinesische Geistes- und Gefühlswelt. Durch die Rezeption der Klassiker romantischer Literatur wie u.a. Goethes Werther (übersetzt 1922 von Guo Muoruo) und Dumas Kameliendame (übersetzt 1899 von Lin Shu) etablierte sich unter jungen chinesischen Intellektuellen die Tendenz zur romantischen Utopie: »lianai zhishang zhuyi« (Liebe an erster Stelle) und »lingrou yishi« (Bewusstsein der Einheit von Körper und Geist) zirkulierten als Schlagworte in Reformerkreisen und beeinflussten nicht nur deren sozialpolitische Agenden, sondern vor allem auch das literarische und künstlerische Schaffen der Zeit: »The Wertherian cult of the heart gives May Fourth youth a powerful weapon in their struggle to make the individual and heterosociability into the new organiszing principle of Chinese society. In the May Fourth discourse, romantic love becomes a poignant symbol and a rallying point standing for essential humanity and proclaiming the advent of a new life that is true to Nature.« (Lee 2007: 106)

Die Helden der so genannten Butterfly Fiction der Zeit verkörpern einen neuen Typus des feinfühligen Patrioten, dessen Heldentum erst durch die Liebe einer Frau initialisiert werden muss: »The man and women of sentiment are the lonely wayfarers on the romantic route. Without exception they are talented, handsome, and sensitive, they have sickly constitutions and frail physiques, are susceptible to illness and melancholy. They weep a great deal, their tears drench their pillows and love letters. All in all, they live and die for qing, the one word that encapsulates their entire existence.« (Ebd.: 100)

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Im Romantizismus als Mode der Zeit gerinnt die »Grand amour« zum Lebensprojekt und einzigen Inhalt und Sinn des Lebens. Ähnlich der Grundidee der europäischen Romantik erwecken die tiefen Emotionen der Frau und ihre weibliche Andersartigkeit das männliche moralische Bewusstsein, seine beschützerische Gegenliebe und stürzen beide in eine unaufhaltsame Leidenschaft. Doch die Geschichten enden meist tragisch – oftmals begeht die Frau aus unerfüllter Liebe Selbstmord und/oder der Mann opfert sich für patriotische Ziele – und die Erfüllung der Liebenden bleibt kurzfristig und erspart, wie in romantischen Mythen üblich, den Blick auf die Langeweile der nachfolgenden Eherealität. Doch die dauerhafte Erfüllung der Liebe war in der 4. MaiBewegung auch nachrangig. Vielmehr ging es um die Initiation durch qing (Gefühl) zur individualistischen Autonomie im Widerstreit mit Tradition, Familienpflichten und Gesellschaftsregeln. Das Ideal der freien Liebe, basierend auf einer rein geistig-emotionalen Verbindung jenseits aller sozialer Implikationen, wird zum symbolischen Kampfmittel in der ikonoklastischen Revolution gegen das konfuzianische Patriarchat. Mit der Übernahme der Argumentation des psychoanalytischen Diskurses, der vor allem das sexuelle Begehren als biologisches Faktum in den Vordergrund rückt, wird das Ausleben emotionaler Regungen als natürlicher Drang konstruiert, der von der feudalen Gesellschaft widernatürlich unterdrückt wurde. Im dichotomischen Arrangement zwischen Natur und (konfuzianischer) Kultur wird für die Befreiung aus überholten sozialen Normativen und Restriktionen durch die »aufklärerische Struktur« der Liebe plädiert: Dadurch, dass sie im Individuum Gefühle und ein von Natur aus angelegtes Moralempfinden auslöst, fördert die Liebesfähigkeit die Vereinigung von hehren Absichten und konkretem Handeln zu wahrem tugendhaften Verhalten. Zugleich erschafft die Liebe Individualität und Autonomie durch Befreiung aus konfuzianischen Strukturen und Vorschriften und somit avancierte die freie Heirat und Liebe in aufgeklärten Jugendkreisen als Symbol des Widerstands und Bruchs mit Familie, Tradition und Lokalismus zugunsten der nationalen Gemeinschaft. Durch die Verbindung von Individuum und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen gelang es der romantischen Liebe sich bald auch jenseits der Reformerkreise zu etablieren: im symbolischen Kampf um die eigene Wahl des Partners wird der allgemeine Befreiungs- und Emanzipationskampf der jungen Generation gegenüber althergebrachten Regeln auf die individuelle Ebene herunter gebrochen und ermöglicht es jedem, sich fortschrittlich zu positionieren. Nach dem ersten Boom in der 4. Mai-Bewegung wandelte sich die romantische Liebe vom anfänglich konstitutiven Gut der Reformer zum Hypergut in den 1910ern und 20ern bis schließlich zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand in den

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1930ern und 40ern (Lee 2007: 97). Die freie Liebe galt somit bald als Synonym für Modernität und Fortschrittlichkeit ebenso wie die neue Freizeitkultur in Chinas urbanen Zentren – und Geschichten über subversive Liebesbeziehungen dienten als beliebtes Repertoire für die boomende Kulturindustrie. Bestes Beispiel für die Verbindung bzw. Gleichstellung von freier, respektive: romantischer Liebe und urbaner Populärkultur sind vielleicht die Romane von Zhang Ailing. Nach Gründung der Volksrepublik unterlag der romantische Liebesdiskurs dem politischen Bann als bourgeoises Übel und die Stilisierung der individuellen romantischen Liebe als transzendentierendes Moment wurde durch die Liebe zum großen Vorsitzenden ersetzt. Leidenschaft hatte für den kollektiven Klassenkampf und Aufbau des Sozialismus zu brennen und nicht für individuelle Personen. Diese Maxime wurde nachhaltig medial verbreitet, während die unerwünschten Zeugnisse der Vorgängerzeit verboten wurden. An Stelle der Butterfly Fiction und filmischen Liebesdramen brachte die sozialistische Kulturindustrie in den 1950ern und 60ern zwar noch einige Werke hervor, deren Kernthematik sich um konfliktreiche Beziehungen drehte, doch die Liebe zwischen Mann und Frau stand hier bereits deutlich hinter dem politischen und patriotischen Anliegen zurück. Mit Beginn der Kulturrevolution wurde die zwischengeschlechtliche Romantik schließlich vollkommen tabuisiert und Zuneigung äußerte sich allerhöchstens noch in der respektvollen Bewunderung von Produktionsergebnissen (vgl. Evans 1997: 90f). Diese Vorstellung einer Zweierbeziehung des maoistischen China auf kameradschaftlicher Basis und frei von Leidenschaft – wo allzu heftige Gefühlsbekundungen und die Liebe an sich als bourgeoises Übel aus dem Westen angesehen wurden und stattdessen die sozialistische Vernunftehe aufgrund von Klassenzugehörigkeit, ideologischer Einstellung und Produktionssteigerung befürwortet wurde – behielt noch bis in die 1980er Jahre hinein in breiten Bevölkerungsschichten seine Gültigkeit: In einem sozialen und kulturellen Kontext, wo die eheliche Liebe wenig Bedeutung für die Menschen hatte, in welchem ökonomische und politische Überlegungen die Wahl des Ehepartners dominierten, und wo es rigide Beschränkungen für die offenen Expressionen von amourösen Gefühlen gab, musste die Bedeutung von Liebe erst wieder wortwörtlich erklärt werden. Dies geschah erstmals wieder zu Beginn der Reform-Ära ab den 1980er Jahren, als die Gefühlswelt nach und nach eine diskursive Renaissance erlebte. Im Zuge der Aufarbeitung der Traumata der Kulturrevolution im literarischen Genre der Narbenliteratur wurde die Liebe erstmals wieder als erstrebenswertes Gut jenseits von Ideologie und Politik propagiert. Um dieses neue Verständnis von

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Liebe vom sozialistischen Diskurs abzugrenzen, ist nun vor allem von der »romantischen Liebe« die Rede, denn die neue Exklusivität der romantischen Liebe scheint ein Signal für die Vertreibung der früheren kollektivistischen Ethik und einer ungewollten Vergangenheit zu sein. Wenn im chinesischen Diskurs heute also von »romantischer Liebe« die Rede ist, so ist dies weder mit dem Aufblühen der romantischen Liebe im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, noch mit den westlichen, konsumorientierten Semantiken der Romantik ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu verwechseln. Zwar wird diese neue »romantische Liebe« in China wiederholt mit Begriffen wie modern, fortschrittlich und westlich assoziiert, dennoch beruht dies weniger auf tatsächlichen Relationen zum westlichen Liebesdiskurs, sondern kann eher als die Rekontextualisierung globaler Prozesse auf lokaler Ebene betrachtet werden, indem der chinesischen Interpretation des Konzepts der romantischen Liebe vor allem der Symbolstatus als Gegenprogramm zu konservativen, sozialistisch geprägten Vorstellungen von Liebesbeziehungen zukommt. Doch auch wenn das westliche Verständnis von romantischer Liebe nicht mit dem chinesischen gleich gesetzt werden kann, so umfassen beide doch in ihrer Quintessenz ähnliche Prinzipien wie Individualismus, Selbstverwirklichung, die Festigung der Stellung des Individuums in der Gesellschaft und eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Dieser Trend der Idealisierung der Liebe als geradezu subversives Gut in Zeiten der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft setzt sich bis heute fort. Dabei stellt sie heute jedoch nicht mehr ein Gegenbild zu den entmenschlichenden Dogmen des Sozialismus dar, sondern avancierte mit zunehmender Kapitalisierung der Gesellschaft zum Symbol für ein humanistisches Gut jenseits jedweden ökonomischen Kalküls – sie wurde, um es mit Durkheim zu sagen, im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung zum zentralen Erfahrungsraum einer Utopie der Außeralltäglichkeit, indem sie zeitgleich einen Status als ein Symbol für die Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte der jungen Generation etablierte: »[I]n reform-era China, romantic feeling has come to represent the authentic human value opposed to the worship of money, but also endangered by it.« (Farrer 2002: 196) Diese »Gefahr« droht vor allem durch die Ökonomisierung der Paarbeziehung durch einen Prozess, welchen Eva Illouz als »Konsum der Romantik« umschreibt: die medial begünstigte Verdinglichung der Romantik, indem romantische Praktiken zunehmend vom Konsumverhalten bestimmt werden und die damit einhergehende Fetischisierung des Konsums und der Romantik (Illouz 2003). Dies sind Auswirkungen des »emotionalen Kapitalismus«, einer gegenseitigen Durchdringung von Emotionen und ökonomischem Kosten-NutzenKalkül im postmodernen Kapitalismus:

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»Der emotionale Kapitalismus ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben – vor allem das der Mittelschicht – der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft.« (Illouz 2006: 13)

Eine Liebesbeziehung hat man nicht mehr einfach – sie muss vor allem ökonomisch »nützlich« sein, wie ein in den vergangenen Jahren in Mode gekommenes Sprichwort in China beweist: »Lieber im BMW weinen als auf dem Fahrrad lachen«. Eine junge Frau bringt es auf dem Punkt: »All women in the world need a stable home, and I’m no exception. How I wished I could find a faithful man to marry and spend the rest of my days with him. […] But for some reason whenever someone presented himself, it didn’t matter how outstanding he might be, if he wasn’t rich I couldn’t bring myself to do it.« (Zit. nach Wu 2012: 184)

In der neuen »Ökonomie des Genusses«, die parallel zu Chinas stetig steigendem Wirtschaftswachstum ebenfalls zunimmt, müssen verschiedene Faktoren erfüllt und gegeneinander abgewogen werden, um einen erwünschten »Gewinn« zu erzielen. Auf der einen Seite steht die individuelle Befriedigung, auf der anderen das Dienstbarmachen von sexuellen und emotionalen Handlungen zum Erreichen und Stabilisieren von sozialen Positionen. So sieht man beispielsweise »hübsche Frauen auf der Straße entweder mit alten Männern oder Ausländern« (beiden unterstellt man Wohlstand) und so mancher Mann stellt resigniert fest, dass »du nicht respektiert wirst, wenn du den Mädchen kein Geld gibst« oder prahlt im anderen Falle stolz, dass die Frauen ihn nur wegen seines Geldes lieben (Farrer 2002: 104). Der Erfahrungsbericht eines chinesischen Mannes bestätigt die vor allem pragmatischen Überlegungen von Frauen bei der Wahl des Partners: »Als sie das erste Mal mit mir sprach, war es nur aus Einsamkeit. Das war auch der Grund, als sie mich nach einer Woche anrief. Aber als ich mit dem [teuren Luxus-] Auto vorfuhr, um sie abzuholen, da dachte sie, dass das wohl eine Person zum Heiraten wäre. Sie weiß, dass ich sie mag, aber sie hegt mir gegenüber überhaupt keine Gefühle. Nur weil ich Geld habe, dachte sie sich wohl, [...] wenn sie schon eh jemanden heiraten muss, dann wenigstens einen mit Geld, so dass sie sich im Alltag um nichts Sorgen machen muss und sich mit dem Geld notfalls Freuden kaufen kann.« (Zit. nach Guan 2012: 77)

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Beispielhaft manifestiert sich die utilitaristische Haltung der Frauen bei der Partnerwahl vor allem in der Phase des Dating. Hier fand seit den 1980er Jahren ein ähnlicher Prozess der Kommerzialisierung – und damit auch Inszenierung – von Romantik statt wie im Europa und in den USA der 1950er und 60er Jahre (vgl. Illouz 2003). Während im sozialistischen China das Werben und die Beziehungsanbahnung jenseits kommerzieller Implikationen geschah und sich in Praktiken wie Briefe schreiben, gemeinsamen Spaziergängen und gegenseitigen Besuchen der Familie erging, ist die moderne Dating-Kultur vor allem durch die Nutzung kommerzieller Freizeitangebote wie Kino, Gastronomie und Shopping mit entsprechend hohem finanziellen Einsatz gekennzeichnet. Der Einbezug der Konsumkultur als unabdingbarer Bestandteil der romantischen Performanz führt dazu, dass heute die Erlangung der Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts insbesondere für Männer mit hohen finanziellen Investitionen verbunden ist. So erlangte beispielsweise ein junger chinesischer Mann weltweite Medienaufmerksamkeit, indem er alle Cineplex-Kinos Pekings auf einmal anmietete, als verspäteter »Gegenbeweis« für seine Ex-Freundin, die ihn verlassen hatte, weil er sie damals nicht ins Kino einladen konnte. Die Frauenratgeber befördern diese Entwicklung, indem sie ihren Leserinnen anraten, die Ernsthaftigkeit der Gefühle des Kandidaten aufgrund seiner finanziellen Großzügigkeit zu überprüfen: Wer Rosen schenke, der suche nur ein kurzzeitiges Vergnügen; wer einen Diamantring schenke, der habe schon weitergehendes Interesse; aber nur wer ein Diamantarmband von Tiffany schenke, der habe tatsächlich ernstes Interesse (Bo 2012: 122). Je mehr ein Mann in die Frau investiere, desto weniger wolle er sich von ihr trennen, denn damit würden ja auch alle bis dato investierten Einsätze an Zeit, Energie und Geld zunichte, so die Logik. Eine Fallgeschichte berichtet prompt von einer jungen, emanzipierten Frau, die aufgrund ihres White-Collar-Jobs ökonomisch auf eigenen Beinen steht, und daher auch ihre Beziehung nicht auf finanzieller Ungleichheit errichten will. Deshalb lehnt sie teure Geschenke ab und übernimmt immer die Hälfte der Kosten bei gemeinsamen Unternehmungen. Am Ende wird sie jedoch von ihrem Freund verlassen, da sie diesem durch ihr Beharren auf finanzieller Selbstständigkeit einerseits die Bestätigung seiner (ökonomischen) Potenz, respektive Männlichkeit, verweigerte und andererseits er sich ohne Bedauern neuen Zielen zuwenden konnte, da sie ihn ja »nichts gekostet hatte« (Wang 2012: 96). Deshalb solle eine Frau sich ruhig üppig beschenken lassen und die Rahmenhandlungen des Datings möglichst konsumfreudig ausschmücken, um sein Engagement zu testen. In dieser Praxis ist bereits zu erkennen, dass materielle Objekte zum tragenden Verbindungsglied zwischen den Geschlechtern aufsteigen. Zwar werden die

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romantischen Praktiken des Konsums oftmals in grenzüberschreitende Rituale eingebettet, die dem reinen Wert der Produktionssphäre entgegenstehen und die Individualität in den Vordergrund stellen sollen, dennoch bleiben diese Semantiken der romantischen Liebe letztlich auf Praktiken des Konsummarktes beschränkt und bedingen sich erst durch diese. So verweisen Güter und Praktiken zwar über ihren reinen materiellen Wert hinaus auf etwas anderes, aber ganz ohne konsumistischen Rahmen kann auch die Liebe nicht adäquat inszeniert werden. So nehmen gerade in China Luxusgüter einen hohen Stellenwert zur rituellen Stabilisierung von Beziehungen ein, indem sie die Rhetorik von männlicher Leistungsfähigkeit und weiblichem »Wert« aufgreifen und somit finanziellen und materiellen Komponenten eine emotionale Bedeutung verleihen. Als Zeichen von sozialer und wirtschaftlicher Macht besteht das romantische Spiel oftmals in der »Ökonomie der Verschwendung«, wobei Gefühle daran bemessen werden, wie sehr man das Gegenüber dazu motiviert, sein Vermögen für einen auszugeben (Illouz 2003: 201). Die Geschichte eines Interviewten illustriert dies: Der junge Mann lernt auf einer Reise in den Westen Chinas eine Frau kennen, sie verlieben sich Hals über Kopf ineinander, reisen zusammen weiter und bereits nach zwei Wochen wird der Bund der Ehe eingegangen. Daraufhin möchte die junge Braut weiterhin den Lebensstandard jener ersten Tage der Verliebtheit und des konsumistischen Rausches von Romantik fortführen. Sie gehen exklusiv shoppen, zelebrieren das Nachtleben, frönen kulinarischen Genüssen und nutzen alle Angebote der Freizeitkultur. Als nach weiteren drei Wochen das gesamte Vermögen des Mannes aufgebraucht ist, reicht die Frau ohne mit der Wimper zu zucken die Scheidung ein (zit nach Guan 2012: 142-151). Das Aufwiegen von emotionalen, psychischen und physischen Investitionen der Frau in die Beziehung durch materiellen Ausgleich zeigt sich auch oftmals in der Argumentation von Geliebten und Ernais (Zweitfrauen) im Kampf um finanzielle Entschädigung im Falle der Trennung. Sie führen auffallend oft ins Feld, dass sie dem Mann ihre Jugend und ihre Schönheit »geopfert« hätten und hierfür nun einen materiellen Gegenwert erwarten – was im populären Diskurs bereits den Begriff der »meinü jingji« (Schönheiten-Wirtschaft) geprägt hat. Hier setzt sich also die Mentalität der Dienstbarmachung und Verrechnung von unterschiedlichen Kapitalen, wie bereits in Bezug auf das Schönheitshandeln angesprochen, fort: In der Logik marktwirtschaftlichen Gewinninvestments folgen die Frauen der Argumentation, dass sie ihre Jugend und Schönheit in das Unternehmen »Mann« investiert haben und nun eine entsprechende Rendite erwarten bzw. im Falle der Trennung eine »Auszahlung« ihrer Anteile. Die Bedingungen

