Die Pluralitat Des Absoluten: Hegels Theorie Sozialen Wandels 3465045947, 9783465045946

Hegel's theory of absolute spirit provides an inspiring analysis of the cultural practices of art, religion, and ph

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Die Pluralitat Des Absoluten: Hegels Theorie Sozialen Wandels
 3465045947, 9783465045946

Table of contents :
Front Cover
Impressum
Inhalt
Danksagung
Hegel in Berlin
Teil I: Kunst
Einleitung
1. Ästhetik als Poetik
1.1 Die Prosa der Moderne
1.2 Kollision und Konflikt
1.3 Die Poesie der Kunst
1.4 Die Souveränität der Kunst
2. Eine Genealogie der Kunstformen
2.1 Symbolische Kunstform
2.2 Klassische Kunstform
2.3 Romantische Kunstform
2.4 Poetik: Pluralität oder Logozentrik?
3. Die historische Dynamik des Poetischen
3.1 Die diachrone Aneignung
3.2 Das Ende der Kunst?
Teil II: Religion
Einleitung
4. Expressive Religionsphilosophie
4.1 Die Kategorie des religiösen Lebens
4.2 Religiöses Leben und Kultur
4.3 Der spekulative Begriff des Christentums
5. Spekulation und religiöser Pluralismus
5.1 Säkularismus
5.2 Laizimus
5.3 Zwei Antworten
5.4 Säkularisierung
5.5 Kooperativer Laizismus
6. Die Dialektik der Aufklärung
6.1 Religiosität und Sexualität
Teil III: Philosophie
Einleitung
7. Dialethismus und dialektische Methode
7.1 Erklärungsziele
7.1.1 Der Begriff der Reflexion
7.2 Die unwesentlichen Relationen
7.2.1 Abstrakte Identität
7.2.2 Verschiedenheit
7.2.3 Gegensatz
7.3 Die wesentlichen Relationen
7.3.1 Widerspruch
7.3.2 Grund
8. Spekulative Ontologie
8.1 On what there is – Subjektivität
8.1.1 Der Begriff als reiner Begriff
8.1.2 Der Begriff als Urteil
8.1.3 Der Begriff als Schluss
8.2 On what there is – Objektivität
8.2.1 Mechanismus
8.2.2 Chemismus
8.2.3 Teleologie und Freiheit
8.2.4 Natur als Voraussetzung des Geistes
8.2.5 Natur als Biosphäre des Geistes
9. Eine Metaphysik der Offenheit und Zukunft?
9.1 Theorie dialektischer Philosophie
9.2 Praxis dialektischer Philosophie
9.3 Einheit von Theorie und Praxis
Teil IV: Anhang
Bibliographie
Abbildungsnachweis

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9 783465 045946

Tobias Wieland Die Pluralität des Absoluten Hegels Theorie sozialen Wandels

WeißeReihe Klostermann

Wieland  Die Pluralität des Absoluten

10 KlostermannWeißeReihe

WeißeReihe Klostermann

Hegels Theorie des absoluten Geistes liefert eine inspirierende Analyse der kulturellen Praktiken der Kunst, Religion und Philosophie. Tobias Wieland erschließt in seinem Buch Hegels Leitgedanken von der Relevanz dieser Praktiken darin, dass sie einen Beitrag zur Offenheit des Geistes gegenüber seiner eigenen dynamischen Wirklichkeit leisten. Das Buch behandelt die Pluralität von Kunst, Religion und Philosophie und versteht sie als drei zentrale Weisen der Bewusstmachung und Gestaltung des Absoluten. Das Ziel in der systematischen Auseinandersetzung mit Hegel ist eine Trans­formationsphilosophie, die den gesellschaftlichen Charakter kritischen Denkens reflektiert. Theorie wird im Sinne des kritischen Idealismus, den Hegel in Berlin entwickelt, nicht um ihrer selbst willen betrieben: Was muss eine Theorie sozialen Wandels leisten, um Grundfragen der Kulturbildung untersuchen und geistige Dynamik stärken zu können?

12.08.2022 11:09:57

Tobias Wieland  ·  Die Pluralität des Absoluten

Herausgegeben von Gerald Hartung und Alexander Schnell in Zusammenarbeit mit Andrea Esser (Jena) Anne Eusterschulte (Berlin) Rahel Jaeggi (Berlin) Rainer Schäfer (Bonn) Philipp Schwab (Freiburg)

KlostermannWeißeReihe 

Tobias Wieland

Die Pluralität des Absoluten Hegels Theorie sozialen Wandels

KlostermannWeißeReihe 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Originalausgabe © 2022 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf EOS Werkdruck von Salzer, alterungsbeständig ISO 9706 und PEFC-zertifiziert. Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 2625-8218 ISBN 978-3-465-04594-6

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegel in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I Kunst 1

2

3

11 13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 39

Ästhetik als Poetik 1.1 Die Prosa der Moderne . . 1.2 Kollision und Konflikt . . 1.3 Die Poesie der Kunst . . . 1.4 Die Souveränität der Kunst

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47 55 67 75 83

Eine Genealogie der Kunstformen 2.1 Symbolische Kunstform . . . . . . . 2.2 Klassische Kunstform . . . . . . . . 2.3 Romantische Kunstform . . . . . . 2.4 Poetik: Pluralität oder Logozentrik?

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91 93 99 108 110

Die historische Dynamik des Poetischen 3.1 Die diachrone Aneignung . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Ende der Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . .

123 125 133

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Inhalt

II Religion

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 157

4

Expressive Religionsphilosophie 4.1 Die Kategorie des religiösen Lebens . . . . . . . . 4.2 Religiöses Leben und Kultur . . . . . . . . . . . . 4.3 Der spekulative Begriff des Christentums . . . . .

163 178 180 196

5

Spekulation und religiöser Pluralismus 5.1 Säkularismus . . . . . . . . . . . 5.2 Laizimus . . . . . . . . . . . . . 5.3 Zwei Antworten . . . . . . . . . 5.4 Säkularisierung . . . . . . . . . 5.5 Kooperativer Laizismus . . . . .

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221 224 232 237 246 252

Die Dialektik der Aufklärung 6.1 Religiosität und Sexualität . . . . . . . . . . . . .

263 272

6

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III Philosophie 7

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dialethismus und dialektische Methode 7.1 Erklärungsziele . . . . . . . . . . 7.1.1 Der Begriff der Reflexion 7.2 Die unwesentlichen Relationen . . 7.2.1 Abstrakte Identität . . . . 7.2.2 Verschiedenheit . . . . . 7.2.3 Gegensatz . . . . . . . . . 7.3 Die wesentlichen Relationen . . . 7.3.1 Widerspruch . . . . . . . 7.3.2 Grund . . . . . . . . . . .

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289 297 305 312 313 318 320 325 326 329

Spekulative Ontologie 8.1 On what there is – Subjektivität . . . . . . . . . . . 8.1.1 Der Begriff als reiner Begriff . . . . . . . .

337 340 361

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Inhalt

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Eine Metaphysik der Offenheit und Zukunft? 9.1 Theorie dialektischer Philosophie . . . . . . . . . 9.2 Praxis dialektischer Philosophie . . . . . . . . . . 9.3 Einheit von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . .

441 457 468 480

8.2

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8.1.2 Der Begriff als Urteil . . . . . . . . . 8.1.3 Der Begriff als Schluss . . . . . . . . On what there is – Objektivität . . . . . . . . 8.2.1 Mechanismus . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Chemismus . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Teleologie und Freiheit . . . . . . . . 8.2.4 Natur als Voraussetzung des Geistes 8.2.5 Natur als Biosphäre des Geistes . . .

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IV Anhang

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Bibliographie Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Meinem Vater Axel Jan Wieland (1939–2021)

Danksagung Diese Arbeit versucht den Kerngedanken zu entfalten, dass das Denken kein einsames Geschäft ist, sondern sich aus der Vielfalt und Mehrsprachigkeit der Stimmen gewinnt und an ihnen Kontur bekommt. Mein Dank gilt dabei zuerst Georg W. Bertram, dessen inspirierende Lehre, verlässliche Betreuung und langjährige Unterstützung mich in den Stand versetzt haben, intensiv und frei dem philosophischen Geschäft nachzugehen. Es ist insbesondere sein an der Ästhetik geschärfter Blick für den systematischen Zusammenhang von Pluralität und Geist, der mir auch in einsamen Phasen dunkler Hegellektüre begrifflichen Halt geboten hat. Sein Arbeitsbereich und das Graduiertenkolleg „Normativität, Kritik, Wandel“ sind meine akademische Heimat, in der eine intellektuelle, auf Vertrauen bauende Freiheit gelebt wird. Zweitens möchte ich Rahel Jaeggi für ihre Betreuung danken. Es hat mich sehr geprägt, in ihrem Diskussionskontext die sozialphilosophische und politische Dimension Kritischer Theorie über Hegel hinaus zu reflektieren. Schließlich gilt mein Dank Dina Emundts, deren philosophiegeschichtlicher Tiefenschärfe ich mehr verdanke, als diese Arbeit zu zeigen vermag. Gedruckt wird diese Arbeit mit Unterstützung der Ernst-ReuterGesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. Die Vielfalt und schiere Anzahl der Stimmen, die für die Entstehung dieser Arbeit unerlässlich waren, machen es mir unmöglich, all diejenigen anzuführen, die damit gemeint sind. Alle zu nennen, bliebe eine leere Geste; nur einige anzuführen, würde der Vielfalt der Stimmen nicht gerecht. Ich möchte stattdessen stellvertretend Berlin als meiner Muse danken. Es gibt in meinen Augen eine enge Verbindung von Geist und Metropole. Für mich ist Berlin die Muse kritischer agency, fordert sie doch aktiv zum Denken jenseits der eigenen Komfortzone auf. Ihre Tatkraft und Inspiration zu empfan-

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Danksagung

gen, erfüllt mich mit Lust, Dankbarkeit und Demut. Berlin steht wie kaum eine andere Stadt für eine kulturelle Offenheit, in der vielfältige und queere Lebensformen Anerkennung finden. Berlin ist bunt, kritisch und direkt – genau dieser Geist leitet mich in meiner philosophischen Arbeit. Genau diesem, von so vielen großartigen, inspirierenden Menschen getragenen Umfeld weiß ich mich verpflichtet. Berlin ist keine Muse, die sich besitzen ließe, sondern vielgewanderten Menschen Geborgenheit und Entfaltungsraum bietet.

Hegel in Berlin „Die politische Philosophie wird niemals ihren Ursprung im Staunen über das, was ist, wie es ist, verleugnen können. Würden die Philosophen trotz ihrer notwendigen Entfremdung vom Alltagsleben der menschlichen Angelegenheiten je zu einer wahrhaftigen politischen Philosophie gelangen, müssten sie die Pluralität des Menschen, aus der die ganze Vielfalt menschlicher Angelegenheiten hervorgeht, zum Gegenstand ihres Staunens machen.“ (Sokrates, S. 85)

Die sozialen und ökologischen Krisen sind real, wirken global, und ihr Ausgang ist ungewiss. Die Frage wird sein, wie viel Zeit uns bleibt, auf sie zu reagieren. Unsere Zeit wird knapp. Warum nun ausgerechnet in diesen Zeiten Hegel lesen? Die Antwort, die am Ende unserer Beschäftigung mit Hegel steht, wird lauten: weil die Zeit drängt. Der in diesem Buch entwickelte Gedanke versteht sich als eine Aktualisierung spekulativer Philosophie im Zeichen einer Kritischen Theorie der Gegenwart. Sie versucht, den kritischen Zeitgeist im Begriff der Pluralität des Geistes zu fassen. Mit „Pluralismus“ ist die philosophische Haltung gemeint, die die Vielfalt der menschlichen Ausdrucksfähigkeit bejaht und eine Gleichwertigkeit aller Expressivität, unabhängig von der sozialen und kulturellen Lage ihrer Urheberschaft, zu begründen sucht. In der gegenwärtigen Sozialphilosophie werden Ausschlussmechanismen von sozialer Teilhabe und die Missachtung der Vielfalt geistiger Expressivität unter dem Stichwort der Intersektionalität diskutiert und durch Gender, Klasse und Ethnie bestimmt. Pluralismus meint die Haltung, dass die Vielfalt menschlicher Expressivität und Partizipation einen intrinsischen Wert geistigen Lebens ausmacht. Anders gewandt: Pluralismus bejaht die Idee der offenen Gesellschaft. Um diesen Gedanken grundlagentheoretisch zu entwickeln, fragen wir nach der ontologischen Struktur des Absoluten. Das Ganze

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Vorwort

des Absoluten werden wir mit Hegel in drei Hinsichten untersuchen, indem wir nach dem Schönen, Guten, Wahren des Ganzen fragen. In jedem der drei Teile wird dieselbe Bewegung vollzogen: Es geht um den Nachweis, dass Kommunikation die Substanz des Geistes ist und die metaphysische Höhe der Ideale des Guten, Schönen, Wahren in der kommunikativen Wirksamkeit sozialer Praxis geerdet ist. Das Gute, Schöne, Wahre werden wir so versuchen, aus seiner platonisch-metaphysischen Höhe zu holen und in die weltlichen Praktiken von Kunst, Religion und Philosophie zu übersetzen. Diese Immanenzbewegung und die Betonung des gesellschaftlichen Charakters des Guten, Schönen, Wahren formulieren eine Alternative zu einem letztlich irreführenden Gegensatz des gegenwärtigen philosophischen Diskurses. Materialismus und Idealismus lassen sich nur in einen Gegensatz stellen, wenn Offenheit und Kritik nicht als konstitutive Momente idealistischer Theoriebildung gesehen werden, wenn also Idealismus nur als affirmative Verklärung des Gegenwärtigen verstanden wird. Die Immanenzbewegung steht im Zentrum der Aktualisierung der spekulativen Philosophie Hegels, an der sich dieses Buch versuchen wird. Mit dem idealistischen Begriff des „Absoluten“ adressieren wir die geistige, im Kern kommunikative Struktur der Welt in ihrer Totalität. Die Wissenschaft, die dieser Struktur nachgeht, ist die Geisteswissenschaft. Eine moderne, zeitgemäße Geisteswissenschaft sollte der intrinsischen Pluralität ihres Gegenstands gerecht werden. Das heißt in der Folge, dass Geisteswissenschaft einen inneren Bezug zur offenen Gesellschaft aufweist. Die Forderung der offenen Gesellschaft geht also weit über rechtliche Gleichheit und wirtschaftliche Freiheit hinaus und bezieht die kulturelle Sphäre dezidiert mit ein. Die indirekt politische Rolle der Geisteswissenschaft wird auch daran deutlich, dass totalitäre und populistische Regime in der Geisteswissenschaft gewissermaßen ihre natürliche Feindin sehen. Diese Opposition kommt in meinen Augen nicht von ungefähr, stehen doch sozialer Wandel und Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen in einem direkten Zusammenhang. Akademische Reflexion verschafft sich Legitimität als kritische

Hegel in Berlin

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Praxis, hat sie doch in den gesellschaftlichen Diskursen begriffliche Impulse zu setzen und so sozialer Emanzipation zu dienen. Bevor ich meine in der Arbeit entwickelten Thesen zur Relevanz und Spezifik von Kunst, Religion und Philosophie näher ausführe, möchte ich fünf allgemeine Ergebnisse der Untersuchung festhalten, um das Potential zu umreißen, das sie in meinen Augen für begriffliche Impulse haben. a) Kultur beruht wesentlich auf Austausch. Damit wird der aus dem philosophischen Feminismus bekannte Gedanke der grundständigen Relationalität allen (menschlichen) Seins auf kulturelle Grundfragen bezogen: Keine Kultur gründet nur in sich selbst. Kultur entsteht immer durch Austausch und ist stets im Fluss. Nichts ist so leer und gleichzeitig so gefährlich wie die Ideologie einer reinen, nur als solche zu bewahrenden Kultur, bereitet diese Ideologie doch den begrifflichen Nährboden für Kulturchauvinismus. b) Die grundsätzliche Austauschqualität kultureller Identität muss das Problem kultureller Aneignung ernst nehmen. Aneignung begründet strukturell asymmetrische Austauschbeziehungen auf Basis wirtschaftlicher und militärischer Macht. Kulturelle Aneignung untergräbt eine authentische und gleichberechtigte Partizipation der Marginalisierten und Subalternen an der Selbstbestimmung des Menschen – das berührt die de- bzw. postkolonialistische Dimension meiner Fragestellung. Meine Perspektive verfolgt Möglichkeiten der Selbstkritik seitens der dominanten Akteure – ein Punkt, der in Debatten um sogenanntes Empowerment zu kurz kommt. Selbstkritik bedeutet, dass kulturelle Akteure ihr Verhältnis zu Macht und Profitinteressen reflektieren müssen. c) Die grundsätzliche Austauschqualität und die faktische Fluidität kultureller Identität implizieren, dass Widersprüche Teil des Gefüges kultureller Identität sind. Wenn Kultur auf Austausch und damit wesentlich auf Differenz beruht, dann stellen Widersprüche zwischen den kulturell tradierten Weltbildern ein Lebenselement von Kultur dar. Widersprüche sind real. Ein Ja zur gesellschaftlichen Vielfalt verpflichtet deshalb in meinen Augen zu einem Ja zu Widersprüchen. Es geht nicht darum, Streit um seiner selbst willen zu

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Vorwort

führen, sondern es gilt, eine sachliche Konfliktkultur zu etablieren, in der Widersprüche durch ihre Thematisierung produktiv gemacht werden. Meine These ist: Progressives Denken bejaht den Widerspruch. Wichtige kulturelle Orte der Thematisierung von Widersprüchen sind nun Kunst, Religion und Philosophie. d) Die Frage nach dem Widerspruch hat Implikationen für das in der Arbeit entwickelte Freiheits- bzw. Emanzipationsverständnis. Eine Voraussetzung der Freiheit besteht in der Kritik der eigenen Voraussetzungen, das heißt der Kritik des Kanons der eigenen kulturellen Standards. Freiheit steht damit in einer wesentlichen Beziehung mit Praktiken der Selbstkritik. Meine Arbeit argumentiert für ein spezifisches, modernes Verständnis von Subjektivität, das die Fähigkeit des Subjekts zur Reflexion, Fluidität und Selbstkritik hervorhebt. Subjekt zu sein, heißt, sich in der widersprüchlichen Struktur der gleichzeitigen Kontinuität und des Wandels von kulturellen Normen zu verorten. Das Subjekt partizipiert auf eine freie und nachhaltige Weise an der Fortbestimmung des Ganzen nur dadurch, dass es sich selbstkritisch zur eigenen Herkunft verhält. e) Der Zusammenhang von Selbstkritik und Freiheit im Sinne aufgeklärter Subjektivität führt zum Adressat*innenkreis meines Buches. Es geht um Orientierung in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das Buch entwickelt eine Art Elitentheorie, indem es das Selbstverständnis der sogenannten gatekeepers zum Thema hat. Das Buch ist damit dem verpflichtet, was in der philosophischen Debatte als immanente Kritik bekannt ist. Es geht diesem Kritikmodell nicht darum, von außen das herrschende System zu destabilisieren, sondern es von innen her zu reformieren. Immanente Kritik macht sich deshalb strukturell die Hände schmutzig, weil sie bei dem mitspielen muss, was sie zu verändern beabsichtigt. Wirksame Kritik ist mitspielende Kritik. Die Selbstverpflichtung zur immanenten Kritik ist ein wichtiger Grund, warum dieses Buch ein Hegelbuch ist. Ich lese Hegel als radikalen Vertreter einer Auffassung von Philosophie als immanenter Kritik. Immanente Kritik will von innen her, sozusagen aus dem Bauchraum der Institutionen heraus, die

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Verfestigungen und Ausschlussmechanismen der sozialen Realität aufbrechen. Damit geht auch die Affirmation bestehender Institutionen einher. Geistige Freiheit bedarf, wie die philosophische Tradition sagt, vernünftiger Institutionen – ich übersetze diesen Gedanken mit der Idee inklusiver Partizipation. Akademische Praxis dient nach meinem Dafürhalten der Bildung und Pflege von Differenzierungsvermögen. Universitäten sind keine Orte der Musealisierung von Geistesgrößen. Die Universität ist ein zentraler Ort immanenter Kritik und dient der Einübung in die komplexe Praxis dialektischer Theoriebildung. Die Aktualisierung, um die es in den folgenden drei Teilen des Buches gehen wird, wird dabei Hegels Position sowohl darzustellen als auch zu kritisieren haben, will sie ihrer eigenen Zeit gerecht werden. Die Doppelbewegung der Darstellung und Kritik der hegelschen Lehre im Zeichen der Vielfalt des Guten, Schönen, Wahren verortet sich primär in der Tradition der Kritischen Theorie. Sie folgt der Idee der immanenten Kritik. Wir lesen, sloganhaft formuliert, Hegel als Generation Null dieser Traditionslinie. Wie sieht Kritische Theorie mit, nicht gegen Hegel aus? Der spekulative Idealismus, verstanden als Kritische Theorie der Gegenwart, betrachtet das, was ist, im Lichte seines Begriffes, stellt also dem, was ist, kein Ganzanderes gegenüber. Die methodische Verweigerung messianischen Denkens ist dem Hegelianismus von nachfolgenden Positionen der Kritischen Theorie als Affirmismus, Apologismus und Adaptismus ausgelegt worden. Hegel ist aber unterhalb der Höhe seiner Reflexion verstanden, wenn seine Rede von der „Vernunft der Wirklichkeit“, von der „Wirklichkeit der Vernunft“ so ausgelegt wird, dass es um die Rechtfertigung der bestehenden sozialen Formation ginge. Vielmehr werden wir sehen, dass Hegel die Notwendigkeit von Austauschbeziehungen für die soziale Wirklichkeit des Geistes aufzeigt. Kommunikation bildet die Substanz des Geistes. Der Geist erkennt sich in dynamischer und widersprüchlicher Kommunikation, weil er selbst Kommunikation ist. Hegel bejaht dabei – anders als die folgenden Generationen der Kritischen Theorie wie etwa Marx und Adorno – den Widerspruch als eine zentrale Dimension

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Vorwort

der kommunikativen Lebendigkeit des Geistes. Widersprüche sind ein mitunter schmerzhafter, zugleich zentraler Aspekt der kommunikativen und expressiven Vermögen des Geistes. Mit dem Begriff der Expressivität des Geistes wird der Anschluss an verschiedene Theoriefelder und Diskurse gesucht. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Charles Taylor, der die Verbindung von Expressivität und Selbstkonstitution als genuin hegelsches Thema herausarbeitet.1 Die Debatte um den hegelschen Expressivismus hat entscheidend auch durch die Arbeiten von Robert Brandom an systematischer Präzision gewonnen. Seine sprachpragmatistische Konzeption einer „expressiven Freiheit“2 ist ein wichtiger systematischer Hintergrund, weil er die reflexive Komponente sprachlicher Expressivität, also das Explizieren und Thematisieren von impliziter Normativität geltend macht. Stimmen der Kritischen Theorie haben an diese Verbindung von Freiheit und Expressivität teils direkt,3 teils indirekt4 angeschlossen. Die folgende Auseinandersetzung mit Hegel sucht die kritische Nähe zu dem aufgerufenen Diskurs, will aber neue Impulse setzen. Wir werden in den folgenden Kapiteln die Idee ausbuchstabieren, wie Versöhnung als produktiver Konflikt zu verstehen sein könnte,5 indem wir versuchen werden, die implizite Normativität geistiger Kommunikation freizulegen. Die Idee der systematischen Verbindung von Versöhnung und Konflikt steht unter der Überschrift des Berliner Hegel. Der Berliner Hegel entwickelt einen radikalen, pluralen und kritischen Idealismus. Der mich faszinierende Hegel ist der Berliner Hegel. Hegel wird 1818 an die damalige Berliner, nunmehrige Humboldt1 2 3 4 5

Taylor, Hegel und Taylor, Quellen des Selbst. Vgl. dazu auch: Forster, German Philosophy of Language. Brandom, „Freiheit und Bestimmtsein durch Normen“. Eine negativistische Version davon, ästhetische Kraft und Expressivität zusammenzuführen, liefert: Menke, Kraft. Den Klassiker der Verdinglichung aktualisiert Honneth als Verfehlung der expressiven Weltaneignung des Menschen: Honneth, Verdinglichung. Vgl. in diese Richtung: Bertram, Kunst als menschliche Praxis.

Hegel in Berlin

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Universität berufen und erarbeitet dort eine bisher systematisch kaum erschlossene Lehre des Absoluten Geistes. Das klassische Credo des Idealismus von der Identität des Guten und Wahren wird hier zum Dreiklang der Identität des Schönen, Guten und Wahren erweitert. Hegels Lehre des absoluten Geistes umfasst die drei Teilbereiche der Kunst, Religion und Philosophie. Ich schließe mit meiner Aktualisierung also explizit an den reifen Berliner Hegel an und betrete dabei auch Neuland, denn die Vorlesungen dieser Zeit liegen noch nicht lange in einer historisch-kritischen Edition vor. Diese veränderte editorische Lage wirft ein neues Licht auf Hegels philosophische Leistung. Hegels Pluralismus wird auf Basis der Berliner Arbeiten viel plastischer als auf Basis der Monografien der Vorberliner Zeit. Die Hauptquellen sind die Schriften Hegels aus der Berliner Zeit – die zentralen Vorlesungen zur Ästhetik und Religionsphilosophie finden hier ihre Konkretion und finale Gestalt. Ich begreife es als Vorteil meiner Hegellektüre, dass sie an ihrem Ende die Frage aufwirft, wie die Wissenschaft der Logik und insbesondere ihr Ende, wohl aussähen, wenn Hegel seine an der Spree begonnenen Überarbeitungen abgeschlossen hätte. Das Label des Berliner Hegel bezieht sich sowohl auf die primärliterarische Quellenlage als auch auf die sekundärliterarische Positionierung. Die pluralistische Hegellektüre hält den weit verbreiteten Lesarten aus München, Frankfurt, Münster, Paris, Moskau, Chicago, Pittsburgh und New York eine Arbeit am begrifflichen Material der Berliner Schriften entgegen. Ein pluralistisch gelesener Hegel weist de-radikalisierende, das meint kantianisierende Lesarten zurück. Diese sekundärliterarische Position lässt sich in meinen Augen durch drei Stichpunkte umreißen. 1. Jugend gegen Alter. Oft wird der frühe, der sogenannte Jenaer Hegel, gegen den späteren, reiferen Hegel, insbesondere den der Rechtsphilosophie, in Stellung gebracht.6 Der frühe Hegel sehe dort Kämpfe um Anerkennung, wo der spätere Hegel den preußischen Staat glorifiziere. 2. Wird unter 6

Diese Position vertritt wirkmächtig: Habermas, „Hegels Kantkritik“.

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Vorwort

dem Stichwort der Postmetaphysik eine Lesart stark gemacht,7 die allein auf die sozial-normative Ebene fokussiert ist. 3. Wird der hegelsche Begriff des Begriffs so gelesen, dass die Synthese Ziel und Zweck begrifflicher Arbeit sei. Hegels Dialektik wird immer noch im Schema von These, Antithese und Synthese zur totalen Unkenntlichkeit verstellt.8 Unser Interesse gilt den systematischen Konturen der pluralistischen Hegellektüre, es verbindet sich aber mit einer werkgeschichtlichen These zum Verhältnis vom jungen zum reifen Hegel: Hegels Philosophie wird in dem Maße konkreter, vielschichtiger und neugieriger, in dem er eine frühe Form philosophischer Interdisziplinarität realisiert. Das wird insbesondere an seinem Interesse für neue philosophische Wissensfelder wie der Ästhetik, der Geschichtsphilosophie und der Religionsphilosophie im Unterschied zur metaphysica specialis deutlich. Markant tritt seine lebenslange Lust an neuen Wegen und am begrifflich initiierten Perspektivwechsel an seiner fundamentalen Opposition zur klassischen, aristotelischen Logik hervor – dazu später mehr. Das heißt aber nicht, dass sich große Brüche und Diskontinuitäten in werkgeschichtlicher Hinsicht konstatieren ließen. Im Gegenteil, Hegel formuliert 1806 in Jena in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ein Programm, das er im Laufe seines Lebens realisiert. Es kommt nach Hegels früher Einsicht, „welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht [nur] als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken“ (GW 9, S. 18). Diese Programmatik realisiert Hegels System aber erst in ihrer reifen, das heißt, die Lehre des absoluten Geistes umfassenden Gestalt. Dieses beeindruckende Theoriegebäude steht in seiner Architektur folglich mit der Lehre des subjektiven Geistes in Resonanz. 7 8

Vgl.: Zambrana, Hegel’s Theory of Intelligibility. Vgl. als klassische Position: Fulda, „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise“.

Hegel in Berlin

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Was heißt das? Hegels Anthropologie kennt mit Anschauung, Vorstellung und Denken drei theoretische Vermögen der Seele, des subjektiven Geistes. Anschauung ist das Vermögen der sinnlich vermittelten Auffassung der Welt und bleibt an die sinnliche Gegenwart des Angeschauten gekoppelt. Die Vorstellung hingegen abstrahiert von der sinnlichen Gegenwart der Anschauung und macht Nichtgegenwärtiges für die innere Seele präsent. Vorstellung hat bei Hegel eine konstitutive Bindung an die Erinnerung. Aufschlussreich ist das hegelsche Spiel mit „Er-innerung“ und der Rolle von Symbolik, Zeichen und Sprache für den Bildungsprozess der imaginativen Fakultäten der Seele. Imagination ist notwendig mit einem Ausdrucksgeschehen verbunden. Er-innerung ist wesentlich Ausdruck. So wird das Imaginäre real. Schließlich und drittens sind die begrifflichen Vermögen des Geistes die Vermögen des Denkens. Denken findet im Begriffe statt. Derart wird von der Symbolik des Imaginativen abstrahiert. So wird erst der Blick frei für die Struktur der Sache selbst. Denken ist für Hegel eine wesentlich prosaische, eine auf die Sache selbst gerichtete Tätigkeit. Dieser Sachbezug macht das Denken frei von der Unmittelbarkeit der Sinnlichkeit. Der Dreiklang von Anschauung, Vorstellung und Denken organisiert auch die Lehre des absoluten Geistes. Das Schema ist genial einfach und analytisch aufschlussreich: Kunst korrespondiert der Anschauung. Religion entspricht den imaginativen Vermögen, also der Vorstellung. Philosophie schließlich drückt die Vermögen der begrifflichen Reflexion und damit des Denkens aus. Angereichert wird dieses Schema durch die Übertragung der drei Wertprädikate des Schönen, Guten und Wahren. Kunst ist als sinnliches Scheinen der Idee die Reflexion der Substanz des Geistes im Medium des Schönen. Religion ist der praktische Ausdruck der Vorstellungen des Geistes vom substantiell Guten. Philosophie ist als prosaischbegriffliche Praxis wesentlich auf das Wahre der Substanz gerichtet. Hegels Idealismus besteht in der These von der spekulativen Identität des Schönen, Guten, Wahren. Folglich ist die Pluralität dieser Ausdruckspraktiken die Form ihrer Einheit. Mit dieser These ist Hegels Verständnis der Moderne berührt. Denn Begriff

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Vorwort

und Philosophie bilden keine Synthesis von anschaulicher Kunst und vorstellender Religion. Sie heben sie also nicht in dem Sinne auf, als dass wir sie hinter uns lassen sollten, um zur Wahrheit der Sache selbst zu gelangen. Die Sache selbst besteht vielmehr im produktiven Streit der Fakultäten des Geistes. Das ist die Modernisierung der abendländischen Tradition, an der Hegel arbeitet. Im Sinne dieser, von Hegel ausgehenden Modernisierungsbewegung untersuchen wir die Medien des absoluten Geistes. Mit Medium ist die entsprechende Praxis in ihrer Materialität gemeint. Es geht dabei darum, die Geltung des modernen Prinzips der expressiven Subjektivität und damit den ontologischen Bruch im Prinzip der Substanz zu bejahen. Anders gesagt, der Geist braucht weder eine vorpolitische Basis sozialer Einheit noch ist eine konstitutive Zerrissenheit im modernen Subjekt zu konstatieren. Wir nehmen mit Kunst, Religion und Philosophie drei Praxisfelder in den Blick, die die Krisen sozialer Praxis thematisieren und so produktiv für eine moderne Subjektivität werden lassen. Es ist für Hegels Verständnis der Moderne, an dessen Weiterentwicklung wir hier interessiert sind, zentral, alle drei Praktiken als Impulsgeberinnen von Kritik zu fassen. Es gilt dabei, die Relevanz und Spezifik der drei Reflexionsformen des Absoluten zu erläutern. Was passiert in den drei Teilen? Kunst steht im Zeichen der poetischen Vermögen des Geistes und ist der Prosa der Sphäre des objektiven Geistes und seiner auf Eindeutigkeit hin angelegten Sprache gegenübergestellt. Poesie ist in diesem grundlegenden Sinne die Praxis der Produktion und Rezeption von Kunstwerken, die das menschliche Inderweltsein thematisieren und sich dafür von der Sprache des objektiven Geistes zu entfremden haben. Die Relevanz der Kunst ergibt sich daraus, dass sie gesellschaftliche Prozesse thematisiert und kritisiert. Sie zeigt die Verengungen und gewaltsamen Verkürzungen in den normativen Standards menschlicher Praxis auf. Das heißt, um mit Hegel zu sprechen, sie zeugt von den „Tragödien im Sittlichen“. Kunst agiert, indem sie experimentelle Räume für veränderte Rezeptions- wie Handlungsweisen eröffnet. Kunst interveniert in soziale Praxis, sonst bleibt sie belangloser, selbst-

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referentieller Kitsch. Mit Blick auf die Relevanz der Kunst ist der produktive Beitrag der Kunstkritik zu reflektieren. Kunst ist nicht allein produktionsästhetisch beschreibbar, sondern bedarf als moderne Kunst ihrer Kritik, will sie ihre expressiven Vermögen aktualisieren. Das Poetische der Kunst im Sinne von ästhetischer Normativität – wir können mit Hegel von einer sinnlichen Allgemeinheit der Kunst sprechen – erläutert Hegel folglich nicht binnenästhetisch. Die Fragen nach ästhetischer Normativität sind mit geschichtsphilosophischen Reflexionen zu verbinden. Die berüchtigte Frage ist: Was ist Kunst nach dem Ende der Kunst? Hegel entwickelt dazu einen extrem spannenden und in der Sekundärliteratur nahezu komplett übersehenen Rahmen: Die Emanzipation der Produktion der Kunst, also ihre Emanzipation von der dienenden Rolle im religiösen Kultus, geht kulturgeschichtlich mit der Emanzipation ihrer Rezeption einher. Die Kunstkritik tritt auf. Hegels Ästhetik verdeutlicht, dass moderne Kunst in Anbetracht ihrer unendlichen Formenvielfalt und thematischen Reichhaltigkeit keinen selbstverständlichen Ausdruck geistiger Gegenwart mehr leistet wie noch in der antiken Klassik. Moderne Kunst hat sich von ihrem sozialen Ursprung emanzipiert und sich säkularisiert. In dieser modernen Form ist sie für eine philosophische Kunstkritik im engeren Sinne überhaupt erst interessant. Von einer „Verfallsgeschichte“ kann folglich keine Rede sein.9 Kunst ist erst nach dem Ende der Kunst bei sich, weil ihr Gewinn an Selbständigkeit gleichbedeutend ist mit dem Verlust ihrer Selbstverständlichkeit. Diese Diagnose Hegels wird von der nachhegelschen Kunst dadurch realisiert, dass Kunst konzeptionell wird. Sie befragt ihren Status als Kunst also stets und muss ihre Relevanz und die mediale Gestalt ihrer ästhetischen Strategien vor dem Hintergrund dieser Frage rechtfertigen. Der genuin soziale und historische Charakter der Kunst, den Hegels Ästhetik begrifflich fasst, hält für eine kritische Sozialtheo9

Eine wirkmächtige Interpretation liefert: Henrich, „Die Aktualität von Hegels Ästhetik“.

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rie eine wichtige Lektion bereit: Eine autochthone Begründung von kultureller Praxis ist metaphysisch unhaltbar. Kultur beruht immer auf Austausch. Die politischen Fragen nach Verhärtungen und einseitigen Aneignungen kulturellen Wissens ist eine systematisch relevante Frage der Kunstkritik. Künstlerische, allgemeiner gesagt, kulturelle Praxis beruht nämlich wesentlich auf Austausch und der wechselseitigen Aneignung kultureller Expressivität. Damit sind ästhetische Produktion wie Rezeption potentiell asymmetrisch und haben kolonialisierende Tendenzen – ein wichtiges Feld einer historisch informierten philosophischen Kunstkritik in der kulturell pluralen Gegenwart. Das Schema der Frage nach dem Ende der Kunst als Frage nach der Wirklichkeit der Kunst wendet Hegel auch auf die Religion an. Er ist viel zu sehr Zeitkritiker, um den Verlust der Selbstverständlichkeit der Religion nicht deutlich zu markieren und, da in seinen Augen durch die kritische Philosophie selbst angestoßen, auch zu begrüßen. Seine Frage ist auch hier, was eine Religiosität sein könnte, die sich von ihrem sozialen Ursprung emanzipiert und die „Flucht in den Begriff“ antritt. Hegels Versöhnung von Glauben und Wissen läuft über die Integration der Religionskritik in das theoretische Leben der Religiosität. Bei Hegel gibt es so gesehen noch keine Differenz von Innen- und Außenperspektive, von Theologie und kritischer Religionswissenschaft. Hegel betreibt also Theologie als Kritische Theorie der Vorstellungs- und Ausdruckswelt des substantiell Guten. Hegels Aktualität für Fragen religiöser Pluralität ergibt sich aber nicht nur aus seiner Theologie im Sinne einer Kritik der metaphysica specialis. Sie ergibt sich auch daraus, dass er mit der philosophischen Religionswissenschaft Fragen nach der praktischen Wirklichkeit der Religiosität stellt. Hegel sieht in der Religion eine Kraft, die den sozialen Zusammenhalt stiftet, von dem der moderne, säkulare Staat lebt, den er aber nicht selbst reproduzieren kann. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Böckenförde seine Überle-

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gungen zur „homogenitätsverbürgende[n] Kraft“10 der Religion im kritischen Anschluss an Hegel entwickelt. Wir tun gut daran, stärker noch, als Hegel es tut, die problematische, exkludierende Seite der Religiosität zu thematisieren. Es steckt aber großes Potential in seiner Begründung des Laizismus. Wir entwickeln mit Hegel einen kooperativen Laizismus, der die Trennung von Kirche und Staat so fasst, dass die Unterstützung religiösen Lebens staatliche Aufgabe ist und bleiben sollte. Religiosität ist eine viel zu ambivalente Sache, als dass wir sie in republikanischer Manier institutionell sich selbst überlassen sollten. Die offene Gesellschaft sollte religiöses Leben institutionell und über alle konfessionellen Grenzen hinweg finanzieren. Das meint neben der Pflege der Institutionen vor allem die akademische Anerkennung der Relevanz interkultureller Fragestellungen in Form von nicht-theologischen Lehrstühlen zu Mehrheitsund Minderheitsreligionen. Der kooperative Laizismus wird einer offenen, interkulturellen Gesellschaft besser gerecht als sein republikanisches Pendant. Im dritten Teil der Auseinandersetzung mit Hegels Theorie des Absoluten stehen der Begriff und die Methode kritischer Philosophie im Zentrum. Hier ist das Energiegefälle von Primärtext und seiner geläufigen Interpretation so groß wie nirgends sonst. Das liegt daran, dass Hegels Dialethismus trotz deutlichster textueller Evidenz kaum zur Kenntnis genommen wird.11 Hegel entwickelt den Dialethismus in seiner Wissenschaft der Logik, dem von ihm selbst als „Reich der Schatten“ bezeichneten Areal des Geistes (GW 21, S. 42). Logik ist die Reflexionspraxis, die ohne die Anschaulichkeit der Kunst und ohne die imaginativen Symboliken und Metaphern der Religion auskommen muss. Logik scheint im hegelschen Sinne also einerseits weit weg vom Leben. Sie hat aber mit der Normativität des Denkens die Methode intellektueller Offenheit zu ihrem Gegenstand. So taucht das Leben an ihrem höchsten Kulminationspunkt wieder auf. 10 11

Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 111. Es steht in Aussicht, dass sich das ändert. Vgl. jüngst: Moss, Hegel’s Foundation Free Metaphysics.

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Konsens scheint mit Blick auf Hegels Methode darin zu bestehen, dass der Widerspruch im Zentrum der Dialektik als einer Theorie semantischer und realer Bewegung steht.12 Seit Trendelenburgs Logische Untersuchung von 1840 lässt sich ein Muster beobachten. Es gibt die hegelkritischen Stimmen, die die Methode der Dialektik als unwissenschaftlich zurückweisen, eben weil sie den Widerspruch integriere. Eine in diesem Sinne exemplarische Hegelkritik formuliert Popper: „If we are prepared [like Hegel] to put up with contradictions, criticism, and with it all intellectual progress, must come to an end.“13 In Reaktion darauf verteidigen Hegel zugeneigte Stimmen seine Methode, indem seine Position entschärft und sein Negationsbegriff als nichtformale Operation gedeutet wird.14 Es wird dabei übersehen, dass Hegel einen affirmativen Begriff des Widerspruchs als Struktur der Sache selbst entwickelt. Die wichtigste Streitfrage betrifft die Frage der Methode der Dialektik selbst. Sie wird oft in das Schema von These-Antithese-Synthese gepresst. Das ist aber nicht der Rhythmus des Denkens. Dieses Schema führt in die Irre, suggeriert es doch, das Ziel der Dialektik sei eine widerspruchsfreie Synthese von Gegensätzen. Dialektik lebt vielmehr vom Gedanken des Weiterdenkens als Realität des Denkens. Die Arbeit des Weiterdenkens und der Rhythmus der Dialektik bestehen in der Darstellung und Kritik der historischen Ausgangslage philosophischer Subjektivität. In der Kritik der eigenen Tradition helfen die binären Schematismen der Gegensätze und des Entweder-Oder nicht weiter. Es geht um Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die langfristige, zeitliche Erstreckung von kulturellen Traditionen und die wesentlichen Spannungen, die Identitäten ausmachen. Die Schwarz-Weiß-Malerei der komplexen Wirklichkeit des Geistes lässt alle Katzen grau werden. Dialektischer Rhythmus hingegen schärft das Bewusstsein für die Nuancen und Spannungen im Zwi12 13 14

Ficara, „Dialectic and Dialetheism“, S. 50. Popper, Conjectures and Refutations, S. 316–317. Pippin, Realm of Shadows, S. 155–162.

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schenraum der Gegenstände der Beweisführung. Dialektik dient der Öffnung, nicht dem Abschluss des Denkens. Was sind nun, so fragt die Arbeit, die ontologischen und epistemologischen Folgen, wenn Hegels Bejahung des Widerspruchs und seine Nobilitierung des Widerspruchs als Wesen der Sache selbst in den Blick genommen werden? Um diese Frage systematisch zu fassen, können wir drei Grundtypen dialektischer Philosophie und Methode von Hegel abheben: Wir können transzendentale, materialistische und negativistische Varianten von Dialektik anhand ihres leitenden Schematismus der Kategorie des Widerspruchs unterscheiden. Transzendentale Logik schematisiert den Widerspruch als theoretisches Problem. Die Vernunft verstricke sich in Antinomien bei dem Versuch der Klärung der kosmologischen Grundfragen nach der Unendlichkeit des Universums, der Unteilbarkeit der Elemente, der Frage nach Kausaldetermination und Freiheit und schließlich der Frage nach Gott. Kant unternimmt deshalb den Versuch, den „dialektischen Schein“ aufzulösen, in den sich die Vernunft bei der Erhellung ihrer selbst verwickelt.15 Kant hält das Widersprüchliche für denkunmöglich, da der Widerspruch den Gesetzen des Denkens widerspricht. Das Ziel Kants ist die Synthese der Gegensätze, indem er ihre „Subkontrarität“ aufzeigt – als Sinnenwesen ist der Mensch unfrei, als Vernunftwesen hingegen frei. Materialistische Logik wiederum versteht den Widerspruch wesentlich praktisch, das heißt als Widerspruch von Kapital und Arbeit. Marx versteht unter Synthese insofern nicht mehr die Auflösung theoretischer Probleme, sondern die Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die „materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft [geraten] in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen“, solange die Eigentumsverhältnisse unter bürger15

Kant fasst es so: „Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht, (der Schein der Trugschlüsse) entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel.“ Kant, KrV, B 353.

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lichen Formen stehen.16 Marx bleibt mit Blick auf den Schematismus des Widerspruchs damit eigentlich ein Kantianer.17 Der Widerspruch ist zwar real, praktisch und insofern denkbar, aber weiterhin Zeichen antinomischer Praxis. Der Widerspruch wird so, in gegenwärtiger Terminologie gesagt, als „Sozialpathologie“ rekonstruiert.18 In ihrer negativistischen Spielart schließlich nimmt materialistische Dialektik Abschied von der Vorstellung einer finalen Emanzipation der gesellschaftlichen Verhältnisse und schematisiert den Widerspruch als praktische Aporie der Emanzipation, nach der jede Emanzipation nur in neue Formen von Repression umschlägt. Adorno empfiehlt daher den Abschied von der Teilnahme an sozialer Praxis in ihrem totalen ›Verblendungszusammenhang‹, indem er den Begriff der „Mimesis“ als Ausstieg aus der verfehlenden Praxis der Identifikation interpretiert.19 Hegels spekulative Logik hingegen hat, wie wir herauszuarbeiten haben, einen theoretischen wie praktischen Begriff des Widerspruchs als Bedingung der Lebendigkeit von Subjektivität und Objektivität. Das Ziel spekulativer Logik ist nicht, die Widersprüche aufzuheben, sondern sie als Spannung der Sache selbst zu begreifen. „Der Widerspruch wird für gewöhnlich fürs erste von den Dingen, von dem Seyenden und Wahren überhaupt, entfernt; es wird behauptet, daß es nichts 16 17

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Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, S. 9. Die systematische Nähe von Kant und Marx in normativer, moralischer Hinsicht arbeitet etwa Lea Ypi heraus. Ypi, „From Revelation to Revolution“. Die Nähe von Sozialpathologie und kritischer Genealogie im Anschluss an Nietzsche und Foucault betont: Honneth, „Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt“. Adornos Idee der Mimesis wird in der Regel in ästhetischer Hinsicht verstanden. Kunst kann für einen Moment aus sozialer Praxis aussteigen, scheitert aber letztlich an diesem Anspruch. In diesem notwendigen Scheitern liegt für Adorno ihr emanzipatives Potential: „Nur weil emphatisch kein Kunstwerk gelingen kann, werden ihre Kräfte frei; nur dadurch blickt sie auf Versöhnung.“ Adorno, Ästhetische Theorie, S. 87.

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widersprechendes gäbe. Er wird fürs andre dagegen in die subjective Reflexion geschoben, die durch ihre Beziehung und Vergleichung ihn erst setze. Aber auch in dieser Reflexion sey er nicht eigentlich vorhanden, denn das Widersprechende könne nicht vorgestellt noch gedacht werden. Er gilt überhaupt, sey es am Wirklichen oder in der denkenden Reflexion, für eine Zufälligkeit, gleichsam für eine Abnormität, und vorübergehenden Krankheitsparoxysmus.“ (GW 11, 286 f.)

Anders als Kant platziert Hegel den Widerspruch nicht in die theoretisch-subjektive Reflexion, noch versteht er den Widerspruch wie Marx als Ausdruck prärevolutionärer sozialer Missstände. Hegel fasst den Widerspruch als Ausdruck der Lebendigkeit des Geistes. Nur das Tote ist frei von Widersprüchen: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend“ (ebd., S. 286). Der Widerspruch ist „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit, nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Thätigkeit“ (ebd., S. 286). Die Rede von der Wurzel aller Bewegung ließe sich im Sinne einer beschwichtigenden Lesart als Ausgangspunkt einer Bewegung zur finalen Überwindung der Widersprüchlichkeit des Lebens verstehen. Diese Lesart läuft aber auf eine problematische Kantianisierung Hegels hinaus.20 Der Widerspruch gehört der spekulativen Logik zufolge zur logischen Form des Lebens. Ihn aufzulösen wäre folglich der Tod des Lebens, denn „[e]twas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten“ (ebd., S. 287). Der hier vertretene Dialethismus vertritt die These, dass der Widerspruch als logische Relation erstens eine intelligible Struktur aufweist, und zweitens, dass der Widerspruch die Struktur der lebendigen Sache selbst ausmacht. Etwas auf seinen Begriff zu brin20

Die Reihe der Lesarten Hegels als Postkantianer ist lang. Keine dieser Vorschläge gelingt eine Interpretation der Denkbestimmung des Widerspruchs. Den Widerspruch mit Hegel zu verstehen, setzt voraus, die fundamentale Differenz von transzendentaler und spekulativer Logik zu reflektieren. Vgl. als Interpretationsvorschlag von Negation und Widerspruch: Pippin, Realm of Shadows, S. 139–180.

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gen, heißt daher, den konstitutiven Widerspruch der Sache selbst zu artikulieren. Die Leitidee ist auch, dass der Dialethismus Ausdruck moderner Metaphysik ist. Um Hegels Dialethismus freizulegen, hilft der Blick auf die Architektur der Wissenschaft der Logik. Sie ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil beschreibt unter dem Oberbegriff der Substanz die Welt in ihrem Sein, das heißt so, wie die Welt an sich ist, unabhängig von der Struktur der Subjektivität. Im Buch zur Seinslogik entwickelt Hegel eine radikal prozessontologische Auffassung der Objektivität der Welt: Sein ist wesentlich Werden; alles ist, indem es wird. Innerhalb noch der Substanz wird das Fürsichsein der Welt Gegenstand. Was heißt es für das, was ist, dass es wird, was es ist? Welche intellektuellen Strukturen sind in der Lage, das zu begreifen, was wird, indem es ist? Wie sind Substanz und Subjektivität also zu vermitteln? Hierbei spielt der Begriff der Reflexion eine zentrale Rolle. Reflexion hat eine Doppelstruktur: Sie ist sowohl der Substanz als auch der Subjektivität hinreichend ähnlich, kann so beide verbinden und zugleich ihre Differenz markieren. Ontologisch, also an sich, bedeutet Reflexion, dass alles wird, was es ist, indem es sich auf sein Anderes bezieht. Sein ist der Prozess der Reflexion, nichts ist autochthon. Nichts ist aus sich selbst heraus das, was es ist. In diesem Sinne ist Reflexion eine Eigenschaft der Welt an sich. Zugleich ist Reflexion eine begriffliche, also eine genuin subjektive Größe. Die begrifflichen Strukturen erlauben es, die Voraussetzungen und Folgerungen der genuinen Relationalität allen Seins explizit zu machen. Der Begriff ist sozusagen die Reflexion der Reflexion: Der Begriff ist das für sich, was die Welt an sich ist. Den Begriff der Reflexion bestimmt Hegel in der Wesenslogik näher, indem er vier Axiome abendländischer Philosophie diskutiert und als sachlich unangemessenen Rationalismus verwirft: den Satz der Identität, den Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs, den Satz des ausgeschlossenen Dritten und schließlich den Satz des zureichenden Grundes. Fundamentaler kann die okzidentale Philosophie in ihren methodischen Grundlagen nicht reflektiert werden. Hegel macht darauf aufmerksam, dass der Satz der Identi-

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tät und der Satz des Widerspruchs Schwestern im Geiste sind. Wer Identität als Sichselbstgleichheit im Sinne des fichteschen A=A schematisiert, wird den Widerspruch stets zurückweisen müssen – und umgekehrt wird, wer vom Dogma der Widerspruchsfreiheit ausgeht, nie zu mehr als zur metaphysischen Leere autochthoner Identität gelangen können. Identität ist aber nur konkret, so die berühmte hegelsche Formulierung, als Identität der Identität und Differenz. Ausgehend von diesem Grundsatz wird klar, dass die Welt sich dem schematischen Entweder-Oder des Verstandes entzieht. Die konkrete Negation leistet die Verflüssigung solcher Oppositionen. Ein Drittes ist stets gegeben, auch wenn es sich der Anschauung und Vorstellung entzieht. Wenn Hegel schließlich den zureichenden Grund anführt, fasst er den Widerspruch als das Begründende. Etwas philosophisch auf den Begriff zu bringen, gibt also auf, die Problematizität der Sache selbst zu artikulieren – etwas zu begründen, heißt philosophisch, es in der Spannung von Identität und Differenz begrifflich zu verorten. Der hegelsche Dialethismus lässt sich durch zwei Implikationen weiter charakterisieren – eine ontotheologische und eine inferenztheoretische. Es ist oft festgestellt worden, dass Hegels Logik eine Rehabilitation des ontologischen Gottesbeweises unternimmt, übersehen wird aber in der Regel die dabei geleistete Dekonstruktion der Tradition. Geargwöhnt wird, dass Moderne und die Tradition der Gottesbeweise miteinander unvereinbar wären. Der klassische ontologische Beweis lässt sich so rekonstruieren: Der Begriff Gottes als Inbegriff aller Realität, als ens realissimum, lässt sich nicht widerspruchsfrei denken, ohne ihm das Prädikat der Existenz beizulegen. Folglich ist Gott. Das ist Verstandesmetaphysik. Da wir Widersprüche denken können, folgt die Konklusion nicht aus ihren Prämissen. Hegels Version des ontologischen Gottesbeweises nimmt deshalb eine andere Gestalt an: „Das Seyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten; […] Das Nichtseyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten“ (GW 11, S. 290). Folglich ist Gott. Gott wird aber nicht als Positivität bewiesen, nicht als unwandelbare, ewige, sichselbstgleiche Substanz, sondern als Geist, als Subjekt. „Geist

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ist nur Geist“ so heißt es in der Enzyclopädie, „in sofern er für den Geist ist“ (GW 20, § 564). Gott ist also wesentlich der Prozess seiner Entäußerung. Diese Ontotheologie Hegels können wir als expressive Theologie fassen, die die kommunikative Dimension des Absoluten in den Blick nimmt.21 So können wir einen neuen Blick auf Hegels kritische Aneignung christlicher Offenbarungsgehalte werfen. Entäußerung konzeptualisiert Hegel über die Idee der Liebe. Wenn Liebe der einzig vernünftige Inbegriff aller Realität ist, dann ist, so führe ich im Geiste Hegels aus, jede Form von Diskriminierung aufgrund von Gender, Sexualität, Ethnie, Intellekt, Alter, sozialer Klasse oder Status vom kritisch-metaphysischen Standpunkt aus unhaltbarer Anthropomorphismus. Zweitens hat der Dialethismus Konsequenzen für Hegels Theorie des Begriffs, mithin des Schlusses als der Reflexion der Reflexion. Diese Konsequenzen entwickelt Hegel im zweiten Teil seiner Wissenschaft der Logik, der sogenannten Begriffslogik. Seit Aristoteles gilt in der westlichen Philosophie das Axiom, der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs bilde eine notwendige Voraussetzung inferentieller Praxis. Teilt Hegel diese Ansicht? Offenkundig nicht. Er entwickelt im Anschluss an die Reflexionsbestimmungen der Wesenslogik eine Theorie der Inferenz, die den ersten Teil der Begriffslogik bildet. Darin nimmt Hegel den Dialethismus keineswegs zurück, sondern leistet dessen pragmatische Konkretion. Zwei Aspekte seiner Theorie der Inferenz sind hervorzuheben. Für Hegel bildet erstens die Deduktion das falsche Paradigma der Analyse logischer Notwendigkeit. In der klassischen Logik gelten Tautologien aufgrund ihrer Form als notwendig wahre Urteile. Für Hegel bilden sie keine Urteile, sondern bloß leere Sätze. Alle wahren Urteile sind immer, mit Kant gesprochen, „Erweiterungsurteile“, synthetische Urteile. Diesen Gedanken überträgt Hegel auf den Schluss. Deduktionen sind komplexe Tautologien, denn sie investieren die Wahrheit der Konklusion bereits mit ihren Prämissen. Inferentielle 21

Vgl. hierzu auch: Bertram und Wieland, „Wenn Gott nicht wäre ...” S. 81– 95.

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Normen sind für Hegel, um nochmals Kant zu bemühen, hingegen immer Organon, nicht Kanon epistemischer Praxis. Deshalb nobilitiert er, anders als Kant, analogische und induktive Beweisführungen. Das beste Beispiel einer Nondeduktion liefert in Hegels Augen Kant in seiner transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe selbst. Dieser philosophische Beweis leistet keine deduktive Ableitung materialer Relationen. Vielmehr operiert die Urteilskraft im Spannungsfeld von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit und bestimmt so das Allgemeine fort, indem sie es auf ein Einzelnes als eines seiner Besonderungen anwendet. Das Einzelne erfährt umgekehrt seine Konkretion als ein so fortbestimmtes Allgemeines. Logische Praxis operiert nach Hegel dabei mit Ähnlichkeiten und macht Ähnliches über Ähnliches begreiflich. Dieses nondeduktive Modell der Inferenz macht Hegel für den Pragmatismus sehr anschlussfähig.22 Der zweite Aspekt von Hegels dialethischer Begriffstheorie betrifft die Modalität von Urteilen. Auch hier ist Hegels Rehabilitation der aristotelischen Tradition nicht anders denn als ihre Dekonstruktion zu bezeichnen. Urteile werden klassisch als assertorische, problematische und apodiktische Urteile klassifiziert. Kant deutet diese Modalität über den subjektiven Grad der Überzeugung der Sprecher*in; eine Deutung, die Hegel als Ausdruck „der äußerlichen Reflexion“ versteht (GW 12, S. 84). Hegel begründet die Modalität hingegen ontologisch, also in der Sache selbst. Jedes Urteil, jede Assertion also, ist letztlich problematisch, weil der Gegenstand jedes Urteils aufgrund der genuinen Relationalität der Wirklichkeit selbst problematisch, also konstitutiv auf Anderes bezogen ist. Deshalb ist das Urteil über alle Wirklichkeit, eben das apodiktische Urteil, das Urteil, das den Schluss aus dieser genuinen Problematizität aller Wirklichkeit zieht: die Trennung von Sein und Sollen. Da alles genuin auf Anderes bezogen ist und nichts autochthon in sich selbst gründet, ist die Normativität des Seins eine begriffliche, keine seinslogische Größe. Das ist das Urteil über alle Wirklichkeit. 22

Siehe hierzu: Brandom, Tales of the Mighty Dead, S. 179.

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Mit dem Axiom der Trennung von Sein und Sollen liefert Hegel in meinen Augen den Goldstandard für jede Kritische Theorie sozialer Praxis und moderner Begriffsarbeit. Dieser Goldstandard besteht in der methodisch transparenten Zurückweisung von Letztbegründungsstrategien. Letztbegründungen, seien sie transzendental oder naturalistisch, verfehlen die zentrale Stellung der Negativität des Geistes. Wir sind, anthropologisch gesprochen, das nichtfeststellbare Tier. Es ist so zwar nicht falsch zu sagen, dass wir von Natur aus vielfältig sind und uns binären Zuordnungen entziehen. Das ist aber ein empirisches Urteil, das als solches keine Ethik begründet. Der intrinsische Wert der Vielfalt wird nicht durch einen ethischen Naturalismus, sondern einen ethischen Idealismus begründet. Der Wert der Vielfalt ergibt sich daraus, dass Wert und Wirklichkeit sozialer Praxis in ihrer Fähigkeit zur Emanzipation von ihrem Ursprung liegen. Wenn das Wesen sozialer Praxis in ihrem Wandel besteht, haben ihre Werte und handlungsleitenden Standards nur Substanz, indem sie Gegenstand von Kritik und Aneignung sind. Folglich ist Vielfalt die Form der ethischen Substanz; Vielfalt drückt das aus, was Hegel als die „konkrete Allgemeinheit“ des Geistes bezeichnet. Wir können die gesamte folgende Textarbeit in der exegetischen These bündeln: Hegels Begriff der „konkreten Allgemeinheit“ meint Pluralität. Was impliziert dieser Standard für die absolute Idee, also die Methode der Dialektik? Der Verstand ist das Vermögen der Seele, das durch die Sätze der Identität sowie vom ausgeschlossenen Widerspruch und Dritten bestimmt ist. Sein Zweck besteht in der Analyse des Bestehenden. Der Verstand liefert die Schematismen des Denkens, die wortwörtlichen Vor-Urteile. Die Vernunft bringt diese Schematismen zur Anwendung. In dieser Applikation und Syntheseleistung der Vernunft lösen sich aber die fixen Gegensätze des Verstandes auf: empirisch, begrifflich; analytisch, synthetisch; a priori, a posteriori; historisch, systematisch; Natur, Geist – das sind für den Geist alles graduelle Unterschiede. In dieser Selbstkritik seiner Kategorien, seiner Reflexionsbestimmungen, leistet der Geist als Vermögen der Dialektik die Verflüssigung des Bestehen-

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den. Die geistreiche Reflexion des Begriffs macht das intelligibel, wovon Anschauung und Vorstellungen stets nur eine hinweisende Ahnung geben können – die Widersprüchlichkeit der lebendigen Wirklichkeit. Diese Widersprüchlichkeit weder leugnen zu müssen noch sich von ihr lähmen zu lassen, das ist die Kraft des Geistes. Diese umrissene Theorie von immanenter Kritik und ihrer Methode der Dialektik wird im dritten Teil der Arbeit weiter zu vertiefen sein. Die Selbstverortung meiner Arbeit im Zeichen des kritischen Idealismus des Berliner Hegel spielt, und damit kommt diese Einleitung zu ihrem Schluss, auf die Verbindung von Geist und Metropole an. Berlin lebt vom guten Einfluss nicht nur schwäbischer Einwanderung und steht so für eine kulturelle Offenheit, in der vielfältige, queere und transkulturelle Lebensformen Anerkennung finden. Berlin ist bunt, kritisch und direkt – genau dieser Geist leitet mich in meiner philosophischen Arbeit mit Hegel, gegen Hegel und über Hegel hinaus. Wir sind damit am Ende, genauer gesagt, am Ende des Endes. Warum also in diesen Zeiten Hegel lesen? Die Welt trotz ihrer Probleme und Widersprüche zu lieben, eine, mit Arendt gesprochen, Haltung des Amor Mundi zu pflegen, heißt, sie auf den Begriff zu bringen. Wir haben den Amor Mundi zu pflegen, soll die Welt des Geistes Bestand haben.

Teil I

Kunst

Einleitung Kunst ist nach Hegel die sinnlich-anschauliche Kommunikationsform des Geistes. Sie stellt das Absolute im Medium der Anschauung dar. Wir schreiben damit Hegel die systematische These zu, dass es eine genuin ästhetische Form der Intelligibilität gibt. Kunst gibt uns also mit ihren Werken etwas zu verstehen. Kunst ist eine Form von Wissen, von sinnlich vermitteltem Wissen. Die ästhetische Form, das Ganze des menschlichen Inderweltseins zu reflektieren, steht Hegels Lehre des absoluten Geistes zufolge im Kontext von Religion und Philosophie. Trotz all ihrer inhaltlichen und medialen Differenzen bilden Kunst, Religion und Philosophie Praktiken der Orientierung und der Bedeutungsstiftung. Hier entwickelt der Geist ein Selbstverständnis von sich und der Welt, das dem Ideal des, wie Hegel es nennt, freien Bei-sich-im-Anderen-Seins zuträgt. Wir werden versuchen, Hegels Kunstphilosophie im Sinne einer Theorie ästhetischer Intelligibilität so zu deuten, dass ihre Aktualität und Modernität deutlich wird. Hegel greift, wie wir im Folgenden sehen werden, die Differenz von Prosa und Poesie auf, um ästhetische Intelligibilität so zu fassen, dass ihre Verkörperung im Kunstschönen ersichtlich wird. So stellt sich die Frage nach Wesen, Freiheit und Funktion der Kunst in Hegels Ästhetik als Frage nach dem Verhältnis von Prosa und Poesie. Prosa meint in einem noch zu eingehend zu erklärenden Sinne das Kunstschöne überhaupt. Mit der Kategorie der Prosa ist im grundlegenden Sinne eine Theorie der Moderne angesprochen, die den gesellschaftlichen Progress in Versachlichung und Egalität von Kommunikationsformen verortet. Diese Formen weisen ihre eigene Dialektik auf, kommt doch die Kunst mit der „Prosa des gemeinen Lebens in Berührung“ (GW 28.1, S. 315). Die Spannung der Kommunikation von Kunst und Nichtkunst philosophisch zu taxieren, das ist Anspruch und Aufgabe der hegelschen Ästhetik. Wie ist also die Beziehung des ästhetischen Ideals der Poesie zur weltlich-

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Kunst

verwickelten, profanen Praxis des Menschen? Wie verhalten sich Poesie und Prosa zueinander? Lassen sie sich versöhnen? Was hieße hier überhaupt Versöhnung? Die Grundthese ist, dass sich Poetik und Prosa versöhnen lassen, wenn es gelingt, ihren Widerstreit als Form ihrer wahren Kommunikation zu reflektieren. Kunst ist eine kritische Praxis, die der prosaischen Gegebenheit und Positivität des objektiven Geistes das Fluide, Ambivalente, Offene entgegenhält. Wir werden dazu die Ästhetik Hegels in diesem Teil des vorliegenden Buchs als Poetik rekonstruieren. Die exegetische Hauptthese des Teils zur Kunst lautet, dass wir Hegels Ästhetik als Poetik verstehen müssen, um ihrer philosophischen Tiefe gerecht zu werden. Poesie ist aber nicht einfach eine der Prosa der bürgerlichen Welt äußerliche Sprachpraxis. Versöhnung im zu erläuternden Sinne heißt, die Wechselwirkung von Kunst und Nichtkunst dialektisch zu deuten. Diese Wechselwirkung auf den Begriff zu bringen, ist der systematische Anspruch spekulativer Ästhetik. Der Gedanke der Pluralität wird sich dabei als tragend erweisen, weil Kunst als kritische Praxis konstitutiv der Pluralität ihrer Formen bedarf. Mit der Idee einer Poetik ist gemeint, Kunst von einer ihrer besonderen Verkörperungen her zu denken. Die redenden Künste, die Poesie, sind für Hegel das Paradigma des Kunstschönen, denn Poesie exemplifiziert das Allgemeine der Kunst in paradigmatischer Weise. Wir werden das damit gegebene Problem des Logozentrismus weiter unten diskutieren. Jede Kunst ist nach Hegel also letztlich poetisch, seine Poetik muss daher den Besonderheiten der Realisierungen des Poetischen in den Einzelkünsten gerecht werden. Hegels Poetik zeigt durch eine systematische Genealogie der Formen der Künste auf, warum es nicht nur einen Kreis der Kommunikation des Geistes mit sich geben kann, sondern dass jeder dieser Kreise ein Kreis aus Kreisen ist, eine Pluralität der Pluralitäten. Hegels poetischer Pluralismus bietet eine Theorie moderner, nachromantischer Kunst, mit der sich moderne Sittlichkeit als die Vielfalt der Lebensformen anschaulich machen lässt. Um dieses Gesamtbild zu zeichnen, sind zuerst die systematischen Ziele der hegelschen Poe-

Einleitung

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tik näher auszuzeichnen. Was sind die wesentlichen Strukturen, Zusammenhänge und Ambivalenzen der Kunstpraxis im weiteren, also Produktion und Rezeption umfassenden Sinne, die es philosophisch zu durchdringen gilt? Welche Bedingungen, Notwendigkeiten und Widersprüche zeichnen eine lebendige ästhetische Praxis aus? Was ist ihr systematischer Kern? Eine Antwort ließe sich so skizzieren: Kunst steht in der Spannung von poetischer Selbst- und prosaischer Fremdbestimmung. Die hegelsche Theorie werden wir so deuten, dass sie die Spannung der Kunst zwischen freiem Ausdruck und sozialer Determination zu fassen erlaubt. Hegel entwickelt eine These der Emanzipation der Kunst von heteronomer Zwecksetzung und verbindet sie mit einer These von der Emanzipation der Rezeption: Freie Kunst bedarf ihrer Kritik. Das ist aus meiner Perspektive der systematische Kern der berüchtigten These von der Kunst nach dem Ende der Kunst. Die Realisierung ihrer Freiheit setzt nämlich ihren Substanzverlust voraus. Die konstitutive Spannung der Kunst ergibt sich so aus der Dialektik ihrer Emanzipation und ihres Substanzverlustes: Kunst gelangt durch den Schritt zu sich selbst, durch den sie ihre feste Substanz verliert. Anders als viele gängige Lesarten der hegelschen Ästhetik werden wir diesen Substanzverlust nicht als Verfall, sondern als Gewinn artikulieren. Kunst existiert nicht bloß als Summe ihrer ausgeschöpften Entwicklungsmöglichkeiten im „Modus ihres Erliegens“ fort.1 Es ist vielmehr der moderne Verlust ihrer Selbstverständlichkeit, der einen zivilisatorisch-kulturellen Fortschritt darstellt. Freie Kunst ist problematische Kunst, Kunst in der Begründungskrise. Kunst verwirklicht eine freie, souveräne Weise, sich auf das gesellschaftliche Ganze des Menschen zu beziehen und in es hineinzuwirken. Zugleich ist Kunst soziale Tatsache und unterliegt den gesellschaftlichen Zwängen. Mit diesem „Doppelcharakter der Kunst“ (Adorno) gilt es sich philosophisch mit Blick auf Spezifik und Relevanz der Künste auseinanderzusetzen. Ein wichtiges 1

Henrich, „Zerfall und Zukunft“, S. 75.

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Kunst

Ziel einer idealistischen Poetik nach Hegel muss es also sein, den gesellschaftlichen Charakter der Kunst mit ihrer Autonomie und Souveränität zusammenzudenken. Die enge Verzahnung der These der Relevanz der Kunst mit ihrem gesellschaftlichen Charakter gilt es aufzuzeigen. Diese Verbindung gerät außer Sicht, wenn Hegels These vom Ende der Kunst als Verfallsgeschichte missgedeutet, statt als Emanzipationsbewegung verstanden wird. Dieser Gedanke formuliert damit ein erstes Explikationsziel: Es geht erstens um ein hermeneutisches Grundverständnis des Kunstschönen: Da es die „Grundverfassung der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins“ ist, so drückt Gadamer diese Verbindung aus, „sich verstehend mit sich selbst zu vermitteln“,2 gehört die kulturelle Sphäre der Sprache im Spannungsfeld ihrer poetischsinnlichen und ihrer prosaisch-instrumentellen Verwendung zum Kern einer Philosophie des absoluten Geistes. Erst in der konfliktuösen Wechselwirkung von Prosa und Poesie verwirklichen sich die emanzipativen Potentiale der Sprache. Damit steht die Wertfrage im Raum. Braucht es eine poetische Weise der Selbstvermittlung oder liefert diese Weise letztlich nur Mythen und Symbolik? So wie Hegel unter Dialektik nicht höhere Poesie versteht, sondern sie methodisch begründet, so versteht er auch Poesie nicht als ein sophistisches Spiel mit Worten. Hegel denkt das Poetische als unverzichtbaren Teil des expressiven, weltaneignenden Vermögen des Geistes. Poesie ist keine Kompensation für die in der Prosa der Existenz erlittene Unfreiheit, sondern Bedingung des emanzipativen Potentials der Prosa. Es ist also im Sinne seines Expressionismus der Konflikttheoretiker in Hegel stark zu machen. So kann die produktive konfliktive Kommunikation als Ideal expressiver Freiheit gefasst werden. Das zweite Explikationsziel betrifft unmittelbar die Stellung der Sprache. Poetiken sind argumentativ unter Beschuss geraten, so wird etwa unter Derridas Stichwort des „Imperialismus des Logos“ ihre vermeintliche Idee der Vorherrschaft des ideellen Logos über 2

Vgl.: Gadamer, „Mythos und Vernunft“, S. 1.

Einleitung

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das sinnliche Phonem kritisiert.3 Dies wird häufig gegen Hegel in Anschlag gebracht. Es wird moniert, dass er keine eigenständige Sprachphilosophie habe und Sprache allein auf den anschauungsfernen bis -freien Begriff reduziere.4 Hegels Stärke ist hingegen die doppelte Affirmation von Logik und Poesie als Formen der Negation des Faktischen, ohne dass er deren Differenz nivellierte. Hegel vertritt einen weiten Begriff des Denkens, der mehr umfasst als mentale Prozesse mit propositionaler Form: Logik und Poesie sind Schwestern im Geiste. Sprache umfasst weit mehr als die Praxis der Begriffe und Worte. Sprache ist eine Praxis der Bildung – im Falle der Kunst eine Praxis der Bildung sinnlicher Allgemeinheit. Ihre Anschaulichkeit geht zwar zu Lasten ihrer begrifflichen Explikationskraft, aber ästhetische Anschauungen liefern keine Protobegriffe, die erst in propositionale Sprache übersetzt werden müssten, um Gehalt zu kommunizieren. Das wäre ästhetischer Rationalismus. Es gibt hingegen sinnliche Allgemeinheit, nichtbegriffliche Sprache, deren Narrative und Bilder den Zwischenraum von Vorstellungen und Realität eröffnen, der uns überhaupt erst mit der Welt verbindet. Kunst, Sprache und Kulturkritik gehen in Hegels Lehre des absoluten Geistes systematisch zusammen.5 Das ist ein oft unterschätzter Aspekt der hegelschen Ästhetik, den wir im Folgenden herausarbeiten wollen, um in Hegel den Pluralisten, Antirationalisten und Sprachphilosophen sichtbar zu machen. Hegel kennt mit Logik und Poesie zwei Paradigmen sprachlicher Expressivität, die es in ihrer Eigenart zu reflektieren gilt, um ihre Verwandtschaft denken zu können. Hegels Ästhetik bietet drittens unter dem Stichwort vom „Ende der Kunst“ eine geschichtsphilosophische Theorie der Emanzipation der Kunst der Moderne. Ihrem modernen historisch-kulturellen Charakter nach ist Kunst aber nicht mehr das Medium der kulturellen Selbsterkenntnis, wie sie Hegel mit Blick auf die poetische 3 4 5

Derrida, Grammatologie, S. 12. Vgl. dazu: Surber, Hegel and Language. Karl Löwith fasst dies unter dem Stichwort von „Hegels politischem Humanismus“ zusammen. Vgl.: Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 312.