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einer reinen Beziehung nach Giddens Maßstäben, die ohne weitere Verbindlichkeiten auseinandergeht, sobald von einem oder beiden Beteiligten nicht mehr die entsprechenden Gefühle in die Verbindung eingebracht werden, scheinen somit in China (noch) nicht gültig zu sein. Stattdessen herrscht offensichtlich eine »Dominanz der Hyperrationalität« (Illouz 2006: 168) vor, wo das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül die Intimbeziehung soweit durchdringt, dass die emotionale Komponente völlig zurückgedrängt wird. Legitimiert wird dies mit dem Konsens, dass der Mann aus der Verbindung profitiert, während die Frau sich aufopfert, so dass beim Scheitern der Beziehung der Mann für eine Kompensation der von der Frau erbrachten Leistungen zu sorgen habe. Damit wird allerdings nicht nur die Gleichberechtigung beider Partner in der Beziehung ad absurdum geführt, sondern auch das Konzept der romantischen Liebe und die mittlerweile paradoxerweise allerorts gesamtgesellschaftlich propagierte Prämisse, dass eine Ehe in erster Linie auf emotionaler Anziehung gründen und beide Parteien gleichermaßen Liebe und Erfüllung in der Verbindung finden sollen, unterlaufen. Obwohl selbst im Ratgeber-Diskurs vordergründig Liebe und Glücksempfinden als oberstes Gebot beim Eingehen einer Paarbeziehung genannt werden, stellt sich beim Betrachten der ökonomischen Verhältnisse in der Intimbeziehung heraus, dass offenbar doch kalkulatorische Überlegungen die Paarbeziehung stark prägen und eben dahingehend münden, dass im Falle des Scheiterns von weiblicher Seite eine Entschädigung verlangt wird. Dadurch wird deutlich, dass zumindest aus weiblicher Sicht die Verbindung nicht rein in den Koordinaten des Liebessystems verortet wird, wo allein emotionale Aspekte eine Rolle spielen und davon ausgegangen wird, dass die Verbindung an sich beiden Beteiligten bereits ausreichend Befriedigung verschafft, so dass keine ungleichen oder einseitigen Nutznießerverhältnisse daraus entstehen, die einer Kompensation mit einem Code aus einem anderen Systems – Geld, Macht, sozialer Status etc. – bedürfen. Während im Westen die Vorstellung von der romantischen Liebe eigentlich vom Glauben an die Interessenlosigkeit dieser genährt wird und die sakrosankte Norm gilt, dass Geld und Gefühl völlig unterschiedliche Kategorien seien, stehen sich diese in China nicht unbedingt diametral gegenüber. Der Illusion der dauerhaften glücklichen Beziehung beraubt, bildet sich im Aushandlungsprozess neuer Narrative der Liebe eine dualistische Einstellung heraus: Einerseits existieren weiterhin romantische »Legenden«, andererseits überwiegt aufgrund desillusionierender sozialer Erfahrungen immer mehr der pragmatische Aspekt der Versorgungssicherheit. Diese Haltung führt in China vor allem zum Einzug pragmatisch-ökonomisch begründeter Verhaltensweisen in die Zweierbeziehung.

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Doch als zwei gegensätzliche Prinzipien stehen sich Geld (als das materialistische Generalisierungsmedium) und Liebe nach Auffassung vieler westlicher Soziologen konträr gegenüber: Einerseits fordert die vergemeinschaftende individuelle Höchstrelevanz des geliebten Anderen Authentizität und Selbstlosigkeit, andererseits fungiert die vergesellschaftende und unpersönliche Sicherheit rationalen Kalküls als »Alltagsdietrich« in der Semantik der Liebe (vgl. Wimbauer 2003: 114). So scheint gerade die ökonomische Komponente, die in der chinesischen Partnerwahl eine immer größere Rolle spielt, ernsthafte Konsequenzen in der Konzeption von Liebe und Partnerschaft nach sich zu ziehen. Wenn die Idee der romantischen, von allen ökonomischen Erwägungen unabhängigen, individualistischen Liebe durch den wachsenden Einbezug von Konsumgütern und ökonomischen Faktoren in den Prozess der kapitalistischen Vermarktung einbezogen worden ist, führt dies letztlich zu einer Auszehrung der Liebe durch rein kalkulatorische Erwägungen und dem Verlust der spontanen Fähigkeit zur hingebungsvollen, uneigennützigen Liebe. Doch entgegen dieser Abwertung romantischer Ideale durch die Verdinglichung der Liebe in ihrer profanen Aufrechnung in ökonomischem Nutzen regen sich zunehmend Stimmen, die für eine weniger utilitaristische und mehr humanistische Gestaltung zwischenmenschlicher und geschlechtlicher Kontakte aussprechen. Ähnlich wie im Westen ab den 1980er Jahren ein neuer Romantikdiskurs sich als Gegenbewegung zur Tyrannei der Lust seit '68 etablierte, der nicht nur den Körper, sondern auch das Herz befriedigen sollte, scheint auch im fernen Osten in Zeiten unüberschaubarer Verhältnisse, ökonomischer Schwankungen und sich ständig revidierender Wertvorstellungen das emotionale Erleben allmählich wieder mehr in den Vordergrund zu treten. Zeitgleich mit den allgegenwärtigen Ermahnungen zur unbedingten Dienstbarmachung zwischengeschlechtlicher Beziehungen etabliert sich ein Randdiskurs der neuen Wertschätzung des Gefühls, das als Quelle der Authentizität und Reinheit einer Beziehung die romantischen Liebenden gegen die Verstrickungen von Kalkül und Passion, von Profit und Hingabe absetzen soll, denn »as ›getting rich‹ becomes the established motive, a compensatory rhetoric of romantic individualism has become a dominant language of moral, and critique.« (Farrer 2002: 18) So gelten gerade in jugendlich-experimentellen und intellektuellen Kreisen der »Post-80er« Generation neoliberale Werte und die Höchstrelevanz von Liebe als erstrebenswert und werden westliche Lebens- und Liebesmodelle bewundert. Insbesondere die Verweigerung gut ausgebildeter urbaner Frauen in Europa und den USA, sich dem sozialen Diktat von Heirat und Reproduktion innerhalb eines spezifischen Zeitrahmen zu unterwerfen, stößt bei chinesischen Frauen auf Bewunderung (vgl. Huang 2012: 58ff.). Idealistische Versionen des westlichen

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romantischen Liebeskonzepts, wie es u.a. in Hollywood-Produktionen repräsentiert wird, fördern in China ebenfalls die Vorstellungen von Romantik. Mit neuen Modellen der Paarbeziehung wie der »blinden Hochzeit«, »InternetHochzeit« oder »nackten Hochzeit« 9 sollen ökonomische Faktoren entweder völlig ausgeschlossen oder zumindest in die Peripherie der Paarbeziehung verbannt werden. Damit soll die normalerweise die Beziehung prägende pragmatische Kosten-Nutzen-Rechnung durchbrochen und ein Weg zum wahren Erkennen des Ichs und des Anderen eröffnet werden. In der Rehabilitierungsphase der Liebe wird ein Partner fürs Herz, aber ohne Portemonnaie gesucht und die Sehnsucht nach Verschmelzung, ekstatischer Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung im schöpferischen Prozess der Liebe lässt alte Modelle der Enthaltsamkeit und das Aufsparen auf den Einzigen oder die Einzige wieder aufleben. Dementsprechend gestalten sich auch die Vorstellungen der romantischen Liebe. Wirft man einen Blick in chinesische Frauenzeitschriften oder Internetforen, so sind romantische Szenarien allgegenwärtig: Einsame Treffen im Regen, Abschiedsküsse auf Brücken, melancholisches Aus-dem-Fenster-Starren, leiden-

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Mit der besonders in Kreisen der Post-80er (»80 hou«) Generation populär gewordenen Bezeichnung »blinde Hochzeit« (manghun) ist eine Vermählung ohne Kennenlernphase und beidseitiger Überprüfung der jeweiligen Lebensumstände, Finanzsituation sowie Familienhintergründe gemeint. Statt sich vorher über alle Gegebenheiten und Eventualitäten zu informieren, gehe man »blind« in die Ehe – einzig und allein motiviert durch das aktuelle Gefühl zum Partner. Die »Internet-Hochzeit« (wangluo hunyin) verweist dagegen auf eine »emotional-geistige« anstatt auf eine reale, rechtlich bindende Vermählung. Beide Beteiligten versprechen sich unter ihrer virtuellen Identität vor der Internetgemeinde (v.a. in häufig genutzten Chatrooms und Foren) ihre gegenseitige Liebe. Diese Verbindung verweist vor allem auf die Loslösung von realen Umständen und die Herausstellung einer »entkörperlichten« individuellen Zuneigung. Bei der »nackten Hochzeit« (luo hun), einem seit 2008 zunehmend medial auftauchenden Begriff, wird auf die üblichen Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen der Eheschließung wie Hochzeitsbankett, Wohnungs-, Auto- und Ringkauf, verzichtet und stattdessen schlicht und einfach nur standesamtlich geheiratet. Die Ratgeberliteratur verurteilt diese Vorgehensweisen jedoch aufs schärfste, insbesondere die »nackte Heirat«, da es als Verantwortungslosigkeit des Mannes ausgelegt wird, seiner Zukünftigen ein ökonomisch nicht abgesichertes Leben zuzumuten. Männer würden sich so um ihre geschlechtsbedingte Pflicht drücken, daher stellen solche Verbindungen einzig für Männer einen Vorteil dar, bedeuten für Frauen jedoch ein hohes Risiko (vgl. Yan 2012: 152ff.)



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schaftliche Begegnungen mit Fremden – James Farrer hat einige dieser als romantisch interpretierten Szenarien Shanghaier Jugendlicher gesammelt (Farrer 2002). Ihnen allen gemein ist die Verbindung von Emotionalität und Aufregung, Spannung, Konflikten, Schmerz, kurzum: dem Außergewöhnlichen. Während die ältere Generation diese »Romantik« als importierte Idee für neue Formen des Konsums verurteilt und als übertrieben und kitschig ablehnt, gehört die Performanz von Romantik heute zur Dating-Kultur der Jugend unbedingt dazu – auch wenn sie sich mit konkreten Praxisformen dafür aufgrund mangelnder indigener Vorlagen noch schwer tut: »Shanghai youth absorbed the ›native‹ grammar of feelings and destiny into a ›foreign‹ rhetoric of love and romance that was influenced as much by Hongkong, Japanese and Taiwan models as by Western ones.« (Ebd.: 200) Deshalb spielt die Medienkultur eine wichtige Rolle als Lieferant von Vorlagen: so werden beispielsweise romantische Filmszenen gerne imitiert, da diese – trotz oder gar entgegen der realen Existenz rationaler Überlegungen und pragmatischer Intermezzi – am Ideal der romantischen Liebe, bei der sich zwei Seelenverwandte finden und sich Halt und Trost in der modernen Welt spenden, festhalten. Romantische Szenarien erscheinen als ein Gegenentwurf zur Normalität, als perfide Inszenierungen zwischen Ritual und Spiel jenseits des Alltags. Deshalb spricht Farrer auch von einer »aestheticization of romance« (Farrer 2002: 221), denn besonders die weiblichen Erwartungen an die klassischerweise vom Mann zu inszenierende Romantik sind hoch: es muss etwas Überraschendes, Unerwartetes sein, das mit großem Aufwand verbunden ist und beide zu Tränen rührt. Schnöde Blumen, Restauranteinladungen oder kleine Geschenke sind daher zu banal und gewöhnlich. Romantik hat vor allem eine »good story« zu sein, eine dramatische Performance, die in der interpersonellen Narration erst konstruiert wird und ihre Bedeutung erhält. Damit erinnert die heutige romantische Liebe teilweise an die der Republikzeit, wo Narrative der freien Liebe auch vor allem der Bestätigung der eigenen Individualität in Abgrenzung zu familiären und gesellschaftlichen Normativen dienten. Damals wie heute steht der Initiativcharakter des romantischen Aktes im Vordergrund, während die Realisierung einer dauerhaften (Liebes-)Beziehung eher zweitrangig ist. So werden auch heute noch gerade die gescheiterten, tragischen Beziehungen – Stichwort: erste Liebe – als romantisch verklärt, während gelingende Beziehungen schnell dem Schicksal der Langeweile ausgeliefert sind. Eine Liebe ist vor allem dann und so lange romantisch, wie sie in allen Aspekten unsicher ist. Gleichzeitig adelt gerade diese, prinzipiell in ihrem Konzept bereits zum Scheitern verurteilte, rein metaphysische Gesinnung das Verhalten als moralisch:

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»Purity becomes purity of motive. […] The trope of the young women weighing true feelings and material conditions thus become a persuasive allegory of all moral choice in the market society, and prostiution becomes a general allegory of moral compromise.« (Farrer 2002: 15f.)

Damit stellt sie das diametrale Gegenteil zur erstrebten Ehebeziehung dar, die sich ja gerade durch ausgewiesene Sicherheit in allen Bereichen auszeichnet, allerdings gefühlsmäßig oftmals mit einer großen Enttäuschung ob des »unromantischen« alltäglichen Zusammenlebens einhergeht. Dies wiederum festigt den Glauben an die Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe, welcher seinerseits die Tendenz zu utilitaristischen Entscheidungen befördert: Denn wenn die Liebe sowieso flüchtig und vergänglich ist und schwer in den sozialen Alltag zu integrieren, so macht es mehr Sinn das Augenmerk auf dauerhafte Faktoren wie der ökonomischen Absicherung zu legen. Und so – wenn allein die Gesinnung über das Handeln und seine Folgen entscheidet – ergeht es der Liebe wie den Schicksalen anderer ethischer Schlüsselideen im Prozess ihrer profanen Verwirklichung: in der Unvereinbarkeit von Praxis und Theorie bleibt von letzterem nur das utopische Ideal übrig, während die Lebensrealität von pragmatischen Faktoren der modernen Konsumgesellschaft bestimmt wird.

»Sex for Pleasure« und »Sex for Measure« Weibliche Sexualität zwischen Naturalisierung und sozialen Skripten

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Glaubt man der Medienberichterstattung, zahlreichen Blogs und Internetdiskussionsforen sowie Thesen der neueren Sexualwissenschaft, so scheint es in China seit der Millenniumswende regelrecht zu einem Foucault’schen »Einbruch der Rede« (Foucault 1983: 13) gekommen zu sein, oder wie Linda Jaivin konstatiert: die Sexualität hat sich von »one of Chinese society’s greatest taboos to one of its most ardent obsessions« entwickelt (Jaivin 1994/95: 3). Durch neue Gesetzgebungen zum Schutz der Privatsphäre (unter anderem die Aufhebung des »Kuppelei-Paragraphen«, der das Zusammensein von unverheirateten Paaren verbot) und erleichterten Eheschließungs- und Scheidungsbedingungen sind seit Ende der 1990er Jahre zwar nicht alle, aber zumindest große Hürden der sexuellen »Selbstverwirklichung« beiseite geräumt worden. Was augenscheinlich auch prompt zu Effekten führte, die sich – je nach Sichtweise – als Erfolge werten lassen: Pan Suiming, Direktor des Instituts für Sexualität und Genderforschung der Renmin-Universität in Peking, attestierte der chinesischen Gesellschaft auf Grundlage von Ergebnissen einer umfassenden Studie zum Sexualverhalten eindeutig eine »sexuelle Revolution« (Pan 2008). Dass es sich zweifelsohne um eine solche handeln müsse, macht er an fünf Indizien fest: erstens an der neuerdings deutlich beobachtbaren rhetorischen und medialen Offenheit gegenüber Sexualität, zweitens an der Etablierung einer (auch pädagogisch orientierten) Sexualwissenschaft mit breiter öffentlicher Aufklärung, drittens an der Pluralisierung sexueller Beziehungen, viertens an der Emanzipation weiblicher Sexualität und nicht zuletzt am Status der sexuellen Aktivität in der Gesamtgesellschaft. Des Weiteren sei aktuell eine Einbindung der Sexualität in die Konsumkultur

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und somit eine zunehmende Symbolisierung von Sexualität zu beobachten (Pan/Huang 2013: 7ff.). In allen Kategorien ließen sich im Vergleich mit früheren Untersuchungen markante Veränderungen feststellen. So hielten beispielsweise mittlerweile Dreiviertel aller befragten Chinesen und Chinesinnen Sex für wichtig bis sehr wichtig, wobei in Korrespondenz dazu Schamgefühle und Tabus zurückgegangen seien (Pan/Huang 2013: 54, 64). Entkoppelt vom Primat der Fortpflanzung, finde immer stärker das Konzept von »sex as pleasure« Anwendung: »[I]m Zeitraum der letzten zehn Jahre messen die Menschen der Sexualität mehr Wert bei und bemühen sich um eine positive Einstellung gegenüber Sex […].« (Ebd.: 65) Unter den Befragten sei der Anteil jener mit vor- und außerehelichen Sexualerfahrungen gestiegen, jeder vierte Chinese und Chinesin lebe sein körperliches Vergnügen mit mehr als einem Partner der einer Partnerin aus und die Koitusfrequenz sei von 2000 bis 2006 um ganze 16,9 Prozent gestiegen (Pan 2006). In anderen Studien deuten sich ähnliche Tendenzen an. Bereits seit Ende der 1990er Jahre bis hin zur Jahrtausendwende sei der Höhepunkt an Zweisamkeit nicht mehr nur in der Eheschließung erreicht; besonders für die junge Generation habe der Stellenwert der sexuellen Befriedigung in und außerhalb einer festen Partnerschaft in großem Maße zugenommen. Ebenso sei – trotz gewisser Einschränkungen – die gesellschaftliche Akzeptanz von Masturbation, vorehelichen sexuellen Erfahrungen, Abtreibung und Homosexualität gestiegen. Scheidung gelte nicht mehr als Stigma. Das Alter, in dem erste sexuelle Erfahrungen gemacht werden, habe sich im jungen Erwachsenenalter (um die 20 Jahre) eingependelt, die Frequenz des Beischlafs bei verheirateten Ehepaaren bewegt sich bei zwei bis fünf Mal pro Monat (vgl. Liu 1999, Gao 2003). Katrien Jacobs stellte auch in ihrer Untersuchung der vor allem in Hongkong zunehmend populär werdenden Pornographie-Kultur im Internet fest, dass dies die Symptome einer sich gewandelten Haltung zur Sexualität seien: dem Thema wird mit mehr Neugierde und Offenheit begegnet, gerade Frauen sind dabei eine ihre eigene Sexualität und Lust für sich zu entdecken und zu reklamieren (Jacobs 2012). Obwohl hier auf den ersten Blick Analogien zur »sexuellen Revolution« im Westen im Zuge der 68er-Bewegung ins Auge zu stechen scheinen, ist Zurückhaltung bei einem direkten Vergleich anzuraten (vgl. Dippner 2009). Denn die chinesische sexuelle Revolution nahm ihren Anfang aus einer gänzlich anderen Konstellation als im Westen und auch die Konsequenzen daraus gestalteten sich trotz oben zitierter Statistiken keineswegs so liberalisierend wie in Europa und den USA, wo sich das Ausleben der Lust semantisch als eine autonomindividuelle Entscheidungshandlung etabliert hat. Betrachtet man allein die Antezedensbedingungen für die sexuelle Revolution in China, so macht sich bereits ein wesentlicher Unterschied bemerkbar: Anders als in Europa und den