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Sittlichkeit der griechischen Antike fasst. Kunst ringt vielmehr mit Philosophie und Religion um die kulturelle Deutungshoheit. Viele Philosophien von Schelling über Adorno und den späten Heidegger haben versucht, die Kunst wieder in den höchsten Rang der Weltdeutung zu erheben und unterliegen so dem Zwang, dort eine Rangordnung zu etablieren, wo bei Lichte betrachtet eine „Konstellation von Formen der Weltdeutung“ sinnvoll ist, die den Differenzen dieser Formen gerecht wird.6 Das Feld der Kommunikationsund Wissenspraktiken konstellativ zu fassen, ist das dritte Ziel der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Hegels Poetik. Die drei Explikationsziele sind verschränkt und greifen teilweise der Analyse dessen vor, was dialektische Logik heißt. Sie entsprechen nicht einfach den folgenden Kapiteln, sondern umreißen ihren systematischen wie exegetischen Anspruch. Der Text ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Kapitel geht es primär um die Relevanz der Kunst, also um die Frage, warum Kunst nötig ist. Im zweiten Kapitel verfolgen wir Fragen der Spezifik, wie Kunst also ihren Beitrag zur Verlebendigung des Geistes leistet. Im letzten Kapitel fragen wir dann abschließend nach der Aktualität der hegelschen Ästhetik. Der systematische Gedanke wird im Folgenden, das sei hier zur Textauswahl gesagt, anhand der Vorlesungen zur Philosophie der Kunst entwickelt, wie sie in in der historisch-kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke vorliegt. Wir folgen Gethmann-Siefert darin, Hothos Edition der Vorlesungen zur Ästhetik als eine klassizistische und „entpolitisierte“ Verstellung zu sehen.7 Hegel tritt als Konflikt- und Sozialtheoretiker des Schönen auf Basis der historisch-kritischen Ausgabe hingegen sehr deutlich zu Tage. Für eine Interpretation von Hegels Philosophie der Kunst, die deren gesellschaftlichen Charakter in den Fokus nimmt, scheint deren erster Teil, die Theorie des sogenannten Ideals der Kunst, eine besondere Herausforderung darzustellen. Der allgemeine Kunstbegriff, den 6 7

Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 22. Gethmann-Siefert, „Einleitung. Hegels ‚Ästhetik oder Philosophie der Kunst‘“.

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Hegel hier entwickelt, mag auf den ersten Blick wie eine Definition von idealer Kunst wirken: Mit dem Ideal, so eine verbreitete Ansicht, schreibe Hegel eine bestimmte Kunstform, die in der antiken griechischen Polis angesiedelt ist, als Maßgabe für das Gelingen von Kunst überhaupt fest. Hegel erkläre das Kunstschöne der Polis gar zur „Norm“.8 Nach diesem Ende sei Kunst ein Vergangenes. Genau zu dieser Lesart werden wir unter Rekurs auf die kritische Edition der GW eine Alternative formulieren.

8

K. Düsing, „Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik“, S. 339.

1. Ästhetik als Poetik Die mit der Doppelbestimmung von Autonomie und sozialer Tatsache aufgeworfenen Fragen nach Spezifik und Relevanz der Kunst geben den Leitfaden für die Diskussion der Kunstphilosophie Hegels vor. Wir fassen das Poetische als Inbegriff des Ästhetischen und deuten Hegels Poetik im Sinne eines Pluralismus ästhetischer Strategien und Kunstformen. Unser Gedankengang wird zur Frage der Aktualität der hegelschen Kunstphilosophie führen. Wir sollten uns dem ästhetischen Phänomen aber elementar nähern. Was ist das Phänomen des Kunstschönen überhaupt? Ist das Kunstschöne identisch mit dem Kunstwerk? Was wäre eine entsprechende Ontologie des Kunstwerks? Was ist das Sein des Werks? Diese Fragen halten in einem gewissen Sinne an einem hermeneutischen Begriff des Kunstwerks fest, den es aber erst zu erhellen gilt.1 Die Kritik am klassischen Werkbegriff ist derart umfangreich und systematisch so breit angelegt, dass der Werkbegriff inzwischen vielen obsolet erscheint.2 Wir können diese Kritik vielleicht so bündeln: Das Werk ist gerade kein objektives Korrelat verbindlicher ahistorischer, ästhetischer Werteigenschaften, sondern nur die dinglich-körperliche Seite des Prozesses von Konstruktion und Rekonstruktion ästhetischer Regime, spiegelt also immer nur die Hegemonie bestimmter Werturteile im ästhetischen Diskurs wider. Damit scheint vielen auch Hegels Ästhetik insgesamt ein Vergangenes, denn der Werkbegriff erfüllt hier eindeutig eine tragende Funktion: Das Kunstwerk ist sinnlich gestaltete, ins Werk gesetzte Idee, im Werk kommt die Idee also zur Anschauung. Die Kritik an diesem Begriff sieht sich darin bekräftig, dass Hegel aus ihrer Perspektive autoritäre Geschmacksurteile auf Basis eines begrifflichen 1 2

Vgl. hierzu: Bertram, „In Defence of a Hermeneutic Ontology of Art“. Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz von: Barthes, „Vom Werk zum Text“.

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Systems fällt, das nur philosophische, keine ästhetische Berechtigung mehr genießt. Diese Kritik zielt unter anderem auf seinen Klassizismus ab, der ein strenges Stilideal für gelingende ästhetische Strategien der Ins-Werk-Setzung einer Bedeutung verfolgt. Ein plastisches Beispiel der Wirkung eines normativen Werkbegriffs ist Hegels enge Bindung von literarischer Qualität an die gebundene Form der Rede. Die Norm der Versifikation schließt so den Roman aus dem Kreis der Kunst aus. In der klassischen Ästhetik des Idealismus werden, so verstehen wir die Kritik, Ergon und Parergon zum Verhältnis von Substanz und Akzidenz degradiert. Das Beiwerk sei der Sache selbst nicht wesentlich, stehe in einem äußerlichen Verhältnis zu ihm. Spätestens in Anbetracht der Kunst der Avantgarde sei dieser Klassizismus aufzugeben. Cages 4’33” wäre missverstanden, wenn allein die Partitur mit ihrem dreifachen Tacet das Werk ausmachen sollte. Tatsächlich ist die Aufführungspraxis und ihre Inszenierung zentral für das Verständnis des Werks. Cages Stück ist ein extremes Beispiel der ästhetischen Praxis der Dekonstruktion des Verhältnisses von Ergon und Parergon, von Zentrum und Peripherie in der Neuen Musik mit ihrer Kritik an überkommenen Hörgewohnheiten. Die musikalische Avantgarde erweitert die musikalische Formensprache um die neuen Montage- und Collagetechniken der postseriellen Musik. Jazz ist die paradigmatische Kunst3 für die konstitutive Rolle der Improvisation in den Künsten.4 Für den Bereich der bildenden Künste geben die Readymades die kanonischen Beispiele, die nicht ohne Rekurs auf ihre Kritik des Werkbegriffs musealer Praxis zu verstehen sind. Duchamps Fountain ist ein performativer, gestalteter Akt, der einer inneren Logik folgt, bei dem das Werk im engeren Sinne letztlich Beiwerk wird. Das Pis3 4

Vgl.: Bertram, „Jazz als paradigmatische Kunstform“ und Feige, Philosophie des Jazz. Improvisation ist selbst keine unproblematische Kategorie, denn sie changiert zwischen prekären und unsicheren Arbeitsverhältnissen und der Freiheit und Offenheit ästhetischer Praxis. Vgl. die verschiedenen Perspektiven in: Brandstetter, Improvisieren.

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soir als Werk ist letztlich austauschbar, der eigentliche künstlerische Akt besteht in der Performanz der Zurschaustellung. Die parergonale Dimension der Umstände der Zurschaustellung hat die ergonale Dimension des Objekts im Extremfall der Readymades ersetzt. Moderne Kunst ist zu sehr ein Spiel von Zentrum und Peripherie, von Ergon und Parergon, als dass die Rede von Substanz und Akzidenz in einer Ontologie der Kunst noch sinnvoll wäre.5 In den zeitgenössischen bildenden und performativen Künsten ist das Verhältnis von Ergon und Parergon weit stärker von Improvisation und konstitutiver Unvorhersehbarkeit geprägt, als dies dem klassischen Verständnis nach denkbar war. Wir müssen diesen veränderten Erfahrungsraum im Hinterkopf behalten, wenn wir Hegels poetische Ästhetik aktualisieren wollen. Hegels Zeit ist das unmittelbare Vorfeld der entwickelten Moderne, nicht unsere Gegenwart. Hegel fasst die Ontologie ästhetischer Phänomene, indem er das Kunstwerk vom Dingsein, von unbelebter Materie, unterscheidet. Zwar ist unbelebte, dingliche Materie im Spiel. „Aber nach dieser Seite des Dingseins ist es kein Kunstwerk, sondern ist es nur als Geistiges, als die Taufe des Geistes erhalten habend, stellt ein Geistiges dar, eins das nach dem Anklange des Geistes gebildet ist“ (GW 28.1, S. 228). Der Mensch produziert, so Hegel weiter, Kunstwerke, weil wir das, was wir sind, uns vergegenständlichen müssen. „Der Mensch als Bewußtsein verdoppelt sich“ und das „Kunstwerk [ist] eine Art und Weise dem Menschen was er ist, vor ihn zu bringen“ (ebd., S. 229). Als Medien der Selbstthematisierung des Geistes sind sie lebendige Subjekt-Objekte. Sie bleiben Objekt, haben aber die „Taufe des Geistes“ erhalten und sind „beseelt“. Ästhetische Produktion leistet die „Vergeistigung“ und Beseelung des Materials. Die künstlerische Phantasie gestaltet das Material, macht es zur Bedingung ihrer eigenen Erscheinung und eröffnet die internen und externen Verweisungszusammenhänge, die spielerisch nachzuverfolgen die ästhetische Erfahrung ausmacht. 5

Wir folgen in diesem Punkt der poststrukturalistischen Ästhetik. Vgl.: Derrida, „Parergon“.

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Die Verdopplung des Geistes fasst Hegel im Begriff des Scheins, wobei Schein kein Sichverbergen von Wahrheit meint, sondern aufgibt, Wahrheit als Sichzeigen relational zu verstehen. Kunst leistet als sinnliches Erscheinen des Geistes eine sinnliche Expression und zielt als Gestaltung seiner Sinnlichkeit auf die „Befreiung“ von Geist und Sinnlichkeit ab (GW 20, § 625 A). Diese Befreiung werden wir hier nicht als These schwindender Materialität verstehen, geht es doch nicht um ein Verschwinden des Materials. Die Emanzipation von der Macht der Materialität vollzieht sich in der Kunst im Medium ihres Materials. Kunst leistet, mit einem logischen Ausdruck, eine konkrete Negation ihrer Voraussetzung, keine abstrakte. Sie bleibt material gebunden, bricht aber die Macht dieser Bindung. Das ist der Grundbegriff des Kunstschönen, der den genuin kommunikativen Rätselcharakter der Kunstwerke zum Erklärungsanspruch hat, ihn aber nicht zur Nichtkommunikation verklärt. Viele nachidealistische Ästhetiken, die wir hier nur andeuten können, stimmen mit Hegel darin überein, dass es der Rätsel- und Subjektcharakter der Kunst ist, den es philosophisch einzuholen und fruchtbar zu machen gilt. Heidegger fasst die komplexe Beziehung von Gestalt und Bedeutung als „Streit von Erde und Welt“, in deren Wechselspiel von Sichzeigen und Verbergen „das Rätsel, das die Kunst selbst ist“6 , sich erhält. Heidegger kritisiert die Moderne dafür, dass sie sich durch die Technisierung der Welt blind gemacht hat für das sich verbergende Zeigen der Erde. Kunst ist nach Heidegger folglich kein Wahrheitsgeschehen mehr. Solange die „Wahrheit des Seienden“ verstellt ist, bleibt für Heidegger Hegels „Spruch [vom metaphysischen Ende der Kunst] in Geltung“7 . Hegel sieht in der modernen Kunst hingegen eine ästhetische Form von Reflexion am Werke, die weiterhin mit nichtästhetischer Praxis in kritischer Kommunikation steht.8 Auch für Adorno hat 6 7 8

Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“, S. 66. Ebd., S. 68. Vgl. die Gegenposition von Pippin: Er deutet die These vom Ende der Kunst so, dass auch für Hegel das Wahrheitsgeschehen der Kunst leer geworden sei. Pippin macht aber keinen Unterschied zwischen Heideg-

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nur der Rätselcharakter der Kunst in der kapitalistischen Moderne noch die Kraft, das Fragmentarische, Gebrochene, die Zerrissenheit des vergesellschafteten Subjekts zu verkörpern. Das artikuliert Adorno besonders gegen Hegel. Die Stärke von Hegels Ästhetik, wie wir sie auslegen, besteht aber darin, dass sie eine Verbindung von Versöhnung und Thematisierung von Leid im Kern ästhetischer Praxis verortet. Kunst ist eine gestaltvermittelte Praxis der Erinnerung. Um diese Diskussion des Versöhnungsgedankens weiter führen zu können, wird es wichtig sein, auf die geschichtsphilosophische Dimension von Hegels Poetik einzugehen. Dazu kommen wir nochmals auf die Frage zurück, inwieweit Hegels Ästhetik klassizistisch ist. Unter Klassizismus verstehen wir hier eine Ästhetik, die auf Basis eines Systems binnenästhetischer Wertrelationen normative Standards formuliert, die als Maßstab der Bewertung empirischer Kunstpraxis dienen sollen. Die Begründung klassizistischer Kunstkritik in binnenästhetischen, formalen Kriterien steht damit in Opposition zur Idee der Historizität und des politisch-sozialen Vermittlungscharakters der Kunst. Hegels Poetik hingegen führt die Autonomie der Kunst mit ihrem gesellschaftlichen Charakter dialektisch zusammen. Um das Kunstschöne philosophisch zu durchdringen, reichen von seiner Position aus weder ihre binnenästhetische Formanalyse noch ihre historisch-kulturelle Kontextualisierung allein hin. Vielmehr muss ihr Wechselspiel in den Blick genommen werden. Hegels Ästhetik geschichtsphilosophisch zu lesen, seine Ästhetik also als eine Poetik zu verstehen, impliziert daher, seine Position zur Romantik genauer zu differenzieren. Oft wird Hegel als Romantikskeptiker und Antiromantiker verstanden.9 Es sind in historischer Perspek-

9

gers aletheia und Hegels dialetheia, und steht damit in einer langen Reihe von Interpretationen der hegelschen Versöhnung, die das Moment der Zerrissenheit der Moderne gegen Hegel ausspielen zu können meint. Pippin, Kunst als Philosophie, S. 174. Pöggeler zeigt auf, dass das Verhältnis Hegels zur Romantik aber keinesfalls als eindimensional ablehnend gefasst werden sollte. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik.

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tive die Brüder Schlegel und Tieck, auf die sich Hegels Kritik der romantischen Ironie hauptsächlich bezieht.10 Hegel teilt mit der Romantik die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Kunst. Hegel steht der romantischen Kunst als Kommunikationsmedium der prosaischen Moderne nicht grundsätzlich skeptisch, aber durchaus kritisch gegenüber. Er sieht sie nicht als Verfall und begrüßt sie, tut dies aber, indem er ihre selbstbezüglichen Entwicklungstendenzen problematisiert. Romantische Subjektivität hat aus Hegels Perspektive die Tendenz, eine substanzlose, selbstbezogene Subjektivität zu werden. Hegel sieht dezidierter als viele vor und nach ihm, dass der romantische Absolutheitsanspruch der Kunst mit der modernen, von Agonalität, Pluralität und kritischer Autonomie der Rezeption gekennzeichneten Kultur unvereinbar ist. Wenn alles Kunst ist, ist nichts mehr Kunst.11 Kunst bedarf der Differenz zur Nichtkunst, wäre sie doch in ihrer Subjektivität ontologisch missverstanden, wenn ihre Freiheit als selbstbezügliche Totalität verstanden wird. Aufgrund ihrer tendenziellen ontologischen Flachheit tendiert aus Hegels Perspektive romantische Kunst zur Selbstverklärung, indem sie ihr Leiden an der Welt zum Leiden der Welt hypostasiert. In psychoanalytischen Begriffen gesagt, erkennt Hegel in der Emphase des leidenden, zerbrechenden, empfindsamen Subjekts einen unausgesprochenen Narzissmus, der die Unteilbarkeit und Singularität des partikularen Gefühls herbeisinniert. Der potentielle Narzissmus des Leidens an der Welt trägt eine konstitutive Spannung in die ästhetische Signatur der Moderne ein: Sie kann weder selbstsicher und krisenfrei ihre Substanz unmittelbar affirmieren, noch sollte sie sich in Eskapismus und Weltverneinung flüchten. Hegels „Ja“ 10

11

Dass Hegel nicht grundsätzlich gegen Ironie und Humor war, zeigt sich auch daran, dass er mit Solger einen vierten Theoretiker der Ironie von seiner Kritik ausnimmt und dessen Position affirmiert. Vgl.: Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung“, S. 330 ff. vgl.: Früchtl, „Das Ende der Kunst und der Anfang der demokratischen Kultur“, S. 170.

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zur modernen Idee der in der Romantik anvisierten Subjektivität drückt ein „Nein“ zu ihrem Sentimentalismus aus. Diese geschichtsphilosophische Dimension wird konkreter, indem wir den Begriff der Prosa im Kontext der hegelschen Poetik rekonstruieren. „Prosa“ nennt Hegel nicht nur die Sprache des Geistes, sei es poetische oder wissenschaftliche Prosa, sondern auch das Alltägliche der Moderne. Hegel spricht von der „Prosa des gemeinen Lebens“ (GW 28.1, S. 53–56). Die Moderne ist nach Hegel, anders als in früheren Epochen, nicht mehr von poetischer Sittlichkeit, sondern von prosaischer Sittlichkeit geprägt. Es gilt also eine literarische Form der Prosa und die Prosa der Moderne zu unterscheiden: „[D]ie Welt wird entgöttert, wird eine prosaische Welt“ (GW 28.2, S. 678). Es gibt damit zwei Verwendungsweisen von Prosa und Poesie, die Hegel nutzt, um seine Poetik zu organisieren. Erstens bezeichnet das Verhältnis von Prosa und Poesie in der grundständigen Hinsicht die geschichtsphilosophische und rationalitätstheoretisch imprägnierte Kategorie der ästhetischen Differenz.12 Hier meint „prosaisch“ den Gegensatz von „heroisch“. Das betrifft die Figur der Tragödie im Sittlichen. Während die schöne Sittlichkeit den Einbruch der Reflexion erleidet und an ihm zerbricht, verfügt die moderne Sittlichkeit über begriffliche Mittel, den Widerspruch von Individualismus und Kollektivismus, von Substanz und Subjektivität zu versöhnen. In der retrospektiven Selbstdeutung im Spiegel der Antike sieht Hegel die Versöhnung von Substanz und Subjekt als die Aufgabe, an der die antike Polis scheitert, weil sie nicht die dafür nötigen kommunikativen Mittel entwickelt. Das Poetische und das Prosaische bezeichnen in dieser Dimension die ästhetische Differenz, also die Kommunikation von poetischer Kunst und prosaischer Nichtkunst. Die ästhetische Differenz unterliegt damit einem historischen Wan12

Vgl. zu dieser soziologischen Lesart des Verhältnisses von Prosa und Poesie: Rose, Hegel contra Sociology, S. 144–151.

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del. Die Differenz von Prosa und Poesie ist keine invariante Größe, sondern hat einen historischen Index.13 Zweitens bezeichnen Prosa und Poesie eine binnenästhetische Differenz, denn Prosa meint in der zweiten Verwendung eine bestimmte literarische Gattung, den Roman. Dieser gattungstheoretische Begriff von Prosa ist dem Poetischen untergeordnet. In dieser Bedeutungsdimension fehlt aber etwas Elementares bei Hegel. Seine Ästhetik kennt keine Theorie des Romans, was einen aufschlussreichen Blick auf die Kraft der Versöhnung moderner Kunst erlaubt. Für die folgenden Überlegungen müssen wir es systematisch ernst nehmen, dass Prosa und Poesie keine einfachen Bestimmungen sind, denn beide „grenzen so ineinander, daß eine bestimmte Grenze zu ziehen unmöglich ist“ (GW 28.1, S. 487). Hegel gibt ein binnenästhetisches Beispiel des Unterschieds von Prosa und Poesie: „Sagen wir z. B. ‚morgens‘ so ist dies ein bekanntes Verhältnis der Zeit. Sagt nun der Dichter: ‚Als Eos mit Rosenfingern emporstieg‘, so ist dasselbe ausgedrückt“ (ebd., S. 489). Prosa meint im ersten Zugriff eine direkte, unverwandelte, nichtfiktionale Rede, die mitteilen soll, was der Fall ist. Poesie meint hingegen die Rede, die nicht einfach sagen soll, was der Fall ist. Die Differenz von Prosa und Poesie bildet im konkreten Einzelfall keine Differenz, die eindeutig zu klären wäre. Sie bleibt umstritten: „Für das Einzelne ist die Abscheidung [im Sinne der Differenzierung von Prosa und Poesie] nicht möglich“ (ebd., S. 489). Den Unterschied von Prosa und Poesie an die Pluralität der Künste heranzutragen, impliziert daher die Aufgabe, einen kritischen Begriff der Poesie, mithin der Differenz von Kunst und Nichtkunst zu entwickeln. Der methodische Einsatzpunkt der Analyseebenen von Prosa und Poesie ist, dass die ästhetische Differenz als binnenästhetischer Formunterschied auftaucht. Die Kunst thematisiert ihr Außen – die gesellschaftliche Totalität – als ihr inneres Problem. Die ästhetische Differenz taucht somit als ihr 13

Diesen Punkt macht auch die ansonsten eher ahistorische analytische Ästhetik: Danto, After the End of Art, S. 198.

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eigenes Formproblem wieder auf. Die Doppelunterscheidung von Prosa und Poesie reflektiert die ästhetische Differenz von Kunst und Nichtkunst innerhalb der Kunst. Deshalb eignet sich die Paarung als analytisches Instrument, um idealistische Ästhetik systematisch zu rekonstruieren.

1.1 Die Prosa der Moderne Wir beginnen mit der geschichtsphilosophischen und rationalitätstheoretischen Kategorie der Differenz von Prosa und Poesie. Im philosophischen Diskurs der Moderne spielt seit Hegels berühmter Antigone-Deutung der Gegensatz von prosaischer Vernunft und poetischer Tragik eine zentrale Rolle. Das Thema der Antigone ist die Kollision zweier sittlicher Mächte, beide von substantieller Macht und Berechtigung: Das Recht des Individuums auf Entfaltung kollidiert mit dem Staatsgesetz und dem Gebot der Rechtsgehorsamkeit. Hegel deutet den metaphysischen Sinn der Tragödie der Vernichtung von Antigone und Kreon darin, dass sie die einzige Form der Gerechtigkeit darstellt, zu der die Antike fähig ist. Ihn interessiert daran der grundsätzliche Defekt antiker Sittlichkeit: ihr Mangel an kommunikativen Formen der Versöhnung. An der Unfähigkeit, Individualität und substantielle Sittlichkeit zu versöhnen, scheitert nach dieser Deutung die poetische Sittlichkeit der Antike. Es kommt zu einem Einbruch von Reflexivität und Negativität, der für die poetische Polis nur destruktive Kraft entwickeln kann. Es ist der Gegensatz von Moderne und Tragik, den Hegel sowohl in der PhG als auch in der Ästhetik beschreibt und damit als den systematischen Kern seines Begriffs der Moderne freilegt. Nach Hegel besteht Moderne in der Überwindung von Tragik und damit der Entdramatisierung unserer Lebenswelt. Gewalt und Grausamkeit, mit der die antike Sittlichkeit noch auf expressive Individualität reagiert, werden in Kommunikation transformiert. Die Bewegung von Poesie zu Prosa ist somit ein Aufklärungsund Emanzipationsnarrativ. Der Mensch lernt in diesem Selbstbildungsprozess die eigenen Begierden, Bedürfnisse und Interessen

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geistig, das heißt kommunikativ zu verwirklichen. Hegel formuliert, in den Worten von Menke, „eine antitragische Metaphysik der Versöhnung in Gestalt einer Geschichtsphilosophie“. Nach Menke beschreibt „Hegels Geschichtsphilosophie die Situation der Moderne: Der moderne Sieg der Vernunft ist für Hegel der Tod der Tragik – aber nicht als ihre Verdrängung, sondern als ihre Aufhebung.“14 Die Frage ist, was unter „Aufhebung der Tragik“ zu verstehen sein wird. Hegel sieht im Prosaischwerden gesellschaftlicher Antagonismen einen zivilisatorischen Fortschritt und benennt zugleich die sozialen Folgen dieses Prozesses. Die Emanzipation von der Willkür sittlicher Kollision kommt um den Preis der Etablierung eines Verdinglichungszusammenhanges. Statt wie die tragischen Helden der Willkürherrschaft der Götter der Antike unterworfen zu sein, bricht die prosaische Vernunft deren Gewalt, indem sie die Herrschaft des Rechts etabliert. Der Rechtstext ist der maximal prosaische Text, denn er setzt Verfahrensvorschriften und Methodenlehre an die Stelle von Pathos und Willkür. Das Recht weist damit eine säkulare Form der Selbstbegründung auf, denn das Gesetz, das den Menschen bindet, ist ein vom Menschen selbst gesetztes, politisches Gesetz. Die säkulare Herrschaft des Rechts bricht mit der Macht des gottgegebenen Schicksals. Damit wird Politik weltlich, zu unserem Schicksal. Moderne Sittlichkeit meint eine postdramatische, prosaische Normativität und stellt damit eine Realisierungsbedingung der Freiheit dar. Der Preis dafür sind die Abhängigkeitsbeziehungen der bürgerlichen Existenz, die Verwicklungen unserer lebensweltlichen Praxis in ihrer subjektiven wie objektiven Dimension. „Hierher gehört alles, was wir zur Prosa des Lebens und des Bewusstseins rechnen, das Nicht-aus-sichbestimt-sein, sondern durch Anderes Gesetztund Bestimtsein. Hieher gehört die ganze Endlichkeit der Zwecke. Zu irgend einem Ganzen von Begebenheiten und Handlungen, dazu tragen viele 14

Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 23.

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Individuen bei, die nach dieser einzelnen Thätigkeit als Fragmente erscheinen“ (GW 28.1, S. 284).

In der prosaischen Textur moderner Sittlichkeit, der „Verwiklung des bürgerlichen Lebens“ (ebd., S. 319), sind wir in ein geschäftiges Netz von Transfers verwickelt, deren Folgen unter anderem Fremdbestimmung und Vereinzelung sind. Unsere Tätigkeiten erscheinen als „Fragmente“ ihrer selbst. Die Prosa des bürgerlichen Lebens ist nicht der Text solidarischer „Verkehrsformen“.15 Hegels Zeitdiagnose ist von der Erfahrung der Verfestigung der sozialen Gegensätze seiner Zeit getragen, die die gesellschaftliche Teilhabe der Individuen am sozialen Ganzen verhindert. Die gesellschaftlichen Bedingungen werden von Marx später unter dem Titel der „Arbeitsteilung“ entlang des Antagonismus von Kapital und Arbeit gefasst.16 Bei Hegel reflektieren sich die gesellschaftlichen Verhältnisse des Fremdbestimmtseins in der Ästhetik in der Rede von der Prosa des bürgerlichen Lebens.17 Die moderne, individualistische Gesellschaft verwirklicht sich, indem sie mit der Institution des Rechts genau die Möglichkeiten sozialer Fragmentierung im differentiellen Gefüge der Arbeitsteilung hervorbringt, die die sozialen Kosten des Individualismus in Form einer Naturalisierung des Eigeninteresses erzeugen.18 Die Rede von der Prosa der bürgerlichen Existenz mag sich nun für materialistische Ohren nach einer ästhetizistischen Verklärung realer Antagonismen anhören, die soziales Leid zum Impuls ästhetischer Praxis idealisiert und einer Entpolitisierung sozialer Fragen das Wort redet. Das trifft so aber nicht zu. Die Frage der so15 16 17

18

Krahl, Konstitution und Klassenkampf , S. 22. Marx, Kapital, S. 56. Die systematische Nähe von Marx’ Analyse der kapitalistischen Arbeitsverteilung und Hegels geschichtsphilosophischem Begriff der Prosa betont auch: Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung“, S. 333. Die materialistische Rechtskritik macht vor allem geltend, dass das deontologische System der Rechte und Pflichten des Regimes des Eigentums die paradoxe Folge der „Entpolitisierung des Streits“ zeitigt. Menke, Kritik der Rechte, vgl. dort v.a. den Abschnitt zu Marx Rätsel: S. 7–13.

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zialen Teilhabe im Rahmen einer partizipativen „Verfassung der Freiheit“19 ist Gegenstand von Hegels politischer Philosophie. Hegel sucht die Vermittlung der Doppelexistenz des modernen Menschen als citoyen und bourgeois in einer Ständelehre am Maßstab gesamtgesellschaftlicher Partizipation zu fassen.20 Die Theorie der Teilhabe am sozialen Ganzen ist somit Gegenstand der hegelschen Lehre des objektiven Geistes. Teilhabe zu organisieren, ist aber vom Standpunkt der gesamten Geisteslehre aus betrachtet nicht allein staatliche Aufgabe, sondern muss auch durch zivilgesellschaftliches Engagement getragen werden. Eine wichtige, nichtstaatliche Form der Kommunikation und Reflexion gesellschaftlicher Teilhabe leistet die Kunst. Wahrheit in der Kunst bedeutet für Hegel daher nicht wie im Klassizismus die Erfüllung eines außergesellschaftlich gedachten Formgesetzes. Der Bezug auf die Nichtkunst ist der Kunst wesentlich. Die Form ihrer Kommunikation mit der Nichtkunst ist aber nicht prosaisch wie eine bürgerliche Rechtslehre, sondern poetisch und expressiv. Dass die soziale Frage als Prosa der Existenz in der Ästhetik auftaucht, „daß das Ideale mit der Prosa des gemeinen Lebens in Berührung kommt“ (GW 28.1, S. 315), zeigt also nicht nur, dass Hegel die Probleme einer arbeitsteiligen, individualistischen Gesellschaft weder negieren noch verleumden würde, sondern betrifft den Stellenwert kritischer Kunst für Fragen gesellschaftlicher Teilhabe selbst. Das ist ein oft übersehener Aspekt der idealistischen Ästhetik. Schillers Ästhetik lässt sich etwa gut so verstehen, dass sie sich der Idee der Zerstörung der Schranken sozialer Klassen verschreibt und auf das ethische Moment des expressiven Formtriebs des Menschen verweist. Dass die Menschheit von der Zerrissenheit in der arbeitsteiligen Moderne Vorteile erfahren kann, verhindert für Schiller nicht, dass der Mensch unter dem „Fluch dieses Welt19 20

Vgl.: Schnädelbach, „Die Verfassung der Freiheit“. Wir lassen hier unberührt, dass Hegel die politische Repräsentation gegenüber der Partizipation für nachrangig hielt. Vgl.: Kertscher, „Das Politische in Hegels ‚Philosophie des Rechts‘“, S. 109.

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zweckes“, des Sachtriebes, leidet.21 Erst im poetischen Miteinander, so Schiller, ist das Grundgesetz des wahren, ästhetischen Staats befolgt: „Freiheit zu geben durch Freiheit“. Schiller will, so ließe es sich pointieren, wahre Teilhabe nur poetisch realisiert wissen, während Hegel sie auch poetisch realisiert wissen will.22 Zentraler Prozess der Individualisierung in der Moderne ist das Regime des Eigentums, das die Verkehrsformen deontologisch und nicht primär solidarisch als ein System von Rechten und Pflichten ausbuchstabiert: „Sei eine Person und anerkenne andere als Person“ (GW 14.1, § 71). Eigentum und ein juristisch definierter Personenbegriff berechtigen und verpflichten das moderne Subjekt gleichermaßen. Hegel denkt diesen Prozess der Ausbuchstabierung im Rahmen der „Rechtspflege“ (ebd., §§ 209–229). Die „Doppelnatur“ aller subjektiven Rechte besteht, wie Honneth es fasst, darin, „dem Subjekt nach außen hin eine bloß zweckrationale Form der Entscheidungsfindung zuzubilligen, um es nach innen hin um so effektiver in seiner Fähigkeit zur ethischen Formung des Willens zu schützen“23 . Hegels Theorie der Moderne weist so einerseits eine prosaische, analytisch kühle Dimension auf. Denn anstatt dem Vermittlungsganzen der Verkehrsformen einen sentimentalen Wunsch nach einfacher, ursprünglicher Identität entgegenzuhalten, bejaht er das Nicht-aus-sich-bestimmt-Sein als notwendige Bedingung der institutionellen Freiheit des modernen ethischen Lebens. Das wird für jede spätere von einem romantisierenden „Mangel an Sein“ bewegte und auf die „Irreduzibilität der Identität und des Seins“ pochende Reflexion auf die Moderne die zentrale Zumutung der hegelschen 21

22 23

Taylor verweist auf die ideelle Nähe der ästhetischen Ideen Schillers und die Parallelen zur ästhetischen Tradition der Kritischen Theorie von Lukács, Adorno, Horkheimer und Marcuse sowie dem Mai 1968. Vgl.: Taylor, Quellen des Selbst, S. 864. Vgl.: Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, S. 674. Honneth, Recht der Freiheit, S. 132.

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Philosophie darstellen.24 Hegels Theorie der Moderne entsagt jeder Sozialromantik und erweckt so bei vielen den Anschein einer ideologischen Verfestigung der Prosa der bürgerlichen Existenz, die von den realen Kosten des Individualismus abstrahiere. Dieser Eindruck entsteht vor allem dann, wenn wie bei Marx die hegelsche Theorie der Moderne allein aus seiner Lehre des objektiven Geistes abgelesen wird.25 Es ist Habermas, der den jungen Hegel gegen diese Interpretation der politischen Philosophie stark machen will.26 Auch dieses Hegelbild übersieht die Komplexität des Modernebegriffs des reifen Hegel und damit den Stellenwert des Streits von Prosa und Poesie für ihr Verständnis. Hegel bejaht die Prosa und die damit gegebene Verstandesförmigkeit – das Regime von Recht und Eigentum der bürgerlichen Existenz –, weil er in ihr nicht das letzte Wort des Geistes weiß. Die Prosaisierung der Lebenswelt liefert mit dem ästhetischen Narrativ der Entzauberung der Lebenswelt ein aufklärerisches Narrativ des Weges vom Mythos zum Logos. Eine der philosophischen Stärken Hegels ist es, in Anbetracht der Krisen und Fragmentarisierungen der Moderne jeder romantisierenden Vorstellung einer Wiederverzauberung der Welt zu widerstehen, ohne Herz und Geist im „stahlharten Gehäuse der Moderne“ (Weber) erkalten zu lassen. Was heißt das nun für das Verhältnis von Prosa und Poesie? Bevor wir diese Frage anhand der systematischen Konsequenzen der Tragödie im Sittlichen weiter in den Blick nehmen, tun wir zunächst gut daran, einen Schritt zurückzutreten und einen kritischen Blick 24 25 26

Vgl. zu einer Rekonstruktion von Schelling im Vorgriff auf Marx: Frank, Der unendliche Mangel an Sein, S. 346–59. Vgl.: Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. „Hegel will die Intuition seiner Jugend auf den Begriff bringen, daß sich in der modernen Welt Emanzipation in Unfreiheit verwandeln muß, weil sich die entfesselnde Kraft der Reflexion verselbständigt hat und weil sie Vereinigung nur noch durch die Gewalt einer unterjochenden Subjektivität zustande bringt. Die moderne Welt leidet an falschen Identitäten, weil sie,·im Alltag wie in der Philosophie, jeweils ein Bedingtes absolut setzt.“ Habermas, Der Diskurs der Moderne, S. 45.

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auf die Verwendung ästhetischer Kategorien zur Deutung der Geschichte des objektiven Geistes zu werfen. Die Geschichte als Bühne und performative Praxis zu begreifen, hat einerseits einen zynischen Beigeschmack: als wären die Millionen Toten der Geschichte nur Komparsen des Welttheaters zur Ergötzung derer, die einen Platz in der Loge der Nachgeborenen zugelost bekamen. Zudem setzt es begrifflich voraus, dass menschliches Handeln überhaupt mit ästhetischen Kategorien beschreibbar ist. Warum stellt dies keinen Kategorienfehler dar? Warum sieht sich Hegel zu diesem Transfer berechtigt? Zum Verständnis dieses Transfers ist es zentral, die systematische Stellung des Handlungsbegriffs zu verstehen, die Hegel anhand seiner Tragödientheorie entwickelt. Hegels Kunsttheorie hat wesentliche Züge einer Handlungstheorie und denkt das menschliche Handeln vom Begriff der „Situation“ her. Der Widerspruch von ethischer Substanz und sie realisierender freier Subjektivität manifestiert sich in der Situation der tragischen Handlung. Hegel modifiziert damit Aristoteles’ Poetik. „Die Tragödie“, so Aristoteles’ kanonische Definition, ist „die Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollständig ist und eine gewisse Größe hat. In kunstgemäß geformter Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je für sich ein, lässt die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehene Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.“27

Die Tragödie dient nicht der Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und von einer Lebensweise. Sowohl Glück als auch Unglück liegen im Handeln und das Ziel „des Lebens“ ist ein bestimmtes Handeln und keine „bloße“ Eigenschaft; die „Menschen haben aufgrund ihres Charakters eine bestimmte Beschaffenheit, aufgrund ihre Handelns aber sind sie glücklich oder das Gegenteil.“28 Die Geschichte des menschlichen Handelns ist 27 28

Aristoteles, Poetik, 1449b25. Ebd., 1450a17.

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eine Geschichte dieser Umschläge. Diese Geschichte ließe sich prosaisch als Verlaufsgeschichte erzählen; allein aber die „Einheit dieser Handlungen [ist] das Ziel der Tragödie“29 . Hegels spekulativer Aristotelismus fasst Handeln und Kunst als analoge Phänomene auf, denn die Logik ästhetischer Intelligibilität und die des sozialen Handelns zeigen hinreichend strukturelle Ähnlichkeiten. Um diese Ähnlichkeiten weiter zu erhellen, lohnt es sich, einen Vergleich mit der Handlungstheorie von Elisabeth Anscombe zu suchen, die sich ebenfalls auf Aristoteles bezieht und dabei auf dessen Begriff des praktischen Schließens zurückgreift.30 Handeln ist in Anscombes Modell der Untersatz einer praktischen Überlegung, die Wunsch und Mittel identifiziert. Eine Handlung ist eine absichtliche Bewegung im Lichte dieser Überlegung. Eine Bewegung ist genau dann absichtlich, wenn die Ursache der Bewegung genau die Intention ist, die die Frage nach dem Warum der Bewegung wahrheitsgemäß beantwortet. Zu handeln heißt dann erstens zu wissen, was man warum tut, und zweitens auch das zu tun, was man denkt, das man tut: Elisabeth schreibt genau dann ein Buch, wenn erstens die Absicht, ein Buch zu schreiben, die Ursache für diese ihre Tätigkeit ist, und zweitens es tatsächlich ein Buch ist, das sie schreibt. Die zweite Prämisse ist weit weniger trivial, als sie prima facie zu sein scheint, denn sie betrifft das Problem der Devianz von Handlungsfolgen. Anscombes Argument betrifft unterdessen in erster Linie die erste Prämisse und bezieht sich auf die Struktur praktischen Wissens. Praktisches Wissen ist die „Ursache dessen, was es versteht“31 . Das praktische Wissen unterscheidet sich nach Anscombe vom spekulativen, theoretischen Wissen dadurch, dass es eine Form von Unmittelbarkeit darstellt. Im Handeln weiß ich unmittelbar, was ich tue, weil mein Wissen keines Berichts davon bedarf, was mein Körper tut. Die Absicht, die anzuführen mein Handeln er29 30

31

Aristoteles, Poetik, 1450a23. Neben Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Thomas von Aquins Summa theologica spielen Wittgensteins Philosophische Untersuchungen in Anscombes Intention eine systematische Hauptrolle. Anscombe, Intention, § 48.

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klärt, ist Ursache meiner Bewegung. Handlung ist so unmittelbarer Ausdruck meiner Absicht. Praktisches Wissen ist kein „Beobachtungswissen“, sondern Ursache dessen, was es versteht. Ein praktischer Schluss besteht darin, etwas als praktisch gut anzuerkennen, und die Mittel zur Realisierung zu ergreifen. Handeln am Richtmaß des Guten ist eine Form des Wissens.32 Das Problem betrifft aus hegelscher Perspektive aber die zweite Prämisse, weil sie die für Praxis konstitutive Dimension der Entfremdung nicht reflektieren kann. Es kann erstens sein, dass jemand X mit der Absicht Y tut, Y tatsächlich eintritt, aber dies nicht in Folge von X, sondern eines Zufalls.33 Zweitens gibt es das Problem devianter Kausalketten, auf das Davidson aufmerksam gemacht hat.34 Die Abweichung, die Devianz der Handlungsfolgen wird im analytischen Aristotelismus zum derivativen Fall: „Es mag überraschend erscheinen“, so Anscombe, „aber das Mißlingen der Ausführung von Absichten ist notwendig eine seltene Ausnahme.“35 In Anscombes Modell wird der gelingende praktische Selbstbezug, das „praktische Wissen“, durch den analytischen Ausschluss der Abweichung gewonnen, durch Exklusion von Irrungen und Wirrungen, Fehlern, Kontingenz der menschlichen Situation in der komplexen Wirklichkeit des Geistes als selbst- und fremdbestimmt zugleich. 32 33

34

35

Vgl. als eine präzise Darstellung der Vielfalt der Theorien im Fahrwasser von Aristoteles: Börchers, Handeln, Kap. 7. Dieses Problem taucht auch in der analytischen Epistemologie auf: Es kann nämlich sein, dass man aus den falschen Gründen das Richtige glaubt. Deshalb ist propositional gedachtes Wissen nicht bloß gerechtfertigte wahre Überzeugung, sondern eine Überzeugung, die aus den richtigen Gründen für wahr gehalten wird. Vgl.: Gettier, „Is Justified True Belief Knowledge?“, S. . Davidsons Beispiel ist das Betätigen des Lichtschalters mit der Intention, Licht im Zimmer zu machen. Das angehende Licht warnt die Verbrecherbande und hält sie davon ab, ins Haus einzubrechen. Ist die Bande nun also absichtlich gewarnt worden? Davidson, „Action, Reason, and Causes“. Anscombe, Intention, § 48.

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Anscombes Handlungsanalyse identifiziert die Tat mit dem, ästhetisch gesprochen, Ergon und schließt das konstitutiv Andere, das Parergon, aus. Mit Hegel zu sprechen: Handeln wird allein in seiner Subjektivität, seinem Fürsichsein bestimmt und folglich ein abstrakter Begriff des Handelns gebildet. Der analytische, das heißt unmittelbare Begriff des praktischen Wissens setzt eine Transparenz der Intention und einen methodischen Individualismus voraus, der nach Hegel von den Bedingungen des Handelns abstrahiert, die es überhaupt erst ermöglichen. Das menschliche Handeln ist durch äußere Einflüsse und Umstände mitbestimmt, die Hegel unter dem Begriff der „Situation“ fasst (GW 28.2, S. 598–611). Menschliches Handeln ist als situatives, kontextabhängiges Handeln von einer immer möglichen Differenz von Intention und Tat geprägt. Die Devianz und das Misslingen von Handlungsketten, aber auch das glückliche Realisieren durch Zufall, sind in die Handlungstheorie zu integrierende Faktoren menschlicher Handlungen. Es verzerrt die Analyse, Devianz und situativ bedingten Zufall zum derivativen Fall zu erklären. Das hat zwei Gründe. Einerseits ist es zwar richtig mit Anscombe davon auszugehen, dass wir von unseren Absichten nicht durch Beobachtung wissen. Aber daraus sollten wir nicht den Schluss ziehen, dass wir einen unmittelbaren Zugang zu unseren Intentionen haben. Erst mit der Tat im „Weltlauf“ erfahren wir die Wirklichkeit unserer Absicht. Es ist für den „moralischen Standpunkt“ kennzeichnend, dass er den „Gegensatze der subjektiven Absichten und der objektiven Tat und ihrer Folgen“ anerkennt (ebd., S. 536). Genau dieses reflexive Wissen um die konstitutive Differenz von Absicht und Tat unterscheidet, wie wir unten sehen werden, die moderne Moral vom heroischen Bewusstsein. Die Absicht als Inneres muss sich entäußern, sich also entfremden. Diese Entfremdung ist dem Handeln wesentlich. Der Gegensatz von Absicht und Tat liegt zweitens an der Intersubjektivität menschlicher Praxis. Diese Intersubjektivität wird oft im Sinne der Aktualität der spekulativen Handlungstheorie Hegels

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herausgehoben.36 Wir können Akte ohne Einbeziehung des sozialen Kontexts gar nicht als Handlungen definieren. Zwar ist es möglich, alleine zu handeln, aber ein praktischer Monologismus ist der eigentliche derivative, abstrakte Fall. Die eigene Tat muss anerkannt werden.37 Aufgrund der Intersubjektivität des Handelns realisieren wir immer mehr und anderes, als wir intendieren. Es sind dabei so mannigfaltige Differenzen möglich, dass der Fall, dass Intention, Tat und ihre Rezeption differenzlos zusammenfallen, „notwendig eine seltene Ausnahme“ ist, die nicht zum theoretischen Paradigma erklärt werden sollte. Im Handeln haben wir es mit relativer Notwendigkeit und Zufall zu tun, die den Handlungslauf bestimmen, ihm aber äußerlich oder zufällig zustoßen. Es können einer Handelnden daher auch Folgen ihrer Handlung zugeschrieben werden, die sie nicht intendiert hat beziehungsweise die nicht Teil ihrer Handlungssituation sind. In der arbeitsteiligen und differenzierten Welt der menschlichen Existenz sind Handlungsfolgen nicht eindeutig zuzuweisen. Die ökonomischen Bedingungen unserer Selbstverwirklichung unterliegen genauso wenig unserer vollständigen Kontrolle wie ihre Resultate. Im globalen verschränkten „System der Bedürfnisse“, um es mit Hegels Begriff des arbeitsteiligen Ganzen der menschlichen Produktion und Reproduktion zu sagen, realisieren wir alle stets mehr und anderes, als uns unmittelbar bewusst ist. Menschliches Handeln hat es also als praktisches Wissen konstitutiv mit der eigenen Deutungsoffenheit zu tun. Die konstitutive Unabgeschlossenheit des menschlichen Handelns führt über einen intersubjektiven Handlungsbegriff zu einer ethischen Theorie des Handelns, die den Begriff der Zurechnungsfähigkeit integriert. Auf die Unabgeschlossenheit des menschlichen Handelns reagiert Hegel nicht mit der Idee von Authentizität, 36 37

Quante, Die Wirklichkeit des Geistes, S. 204–225. Vgl. hierzu die Dialektik der schönen Seele im Wechselspiel mit dem Weltlauf in der PhG (GW 9, S. 208–214).

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sondern von Integrität. Es geht also nicht um einen blinden Ethos der Tat, der die Tat allein um ihrer selbst willen vollbringt. Handlungsfähigkeit im vollen Sinne setzt vielmehr voraus, sich mit den nichtintendierten Folgen des eigenen Tuns durch Andere konfrontieren zu lassen und in der eigenen Tat mehr zu wissen als das Intendierte. Die Fähigkeit zu Handlungen besteht auch darin, sich in Anbetracht des Gegensatzes der subjektiven Tatabsichten und des objektiven Werkes nicht auf die Unmittelbarkeit und Reinheit der Tatabsicht zurückzuziehen. Ein solcher Rückzug in die Innerlichkeit bildet den strukturellen Defekt der schönen Seele, die sich allein mit ihren moralischen Absichten zu identifizieren bereit ist. Die Entfremdung in jedem Handeln, jeder Expressivität, ist in dem Sinne zu überwinden, dass wir sie als genuinen Teil unserer sozialen Wirksamkeit anerkennen, das heißt, als etwas Eigenes begreifen können. Auch das expressive Wissen ist ein praktisches Wissen, es gründet aber nicht in einem selbstgewissen praktischen Syllogismus, sondern erhält und erinnert den Entschluss im Dasein seiner Tat: Das expressive Wissen weiß sich erst in der Tat und erkennt Zufall und die Mitsprache Anderer als Bedingungen seiner Handlungssituation und damit Wirksamkeit an. Integrität weiß also darum, dass Absicht und Realität des eigenen Handelns ambivalent sind. Es geht nicht um die Reinheit der Absicht, sondern um die offene Kommunikation der dem Handeln konstitutiven Differenz von Absicht und ihrer Vergegenständlichung im sozialen Kontext. So wie die soziale Wirklichkeit des Handelns von einem offenen, potentiell kontroversen Verhältnis von Tat und Handlung bestimmt ist, ist auch das Kunstwerk von einem offenen Verhältnis von Gestalt und Bedeutung geprägt. Das ist der Grund des Transfers ästhetischer Kategorien auf den objektiven Geist. Es ist der Werkbegriff, der Ethik und Ästhetik miteinander vermittelt.38 Das Kunstwerk wird handlungstheoretisch und mit Blick auf die ethische Dimension der Handlungssituation bestimmt. Hegel stellt dabei das 38

Vgl. zu diesem Punkt auch: Rose, Hegel contra Sociology, S. 131.

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mimetische Moment der künstlerischen Darstellung zugunsten einer Handlungstheorie zurück, die Kunst selbst als Handlung begreift, als eine Handlung der Aneignung und Teilnahme an sozialer Praxis.

1.2 Kollision und Konflikt Bevor wir uns wieder detaillierter mit der Tragödie im Sittlichen und den Kategorien von Prosa und Poesie beschäftigen, fassen wir den bisherigen Gang kurz zusammen: Es gibt gute Gründe dafür, die ästhetischen Kategorien von Prosa und Poesie auf die objektive historische Wirklichkeit des Geistes zu übertragen. Ethik und Ästhetik können im Transfer die grundsätzliche, der sinnlichen Gewissheit oft verborgen bleibende Offenheit ihres Gegenstandes in seiner metaphysischen, logischen Dimension begreiflich machen. Ihr Transfer zeigt die Verbindung von Ethik und Ästhetik, die Verbindung des objektiven und des absoluten Geistes und legt damit einen zentralen Grundstein für einen kritischen Begriff moderner Kunst. Der handlungstheoretisch gedachte Kunstbegriff hat „das Moment der Bestimmtheit, Bewegung, Auseinandertreten des Ideals zu betrachten; und dies ist wichtiger, als die Betrachtung des Ideals als eines Allgemeinen. Das Geistige tritt in den Gegensatz, in den Kampf; wir sehen also hier Verworrenheit, Prozess, Kampf des Weltgeistes“ (GW 28.1, S. 38). Die handlungstheoretische Fassung des situativen Handelns rechtfertigt es, von Hegels „Konflikttheorie der Tragödie“ zu sprechen.39 So redet die performative Deutung der Tragödie im Sittlichem keinem zynischen Nihilismus das Wort. Im Rahmen der zu entwickelnden Aktualisierung des Versöhungsbegriffs im Sinne einer Hermeneutik des Streits wird es nun darum gehen, den „Kampf des Weltgeistes“ mit sich selbst in kommunikative Rationalität zu transformieren. Dabei tritt die konfliktive Dimension ethischer Kommunikation im Spiegelbild ihrer ästhetischen Verdichtung 39

Hilmer, Scheinen des Begriffs, S. 109.

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zutage. Kommunikative Rationalität heißt nicht, den ethischen Antagonismen ihre substantielle Berechtigung zu nehmen, sondern ihre einseitige Form zu transformierem. In dramatischen Kunstwerken werden nun die existenziellen Fragen und offenen Kollisionen ihrer Zeit performativ verdichtet und können durch diese Anschaulichkeit Reflexionen und Diskussionen eröffnen. In der ästhetischen Praxis einer Tragödie wird eine Reflexivität gewonnen, indem die Tragödie performativ die Widersprüche und Gegensätze des situativ bedingten Handelns kondensiert und erfahrbar macht. Sie führt so das menschliche Gemachtsein der Krisen der Sittlichkeit auf und vor. Ästhetische Praxis ist somit nicht bloß mimetisch und abschildernd, sondern eröffnet imaginative, gestaltete Erfahrungsräume, die die Sittlichkeit in ihrer konstruierten, menschlich gestalteten Ontologie nachvollziehbar machen.40 Insofern sind Kunstwerke Handlungen kollektiver Selbstthematisierung. Was heißt das nun für die Hermeneutik des Streits, der unser systematisches Interesse gilt? Hegel rekonstruiert die Tragik schöner Sittlichkeit aus modernitätstheoretischem Interesse zur Bestimmung der Moderne als einer Welt nach der Tragik. Es ist seine philosophische Absicht, die Versöhnung von individueller Selbstbestimmung und der sittlichen Allgemeinheit der Moral aufzuzeigen. Es ist deshalb wichtig zu sehen, dass man, wie gesagt, Hegels Begriff der Moderne nicht allein aus seiner Theorie des objektiven Geistes gewinnen kann. Hegels Deutung der Moderne gewinnt zentrale Einsichten aus der Deutung der antiken Tragödie im Sittlichen. Es soll keineswegs nahegelegt werden, alles menschliche Handeln sei als situatives Handeln stets tragisch. Im Gegenteil, das wäre ein trivialer Begriff des Tragischen. Die mitunter konfliktuöse Praxis pluraler Sittlichkeit, in der widerstreitende Vorstellungen des Guten, Schönen, Wahren handlungsleitend sind, muss aber nicht mehr in der historischen Vorlage der tödlichen Tragödie von Antigone und Kreon enden. 40

Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 58.

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Um die Struktur der modernen Kommunikation besser zu verstehen, hilft der Blick auf ihren Kontrastbegriff, den des Tragischen: Es gibt einen gewissermaßen liberalen Begriff der Tragik, der in der irreduziblen Vielfalt des Guten selbst gründet und so den Wertepluralismus gegen die menschliche Endlichkeit ins Spiel bringt. Das liberale Konzept der Tragik verbindet die Pluralität der Werte mit der „Einsinnigkeit“ des menschlichen Handelns.41 Mit einsinnig ist gemeint, dass die Handlungen des endlichen Menschen nur einen Wert, also nur ein Gutes oder zumindest nur eine begrenzte Anzahl, realisieren können. Deshalb ist eine Realisierung aller Werte im individuellen Handeln unmöglich. Handeln ist immer die Entscheidung zu einem Wert. Es gibt nach diesem Konzept eine allgemeinexistentielle Spannung zwischen der Vielheit der Werte und der Einsinnigkeit des Handelns. Jedes Handeln, so Isaiah Berlin, sei insofern tragisch, weil es als Vernichtung von Möglichkeit eine Bestimmung und damit Beschränkung ist.42 Dieser allgemein-existentielle Begriff einer vermeintlichen Tragik im Handeln ist nicht der, den Hegel in der Rekonstruktion der Tragödie im Sittlichen entwickelt. Die Umstände „echttragischer Handlung“ nämlich „müssen ein wesentliches Bedürfniß haben, das zur Handlung treibt. Die Umstände müssen eine Voraussetzung sein, die im Gegensatz steht. Sie sind also nicht Umstände überaupt sondern in Relation auf ein wesentliches Bedürfniß, [ein] Widerstreit“ (GW 28.1, S. 298).

Es mag traurig stimmen, nicht alles verwirklichen zu können. Um aber von Tragik im emphatischen Sinne sprechen zu können, fehlt der liberalen Trauer eine doppelte Notwendigkeit. Eine Tragödie liegt dann vor, wenn von einer ethischen Kollision, einem Widerstreit „wesentlicher“, also sittlicher Bedürfnisse, zu sprechen ist. Eine Kollision im Ethischen erfüllt zwei Bedingungen. Erstens müssen die Werte in einem Gegensatz stehen, in dem beide Seiten berech41 42

Menke fasst diesen liberalen Tragikbegriff unter dem Titel der existentiellen Trauer. ebd., S. 33–41. Vgl.: Berlin, „Two Concepts of Liberty“.

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tigt sind. Die Idee der Gesetzestreue und des egalitären Rechts, das Kreon verkörpert, ist genauso berechtigt wie Antigones Beharren auf dem Recht der Individualität und der Pietät für die Verstorbenen, gerade in Anbetracht ihrer Fehler. Tragisch ist eine Kollision von Werten daher nur, wenn es sich um eine, logisch gesprochen, Antinomie handelt. „Kein böser Wille, kein blosses Unglück bringt die Collision hervor, sondern sittliche Berechtigung von beiden Seiten. Abstract Böses ist weder wahr noch interessant“ (GW 28.1, S. 505). Die Antinomie ist in Hegels Poetologie das Kennzeichen der antiken Tragödie, während die liberale Tragödie nur eine Art Paralogismus darstellt. So heißt es mit Blick auf Shakespeares Hamlet bei Hegel: „Hamlet ist haltlos, die Sandbank der Endlichkeit genügt ihm nicht. Im Hintergrunde seines Gemüths liegt der Tod. Und diese innerliche Nothwendigkeit wird durch zufällige Äußerlichkeit ausgeführt. Dasselbe ist im Romeo und Julia“ (ebd., S. 508).

In Liebe und Leidenschaft entbrennen sie zwar für einander, aber „andre Bande sind [ihnen] unbekannt, [sie überlassen] sich dem Einen“ (ebd., S. 427). Es sind die bürgerlichen Moralvorstellungen und Schemata von Ehre und Stand in Verbindung mit einem starren Klassenbewusstsein, die diese Liebe tragisch enden lassen. Die Unbegründetheit dieses Klassengegensatzes hat gegen die Liebe keine gleiche Gültigkeit, sondern gründet allein in sozialer Macht. Es ist also kein Widerstreit wesentlicher Bedürfnisse, sondern falscher Schein, der die Kollision bedingt. Die Tragödie im Sittlichen der Antigone ist nicht nur antinomisch, sondern die Gegensätze stehen zweitens in einem Negationsverhältnis mit einer spezifischen logischen Struktur. In tragischen Kollisionen negieren die Seiten einander nämlich nicht kontradiktorisch. Eine kontradiktorische Negationsbeziehung liegt dann vor, wenn zwar nicht beide Seiten zugleich der Fall sein können, es aber zwingend ist, dass eine der Seiten der Fall ist. Ein Drittes gibt es nicht, denn in der Kontradiktion gilt das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten. Das ist in konträren Negationen anders. Auch hier

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können nicht beide zugleich der Fall sein. In der konträren Negation können sich beide hingegen als falsch erweisen. Genau das passiert in der Kollision von Antigone und Kreon mit poetischer Notwendigkeit. Die logische Möglichkeit der konträren Negation – die Falschheit beider Glieder der Disjunktion – wird im Lauf des Dramas zur Faktizität, weil beide Seiten miteinander so verwoben sind, dass die Verletzung des Anderen notwendig eine Selbstverletzung darstellt. An Kreon wie an Antigone, an „jeder der beiden Seiten selbst ist die verletzte Seite, die das Individuum an ihnen selbst verletzt“ (ebd., S. 507). Die Tragödie führt Handlungssituationen vor, die substantielles Unrecht und nicht zufälliges Leid hervorbringen. Das Drama der Tragödie im Sittlichen in seiner ästhetischen Reflexion in Sophokles’ Antigone führt also nicht bloß einen antinomischen Streit von Normen vor, sondern auch, dass es die einfache, differenzlose Identifikation der Personen mit ihrer Tat ist, die den Lauf der Tragödie bestimmt. In der Kollision treffen Selbstverständnisse aufeinander, die keinerlei Distanz zu sich aufweisen. Es ist der „Pathos der Charactere,[…] daß sie nicht wählen, sondern was sie thun sind. […] Unsere Vorstellung von Schuld fällt dabei weg. […] Der grosse Character kann nicht anders, und er ist nicht schuldig, sondern was er ist und will ist seine That, sein Wollen“ (ebd., S. 505 ff.).

Der pathetische Charakter steht in keinerlei innerem Konflikt, die leitende Normativität ist bruchlos identisch mit Willen. Das Verhältnis von reklamierter Identität und Tat ist das einer reinen Unmittelbarkeit. Beide Seiten sind aber nicht nur berechtigt im Verfolgen ihres Pathos, sondern bleiben dabei intern so auf den Anderen verwiesen, dass ihre Kollision mit dem Tod beider enden muss, da die Verletzung der einen die Verletzung der anderen Seite impliziert. Pathos und Tragik herrschen, wenn jede Verteidigung ein Angriff ist, jedes Handeln Leiden schafft. Der notwendige Lauf der Dinge ist, dass die gegensätzlichen, für sich berechtigten Normen so miteinander agieren, dass ihre Verwiesenheit aufeinander zu Tod und Verletzung führt. Es ist die zweifache Notwendigkeit von An-

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tinomie und konträrer Negation, die die dramatische Notwendigkeit des Laufs der Dinge ausmacht. Nur in dieser Struktur liefert die Tragödie echten Schicksalsstoff. Eine andere denn die tragische Lösung wäre eine Form von Beliebigkeit und ein Einbruch des Prosaischen, die die poetische Notwendigkeit zerstören würde. Hegel hebt an der Antigone hervor, dass beide Seiten substantiell Recht in ihrem gegenläufigen Handeln haben, aber es ihnen an den kommunikativen Mitteln mangelt, je ihr Recht zu vermitteln. So ist zwar in der Antigone nach Hegels Analyse die Möglichkeit der Versöhnung selbst angelegt, bleibt aber nur abstrakt angesprochen: „Ein Zug der Anerkennung ihres Anderen ist in der Antigone selbst. denn sie sagt: Weil wir leiden, wollen wir gefehlt zu haben zugeben. Darin ist die Versöhnung mit ihrem Leiden ausgesprochen“ (GW 28.1, S. 507). Zu wirklicher Anerkennung kommt es in der Tragödie nicht, da Anerkennung voraussetzen würde, die eigene Schuld zu erkennen und auszusprechen, ohne daran zugrunde gehen zu müssen. Die tragische Form der Anerkennung des Scheiterns „drückt den aufgehobenen Zwiespalt des sittlichen Zwecks und der Wirklichkeit […] aus“, aber Antigone wie Kreon gehen an ihrer Gesinnung zugrunde (GW 9, S. 256). Versöhnung würde stattdessen sein, dass die „Individualität ihre Einseitigkeit aufgiebt.“ In der Tragödie ist dies der Individualität unmöglich, denn „sie erscheint dann als characterlos. Bei den Alten daher konnte dieß nicht auf diese Weise geschehen“ (GW 28.1, S. 507 f.). Anerkennung heißt also, Wege zu finden, wie die Individualität ihre Einseitigkeit und ihr selbstbezügliches, pathetisches Rollenverständnis hinter sich lassen kann, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. In der antiken Tragödie bedarf es dazu eines Deus ex Machina, gegen den sich aufzuheben, keinen Charakterverlust darstellt. Eine säkulare Lösung ist nicht vorgesehen. Diesen Punkt macht Hegel auch in der Phänomenologie. Antigone spricht zwar das Unmögliche aus: „Weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt“, aber in diesem Anerkennen „gibt das Handelnde seinen Charakter und Wirklichkeit seines Selbst auf, und ist zu Grunde gegangen.“ Die prä-kommunikative Individualität der poetischen Sittlichkeit ist

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„unmittelbar, und an sich eins mit diesem seinem Allgemeinen, sie hat ihre Existenz nur in ihm, und vermag den Untergang, den diese sittliche Macht durch die entgegengesetzte leidet, nicht zu überleben“ (GW 9, S. 256).

Der analytische Blick auf die logische Struktur der Kollision zeigt, dass Hegels retrospektive Selbstdeutung im Spiegel der Antike die Aufgabe stellt, eine moderne Form der Versöhnung zu ergründen. Sie muss darin bestehen, kommunikative Formen zu etablieren, die es erlauben, die eigene Schuld, das eigene Fehlen anzuerkennen und auszusprechen, ohne dass dieses Eingeständnis eine unvertretbare Selbstnegation, den Gesichtsverlust, bedeuten würde. Versöhnung setzt voraus, das pathetische Selbstverständnis aufzugeben. Wir haben die Wahl und sind folglich auch dafür verantwortlich, was wir tun. Das heißt auch, dass uns Verantwortung zugeschrieben wird für etwas, was wir nicht beabsichtigt haben. Wir haben die Wahl und sind nie identisch mit dem, was wir tun. Weil wir die Freiheit der Wahl haben, können wir fehlen. Das ist die reflexive Einsicht, die angesichts der Kränkungen und Schmerzen des Zusammenlebens nicht verhärtet und erkaltet, sondern sich der Kraft des Geistes zu verzeihen erinnert: „Weil wir leiden, wollen wir gefehlt zu haben zugeben“. Diese Aktualisierung der hegelschen Idee der Versöhnung betont die Relevanz einer gelebten Erinnerungskultur. Versöhnung meint mehr als die juristischen Verfahren der Aufarbeitung, sondern gelebte Erinnerungskultur und die Thematisierung von Leid.43 Da kommt die Kunst ins Spiel. Kunst zieht in einem nicht zu unterschätzenden Maße poetische Kraft aus der Konfrontation mit den schmerzhaften Seiten menschlicher Negativität und Positivität, dem Ganzen unseres Inderweltseins. Kunst dient nicht der kollektiven Therapie, aber ästhetische Praxis ist ein Weg des Geistes, sich 43

Vgl. zur großen kulturwissenschaftlichen Thematik der Erinnerungskultur, ihrer in Medien gebundenen Materialität und ihrer Fragilität: A. Assmann, Erinnerungsräume, A. Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, und mit Blick auf Hegels Geschichtsphilosophie: J. Assmann, Achsenzeit, S. 55–77.

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mit seinen Traumata und Verletzungen auseinanderzusetzen. Der Geist kann sich erst integral begreifen – also seine Widersprüche und Ambivalenzen als Teil seiner selbst anerkennen –, wenn es eine soziale Praxis der Selbstthematisierung gibt. Kunst leistet ihren Beitrag zu einem integrierten Selbstverständnis des Geistes, indem sie die kommunikativen Verkehrsformen im Kunstwerk verdichtet und so problematisiert. Hegel fasst diese Rolle der Kunst, indem er ihr nicht extern den Zweck der moralischen Verbesserung vorschreibt, aber von ihr verlangt, Stellung zum Weltlauf zu nehmen. Kunst bedarf, so lässt sich dieses idealistische Credo vielleicht am besten fassen, einer Haltung zur Kommunikation von Kunst und Nichtkunst. Die künstlerische Haltung besteht darin, so Hegels Worte, die „nicht aufgelösten Widersprüche“ darzustellen (GW 28.2, S. 538). Es geht dabei nicht um eine ästhetische Erziehung des Menschen. Das wäre eine Fremdbestimmung der Kunst. Kunst kann der „Milderung der Barbarei“ dienen, solange sie es nicht plakativ beabsichtigt (GW 28.1, S. 240), indem sie die Wirklichkeit so verdichtet und verfremdet, dass ihre Verkehrformen als veränderbar, als niemals alternativlose Konstruktionen erscheinen. Kunst, deren alleinige Bedeutung aber die moralische Besserung ist, ist eindeutige Kunst, ist fadenscheinige, schlechte Kunst. Moralische Kunst verfehlt ihr Publikum, erreicht sie doch nur die, die sich von ihr erreichen lassen wollen. Es geht vielmehr darum, dass Kunst, gerade in ihrer modernen Form, Position zu beziehen hat, indem sie mit den Mitteln der Kunst die „nicht aufgelösten Widersprüche“ der Existenz des Geistes darstellt. Kunst, die sich einer Haltung entzieht und sich im l’art pour l’art ihrer technischen Versiertheit, ihres reinen Formtriebes verliert, hat den Bezug zur Prosa ihrer Existenz verloren. Damit wird ihre poetische Formensprache, trotz aller denkbaren Finessen selbstbezüglich und leer. Kein Werk entsteht im luftleeren Raum, die ästhetischen Strategien seiner Gestaltung korrespondieren mit den zeitgeistigen Prozessen in Kunst und Nichtkunst. Das Kunstwerk entwirft so eine fiktive Welt, die zur realen in einem komplexen und unlösbaren, aber keinem wesensmäßig inkongruenten Verhältnis steht. Das be-

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deutet nicht, Kunst auf ihre tagespolitische Aktualität zu reduzieren, sondern impliziert vielmehr, Poesie als eine wesentliche Form der Weltaneignung zu interpretieren.

1.3 Die Poesie der Kunst Verstehen wir Versöhnung im Sinne einer prosaischen Entdramatisierung ethischer Kollision, dann meint Prosa hier eine geschichtsund sozialphilosophische Kategorie. Während die prosaische Sittlichkeit Voraussetzung der (nach-)romantischen Kunstform ist, setzt die klassische Kunstform eine poetische Sittlichkeit voraus.44 Prosaische gesellschaftliche Zustände ermöglichen die Emanzipation von der Willkürherrschaft heroischer Sittlichkeit, da sie postheroische Verfahrensgerechtigkeit an die Stelle des Pathos des Helden stellt. Die Prosa des positiven Rechts bricht das Naturrecht des Stärkeren. Prosa, verstanden als das Andere der Kunst, der Poesie, umfasst damit den sozialen Kontext der Kunst. Hegels Ästhetik von der Differenz von Prosa und Poesie her zu fassen, heißt daher, ihren Idealismus anti-ästhetizistisch zu denken. Poesie ist kein Spiel bloßer Formen, sondern drückt gesellschaftliche und private Zustände in den unendlichen Varianten der Wechselwirkung von subjektivem, objektivem und absolutem Geist in verdichteter Form aus. Als Ästhetik der Kommunikation von Kunst und Nichtkunst ist Hegels Ästhetik materialistisch avant la lettre, indem sie Ästhetik und Sozialphilosophie aufs Engste verbindet. Das Kunstwerk ist nicht dingontologisch, also auf Basis binnenästhetischer Werteigenschaften allein zu fassen, sondern kommuniziert als sinnlich sich ausdrückende Gestalt mit ihrem Außen, der gesellschaftlichen Welt der Nichtkunst. Das Außerästhetische ist durch die Kategorie des Prosaischen selbst ästhetisch gefasst und so mit der Kunst innerlich vermittelt. Kunst ist das Andere des prosaischen Gewebes des Geistes, hat aber dessen prosaischen Verkehrsformen zur zentralen Voraussetzung. 44

Vgl.: Rose, Hegel contra Sociology, S. 144.

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Hegels geschichtsphilosophischer Begriff der Prosa und seine ästhetischen Implikationen lassen sich gut konturieren, wenn wir sie mit Adornos Überlegungen zum Thema kontrastieren. Kunst ist, um es mit Adorno zu sagen, in der Gestaltung ihrer Werke autonom und selbstbegründet. Zugleich ist sie auch „fait social“, also gesellschaftlich bedingt und heteronom. Adorno spricht vom „Doppelcharakter der Kunst: der von Autonomie und fait social“.45 Adorno deutet diesen Doppelcharakter der Kunst so, dass Kunst im Modus der „Nichtkommunikation“46 mit den sozialen Tatbeständen zu brechen habe, weil die Sprache der Kunst nicht in Kommunikation aufgeht und der Ausdruck der Kunst sich der Sprache der verwalteten Welt der Verstandesherrschaft entziehen muss, um sich nicht der Kulturindustrie anheischig zu machen. Adorno analysiert den Zustand der kommunikativen Verhältnisse in der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft so, dass sie von Manipulation und Instrumentalisierung gekennzeichnet sind, die einen freien, anerkennenden Umgang sowohl der Subjekte untereinander als auch im Umgang mit der gegenständlichen Welt verhindern. Adornos Leitmotiv seiner Sprach- und Rationalitätskritik ist der Gedanke „einer in der gesellschaftlichen Organisation überwiegend verfehlten Triangulation.“47 Der Vorrang des ästhetischen Objekts in der verwalteten Welt ist erst erfüllt, wenn der Ausdruck des Kunstwerks der „Chock“ der verwaltenden Kommunikationsformen ist. Kunst läuft aber, wie Adorno am Beispiel des Jazz argumentiert, selbst immer Gefahr, unter den kapitalistischen Bedingungen ihrer technischen Reproduktion zum sedativen Reflex der mechanischen „communication industry“ zu degenerieren, in der die Elemente der Improvisation nur als eingängige „Arrangements“ der kommerziellen Praxis der Unterhaltung fortexistieren.48 45 46 47 48

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 340. Ebd., S. 15. Seel, „Das Potential der Sprache“. Adorno fällt bekanntlich ein vernichtendes Urteil: „Jazz, ursprünglich ein soziales Randphänomen, das vom Lumpenproletariat herkam, ist vom Betrieb der communication industry mehr und mehr geglättet, sei-

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Hegel ist der Gedanke verfehlter Triangulation keineswegs fremd, begreift er doch die Negativität des Menschen radikal dialektisch. Zur Freiheit des Menschen gehört die Möglichkeit radikaler Selbstverfehlung. Hegel bietet so ein differenzierteres Bild der Verfehlungen und Krisen des Geistes als Adorno, weil Hegel sie in dialektischer Wechselbestimmung mit den Potentialen ihrer Aneignung zusammen denkt, anstatt die hohe Kunst der „verwalteten Welt“49 undialektisch entgegen zu stellen.50 Es ist nun an der Zeit, nach dem Poetischen der Kunst selbst zu fragen. Was ist Poesie, wenn wir sie nicht als das binnenästhetische Genre der Lyrik verengen, sondern als das Ästhetische schlechthin fassen? Poesie ist Hegels poetologischer Ästhetik zufolge die Kommunikationsform des Geistes im sinnlichen Medium uneigentlicher Rede. Die uneigentliche Rede der Poesie dient der Verdichtung der prosaischen Welt des Geistes. Der Begriff „Uneigentlich“ nimmt hier keine Wertung gegenüber einer vermeintlich eigentlichwahren Existenz vor. Uneigentlich im hier verwandten Sinne meint nicht den fundamentalontologischen Begriff, den Heidegger entwickelt.51 Uneigentlich im hier verwendeten Sinn ist ein rhetorischer Begriff und meint die übertragende, nicht-wörtliche Rede. Sprache ist geprägt von der Wechselwirkung von eigentlich-wörtlicher und

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ner bescheidenen chockierenden Züge entäußert und vollkommen aufgesaugt worden.“ Adorno, „Theorie der Neuen Musik“, S. 72. Adorno, „Kultur und Verwaltung“, S. 145. Die Entstehung kommunikativer Rationalität nicht reflektieren zu können, sondern moderne Rationalität auf instrumentelles Handeln zu reduzieren, liegt im Falle Adornos, so die Diagnose Wellmers, daran, dass Adorno über „keinen angemessenen Begriff sprachlicher Intersubjektivität“ verfügte. Wellmer, „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, S. 184. Unsere Terminologie läuft trotz der systematischen Parallele, Kunst als ein Wahrheitsgeschehen zu deuten, quer zur Terminologie Heideggers, da für Heidegger die Poesie die höhere, eigentliche Weise ist, Wahrheit ins Werk zu setzen: „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird.“ Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“, S. 59.