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USA, wo die sexuelle Selbstbestimmung und das damit in einem Konnex stehende politische Anliegen der Studenten- und Bürgerprotestinitiativen aktiv erkämpft werden mussten, ist Chinas verstärkte Auseinandersetzung mit dem Geschlechtlichen primär eine staatlich verordnete. Im Westen proklamierten die Aktivisten und Aktivistinnen der 68erBewegung im Zuge ihrer allgemeinen Kritik an der Nachkriegspolitik und der bigotten Gesellschaftsmoral das Private als Politikum und verliehen mit diesem Diktum den ursprünglich ins Hinterzimmer des Privatlebens verbannten sexuellen Handlungen eine gesellschaftspolitische Relevanz. Durch diesen emanzipatorischen Impuls sowie den im Zuge dessen erstarkenden Feminismus erfuhr die Sexualität und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper allgemein eine zunehmende gesamtgesellschaftliche Akzeptanz. Zwar lässt sich auch für China eine deutliche Verknüpfung von Sexualität und Politik feststellen, dies jedoch nicht im Sinne einer die staatliche Politik erschütternden transgressiven und revolutionären Kraft des Eros »von unten« – im Gegenteil ist es hier das politische System, welches, mit letztlich ähnlichem Effekt in der Praxis, »von oben« Einfluss auf das Private nimmt. Die Sexualpolitik könne laut Pan Suiming mit den »vier gestrengen Beharrlichkeiten und zwei Nachlässigkeiten« beschrieben werden: So wird zwar weiterhin großer Wert auf die Herausbildung eines moralischen und zivilisierten Bewusstseins und auf die sexuelle Erziehung von Jugendlichen gelegt, für harte Ahndung von Pornographie und Verbot von Prostitution plädiert, aber in der Praxis wird das Sexualleben des Einzelnen zunehmend indifferent toleriert und kaum noch strafrechtlich verfolgt. So ist es trotz des juristischen Fortbestands des »Hooligan-Paragraphen«, der der Exekutive das Recht zum Ergreifen suspekter Personen in unklarer Beziehung zueinander (u.a. auch unverheiratete Paare oder Homosexuelle in Hotels und Parks) einräumt, dessen Einsatz heute völlig unüblich geworden. Die neuen sexuellen Freiheiten in China resultieren also nicht aus Motiven des Aufbegehrens gegen repressive politische Strategien und Ideologien, sondern sie sind vielmehr das Ergebnis einer gegenüber dem privaten Bereich zunehmend liberal eingestellten Politik der Toleranz. Darüber hinaus stellt die Loslösung des Sexualaktes von der Bürde des Fortpflanzungsimperativs durch die Anwendung von Kontrazeptiva nicht nur im Okzident, sondern auch im fernen Osten einen entscheidenden Faktor bei der sexuellen Emanzipation besonders der Frauen dar. Doch anders als in Deutschland etwa, wo die Nutzung von Verhütungsmitteln zunächst gegen das staatliche Verbot durchgesetzt werden musste, gab es das chinesische Äquivalent sogar auf staatliches Rezept. Mit der Einführung einer rigiden Ein-Kind-Politik 1981 wurde der Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung praktisch der Weg geebnet

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(vgl. Pan/Huang 2013: 12). Da jedoch die Sexualität bis dato offiziell nur im Zusammenhang mit der Zeugung »neuer Revolutionäre« ihre Funktion hatte, musste eine diskursive Umwertung stattfinden, um auch weiterhin den Fortbestand von staatlich erwünschten familiären Zusammenschlüssen als Grundzellen der Gesellschaft zu bestätigen. Die neue Freiheit in der sexuellen Praxis aufgrund politischer Lockerungen und erleichtertem Zugang zu Verhütungsmitteln und Abtreibungsmöglichkeiten führte somit nicht grundsätzlich zu einer bewusst forcierten Emanzipation der (v.a. weiblichen) Sexualität, geschweige denn zu einem reflektierten Nachdenken über individuelle und soziale Dimensionen der zwischengeschlechtlichen Vereinigung – anders als im Westen, wo insbesondere Frauen durch die Nutzung von Kontrazeptiva und der damit verbundenen Befreiung von sozio-biologischen Begleiterscheinungen der Sexualität die eigenständige Entscheidungsfreiheit über ihr sexuelles Handeln für sich beanspruchten. In China behielten durch die Geburtenkontrolle staatliche Organisationen wie der chinesische Frauenverband die Kontrollmacht über das Geschlechtsleben des und der Einzelnen, indem sie beispielsweise den Monatszyklus aller weiblichen Mitglieder der Kommune oder Arbeitseinheit rigide überprüften und Verhütungsmittel von der staatlichen Ausgabestelle angefordert werden mussten, womit die Frequenz und weitere Details des ehelichen Intim-Verkehrs registriert wurden. Somit blieb die Sexualität vorerst in das biopolitische und eugenische Projekt des Staates, der »Qualitätssteigerung« (tigao suzhi) der Bevölkerung, integriert. Darauf weisen auch gegenwärtig Pan und Huang hin: »Obwohl wir immer den Einfluss von sozialen Kräften auf die ›sexuelle Revolution‹ und ›Sexualisierung‹ betonen, müssen wir zum aktuellen Zeitpunkt doch zugeben, dass Chinas ›sexuelle Revolution‹ und ›Sexualisierung‹ in großem Maße immer noch ein Ergebnis von politischen Prozessen ist. Darauf beruhend kann man sagen, dass Chinas ›sexuelle Revolution‹ in gewissem Sinne noch nicht wirklich realisiert worden ist.« (Pan/Huang 2013: 9)

Mit verstärkter Aufklärung und neuen Möglichkeiten der sexuellen Verwirklichung auf der einen Seite, und zunehmender Sexualisierung von Werbung und Medien auf der anderen, generiert die neue, allpräsente sexuelle Freiheit jedoch auch eine Atmosphäre der Unfreiwilligkeit in der Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität, die zwar zu einer »Offenheit im Verhalten, aber nicht im Denken« führe, wie James Farrer den Interviews mit Shanghaier Jugendlichen entnahm (Farrer 2002: 72). Das schafft eine Diskrepanz zwischen traditionellen Moral- und Wertevorstellungen, die den chinesischen Lebensalltag teilweise noch stark rahmen, und der konkreten Handlungsrealität. Die Koexistenz von

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konkurrierenden Denkweisen und Handlungspraxen im engen städtischen Raum setzt den sensiblen Topos der Sexualität einer neuen gesellschaftlichen Spannung aus. So stellen Pan und Huang das Ergebnis von Chinas »sexueller Revoution« selbst wieder infrage: »Es ist bedauerlich, aber wie viel wissen wir Chinesen schon über die Sexualität, wie viel verstehen wir davon? Man kann zwar auf jeder großen Internetseite viel über Sexualwissen, Sexualerziehung, Sexualhygiene und ›Sex-Glück‹ (xingfu) nachlesen, aber deren Inhalte haben so gut wie gar nichts mit gesellschaftlichen, kulturellen und genderbedingten Zusammenhängen zu tun. Wenn so ›das Tabu zum lauten Marktplatz wird‹, verliert die Aufklärung aber jeden Nutzen zur Steigerung des Wissensniveaus über Sexualität der Leute und hat eigentlich gar keinen Nutzen.« (Pan/Huang 2013: 9)

Die offensichtliche Ratlosigkeit und Orientierungssuche in Bezug auf das »richtige Verhalten« zwischen den Polen der politisch verordneten Reglementierung und der individuellen Lustbefriedigung ruft eine neue pragmatische Herangehensweise auf den Plan, welche sich beispielhaft im relativ jungen Dienstleistungssektor der Paarberatung und Beziehungspflege manifestiert. Doch anders als im Westen, wo erst der Einbruch des therapeutischen Diskurses maßgeblich zu einer Problematisierung der Thematik beitrug – nach der Devise: »Männer und Frauen verstehen sich nicht und passen eigentlich nicht zusammen« (vgl. Illouz 2009) –, lässt sich in der entsprechenden chinesischen Literatursparte unter dem Motto »Wenn Du nur alles richtig machst, kannst Du ein rundum glückliches Partnerschaftsleben führen« ein Trend zur Idealisierung erkennen. Das bezieht auch die Option ein, in sexueller Hinsicht »alles richtig zu machen«. Zwar warten besagte Texte meist nicht mit konkreten Hinweisen auf die sexuelle Praxis auf, doch lassen sie von der Haarlänge bis zur Unterwäsche keinen Aspekt aus, um insbesondere die geneigte Leserin auf den Weg zur femininen, begehrenswerten und sexy Partnerin zu begleiten.1 Nicht die Auseinandersetzung

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Dazu gehören beispielsweise Ratgeber mit Titeln wie 101 Details, um eine Dame zu werden (»Suzao shunü de 101 ge xijie« von Zhao Xiaopeng, 2009) oder Der Ehemann liebt sanfte und anschmiegsame Frauen (»Rouruo nüren laogong ai« von Li Qin 2009) zur Attraktivitätssteigerung, die nicht nur mit Tipps zu Styling, Kosmetik und Auftritt aufwarten, sondern auch das richtige Benehmen und korrekte Wortwahl lehren, um beim potentiellen Gegenüber einen möglichst positiven, d.h. femininen Eindruck zu hinterlassen. Vgl. außerdem So wirst Du zur schönsten und liebenswertesten Frau (»Rang ni cheng wei zui mei zui ke ai de nüren« von Li Jie, 2009) und So sind die Frauen am schönsten (»Nüren zheyang zui meili« von Xi Haiyan, 2009).

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mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht sowie die Ausformulierung und Erfüllung eigener Wünsche ist das ausdrückliche Ziel; stattdessen erzieht die therapeutische Selbsthilfe zu einer möglichst exakten Entsprechung von Erwartungshaltungen, welche sich aus dem Imperativ eines binären Geschlechtermodells ergeben. Um ein »ganzer Kerl« oder eine »echte Frau« zu sein, gilt es bestimmte Kriterien zu erfüllen, welche sich spätestens in den vergangenen zehn Jahren zu sozialen Normen und bindenden Verhaltensstandards verfestigt haben. Während in manchen Medien – wie beispielsweise Frauenzeitschriften und Internetforen – das Sprechen über sexuelle Aktivitäten durchaus populär geworden ist, üben sich die hier untersuchten Frauenratgeber in Buchform darin vergleichsweise in Zurückhaltung. Im Vergleich zur extensiven Aufarbeitung des emotionalen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern wird der Sexualität in der Partnerschaft nur geringer bis gar kein Raum zugesprochen. Dies mag einerseits daran liegen, dass eine umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik dem verwandten Genre der Sexualratgeber überlassen wird – oder dass die Sexualität als nicht so konfliktreich und problematisch wahrgenommen wird wie das generelle Zusammenleben der Geschlechter. Den Frauenratgebern scheint mehr daran zu liegen, ihren Leserinnen Anweisungen zu weitreichenderen Belangen wie das Finden eines guten Ehemannes zu geben, denn zur Pflege von ehelicher (oder gar außerehelicher) Sexualität. Sexualität hat daher – entgegen aller Statistiken der chinesischen Sexualwissenschaft – im Diskurs um das persönliche Lebensglück und eine gelingende Beziehung offenbar nur einen sehr untergeordneten Stellenwert. Anders als im westlichen therapeutischen Diskurs, der in den 1970ern die Problematisierung der Sexualität als seinen Hauptwirkbereich entdeckte, scheint diese – zumindest im Vergleich zu anderen in den Ratgebern aufgegriffenen Fragestellungen – in China insgesamt weniger problematisch zu sein.

S EXUALITÄT

ZWISCHEN N ATUR UND GESELLSCHAFTLICHEN N ORMEN Wenn Sexualität in chinesischen Frauenratgebern angesprochen wird, so häufig im Zusammenhang mit biologistischen und (populär-)medizinischen »Wahrheiten« über das generelle Sexualverhalten von Säugetieren und der Bedeutung geschlechtlicher Unterschiede. Dabei wird prinzipiell der in Wissenschaft und Medizin vorherrschende positive Topos von Sexualität als notwendiger und natürlicher Bestandteil jeder gegengeschlechtlichen Paarbeziehung aufgegriffen, um den Akt zu enttabuisieren. Als rein biologischer Mechanismus und Notwen-

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digkeit gelten die damit zusammenhängenden Aktivitäten als »natürlich« und werden dadurch moralisch legitimiert. Dies führt zu einer generellen Liberalisierung insbesondere der weiblichen Sexualität, die nun auch zunehmend als lustvoll und beglückend beschrieben wird: »Wenn Du ihn liebst, dann gib es [Sex] ihm. Wenn der Orgasmus kommt, dann verstell dich nicht [aus Scham, A.D.], sondern behandele es als etwas ganz Natürliches.« (Zhufu Xiaoxiao 2011: 62f.) Zitate wie dieses verweisen auf eine Befreiung weiblicher Sexualität aus der traditionellen Tabuisierung und integrieren sie als natürliche Komponente in die Intimbeziehung. Dabei steigt auch die Befürwortung der weiblichen Lusterfahrung, welche sich bereits gesellschaftlich relativ flächendeckend als gleichberechtigter Anspruch beider Geschlechter etabliert hat. Dass die Natürlichkeit des sexuellen Aktes und körperlicher Reaktionen auf sexuelle Stimulation in den Ratgebern betont wird, mag daran liegen, dass gerade bei den als Zielgruppe adressierten Frauen die Hemmschwelle noch sehr hoch liegt. Obwohl Pan und Huang von einer generellen Befreiung der weiblichen Sexualität im Zuge der chinesischen sexuellen Revolution sprechen, weisen sie relativierend darauf hin, dass sich ein entsprechendes Bewusstsein gesamtgesellschaftlich nur langsam durchsetze. So hielten 2010 immerhin noch ein Drittel der befragten Frauen den sexuellen Akt prinzipiell für »schmutzig« – nur 10% weniger als noch 2000 (Pan/Huang 2013: 65). 44,8% halten auch körperliche Sekrete während des Aktes für schmutzig und schamauslösend (ebd.: 64). Dass die weibliche Lust offenbar immer noch ganz und gar nicht selbstverständlich ist, zeigt auch die Statistik, dass nur 3,8% der Frauen aktiv von sich aus sexuelle Aktivitäten mit ihren Partner forcieren, während bei 61,3% die Initiative explizit vom Mann ausgehen muss (Pan et al. 2004: 198). Auch die Befriedigung weiblicher Lust lässt laut Statistik zu wünschen übrig: nur 20,5% der Frauen gaben an, dass ihr Partner ihnen vollstes Vergnügen bereiten könne, während die Mehrheit (57,1%) angab, er könne es »ein bisschen« und immerhin 22,4% fanden, dass ihr Partner sie nicht besonders oder gar nicht zu befriedigen verstehe (ebd.: 233). Insgesamt sind nur 22,3% der Frauen sehr zufrieden mit ihrem Sexualleben und nur 38,6% der befragten Frauen erreichen auch einen Orgasmus (bei Männern ist der Anteil doppelt so hoch) (ebd.: 201). Pan Suiming versucht sich auch gleich an einer Erklärung für die Unzufriedenheit der Frauen mit ihrer an und für sich befreiten Sexualität: Er betont die Wichtigkeit eines sexuellen Skripts (xing jiaoben), an dem sich Frauen in ihrem Verhalten – und damit auch ihrem Genuss – orientieren. Dieses Skript bestehe aus Szenarien, die vom öffentlichen Diskurs der Medien oder der Alltagskommunikation wie dem »sexual storytelling« (vgl. Farrer 2002) geprägt werden, und gebe Frauen Richtlinien für korrektes Handeln und gewissermaßen auch

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Vorstellungen von einem gelungenen Sexualleben. Damit adaptieren Frauen mehr als Männer gesellschaftlich formierte Sichtweisen auf Sexualität und orientieren sich an den allgemeingesellschaftlichen Meinungen zu bestimmten Praktiken. Daher sei das Sexualleben von Frauen stark sozial gesteuert, während das der Männer dem natürlichen Trieb folge (Pan et. al 2004: 234). Das Skriptkonzept, gemäß dem soziale Akteure und Akteurinnen sich in ihrem Handeln an kulturell geformten Szenarien und Plots orientieren, ist ein in der westlichen Sexualwissenschaft etabliertes Modell. Demnach werden Skripte durch Sozialisation, Aufklärung, Institutionen und eigene Erfahrungen gelernt, die als Basismodelle üblichen Handelns eine zentrale Rolle bei erfolgreicher Kommunikation spielen. Sie umfassen diverse in Medien und im Alltagsdiskurs vorgegebene einzelne Skripte und fungieren als Handlungsanleitungen und Interpretationshilfen, die als intrapsychische Drehbücher auch der Inszenierung von Geschlecht und Identität dienen. Dadurch werden soziale und gegebenenfalls auch biopolitische Vorstellungen zum Sexualverhalten in den individuellen Handlungsspielraum integriert (vgl. Oswald-Rinner 2011). In China nehmen auf die Gestaltung dieser Skripte vor allem die seit den 80er Jahren stetig sich vergrößernde Sexualwissenschaft und ihre Auswüchse im therapeutischen Diskurs weitreichenden Einfluss. Ähnlich wie die westliche Psychologie und Psychotherapie durch Freud ihr Dauerthema in der Sexualität fand, wurde die Sexualität in China nach Aufhebung der sozialistischen Tabuisierung des Themas rasch vom medizinisch-hygienischen Diskurs absorbiert. Solche Okkupationen sind freilich prinzipiell nichts Neues, stand die Sexualität doch bereits im republikanischen und maoistischen China unter der rigiden Kontrolle dieser Instanz. Die Steuerung und Kontrolle des Sexualverhaltens galt schon seit jeher als wichtiger Bestandteil der sozialistischen (und auch prä- und postsozialistischen) Biopolitik, mit dem Ziel die kollektiven Kräfte produktiv zu lenken. Doch auch wenn der Staat und seine Kontrollinstanzen in dieser Form tief in das Privatleben hineinreichten, so waren diesen Interventionen doch spätestens am privaten Ehebett Grenzen gesetzt. Noch schwieriger gestaltet sich freilich die Lenkung in Zeiten einer Politik der Toleranz, wo durch die Individualisierung und Auflösung von sozialen und ideologischen Institutionen das private Sexleben zunehmend jeglichem äußeren Einfluss entgleitet. Wo Aufsicht und Fremdzwang schwierig bis unmöglich durchzusetzen ist, gilt es wenigstens entsprechende Selbstzwänge zu errichten. Dementsprechend wurde schon zu republikanischen Zeiten die sexuelle Hygiene zu einer Art diskursiver Verhaltenspolizei erhoben, einer dezentralen Ordnungshüterin im Namen der Sorge um Fortschritt, Rassetum und Kultur mit volkspädagogischer Mission, worauf vor allem Harriet Evans hingewiesen hat:

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»The pre-Cultural Revolution discourse on sexuality brought to the official vision of ideologically correct behaviour a code of normative sexual and gender expectations legitimized by so-called scientific authority. [...] [T]he scientific knowledge about sex legitimized practices that supported the state’s interests in controlling young people’s sexual conduct.« (Evans 1997: 3)