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uneigentlich-übertragender Rede, wie sie der Vergleich, die Metapher oder die Allegorie ausdrücken. Poesie lässt sich mit Danto als „Transfiguration des Gewöhnlichen“ und Alltäglichen der Lebenswelt ausbuchstabieren.52 Um die poetische Transfiguration des Alltäglichen zu verstehen, ist es zentral, diese Transfiguration als eine Negation zu verstehen, als eine „konkrete Negation“ der gesellschaftlichen Realität.53 Kunst vermag so auch die Prosa des arbeitsteiligen Lebens mit in ihre Darstellung hineinzuziehen, ohne dadurch selber im Prosaischen und Alltäglichen stehenzubleiben. Die Doppelstellung der Kunst als autonom und fremdbestimmt übersetzt sich in hegelscher Terminologie darin, Poesie als Negation und damit als Verallgemeinerung zu verstehen. Poesie ist, wie wir im Folgenden zu zeigen haben, versinnlichte Allgemeinheit. Es geht bei der ästhetischen Differenz also um das Verhältnis von Sinnlichkeit und Geist, von Anschauung und Begriff. Hegel versteht die strikte Opposition von Sinnlichkeit und Denken, von Poesie und Wissenschaft als sentimentalen Kitsch, und deutet Kunst und Sinnlichkeit hingegen als selbst intellektuell, das heißt als Vermittlungspraxis, als Wissenskonstellation. Deshalb entwickelt er einen Begriff sinnlicher, nichtbegrifflicher Allgemeinheit. In seiner Kritik am ästhetischen Sensualismus, der in der ästhetischen Erfahrung die Einmaligkeit und Unaussprechlichkeit hypostasiert, folgen wir Hegel: ohne Allgemeinheit kein Wissen. Kunst ist eine Wissenskonstellation, es gibt also sinnliche Allgemeinheit.54 Kunst artikuliert Wissen mit Anspruch auf, kantisch gesagt, „subjektive Allgemeinheit“. Subjektivität meint hier nicht bloß beliebige, „subjektive“ Ansicht, sondern bezieht sich auf Subjektivität überhaupt, also das Menschliche, Allzumenschliche. 52

53 54

Wir bleiben bei der unverfänglicheren Rede der Transfiguration. Die deutsche Übersetzung bezeichnet dies auch als Verklärung des Gewöhnlichen. Danto, Transfiguration of the Commonplace. Auch Taylor betont als wichtigstes Merkmal moderner Kunst die Transfiguration des Gewöhnlichen. Vgl.: Taylor, Quellen des Selbst, S. 749. Vgl. zur diesem Logizitätstheorem der Kunst auch: Hilmer, Scheinen des Begriffs, S. 32–45.

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Poesie leistet als sinnliche Allgemeinheit eine Emanzipation von der Macht der Unmittelbarkeit des sinnlich Gegebenen: „Die Kunst durch ihre Darstellung befreit innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit“ (TWA 13, S. 74 f.). Diese These ist zutiefst dialektisch und genau zu lesen: Kunst befreit von der Macht der Sinnlichkeit in der Sphäre der Sinnlichkeit. Sie bricht also die Unmittelbarkeit des Sinnlichen mit sinnlichen Mitteln. Wer das als „Befreiung aus unserer sinnenhaften Körperlichkeit überhaupt“ versteht, denkt die Negation der Kunst als abstrakte Negation, als Befreiung von der Sinnlichkeit, als Vernichtung des sinnlichen Materials.55 Hegels These steht dazu diametral: Indem Kunst das Sinnliche vergeistigt, befreit sie das Sinnliche überhaupt erst zu eigentlicher, das ist intellektueller Sinnlichkeit. Es mag nun nahe liegen, hier an den Gegensatz von deskriptiv und präskriptiv zu denken. Allein, das Sollen von Poesie und Logik gibt kein abstraktes Sollen vor, sondern ergibt sich aus der Interpretation der Welt. Poesie und Logik nehmen eine Haltung zur Welt ein, die Ausdruck einer Theorie der Welt ist. Sie sind somit zwingend auf Interpretation verwiesen, sowohl im Moment ihrer Artikulation als auch für ihre Rezeption. Poesie mit Hegel als versinnlichte Allgemeinheit zu verstehen, begreift Kunst als emanzipative Praxis einer freien, wechselseitigen Bestimmung von Anschauung und Begriff. Damit ist das Verhältnis von Philosophie und Kunst berührt, denn beide sind nach Hegel Formen der Transfiguration der Prosa des Verstandes durch verschiedene Operationen der Versprachlichung. Sie dienen dem Ziel der Emanzipation des Geistes von der Macht des Gegebenen. Sowohl Poesie als auch Logik entstehen, um es mit einer Metapher Dantos zu sagen, in „the space between language and world“.56 Poesie und Logik handeln von der Welt und sind keine idiosynkratischen, selbstbezüglichen Glasperlenspiele. Poesie 55

56

Pippin deutet m. E. die ästhetische Negation als abstrakte Negation und argumentiert, dass die Sinnlichkeit als unaufgelöstes Problem gegen Hegel zu wenden sei. Pippin, Kunst als Philosophie, S. 73. Danto, Transfiguration of the Commonplace, S. 79.

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und Logik sind in diesem Sinne heteronom.57 Ihre „aboutness“, wie Danto dies fasst, ist zugleich von der Macht des Faktischen emanzipiert, denn Philosophie und Kunst operieren auf einer sprachlichen Ebene, die des „Kontrastes“ von Realität und Erscheinung bedarf.58 Poesie wie Logik müssen, um diesen Punkt im Sinne Hegels zu präzisieren, einen Widerspruch von Realität und Darstellung erzeugen, um in dieser Reflexion zum Erscheinen zu kommen. Sie stellen das Reale dar, ohne es bloß abzuschildern. Logik wie Poesie setzen sich so in Distanz zur Welt, um sie in den Blick zu nehmen und ihr Andersseinkönnen zu versinnbildlichen und zu begründen. Ihre Sprache bleibt dabei in dem Sinne Bestandteil der Welt, dass sie im Rahmen sozialer Praxis Teil der Objektivität des Geistes ist. Gleichwohl ist Sprache ein Darstellungs- und Gestaltungsmittel und nie identisch mit dem Dargestellten und Gestalteten. Die Sprachen der Künste und der Logik nehmen auf die Welt in einer Weise Bezug, die selbstbegründet ist. Logik wie Poesie sind Weisen der Bezugnahme auf die sozialen Tatsachen, die nicht von den Tatsachen selbst her determiniert sind. So wenig der systematischphilosophische Begriff in der Grammatik der Alltagssprache aufgeht, so wenig gehen die Sprachen der Künste in der Verkehrssprache der Handlungskoordination auf, selbst dann nicht, wenn sie mit diesen wortgleich sind. Die Sprachen der Künste und Logiken realisieren aufgrund ihrer je eigenen Formgesetze eine Lebendigkeit, die der Prosa des Alltags nicht zukommt, deren Formgesetz nicht selbstgesetzt ist. Während prosaische Rede wahr ist, wenn der Fall ist, was sie schildert, können Poesie und Logik gerade dann wahr 57

58

Wir werden im dritten Teil zu Logik und Philosophie den hegelschen Dialethismus so entwickeln, dass ersichtlich wird, warum das Interpretament der „autonomen Negation“ (Henrich) nicht in der Lage ist, den hegelschen Begriff des Begriffs zu fassen. Frei ist der Begriff nicht in reiner Autonomie, sondern frei darin, sich systematisch auf die Objektivität zu beziehen und sie dadurch zu dem zu machen, was sie ist: eine selbständige Instanz dem Begriff gegenüber. Danto, Transfiguration of the Commonplace, S. 78–80.

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sein, wenn nicht der Fall ist, was sie artikulieren. Darin kommt die kontrafaktische Kraft von Logik und Poesie zum Tragen. Künstlerische Transfigurationen greifen im Rahmen ihrer jeweiligen ästhetischen Strategie Aspekte des geistigen Lebens ihrer Zeit auf und artikulieren sie so, dass diese Strategien das außerästhetische Material, den sozialen Tatbestand, in verdichteter Weise artikulieren. Das Problem dieser poetischen Wiedergabe, des Findens einer guten Geschichte, eines treffenden Bildes, eines welterschließenden Klangs ist, dass sich die Wirklichkeit für gewöhnlich nicht in Gestalt von Geschichten zeigt, sondern ohne sonderliches Interesse an der eigenen Erzähl- und Darstellbarkeit einfach so geschieht. Kunst muss deshalb prosaische Zusammenhänge dadurch erfahrbar machen, dass sie sie fiktionalisiert und entfremdet. Die Transfiguration der Prosa des Geistes in Akten narrativer Kommunikation redet daher keiner Sozialromantik das Wort, die gegen die sozialen Verhältnisse als den Kerker authentischer Subjektivität anschreibt und Kunst zum freien Raum der Eigentlichkeit verklärt. Die sentimentale Romantik motiviert ästhetische Formanstrengungen damit, dass die Faktizität des Sozialen authentische Subjektivität verhindere. Diese Romantik lebt von dem modernen Widerspruch von innerer Erlebniswelt und äußerer Sachwelt. Mit den Mitteln der Kunst diese Verfehlung sichtbar zu machen, kann Ziel ästhetischer Strategien sein. Darin geht Poesie aber nicht auf. Auch realistische und naturalistische Darstellungen sind Mittel ästhetischer Strategien der Transfiguration, denn auch die treue Darstellung des Gegebenen kann das Dargestellte verdichten. Die Pluralität ästhetischer Strategien ist dem Poetischen, mithin Ästhetischen wesentlich. Poesie, so können wir Hegels Poetik resümieren, kann das Bewusstsein der Rezipient*innen für die Ambiguitäten von Welt und Sprache schärfen, indem sie ihren Gehalt im Horizont sprachlicher und kultureller Verrätselung verfremdet und so veranschaulicht. Mit dem Begriff der ästhetischen Strategie ist gemeint, dass die Gestaltung eines Kunstwerks das Unterfangen ist, ein Objekt im weitesten Sinne so zu gestalten, dass seine Gestalt innere poetische Notwendigkeit entwickelt. Damit ist der Stil einer ästhetischen

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Produktion berührt. Ästhetische Strategien können sehr streng sein, dann ist die Elimination aller Partikularität ihr Ziel. Sie können auch nach Bildern und Symbolen des Unbewussten suchen und das Vage, Anspielungsreiche und Offene beredt machen. Eine ästhetische Strategie kann auch darin bestehen, Kontingenz und Unvorhersehbarkeit Teil der Gestaltwerdung werden zu lassen. Eine ästhetische Strategie formuliert das Wie der Gestaltung. Eine ästhetische Strategie ist kein Epochenbegriff. Der Impressionismus ist keine ästhetische Strategie, aber Manets Einsatz der Stilmittel der Flächigkeit und Sichtbarkeit der Farbe, der Materialität der Leinwand, entstammt der Idee, das Bild als Bild im Bild zu zeigen und so den tradierten Konventionen der Malerei eine neue Sichtbarkeit entgegenzuhalten. Manets ästhetische Strategien machen seinen Stil aus. Die Stilmittel, die er verwendet, sind die gewissermaßen taktischen Umsetzungen seiner ästhetischen Strategie, die zu den „ersten modernen Bilder[n]“ der Kunstgeschichte geführt hat.59 Auf dieser Ebene wird die veränderte ästhetische Signatur der Moderne sichtbar. Die Bedeutung eines Kunstwerks bedarf in der entwickelten Moderne einer kritischen Hermeneutik des Werks, die sowohl Absicht und Zeitgebundenheit eines Werks als auch dessen Fähigkeit reflektiert, mehr zu sagen, als ursprünglich gemeint war, und über den Kontext seiner Entstehung hinaus etwas zu bedeuten. Es gibt keine finale Antwort darauf, was die richtige Hermeneutik der Künste wäre und die Kunst bedarf einer letzten Interpretation auch gar nicht, um lebendige Praxis zu sein. Jede ästhetische Gestalt drückt mehr aus als die ursprüngliche Intention, zugleich geht sie weder in ihrem Entstehungskontext noch ihrer Rezeptionsgeschichte auf. Kunstwerke stellen uns vor hermeneutische Herausforderungen, weil sie ein offenes, unbestimmtes Verhältnis aus innerer Stimmigkeit und zugewiesener Bedeutung darstellen. Ästhetische Kommunikation ergibt sich aus der internen Reflexion in der Form der Gestalt und der externen Expression, der ihr zugewiese59

Greenberg, „Modernist Painting“, S. 86.

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nen Bedeutung. Das Ästhetische ist somit die Kommunikation zwischen und der Widerspruch von Gestalt und Bedeutung. Während Gestalt dabei primär die produktionsästhetische Dimension fasst, fokussiert die Bedeutungsebene auf das rezeptionsästhetische Moment. Ihr Widerstreit und Kampf ist dem Ästhetischen wesentlich. Die Bedeutung von Kunst weist eine sich stets verschiebende Struktur auf und steht niemals fest. Kunst ist eine Praxis der Bewegung. Die Bedeutungsstruktur der Kunst bedarf eines Verstehens des Signifikats, das auf die Struktur des Signifikanten rückwirkt.60 Signifikant und Signifikat sind nur in Beziehung aufeinander, was sie sind. Sie sind als ästhetische Beziehung wesentlich vieldeutig, weil sie in einer offenen, transformativen Beziehung stehen.61 Die Pluralität ästhetischer Strategien organisiert Hegel über die Differenzierung der Formen der symbolischen, klassischen, romantisch-modernen Kunst. Sie sind einander negierende Strategien der Vergeistigung des Materials. Das heißt, es gibt keine gemeinsame qualifizierende Eigenschaft aller Formen des Poetischen, aber eines ist Poesie nie: einfache, bloß wiederholende Abschilderung des Gegebenen. Die Poesie der Kunst ist konstitutiv uneigentliche Rede. Kunst, die nicht zum Gegebenen und Prosaischen eine ästhetische Stellung bezieht, ist keine souveräne Kunst.

1.4 Die Souveränität der Kunst Das Poetische ist die ästhetische Form der Negation, mithin die sich in der sinnlichen Gestalt der Kunst reflektierende Negativität des Geistes. Was wird, so lautet die Frage, nun negiert? Einen wichtigen Hinweis gibt Hegel mit seinen Erläuterungen des Poetischen als uneigentliche Rede, die sich in Form von Metaphern, Allegorien, Ana60 61

Hilmer, Scheinen des Begriffs, S. 29. Kunst ist insofern dem Begriff analog. Ein solches dialektisches Begriffsverständnis wird Gegenstand unserer Auseinandersetzung mit Hegels Logik im dritten Teil dieses Buches sein.

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logien und übertragenden Formen der Rede wie dem Vergleich ausdrückt. Poesie findet und erfindet Bilder für die subjektiven und objektiven Zusammenhänge der Handlungssituation des Geistes und macht sie sich derart zu eigen, ohne sie zu beherrschen. Poesie leistet dadurch, dass sie die gesellschaftlichen Tatsachen in poetische Reflexion übersetzt, eine Entfremdung von ihnen. Ohne diese Entfremdung von sich hätte der Geist kaum Möglichkeit, sich die Welt anzueignen. Das zugrundeliegende Problem ist die Verknöcherung der Praxis des objektiven Geistes, die mit der Nähe von Prosa und Positivität gegeben ist. Wenn soziales Leben zur „proceßlosen Gewohnheit“ wird (GW 20, § 375), stirbt es den Tod der Indifferenz. Mechanische Praxis ist tote Praxis. In der Gewohnheit wird uns die eigene Praxis äußerlich und fremd, ein bloß Gegebenes, denn die Gewohnheit ist ein reflexionsfreies Tun. Damit soziale Praxis lebendig ist und bleibt, bedarf es des Widerspruchs gegen die falsche Äußerlichkeit selbstverständlicher Gewohnheiten. Das, in Theunissens Worten, „nur Eigene brauche ich mir nicht anzueignen und das nur Fremde vermag ich mir nicht anzueignen.“62 Theunissen weiter folgend können wir sagen: Es gilt, das Eigene so zu entfremden, dass es kein Ganzanderes wird, und das Fremde anzueignen, ohne es ein Ganzeigenes werden zu lassen. Die aneignenden Bilder der Poesie ziehen ihre Schlüsse aus dem Gegebenen des geistigen Gewebes, indem sie die jeweilige Situation so fassen und beschreiben, dass diese Beschreibung der Situation Aspekte abgewinnt, die einer ontischen Abschilderung nicht präsent sind. Die Freiheit der Kunst und ihr Produkt, die Poesie, schaffen Bilder und Imaginationsräume, in denen der Geist sich in Bildern seiner selbst von sich entfremden kann. Diese Entfremdung ermöglicht die Aneignung der sozialen Verhältnisse, weil sie eine Folie zur Neuinterpretation des Gegebenen entwickelt. Die ästhetische Möglichkeit, sich etwas anzueignen, zeigt so die Handlungs- und Gestaltungsmacht des Subjekts, das die Welt, die es sich aneignet, eigensinnig prägt. Aneignung ist eine Praxis, eine Form des 62

Theunissen, „Produktive Innerlichkeit“, S. 63.

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praktischen Weltverhältnisses.63 Kunst macht sich die sozialen Verhältnisse zu eigen und eröffnet so Räume der Gestaltung. Durch ihre Intervention erscheint das Gegebene in seiner sozialen Plastizität. Die poetische Wissensökonomie ist insofern subversiv, als sie die Fähigkeit des Geistes der freien und kreativen Aneignung in Erinnerung ruft. Die poetische Intervention der Bildsprache ist als diese erinnernde Kraft eine notwendige Bedingung offener, pluraler Sittlichkeit, denn diese lebt vom Willen und der Fähigkeit des subjektiven Geistes, sich die Welt anzueignen. Die Poesie ist deshalb als bloßer Schein missverstanden, wenn sie in platonischer Manier als reine Sophistik abgetan würde. Der Schein ist für Hegel für das Wesen einer Sache die wesentliche Relation: „Aber was der Schein sei, welches Verhältniß er zum Wesen habe, darüber ist zu sagen, daß alles Wesen, alle Wahrheit erscheinen müsse[,] um nicht eine leere Abstraction zu sein“ (GW 28.1, S. 220). Aneignung als wesentliche Bedingung lebendiger, konkreter sozialer Praxis bedarf der Entfremdung. Kunst steht in der Perspektive des kulturell zu Bearbeitenden, das wir mit Partizipation und gemeinsamer Vergangenheit umreißen können.64 Das Poetische markiert derart keinen Gegenstandsbereich neben anderen, keine „Wertsphäre“ im Sinne von Habermas, sondern entsteht im sozialen Raum durch phantasievolle und reflexive Bezugnahme auf die Situation ihrer Performanz. Poesie rekonstruiert das Gegebene, ohne dem Gegebenen eine letzte Rechenschaft schuldig zu sein. Das Gegebene ist der Poesie Inspiration und Quelle, keine Autorität. Die poetische Formanstrengung will ihr Werk und nichts als ihr Werk. Die Wahl der ästhetischen Strategie findet so nie unabhängig von ihren sozialen Umständen statt und ist zugleich keine bloß abhängige Größe. Das Gesehene, Erlebte, Durchlittene kann sowohl emphatisch nachempfunden werden oder kühl und distanziert seziert werden. Poesie rekonstruiert ihr Material und 63 64

Vgl. zum Begriff der Aneignung im Ästhetischen: Jaeggi, „Aneignung braucht Fremdheit“. Donougho, „Must it Be Abstract?“, S. 94.

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ist je nach ästhetischer Strategie unterschiedlich stark an es gebunden, geht aber nie darin auf, es bloß zu repräsentieren. Poesie ist die freie künstlerische Praxis, denn sie darf, ja muss Bilder erfinden, die das Gegebene verkürzen, verzerren, kondensieren, genauso wie sie es verlängern, dehnen oder dramatisieren. Poesie dichtet historisches Material um, erfindet Figuren, führt historisches Personal in einer Protagonist*in zusammen oder verteilt sie auf mehrere. Poesie zeigt innere Unschärfen und Ambivalenzen, wo prosaische Eindeutigkeit herrscht. Das Poetische steht damit im Widerspruch zum Prosaischen, denn ihr alleiniges Gesetz ist ihr Formgesetz, nicht das bürgerliche Gesetzbuch. Kunst entfaltet sich, um es mit Menke zu sagen, in ihrer „Souveränität“.65 Ihre souveräne Stellung in der Moderne stellt aber keine strukturelle Überforderung ihrer Leistungen dar.66 Die Freiheit der Kunst ist damit als ein hohes Gut bestimmt, denn ohne Kunst wären menschliche Weltaneignung und Expressivität wesentlich verkürzt. Bevor wir die Fragen nach dem Wie poetischer Negation weiter verfolgen und mit den Kunstformen die drei Idealtypen ästhetischer Strategien poetischer Kommunikation in den Blick nehmen, sollten wir nach der prosaischen Seite der Poesie, ihren Rechten fragen. Welche Rechte und Pflichten hat souveräne Kunst? Gibt es Grenzen souveräner Kunst? Wie verhält sich das Recht der Kunst auf freie Weltaneignung mit Blick auf konfligierende Rechte? Da ist zum einen das Recht der Personen auf informationelle Selbstbestimmung, dem Recht am eigenen Bild. Darf Kunst reale Personen so thematisieren, dass sie sie im Lichte ihrer ästhetischen Strategien anders zeichnet, als sie sich selbst oder ihre Nachfahren sie sehen? In der pluralistischen Moderne berührt die Frage nach den Grenzen des Rechts der freien Kunst zweitens die Frage, 65 66

Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 278. Aufbauend auf der Theorie der „Sphärentrennung“ sieht Habermas die Wertsphäre der Kunst mit der Aufgabe überfordert, eine Lösungsinstanz für die Probleme der ausdifferenzierten Wertsphäre zu sein. Habermas, Der Diskurs der Moderne, S. 108 ff. und S. 148 ff.

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ob Kunst die Befindlichkeiten anderer Kulturen und Lebensformen zu tolerieren habe. Darf Kunst etwa religiöse oder anderen weltanschauliche Symbole aufnehmen und kritisieren? Hat Kunst Lebensformen in dem Sinne zu respektieren, dass sie sie nicht poetisch entfremdet? Das Argument, dass Kunst wesentlich für die menschliche Weltaneignung ist, gibt in dieser Hinsicht eine eindeutige Richtung vor. Das Recht am eigenen Bild und das Recht religiöser Toleranz wiegen leichter als die Freiheit der Kunst. Der poetische Ausdruck ist prinzipiell unbegrenzt, kein Gegenstandsbereich ist ihm entzogen. Politische Korrektheit und Sorge vor den Befindlichkeiten Anderer sind der Selbstzensur zu nahe, um die Freiheit der Kunst einschränken zu dürfen. Offene, plurale Sittlichkeit lebt davon, dass die Normen und Standards der Gesellschaft problematisiert werden. Keine Lebensform darf sich aus diesem Streit zurückzuziehen, weil sie sich durch diese Kritik nicht respektiert fühlt. Wer wie wir Menschen in einer geteilten Welt lebt und situativ handelt, ist Gegenstand der Reflexion Anderer. Kritik und künstlerische Thematisierung sind keine Formen der Respektlosigkeit, sondern ergeben sich aus dem Interesse an Sein und Sollen der geteilten Welt. Anstatt also das Recht der Kunst zu beschneiden, ist es angebracht, rezeptionsseitig anzusetzen. Der expressive Ausdruck der Kunst ist unbegrenzt. Das bedeutet erstens für die Kritik der Kunst, dass sie die Kunstwerke immanent kritisieren muss, will sie ihnen gerecht werden. Michel Houellebecq mag bespielsweise gegen die ethische Pluralität anschreiben und eine vergangene Welt vermeintlich freier viriler Sexualität sentimental aufladen. Seine Werke sind aber primär als ästhetische, literarische Konfigurationen zu beurteilen. Hegels Ästhetik fordert von der Kunst eine Haltung zur Welt, aber die Kritik der Kunst geht nicht auf die Haltung, sondern muss die Formensprache und den Stil der Produktion reflektieren und von ihm aus die Haltung thematisieren – nie umgekehrt. Die gewählten ästhetischen Strategien geben den Maßstab der Beurteilung ihrer Gestaltungen vor. Eine Kritik aus ideologischen Gründen bleibt dem Kunstwerk notwendig äu-

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ßerlich. In der durch Kritik vermittelten ästhetischen Erfahrung ist der Maßstab nicht von außen an das Objekt heranzutragen. Kunst muss Haltung haben, um Kunst zu sein, ist aber nicht anhand ihrer Haltung zu beurteilen. Gegenstand der Kritik ist die Überzeugungskraft der ästhetischen Strategie, ihre poetische Notwendigkeit. Im Begriff der ästhetischen Strategie sind das ideelle Moment der Bedeutung und Haltung mit dem sinnlichen Moment der Gestaltung vermittelt. Ästhetische Strategien unterscheiden sich – wie wir unten mit Blick auf die Kunstformen konkreter sehen werden – darin, welche spezifische Position Idealität und Materialität zueinander einnehmen. Kunstwerke sind damit Gegenstand immanenter Kritik. Wir können urteilen, ein Kunstwerk gefalle uns nicht. Das ist keine Kritik, sondern nur ein ästhetisches Urteil, kein Kunsturteil. Erst in immanenter Kunstkritik kommt das Primat seiner ästhetischen Strategie zum Tragen. Wir dürfen zweitens voneinander erwarten, den poetischen Widerspruch an der Prosa der eigenen Existenz auszuhalten. Künstlerische Entfremdung ist keine Respektlosigkeit, sondern eine sinnlich-vermittelte Form von Auseinandersetzung und Kritik. Diese Erwartung impliziert aber den Bildungsauftrag an Kulturinstitutionen, Kunst als wesentliches Moment lebendiger Kultur zu vermitteln und die Praktiken ihrer Produktion und Rezeption einzuüben.67 Die im Rahmen der gestaltvermittelten Praxis der Selbstthematisierung und Selbstverständigung der Kunst angestoßenen Interpretations- und Bildungsprozesse sind lernbar. Schule, Museen und andere Kultureinrichtungen sind die Institutionen dieser Lernerfahrung und haben einen entsprechenden Auftrag. Kunst kann nur beleidigen, wer sie nicht versteht. Wer kritische Kunst, Kunst jenseits der Gemütserhebung innerhalb der Grenzen des sogenannten guten Geschmacks, als respektlos ablehnt, weil er oder sie die eigenen Weltanschauungen herabgesetzt sieht, missversteht die deontologische Struktur der Kunst. 67

Vgl. zu diesem Standpunkt auch: Bertram, „Warum der Mensch Künste braucht.“

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Künstlerische Soveränität ist als Recht nur einseitig gefasst. Die Rede von Recht suggeriert, Kunst könne auch nichtpoetisch sein und einfach das Gegebene innerhalb der moralischen Vorstellungswelt abschildern, ohne es sich anzueignen. Dem ist nicht so. Kunst muss poetisch sein, um Kunst zu sein. Kunst genießt nicht nur das Recht auf die freie Wahl ihrer ästhetischen Strategien, sondern hat geradezu eine Pflicht zu Transfiguration und ästhetischer Aneignung des Gegebenen. Kunst, die sich nicht dem Schein der Unmittelbarkeit, ihrer produktiven Innerlichkeit, verschreibt, verliert sich in der Wiederholung des Gewöhnlichen, wird ununterscheidbar und damit zwecklos. Poesie muss die Welt, die sie sich aneignet und bildhaft rekonstruiert, verdichten und entfremden. Diese Entfremdung ist dabei nicht das Ergebnis bloßer Assoziation, keine willkürliche Verdopplung und Beschilderung des Gegebenen, sondern entstammt der harten Arbeit am Material. Poesie ist Ergebnis der Arbeit an der Fortbestimmung des Formgesetzes im Rahmen einer gewählten ästhetischen Strategie. Poesie sieht immer leichter aus, als sie entstand. Der leichte Ausdruck der Poesie entstammt dem Kampfe mit dem Material und den Gepflogenheiten und Erwartungen der jeweiligen Kunstform. Poesie antiplatonisch als souveränes Wahrheitsgeschehen zu verstehen, bedeutet also auch, der Phantasie einen Ort in der Wissensökonomie des Geistes zu geben. Phantasie ist keine niedere Form der Assoziationsbildung, sondern ein zu entwickelndes und auszubildendes Vermögen des subjektiven Geistes. Die Intelligenz des subjektiven Geistes ist wesentlich auch „Zeichen machende Phantasie“ (GW 20, § 457). Die Objektivität liegt jetzt nicht mehr an Anschauungen gebunden vor, sondern in Symbolen, Zeichen und Bildern, die die Phantasie frei gemacht hat, indem sie sich in sie eingebildet hat.68 Phantasie realisiert so eine Distanz zum Material. Phantasie ist in diesem Sinne Einbildung, Abbildung und Fortbildung im Material und notwendig für die geistige Aneignung der Objektivität. Gleichzeitig ist neben der Phantasie auch die Erin68

J. Simon, „Zeichenmachende Phantasie“, S. 262.

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nerung als Vermögen des subjektiven Geistes beteiligt, denn Symbole, Zeichen, übertragende Bilder realisieren ihre poetische Kraft durch ihre Mehrdeutigkeit, die sich der quasinatürlichen Bedeutung des Ausdrucks, seiner wörtlichen, nicht übertragenden Bedeutung erinnert. Im poetischen Ausdruck hinterlässt die Genese aus dem prosaischen Verhältnis stets eine Spur. Ihrer eingedenk zu sein und sich ihrer zu erinnern, ist der Rezeption und Produktion des Poetischen wesentlich. Das zeigt der Zusammenhang der ästhetischen Strategien, die Hegel als Kunstformen in den historischen und systematischen Blick nimmt. Er interpretiert sie als Reflexionsbestimmungen der Geschichte der Kunst, indem er ihre systematischen Unterschiede aus ihrem historischen Ursprung gewinnt. Fassen wir zusammen. Im Spannungsfeld der sozialen Prosa der Nichtkunst ringt die Kunst um die Relevanz ihrer Ausdruckspraxis. Die ontologische Differenz von Prosa und Poesie erlaubt die Beschreibung des Was der Kunst. Das Wie der Kunst führt zur Frage der Spezifik der Poesie. Dazu ist es nötig, Hegels Konzeption von symbolischer, klassischer und romantischer Kunst nicht allein als historische Epochen zu sehen, sondern sie als Momente der Emanzipationsbewegung der Kunst selbst zu begreifen. Es geht also um die Verknüpfung von begrifflich-systematischer Reflexion und der Genealogie historischer Formationen.

2. Eine Genealogie der Kunstformen Der Gang von der Relevanzfrage zur Spezifik der Kunst führt zur Genealogie der Pluralität der poetischen Strategien der freien Kunst. Die Emanzipationsbewegung im Sinnlichen von der Macht des Sinnlichen – die Vergeistigung des Materials – zeichnet Hegel genealogisch nach, indem er die drei Kunstformen des Symbolischen, Klassischen und des Romantischen einführt. Er verknüpft so geschichtsphilosophische Überlegungen zu den epochalen Umbrüchen der Kunst mit systematischen Reflexionen zu den verschiedenen Stellungen, die der Geist zum sinnlichen Material einnehmen kann. Die Kunstformen beschreiben verschiedene, widerstreitende Idealtypen ästhetischer Strategien. Sie realisieren in je spezifischer Weise eine Abstraktion vom Material, indem sie dessen Unmittelbarkeit brechen und das Sinnliche vergeistigen. Gleichzeitig ist diese Abstraktionsbewegung in dem Sinne eine Konkretionsbewegung, dass das expressive Repertoire der Darstellungsstrategien wächst. Je geistiger Material ist, desto bedeutungsvoller und ausdrucksstärker wird es. Der Begriff der Kunst ist nicht von dessen Genese zu trennen, allerdings zeichnet die Ästhetik diese Genese nicht historiographisch nach, sondern denkt im Register einer „genetischen Exposition“ Systematik und historische Konsekutivität zusammen.1 Wir werden im Folgenden mit Hegel eine Rekonstruktion dieser Genealogie des Materials und seiner Genese aus der Natur geben.2 Hegels Anspruch ist es, systematisch-begriffliche Reflexionen mit einem genealogischen Narrativ zu verbinden, da das Ästhetische 1 2

Als „genetische Exposition“ beziehungsweise „immanente Deduktion“ ihres Gegenstands folgt sie derselben Methode wie die Logik: GW 12, S. 11. Vgl. zu einer hilfreichen, methodisch inspirierenden genealogischen Lesart der Kunstformen, besonders der symbolischen: Menke, Autonomie und Befreiung, Kap. 5.

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ein Bereich ist, der aus begrifflichen Gründen historisch zu denken ist. Wir werden auf den systematischen Teil fokussieren. Das heißt, wir lesen die Kunstformen nicht als strikte Epochenbegriffe, sondern als drei Idealtypen ästhetischer Strategien. Wir abstrahieren ein Stück weit von den altertumswissenschaftlichen Einordnungen Hegels mit dem Ziel, eine Lektüre zu entwickeln, die die angeblich so hohe Stellung des Klassischen bei Hegel befragt. Das inzwischen selbst klassisch-stereotype Schema, um die Genealogie der Kunstformen zu organisieren, fasst 1) die symbolische Kunstform als suchende Relation von Bedeutung und Gestalt. Die klassische Form ist 2) die vollendete Identität von Bedeutung und Gestalt im Idealen und Schönen, während die romantische Form 3) diese Vollendung zerstöre. Ein solcher Schematismus der Genealogie nährt die Idee, Hegel erzähle eine Zerfallsgeschichte der modernen Kunst oder fordere gar die Restauration der klassischen Kunst. Die These der Zerfallsgeschichte der Kunst wird aber Hegels Begriff des Begriffs nicht gerecht. Das Schema der Zerfallsgeschichte – symbolische Suche, klassische Vollendung, romantischer Substanzverlust – verbleibt an der Oberfläche der Genealogie. Wenn wir dieses Schema mit den Kunstformen korrelieren, wird das architektonische Problem dieses Schemas offenkundig: Die Vollendung im Klassischen entspricht dem zweiten Moment der historischdialektischen Bewegung und bliebe folglich falsch und abstrakt. Es müsste im historisch-dialektischen Prozess der Emanzipation der Kunst folglich überwunden werden. Diese Abweichung vom Formgesetz wäre zu eklatant, um nicht von Hegel reflektiert zu werden, wobei dies kaum beachtet wird.3 Es ist deshalb zentral für das Verständnis der Genealogie der freien Kunstform, dass Hegel die symbolische Kunstform bereits als Negation und nicht als Ursprung, mithin Positivität denkt. Das Symbolische ist nicht These, sondern ihrerseits Negation und Affirmation. Um die Kunstformen 3

Eine Ausnahme ist Szondi, der auf diesen systematischen Punkt aufmerksam macht. Vgl.: Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung“, S. 361 ff.

2. Eine Genealogie der Kunstformen

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in ihrer Dialektik von Negation und Affirmation zu verstehen, müssen wir ihren prozessualen Charakter in den Blick nehmen. Jede Kunstform beschreibt eine spezifische ästhetische Strategie, eine Gestaltung von Geist und Material, anhand historisch exemplarischer Kunstpraxis. Es ist eine Anreicherungsbewegung, keine Zerfallsgeschichte.

2.1 Symbolische Kunstform Es ist für die Systematik des Symbolischen eine hilfreiche, werkgeschichtliche These Gadamers, dass es erst der Kontakt mit der Heidelberger Romantik ist, der Hegel in den Stand versetzt hat, einen Begriff der symbolischen Kunst, der vorklassischen Kunst, zu gewinnen.4 Hegel setzt so im Rückgriff auf die Arbeiten des Orientalisten und Mythenforschers Friedrich Creuzer die mythologische Vorkunst der unmittelbaren Naturbeziehung vor die symbolische Kunst. Hegel übernimmt, so Gadamer, den Grundzug seiner Theorie der symbolischen Form von Creuzer, mit dem er während seiner Heidelberger Zeit eine Freundschaft entwickelt und den er von da an affirmativ zitiert. Hegel weicht von Creuzers Überlegungen aber dahingehend ab, dass das Symbol keine Verschlüsselung einer klaren Vorstellung ist. Die Natur selbst ist dem mythischen Denken Poesie und hat unmittelbar Bedeutung, ihre „Verehrung der Naturkörper als solcher ist noch keine symbolische“ (GW 28.1, S. 336). Hegels Konzept des Symbols begreift das Symbol nicht als dunkle Chiffre oder Verkleidung einer konkreten Vorstellung, sondern als eine poetische Weise, zu denken. In der Form bildhafter Phantasie und Symbolik kommt eine Vorstellung nur dunkel und langsam 4

Gadamer betont, dass die Heidelberger Romantik stärker die Nähe zum Völkischen und Populären gesucht hat als die Weimarer Romantik. Im Unterschied zu Weimar geht es im Heidelberger Verständnis des Romantischen um die Aufwertung des Gemeinen und Gewöhnlichen zum Eigentlichen. Vgl. zur komplexen Wirkungsgeschichte der Romantik bei Hegel: Gadamer, „Hegel und die antike Dialektik“.

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zum Ausdruck, zeichnet sich schemenhaft bloß ab. Das Symbol ist keine abstrakte Chiffre für ein konkretes Allgemeines, sondern ein abstraktes Allgemeines. Der Himmel des mythischen, prähistorischen Zeitalters ist namenlos und fällt so indifferent mit der Erde zusammen. Es gibt keine Differenz von Vorstellung und Realität, weil es keine kulturelle Praxis der symbolisch-ästhetisch vermittelten Entfremdung gibt. Das mythische Denken verfügt über keine Kosmologie und entwickelt keinen Sinn für das Vergehen und Entstehen der Welt. Der Kern der mythischen Weltanschauung ist, dass Göttliches in allen Dingen sei, wortwörtlich existiere und gegenwärtig sei. Deshalb verehrt der Mythos die Naturkörper unmittelbar. Naturkörper stellen nichts dar und verkörpern nichts, sondern das Göttliche ist in ihnen präsent. Der mythischen Weltanschauung fehlt jegliche Prosa, sie hat keinen allgemeinen Begriff des Göttlichen. Das mythische Denken identifiziert so das Göttliche mit dem bloßen Daseienden der Naturdinge und findet überall Anzeichen seiner Gegenwart vor, weil es keine Differenz von Geist und Natur kennt. Der Mythos ist prähistorisch und vorphilosophisch. Das mythische Denken bildet so nur eine Art piktoriales Bewusstsein, noch kein Selbstbewusstsein aus. Die symbolische Kunstform negiert diese Unmittelbarkeit der Naturverehrung, indem sie beginnt, das Göttliche nicht mehr mit Naturphänomenen zu identifizieren. Die symbolische Darstellung der Natur bricht die Macht der Natur, indem sie ein Allgemeines gewinnt, das über die sinnliche Gegenwart des Göttlichen im Mythos hinausgeht. Ihr Gegenstand, ihr „Kreis“, ist nicht mehr die sinnliche Präsenz des Göttlichen im Hier und Jetzt. Das mythisch Göttliche ist deshalb ein Endliches, weil es keine Differenz zum Endlichen aufweist und unvermittelt mit ihm zusammenfällt. Die symbolische Darstellung befreit es von dieser Endlichkeit, indem sie einen ersten Grad der Allgemeinheit etabliert: „Hauptkreis der symbolischen Darstellung aber ist das Allgemeine als Prozeß, als Veränderung, nicht als abstrakte Vorstellung; die Veränderung, die Dialektik des Lebendigen: Entstehen, Wachsen, Untergehen und Hervorge-

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hen aus dem Tode, Zerstören und Erzeugen, solcher Inhalt ist für die symbolische Form“ (GW 28.1, S. 339).

Das piktoriale Selbstbewusstsein entwickelt sich, indem es durch die symbolische Darstellung des Göttlichen begreift, dass das Göttliche nicht mit dem Endlichen dieser Welt einfach zusammenfällt, sondern es nur in ihr erscheint. Es ist nicht unmittelbar Teil dieser Welt. Symbolische Operationen sind damit ein erster Akt der, wie Aristoteles sagt, Verwunderung als Beginn der Wissenschaft und Kunst, mithin der Aufklärung.5 Denn in „Beziehung des Symbolischen können wir sagen, die Natur werde hier entgöttert, die Welt, die Naturgegenstände, die weltlichen Verhältnisse als Endliche den Wesen gegenübergestellt“ (ebd., S. 353). Die Natur ist nicht mehr in Gestalt gefundener Naturkörper selbst göttlich, sondern gestaltete Phänomene verweisen auf das Göttliche, stellen eine Verbindung zu etwas her, das so nicht mehr im Hier und Jetzt der sinnlichen Gewissheit vorgestellt wird. Das Symbol verweist auf die Vorstellungswelt, nicht auf die unmittelbare Welt. Mit der ersten Negation im Symbol beginnt sich die Welt der Vorstellung vom sinnlich Gegebenen zu entfremden. Das Symbolische markiert so als Negation des Mythos den ersten Emanzipationsschritt innerhalb der Sinnlichkeit von der Macht unmittelbarer Sinnlichkeit, indem es eine Verweisung und Darstellung dessen verwirklicht, was somit nicht unmittelbar erfahren werden kann. Es ermöglicht die Erfahrung der Abwesenheit des Göttlichen, denn symbolische Operationen realisieren das prosaische Verhältnis der Trennung von Geist und Natur, auch wenn sie es auf selbst noch poetische Weise tun. Hegel gibt ein Beispiel für den Unterschied von mythischer und symbolischer Gestalt. Ein einfaches Ei schließt und hüllt zwar den künftigen Vogel ein und präsentiert insofern etwas Abwesendes, doch ist es kein Symbol des einzelnen Vogels. Erst wenn die „Einhüllung des allgemeinen Lebens ge5

„Denn Verwunderung [thaumazein] war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens.“ Aristoteles, Metaphysik, I 2, 982b12–17.

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meint wird, so wird das Ei als Weltei Symbol des göttlichen Begriffs, des Anfangs alles Seins“ (GW 28.1, S. 341). Das Weltei, etwa dargeboten im Kontext ritueller Praktiken zum Frühjahresbeginn, steht nicht für vogelhaft Einzelnes, sondern symbolisiert Vorstellungen des ewigen Kreislaufs des Lebens und Wünsche von Fruchtbarkeit. Das Symbol stellt etwas dar und eröffnet derart den Zwischenraum zwischen Realität und Sprache, in dem Kunst, Religion und Philosophie überhaupt erst entstehen können. Erst durch symbolische Operationen gewinnt der Geist die Mittel, um kosmologische und philosophische Grund- und Sinnfragen zu stellen. Symbolische Praktiken sind also für Hegel missverstanden, wenn sie als voraufgeklärte Antworten auf letzte Fragen aufgefasst werden. Ihre Operationen stellen überhaupt erst Mittel bereit, solche Fragen nach dem Ganzen zu stellen. Durch die Differenz von Vorstellung und Realität erhalten diejenigen Symbole zyklischer Naturprozesse wie etwa der Phönix im Vergleich zur Unmittelbarkeit mythischen Denkens philosophische Dignität.6 Es sind drei Eigenschaften, die wir an der symbolischen Strategie der Vergeistigung hervorzuheben haben. Die symbolische Darstellungsweise hat erstens eine Struktur, die wir als Exemplifikation analysieren können.7 Das Symbol ist zwar gestaltetes Material und stellt nicht einfach mythisches Material dar, aber es kann nur auf etwas verweisen, mit dem es eine erstnatürliche Verwandtschaft hat. Der Löwe als Statue symbolisiert Stärke, Zeugungskraft, 6

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Es wäre ein lohnenswertes Projekt, Hegel und Jaspers hierüber näher ins Gespräch zu bringen. Hegel wie Jaspers sehen den Menschen primär als sinnstiftendes Wesen und nicht als zerstörerisches Wesen. Dazu ist der weltgeschichtliche Blick auf die Wechselwirkungen des menschheitsgeschichtlichen Zivilisationsprozesses zentral. Zu überlegen wäre, ob Hegels Idee der symbolischen Negation eine der Idee der Achsenzeit analoge Idee wäre. Dieser Verbindung nachzugehen hieße aber auch, Jaspers Kritik an Hegels Geschichtsteleologie und dem Problem der historischen „Stufenfolge“ zu integrieren. Vgl.: Jaspers, Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 25. Vgl. zum Begriff der Exemplifikation: Goodman, Sprachen der Kunst.

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Unbändigkeit, aber Löwen sind zugleich Träger dieser Eigenschaften. Das Symbol abstrahiert so vom Sinnlichen in einer begrenzten Weise, denn das Symbol muss eine erstnatürliche Nähe zum Allgemeinen haben, das es verkörpert. Es ist keine freie Interpretation des Themas, sondern allein eine Verkörperung einer entsprechenden Vorstellung. Symbole sind in diesem Sinne Einbildungen des Geistes in das Material, aber diese Einbildung verbleibt dem Material noch äußerlich. Durch diese Nähe zur Unmittelbarkeit bleibt die symbolische Verkörperung wesentlich zweideutig, denn einerseits ist die Wahl des Darstellungsmittels willkürlich. Warum verkörpert der Löwe etwa Stärke, sind doch auch Elefanten stark? Andererseits bleibt offen, was genau am Symbol Stärke exemplifizieren soll und was der Zufälligkeit der Gestaltung anheim fällt. Dieses Problem verstärkt sich, da religiöse Symbole oft in unterschiedlichen Kontexten andere Vorstellungen verkörpern. Symbole sind aufgrund ihrer Nähe zum gezeigten Inhalt notorisch ambivalent. Zweitens ist das Symbol aufgrund seines exemplikativen Charakters nicht nur notorisch ambivalent, es hat auch historischen, ja retrospektiven Charakter. Die Vorstellung, die es darstellt, ist keine präzise, konkrete und bewusste Vorstellung, sondern selbst noch vage und Resultat eines Denkens im „Zustande der Poesie“ (ebd., S. 334). Historische, symbolische Praxis liefert nach Hegel keine Chiffren und Verdunklungen von eigentlich transparenten Vorstellungen, da eine symbolische Operation ein Vorgang ist, eine erste allgemeine Vorstellung von etwas zu gewinnen, ohne den Gedanken seines Inhalts vollständig zu entwickeln. Das Symbol bleibt eine abstrakte Verkörperung der abstrakten Vorstellung des ewigen Kreislaufs des Lebens, keine Chiffre eines konkreten, transformativen Prozesses. Deshalb gilt, „ganz historisch, daß die Alten sich bei ihren Bildern nicht dachten, was Spätere jetzt darin sehen“ (ebd., S. 333). Symbole sind abstrakte Darstellungen, die in der Retrospektive mehr und aber auch Anderes zu erkennen geben als das, was ihre Urheber sich dabei vorgestellt haben mögen. Sie geben aufgrund ihrer Dunkelheit und Nähe zum Mythos Rätsel auf, aber sie verrätseln nicht, was ihren Urhebern klar und deutlich vor Augen steht.

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Drittens ist es auch mit Blick auf die Frage, ob Hegels Lehre der Kunstformen historisch oder systematisch zu verstehen ist, lohnend, einige der konkreten Phänomene symbolischer Operationen zu nennen, die Hegel anspricht. Neben den Phänomenen der indischen Kultur und ägyptischen Kultur mit ihren „objektiven Rätseln“8 bespricht Hegel die Psalme des Alten Testaments, die die Erhabenheit Gottes in vielen Narrativen feiern, die die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Weltlichen im Kontrast zu Gottes Unendlichkeit, etwa in Hiobs Gottesfurcht symbolisieren. Es ist für die Frage nach dem genealogischen und systematischen Anspruch der Kunstformenlehre äußerst sinnfällig, dass Hegel an dieser Stelle ohne Zögern gewaltige historische Sprünge unternimmt und etwa die Qualität der Vergleiche in Shakespeares Dramen im Kontext der symbolischen Kunstform thematisiert und Shakespeare dabei vor den „englischen Kunstrichtern“ verteidigt (GW 28.1, S. 367). Das mag, wer der historisierenden Lesart zuneigt und die Kunstformen nicht als ästhetische Strategien, sondern als Epochen des „geschichtliche[n] Sichentfalten[s] der Kunst“ deutet,9 als Unsauberkeit erscheinen. Es spricht doch aber eher dafür, Hegels Interesse weniger in der Historiographie der Kunstformen als in ihrer Systematik zu suchen. Hegel begründet die komparative Untersuchung von historischer und moderner Symbolverwendung nämlich damit, dass Sprache immer im Wechselspiel von eigentlicher und uneigentlicher Rede operiert und in diesem Sinne „Sprache überhaupt metaphorisch ist“ (ebd., S. 361). Auch die moderne, freie Kunst operiert symbolisch, erfindet also Bilder und Vergleiche, um Mythisches, Unbewusstes oder Verdrängtes auszudrücken. Während der historische Symbolismus aus Mangel an alternativen ästhetischen Strategien symbolisieren musste, kann die freie Kunst symbolisch operieren, etwa um die Dissonan8

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Der Ägyptologe Assmann bringt in seiner lohnenswerten Diskussion der Kulturtheorie Hegels in Erinnerung, dass Hegel zeitlich vor der Entschlüsselung der Hieroglyphenschrift der Ägypter arbeitet. J. Assmann, Achsenzeit, S. 55–77. Pöggeler, „Der Philosoph und der Maler“, S. 378.

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zen zwischen der individuellen Erlebniswelt und der zweiten, sozialen Natur des Menschen zu thematisieren. Die ästhetische Strategie moderner Symbolismen kann darin bestehen, soziale Herrschaft zu thematisieren, auch wenn sich das Grauen ihrer Gewalt der aneignenden Kraft der Sprache entzieht. So sagt etwa Queen Katherine in Shakespeares Henry VIII: „Ich bin die Unglücklichste: gleich der Lilie, die als Königin des Felds blühte, will ich mein Haupt senken und sterben.“ Hegel betont am modernen Vergleich, dass er ein Mittel sei, „uns die Personen dar[zustellen], als sich ihre ‚Situation‘ zum Objekt machend.“ Die Protagonist*innen stehen dabei aber in einer Situation, die diese Aneignung partiell oder vollständig verhindert (ebd., S. 367). Das moderne Leiden an der Wirklichkeit findet so einen symbolisch beredten, aber sachlich stummen Ausdruck in der vergleichenden Rede. Der moderne symbolische Vergleich drückt zwar das Leiden aus und trägt so zu dessen Linderung bei, verbleibt aber in dieser sprachlichen Aneignung stumm vor dessen Gewalt. Soziale Herrschaft schafft Sozialgefüge, in Anbetracht derer unsere Mittel der sprachlichen Weltaneigung zu symbolisch-stummen Ausdrücken werden und die sich so ihrer Explikation verwehren. Angesichts moderner Kollisionen verstummt die aneignende Kraft der Sprache und bringt nur noch stumme Symbole hervor, die das Leid anklingen lassen, aber es nicht zur Sprache bringen. Moderne Symbolik kann so unberedtes Grauen anklagen. Paradoxe Chiffren wie die „Schwarze Milch der Frühe“10 können historische Ereignisse andeuten, ohne sie konkret zu benennen.

2.2 Klassische Kunstform Die symbolische Operation markiert in Hegels Genealogie die erste Negation des Mythos, indem sie eine poetisch-einbildende Weise entwickelt, die Differenz von Realität und Vorstellung zu eröffnen, die es im mythischen Denken nicht gibt. Die Negation der symbolischen Negation des Mythos erfolgt durch die klassische, mit 10

Celan, „Todesfuge“.

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dem Griechentum auftretende Kunstform. Der symbolischen Weltanschauung waren „[a]lle Objekte […] unmittelbare Götter, hatten diese gegenwärtig. […] Das Dasein des Geistes sind [in der nur symbolisch vermittelten Kunstwelt] die natürlichen Dinge, eine Gestaltung, die noch unreif, roh, und wild [ist], weil der Geist hier noch nicht unendlich in sich ist. […] Dies ist das Allgemeine, daß die symbolische Religion vorausgehe der klassischen Kunst; die Religion ist der Inhalt der klassischen Kunst. […] Es ist notwendig, daß die früheren Standpunkte da waren, daß von ihnen die klassische Kunst ausging, sie umbildete und gegen sie reagierte. Das ist historisch erwiesen. Das Verhältnis des griechischen Geistes gegen die Früheren ist also wesentlich ein Verhältnis des Umbildens“ (GW 28.1, S. 381).

Hegel analysiert die Formensprache der klassischen Kunst also in Verbindung mit der These der historischen Konsekutivität der Formen. Die klassischen Künsten konnten nur so entstehen, wie sie entstanden, indem sie die vorherigen Formen kritisch weiterführten und sich gegen sie wandten. Die klassische Negation der symbolischen Negation des Mythos vollzieht sich im Modus des „Umbildens“. Für Hegel folgt daraus, dass Spuren und „Reste symbolischer Darstellung“ in der klassischen Kunst erhalten sind (ebd., S. 396). Darin begründet er die Prozessualität der Klassik. Das Wesen der Klassik ist der Prozess des „Umbildens“ symbolischer Formen. Die These der Konsekutivität der Kunstformen hängt also mit der These vom Prozesscharakter der Kunst zusammen. Dieser Gedanke ist in zwei Schritten zu analysieren, zuerst in inhaltlicher, dann in formaler Hinsicht. Die These, dass das Verhältnis von Symbolik und Klassik als ein Umbilden zu verstehen ist, belegt Hegel in inhaltlicher Hinsicht mit dem „Krieg der neuen Götter mit den alten, de[m] Sturz der Titanen durch die neuen Götter“ (ebd., S. 384). Die alte Vorstellungswelt bleibt also erhalten, und „eine besondere Weises dieses Bleibens ist die, welche in den Mysterien aufbewahrt ist“ (ebd., S. 386). Die symbolische Vorstellungswelt verschmilzt mit dem griechischen Nationalnarrativ und erlaubt ihm durch diese Umwandlung und Aneignung die Konkretion einer eigenen sittlichen Identität. Die symbo-

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lische Vorstellungswelt wird Teil des nationalen Narrativs, sie wird zu einer „äußerlichen Geschichte“ (ebd., S. 395). Der Kampf der neuen Götter mit den alten ist der Ursprungsmythos der griechischen Sittlichkeit und die künstlerisch verarbeitete Erinnerung an diesen Urkampf griechischer Sittlichkeit spielt eine formative, konstitutive Rolle in der Etablierung der klassischen Sittlichkeit, ihres „Volksgeistes“. Die Klassik wird von Hegel also von ihrer kulturformativen Seite her gedeutet. Hegel hebt bei diesem identitätsstiftenden Prozess der narrativen Aneignung alter Bildwelten hervor, dass die Klassik sie weiter konkretisiert. Das abstrakt Allgemeine der symbolischen Vorstellungswelt versteht die Götter als unpersönliche Naturgötter, in der kulturellen Aneignung der Klassik werden sie zu besonderen, personalen Göttern.11 Diese Konkretion lässt die tradierten, notorisch ambivalenten Symbole als neue Gegensätze bestimmter hervortreten. Es ist vor allem der Gegensatz von natürlicher und „wissender Sittlichkeit“, den Hegel in den Blick nimmt: „Das Gewußte steht auf Seiten der neuen Götter“ (ebd., S. 389). Die natürliche Bande der familiären Sittlichkeit tritt in den Gegensatz zur wissenden Sittlichkeit des Staates, wie er in der Tragödie im Sittlichen in Sophokles’ Antigone thematisch wird. Der Inhalt der Klassik ist die Negation der ersten Natur durch die Etablierung des Rechts der zweiten Natur über die erste. Damit wird die Sittlichkeit zum Gegenstand der Politik, die den natürlichen Banden archaischer Sittlichkeit entgegentritt und das allgemeine Recht des Staates auf Rechtsgehorsam fordert. Recht ist nicht mehr ungebrochenes Naturrecht, sondern zugleich politisches Recht, gesetztes Staatsrecht: „Die Hauptseite des Inhalts der klassischen Kunst ist also sittliche Substantialität, geistige Individualität, die zugleich ein Moment der Naturmacht hat“ (ebd., S. 391). Das Narrativ der poetischen Sittlichkeit der Klassik, an das Hegel affirmativ anschließt, gründet im siegreichen Kampf des Geis11

„Athene ist Göttin der Kunst, der schönen Kunst; andererseits der Geist Athens, der Volksgeist als das Substantielle dieses Geistes für sich vorgestellt. Athene also ist ein Geistiges und hat nur einen entfernten Anklang einer Naturmacht“ (Hegel, GW 28.1, S. 166).

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tes über seine natürliche Bestimmheit, indem die Naturmächte zur Vorstellung geistiger Subjektivität anthropologisiert werden. Ihre Wirkung entfaltet sie damit im Politischen. Mit dieser Bestimmung des Inhalts der klassischen Kunst als kulturelle Identitätsstiftung begründet Hegel die These von der formativen Kraft der Kunst des antiken Griechenlands. Kunst stiftet neue Kultur, indem sie alte Vorstellungswelten negiert und transfiguriert. Das Neue konstituiert sich im Kampfe mit dem Alten, es ist daher notorisch prekär und fragil. Damit korrespondiert eine visionäre Auffassung der klassischen Formensprache des Schönen. Die klassische Kunst erfindet das schöne Zeichen, die schöne Gestalt. Die Gestalt ist nicht mehr naturwüchsig, sondern gewinnt ihre ästhetische Kraft, indem sie die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsweisen des Geistes ordnet und kanonisiert. Das Zeichen idealisiert das, wofür es steht. Dadurch wird das Vorgefundene, Natürliche zum Material der Gestaltung, es entstehen verbindliche, gattungsbegründende „Konventionen“ des Schönen.12 Die antike Klassik realisiert mit ihrer unübertroffen, am Ideal der schönen Form orientierten Formensprachen eine formvollendete Einheit von Bedeutung und Gestalt im Kunstwerk, der wir die höchste Blüte der plastischen Kunst verdanken, die uns aus der westlichen Welt bekannt ist. Die in der Klassik vorherrschende ästhetische Strategie ist es, von der empirischen Unzulänglichkeit des Menschen zu abstrahieren und ein Ideal unserer Gestalt zu schaffen. Das klassische Kunstwerk wird so, in Hothos wirkungsgeschichtlich bedeutsamer Formulierung, das keiner Hermeneutik bedürftige Kunstwerk, das „sich weiß, sich weist“, weil es „das sich selbst Bedeutende und damit auch das sich selber Deutende“ ist (TWA 14, S. 13). So wie der Kampf geistig-politischer Sittlichkeit gegen den Mythos naturgegebener Sittlichkeit den Inhalt der Klassik ausmacht, so etabliert die Formensprache der Klassik feste Konventionen und Ideale des Schönen. Ihr fluider Inhalt bedarf einer fixen Form. 12

Geulen, Das Ende der Kunst, S. 58.

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Auf der Ebene der Formensprache geht so mit dem Prozess der Aneignung des Inhalts eine zweite Bewegung einher, die wir als Entstehung der strengen Form bezeichnen können. „Das Ideal in seiner einfachsten, erhabendsten Form ist das Bei-sich-Seiende, Bewegungslose ohne Äußerlichkeit und Zufälligkeit“ (GW 28.1, S. 392), deren höchster Ausdruck der alten ursprünglichen Skulptur angehört. Die Konventionalsierung des Schönen bedarf der Strenge, um die Notwendigkeit ihrer kanonischen Festlegungen durchzusetzen. Ein ästhetisches Ideal wird gebildet, indem vom Dargestellten alle Endlichkeit ferngehalten wird und diese Reduktion dann als gattungstheoretisches Maß der Dinge verbindlich festgehalten wird. Das Stilideal der klassischen bildenden Kunst reagiert auf die Fragilität der prekären politischen Sittlichkeit mit der strengen Form der Skulptur. Das Ideal der schönen Form erzwingt die Meisterschaft der künstlerischen Produktion und die Herrschaft der gattungstheoretisch formulierten Standards der Darstellung. Die Skulptur des strengen Stils zeigt nicht nur das dargestellte Ideal menschlicher Schönheit, sondern legt auch fest, wie sie darzustellen ist. Die strenge Form mindert für Hegel die expressiven Möglichkeiten der antiken Skulptur: „Das Steinreich“ ist in Anbetracht der „geistige[n] Natur, die auf unendlich manigfache Weise zu erscheinen vermag“, eine Begrenzung der ästhetischen Form (ebd., S. 394 f.). Die Naturkräfte der urwüchsigen, vorsittlichen Gemeinschaft werden politisiert und kanonisch dargestellt, etwa in der Göttin Athene des Phidias. Kunst wirkt so mit an der Konstitution von Gesellschaft, indem sie das Naturschöne kanonisiert. Kunst wird erst im Rahmen dieser Kanonisierung zu einer sich selbst bedeutenden Gestalt, zum Kunstschönen, in der sich der Geist erkennen kann. Hegel nimmt im Zuge der Analyse der klassischen Kunstform neben der bildenden Kunst auch die redenden Künste in den systematischen Blick. Seine Deutung der expressiven Mittel der antiken Poesie im engeren Sinne ist instruktiv: Einerseits wirkt in der redenden Kunst die alte Vorstellungswelt nach. Wir können also in den

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Texten „das alte Symbolische durchblicken“ sehen.13 Andererseits negiert die poetische Aneignung der mythischen Vorstellungswelt die Vergötterung der alten Naturmächte, indem sie das alte Symbolische zu Taten eines Individuums umarbeitet. In dieser aneignenden Entgötterung der Welt setzt die Klassik also fort, was für Hegel mit der Symbolik begann: die Prosaisierung der Welt. Das Alte wirkt fort, indem es umgearbeitet wird. Diese Prosaisierung und Umarbeitung vollzieht sich als Besonderung und als Personifikation der göttlichen Kräfte in den redenden Künsten. Die Konventionalisierung des Naturschönen und der tradierten, symbolisch vermittelten Kosmologien in kulturkonstitutive Standards schafft Kunstwerke, die sich selbst deuten und beschreiben, weil alle externen Bedeutungsfunktionen in ihrer sinnlichen Gestalt aufgehen. Das klassische Kunstwerk ist daher das absolut Bedeutende, da es das deutet, was es bedeutet. Das Natürliche und Unmittelbare, das die klassische Kunst negiert und aneignet, ist kein Eigentümliches und Gegebenes mehr, sondern ist als Ideal selbst Ausdruck des Geistes. Ihr Sich-Bedeuten ist hergestellte, reflektierte Unmittelbarkeit. Sie zeigt das Geistige nur in allgemeiner Individualität, nicht als Einzelheit.14 Da diese Rekonstruktion von Hegels Klassikbegriff vielen Positionen der Sekundärliteratur mit ihrer Betonung auf einer angeblich antikisierenden Tendenz in Hegel widerspricht, ist es an dieser Stelle geboten, Hegels evaluative Auffassung der Klassik zu diskutieren. Sie ist keineswegs frei von Missdeutungen, die wir weiter unten thematisieren werden. Auf Basis seiner Deutung der Antike aber die „Notwendigkeit des Zerfallens der Kunst“ in der Moderne zu belegen,15 bleibt doch zu sehr Hotho verhaftet. 13 14

15

Hegel verweist etwa auf den Heldenepos des Herkules, dessen zwölf Aufgaben sich symbolisch auf den Sonnenlauf bezögen (GW 28.1, S. 173). Hilmer weist im Rahmen ihrer „Syllogistik der Kunstformen“ auf die strukturelle Isomorphie von klassischer Kunst mit den Reflexionsschlüssen hin, bei denen der Obersatz den Schlusssatz voraussetzt. Hilmer, Scheinen des Begriffs, S. 242. Henrich, „Die Aktualität von Hegels Ästhetik“, S. 156.

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Das zeigt ein kurzer Blick auf die sehr interessante und hilfreiche Lektüre der verschiedenen Lesarten des Gerüchts vom Ende der Kunst, die Eva Geulen vorlegt.16 Dabei geht es um die Frage, wie das Fortwirken des Alten im Neuen zu bewerten ist. Geulen zufolge muss Hegel, um die „Aneignung als Eigenleistung des Klassischen“ würdigen zu können, das Symbolische „als kolonialisierte, als anverwandelte“ Spur im Klassischen konstatieren.17 Das Symbolische bildet also einen Anachronismus, gewissermaßen einen Einbruch des Empirischen ins Systematische.18 Geulen versteht Hothos Hegel so, dass es ihm darauf ankäme, genau diesen Anachronismus vom Wesen des Klassischen fernzuhalten. Der Kampf der Klassik mit der Symbolik wird in Hothos Redaktion zur akzidentellen Größe degradiert: „Dem Ideal, der vollkommenen Kunst, muß die unvollkommene vorausgehen, durch deren Negation, d. h. durch Abstreifung der ihr noch anklebenden Mängel, das Ideal erst zum Ideal wird. In dieser Beziehung hat die klassische Kunst allerdings ein Werden, das jedoch außerhalb ihrer ein selbständiges Dasein erhalten muß, da sie als klassische alle Bedürftigkeit, alles Werden hinter sich haben und in sich vollendet sein muß“ (TWA 14, S. 448).

Hegel fasst in den Vorlesungen, auf die wir uns primär beziehen, vielmehr im Prozess der Umwandlung des Symbolischen das Wesen des Klassischen. Hotho vertritt die Idee, dass das Klassische in Opposition zum Prozess der Aneignung des symbolischen Inhalts zu denken sei, weswegen bei Hotho das Symbolische als, wie Geulen überzeugend herausstellt, „Entstellung“ des Schönen,19 als Bruch mit der reinen, schönen Form erscheint. Unsere Rekonstruktion zeigt hingegen, dass Hegel die Klassik insgesamt als den Prozess der Umwandlung der alten Symbolwelt in neue, narrative und weiter vermenschlichte Formensprache versteht. Diesen Prozesscharakter der Klassik tilgt Hotho. Aufgrund 16 17 18 19

Geulen, Das Ende der Kunst. Ebd., S. 54. Ebd., S. 51. Ebd., S. 54.

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dieser Tilgung erscheint die ästhetische Aneignung der symbolischen Bilderwelt als Kolonialisierung und Überformung. Hegels Punkt ließe sich aber, zeitgenössisch gesagt, als die These verstehen, dass kunstvermittelte Kultur immer translokal und transhistorisch verläuft. Keine kulturelle Sphäre generiert ihre Konventionen rein aus sich heraus, sondern in Kollision, Konflikt und Kommunikation mit anderen Lebensformen. Auch die antike Sittlichkeit ist von einem Nebeneinander und Miteinander pluraler Vorstellungswelten geprägt. Die These des Sich-Selbst-Bedeutens zeigt die Tendenz Hegels zur Homogenisierung und Nivellierung der gegenläufigen Momente der griechischen Antike, die ihr nicht gerecht wird. Deshalb ist es umso wichtiger, die Momente seiner Analyse zu entwickeln, die einer Antikisierung entgegenstehen. Hierbei ist es vonnöten, die Primärquellenlage differenziert zu betrachten. Die Vorlesungsmitschriften zeichnen vom Prozess- und Kampfcharakter der Klassik doch ein sehr anderes Bild als in ihrer Redaktion durch Hotho. Wenn wir also unter Klassik den Prozess der Etablierung ästhetischer Konventionen und Gattungsideale verstehen, die durch Idealisierung, also Abstraktion von Endlichem und Zufälligem entstehen, dann können wir den Mangel der Klassik in zwei Hinsichten bestimmen. Die oft überlesene Provokation in Hegels Deutung der Klassik liegt in der Dialektik ihrer Transfiguration der symbolischen Bilderwelt in klare Formensprache. Da der Inhalt der klassischen Kunst ihr ein Gegebenes, ein Unmittelbares ist, muss sie es sich gewaltsam aneignen, dies ist der „Kampfe der neuen Götter mit den Titanen“. Ihre Verwandtschaft mit ihrem Gegner zwingt sie dabei zur Strenge, kann sie doch das verbindliche Ideal des Schönen nur in Absehung von der mannigfaltigen Leiblichkeit und damit Endlichkeit des Menschen gewinnen. Ihr gegebener, symbolischer Inhalt zwingt die Klassik zur strengen Meisterschaft ihrer Formensprache. Auch diese Meisterschaft zeigt ihre eigene Dialektik, auf die wir über eine Analogie zugreifen können. Ein starker, das heißt zivilgesellschaftlich getragener Rechtsstaat hat es nicht nötig, drakonisch zu strafen, die Strafen müssen also kein Exempel für die

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Geltung des Prinzips des Gewaltmonopols statuieren, sondern dienen der Resozialisierung.20 Analog dazu kann eine Kunstform, die die Verbindlichkeit ihrer ästhetischen Normen nicht mehr gegen das Alte im Modus abstrakter Meisterschaft gewinnen muss, das strenge Ideal der reinen und schönen Form hinter sich lassen. Die Naturnähe der poetischen Sittlichkeit macht die Fragilität der zweiten Natur aus, die durch eine strenge Formensprache kompensiert wird. Ein strenges Schönheitsideal ist formaler Ausdruck von mangelndem sittlichen Selbstbewusstsein. Einer Praxis mangelt es an Selbstbewusstsein, wenn sie ihre ästhetischen Schemata und Konventionen nicht brechen kann und an ihrer Idealität und starren Durchsetzung festhalten muss. Das zeigt sich im Verhältnis zur romantischen Kunst: „Denn hier bildet sich in dem Romantischen jetzt die Seele nicht mehr in dem Leibe ein, sie idealisirt ihn nicht, sondern läßt ihn, da sie in sich selbst ihr wahrhaftes Dasein hat, wie er unmittelbar ist“ (GW 28.1, S. 413). Da die Moderne nach Hegel ein höheres, prosaisches Selbstbewusstsein ihrer ethischen Grundlage gewonnen hat, hat es der moderne Geist nicht mehr nötig, seine leibliche Gestalt zu idealisieren. Der seiner selbst gewisse Geist steht in einem Verhältnis zu sich, „das über Schönheit hinausgeht“ (ebd., S. 406). Der emanzipative Fortschritt der Romantik ist, dass sie den Geist aus seinem Selbstidealisierungszwang befreit. Die Befreiung der Form vom Idealisierungszwang macht es möglich, den inhaltlichen Mangel der Klassik – ihr Inhalt ist die symbolische Religion – zu beheben. Weil sie nicht mehr von den „Spuren der Zeitlichkeit, der Bedürftigkeit der Natur, der Äußerlichkeit des Daseins“ absehen muss (ebd., S. 413), kann sie den Geist auf dem prosaischen Boden unseres Daseins zeigen. Erst die Kunst, die ihren Zwang zum Schönen hinter sich lässt, kann die formalen Mittel gewinnen, „den Humanus, die allgemeine Menschlichkeit, das 20

Hegel setzt den „Strafkatalog“ einer Gesellschaft in Relation zu ihrem historischen „Bewusstsein“ (GW 14.1, § 218 A).

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menschliche Gemüt in seiner Fülle, seiner Wahrheit“ darzustellen (GW 28.1, S. 442), ohne ihn verstellen zu müssen.