Die im Namen der Gesundheit und Hygiene betriebene Aufklärung zielt vor allem auf die Gefahren, Abnormalitäten und unmoralischen Aspekte, um jungen Leuten die Maßstäbe einer korrekten sozialen Moral näher zu bringen und »to help them to build up the correct outlook on sex, friendship and love and to make them sound and developed in body and mind and civilize their sexual instinct« (ebd.: 40). Auch wenn seit den 1980er Jahren die Privatisierung sich auch im Bereich des Intimlebens zunehmend durchgesetzt hat und die Sexualität aus allzu rigider staatlicher Kontrolle entlassen wurde, setzt sich der Trend zu einer biologischen und psychologischen Aufklärung zwecks Bewahrung einer »gesunden« zukünftigen Nation im Grunde bis heute fort. Unter dem Deckmantel der Sorge um die moralische und geistige Entwicklung und Zivilisation (qingshen wenming jianshe) behalten sich Politik und Staat immer noch eine Aufsichtsposition vor und übergeben oftmals staatlichen oder semi-staatlichen Instanzen der Hygieneund Medizinberatung die Aufgabe der Kontrolle und Korrektur von Sexualverhalten gemäß Normvorgaben. So generieren auch in verhältnismäßig liberalen Zeiten therapeutische Intervention und impulsgebende Propädeutik immer noch Nachträge, Detaillierungen und Amplifikationen – doch nun unter dem neuen Imperativ der Wissensverbreitung und Aufklärung im Zeichen der beständigen Weiterbildung und Selbstoptimierung als Voraussetzung für mehr oder minder zwangsläufig notwendiges Knowhow zum Bewältigen eines erfolgreichen Ehelebens. Mit der Verabschiedung der normativ-disziplinierenden Regelung des Geschlechtslebens wird zwar mithin die Möglichkeit zur Selbstregulierung eingeführt, doch das heißt noch lange nicht, dass diese ganz nach eigenem Gusto geschehen darf. Durch die Dominanz wissenschaftlich-medizinischer Deutungen als autoritäre Diskursvormacht über Sexualität beeinflussen die darin propagierten Vorstellungen und Bilder von Sexualität dementsprechend auch den populären Diskurs und diffundieren in alltägliche Vorstellungen von Sexualität. Dies zeigt sich unter anderem im Umgang mit sexuellen Themen bei Ratgeberhotlines und in der Ratgeberliteratur wie etwa beim Shanghai health guidance centre, der Beijing Women’s hotline, oder regelmäßigen Radiosendungen wie »Shengming, shengyu, shenghuo« (Zeugung, Geburt und Leben) der Beijing Broadcast Radio

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Station oder Sexualratgeberbüchern wie »Xing shenghuo yibai wen« (100 Fragen zum Sexualleben), »Xing chongdong toushi« (Das Durchschauen sexueller Impulse), »Rang xingshenghuo meiman hexie« (Lasst unser Sexualleben glücklich und harmonisch sein), oder »Xinhun fufu zhinan« (Kompass für Frischverheiratete). Auch die in das Sample der vorliegenden Studie aufgenommenen Frauenratgeber greifen auf diesen Wissensfundus zurück und reproduzieren ihn in gewisser Weise, weswegen im Folgenden die Inhalte dieses Expertendiskurses als Basis für das weitere Verständnis genauer beleuchtet werden. Denn an diesen Interdiskursen als Schnittstellen zwischen medizinischem Fachdiskurs und öffentlicher Meinung zeigt sich die Mediatorenposition, die der therapeutische Diskurs in der Vermittlung zwischen Experten- und Laienwissen einnimmt, indem er dazu beiträgt spezifische Expertenmeinungen partikulär und kontextbezogen in die öffentliche Sphäre zu diffundieren und diese damit überhaupt erst sozial zu konstruieren. Viele der seriösen Ratgeberhotlines werden von staatlichen oder öffentlichen Einrichtungen betrieben, wie z.B. vom städtischen Familienplanungskommitee und der Sexual Health Education Research Association, und sind zumeist mit Experten und Expertinnen aus der Medizin und nicht etwa der Psychologie oder Soziologie besetzt (vgl. Erwin 2000). Dementsprechend forsch-aufgeklärt kommt der Umgang mit der Thematik daher. Nach wie vor wird Sexualität im Einklang mit der gängigen Meinung im Handlungsrahmen der Ehe lokalisiert.2 Ausgehend von diesem Modell, folgt das Konzept von Sexualität in Ratgebern und Hotlines weniger dem Diktum eines modisch propagierten »sex for pleasure« denn dem eines »sex for measure«: Es geht primär um den »korrekten« Vollzug des sexuellen Aktes und die Frage: Was ist normal/annormal? Inwiefern bewegen sich individuelles sexuelles Handeln oder sexuelle Identitäten noch in vordefinierten Normkategorien oder müssen gegebenenfalls adjustiert werden? Die Fragen und Diskussionspunkte drehen sich zumeist um die durchschnittliche Dauer und Häufigkeit des Aktes, der Größe und der Beschaffenheit des Gliedes bzw. weiblicher Geschlechtsorgane, das richtige Alter für erste sexuelle Erfahrungen und um wieder damit aufzuhören etc. Mit der Fixie-

 2

So ist beispielsweise eine Einstellungsvoraussetzung für Freiwillige für den Dienst in einer der genannten Beratungshotlines der Status des Verheiratetseins, denn nur so würden sie über die entsprechende Erfahrung verfügen, um sich in die Position der Ratsuchenden einfühlen zu können (Erwin 2000). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass offensichtlich davon ausgegangen wird, dass Unverheiratete (noch) nicht über

 Sexualität Bescheid wissen und daher nicht »mitreden« können.

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rung auf mess- und definierbare Kategorien werden so die im medizinischakademischen Diskurs festgelegten Körper- und Sexualnormen weitervermittelt. Durch diese Praxis der Normierung und Standardisierung wird der facettenreiche menschliche Körper sowie das Sexualleben quasi-technisiert, indem Vorgaben zur Funktionsweise und Beschaffenheit der Geschlechtsorgane gesetzt werden. Auch werden dadurch neue Kategorien des fehlerhaften, »untüchtigen« Körpers produziert und problematisiert. Was nicht funktioniert wie es soll, muss »repariert« und wieder in die Normschemata eingegliedert werden. 3 Wie Joanna McMillan in ihrer Untersuchung zur In-Beschlagnahme der Sexualität durch Medizin und Wissenschaft diagnostizierte, besteht die Expertenantwort im Angesicht der menschlichen Vielfalt und Individualität nicht darin »to acknowledge it, but to insist on their prescription and pathologize difference […] Experts might decide sexual norms, creating abnormality in the process, but […] they also stand ready to intervene – to assess, enlarge, repair and cure – when bodies do not measure up or when functions fail« (McMillan 2006: 39).

Dank dieser engagierten Sexualaufklärung wissen die interessierten chinesischen Bürger und Bürgerinnen vom Verlauf der Erregungskurve nach Masters und Johnson, wie groß durchschnittlich ein Hoden und Penis jeweils sind sowie die dementsprechenden Maße der weiblichen Pendants, der Klitoris und der Vagina. Ferner wissen sie nicht nur über nachmessbare Fakten Bescheid, sondern auch darüber, dass beim Akt »der Mann schnell und die Frau langsam, der Mann stark und die Frau sanft, der Mann kurz und die Frau lange engagiert« ist (nan kuai, nü man; nan qiang, nü rou; nan duan, nü chang). Nicht nur die Art und Reihenfolge der Gegenüberstellung von männlichen Geschlechtsorganen und ihrer weiblichen »Entsprechung« lässt eine gewisse vorurteilsbehaftete Einstellung zur weiblichen Sexualität durchschimmern, auch diverse, in den untersuchten Sendungen häufig verwendete Redensarten affirmieren die Klischees vom aktiven Mann und der passiven Frau bzw. des gebenden und des empfangenden Parts. Die sozial konstruierten Geschlechterunterschiede bedingen somit auch das Sexualverhalten und werden als »Wahrheiten« bzw. »korrektes« Verhalten kommuniziert. Worauf sich diese Wahrheiten genau begründen, bleibt jedoch

 3

Inwiefern eine Abweichung von sexuellen »Normen« als krankhaft und behandlungsbedürftig angesehen wird, zeigt unter anderem die Etikettierung von Sextoys als »Gebrauchsmittel zur Gesundheitserhaltung« (baojian yongpin) und als »Medizinprodukte« zur Überwindung von weiblicher Frigidität.



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sowohl in den medizinischen wie auch lebensweltlich orientierten Ratgebern meist ungenannt. Diese komplexen Zusammenhänge unterschiedlicher Diskursbereiche und ihre Auswirkungen auf das individuelle sexuelle Skript spiegeln sich in der anfangs zitierten Naturalisierung des sexuellen Aktes wider. Obwohl es auf den ersten Blick harmlos klingt, wenn hierbei die Rede davon ist, dass die Frau sich im Akt gehen lassen und körperliche Reaktionen schambefreit genießen solle, erweist sich die Äußerung vor dem Hintergrund der in diesem Zusammenhang zitierten statistischen Ergebnisse und biopolitischer Grundlagen als ein relativ neues sexuelles Skript für weibliche Sexualität, das die Tendenz zur Etablierung weiblicher Sexualität als individuelle Lusterfahrung aufnimmt. Dennoch bleibt weibliche Sexualität insgesamt ein stark sozial bedingter Bereich, der immer noch diversen Normativen unterliegt: »A technology of sex, to use Foucaults formulation, created through a variety of medical, pedagogical, social and political discourse constructs sex as a matter that requires the social body as a whole, and virtually all of the individuals, to place themselves under surveillance in the interests of marital, family and social welfare.« (Evans 1997: 217)

W EIBLICHE S EXUALITÄT : I NITIATION , I NSTITUTIONALISIERUNG UND I NTERESSENAUSGLEICH Das wohl prägendste Normativ weiblicher Sexualität beruht auf der Annahme, dass diese vor allem nur in der Geschlechterbeziehung existiere und von der binären Geschlechterdifferenz getragen werde. So stellen auch heute noch Frauen ihre eigene Sexualität erst im direkten Bezug zur männlichen her: »Women are strange. Before marrying, they may not feel much desire or need for sex. But once they’ve tasted married life, they seem to have an instinctive need for sex, not to mention from the man she loves most.« (Zit. nach Wu 2012: 114) An dieser Aussage lassen sich mehrere Aporien von populären Konstruktionen weiblicher Sexualität aufzeigen: An erster Stelle werden biologische Diskurse aufgegriffen, indem der Sexualtrieb als ein dem menschlichen Wesen inhärenter, natürlicher Instinkt postuliert wird, der, einmal »erweckt«, konsequent ausgelebt werden muss. Er wird damit als animalische Natur im Gegensatz zur zivilisierten Kultur konstruiert, insbesondere Frauen sind offenbar der Gefahr ausgesetzt, von der »Naturgewalt« Sexualität mitgerissen zu werden. So vergleicht eine der von James Farrer interviewten Frauen Sex mit Süßigkeiten – wer einmal davon nasche, bekomme nie

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genug (Farrer 2002: 72). Deshalb muss das erwachte Begehren durch kulturelle Rahmungen kontrolliert, gezügelt und in richtige Bahnen gelenkt werden. Des Weiteren zeugt die Aussage von der Fixierung der Frau auf den Mann als unerlässlichen Gegenpart der eigenen Sexualität. Harriet Evans stellte bereits bei ihrer Untersuchung von Frauen- und Sexualratgebern der 1980er und 90er Jahre fest, dass »female sexuality is defined principally in relation to masculinity, outside the context of the heterosexual relationship, female sexuality has no existence. Female desire is constructed in response to the powerful male urge« (Evans 1997: 48). Die männliche Sexualität bleibt Referenzpunkt für weibliche Sexualität, initiiert diese nicht nur, sondern reguliert sie auch, da weibliches sexuelles Verlangen ohne männliche Stimulation immer noch als deviant angesehen wird: »Women whose sexual behaviour challenges the predominance of the female reproductive role are still widely represented as immoral or unnatural.« (Ebd.: 52) Diese Abhängigkeit von der männlichen Geschlechtlichkeit greifen auch die untersuchten Ratgeberbücher auf, um an dieser Stelle wieder auf unseren eigentlichen Untersuchungsgegenstand zurückzukommen. Zudem, so betonen sie, gehe jeder sexuelle Akt für die Frau mit einer gewissen emotionalen Verbindlichkeit einher, da sie sich nur dem hingebe, für den sie auch tiefe Gefühle habe. Dementsprechend sehne sich eine Frau in erster Linie nach einer geistigen und emotionalen Vereinigung, während das Verhältnis eines Mannes zu einer Frau vor allem auf sexuellem Interesse basiere (Feng 2011: 85). Als Beispiel wird die Erfahrung einer Prostituierten zitiert, die nach etlichen schlechten Erfahrungen mit Männern durch eine rein virtuelle Internetliebe neue Hoffnungen auf eine geistig fundierte Liebe schöpft. Als bei der anschließenden offline-Begegnung sie den sexuellen Kontakt mit dem Verweis auf ihre bisherigen Erfahrungen verweigert, wird sie prompt vom Mann verlassen, denn »[wer] in heutigen, aufgeschlossenen Zeiten noch an eine platonische Liebe [geistige Liebe] mit einem Mann glaubt, kommt vom Mond« (ebd.: 86). Zum Verhängnis wurde der Protagonistin der Beispielgeschichte nicht nur das Verweigern der sexuellen Aktivität, sondern auch ihre sexuelle »Beschmutzung« durch ihre Arbeit als Prostituierte, da eine sexuell promiskuitive Frau noch immer negativ stigmatisiert ist. Frauen, die eine allzu offene Einstellung zur Sexualität pflegen, »lassen sich gehen« (fangcong) und würden das verantwortungslose Verhalten der Männer (sprich: sexuelles Vergnügen ohne Verpflichtung zur Ehe) nur fördern und zur Verschärfung des Geschlechterkonflikts und letztlich zur Degeneration der Gesellschaft beitragen. Stattdessen sollten Frauen nach einer gescheiterten Liebesbeziehung lieber allein bleiben, denn es verliebe sich sowieso kein Mann in

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einen »ausgelatschten Schuh« (eine abfällige chinesische Redewendung für promiskuitive Frauen). Zudem würde das Schicksal ein anständiges und keusches Leben belohnen, indem es für ein späteres erfüllendes Liebesglück in sozial akzeptierten Bahnen sorge, während »gefallenen Mädchen« ihr Leben lang kein Glück hold sei (Yan 2012: 189). Des Weiteren wird in den Ratgebern weibliche Sexualität immer noch strikt in den Rahmen der Ehe verwiesen. Die rechtliche Institutionalisierung der Beziehung wirkt offensichtlich als Initiationsritus der weiblichen Sexualität, wodurch die Frau von der sexlosen zur sexwilligen Phase übergeht. (Weibliche) Sexualität jenseits des legitimierten Beziehungsrahmens findet hier keine Erwähnung, bzw. wird eine solche in den Ratgebern teilweise offen kritisiert. Denn Männer seien zwar auf Sex aus, wollten aber nicht heiraten; Frauen dagegen wollten im Grunde nur heiraten und hätten nur deshalb Sex, um den Mann an sich zu binden. Doch dies sei der falsche Weg: »[W]enn ein Mann mit Dir das [Sex] machen möchte, denken wir am besten erstmal genau darüber nach, ob er uns letztlich auch eine stabile Ehe geben kann. Wenn er das nicht kann, dann sag am besten sofort: aufhören!« (Wang 2012: 27) Glaubt man der Semantik der Ratgeber, kursiert unter chinesischen Frauen offenbar eine große Angst davor, emotional und vor allem sexuell »ausgenutzt« und betrogen zu werden: sich sexuell einem Mann hinzugeben ohne eine entsprechende »Gegenleistung« dafür zu erhalten, wie z.B. die Ehelichung oder sonstige Vorzüge ökonomischer oder sozialer Natur – oder wie ein Ratgeber es treffend formuliert: »Dir die Kleidung auszuziehen dauert drei Minuten, dir das Brautkleid anzuziehen dauert drei Jahre.« (Wang 2012: 25) Bei der Ausformung der Paarbeziehung wird also vor allem großer Wert auf die soziale Überformung der Zweierbeziehung gelegt. So wird auch der sexuelle Kontakt fast immer ausschließlich mit einer stabilen und dauerhaften Paarbeziehung in gesellschaftlich akzeptable Form – und das heißt fast immer: Ehe – eingebettet. Sämtliche Diskussionen und Naturalisierungen über die sexuellen Bedürfnisse beider Geschlechter bleiben ausschließlich auf diesen Rahmen beschränkt. Trotz zunehmender Präsenz von Sexualität in Populärmedien und einem deutlich freieren populären Diskurs scheint die Sexualität in der Paarbeziehung immer noch eine untergeordnete Rolle zu spielen und anderen Kriterien wie der Dauerpräsenz der Vorstellung von der Familie als Grundelement (danyuan) von Gesellschaft und des Staates nachgelagert zu sein. Selbst der außereheliche sexuelle Kontakt (das Phänomen bao er’nai – »sich eine Geliebte oder Zweitfrau halten« – entwickelte sich seit den 1990er Jahren zur gesamtgesellschaftlich mehr oder minder anerkannten Praxis) wird in vielen Fällen paradoxerweise in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt, in dem von männlicher

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Seite die sexuelle Verfügbarkeit des weiblichen Parts im Gegenzug mit finanzieller und sozialer Sicherheit belohnt wird (vgl. Pan: 2006). Damit wird Sexualität neben der Reproduktionsfunktion in den Dienst der Harmonisierung der ehelichen Beziehung durch körperliche Bedürfnisbefriedigung gestellt, was jedoch nicht als eine Individualisierung der Sexualität zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine Erweiterung der gesellschaftlichen Relevanz der sexuellen Aktivität jenseits bloßer Reproduktionsdienste. Es gilt mithin als egoistisch die eigene Lust ganz nach individuellen Vorlieben zu verwirklichen; vielmehr dient ein gut funktionierendes Sexualleben in dieser Semantik der Aufrechterhaltung der Familie als nuklearer Einheit von Staat und Gesellschaft. Daher soll der und die Einzelne nicht nur an der kulturellen Selbstkultivierung, sondern auch an der Verbesserung seiner »sexuellen Qualität« arbeiten, um durch die adaptive Applikation von mehr oder minder wissenschaftlichen Erkenntnissen und einer Steigerung der technischen Fähigkeiten die biologische Bedürfnisbefriedigung des Partners und damit die Ehezufriedenheit – respektive den Fortbestand der Ehe – garantieren zu können. Sexualität wird somit zu einem analogen, rein körperlichen Bedürfnis neben Hunger und Durst erklärt, dem sich zur Schaffung entspannter und produktiver gesellschaftlicher Verhältnisse fürsorglich angenommen werden muss. Damit wiederholt sich der Trend zur Kanalisierung von Sexualität zugunsten der optimalen Einsatzfähigkeit des Individuums in gesellschaftliche Produktionsverhältnisse, wie es letztlich bereits im sozialistischen China zu beobachten war. Trotz dieser offenbar immer noch sehr dominanten Stellung der Ehe im privaten Lebenslauf hat Farrer in seiner Untersuchung unter Shanghaier Jugendlichen festgestellt, dass heute sexueller Intim-Verkehr nicht automatisch zwangsläufig in eine eheliche Verbindung münden muss, sondern trotz der generellen Orientierung am Endziel Ehe auch in Phasen nicht-institutionalisierter serieller Monogamie ausgelebt werden kann. So hat die Zahl der vor- und außerehelichen Sexualerfahrungen seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Farrer spricht davon, dass außerehelicher Sex seit den 90er Jahren nicht nur zum gewöhnlichen Gesprächsthema avancierte, sondern dass 1996 38,1% der Frauen auch bereits vor der Eheschließung mit ihren Zukünftigen sexuellen Kontakt hatten, während laut Pan Suiming zwischen 1985 und 1996 nur rund 10% der Bevölkerung diesen Schritt wagten. 2004 attestiert er 20% der Landbevölkerung und 36% der Stadtbevölkerung voreheliche Sexualerfahrungen, jedoch zumeist mit dem künftigen Ehepartner (Pan et al. 2004: 121). Somit gilt voreheliche Sexualität nicht mehr per se als verwerflich: 61% Männer und 47% Frauen sehen kein moralisches Problem darin, »erst ins Bett zu steigen und dann zu heiraten« (xian shangchuang hou dengji) (Pan/Huang 2013: 46). Dass dennoch keineswegs in