2.3 Romantische Kunstform Die romantische Kunstform hingegen wendet sich gegen die Idealisierung des Menschen zur starren Form: „Im Charakter des Romantischen liegt es eben[,] daß das Gemeine zu Ehren kommt, daß nicht bloß das Wahrhafte, das Ideale herausgehoben wird, denn im Romantischen wird die Seite der Äusserlichkeit der Sinnlichkeit auch frei, wie das Gemüth in sich zur Freiheit gekommen ist, so gönnt dieß der Äusserlichkeit hier freien Spielraum“ (GW 28.2, S. 762). An dieser Stelle der Vorlesung von 1826 verweist Hegel explizit auf die Malerei der niederländischen Schule und kontextualisiert ihre Werke mit Verweis auf die historische Entwicklung der protestantisch-calvinistischen Reformation und des Befreiungskampfes gegen die spanische Herrschaft. Erst diese Kontextualisierung ergibt die „Rechtfertigung[,] daß jene Gegenstände [die des gemeinen Lebens des Volkes] als Kunst dargestellt wurden“ (ebd., S. 765). Die Gegenstände der sogenannten niederländischen Genremalerei sind nicht von sich aus Gegenstände der Kunst, sondern werden es erst im Zuge ihres Beitrags zur Selbstthematisierung des Ethos. Die dritte Konkretionsbewegung, die in der romantischen Kunst statthat, erlaubt es Hegel, eine Konzeption der Kunst zu entwerfen, die er affirmiert. Anstatt die Unmittelbarkeit der symbolischen Vorstellungswelt gegen die auf Konvention beruhende zweite Natur der modernen Sittlichkeit in Stellung zu bringen, wie es in Hegels Augen sentimentale Romantik tut, diagnostiziert er der romantischen Kunst den Gewinn eines „freien Spielraums“ ihrer Gestaltung. Romantische Kunst ist freie Kunst, denn alles kann Gegenstand ästhetischer Kommunikation werden. Das bedeutet konsequent zu Ende gedacht, dass nichts mehr selbstverständlicher Teil der Kunstwelt ist. Die Romantik negiert den festen Kreis der Gegenstände der Klassik, des kleinen Kreises des Idealen. Die poetische

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Welt der freien, nachklassischen Kunst ist unbegrenzt. Und genau darin konstituiert sich das Problem moderner Kunst, das Hegel diagnostiziert und mit dem Begriff der „subjektiven Geschicklichkeit“ bezeichnet (GW 28.1, S. 442). Kunst kann alles thematisieren und läuft so Gefahr, sich in bloßer Geschicklichkeit zu verlieren und nur noch ihr eigensinniges l’art pour l’art zu reproduzieren. Moderne Kunst ist in diesem Sinne problematische Kunst, weil sie keinen festen Kreis hat. Sie läuft ohne festen Kreis immer Gefahr, bedeutungslos zu werden. Das ist die Dialektik der Freiheit der Kunst. Der Gewinn ihrer Selbständigkeit ist der Verlust ihrer Selbstverständlichkeit. Das zeigt sich am Auftritt einer ästhetischen Funktion, die in der Analyse der symbolischen und klassischen Kunstform keine Rolle gespielt hat: der Rezeption. Die Emanzipation der Kunst ermöglicht die Emanzipation der Rezeption. Freie Kunst ist nicht mehr „kalt, für sich, in sich abgeschlossen“ wie die klassische, sondern ist für „den Zuschauer“. Die Negation der „Strenge der Sinnlichkeit des Ideals“ öffnet die Kunst für ein Anderes (ebd., S. 414), in dem sie als Kunst bei sich selbst ist, der Rezeption. Das Bei-sich-im-AnderenSein aktualisiert die Struktur freier Liebe. Das romantische Ideal folgt so, im Kontrast zur strengen Form der Klassik, der Beziehung der Liebe. Liebe ist einerseits das Thema der Romantik – in ihrer religiösen Form als göttliche Agape und in ihrer weltlichen Form als zwischenmenschlicher Eros. Liebe ist aber auch Formmoment der romantischen Triangulation des gesellschaftlich vermittelten Gegenstands, der poetischen Expressivität und der kritischen Rezeption der Kunst. Die romantische Kunst liebt das Publikum, das Publikum liebt die Kunst. Noch die Publikumsverachtung der Avantgarde erinnert der Liebesbeziehung von Kunst und Publikum. Mit der Romantik kommt es also zu einem neuen ästhetischen Paradigma, das die Relation von Bedeutung und Gestalt nicht mehr in der abstrakten Relation von Innen und Außen vorstellt, sondern das Dritte der Intersubjektivität einbezieht. Im romantischen Kunstwerk konstituiert sich die Subjek-

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tivität der Kunst in der ihr wesentlichen Relation der Intersubjektivität.21 Diese Skizze der romantischen Kunst samt des Auftritts der Zuschauer wird in den folgenden Abschnitten weiter konkretisiert. Fassen wir zu diesem Zwecke die Genealogie der Kunstformen zusammen: Erst in der nachklassischen, modernen Kunst wird Kunst darin frei, den Humanus mit Allgemeinheit zu thematisieren. Kunst erhebt also mit ihren Gestaltungen ein Ansinnen darauf, von allen Menschen als eine treffende Übertragung verstanden werden zu können. Die Geltung ihrer Bilder ist, um mit Kant zu sprechen, von „subjektiver Allgemeinheit“.22 Freie ästhetische Praxis beruht aber nicht allein auf der Emanzipation der ästhetischen Produktion, sondern auch auf der der Rezeption. Anders als aus Kants Ästhetik folgt aus den hegelschen Überlegungen, dass die sinnliche Allgemeinheit der freien Kunst in dem Sinne subjektiv ist, dass sie aus begrifflichen Gründen umstritten ist. Es ist der Kunst wesentlich, in unterschiedlicher und widerstreitender Weise Stellungen des Idealen zum Sinnlichen zu realisieren. Die Genealogie von symbolischer Einbildung, konventioneller Abbildung und schließlich offener Interpretation und Fortbildung der ästhetischen Gestalt zeigt, wie die Kunst, in Hegels Worten, „innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit“ befreit (TWA 13, S. 74 f.). Die ästhetische Gestalt realisiert damit einen bestimmten Typ konkreter Negation, in der es nicht um die Tilgung des sinnlichen Materials, sondern um die Gestaltung des sinnlichen Materials geht. Kunst realisiert damit einen bestimmten Typ von Allgemeinheit, der sinnlich-subjektiven Allgemeinheit im diskursiven Medium ihres Materials.

2.4 Poetik: Pluralität oder Logozentrik? Wir betrachten den Begriff des Poetischen als Inbegriff des Ästhetischen und deuten Hegels Poetik im Sinne eines Pluralismus ästhe21 22

Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 209. Kant, KU, B 28.

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tischer Strategien und Kunstformen. Poetischer Pluralismus meint, dass die Kunstformen als Idealtypen poetischer Strategien ein Spektrum eröffnen, das ersichtlich macht, dass die Künste ihre Weltaneignung nur komplementär realisieren. In begriffslogischer Terminologie gesagt heißt das: Das Allgemeine der Kunst verändert sich durch jede ihrer Verkörperungen und ist deshalb nicht unabhängig von seinen konkreten Verkörperungen denkbar. Diese Konkretionen stehen aber nicht harmonisch nebeneinander, sondern konkurrieren darum, gelingende Verkörperungen des Poetischen zu sein. Das Allgemeine ist durch den Widerspruch seiner Besonderungen real. Die Realität des konkret Allgemeinen der Kunst zeigt sich in der Verbindung von Genealogie und Systematik. Hegels Typologie der Kunstformen organisiert das historische Material anhand der Spezifika der Stellung von Geist und Material, die Kunstformen in paradigmatischer Weise verkörpern. Die genealogisch begründete Systematik der Kunstformen dient damit der Organisation der Bereichsästhetiken, die Hegel als „System der Künste“ fasst. Hier geht Hegel auf die medienspezifischen Eigenarten der Einzelkünste im Kontext ihres Zeitgeists ein. Der Geist einer Zeit, so lässt sich das kurz fassen, kann sich in bestimmten Kunstarten besonders gut ausdrücken. Zum Beispiel findet die symbolische Kunst ihren höchsten Ausdruck in der bildenden Kunst der Architektur. Die bildende Kunst der klassischen Kunst findet in der Skulptur eine markante Ausprägung und die der romantischen Kunstform in der Malerei. Die Skulptur hat unter den bildenden Künsten am meisten den Charakter der klassischen Kunst, direkter Ausdruck des Geistigen zu sein. Die Selbstverständigung der modernen Subjektivität kann sich dagegen in der Malerei am besten geltend machen. Hegel denkt die Verbindung von Kunstformen und Einzelkünsten so nicht im Sinne einer Symmetrie zwischen den Epochen. Der romantischen Kunst spricht er zudem mit Musik und Poesie tönende und redende Künste als exemplarische Künste zu, ohne aber damit zu behaupten, dass sie nicht zu allen Zeiten vorkämen. Wir werden es im Folgenden nicht unternehmen, seine Rekonstruktion im Einzelnen darzustellen, weil sie uns von der Frage nach

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dem Zusammenhang des gesellschaftlichen Charakters der Kunst und ihrer Pluralität zu sehr abbringen würde. Es ist aber lehrreich, das hegelsche System der Künste mit Blick auf seine Verkürzungen zu problematisieren, um die Idee der Pluralität systematisch zu schärfen. Ein wichtiger Einwand gegen Hegels Ästhetik lässt sich nämlich von den nichtsprachlichen Künsten her artikulieren. Formuliert die poetologische Ästhetik mit der Idee der Versprachlichung und Verdichtung nicht ein Schema der Vergeistigung des Materials, das letztlich alle Künste von den sprachnahen Künsten her denkt und so die sprachfernen Künste herabsetzt? Gerade im Kontext der hegelschen Lehre des Absoluten stellt sich die Frage, ob ihre leitenden Begriffe nicht, wie Derrida es formuliert, „in die Geschichte der Ontotheologie, das heißt in das System, das als Auslöschung der Differenz fungiert“, gehören?23 Unter dem Titel des Logozentrismus lässt sich dies als eine Assimilation von Sinnlichkeit und Vernunft kritisieren, die eine repressive „Ökonomie der Gleichheit“ reproduziert, in der Differenz und Eigenständigkeit des Sinnlichen „ausgelöscht“ sind. Logozentrisch ist eine Position, wenn sie die propositionale Rede als die alleinige Kommunikationsform des Geistes begreift und andere Formen der Expressivität abwertet. Es passt in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass gegen Hegels Ästhetik oft eingewandt wird, dass sie den sozialen und historischen Prozessen der Wechselwirkung von Vorstellung und poetischem Ausdruck nicht hinreichend sensibel gegenüber ist. Hegel hat in der Tat die ungute Tendenz, das sprachliche Zeichen zur bloßen Repräsentation ohne eigene Dialektik zu verkürzen.24 Mit der Gegenüberstellung von nur sinnlichen und vermeintlich höheren, sprachlichen Künsten wird damit auch die Frage nach dem subjektiven Standpunkt berührt, von dem aus die Theoriebildung betrieben wird. Hegel beansprucht, von einem neutralen, so23 24

Derrida, „Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift“, S. 44. Vgl. zu diesem Vorwurf: Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung“ und Trabant, Traditionen Humboldts. Auch Derrida argumentiert in „Der Schacht und die Pyramide“ in diese Richtung.

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zusagen rein wissenschaftlichen Standpunkt aus die Bewegung der Kunst zu reflektieren. Das Problem des Logozentrismus und der genealogisch-teleologischen Reflexion zeigt dabei auf, dass im Namen einer Neutralität oft Ungleiches gleich und Gleiches ungleich gemacht wird, indem der eigene Schematismus implizit zum Maß aller Dinge erhoben wird, der nur bestimmte Phänomene erfasst. Die mannigfaltigen empirischen Abweichungen werden dabei als niedere Formen entwertet. Die behauptete Universalität und Neutralität zeigen bei kritischer Betrachtung so aber allein eine generalisierte Partikularität auf. Wenn der Begriff des versinnlichten Allgemeinen der Idee der Pluralität gerecht werden soll, dann müssen wir das konstitutive Problem einer falschen Ökonomie der Gleichheit methodisch reflektieren. Eine solche Reflexion kann nicht darin bestehen, das Problem für inexistent zu erklären. Wir sollten vielmehr so vorgehen, dass wir erst seine Mechanik fassen, um daraus zu lernen. Wenn Hegels „in sich gegliederte Kunstwelt“ (GW 28.1, S. 251) einem Pluralismus und keiner logozentrischen Hierarchie das Wort redet, darf sie die Vielfalt und Selbständigkeit der Künste nicht zugunsten eines Schematismus reduzieren, in dem nur das als Kunst erscheint, was den eigenen ästhetischen Werturteilen entspricht. Daher gilt es im Folgenden, die pluralistische Interpretation der Poetik mit Blick auf ihre antipluralistischen Tendenzen zu konfrontieren. Wir werden dazu mit der Musik und der Theorie des Romans zwei Problemfelder des Systems der Künste ansprechen. Schließlich wirft die Frage der Polychromie antiker Skulpturen ein weiteres Licht auf die Verkürzungen in Hegels Methode. Eine wichtige Lektion aus dem Problem einer repressiven „Ökonomie der Gleichheit“ ist, dass der mit Hegel beschreibbare Prozess der kulturellen Aneignung einerseits asymmetrische Formen kennt, in denen manifeste Machtinteressen wirken. Der aneignende Zugriff ist keineswegs unproblematisch, birgt er doch erstens und besonders mit Blick auf koloniale Vergangenheiten und Gegenwarten die Problematik kultureller Hegemonie und Verformung. Das Spiel der Kräfte der kulturellen Selbst- und Fremddeutung ist kein harmloses, interesselo-

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ses Spiel. Das muss eine Kunstphilosohie methodisch reflektieren. Wenn sich kulturelle Expressivität wesentlich als Aneignung der Welt ausdrückt, stellt sich die Frage, wie kulturelle Leistungen anerkannt und wechselseitig angeeignet werden können. Anders gesagt ist Expressivität als Aneignung immer problematisch, weil sie als kulturelles Hegemoniebestreben ein Aneignen ohne Anerkennen leistet. Zweitens, und darauf werden wir unter dem Stichwort der historischen Dynamik der Kunst im nächsten Kapitel fokussieren, wirken kulturelle Prozesse der Aneignung nicht nur synchron, wie Hegel sie beschreibt, sondern auch diachron. Die retrograde Aneignung der griechischen Kunst rekonstruiert ja gerade keine gegebene, objektive Realität, sondern die Rekonstruktion bringt sich selbst mit ein und zeichnet ein Bild des Vergangenen im Lichte seiner Gegenwart. Das kulturell Vergangene ist keine gegebene Realität, sondern ist Aktualität, wird also durch die Interessen und Denkmuster der Gegenwart mitbestimmt. Das Problem der Rekonstruktion ist daher die Projektion, die retrograde Konstruktion des Anderen am Maßstab des Eigenen. Der Logozentrismus der hegelschen Ästhetik tritt im System der Künste bei der Musik vielleicht am markantesten zutage. Hegels These ist, dass es in der Musik nur „zu einem immer unbestimmteren Sympathieren kommt“ (TWA 15, S. 146). Musik affiziere nur das Gemüt, treffe keine Aussage zur Sache. Hegel ist damit Anhänger der Affektenlehre der Musik. Diese These begründet er damit, dass der Ton der Musik keiner außermusikalischen Bezeichnung dient. Damit finalisiert die Musik die Emanzipation vom Material, die der Kunst insgesamt zu eigen ist, denn der Ton bezeichnet nichts mehr, ist weder Symbol noch Zeichen. Der Ton der Musik ist ganz allein autonome, selbstzweckhafte Gestalt: In „diesem Freiwerden [kommt die Musik] zu einer Gestaltungsweise […], welche ihre eigene Form als kunstreiches Tongebilde zu ihrem wesentlichen Zweck werden läßt“ (ebd., S. 145). Musik ist in Hegels Bild vollständig autonom und stellt keine außermusikalischen Verweisungszusammenhänge auf. Sie ist nur bei sich. Genau dadurch wird sie aber unselb-

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ständig, denn sie kann keine außermusikalische Wirklichkeit mehr greifen. Ohne Anspruch auf Objektivität wird Musik unbestimmt, rein subjektiv und zum Ausdruck leerer Innigkeit. Sie richtet sich nur auf die empfindsame Seite des Geistes, unser Gemüt. Ihre Autonomie stellt sich somit als ihr Mangel heraus, denn sie kann nichts ausdrücken, nur vage mitfühlen. Will sie expressiv wirken, muss Musik sich mit den redenden Künsten verschwistern und sich von ihnen her einen ausgebildeten Gehalt geben lassen. Hegel stellt also die Wortsprache aufgrund ihrer expressiven Vermögen über die Musiksprache. Das steht in deutlicher Opposition zur Musikästhetik etwa eines Schopenhauers, der die Musik als die höchste der Künste feiert, gerade weil sie das Wesen der Welt in tönender Gestalt fasse und so dem Begriff überlegen sei.25 Hegel sieht in der Musik nicht die dem Begriff überlegene Sprache des Unsagbaren, sondern kritisiert solche Musikästhetik als sentimentale Übertragung des philosophischen Topos der Unsagbarkeit des Eigentlichen und der vermeintlichen Ineffabilität des Absoluten auf die Musik. Schon vom Denken des unglücklichen Bewusstseins heißt es so in der PhG, es bleibe „das gestaltlose Sausen des Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung, ein musicalisches Denken, das nicht zum Begriffe, der die einzig immanente gegenständliche Weise ist, kommt“ (GW 9, S. 125). Dieses Argument Hegels ist intern konsequent, leitet es doch aus ihrem Mangel an Heteronomie den Verlust der Musik an Allgemeinheit und Expressivität ab. Musik kann aufgrund ihrer ästhetischen Autonomie keine Weltzustände, mithin Momente der objektiven Wirklichkeit des Geistes kommunizieren. Sie ist deshalb nur höheres Glockengeläut, das nichts thematisiert und nur das Gemüt affiziert. Hegel bezieht also in der Tat eine logozentrische Position im Streit der Künste. Dieser Befund ist allerdings zu differenzieren. Erstens bezieht sich Hegels Haltung auf die Instrumentalmusik, nicht auf Vokalmusik. Er kritisiert dabei die Tendenz der Instrumentalmusik sei25

Vgl.: Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, § 52.

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ner Zeit, nur noch im formalen Spiel mit Modulationen aufzugehen. Seine Haltung zu Musik ändert sich zudem im Laufe der 1820er Jahre durch die Erfahrung mit höherwertiger Aufführungspraxis in der Berliner Musikszene und seinen Erlebnissen auf den Reisen, insbesondere mit der italienischen Tradition des Belcanto. Hegels Musikästhetik ist, das zeigt der Blick auf die Mitschriften seiner Kollegs zur Ästhetik von 1820/21 bis 1828/29, im Vergleich zum weitaus statischeren, ja zuweilen apodiktischen Kompendium, das Hotho posthum 1835 auf Basis seiner Mitschriften veröffentlicht hat, wesentlich ein Denken im Fluss. Der alleinige Blick auf den vergleichsweise monolithischen Text Hothos führt oft dazu zu übersehen, wie stark bei Hegel die Theorie mit der ästhetischen Erfahrung resoniert und sich in Reaktion darauf verändert.26 Zweitens ist sein Erfahrungsraum der Vokal- wie Instrumentalmusik nicht der unsrige. Zentrale Werke der Instrumentalmusik sind zu dieser Zeit entweder noch nicht geschrieben oder in Berlin unbekannt. Ein kurzer Blick auf das auffällige Schweigen Hegels zu Beethoven kann das erhellen. Auffällig wird dieses Schweigen vor dem Hintergrund einer Analogie Adornos: Hegel verhalte sich zu Nietzsche wie Beethoven zu Wagner.27 Zwar gibt es in Ber26 27

Vgl. hierzu auch: Olivier, „Die Musikkapitel aus Hegels Ästhetikvorlesung von 1826“. Adorno sieht in der Beziehung von Hegel und Beethoven sogar mehr als nur eine Analogie und identifiziert in Beethovens musikalischem Formgesetz der Reprise die logische Struktur der konkreten Negation: „Die Musik des Beethovenschen Typus, nach deren Ideal die Reprise, also die erinnernde Wiederkehr früher exponierter Komplexe, Resultat der Durchführung, also der Dialektik sein will, bietet dazu [zur Dynamik des hegelschen Denkens] ein Analogon, das bloße Analogie überschreitet. […] Vielleicht hilft zum Verständnis dieser Analogie wie zum innersten Hegels, daß die Auffassung der Totalität als der in sich durch Nichtidentität vermittelten Identität ein künstlerisches Formgesetz aufs Philosophische überträgt. Die Übertragung ist selber philosophisch motiviert.“ Hegels philosophisches Formgesetz der Negation der Negation beschreibe die Bewegung der Aufhebung. Sie eröffne eine „Auffassung der Totalität als der in sich durch Nichtidentität vermittelten Identi-

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lin der 1820er Jahre kaum noch Streit um Beethovens musikalische Größe, Beethoven wird aber anders als der Opernkomponist Rossini, dem Star des jungen Belcanto, von Hegel nicht aufgegriffen. Nicht nur eingedenk der von Adorno vorgebrachten Analogie von Beethovens und Hegels Formgesetz ist dies ein durchaus „beredtes Schweigen“ Hegels zu Beethoven. Man mag vermuten, dass Hegel durchaus die musikgeschichtliche Rolle von Beethoven sah, sich dagegen aber sträubte, weil er in der symphonischen Instrumentalmusik die Leere des l’art pour l’art zu erkennen meinte. Wenn Musik nur noch Form ist, dann erzeugt dies nicht nur Leere, sondern manifestiert auch eine zunehmende Lücke zwischen Eingeweihten und Außenstehenden.28 Die These, dass auch Instrumentalmusik in der Lage ist, außermusikalische Wirklichkeit im Medium versinnlichter Allgemeinheit zu kommunizieren, lässt sich im Rückgriff auf den modernen Phänomenbestand der kompositorischen Entwicklungen nach Hegel mit ihrer weitaus komplexeren Musiksprache zwar gewinnen, es ist aber auch Vorsicht dabei geboten, unseren Erfahrungsraum auf Hegel umstandslos rückzuprojizieren. Das gilt auch für die konzeptionellen, musiktheoretischen Mittel Hegels, denn die Fragen nach der Funktionalität von Musik, ihrer sozialen Struktur und ihrer Bedeutungsbildung sind Gegenstand einer Disziplin, die es zu Hegels Zeit nicht gab, einer Musiksoziologie. Es ist Adorno, der musiksoziologische Kategorien entwickelt hat, um die Instrumentalmusik im Sinne einer Kommunikationsform des Geis-

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tät“, eines differenzlosen gesellschaftlichen Ganzen, so Adorno, Beethoven, S. 288. Von Adornos Kritik an Hegels vermeintlichem Affirmismus bleibt Beethovens Musik, das „System der bürgerlichen Musik“, nicht verschont. Vgl. zu einer Kritik von Adornos Versuch, Beethovens Formgesetz von Hegels Begriff der Negation her zu analysieren: Federhofer, „Theodor W. Adornos Beethoven-Deutung“. Vgl. zum „beredten Schweigen“ Hegels zu Beethoven: Dahlhaus, „Hegel und die Musik seiner Zeit“, S. 338. Dahlhaus rekonstruiert Hegels Position, indem er Hegels Theorie der Instrumentalmusik als eine versteckte Replik auf E.T.A. Hoffmanns Beethoven-Apologie interpretiert.

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tes zu konzeptualisieren.29 Das zentrale Thema seiner Musiksoziologie ist der gesellschaftliche Charakter der Musik. Dementsprechend lässt sich gegen Hegel argumentieren, dass auch Gefühl und Gemüt gesellschaftliche Konstruktionen und kein unmittelbar Gegebenes sind. Die Affektenlehre der Musik hätte den gesellschaftlichen Charakter des Gemüts zu reflektieren. Hegels System der Künste weist hier eine Schwachstelle auf. Hegels System der Künste bleibt neben der fehlenden Theorie des sozialen Charakters der Instrumentalmusik auch in einer zweiten Bereichsästhetik unter dem Reflexionsniveau seiner allgemeinen Kunsttheorie: der Theorie des Romans. Dieser Bereich ist auch deshalb für uns aufschlussreich, weil er die zentrale Begrifflichkeit von Prosa und Poesie binnenästhetisch zu perspektivieren erlaubt. Die Unterscheidung von Prosa und Poesie markiert in der grundständigen, hier in Anschlag gebrachten Dimension die ästhetische Differenz schlechthin. Prosa im engeren, gattunstheoretischen Sinne meint eine längere fiktionale Erzählung, den Roman. Hegel selbst ordnet den Bereich der redenden Künste innerhalb der Kunstwelt anhand eines Schematismus, der sich in vielen Theorien seiner Zeit findet und ihren systematische Ausgang in der Literaturtheorie der Antike nimmt:30 Die redenden Künste unterteilen sich in Epik, Lyrik und Dramatik. Seine Ästhetik zeigt die Tendenz des Klassizismus, die Ordnung des Dreiklangs über die Vielfalt der real existierenden Formen zu stellen. Zwar spricht Hegel den Roman als „besondere Kunstform“ an und nennt dabei Cervantes’ Don Quixote (GW 28.1, S. 429). Er sieht in ihm und nicht näher genannten Liebesromanen tatsächlich eine Reflexionsform des romantischen Zeitgeistes, der Roman als Genre bleibt aber formal wie inhaltlich trivial: „Der Roman hat einen Boden, wo die Hauptmomente der Sittlichkeit fest sind, das sittliche Leben nicht mehr auf der Willkür beruht, deren Umfang jetzt klein ist“ (ebd., S. 429). Die feste Formation der Sittlichkeit ist der Hintergrund, vor dem die „Inter29 30

Vgl. neben seinem oben bereits zitierten, Fragment gebliebenen Buch zu Beethoven vor allem Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie von 1961/62. Szondi, „Hegels Lehre von der Dichtung“, S. 273.

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essen des Herzens“ der Akteure dann thematisch werden und die Handlung des Romans leiten. Das Individuum „zieht ritterlich aus, und will das Gute für die Welt vollbringen, sein Ideal der Liebe befriedigen. Es geräth in Kampf mit der festen Wirklichkeit“ (ebd., S. 430). Dieser Streit endet in Hegels Darstellung aber nicht tragisch, sondern in der prosaischer Banalität der bürgerlichen Welt. Das Ende der Entwicklung des handelnden Individuums ist, „daß es in die Verkettung der Welt eintritt, sich eine Familie, einen Standpunkt erwirbt, eine Frau, die aber, so hoch idealisiert sie war, eine Frau ist[,] nicht besser, als die meisten andern“ (ebd., S. 430). Dies alles spricht dafür, dass Hegel den Bedeutungsgewinn der Prosa in der Literatur eher ignoriert und im Roman eine triviale Form ästhetischer Kommunikation sieht.31 Literarische Prosa ist Unterhaltung, kein Gegenstand philosophischer Dignität. In seiner Darstellung thematisiert der Roman, genauer der Liebes- und Ritterroman, nur banale und selbstbezügliche Formen des Kampfes mit der festen Wirklichkeit. Das hängt an seinem ästhetischen Werturteil, dass der Vers die Form poetischer Rede ist: „Poetische Prosa ist ein Zwitter“, denn nur „die Versification ist der Duft der Poesie“ (ebd., S. 490). Hier kommt also ein autoritäres, auf enge Stilnormen gestütztes ästhetisches Urteil zum Ausdruck, das die eigene Wertlogik über die Vielfalt expressiver Formen setzt. Das Schema ersetzt das systematische Denken. Hegel ist historisch in der Zeit situiert, in der sich der Roman erst als eigenständige Gattung zu etablieren beginnt. Sein literarischer Erfahrungsraum ist weit weniger ausgebildet als der unsrige. Dickens’ erster Roman erscheint fünf Jahre nach Hegels Tod, Proust, Joyce und Woolf kommen ein knappes halbes Jahrhundert später zur Welt. So umfasst in unserer heutigen ästhetischen Praxis der Roman wesentlich mehr als Ritter- und Liebesabenteuer. Das Genre Roman drückt als offenes, vielfältiges Genre die Vielgestalt menschlicher Entwicklungen aus, ist geradezu zum Leitgenre 31

Allerdings geht das Urteil, Hegel „unterschlage“ die Rolle der literarischen Prosa, zu weit. R. Simon, Die Idee der Prosa, S. 278.

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der redenden Künste avanciert, einer „vierten Naturform der Weltliteratur“.32 Der Roman im Sinne der künstlerischen Praxis einer offenen Form gilt als die Reflexionsform der Moderne, ist doch, wie Lukács es wirkmächtig formuliert hat, „die Form des Romans […], wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“ der Moderne.33 Das moderne Heldentum des Romans ist nicht mehr der antike Held in seinem Pathos, sondern das Subjekt im Widerspruch seiner Innerlichkeit mit den prosaischen Verhältnissen der Welt der Konventionen: Die selbstgeschaffene Umwelt ist für den modernen Menschen ein Fremdes, der Held des Romans ist das problematische Individuum. Der Roman kommt bei Hegel hingegen nur als Ritterroman, als dessen Parodie durch Cervantes und als Liebesroman vor. Zwar gäbe der Don Quixote ausreichend Material für eine Theorie des Romans als einer Kommunikationsform der widersprüchlichen Sozialstruktur einer Sittlichkeit, aber Hegel entwickelt keine solche Theorie des Romans. Der Roman genügt weder dem kulturformativen Anspruch von Epik und Dramatik noch der sprachlichen Finesse der Lyrik und bedarf als Unterhaltungsliteratur keiner tieferen, theoretischen Reflexion. Ist die Absenz einer konkreten Theorie des Romans ein Indiz dafür, dass Hegel die Dissonanzen von Subjektivität und der sozialen Welt der Konventionen für irrelevant hält? Wie würde er die lukácssche Rede des „Formproblems“ sehen, das sich aus dem Nichtfügen der individuellen Sinngebung in das prosaische, arbeitsteilige Leben ergibt?34 Die Frage nach einer hegelschen Theorie des Romans berührt also keineswegs nur die Frage nach der literaturtheoretischen Vollständigkeit seines Systems, sondern dessen geschichtsphilosophische Dimension. Sieht Hegel eine bruchlose Fügung der Individualität in die soziale, konventionelle Welt der Gesellschaft als gegeben an? Auch eine solche Verneinung der destruktiven Seiten der gesellschaftlichen Normativität wäre eine Form von Logozentrismus, sind doch marginale Lebensformen, die an der Gewalt 32 33 34

Tilg, „Eine Gattung ohne Namen, Theorie und feste Form“. Lukács, Theorie des Romans, S. 32. Ebd., S. 61.

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der Schematik der Konventionen leiden, dann nichts weiter als eine ethisch irrelevante Abweichung von den als vernünftig gesetzten Normen der Sittlichkeit. Die Absenz einer Theorie des Romans scheint diesen Befund zu bestätigen. Wir werden im Folgenden keine Theorie des Romans erarbeiten, um diese offene Stelle im System zu schließen, vielmehr dient uns ihr Offenlegen dazu, abstrakter nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Kunst im Zusammenhang mit ihrer Pluralität und den Bedingungen ihrer Rekonstruktion zu fragen. Ihr gesellschaftlicher Charakter ist der Maßstab der immanenten Kritik der Kunst. Es gibt in der Einleitung der Kunstvorlesung von 1826 eine aufschlussreiche Passage, in der Hegel über den Zweck der Kunst nachdenkt. Zwar begründet er die Autonomie der Kunst darin, dass sie keinen Zweck außer ihr selbst zu dienen habe. Trotzdem lässt sich aus der Kunst heraus ihr Endzweck denken, indem ihr ethischer Anspruch, die Widersprüche des Geistes zur Anschauung zu bringen, als innerer Zweck und Bestimmung der Kunst selbst gefasst wird. Wird nämlich der „moralische Standpunkt [der Kunst] aber in seiner ganzen Tiefe gefaßt, so ist er der Standpunkt des nicht aufgelösten Widerspruchs“ (GW 28.2, S. 538). Es ist demnach die Aufgabe der Kunst, gesellschaftliche Widersprüche zu thematisieren und eine Haltung zur Welt des Geistes einzunehmen. Die gesellschaftliche Wirkung der Kunst ergibt sich daraus, den Standpunkt des nicht aufgelösten Widerspruchs in der sozialen Wirklichkeit des Geistes zu entwickeln. Von hier aus wäre die Reflexion über das Formproblem des modernen Romans als einer Sichtachse auf die Frakturen im Verhältnis von Individualität und Konventionalität ein nahe liegender Schritt. So wird Hegel, wie der Blick auf Musik und Roman gezeigt hat, den Potentialen der Einzelkünste nicht vollends gerecht, das menschliche Inderweltsein in sinnlich-allgemeiner Form zu kommunizieren und derart an die Widersprüche der Vergesellschaftung zu erinnern. Seine Ästhetik zeigt aber doch deutlich auf, dass die Kunst nur in ihrer Pluralität fähig ist, die „konkrete menschliche Individualität“ im „ganzen Reichtum der vielfachen Beziehungen“ zu reflektieren (GW 28.1, S. 314).

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Diese These unterscheidet Hegel von Adorno. Für Adorno ist die Prosa der bürgerlichen Welt in eine zugleich stahlharte wie hyperfluide Textur umgeschlagen, die Teilhabe der Kunst an dem Geist nur noch im Modus einer schocklosen Simulation ihrer verlorenen Potenz kennt. Hegel hält hingegen an der Wirksamkeit der Kunst fest. „Zum Subjekt gehört eine umschließende Welt wie zum Gott ein Tempel. Diese Welt ist keine zufällige, sondern eine in sich konsequent zusammenhängende Totalität. Der Mensch muß in Beziehung auf sie dargestellt werden, denn er steht in dieser Beziehung“ (GW 28.1, S. 315 f.).

Der Mensch kann sich die umschließende Welt aneignen, sich in ihr heimisch machen. Künste sind für diese Aneignung konstitutiv, weil sie uns in unseren Selbstverständnissen herausfordern und verändern können. Die Leistung der Kunst ist, dass sie diese mannigfaltige Verschiedenheit der menschlichen Beziehungen nicht prosaisch abschildert, sondern kondensiert und so in bildhafter, uneigentlicher Aneignung neu erfahrbar macht. Die je unterschiedlichen expressiven Potentiale der Künste reflektieren und verändern in sehr unterschiedlicher Weise menschliche Praktiken, denn sie sind nicht auf die Sprache oder einzelne Sinne beschränkt, sondern können Menschen in allen unterschiedlichen Dimensionen ihrer Praktiken erfassen. Damit leisten die Künste einen Beitrag zur menschlichen Weltaneignung, den sie nur leisten können, da in ihrer inneren Vielfalt die Vielfalt des Geistes ausdrücklich wird. Die Künste leisten diese Aneignung in ihrem poetischen Modus aufgrund der Komplementarität ihrer Kunstformen, die kein harmonisches Nebeneinander, sondern ein konfliktuöses Miteinander bilden. Die Frage nach der Spezifik der Kunst ist also nur in diesem antagonistischen Spiel symbolischer, klassischer und romantischer Expressivität zu fassen. Vor diesem Hintergrund fragen wir nun nach der Aktualität der hegelschen Poetik.

3. Die historische Dynamik des Poetischen Was haben wir bisher mit Blick auf die Poesie gesagt? Poesie ist eine expressive Negations- und Wissensökonomie, denn sie ist eine Praxis der Weltaneignung. Indem sie auf die prosaische Praxis einen gestaltenden Bezug nimmt, ist sie frei und ungebunden; zugleich bleibt sie durch diese Verwiesenheit gebunden. Das ist der „Doppelcharakter“ der Kunst. Adorno fasst diesen Doppelcharakter aporetisch: „Die Aporie der Kunst, zwischen der Regression auf buchstäbliche Magie, oder der Zession des mimetischen Impulses an dinghafte Rationalität, schreibt ihr das Bewegungsgesetz vor; nicht ist sie wegzuräumen. […] Die Unversöhnlichkeit jener Momente] ist zur Idee der Kunst, als des Bildes der Versöhnung, hinzuzudenken. Nur weil emphatisch kein Kunstwerk gelingen kann, werden ihre Kräfte frei; nur dadurch blickt sie auf Versöhnung.“1

Kunst kommuniziert also so mit der Nichtkunst, dass ihr notorisches Scheitern uns Anlass gibt, die Verfehlungen der dinghaften Rationalität der Moderne zu sehen. Weil Kunst unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen scheitern muss, zeigt sie die Falschheit des Bestehenden und „blickt auf die Versöhnung“. In dieser Dialektik liegt die Intelligibität der Kunst für Adorno. Hegel verortet den Widerspruch von Prosa und Poesie im Sinne eines steten Ringens um die gesellschaftliche Rolle und Wirkung der Kunst. Kunst ist lebendig, solange sie um ihre Relevanz im Kontext ihrer Zeit ringt. Kunst gewinnt aus dieser widersprüchlichen Struktur die Kraft, ihre gesellschaftliche Gegenwart zu verändern. Kunst gelingt, wenn sie kommuniziert. Der Prüfstein gelingender Kunst ist die Realität ihrer Kommunikation. Ästhetische Praxis ist verwiesen auf die prosaische Praxis, die „Praxis des Bestimmens und Verwaltens von Gegenständen und Subjektbeziehungen“, und un1

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 87.