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Jugendjahren munter promiskuitive Erfahrungen gesammelt werden, zeigt die Statistik über das Alter der ersten sexuellen Erfahrungen: Männer sind dabei durchschnittlich 22,5 Jahre alt, Frauen 22,75 Jahre. Beide Geschlechter überschreiten demnach zu Beginn ihres heterosexuellen Sexuallebens bereits das gesetzliche Mindestheiratsalter (Männer: 22 Jahre, Frauen: 20 Jahre) – und machen somit tatsächlich oftmals die ersten sexuellen Erfahrungen mit ihrem (künftigen) Ehepartner bzw. -partnerin (ebd.: 128). Eventuell mag es an diesem späten Start der sexuell aktiven Lebensphase liegen, dass immer noch hohe gesellschaftliche Erwartungen an die weibliche Jungfräulichkeit gestellt werden. Zwar geben sich die von Farrer befragten Jugendlichen diesbezüglich nach außen aufgeklärt und souverän,4 doch ergab eine vergleichbare Umfrage unter männlichen Studierenden, dass nur 50% eine Braut ohne Jungfräulichkeit akzeptieren und ernsthaft lieben könnten (Pan et al. 2004: 109). Zwar hat sich mittlerweile die Akzeptanz von einer nicht mehr jungfräulichen Partnerin gesamtgesellschaftlich stark erhöht, doch umfasst die Toleranzschwelle dennoch meist nur eine sehr begrenzte Zahl an Sexualpartnern. Da laut der Untersuchungen von Pan zum Sexualverhalten der Chinesen 83% der Befragten insgesamt in ihrem bisherigen Leben nur einen Sexualpartner hatten und nur 4,9% und 4,1% einen bzw. zwei weitere Partner oder Partnerinnen vorweisen können – selbst unter den sexuell aktivsten 30-34-jährigen hat nur ein Fünftel der Befragten Erfahrungen mit mehr als einer oder einem Sexualpartner/in (ebd.: 260) –, befindet sich die Akzeptanz von weiblicher serieller Promiskuität immer noch auf einer eher verbalen Ebene. Ein weiteres Indiz für die Bedeutung von weiblicher Unberührtheit als Voraussetzung für eine Beziehung stellen auch die seit 1994 populären und mittlerweile zahlreichen und weit verbreiteten operativen Verfahren zur Wiederherstellung des Jungfernhäutchens dar. Dass so viel Wert auf die Unberührtheit der Frau gelegt wird, mag auch daran liegen, dass im kulturellen Gedächtnis Chinas Frauen als Hüterinnen der Moral stilisiert sind. In der Jungfräulichkeit spiegele sich die menschliche Qualität (renpin) und die

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So schreibt Farrer, dass durch die Entwicklung einer neuen Dichotomie in der Sexualkultur zwischen modern/altmodisch, ländlich/urban, chinesisch/ausländisch junge, urbane Männer die sexuellen Erfahrungen der Frauen akzeptieren können, wenn sie dies als Zeichen für Aufgeklärtheit, Modernität, Urbanität und Internationalität ansehen und sich somit explizit von den »konservativen«, rückständigen Landbewohnern abgrenzen wollen. Dennoch wird in den Aussagen der Befragten oftmals Eifersucht gegenüber früheren Liebhabern vorgetragen (Farrer 2002: 240ff.).



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Lebenseinstellung (shenghuo taidu) der betreffenden Person wider (Yan 2012: 178). Doch – um auf den Ratgeberdiskurs zurückzukommen – nicht nur für Männer spielt die weibliche Jungfräulichkeit bei der Partnerwahl eine wichtige Rolle. Gerade auch Frauen sehen im vorehelichen Geschlechtsverkehr ein hohes Risiko, vor allem emotional und psychisch irreparablen Schaden davonzutragen, der ihr weiteres Leben und Glück beeinträchtigen würde. So berichtet eine Interviewpartnerin davon, dass sie nach einer eigentlich für beide Seiten körperlich angenehmen Affäre mit einem verheirateten Mann Anfang 20 psychisch so negativ davon beeinflusst wurde, dass sie sich nicht mehr traute, danach andere Männer näher kennenzulernen, aus Angst, von diesen ebenfalls »ohne Ergebnis« (Ehe) sexuell ausgenutzt zu werden. Sie entwickelte geradezu eine Sexual- und Beziehungsphobie, obwohl sie sich sehr nach einer eigenen Familie sehnte. Am Ende heiratete sie einen einigermaßen anständigen und zurückhaltenden Kandidaten bereits nach wenigen Treffen, um »auf der sicheren Seite« zu sein, stellte jedoch kurz darauf fest, dass sie im Zusammenleben überhaupt nicht kompatibel waren. Die Schuld für ihre überhastete, gescheiterte Ehe gibt die Frau letztlich ihrer vorehelichen sexuellen Erfahrung, die sie »verdorben« hätte (Guan 2012: 47-56). Dies wird damit erklärt, dass Frauen sich die »perfekte Liebe« (wanmei ai'qing) wünschen, zu welcher eben auch ein »makelloser« jungfräulicher Körper und Geist gehöre (Bo 2012: 120). Tatsächlich geschehen vier Fünftel der weiblichen vorehelichen Sexualkontakte erst im konkreten Hinblick auf die bevorstehende Hochzeit und neun Zehntel aller Frauen heiraten dann in der Tat auch ihren ersten Sexualpartner. Nur in 6,5% der Fälle geht die Beziehung ohne Trauschein auseinander (Pan/Huang 2013: 128). Die Ratgeber unterstützen trotz Forderungen nach weiblicher Emanzipation den Status quo, indem sie konstatieren, dass heute zwar fast die Hälfte aller Beziehungen scheitere, aber es sei immer noch besser in der Ehe zu scheitern als in einer nicht-institutionalisierten Beziehung, denn »[d]ass eine geschiedene Frau keine Jungfrau mehr ist, ist für jedermann verständlich und normal. Man braucht sich nichts dabei denken. Aber wenn eine nicht verheiratete Frau keine Jungfrau mehr ist, hinterlässt das bei den Leuten ein ungutes Gefühl« (Bo 2012: 119). Daher schrecken auch viele der von Wu Shuping befragten Singles laut Eigenaussage von vor- und außerehelichen sexuellen Annäherungen vehement zurück. Oftmals wird berichtet, dass Frauen sich nach sexuellem Kontakt außerhalb der Ehe oder eheähnlichen Langzeibeziehungen als »beschmutzt« fühlen und ihre Ehre und Würde als verloren ansehen. Dies führe zu einem verminderten Selbstbewusstsein, wodurch auch künftige Entscheidungen des Privatlebens negativ beeinträchtigt würden. So erklärt Pan Suiming auch den Befund

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seiner Untersuchung, dass Ehen, in denen bereits vor der Eheschließung sexueller Austausch stattgefunden habe, statistisch gesehen gewalttätiger und unharmonischer seien als »jungfräuliche«, damit, dass sich die Frau durch den Ehrverlust oftmals selbst als »wertlos« empfinde und daher bei einen offensichtlich unpassenden oder gewalttätigen Partner bleibe oder aber der Mann den Respekt vor der Frau verliere, da sie »leicht zu haben« sei (Pan et al. 2004: 144f.). Dies lässt auf eine sehr konservative, traditionell beeinflusste Vorstellung einer mit einer Doppelmoral belegten Sexualität schließen: Während sexuelle Intimität bei Frauen deren sozialen »Wert« schmälert, behauptet sich umgekehrt ein inverses Konzept des sexuell erfahrenen Mannes, dessen sexuelle Potenz und Erfolg bei Frauen sich auch positiv auf seinen sozialen Status auswirkt: »Sex consumption becomes a crucial criterion to mark men’s social status when men compete among themselves. […] Thus, sex consumption is part of the necessary process for achieving recognition and respect from other men.« (Zheng 2009: 144) Möglichst viele Eroberungen deuten in dieser Lesart nicht nur auf kumulierten Erfahrungsschatz hin, sondern sind auch ein Indiz für die soziale und ökonomische Leistungsfähigkeit des Mannes, der Frauen offensichtlich dazu verlocken konnte, sich ihm hinzugeben und danach auch für entsprechende Kompensation sorgen konnte. Die männliche Sexualität wird aufgrund ihrer vermeintlichen stärkeren Triebhaftigkeit also teilweise vom institutionalisierten Rahmen befreit, indem Männern auch eine rein auf die Lustbefriedigung ausgelegte Sexualität zugestanden wird. Bei Frauen wird ähnliches Verhalten jedoch mit einem negativen Tabu belegt, indem für Frauen die unbedingte Verbindung von Liebe und Sexualität als »von Natur aus« gesetzt angesehen wird, wobei das Konzept von Liebe in diesem Fall auch den Wunsch nach einer monogamen, durch Heirat institutionalisierten Partnerschaft impliziert wie bereits Harriet Evans konstatiert hat: »Female sexual desire outside the boundaries of marriage are commonly categorized as a sign of some physical or mental abnormality.« (Evans 1997: 49) Frauen geben sich nur »aus Liebe« dem Mann körperlich hin, während dieser durch Sexualität seine körperlichen Bedürfnisse und den Wunsch nach Selbstbestätigung und Eroberung stillt. Dennoch wird trotz dieser ungleichen Ausgangsvoraussetzungen erwartet, dass der Mann im Anschluss die soziale »Verantwortung«, die aus dem sexuellen Akt resultiert, übernimmt und die Sexualpartnerin ehelicht oder anderweitig entschädigt. Dies zeigt sich unter anderem an der Erwartungshaltung des weiblichen Parts, nachdem dieser sich dem Mann »(hin)gegeben« hat (»wo ba wo jiao gei ni le«). Ergänzt wird dies oftmals mit der Feststellung, dass die Frau nun dem Mann »(an)gehöre« (»wo jiu shi ni de ren«). Allein diese verbalen Konstruktionen verweisen bereits auf den – zumin-

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dest von weiblicher Seite – anscheinend unauflösbaren Kausalzusammenhang zwischen Sexualität und Ehe, wie er in den Ratgebern und vielen andern Populärmedien immer noch propagiert wird, indem die weibliche Sexualität als »Geschenk« oder »Opfer« an den Mann stilisiert wird, für den dadurch ein reziproker Handlungsbedarf entsteht. Weibliche Sexualität ist daher trotz Popularisierung als biologisch-körperlicher Vorgang immer noch ein hochgradig sozial besetzter Akt und nicht Selbstzweck, wie es einer befreiten individuellen Sexualität per definitionem zukommen würde. Das lässt wiederum Zweifel am Konzept der individuellen Geschlechtsliebe, wie sie das Ideal der romantischen Liebe voraussetzt, aufkommen; denn diese beinhaltet nicht nur eine emotionale Übereinkunft autonomer Individuen, sondern auch einen sexuellen Umgang, der sich nach individuellen moralischen und körperlichen Wünschen bemisst und das persönliche Lustempfinden in den Vordergrund stellt. Auch die Frauenratgeber stellen keine Ausnahme dar und verorten sich in diesem gesellschaftlichen Normativ. Dies wird schon allein dadurch deutlich, dass weibliche Sexualität eigentlich nur im Bezug auf männliche sexuelle Bedürfnisse zur Sprache kommt. Keiner der untersuchten Ratgeber widmet sich separat der Entdeckung und Befriedigung weiblicher Lust, sondern thematisiert Sexualität nur im Kontext von männlichem Sexualverhalten und dessen Auswirkungen auf das Leben und den Status von Frauen. Weibliche Sexualität an sich wird nicht diskutiert. Eigenes Vergnügen scheint völlig uninteressant, vielmehr geht es hauptsächlich darum, die männliche Sexualität zu verstehen, um mit ihr entsprechend umgehen zu können – denn die männliche Sexualität, als aktiv und aggressiv beschrieben, wird für die Frau zumeist als bedrohlich dargestellt, was entsprechende »Schutzmaßnahmen« empfehlenswert macht.

»T IERE DER UNTEREN K ÖRPERHÄLFTE «: G ESCHLECHTERROLLEN IN DER S EXUALITÄT Im Vergleich zur Idealisierung der weiblichen Sexualität wird männliche Sexualität in chinesischen Frauenratgebern in ein denkbar schlechtes Licht gerückt. Während die westlichen Sexualaufklärungsratgeber der 1960er und 70er Jahre das geschlechtliche Gegenüber als ein spannendes natürliches Wunderwerk schildern, das es zu entdecken gilt, zeichnen die aktuellen chinesischen Frauenratgeber eher ein desillusionierendes bis erschreckendes Bild vom faulen, gefühllosen, untreuen Mann. Dabei bedient sich der Ratgerberdiskurs seiner »Expertenposition«, von der aus es so erscheint, als ob ein gut gehütetes Geheimnis der Männer aufgedeckt würde, das vor allem die Schwachstellen und negativen

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Seiten des männlichen Denkens offenbart und somit der Leserin eine »Waffe« in die Hand gibt, aufgrund dieses neuen Wissensschatzes durch entsprechend korrigiertes Handeln Vorteile aus der Geschlechterbeziehung zu ziehen bzw. ihre Situation zumindest realistisch (d.h. desillusioniert) einschätzen zu können. So werden beispielsweise Männer als »Tiere der unteren Körperhälfte« (xiabanshen dongwu) und als »Lüstlinge« (haose zhi tu) charakterisiert (Feng 2011: 10, Xi 2010: 115). Ein Nichtausleben dieses natürlichen Triebes führe laut ihrer Meinung zu physischen und psychischen Erkrankungen des Mannes (Yan 2012: 176). Auch die Enttabuisierung der Sexualität als normale Beschäftigung zwischen Mann und Frau und der damit einhergehenden Popularisierung von Verhütungsmitteln, Sex-Toys, Pornographie etc. wird nur peripher als Zeichen einer generellen sexuellen Liberalisierung, mehr jedoch als gesellschaftliche Anerkennung der Notwendigkeit der männlichen Triebbefriedigung gewertet, weshalb vor allem Pornographie vor allem nur von Männern genutzt werden soll (ebd.). Der animalische Trieb, der im Mann noch in seiner vorzivilisatorischen Manifestation hervorbricht, führt zudem zu irrationalen und unvernünftigen Handlungen wie u.a. Seitensprüngen. Daher sei solches Verhalten kein böser Wille, sondern unabdingbar im natürlichen Wesen (benxing, tianxing) des Mannes verankert – es liege quasi in seiner Natur (Xi 2010: 116). Frauen dagegen verfügten über ein minder ausgeprägtes Sexualbedürfnis und ließen sexuelle Handlungen oftmals nur »über sich ergehen« und legten stattdessen mehr Wert auf emotionale Bindungen. Dies wird als naturgegebene, geschlechtsspezifische Charakterisierung konstatiert und in dichotomischer Weise konstruiert: so »bedingen sich die Liebe zur Schönheit der Frauen und die Liebe zu attraktiven Frauen der Männer gegenseitig. Weil Männer attraktive Frauen lieben, werden die Frauen noch schöner und sexyer, weil Frauen die Schönheit lieben, erfahren die Augen der Männer erst Befriedigung« (ebd.: 118). Durch diese Naturalisierung von sexuellem Verhalten und der daraus abgeleiteten Konstruktion einer binären geschlechtsspezifischen sexuellen Identität werden auch diverse alltägliche sexuelle Praktiken wie z.B. der Konsum von Pornographie oder Prostitution von Männern erklärt, die damit nur ein »notwendiges biologisch bedingtes Bedürfnis« befriedigten (Feng 2010: 11). Da Frauen von Natur aus nicht über einen vergleichbaren Sexualtrieb verfügen, seien sie von diesen Praktiken ausgeschlossen bzw. frönten sie diesen, würden sie als abnormal und pervers verurteilt, während dies für Männer durchaus legitim sei. Generell scheint Sexualität laut Beschreibungen der Ratgeber das Verhalten des Mannes stark zu beeinflussen. So würden Männer in all ihrem Handeln nur von ihren biologisch angelegten Triebbedürfnissen gesteuert und stellten alles

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unter den Imperativ ihrer Befriedigung: sie würden sich mit unangenehmen und unpassenden Frauen abgeben, dabei die Partnerin vergessen, lügen und betrügen, nur um sexuelle Befriedigung zu finden. Daher sollen sich Frauen keine Illusionen über die Treue ihres Partners machen: wer nur sexuellen Kontakt mit seiner Frau habe, der habe einfach noch keine anderen Gelegenheiten gefunden. Denn »Männer sind wie wilde Tiere, mit gierigem Blick sind sie immer auf der Pirsch nach ihren Opfern« (Feng 2012: 112). Männer werden als durch und durch triebgesteuerte Wesen dargestellt, deren rationale Denkfähigkeit im Widerspruch zum Hormondrang steht und phasenweise den Kürzeren zieht. So hegten Männer ständig unzüchtige Gedanken, suchten im Internet nach Sex und Pornographie, setzten auf der Straße extra die Sonnenbrille auf, um andere Frauen unverhohlen anstarren zu können und schauten im Büro den Kolleginnen hinterher. Doch Frauen sollten sich deswegen keine Sorgen machen, denn dies sei die »geistige Nahrung« (qingshen shiliang) der Männer, die sie unbedingt benötigten (Xi 2010: 117). In Zuge dieser Skizzierung des primitiven, vorzivilisatorischen Mannes, der oftmals metaphorisch auf eine Stufe mit diversen Exemplaren der niederen Tierwelt gestellt wird, wird auch eine Spaltung der Geschlechter entlang der Kultur-Natur-Dichotomie vorgenommen. Anders jedoch als in traditionellen historischen Sichtweisen, wo der Mann der Sphäre der Kultur und die Frau der Sphäre der Natur zugeordnet wurden, hat sich das Verhältnis nun umgekehrt. Bedingt durch die konfuzianische Trennung der Geschlechter in unterschiedliche Felder des Lebens steht im traditionellen Kontext der Mann als Repräsentant von Bildung, Selbstkultivierung, Selbstbeherrschung und Vertreter der öffentlichen Gesellschaftsstrukturen, während die Frau auf den häuslichen Bereich beschränkt ist, wo sie zwar mit ihren Tätigkeiten als Hauswirtschafterin und Mutter den Mann in seiner Rolle unterstützt, jedoch keinen eigenen Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung leistet. Die Frau symbolisierte somit die natürliche Sphäre jenseits auferlegter zivilisatorischer Fesseln (vgl. Ko 2001). Daher wurden ihr Eigenschaften wie Irrationalität, Gefühlsbetontheit, Impulsivität und Leidenschaftlichkeit zugeschrieben. Der Konfuzianismus gibt dem Mann den Auftrag, seine Frau »unter Kontrolle« zu bringen und das Heim zu »regieren« (zhi jia) als erste Voraussetzung für die Stabilität von Staat und Gesellschaft. Hierfür waren auch zahlreiche Handbücher im Umlauf (jiaxun), die – neben mehr oder minder expliziten pornographischen Details – auch hilfreiche Anweisungen im Umgang mit der dem rationalen Verstandesdenken nicht zugänglichen Frau gaben und die starr einzuhaltende Rolle beider Geschlechter noch einmal verdeutlichten. Heute richten sich die Ratgeber an die weibliche Leserschaft und skizzieren den Mann als alles andere als ein moralisches Vorbild, dem sich die Frau auf-

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grund seiner zivilisatorischen Überlegenheit unterzuordnen hat. Im Gegenteil, der Mann wird als moralisch inferior beschrieben, aufgrund seiner Triebgebundenheit quasi auf einer Entwicklungsstufe wie Tiere, während nun die Frau in der Rolle der Kulturträgerin gesehen wird, die körperliche Regungen in geistige transponiert hat. Durch die Trennung in Liebe und Sexualität als zwei unterschiedliche, moralisch kodierte Sphären erfolgt eine Umkehrung der traditionellen Sicht des überlegenen Mannes. Gerade dadurch, dass der Mann seinen Hormonen ausgeliefert sei, werde verhindert, dass er eine höhere zivilisatorische Stufe erreiche, da er gesellschaftliche Institutionen und Strukturen immer wieder mit seinem animalisch-primitiven Verhalten infrage stelle, z.B. die Institution der Ehe durch Fremdgehen. Es liege daher an der Frau, diese zivilisatorischen Errungenschaften zu wahren und die Energien des Mannes zu bündeln, so dass sie auch auf gesellschaftlich relevante Entwicklungsprojekte gelenkt werden können. Auch in der Frage, welche Position Mann und Frau in der Orchestrierung des Sexualaktes zukommt, kommen Naturalisierungen zum Tragen. So wird beispielsweise das sexuelle Umwerben einer Partnerin oder das körperliche Besitzverlangen des Mannes als hormonell gesteuerte »biologische Notwendigkeit« mit Rekurrenz auf ähnliches Balzverhalten unter bestimmten Tierarten erklärt und legitimiert (Feng 2012: 94). Daher sei es ganz »natürlich«, dass Männer Frauen als ihren »persönlichen Besitz« (ziji suyu pin) betrachteten und nach ständig neuen Eroberungen zur Erweiterung ihrer Inbesitznahme strebten. Umgekehrt beweise die Frau durch die Duldung dieser – vor allem körperlichen – Inbesitznahme durch den Mann diesem ihre Liebe. Dies dürfe jedoch auf nur passive Weise passieren, da eine sexuell aktive und aggressive Frau Männer sonst nur verschrecke: »Wenn Du durch Berührungen direkt das sexuelle Interesse des Mannes erweckst und ansprichst, dann ist das ein Verhalten, das die Tradition umstürzt und es erschrickt den Mann so, dass er gleich wegläuft.« (Ebd.: 133) Generell solle die Frau passiv auf das Werben des Mannes warten und nicht selbst aktiv den ersten Schritt tun. Hierfür wird wiederum eine biologische Metapher verwendet: die Eizelle ruhe passiv, während die Spermien untereinander wetteifern, so dass nur der schnellste und beste Kandidat Sieger werde (Wang 2012: 85). Sexuell aktive und fordernde (haose) Frauen müssten sich ebenso wie Frauen, die stattdessen aufgrund feministischer Ideen zu weiblicher Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sehr offensiv und locker mit sexuellem Kontakt mit dem anderen Geschlecht umgingen und eine zu leichte »Beute« für Männer seien, in Gefahr sehen, am Ende allein zu bleiben und keinen Heiratskandidaten zu finden, da ihre sexuelle Bereitschaft von den Männern nur

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»ausgenutzt« würde, ohne damit bei diesen irgendwelche ernsthafte Absichten auszulösen (ebd.: 110). Da die Frau ja aber zu sexueller Passivität gezwungen ist und allzu offensive Avancen eher als Affront aufgefasst werden, bleiben ihr für die Verführung und Befriedigung des Ehemanns zwecks Sicherung der Ehestabilität erstaunlich eigenwillige Mittel: Anstatt sich in technischen Details von Sexualpraktiken oder der Herstellung von Sexyness zu ergehen, greifen die Ratgeber an dieser Stelle auf die Konstruktion und Perfektion von Geschlechtscharakteren zurück. Allein die der Frau von Natur aus eigene Femininität sei das beste Aphrodisiakum für den Mann: »Als Frau hat man von Natur aus (benshen) seine eigenen Geschlechtsbesonderheiten. Wenn man diese Geschlechtsbesonderheiten herausstellt, dann ist das auch eine grenzenlose sexuelle Attraktivität.« (Ebd.: 124) Diese sexuelle Anziehungskraft besteht aus einer »geschlechterspezifischen Attraktivität« (xingbie meili), welche sich unter anderem aus der Betonung von typisch »weiblichen« Eigenschaften wie Sanftheit, Schwäche, Zerbrechlichkeit, Schüchternheit etc. ergibt. Diese sind jedoch an und für sich nicht sexuell konnotiert. Anstatt mit körperlichen Reizen oder heißblütiger Leidenschaft solle die Frau in der Phase der Umwerbung nur ihre Weiblichkeit, Attraktivität und sanfte Schönheit als Lockmittel einsetzen und dadurch den Beschützerinstinkt und mitfühlende Liebe beim Mann erregen (Wang 2012: 86). Damit wird trotz der Überantwortung der Verantwortung für die Befriedigung des Sexualtriebes des Mannes das Konstrukt der sexuellen Passivität der Frau bewahrt, indem die Frau nicht aktiv sexuelle Handlungen initiieren oder vorantreiben müsse, sondern es genüge, sich durch nicht eindeutig sexuell konnotierte Verhaltensweisen zwar einerseits als begehrliches Objekt für den Mann darzustellen, andererseits jedoch durch die Uneindeutigkeit der Gesten zugleich auch den Anstand zu wahren.

G UTER J OB ,

GUTER S EX ? Z USAMMENHÄNGE ZWISCHEN SOZIOÖKONOMISCHER S TELLUNG UND DEM S EXUALLEBEN

Mit dem Aufgreifen relativ konservativer Vorstellungen zur Sexualität – wie weiblicher Passivität und männlicher Triebgesteuertheit – positionieren sich die Ratgeberbücher im Grunde zurückhaltender als sich der Umgang mit Sexualität des Zielpublikums normalerweise tatsächlich gestaltet. Denn laut Studien der chinesischen Sexualwissenschaft sind es gerade die jungen Mitglieder der gehobenen Mittelschicht, die dem Konzept des »sex for pleasure« zur gesamtgesellschaftlichen Verbreitung und Anerkennung verhelfen. Bedingt durch soziale und geographische Mobilität, den Zugang zu ökonomischen und kulturellen Ressour-

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cen sowie einem breiteren Wissenshintergrund und besserer Aufgeklärtheit, wird der Umgang mit Sexualität ebenfalls zum schichtspezifischen Phänomen, was somit auch Eigenheiten und Klischees der neuen Mittelschicht widerspiegelt. Während künftige männliche Mitglieder der Mittel- und Oberschicht bereits eine frühere sexuelle Reife erlangen und überdurchschnittlich früh Kontakt mit ihrem eigenen und anderen Geschlecht machen, hinken die weiblichen Vertreterinnen in diesem Bereich altersmäßig hinterher. Hier bestätigt sich das gesellschaftliche Klischee des erfolgreichen Mannes, der seine ökonomische Potenz auch im sexuellen Bereich zeigt, und dem wohlgebildeten »Fräulein« (shunü), welches Wert auf Bildung, Anstand und tugendhaftes Benehmen legt. Der soziale Status wirkt sich in der Tat sehr deutlich auf das sexuelle Leben aus: je höher Status und Einkommen, desto befriedigender das Sexleben (Oberschicht 72%, Unterschicht 65%) und desto größer auch die emotionale Verbundenheit der beiden Partner. Es wird häufiger geküsst (Oberschicht 57,7%, Unterschicht 44,1%), mehr berührt und gestreichelt (Oberschicht 36%, Unterschicht 26,9%) und sich über Vorlieben ausgetauscht (Oberschicht 52,9%, Unterschicht 34,3%), mehrere und exotischere Stellungen und Praktiken ausprobiert und generell häufiger Geschlechtsverkehr praktiziert (zweimal pro Woche: Oberschicht 59,6%, Unterschicht 33,3%). Selbst der Orgasmus scheint schichtabhängig: 27,1% der Paare der unteren Schicht erreichen jedes Mal den Orgasmus, während es in der Oberschicht 41,7% der Paare sind (alle Angaben aus Pan/Huang 2013: 131-137; keine genaueren Angaben zur Kriterien der Schichtzuordnung). Insgesamt ist also festzustellen, dass mit dem ökonomischen und sozialen Aufstieg auch eine breitere sexuelle Aufgeklärtheit sowie Experimentierfreude und Neugierde einhergeht. Gleichzeitig legen Mitglieder gehobener Schichten offenbar auch mehr Wert auf ein erfülltes Sexualleben. So halten rund 85% aller befragten Männer der Oberschicht Sex für sehr wichtig, während er für nur 75% der Männer der Unterschicht diesen Stellenwert einnimmt. Noch deutlicher wird der Unterschied beim Bildungsniveau: während nur 64,1% der Männer mit Grundschulbildung dem Sexualleben Wichtigkeit zumaßen, taten dies 90,3% der Männer, die einen höheren Ausbildungsgrad als Realschule (dazhuan) hatten (ebd.: 54f.). Je höher das Einkommen und die ökonomischen Ressourcen sind, desto mehr erwarten Männer auch körperliche Zuwendung und technische Versiertheit von ihren Partnerinnen, mehr Phantasiereichtum und mehr Engagement. Pan schlüsselte die männliche sexuelle Zufriedenheit sogar nach Einkommen auf: Männer mit über 1.300 Yuan Monatseinkommen werden von ihrer Frau häufig berührt und an den Geschlechtsorganen angefasst, unter 900 Yuan Monatsein-

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kommen dagegen nie. Ebenso verhält es sich mit den Sexualstellungen und Praktiken und dem Küssen. Nicht verwunderlich ist daher also, dass Männer, die mehr als 1.750 Yuan monatlich verdienen, ihre Frau »gut im Bett« finden, dies allerdings die meisten Männer mit unter 1.000 Yuan Verdienst nicht bestätigen können (Pan et al 2004: 368ff.). Damit bestätigt sich auch die Erkenntnis von James Farrer, dass (männliche) Sexualität nur und vor allem im Zusammenhang mit ökonomischer Potenz hergestellt werden kann: »In the ironic moral universe ruled by this immoral ›god‹ [= Geld, A.D.], money gives men sexual potency and women a temptation to sell their sex. To have no money or to make no money is to be excluded from this sexual economy altogether, to be degendered and desexed.« (Farrer 2002: 89)

Damit wird eine deutliche Verbindung zwischen Sexualität und Ökonomie auch jenseits der sonst üblichen Verknüpfungen beider Sphären im Bereich der Prostitution hergestellt. Wie die zitierten Studien beweisen, spielen ökonomische Bedingungen auch in der Beziehung und Ehe eine markante Rolle. Jedoch wäre es zu kurz gedacht, eine direkte Kausalverbindung zwischen Bankkonto und Liebespraxis herzustellen. Vielmehr resultieren diese Umfrageergebnisse aus der Etablierung einer konsumbasierten Lustkultur, die – vom romantischen Dating bis zum exklusiven Sexspielzeug – spezifische Inszenierungen von Sexualität nach Schichtzugehörigkeit und Zugriff zu Ressourcen befördert. Denn sowohl Dating als auch spätere Inszenierungen von Leidenschaft und Lust bedürfen eines gewissen finanziellen Investments, um zu gelingen. So ist dementsprechend der relativ liberale sexuelle Habitus der emanzipierten Chinesin nur unter bestimmten sozialen und vor allem ökonomischen Voraussetzungen zu verwirklichen. Neben der individuellen lebensgeschichtlichen Entwicklungsphase und der Generationenzugehörigkeit hat insbesondere die Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu Einfluss auf die Ausprägung des Geschlechtslebens. So müssen in China beispielsweise junge Männer und Frauen aus ärmeren Verhältnissen die Gelegenheit der Kontaktaufnahme in öffentlichen Diskotheken, Tanzlokalen, Hotels und Bars nutzen, um der sozialen Kontrolle von Familie und Nachbarschaft in der beengten Wohnsituation zu entgehen. Da es keinen privaten Rückzugsort gibt, weil die Wohnung mit Eltern und anderen Angehörigen geteilt werden muss, bleiben zur Knüpfung amouröser Bekanntschaften nur öffentlich zugängliche Orte. Dementsprechend dürftig gestalten sich die Inszenierungen von Romantik und Leidenschaft. Die upper class hat zwar die Möglichkeiten der Errichtung einer häuslichen Intimsphäre, doch sind auch hier die lustfördernden Szenarien von Liebe und Romantik oftmals mit extensivem Warenkonsum ge-

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koppelt. Stehen die ökonomischen Mittel zur Ausgestaltung der (vor allem medial konstruierten) Skripte von Liebe, Leidenschaft und Sexualität zur Verfügung (z.B. exklusive Candle-Light-Dinner und andere »romantische« Aktivitäten und Geschenke), so können diese öfter und umfassender ausgelebt werden und bescheren damit letztlich ein erfüllteres Sexualleben. Diese neue sexuelle Offenheit beschränkt sich aber nicht nur auf Männer. Auch wenn Frauen insgesamt im Vergleich zu Männern noch zurückhaltender sind, so stieg das Bewusstsein für weibliche Sexualität und weibliche Lusterfahrungen. In den Medien und in Internetforen werden die gehobenen Ansprüche der Frauen thematisiert, die sich nun im Zuge der Erstarkung eines eigenen sexuellen Selbstbewusstseins auch zunehmend sexuelle Befriedigung von einem sexuell versierten Partner wünschen. Dabei gefallen sich gerade wohlsituierte, urbane White-Collar-Frauen und Fashion-Girls in der Inszenierung des »Bad girls«, das – gerne öffentlichkeitswirksam wie die wohl international berühmtesten Vertreterinnen Mu Zimei und Wei Hui – mit seiner sexuellen Freizügigkeit kokettiert (vgl. Farrer 2002 und 2007). Als Pendant zum erstmals im mondänen Shanghai während der Republikzeit populär gewordenen »Playboy« (xiaokai), der sich ab den 1980er Jahren wieder als sozialer Typus in den Metropolen etablierte, sieht sich das Bad girl als moderner urbaner Vamp, der seine emotionalen Verletzungen der Vergangenheit hinter sexueller Freizügigkeit und Burschikosität versteckt und gesellschaftlich mit der Umkehrung etablierter Geschlechternormen schockiert. Die jungen femmes fatales definieren sich aufgrund einer fehlenden chinesischen Bezeichnung über Antonyme: Einerseits bezeichnen sie sich als »mutig« und »unerschrocken« (da danzi), andererseits aber auch als »schlecht« und »verdorben« (huai), was in Kombination sowohl die progressive Absicht der Befreiung aus sozialen Beschränkungen, als auch die Devianz dieser Absichten – und damit die Bestätigung der Normen – impliziert. Katrien Jacobs stellte fest, dass gerade Frauen, die auf online Casual-Sex-Seiten aktiv waren, sich virtuell in einer »›whore-like‹ or ›bad girl‹ femininity« repräsentierten (Jacobs 2012: 140f.). Sie geht davon aus, dass Frauen hauptsächlich die selbstobjektivierenden Klischees männlicher pornographischer Sexualität übernehmen, um auf Männer attraktiver zu wirken. Dennoch berichtet sie auch davon, dass die Schaffung einer zweiten, virtuellen »bad girl«-Identität Frauen dazu ermutigt neue sexuelle Räume zu erkunden, indem Grenzüberschreitungen spielerisch ausgetestet werden können. Dennoch erfolgt die Zurschaustellung von männlichen Verhaltensmustern wie das provokante Flirten und Verführen sowie die Übernahme des aktiven und finanzkräftigen Parts in der Beziehung nicht mit der Absicht, durch diese transgressiven Taten bestehende Rollen und Verhältnisse infrage zu stellen oder

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die Grenzen des sozial Tolerierten in der realen Welt zu erweitern, sie werden explizit als »Spiel außerhalb der Regeln« verstanden und weder von den Akteuren und Akteurinnen selbst noch von sozialen Beobachtern als ernsthafte Lebensalternative angesehen. Es sind vielmehr »narzisstische Abspielungen« (Baudrillard 1985: 395), die zugleich in ironischer Weise mit der traditionellen chinesischen Orthodoxie von Heterosexualität und Ehe spielen. Die Inszenierungen der chinesischen »bad girls« sieht daher eher als sexuelles self-fashioning, die Kosmetik der als ungenügend empfundenen Existenz, ist ein Mittel der Identitätsfindung und -stabilisierung in Zeiten kultureller Unsicherheit (vgl. Bolz 2004: 235). Die sexuelle Offenheit und emotionale Distanz kumuliert in einer »Coolheit«, die als Strategie in der neuen wettbewerbsausgerichteten Datingkultur der Marktgesellschaft augenscheinlich gut funktioniert (vgl. Farrer 2002). Doch auch jenseits von avantgardistischer Sinnsuche und postmoderner Lebensgestaltung bringt der gestiegene Stellenwert ganz neue Herausforderungen für Frauen mit sich: Denn mit den Anforderungen steigt zugleich auch die Möglichkeit der Unzufriedenheit. In diesem Falle sind Männer der gehobenen Schichten schneller bereit sich anderen Möglichkeiten der Lustbefriedigung zuzuwenden. So haben bereits 41% der Männer der Oberschicht mehr als eine Sexpartnerin gehabt, während dies nur 20% der Männer der Unterschicht von sich behaupten können. Zudem nahmen bereits 17% der Oberschicht die Dienste einer Prostituierten in Anspruch, während es in der Unterschicht nur 4% waren. Ebenso konsumierten mehr als doppelt so viele der befragten Männer gehobener Schichten in letzter Zeit Pornographie (63%), sexuell konnotierte Massagen (26%) und Poledance (42%) im Vergleich zu Männern der unteren Schichten (35%; 8%; 13%) (Pan/Huang 2013: 137). Dies setzt die Ehefrauen unter Leistungsdruck. So hat Pan Suiming herausgefunden, dass nach dem Besuch bei einer Prostituierten die Zufriedenheit der Männer mit dem ehelichen Sex um ganze 31% abnimmt (dauerhafte Geliebte: 18%; One-night-stand: 21%) (Pan et al 2004: 205). Gleichzeitig häufen sich durch breitere Akzeptanz von vor- und außerehelichen sexuellen Beziehungen die Möglichkeiten des Partnerwechsels. Dadurch erfährt die weibliche Sexualität einerseits zwar eine Liberalisierung, andererseits aber auch eine Problematisierung. So stellte Pan im Rahmen seiner Befragung auch fest, dass es sich bei jenen 40,4% Frauen, die sich schon einmal unfreiwillig oder gezwungenermaßen auf sexuelle Handlungen einließen, vor allem um junge, urbane Frauen mit hoher Bildung und hohem Einkommen handelt. Er erklärt dies damit, dass nur gebildete, aufgeklärte Frauen mittlerweile ein Bewusstsein zwischen Zwang und Freiwilligkeit in der Sexualität entwickelt haben und daher sensibler darauf reagieren. Gleichzeitig wissen sie aber auch

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mehr um den »Leistungsdruck« der Frau zur Herstellung sexueller Harmonie in der Partnerschaft und lassen sich daher dennoch öfter auf unliebsame Handlungen ein und täuschen auch häufiger den Orgasmus vor. Damit wird das »Sex-Glück« (xingfu), eine homophone Wortbildung, insbesondere in sozial und ökonomisch gehobenen Haushalten immer größer geschrieben. Entsprechende Aufklärung und Verbesserungstipps liefern hierbei vor allem diverse Internetforen, Zeitschriften und Sexualratgeber. Die Frauenratgeber halten sich damit vergleichsweise zurück, betonen allerdings mit dem Aufgreifen des Themas dennoch die Wichtigkeit einer »korrekten« Sexualität für den Bestand der Beziehung und das eigene Glück. Insbesondere jene Ratgeber, die sich dem glücklichen Fortbestand der Ehe widmen, empfehlen ihren Leserinnen dem Ehemann sexuelle Wünsche eigeninitiativ zu erfüllen.

Nachwort: Weiblichkeitsregime oder Selbstermächtigungsstrategien?

Geht man nach diesem wertneutralen, empirisch ausgerichteten Rekonstruktionsversuch, der nah am Material orientiert gewesen ist, einen Schritt zurück und versucht die zentralen Befunde der Analyse aus der Perspektive eines westlichen Beobachters oder Beobachterin noch einmal Revue passieren zu lassen, dürfte ein gewisses Irritationspotential wohl nicht ausbleiben. Was einem solchen Beobachter an chinesischen Frauenratgebern nämlich zuallererst ins Auge springen würde, wäre etwas, was man mit Jürgen Habermas »die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« nennen könnte: die Gleichzeitigkeit nämlich von einerseits antiquiert und revisionistisch anmutenden traditionellen Geschlechterbildern und Rollenklischees, andererseits aber auch ein durchaus (post-)modern zu nennendes Plädoyer für weibliche Emanzipation und Ermächtigung. Es fällt schwer, das darin gezeichnete Geschlechterbild einer eindeutigen theoretischen Quelle oder ideellen und intellektuellen Strömung zuzuordnen. Es ist weder exklusiv konfuzianisch, noch feministisch fundiert – es ist vielmehr ein Hybrid mit Elementen unterschiedlichster geistesgeschichtlicher, soziologischer und kultureller Ideen. Die damit explizit wie implizit formulierten Thesen wirken in ihrem unbedingten Pragmatismus und Nutzenorientierung sowie ihrer Ökonomisierung des Privatlebens und des Selbst oftmals recht radikal und instrumentell, stellen sie zwar das Individuum in den Vordergrund, muten doch zugleich auch entindividualisierend an. Liberal orientierte Beobachter/innen mögen darin ein bedrohtes Individuum sehen, welches – im Sinne Foucaults – der politischen und gesellschaftlichen Überwachung und Kontrolle ausgesetzt und unterworfen ist und vor allem lediglich durch die Einhaltung eines rigide festgelegten sozialen Normenkanons zum Individuum erklärt wird. Auch die feministisch ausgerichtete kritische Gesellschaftsphilosophie insistiert in ihrer Programmatik auf der Autonomie des Subjekts, welche sich vor allem in der Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum Voluntarismus nach selbst ge-

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wählten Prinzipien sowie in der Bereitschaft vernünftiger Verantwortlichkeit für eigene Handlungen äußert (Benhabib 1993: 13). Für diese dürften die in den chinesischen Frauenratgebern vorgeschlagenen Handlungsmuster ein beträchtliches Skandalon darstellen. In solchen Fällen schiebt die kulturwissenschaftliche Frauenforschung allzu gerne die Schuld auf resistente, stark traditionell geprägte Familien- und Gesellschaftsstrukturen und moniert gerade in Bezug auf China in einer Art resignativer Geste die »ausbleibende« Revolution der weiblichen Emanzipation (Wolf 1985) aufgrund konfuzianischer Dogmen und politischer Restriktionen. Die vorliegende Arbeit entstand durchaus im Bewusstsein dieser in der wissenschaftlichen Forschung häufig vertretenen Thesen, die zweifellos auch im Bezug auf die untersuchte Thematik Anwendung finden könnten, doch versucht sie gerade jene (moralisch) wertende Ebene auszuklammern, um die Diskussion über bereits ausführlich behandelte Problematiken wie der bloßen quantitativen Konstatierung von Geschlechterdiskrimierung und -ungleichheiten etc. hinauszubringen. Dementsprechend erwies sich die Theoriewahl als zuträglich, da die wissenssoziologischen Diskursanalyse ausschließlich die Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene der Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteure sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Prozesse fokussiert und freilegt, jedoch keine Wertung im Sinne postmoderner »Ismus«-Theorien vornimmt. Vielmehr geht es darum, Praktiken zu identifizieren und zu verstehen, die soziale Ordnungen erzeugen, stabilisieren und transformieren, um Prozesse institutioneller Wissensproduktion und öffentlicher Wissenszirkulation besser einordnen zu können. Kurz: es geht darum sich auf die Spuren der Konstruktion von sozialem »Sinn« zu begeben – und nicht den vorgefertigten »Sinn« und die Interpretationsschemata bereits einschlägig etablierter Theoreme anzulegen. Auch die Methodik der Grounded Theory hat sich als sehr hilfreich erwiesen, da sie in ihrer prinzipiellen Skepsis gegenüber »großen Theorien« auf eine induktive Verschränkung von Theorie und Praxisergebnissen abzielt und daher den Weg für neue, vom bisherigen Forschungsstand relativ unabhängige Erkenntnisse ebnet. Insofern haben sich Theorie- und Methodenwahl der Arbeit als überaus produktiv erwiesen. Anstatt also aus eurozentrischer Perspektive zur feministisch motivierten Kritik gegen die vermeintlich ungleichen Geschlechterverhältnisse und Lebenszustände von Frauen in China auszuholen, ist es ergiebiger, die Ratgeber als Beispiele einer »anderen Moderne« jenseits von eurozentrisch geprägtem Feminismus und normativ argumentierenden Gender Studies zu betrachten. Zumal die Ziele des therapeutischen Diskurses in China nicht nur weiblich sind, sondern sich der Imperativ zur Selbstoptimierung und gesellschaftlichen Normanpassung

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ebenso auch an Männer richtet, denn die auf Reziprozität angelegten Rollenmuster erwarten schließlich eine entsprechend komplementäre Reaktion. Daher sind Ratgeber für Männer fast ebenso zahlreich zu finden wie für Frauen und in ihrem Inhalt ebenso reglementierend in der Propagierung von Geschlechterrollenmustern. Dies muss bei der Beurteilung im Hinterkopf behalten werden; sie kamen hier nur angesichts des spezifischen Forschungsfokus nicht explizit zur Sprache. In meinen Augen stellen die hier vorgestellten und diskutierten Ratgeber typische Beispiele für Chinas spezifische Moderne dar: die Gleichzeitigkeit und Hybridität globaler und lokaler Denkansätze und Lebensmodelle in einer zeitlich und räumlich stark komprimierten Form. Die analysierten Bücher zeigen auf, wie Chinas Gesellschaft mit dem Einbruch der westlichen Moderne und der damit induzierten Aufholjagd im Zeitraffer umgeht und welche Effekte sich aus diesen Prozessen auf der Mikroebene ergeben. Ich erkenne in den Ausführungen weniger Indizien einer immer noch stark patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaftsstruktur, die Frauen in Rollenklischees und Normenkorsetts presst, als vielmehr schlicht und einfach die Auswirkungen der Phänomene und gesellschaftlichen Umbrüche des Neoliberalismus und der Zweiten Moderne, in der die Prinzipien der Moderne, insbesondere des Kapitalismus, sich nicht nur flächendeckend durchgesetzt, sondern sich bereits nachhaltig in die Handlungsstrukturen sozialer Akteure und Akteurinnen eingeschrieben haben. Doch dies ist jedoch nicht unbedingt ausschließlich negativ zu bewerten, wie selbst Foucault in seinem Spätwerk einsehen musste. Foucault spricht hier im Rahmen der Technologien des Selbst zugleich von der »Sorge um sich«, die das Individuum in seinem Handeln jenseits von gesellschaftlichen Vorgaben, ideologischen Maßstäben und institutionellen Rahmenbedingungen antreibt. Zwar leitet er ganz klassisch die Definition des »Subjekts« von der Wortbedeutung (»sujet« = Untertan) ab und entwirft das moderne Selbst als Untertan seiner Subjektposition, die durch Diskurse und Praktiken erzeugt wird. Die in Diskursen formulierten Subjektpositionen, Positionierungsprozesse und Identitätsschablonen führen so gesehen zu einer Formung der Subjekte durch Adaption der diskursiv-praktischen Technologien des Selbst. Doch dies ist kein einseitiger Prozess, sondern bedingt durch die historische Situiertheit und Kontingenz immer auch eine wechselseitige Konstitution von Subjektivem und Objektivem, der Abhängigkeit der Erfahrungsformen von den Modi des Wissens und Wahrsprechens, der Normativität und der Subjektkonstitution. Doch einem spezifischen historischen Subjekt-Verständnis unterworfen zu sein, bedeutet keineswegs Machtlosigkeit. Einerseits unterliegt das Subjekt in der Praxis der Subjektbildung als Prozess der »Fremdunterwerfung«, andererseits widersetzt es sich auch in der »Sorge um

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sich« und Selbstpraktik dieser in gewissem Maße (Foucault 1974, 1994). Geleitet durch das Prinzip der »Sorge um sich« als Grundlage des Handelns, wehrt es sich gegen äußere Herrschafts- und Wissensreglements, die dem eigenen Wohl zuwider laufen. Der Wandel in Foucaults Subjektverständnis in dessen Spätwerk bezieht sich darauf, dass dort neben die Subjektivierung als FremdUnterwerfung des Subjekts nunmehr auch der Modus einer Selbstbildung, eben jener »Sorge um sich« hervor tritt, durch die das Subjekt nicht nur der Fremdherrschaft unterworfen ist, sondern sich selbst mit der Adaption gewisser Techniken und Praktiken orientiert: So schreibt Foucault rückblickend: »Ich aber wurde mir mehr und mehr bewußt, daß es in allen Gesellschaften noch einen anderen Typ von Technik gibt: Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selbst transformieren. […] Nennen wir diese Techniken Technologien des Selbst. Will man die Genealogie des Subjekts in der abendländischen Zivilisation analysieren, so hat man nicht nur Techniken der Beherrschung, sondern auch Techniken des Selbst in Betracht zu ziehen.« (Foucault 1984: 35f)

Wenn also die konkreten praktischen Formen der Selbst-Regulierung zwar durch historische Wissens- und Praxisformationen vorgegeben sind, so erfolgt doch auch immer eine eigene, individuelle Sinnbesetzung, eine »eigensinnige« Interpretation und Adaption dieser Wissensbestände und gesellschaftlichen Normative zugunsten des subjektiven Vorteils. In China ist es eben jene »Sorge um sich«, um die eigenen Lebenschancen in einer zunehmend als bedrohlich und instabil wahrgenommenen Welt, die die Suche nach Beratung und den Boom des therapeutischen Diskurses befeuern. Anstelle der Hinwendung zu konventionellen Institutionen des Rates und des Beistandes wie traditionelle Medien des Rates, Familie, Freundeskreis oder politische Ideologien, werden neuerdings vor allem professionelle Angebote des therapeutischen Diskurses wie Telefonhotlines, Therapiesitzungen und psychologische Beratungen wahrgenommen, wie Ralph Frammolino in seinem Artikel zur Entdeckung der »therapeutischen Couch« in China festgestellt hat (Frammolino 2004). Dort werden ebenso wie in printmedial vermittelten nichtprofessionellen populären Ratgeberbüchern bestimmte Handlungen sowie Denkweisen als korrekt und erfolgsversprechend propagiert und deren Anwendung im praktischen Leben als Hilfestellung gegen das potentielle Versagen legitimiert. Denn sie machen die ungewiss erscheinende Zukunft gewissermaßen auch kontrollier- und steuerbar. Das Individuum ist damit nicht mehr Spielball von (staat-

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lichen) Mächten und Opfer des Schicksals, sondern Verfechter seines eigenen Glücks. Gefahren und Krisen sind zurechenbar und durch konkrete Strategien beherrschbar. In der Parallelität von Erster und Zweiter Moderne konkurriert die Industriegesellschaftsethik des Wettkampfes um einen »Platz an der Sonne« in der aufstrebenden Konsumgesellschaft auf der einen Seite mit den Ängsten und Unsicherheiten einer globalen reflexiven Moderne mit ihren Systemrisiken und dem Motto der Eigenverantwortlichkeit auf der anderen Seite. Mit der Individualisierung und der damit einhergehenden Diversifikation und Pluralisierung gesellschaftlicher Institutionen nehmen die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens zu. Im Kreuzfeuer der »endloss calls to ›do your own thing‹ or ›be all you can be‹ stream forth in every direction« (Hamann 2009: 57) kann und muss sich der und die Einzelne immer unabhängiger und eigenständiger jenseits vom brüchig gewordenen normativen, gesellschaftlichen Orientierungsrahmen bewegen. Daher gehört laut Yan Yunxiang für viele Menschen in China die ständige neue Selbsterfindung beim Erklimmen der sozialen Leiter dazu. Das Selbst unterliegt einer ständigen Neugestaltung und Anpassung sowie den Erfordernissen des Marktes: »While experiencing the radical changes in her/his life situation and biographic pattern over the last three decades, the Chinese individual has gone through an equally radical breakthrough in the subjective domain, that is, a re-formation of the self and a search for individual identity.« (Yan 2010: 504) Es wird zum unternehmerischen Selbst, zum »calculation, proactive, and self-disciplined self that is commonly found among the younger generations of Chinese labourers« (ebd.). Dies geschieht weniger aus eigenem Enthusiasmus, denn aus den Erfordernissen des Wettbewerbs nach Marktbedingungen. Mit der Herauslösung aus größeren institutionellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen als Merkmal der Moderne wird auch die Verantwortung für sein Leben dem Individuum selbst überantwortet. Wenn nicht mehr wie bislang soziale Institutionen sowohl als Halt wie auch als Schutz gegen systemische Krisen dienen, obliegt es dem/der einzelnen Akteur/in selbst, möglichst weitgehende Sicherheiten und Rückhalte durch Selbstoptimierung zu schaffen. Die bis in die 80er Jahre dominante Vormundschaft von Staat und gesellschaftlichen Institutionen in China geht zunehmend zurück und überlässt die Lebensgestaltung dem und der Einzelnen, die dadurch jedoch nicht nur in Entscheidungssondern auch in Zugzwang geraten. Selbstoptimierung ist daher das geflügelte Wort der Stunde im gegenwärtigen China oder wie eine junge Fabrikarbeiterin es formuliert: »In a factory with one thousand or ten thousand people, to have the boss discover you is very hard. You must discover yourself. You must develop yourself.« (Zit. nach Chang 2008: 174) Für die Ausrichtung des eigenen

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Handelns treten anstelle der bisherigen Bindung an soziale Gefüge nun individualistische Existenzformen und selbstzentrierte Lebensentwürfe, was letztlich zu einem tiefgreifenden Strukturwandel der Gesellschaft führt, welcher sich in Form von Verunsicherung und sozialer Neupositionierung durch Arbeit am Selbst bis hinunter zum einzelnen Individuum fortsetzt. Die Kultvierung von »Bastelbiographien« bzw. eines »Do-it-yourself«-Lifestyle wird durch den Bedeutungsverlust bisheriger Rahmeninstitutionen angestoßen, indem die Verantwortung für die Lebensgestaltung dem Individuum selbst überlassen und der »Erfolg« dieser Anstrengungen einem marktwirtschaftlich orientierten und dichotomisch angelegten Leistungssystem zwischen Erfolg und Versagen unterzogen wird. Am Jobverlust ist dann nicht mehr die schlechte Wirtschaftslage schuld, sondern das Individuum, das es verpasst hat sich frühzeitig fortzubilden; analog ist für das Scheitern einer Ehe nicht der allgemeine gesellschaftliche Umbruch und Werteverlust verantwortlich, sondern abermals das Individuum, das sich die entsprechenden Fähigkeiten zur Herstellung und Bewahrung einer harmonischen Beziehung nicht angeeignet hat. Wenn die Karriere mit den entsprechenden Fortbildungskursen gepusht und das richtige äußere Auftreten in Schmink- und Stil-Schulen gelernt werden kann, warum dann nicht auch Ehemanagement für das perfekte Familienleben? Glück ist – ganz nach Richard Wiseman – im wahrsten Sinne des Wortes in Eigenregie machbar; es bedarf nur genügender Anstrengung und entsprechendem »Wissen«. Die Rezeption von Ratgebern zur Optimierung aller Bereiche des (Privat-) Lebens stellt somit nur einen weiteren logischen Schritt in der Ökonomisierung des Individuums dar, das alle seine Handlungen auf die maximale Chancenoptimierung auslegt. Unter dem Ethos, dass Erfolg und »Glück« nur dann und dort möglich sei, wo eiserner Wille sowie geschickte, weitsichtige Planung und harte Arbeit investiert werde, bedarf es einer stetigen Kontrolle und disziplinierten Arbeit am Selbst in allen Lebensbereichen. Doch die Ratgeber dienen nicht nur als Anleitungen zur Verbesserung, sondern auch als Beistand in Zeiten der zunehmenden Überforderung. Wenn Erfolg einzig und allein von den individuellen Anstrengungen abhängt, führt dessen Ausbleiben bzw. Misserfolg in der Regel zu tiefen Sinnkrisen und existentiellen Ängsten: »The pressure to remake the self in one way or another created not only an additional responsibility but also a new psychological burden for the Chinese individual. Squeezed between the increasing market competition on the one hand and the decreasing support

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from family, kinship, and state institutions on the other, many Chinese individuals suffer from various degrees of mental illness.« (Yan 2010: 505f.)

Dies verweist nicht nur explizit auf psychische Dysfunktionalitäten, sondern auch in viel stärkerem Maße auf die zahlreichen individuellen Versuche – von der Yangsheng-Bewegung bis zur »Gute Hausfrau«-Schulungsklasse – mit den sozialen Unsicherheiten der Moderne umzugehen. Zudem produzieren moderne Gesellschaften durch den Wegfall eines stabilen sozialen Bezugsrahmens ein chronisches Defizit an Anerkennung zur Bestärkung des Selbstwertgefühls (vgl. Illouz 2012). Der Kontakt zu relevanten sozialen Anderen als Stabilisator der eigenen Identität wird zunehmend einer ökonomischen Werteskala unterworfen. Der Zweifel »nicht gut genug zu sein« hat sich insbesondere in Chinas kulturelles Reflexionsprogramm in einem Ausmaß eingeschrieben, dass ohne ständige disziplinierte Arbeit am Selbst kaum mehr ein gesundes Selbstwertgefühl produziert werden kann. Beispielhaft lässt sich dieses Streben nach (sozialer) Anerkennung unter anderem in der Diskussion über Attraktivität und Schönheitshandeln nachvollziehen. 1 Die Objektivierung des Körpers als zusätzlichem Austragungsort sozialer Positionierung unterwirft diesen der Logik des Marktes. Er wird vom Identitätsknotenpunkt zum ökonomisch und sozial verwertbaren Kapital. Durch eine zunehmende Inkorporierung von Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die einem Menschen allein aufgrund seines Aussehens zugeschrieben werden, avanciert die Arbeit am eigenen Körper als weithin sichtbare Repräsentation des Selbst zur unabdingbaren Voraussetzung. Hinzu kommen immer diffizilere Konstellationen bei der Aushandlung über den Konsens, was angemessen »weiblich« ist, die sich besonders deutlich ins Geschlechterverhältnis einschreiben. Hierfür spielen nicht nur der Zugang zu ökonomischen Ressourcen und die damit verbundenen Konsummöglichkeiten

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An dieser Stelle sei kurz auf das Phänomen der so genannten »Body Challenges« in Social media verwiesen. Die meisten im Fortlauf global zirkulierenden »Challenges« wie z.B. die so genannten »A4 waist« oder »iphone knees« haben ihren Ursprung auffällig oft in Asien und finden dort auch besonders viele Nachahmer. Die »Challenges« sind ein Ausdruck der Normativierung von augenscheinlich quasi-objektiven und vermessenbaren körperlichen Schönheitsstandards und erzeugen gerade unter Jugendlichen einen immensen Druck der Anpassung, da ein Nichtentsprechen zu so genanntem öffentlichen »body shaming« führt.



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eine Rolle, sondern auch das demonstrative Inszenieren weiblicher Attribute wie Sanftheit, Schwäche etc. als Zeichen gehobener Lebensbedingungen. Denn umgekehrt wurde seit der Reformperiode die Vermännlichung der Frauen nicht nur als Ergebnis des Staatsfeminismus gesehen, sondern vor allem als ein von den gegenwärtigen harten Lebensumständen erzwungener Zustand. Die Zeiten waren hart, daher mussten Frauen es auch sein, um zu überleben und sich ihre gesellschaftliche Position im Wettbewerb mit der männlichen Konkurrenz zu erkämpfen und zu verteidigen. Gerade in der Narbenliteratur befassten sich viele Autorinnen mit den Kümmernissen der Frauen in den 1980er Jahren, welche durch die wirtschaftlichen und politischen Anforderungen ihren »Mann stehen« mussten und nun ihre Weiblichkeit verloren hatten. Zhang Xinxin beschreibt beispielsweise in der Kurzgeschichte »Where did I miss you?« das Dilemma einer Frau, welche im täglichen post-kulturrevolutionären Arbeitskampf keine Möglichkeit zur Verwirklichung weiblicher Eigenschaften sieht und daher in der Liebesbeziehung scheitert. Diese Vermännlichung macht sie allerdings weniger an der Vormachtstellung geschlechtsnegierender politischer Ideologien fest, als vielmehr an den Anforderungen der Gesellschaft, die durch die gleichberechtigte Eingliederung der Frauen in den Produktionsprozess ihnen zu viel abverlangt: »God, if there is one, made me a woman, but this society has demanded that I be like a man! So often I preferred to deliberately conceal my feminine traits just to survive, just to keep on going.« (Zhang 1979: 115) Auch heute wird die gesellschaftliche Situation in China als stark vom Wettbewerb geprägt beschrieben: das permanente Risiko des sozialen Abstiegs fördert Unsicherheiten, weshalb zahlreiche individuelle Strategien zur Schaffung von (Erwartungs-)Sicherheiten wie berufliche Weiterqualifikation, Bildung, Kapitalanhäufungen, Beziehungsnetzwerke etc. ergriffen werden. Die Lebenssituation auf der Mikroebene stellt sich als prekär dar und zwingt daher auch Frauen sich am Erhalt der sozialen Position zu beteiligen. Das Erreichen eines gewissen Standards an ökonomischem und kulturellem Kapital ermöglicht die Produktion von Weiblichkeit, welche erst mit entsprechenden spezifischen Ressourcen wie Finanzmittel, Zeit und Wissen herzustellen ist. Es ist jedoch nicht nur die Unabdingbarkeit von hochpreisigen Konsumgütern, insbesondere der ZeitFaktor wird neben dem ökonomischen wichtig: in Form der spezifischen Gestaltung von »Frei-Zeit« in dem Sinne, dass die individuelle Lebenszeit nicht maßgeblich zur Aufrechterhaltung der Lebensgrundlagen durch Arbeitnehmertätigkeit ausgefüllt werden muss, sondern frei über die Füllung des Inhalts dieser Zeit entschieden werden kann.

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Im spezifischen Gender-Diskurs, wie er in chinesischen Ratgeberbüchern (und diversen anderen Medien wie u.a. Hochglanz-Frauenzeitschriften) geführt wird, bedarf es der Zugehörigkeit zu einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht, um Weiblichkeit überhaupt erst inszenieren zu können: »[W]hat might be called a taste for class is so pronounced in the ideal and practice of the making of a postsocialist Chinese ›femininity‹ that we begin to suspect that acquiring class, being in place, and becoming woman are one and the same project.« (Donald/ Zheng 2015: 357)

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Frauen, die nicht dieser Gruppe angehören, auch automatisch von diesen Konstruktionen von Weiblichkeit ausgeschlossen werden, ihnen also schlichtweg das »Frau-Sein« abgesprochen wird. »FrauSein« wird damit zu einem schichtspezifischen Attribut, denn nur Frauen gehobener Schichten können es sich »leisten«, Femininität umfassend zu zelebrieren – nicht nur, weil sie über die notwendigen finanziellen Mittel und Konsumfähigkeiten verfügen, sondern auch, weil sie nicht im täglichen Überlebenskampf »männliche« Stärke beweisen müssen, sondern stattdessen weibliche Sanftheit kultivieren können. Sie können ihre Zeit im Schönheitssalon verbringen oder die neuesten Kochbücher studieren und ihre Selbstkultivierung mit einem Blumenzüchter- oder Sprachkurs vorantreiben, während beispielsweise Wanderarbeiterinnen ganz »unweiblich« mit der Sicherung ihres Lebensunterhalts beschäftigt sind und dementsprechend die verlangte weibliche Selbstkultivierung nicht betreiben können. Eine sozial etablierte Frau macht sich nicht durch »niedrige« Arbeit – d.h. Arbeitnehmertätigkeit, die rein auf den Erwerb zur Lebensunterhaltssicherung zielt und keine weiteren Implikationen von »Bedeutung« wie Selbstverwirklichung, Förderung der Kreativität, Ausleben von Interessen, Wohltätigkeit etc. hat – die Finger schmutzig, oder wie ein zu seinem Frauenideal befragter Mann der gehobenen Mittelschicht es folgendermaßen zusammenfasst: »A beautiful woman should not be involved in dirty work. I can't put the two things together. If she wants to work, she can do some charity or community work. Or she can work out in the gym and keep herself beautiful. The only exception is cooking, as it is more personal, and one's wife knows one's taste better.« (Zit. nach Sun 2008: 213)

Die Möglichkeit, sich nicht zwangsläufig mit der Beschaffung des Lebensunterhalts beschäftigen zu müssen, sondern sich seinen individuellen Interessen und der persönlichen Verbesserung bzw. Vervollkommnung widmen zu können,

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wird als wahrer »Luxus« definiert und gilt als begehrtes Lebensziel und nimmt neben der Akkumulation von Konsumgütern einen steigenden Stellenwert in der Präsentation von sozialem Status ein. Deshalb sind viele der als spezifisch weiblich apostrophierten Tätigkeiten und Eigenschaften aus produktiver Sicht gewissermaßen »unsinnig«: malen, Romane lesen, Musik hören, Blumen stecken, im Cafe sitzend Spezialitäten genießen und melancholisch aus dem Fenster schauen, sich hübsch machen – sie alle dienen rein der Ästhetik, dem Schöngeist, sind Zeichen der Sublimation jenseits ökonomischer Notwendigkeiten und repräsentieren das Losgelöstsein von zeitlichen und finanziellen Einschränkungen. Frauen sollen und können ausschließlich »Frau sein« und müssen sich nicht mehr über ihre Rolle als Arbeiterin und Teilnahme am Produktionsprozess definieren. So gesehen, gehört für Stephanie Hemelryk Donald und Zheng Yi die Neudefinition von Weiblichkeit unabdingbar zu den aktuellen Aushandlungen von (Mittel-)Schicht in China: »[T]he remaking of woman is meaningful only in the context of the remaking of class in post-Reform China. […] The aspirational pull and practice of class […] is typographed and inscribed in taste structures and distinct elite feminine forms.« (Donald/Zheng 2015: 347) Für sie handelt es sich um einen parallelen Prozess der Katachrese des Begriffs des »Frau-Seins«, indem die sozialistisch geprägte funü zur Quintessenz des Weiblichen – der nüren – umgedeutet und gleichzeitig zum Attribut sozialer Zugehörigkeit verwandelt wird: »[N]üren not only reiterates for a new period the circularity of essential femininity, which is then circumscribed by class performance, but also presupposes the possibilities and luxuries of choice in relatively affluent ›lifestyles‹ that reflect ›quality‹ civility and sentiments in the post-Reform society.« (Ebd.)

Weiblichkeit wird zum sprichwörtlich verkörperten kulturellen Kapital – wie beispielsweise in der Shanghai nüren, die mit ihren Sentiments und ihrem Lifestyle der Petit Bourgeoisie zum Idealbild für das »Frau-sein« avanciert. Es ist eine quasi neu geschaffene soziale Identität, die stark an die Strukturen der Bourgeoisie und des Juste Milieu erinnert. In der Tat werden bei der neoliberalen, urbanen Klassenkonstitution der »Neo-Tribes« bourgeoise Strukturen verwendet, wie sich bereits in der Selbstdefinition zeigt: in der (Kultur-)Soziologie wird diese Gruppe bisweilen als »Bobos« bezeichnet (Boheme-Bourgeosie) (Wang 2008: 180ff), im chinesischen Sprachgebrauch sind sie die »xiao ci« (kleine Bourgeoise) (Bo 2012: 50) oder auch der »neue Adel« (xin gui) in Referenz auf den Status der Bourgeoisie als herrschende Klasse der bürgerlichen

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Gesellschaft nach Ablösung des Adels (und in Europa auch des Klerus) als dominierende Gesellschaftsformation. Und tatsächlich ist dieser Vergleich alles andere als abwegig, wie Donald und Zheng in ihrer Untersuchung zu chinesischen Buchneuerscheinungen des 21. Jahrhunderts über zeitlos schöne und weibliche Vorbilder, die Frauen aus den 1920er Jahren als immer noch aktuelle Stilikonen präsentieren, nachweisen: »Crucially, the transhistorical connotation shifts the backdrop of taste from the milieu of the semicolonial high bourgeoisie to that of the contemporaneously well-off (xiaokang).« (Donald/ Zheng 2015: 356) Auch in der Geschlechtskonstruktion setzt sich dieser Trend fort, indem eine im Grunde patriarchalisch angelegte, jedoch positiv konnotierte Geschlechterhierarchie etabliert wird (vgl. Crossick/Haupt 1997). Jedoch gilt sie in diesem Falle nicht als suppressiv und diskriminierend, sondern ermöglicht Frauen neue Freiheiten: allen voran die, sich ganz aufs »Frau-Sein« zurückziehen zu können. Gleichzeitig ermöglicht die Rückführung der Frau auf die häusliche und private Sphäre eine stärkere Kontrastfolie für Männlichkeit, indem der Mann die Rolle der Versorgers und Sponsors des Lebensstils seiner Frau einnimmt. Daraus ergibt sich ein Kausalzusammenhang: die Frau wird in ihrer Repräsentation von Weiblichkeit zum Symbol der Hypermaskulinität des Mannes. Denn wenn Männlichkeit über die Fähigkeit zum Geldverdienen definiert wird, gibt es wohl kein besseres Aushängeschild dieser Fähigkeiten als die Freistellung der Frau aus allen produktiven (Mitverdiener-) und häuslichen Pflichten. Jenseits einer Existenz als reine Arbeiterin oder reine Hausfrau ist die neue Identität der Frau als Frau daher vor allem verantwortlich für die Aushandlungen des gehobenen sozialen Status der Familie (vgl. Sun 2008: 218). Daher ist die in chinesischen Frauenratgebern am häufigsten empfohlene Strategie eine Synthese von traditionellen Rollenmustern und emanzipatorischen Handlungscodes. Dass dabei der Fokus oftmals auf vermeintlich antifeministischen Formen einer vornehmlich asymmetrisch erscheinenden Geschlechterkonstellation mit dem Mann in der Versorgerposition liegt, darf allerdings nicht unbedingt als Toleranz oder gar Anerkennung einer patriarchalischen Gesellschafts- und Geschlechterordnung gesehen werden. Sie kann auch den Wunsch und die Sehnsucht nach Klarheit und Eindeutigkeit in einem als immer unübersichtlicher und unzuverlässiger wahrgenommenen Geschlechterverhältnis verkörpern. In vormodernen Paarmodellen beruhte das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf einem sehr eindeutigen, feudalen System: Die Frau stellt ihre sexuellen und häuslichen Dienste zur Verfügung, der Mann trägt dafür für das Wohlergehen der Familie Sorge. Dieses Verhältnis prägt sehr klare Verhaltensrollen

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und Erwartungshorizonte. Durch die Geschlechtergleichstellung werden diese jedoch grundsätzlich infrage gestellt, da der jeweilige Part nun nicht mehr festgelegt, sondern individuell aushandelbar ist: »Soziale Rollen, die bewährten Drehbüchern folgen, erfordern kein Nachdenken, geschweige denn Verhandlungen. Egalitäre Normen hingegen radieren vorgeschriebene Rollen sowie Identitäten aus und verwandeln Beziehungen in etwas, das durch ›Kommunikation‹ ausgehandelt werden muss.« (Illouz 2013: 59)

Gleichzeitig löst sich damit auch die Verbindlichkeit dieser Rollenzuschreibungen auf, was oftmals dazu führt, dass Frauen zwar immer noch in vielen Bereichen mit einer Vormachtstellung der Männer konfrontiert sind – siehe die Ausführungen zum Dilemma der erfolgreichen Karrierefrau, die ihren eigenen Erfolg immer vorsichtig mit dem Status der sie umgebenden Männer austarieren muss, um ihnen »Gesicht« zu verleihen –, jedoch geht dies nicht mehr unbedingt damit einher, dass sich beide Seiten an die Regeln traditioneller Geschlechterverhältnisse halten und die Frau für ihre Unterordnung auch dementsprechend mit dem Schutz des Mannes belohnt wird. Im Gegenteil, die zahlreichen Schreckensgeschichten über Konkubinat, hohe Scheidungsraten und eheliche Dramen in chinesischen Medien machen die prekäre Stellung der Frau deutlich, welche sich im gegenwärtigen, kaum noch Kontrollen oder Normen unterliegenden Gesellschaftsgefüge schutzlos vorkommt. Daher greifen die Ratgeber auf eine traditionell geprägte und bewährte Rollenvorstellung zurück, betonen damit jedoch zugleich auch die (konfuzianisch orientierte) Reziprozität beider Parteien und versprechen sich durch das Abstecken von klar umrissenen Zuständigkeitsbereichen und Aufgabenfeldern Handlungssicherheit: Wenn ich meinen Part erfülle, so wird auch mein Gegenüber seinen daraus resultierenden Verpflichtungen nachkommen. Diese Sehnsucht nach Klarheit und Sicherheit macht sich insbesondere in China seit der Hochphase der ökonomischen Reformen deutlich, wo die benachteiligte Stellung von Frauen in der freien Wirtschaft nach den Jahren des Sozialismus und Staatsfeminismus erstmals wieder deutlich zutage tritt. Während in der Mao-Ära die Gleichberechtigung und die autarke Selbstbehauptung der Frau zur unhinterfragbaren staatlichen Direktive gehörte, ist die Debatte über das Hausfrauendasein als Alternative zur berufstätigen Frau ein neueres Phänomen seit den 2000ern. In den Aussagen seiner Verfechterinnen wie »Hausfrau Xiaoxiao« lässt sich deutlich dieser Wunsch nach neuer Klarheit in den Geschlechterrollen finden. In ihnen spiegelt sich die Zwiespältigkeit vieler – insbesondere gebildeter, urbaner White-Collar-Frauen – gegenüber der Art und Wei-

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se, wie der sozialistische Feminismus traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und damit das Geschlechterverhältnis verändert hat. In Form der beruflich erfolgreichen, aber emotional unbefriedigten »Du Lalas« zeigt sich das ambivalente Ergebnis dieser Orientierungslosigkeit der Geschlechterzuordnungen, was zum großen Teil auch daraus resultiert, dass die feministische Revolution sowohl im Westen wie auch im Osten letztlich unvollendet geblieben ist. Oder wie Eva Illouz in ihrer Analyse, warum auch im Westen dermaßen »antifeministische« Romane wie 50 Shades of Grey solche Resonanz unter weiblichen Leserinnen finden können, feststellt: »Eine Gegenreaktion auf den Feminismus besteht in der Sehnsucht nach dem Patriarchat, und zwar nicht weil sich Frauen danach sehnen, beherrscht zu werden, sondern weil sie sich nach den emotionalen Bindungen sehnen, die die männliche Vorherrschaft begleiten, verbergen, rechtfertigen und unsichtbar machen – als könnte man diese männliche Beschützerrolle von dem feudalen Herrschaftssystem trennen, in dem der Mann solchen Schutz gewährt.« (Illouz 2013: 60)

Dies trägt dazu bei, dass die Rückkehr zu auf den ersten Blick traditionell und konfuzianisch anmutenden Rollenmustern in China einerseits durch ökonomische, pragmatisch-instrumentelle Beweggründe motiviert, andererseits durch die Sehnsucht nach (emotionaler) Beständigkeit und Handlungssicherheit in Zeiten der Individualisierung angetrieben ist. Angesicht dieser Komplexität von Bedürfnislagen und Faktoren wäre es wohl sehr verkürzt, die Frauenratgeber in den Kulturwissenschaften entweder stur als einen unreflektierten Ableger konfuzianischer (Geschlechter)Ideale abzutun, oder diese gar einer harschen, feministisch ambitionierten Kritik der Frauen- und Geschlechterforschung zu unterziehen. Die darin diskutierten Geschlechtervorstellungen beruhen vielmehr auf komplexen sozial kommunizierten Handlungs- und Verhaltensmustern, steht die hier verhandelte Geschlechtsidentität im unmittelbaren Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und enthält soziale, kulturelle, politische und ökonomische Implikationen enormer Reichweite. Ganz im Sinne des soziologischen Strukturbegriffs wirken diese einschränkend und ermöglichend zugleich: den neu gewonnenen Freiheiten des Individuums sind die Rahmungen gesellschaftlicher Normvorgaben entgegengesetzt und sie befinden sich dadurch in einem ständigen Aushandlungsprozess. Daher sollten die Inszenierungen von Weiblichkeit der »neuen neuen Frauen« weder im Lichte feministisch motivierter Geschlechtervormachtstellungen und Ungleichheiten, noch zu sehr unter den spezifischen historischen Gegebenheiten Chinas betrachtet werden, sondern als ein Ergebnis der gesamt-

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gesellschaftlichen Entwicklung seit den 1990er Jahren in der Auseinandersetzung mit einer komprimierten Moderne.

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