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terläuft zugleich diese Praxis.2 Nachklassische Kunst ist nicht einfache Darstellung fester ästhetisch-kultureller Konventionen, sondern negiert die Unmittelbarkeit der sozialen Praxis, indem sie ihre konstitutive Offenheit zur Anschauung bringt und so gegen die Verknöcherung der zweiten Natur in Erinnerung wach hält. Sie negiert praktisch die Positivität der sozialen Praxis. Deshalb trägt Poesie die Kraft der Subjektivität zu Weltaneignung und Versöhnung und konstituiert eine Form von Wissen. Poesie ist zweitens aus systematischen Gründen nicht auf eine poetische Strategie zu reduzieren. Die Künste kommunizieren in sehr unterschiedlicher Weise mit den menschlichen Praktiken und sind weder auf die Wortsprache noch auf einzelne Sinne beschränkt. Nur so können sie die soziale Praxis in all ihren unterschiedlichen Dimensionen erfassen. Die Ausbildungen des Allgemeinen der Künste in den unterschiedlichen Künsten in ihrer jeweiligen Selbständigkeit zu verstehen, ist der Anspruch des hegelschen Systems der Künste. Die Künste sind antagonal verfasst und leisten durch ihre antagonale Form ihren Beitrag zur Weltaneignung und Versöhnung. Es ist dieser Anspruch, der die immanente Kritik an seiner Umsetzung begründet. Denn jede Fortbestimmung im Rahmen der Entwicklung einer je partikularen poetischen Strategie verändert den Begriff der Kunst. Erst in dieser pluralen Offenheit ist Allgemeinheit in ihrer konkreten Wirklichkeit theoretisch erfasst, denn das Allgemeine der Poesie verändert sich durch die internen Wechselwirkungen und Antagonismen der Kunstformen. Kunst steht im Horizont ihres Weltzustands, ihrer Epoche und thematisiert ihre Epoche in ihrer historischen Kontingenz.3 Sie verändert sie dadurch. In diesem Sinne ist Kunst ein Handeln in der Welt. 2

3

Die dialektische Beziehung von Verwiesensein und Unterlaufen beschreibt auch Menke. Er argumentiert aber mit Adorno gegen Hegel für die „Infragestellung des Subjekts im Namen der [ästhetischen] Kraft“. Vgl.: Menke, Kraft, S. 83 f. Hilmer, Scheinen des Begriffs, S. 107.

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3.1 Die diachrone Aneignung Das heißt für die Kunst, dass ihre ästhetischen Strategien ihren historischen Ort und ihre Zeit haben. Aus Hegels Überlegungen folgt, dass das Poetische einer historischen Dynamik unterliegt.4 Das ist die These der Konsekutivität der ästhetischen Strategien. Sie können veralten, absterben und bergen doch immer das Potential, im erneuernden, translokativen und transtemporalen Zugriff revitalisiert zu werden. Dass Bild- und Sprachwelten der Künste vergänglich sind, zeigt sich konkret an Hegels eigenem, bereits aufgerufenem Beispiel, das er für den Unterschied von prosaischer und poetischer Sprache gibt. „Sagen wir z. B. ‚morgens‘, so ist dies ein bekanntes Verhältnis der Zeit. Sagt nun der Dichter: ‚Als Eos mit Rosenfinger emporstieg‘, so ist dasselbe ausgedrückt“ (GW 28.1, S. 489). Was gestern Ausdruck poetischen Formwillens war und noch den Duft der Versifikation atmete, verströmt heute Kitsch aus jeder seiner Poren. Sprachliche Bilder sind nicht allein darin vergänglich, dass uns ihr Gehalt kognitiv nicht mehr zugänglich ist, sondern auch darin, dass die Vorstellungen, die sie hervorrufen sollen, uns schal und abgestanden, ja muffig vorkommen. Die Poesie ist in ihrem Kitschigwerden mit ihrem eigenen Formproblem konfrontiert. Hegel betont so zwar die synchrone Prozessualität der Kunstformen, wie wir anhand seiner Theorie des Klassischen gesehen haben. Er unterschätzt aber die diachrone Dynamik. Die Historizität der Kunst ist der Grund, dass sich die Strategien ästhetischer Produktion veredeln und distinguieren, indem sie sich in eine immer komplexere und transmediale Kunstwelt einschreiben und sich von ihr inspirieren lassen. Die Historizität der Kunst liefert zugleich den Grund, warum der retrograde Zugriff auf vergangene Kunstwelten eine konstruktive Dimension aufzeigt. Im Zugriff auf Vergangenes ist der Zeitgeist der Gegenwart samt seiner Verkürzungen mit im Spiel. 4

Gerade Lukács hebt als Verdienst Hegels die „Historisierung der ästhetischen Kategorien“ hervor. Lukács, Theorie des Romans, S. 10.

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Es ist daher wichtig, die Problematik der Genealogie und der Historisierung der ästhetischen Kategorien im Blick zu behalten. Das methodische Problem einer Ableitung systematischer Begriffe aus dem historischen Material ist der Schematismus der Kategorien. Wenn die Architektur eines Begriffs dessen Richtung vorgibt, läuft die Methode Gefahr, gegenläufiges Material entweder zu ignorieren oder gar zu modifizieren. Hegel ist nun selbst keineswegs frei davon, das strenge und enge Stilideal der Weimarer Klassik zu reproduzieren. Mit Blick auf die antike Klassik zeigt sich das exemplarisch an zwei Phänomenen. Die beiden Phänomene, die wir nun diskutieren, betreffen die Skulptur und das Phänomen des antiken Romans. Im Bereich der bildenden Kunst und ihrer paradigmatisch-klassischen Form der Skulptur steht Hegel in der Tradition von Winckelmann. „Ihre [der klassischen Skulptur] Formen sind keine Mannigfaltigkeit von Farben und Bewegungen, sondern auf die Räumlichkeit beschränkt. Dies aber ist kein Mangel, sondern eine durch den Begriff gesetzte Bestimmung. […] Die Bestimmungen der Farbe sind also ausgeschlossen. Der farblose Marmor ist der angemessene Stoff[…]. Der große Geist der Griechen war es, den Standpunkt, wie ihn der Begriff aufstellt, ergriffen zu haben und rein und keusch diesem Begriff gemäß ihre Werke gebildet zu haben“ (GW 28.1, S. 461).

Mit ihren verfeinerten Rekonstruktionstechniken zeichnet die zeitgenössische Altertumswissenschaft ein anderes Bild.

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Abb. 1 Phidias, Athena Lemnia Furtwänglers monochrome Rekonstruktion von 1893.

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Abb. 2 Phidias, Athena Lemnia Tylles polychrome Rekonstruktion von 1991.

Unser Bild der Vergangenheit ist immer Rekonstruktion. Es ist Hegels sachlicher Fehler, die Skulpturen der Antike in farblosem Marmor zu zeichnen, der genau dieses Problem der distanzlosen Wiederholung impliziter Wahrnehmungsmuster anschaulich fassbar macht. Die Rekonstruktion vergangener kultureller Praxis enthält immer auch Projektionen eigener Ausdruckswelten. Die klassizistische Konstruktion einer „reinen und keuschen Kunst“ der Klassik hat sich als dermaßen wirkmächtig erwiesen, dass uns heute die Rekonstruktion ihrer „authentischen“ Wirklichkeit als Verfremdung, gar kitschige Verfehlung erscheinen mag. Unter Klassik haben wir mit Hegel den Prozess der Aneignung fremder kultureller Praxis bestimmt, den Kampf der Götter mit den Titanen, der einen Willen zur strengen Form impliziert. Diesen Aneignungsprozess denkt Hegel in erster Linie synchron. Es gilt aber, auch die diachrone Dimension zu beachten. Etwas Vergangenes als klassisch

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zu bezeichnen, stellt es in den Kontext der Gegenwart und erhebt es zum Ausgangspunkt der ästhetischen Bewertung gegenwärtiger kultureller Produktion. Etwas als klassisch auszuzeichnen markiert in der Gegenwart den Standpunkt, einen bestimmten ästhetischen Standard als allgemeinen Maßstab zu etablieren. Das Klassische ist kein Vergangenes, sondern wird als kanonisches Exempel gültiger expressiver Praxis in den Diskurs der Gegenwart eingebracht. Eine bestimmte Gestalt als klassisch zu bezeichnen, kann also bedeuten, sie als gelingenden Standard zu begreifen. „Klassisch“ meint hier dann so etwas wie „gültig“. Die Grammatik der Rede von der Klassik kennt aber auch die gegenläufige Tendenz. Wir können klassische ästhetische Strategien auch als Abstoßungspunkt im ästhetischen Formbildungsprozess verstehen. Die Innovation der Avantgarde richtet sich gegen die tradierten Muster von Produktion und Rezeption. „Klassisch“ meint dann „traditionell“ oder „althergebracht“. Mit der Idee, die Grammatik der Rede von der Klassik als evaluative Rede zu deuten, ist nicht gemeint, dass das Klassische im Diskurs der Gegenwart eine eindeutige Rolle hätte. „Klassisch“ steht aber oft in einer agonalen Verbindung mit dem Zeitgenössischen. Der Blick auf die Ambiguität der Rede vom Klassischen erlaubt es, eine weitere praktische Dimension von Kunstkritik zu nennen. Sie prägt die Wahrnehmungsmuster der Gegenwart, indem sie ästhetische Produkte beurteilt. Kunst hat also nicht nur in der Produktion einen aneignenden Charakter, sondern auch ihre Rezeption verändert kulturelle Praxis. Wir gewöhnen uns einen bestimmten Blick an und verlieren dadurch die tatsächliche Vielfalt dessen aus den Augen, was sich uns zeigt. Die Kunstkritik ist also dadurch praktisch, dass sie an der Konstruktion eines Kanons gelingender ästhetischer Strategien mitwirkt. Die Problematik dieser Konstruktion zeigt sich beim Vergleich der Rekonstruktion von Phidias’ Athena Lemnia in ihrem Abstand von fast einhundert Jahren. Die Rekonstruktion vergangener kultureller Zeiten transportiert so immer die eigenen Muster und Sehgewohnheiten. Wird

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eine bestimmte Rekonstruktionsweise in der Gegenwart wirkmächtig, kann sie sich sozusagen über das historische Material legen und es verzerren. Der rekonstrukive Zugriff kann – wie der Verweis auf die Polychromie antiker Statuen anschaulich zeigt – sozusagen autonom werden und eine derartige Eigenständigkeit vom historischen Material gewinnen, dass es das historische Material tatsächlich zurichtet. Rekonstruktion muss somit beides sein: freie Aneignung und interpretative Vergegenwärtigung einerseits und der gegebenen Sache geschuldete, nur nachvollziehende Darstellung von abwesender Ausdruckswelt andererseits. Es braucht daher auch zweierlei Referenz ihrer philosophischen Beurteilung: Es bedarf der Kritik im Sinne einer Ideologiekritik der Gegenwart und der Kritik des Fetisch der Authentizität und autochthoner kultureller Sphären. Während Hegel die Vorstellung autochthoner kultureller Sphären nicht teilt, kommt das ideologiekritische Moment mit Blick auf den eigenen Standpunkt bei ihm zu kurz. Ohne Selbstkritik läuft der systematisierende Zugriff philosophischer Kunstkritik Gefahr, nicht der Kommunikation über ästhetische Werke zu dienen. Anstatt das Schöne durch exemplarische Gültigkeit fasslich zu machen, wendet sie die eigene Schematik in einem subordinierenden Gestus gegen die empirische Vielfalt. Das Schema ersetzt das System. Das Fehlen des ideologiekritischen Moments wird in einer zweiten Kunstgattung greifbar, die Hegel diskutiert. Sein Reinheits- und Keuschheitsfetisch in der Rekonstruktion der klassischen Kunst findet nämlich eine Entsprechung im Bereich der Literatur, die wir oben schon berührt haben. Dort war die Feststellung, dass Hegel keine Theorie des modernen Romans entwickelt. Da der moderne Roman zu Hegels Zeiten erst beginnt, eine eigenständige literarische Form zu bilden, wäre dies eine Lässlichkeit auf Hegels Seiten. Allein, der Roman ist bereits in der Antike eine literarische Form. Bereits in der Antike gibt es eine Vielfalt und Offenheit des Genres Roman, das zum Teil derbe Erotik, Gewalt, Horror, Religionsparodie und Komik zeigt. Die zeitgenössische Altphilologie erlaubt so auch eine Korrektur von Hegels Poetologie: „In den Phönizischen Ge-

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schichten (Phoinikika) eines gewissen Lollianos z. B. sehen wir den Ich-Erzähler inmitten einer Bande von ägyptischen Räubern, die das Herz eines geopferten Knaben essen, um einen Treueschwur zu erneuern. Danach kommt es zu Gruppensex und einer gespenstischen Kostümierung, eine Szene, die als Parodie auf reale Mysterienkulte gedeutet wurde.“5 Da Hegel allerdings die gebundene, versifizierte Rede für das Maß aller literarischen Dinge hält, ist die so behauptete Trivialität der literarischen Form des Romans der Grund, warum er sie nicht als gleichwertige Form nobilitiert. Die hegelsche Rekonstruktion der Antike folgt dem ästhetischen Wertekanon seiner Zeit und ist seinen moralischen Vorstellungen von Reinheit und Keuschheit stärker verhaftet, als er darüber methodisch Rechenschaft gibt. Für die These, dass auch die schöne Sittlichkeit der Antike in einem Maße von Vielfalt und Brüchen mit der reinen Form geprägt ist und in diesem Sinne moderne Züge aufweist, sprechen die besseren Argumente. Wir werden der Pluralität auch schon der antiken Welt besser gerecht, wenn wir sie nicht zu starren Idealbildern stilisieren, nur weil sich das Bild der schönen, heroischen Sittlichkeit und idealen Kunstwelt der eigenen Systematik nahtloser fügt. Philosophische Kunstkritik im Sinne der evaluativen Rekonstruktion von Idealbildern und -typen sollte daher als ein relevanter Beitrag zur diskursiven Selbstverständigung der kulturellen Identität einer Gegenwart reflektiert werden. Kunstphilosophie ist relevant, weil sie die Formen dessen, was als ästhetischer Standard gilt, dokumentiert, sie so vergegenständlicht und für bindend erklärt. Das Problem einer Philosophie der Kunst, der philosophischen Kunstbegründung als Kunstkritik, stellt sich damit in der Konstruktion eines Kanons, aus dem die evaluativen Standards der Kritik gewonnen werden. In der Kanonfrage stehen die Notwendigkeit empirischer Offenheit und die ebenfalls nötige Selektion der Produkte der Kunstwelt in einem irreduziblen Spannungsfeld. 5

Tilg, „Eine Gattung ohne Namen, Theorie und feste Form“, S. 90.

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Denn nicht jede Mode etabliert eine neue Kunstform, nicht jeder Ausdruck realisiert eine Fortbestimmung ästhetisch-poetischer Strategien. Die freie Kunst läuft in Hegels Worten Gefahr, sich in „subjectiver Geschicklichkeit“ zu verlieren (GW 28.1, S. 442), Kunst also nur noch um der Kunst willen zu produzieren. Die Kritik muss deshalb Kunst von selbstreferentiellem „Kitsch“ unterscheiden können.6 Ein Grundproblem der Kritik und der Evaluation von Kitsch und Kunst ist der bias in den eigenen ästhetischen Formvorstellungen. Kritik bedarf in Anbetracht der Souveränität der Kunst Maßstäbe der Kritik. Einige – Pessimist*innen würde sagen, viele – poetische Ausdrücke verdienen es nicht, in den Kanon aufgenommen zu werden. Ein Stück weit muss Kunstkritik konservativ sein. Der Kanon kann auch zugleich stilprägende Ausdrücke aus sich ausschließen und sich ästhetischer Innovation verschließen. Denken wir an die Schwierigkeiten einer Avantgarde, sich durchzusetzen, die aus heutiger Perspektive ihrerseits schon wieder klassisch ist – zu nennen wäre etwa die Geschichte des Impressionismus. Die Maßstäbe müssen also zugleich ihrer eigenen Revision gegenüber offen sein. Es ist die Dialektik von Exklusion und Inklusion ästhetischer Produktion aus dem Kanon ihrer Beurteilung, die meines Erachtens den philosophischen Kern einer Kunstkritik ausmacht. Die Relevanz der Kanonfrage können wir mit Frantz Fanon formulieren. Fanon hat in seinem Buch Les damnés de la terre die These aufgestellt, dass es eine der wirkungsvollsten Waffen des Kolonialismus sei, den von ihm Unterworfenen das eigene Bild von ihnen aufzuprägen.7 Die Prämisse dieser These ist, dass Anerkennung Identität formt. Deshalb sind die herrschenden Gruppen bestrebt, den Beherrschten ein Bild und fixe Vorstellungsschemata ihrer eigenen Unterlegenheit einzupflanzen. Fanons Diagnose ist, dass auch nach der Befreiung aus manifester Sklaverei und der Einsetzung legaler Gleichheit die kulturelle Deutungshoheit der Herrschenden sich fortsetzt. Sie wechselt nur ihre Form. Statt manifester Herr6 7

Greenberg, „Avant-Garde and Kitsch“. Vgl.: Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Kapitel 4.

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schaft ist es nun falscher Egalitarismus und vorgebliche Gleichbehandlung, die nur die Ungleichheit der vormals Beherrschten reproduziert. Wenn es den Herrschenden ernst wäre mit der Gleichheit, würden Exklusion und Inklusion ästhetischer Produktion thematisiert und der Konflikt ihrer Evaluation gesucht werden. Stattdessen herrscht eine kulturelle Gleichgültigkeit: „But most often there is nothing – nothing but indifference, or a paternalistic curiosity.“8 Eine wichtige Bedingung der Überwindung von kultureller Indifferenz besteht in der Einsicht, dass es bei einer Veränderung exklusiver Vorstellungsschemata zu einem Konflikt kommen muss, der sich einerseits im Beherrschten abspielt und sich andererseits gegen den herrschenden Diskurs richtet. Kunst als poetisch souveräne Praxis zu verstehen, heißt für ihre Gegenwart, die Aufgabe der Kritik am Kanon als substantielles Ergon von Kunstwissenschaft zu fassen. Die Dialektik von Exklusion und Inklusion ästhetischer Produktion heißt heute, Fragen der Restitution kultureller Arefakte und der De-Zentrierung des Kanons generell Gewicht zu verleihen. Das Problem der Herrschaft der Indifferenz berührt aber nicht nur die Rekonstruktion kolonialer und de- beziehungsweise postkolonialer Lebenswelten und ihrer ästhetischen Reflexionsobjekte. Kritik macht sich auch in der Konfiguration des künstlerischen Materials ihrer Gegenwart mitunter blind für die wirklich interessanten Bewegungen. Es ist eine sehr alte Geschichte, aber man muss sie immer wieder neu erzählen. Es ist die Geschichte der nahezu kompletten Abwesenheit der Frauen im Kanon der Kunst. Nicht als Objekte, da herrscht kein Mangel, sondern als Subjekte. Ihre expressiven Formen der ästhetischen Weltaneignung fanden aber keinen Eingang in den Kanon. Die Kanonfrage ist somit eine genuin politische Frage nach der Repräsentanz von ästhetischer Teilnahme. Eine Philosophie der Kunst, die die Abwesenheit von Autorinnen und nichtweißen Künstler*innen als periphere Frage abtut, verpasst den 8

Fanon begreift das Problem der Indifferenz als Anerkennungsverweigerung im Rekurs auf Hegels Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft. Fanon, Black Skin, White Masks, S. 168–73.

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philosophischen Gehalt der Frage nach den Bedingungen der Kritik der Kunst.

3.2 Das Ende der Kunst? Wir kommen mit dem systematischen Durchgang durch die Ästhetik Hegels an ein Ende. Es wird nun Zeit, Bilanz zu ziehen. Das bringt uns zur Frage, wie wir hier Hegels These vom Ende der Kunst verstehen. Ist Kunst ein Vergangenes oder leistet sie immer noch einen zentralen Beitrag zur Selbstverständigung des Geistes? Hegels zentraler Gedanke fasst das praktische Moment der expressiven Weltaneignung der Kunst mit dem Begriff der Kommunikation im sinnlichen Medium des Kunstwerks. Ästhetische Praxis, so haben wir den Kern der hegelschen Spekulation gefasst, ist nicht in repräsentationalistischen Begriffen als Spiegelung oder äußerliche Darstellung der Prosa der Nichtkunst zu konzeptualisieren. Kunst ist als Weltaneignung kommunikatives Handeln und gestaltet die Expressivität des Menschen mit. Kunst ist im Sinne der hegelschen Poetik Aneignung, ist „praktische Reflexion“.9 Die freie, souveräne Kunstproduktion steht als freie Praxis in systematischer Beziehung zu ihrem konstitutiv Anderen, der freien Kunstkritik. Hegels Kommunikationstheorie der Kunst entfaltet ihre volle konzeptuelle Kraft damit erst für die entwickelte Moderne. Für Hegel liefert die Kunst in der modernen Welt weder unmittelbare Symbole wie die vorklassische Kunst noch kanonische Standards des Schönen wie die Klassik. Die Kunst überlebt ihren historischen Entstehungsort, denn erst die moderne Kunst leistet die Vergegenwärtigung der historischen Gegenwart des Menschen, indem die moderne Kunstwelt die Vielfalt der Formen menschlicher Weltaneignung und Lebensformen thematisiert. Die Welt der Künste ermöglicht uns Menschen eine anschauliche, über unsere 9

Vgl. zum Begriff der praktischen Reflexion, an den wir mit dem Begriff sinnlicher Kommunikation anschließen: Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 95 f.

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je persönliche Situation weit hinausgehende Selbstbegegnung und -aneignung.10 Aus Hegels Sicht hat die Befreiung von der strengen Form der Klassik die für die Kunst befreiende Wirkung, dass die Kunst sich nun der „lebendigen Gestalt ihrer Gesellschaft“ (TWA 13, S. 254 f.), dem Humanus in der intellektuellen Welt unserer Existenz in ihrer vollen Breite zuwenden kann. „Humanus“ meint nicht die hehre und heroische Sphäre menschlicher Idealität, sondern das Menschliche, allzu Menschliche unseres Inderweltseins und dessen Negativität. Kunst mit Hegel aus der Wechselwirkung von Prosa und Poesie her zu denken, heißt Kunst mit der vermeintlich niederen, prosaischen Existenz des Geistes zusammenzubringen, um das Ideal mit dem Allzumenschlichen in Resonanz zu bringen und so am Menschlichen festzuhalten. Das moderne Kunstschöne ermöglicht so eine sinnliche Form der Selbstthematisierung des Geistes. Diese Deutung weicht von der Lesart ab, nach der für Hegel die moderne Kunst keine Wissenspraxis mehr sei, Hegels Ästhetik also keine Philosophie der Kunst, sondern lediglich eine Geschichte der Kunst sei. Hegels Theorie vom Ende der Kunst gehört wohl zu den am wenigsten verstandenen Theoriestücken seiner an Missverständnissen so reichen Philosophie.11 Häufig stützt sich eine solche Lesart auf eine Passage aus der Hotho-Edition von 1835: „In allen […] Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme“ (ebd., S. 25). 10 11

Vgl.: Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 22 f. Es ist erstaunlich, dass selbst intime Hegel- und Kunstkenner das Gerücht des Endes der Kunst für allzu bare Münze nehmen und Hegel die pauschale These zuschreiben, „Kunst gehört als Ganze der Vergangenheit an, gerade weil sie als Ganze symbolisch“ sei. Gadamer, „Hegel und die antike Dialektik“, S. 405.

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Dass diese Passage kritisch zu differenzieren ist, zeigt der Blick auf die Parallelstellen der Mitschriften der Vorlesungen zur Philosophie der Kunst. Dazu müssen wir den systematischen Ort dieser Passage benennen und ihre argumentative Funktion ausweisen. Das obige Zitat entstammt der Einleitung der Ästhetik, genauer der Stelle, an der Hegel die Legitimation der Kunst als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion begründet. Hegel verwendet in den Einleitungen seiner Vorlesungen, wie der Blick auf alle Mitschriften erhellt, sehr viel Raum darauf, Kunst als einen Gegenstand von philosophischer Dignität zu etablieren. Er argumentiert gegen den Vorwurf, Kunst sei bloßer sophistischer Schein, indem er den Scheinbegriff umdreht und aufwertet. Kunst ist Schein, aber wesentlicher Schein. Kunst ist keine Epiphanie im Sinne einer nur akzidentiellen Erscheinung von etwas substantiell Wahrem und Höherem, sondern dessen Manifestation, steht also in einem Wechselwirkungsverhältnis mit dem, dessen Erscheinung es ist. Philosophische Ästhetik hat das „allgemeine Bedürfniß des Kunstwerks im Gedanken des Menschen zu suchen, indem das Kunstwerk eine Art und Weise ist[,] dem Menschen was er ist, vor ihn zu bringen“ (GW 28.1, S. 229). Das sinnliche Scheinen der Idee ist die Form einer, zeitgenössisch gesagt, „ästhetischen Rationalität“12 und folglich ein philosophischer Gegenstand. Kunst kann aber, so fährt Hegels Argument fort, diese Bedingung nur dann erfüllen und philosophisch aufschlussreich sein, wenn sie freie Kunst ist. Denn nur das Freie ermöglicht eine freie Form der Manifestation. Hegel braucht also eine Theorie der Emanzipation und Säkularisierung der Kunst, um Kunst als einen Gegenstand philosophischer Reflexion zu begründen. Das ist die argumentative Stelle der These vom Ende der Kunst. Das Ende der Kunst formuliert die These vom Funktionswandel der Kunst. In Hothos eigener Mitschrift der Kollegs von 1823 kommt der systematische Zusammenhang von der philosophischen Dignität 12

Seel, Die Kunst der Entzweiung, Vgl.:

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der Kunst und dem historischen Prozess ihrer Säkularisierung und Emanzipation auch klar zum Ausdruck. „Unsere Welt, Religion und Vernunftbildung ist über die Kunst als die höchste Stufe, das Absolute auszudrücken, um eine Stufe hinaus. Das Kunstwerk kann also unser letztes absolutes Bedürfnis nicht ausfüllen, wir beten kein Kunstwerk mehr an, und unser Verhältnis zum Kunstwerk ist besonnenerer Art. Ebendeswegen ist es uns auch ein näheres Bedürfnis, über das Kunstwerk zu reflektieren. Wir stehen freier gegen dasselbe als früher, wo es der höchste Ausdruck der Idee war. Das Kunstwerk erreicht unser Urteil; den Inhalt des Kunstwerks und die Angemessenheit der Darstellung unterwerfen wir unserer betrachtenden Prüfung. – Es ist in dieser Rücksicht die Wissenschaft der Kunst mehr [zum] Bedürfnis [geworden] als in alter Zeit. Wir achten und haben die Kunst, sehen sie aber als kein Letztes mehr an, sondern denken über sie [nach]. Dies Denken kann nicht die Absicht haben, sie wieder hervorzurufen, sondern [nur die], ihre Leistung zu erkennen“ (GW 28.1, S. 223 f.).

Hothos monumentale Redaktion der ihm vorliegenden Mitschriften der Vorlesungen, die Hegel in den 1820er Jahren in Berlin zur Philosophie der Kunst hält, verbindet die These der philosophischen Dignität der Kunst nicht gleichermaßen explizit mit der These des Funktionswandels der Kunst, wie Hegel es tut. Das verfälscht den Eindruck. Wir dürfen von einer Monumentaldarstellung, die posthum im Rahmen einer Gesamtausgabe mit dem sprechenden Titel „Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten“, der sogenannten Freundesvereinsausgabe, keine hohen editorisch-kritischen Standards der Redaktion erwarten.13 Hotho 13

Gethmann-Siefert legt überzeugend dar, dass Hotho die hegelsche Kunstphilosophie verfälscht. Gethmann-Sieferts Argument hat die Tendenz, das Systemdenken Hegels, das sie in Hothos Darstellung am Werke sieht, dem „phänomenologischen Hegel“ der unbearbeiteten Mitschrift entgegenzustellen. Systematik und Phänomenologie stellen aber bei Lichte betrachtet keinen Gegensatz dar. Der wirkliche Gegensatz zwischen Hegel und Hotho betrifft vielmehr den von klassizistischer und spekulativer Ästhetik. Gethmann-Siefert, „Einleitung. Hegels ‚Ästhetik oder Philosophie der Kunst‘“, S. 20.

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geht es, wie er programmatisch formuliert, primär darum, „die verschiedenen oft widerstrebenden Elemente zu einem wie möglich abgerundeten Ganzen […] zu verschmelzen.“14 An einer sich am hegelschen Wort orientierenden Edition ist Hotho nicht interessiert. Es geht dem Verein von Freunden des Verewigten darum, Hegels Weltrang und -ruhm für die Nachwelt zu festigen, ihn zu monumentalisieren. Aufgrund der mangelnden Distanz zur Quelle ist die Freundesvereinsausgabe „dubios“.15 Hothos Werk hat sich aber trotz seiner eigenen ästhetischen Programmatik als Hegels eigene Position wirkungsgeschichtlich derart tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben, dass wir sie nicht ignorieren können und auch weiter konsultieren sollten, aber eingedenk ihres Sitzes im Leben und ihrer mangelnden Authentizität.16 Hegels These vom Ende der Kunst lässt sich systematisch überzeugender und exegetisch differenziert verstehen, wenn wir sie als Doppelthese der Emanzipation ästhetischer Produktion und Rezeption deuten denn als Verfallstheorem. Mit der historischen Bewegung geht die Emanzipation der Rezeption einher. Die Rezeption entwickelt sich von der andächtigen Anbetung naturreligiöser Symbole zum stillen Nachvollzug der kulturformativen Standards der Klassik und schließlich zur Kritik der Werke der Kunst: In der nachklassischen Kunst ist „der Stoff [der Kunst] aus dem Selbst getreten, das Raisonnement frei geworden, der Stoff äußerlich, so daß die Kunst freie subjective Geschicklichkeit [ist,] der der Stoff gleichgültig [ist]. Die Kritik ist eingetreten“ (ebd., S. 442).

Damit steht die oben berührte Frage nach den Standards der Kritik im Raum. Gibt es eine begründete Normativität der Beurteilung der Kunst? Um der Komplexität des historischen Materials gerecht zu 14 15 16

Zitiert nach: Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 419. Ebd., S. 385. Einen aufschlussreichen Abriss der ästhetischen Programmatik Hothos samt dessen Tendenz, die hegelsche Ästhetik im Kontext der Restauration zu entpolitisieren, zeichnet: Gethmann-Siefert, „H.G. Hotho“.

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werden, ohne in einer ontischen Abschilderung im Modus des Unddann zu enden, die unsystematisch Kunstepisoden aneinanderreiht, entwickelt Hegel mit der Typologie der Kunstformen ein Schema, das die Kritik der Kunst methodisch reflektieren und begründen soll. Es ist eine an den markanten Epochen und ihren Umbrüchen orientierte Einteilung der historischen Kunstwelt und ein genealogisches Verfahren, das der systematischen Ableitung kategorialer Grundbegriffe dient. Die Kategorien und Kanonisierungen sind nötig, um die Mannigfaltigkeit ästhetischer Strategien zu ordnen. Das Ziel der Genealogie ist eine phänomenal reichhaltige und historisch informierte Kunstkritik, eine Philosophie der Kunst. Kunstkritik steht für Hegel vor der Aufgabe, in einer Kunstproduktion, die immer neue Form- und Inhaltskombinationen destilliert, die Motive der ästhetischen Signatur der modernen Kunstproduktion zu erfassen und von ihnen her künstlerische Bildung von Kitsch zu differenzieren.17 Zwar findet sich die Verbindung von philosophischer Dignität und der Emanzipation der Kunst auch in der Edition Hothos,18 und insofern lassen sich die systematischen Zusammenhänge von Kunst, praktischer Reflexion und Kritik auch im Rekurs auf Hothos Edition entwickeln.19 Hothos klassizistische Redaktion artikuliert aber nicht hinreichend deutlich, dass Hegels Argument der Begründung der philosophischen Dignität der Kunst gerade der Forderung ihrer Antikisierung entgegenläuft. Von daher ist es aus systematischen wie exegetischen Gründen hochgradig problematisch, Hegels Legitimation der Kunst als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion als eine Zerfallsgeschichte zu interpretieren. Was der Blick auf die kritisch-edierten Vorlesungen tatsächlich gezeigt hat, ist, dass Hegel oft kritisch Stellung zur Entwicklung der Kunst bezieht. Der gemeinsame Nenner seiner Kritik an einzelnen Autoren der Kunstgeschichte und seiner Gegenwart ist die Selbstreferentialität ihrer 17 18 19

Henrich, „Zerfall und Zukunft“, S. 73. Etwa wenn es dort von der säkularisierten Kunst heißt: „es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr“ (TWA 13, S. 142). Vgl. in diesem Sinne: Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 95–102.

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Gestaltung. Hegel hat gegen die Hinwendung zum Inneren und zum Gefühl des Fürsichseins der romantischen Kunst nichts Prinzipielles einzuwenden, argwöhnt aber, dass eine romantisierende Verklärung von Subjektivität und Verinnerlichung zu einer selbstbezüglichen Nabelschau zu werden droht. Solche kritischen Töne mögen Interpret*innen seiner Texte dahingehend irregeführt haben, dass er die Kunst insgesamt gering schätze. Anders gesagt, Hegels philosophische Ästhetik zielt nicht auf moderne Kunst insgesamt, sondern auf bestimmte Kunstkonzeptionen, die den sozialen Charakter der Kunst nicht hinreichend reflektieren und somit einer Ästhetik der Unmittelbarkeit das Wort reden. Hegels philosophische Kunstkritik entwickelt vor dem Hintergrund einer affirmativen Theorie der Moderne den zentralen Punkt, dass freie Kunst und freie Kritik in einem systematischen Zusammenhang stehen. Das gilt es philosophisch zu begreifen.20 Die philosophische Legitimität der Kunst korrespondiert deshalb mit der Kritik der Kunst. Hegels Methode in der Ästhetik folgt damit einer immanenten Kritik ihres Gegenstandes, führt sie doch vor, wie der Freiheitsgewinn der Kunst mit einem Verlust einher geht, dem Verlust ihrer Selbstverständlichkeit: Moderne Kunst ist Kunst in der Krise. Mit Krise ist gemeint, dass die moderne Kunst keinen „festen Kreis“, keinen fixen Gegenstandsbereich, keinen gegebenen substantiellen Inhalt mehr hat. Sie hat in Hegels Worten sowohl den religiösen Kreis als auch den weltlichen Kreis des Rittertums ver20

Den Zusammenhang von ästhetischer Expression und Kritik für die Praxis der Kunst betont auch Habermas. Er verunklart allerdings diesen Zusammenhang, indem er ästhetische Gründe so verkürzt, dass sie allein der Begründung dienen, warum Kunstwerke „als authentischer Ausdruck einer exemplarischen Erfahrung, überhaupt als Ausdruck eines Anspruchs auf Authentizität wahrgenommen werden können.“ Es bleibt aber unklar, was dieser Anspruch auf Authentizität sein soll, da ästhetische Urteile im rationalistischen Diskursmodell von Habermas keine außerästhetischen Wertstandards artikulieren. Kunstwerke sagen also nicht mehr, als dass ihre Autor*innen es wirklich so empfinden. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, I, S. 41.

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lassen. Diese Kreise umreißen die „ideale Sphäre der romantischen Kunst“ (GW 28.1, S. 431). Moderne Kunst ist von nun an vom Problem des „Formalismus der Subjektivität“ gekennzeichnet (ebd., S. 425 f.). Was Hegel mit dem Formalismus der Subjektivität meint, entwickelt er systematisch und historisch anhand von Shakespeares Dramen sowie Ariostos’ und Cervantes’ Romanen (ebd., S. 405–443): Das Formelle der modernen Subjektivität besteht darin, dass das moderne „Gemüt […] sich nicht gestalten, […] sein Herz und Dasein nicht vermitteln [kann], die Verhältnisse werden übermächtig und zerstören es“ (ebd., S. 428). Die moderne „reale Seite des Auseinanderfallens“ von ethischer Substanz und der Subjektivität kann die expressive Selbstwirksamkeit des Subjekts formell werden lassen, es steht also in einem problematischen Verhältnis zur Welt. Die expressive Praxis des problematischen Subjekts findet, in gegenwärtigem Vokabular gesagt, keine „Resonanz“ in der sozialen Welt.21 Gleichzeitig sorgt die „Auflösung des [fest gegebenen] Stoffes“ dafür, „daß die Teile frei werden“ (ebd., S. 431 f.). Das formelle Subjekt ist das problematische Subjekt, das Subjekt, das an den Verhältnissen zugrunde gehen kann. Es ist zugleich das Subjekt, das sich selber begründen muss, weil es keine vorgegebenen Bahnen der Lebensform mehr gibt. Die Genealogie der Kunstformen hat gezeigt, dass nachideale romantische Kunst alles ausdrücken kann, was zur Wirklichkeit des menschlichen Lebens gehört. Sie ist nicht auf die Sphäre christlicher Liebe und ritterlicher Kämpfe beschränkt. Damit ist aber auch gesagt, dass jede Themen- und Darstellungswahl Alternativen erlaubt, keine mehr selbstverständlich ist. Kunst, die alles thematisieren kann, droht zur „bloßen Manier“ herabzusinken, weil ihr die Eindeutigkeit ihres Stoffes fehlt. Der Gewinn der Selbständigkeit der Kunst begründet so den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit. Kunst muss sich selbst begründen und bleibt in jeder ihrer Begründungen problematisch, darin ist sie ganz der Philosophie analog. 21

Vgl. für eine Soziologie der Resonanzbeziehungen: Rosa, Resonanz.

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Kunst nach dem Ende der Kunst beschreibt eine Praxis, die ihren historischen Entstehungsort überlebt hat. Ihre Emanzipation von ihrem Entstehungskontext hat ihr die Möglichkeit einer sicheren, unkontroversen Begründung genommen. Als selbstbegründete Praxis ist sie eine kritische Praxis und steht in einem systematischen Zusammenhang mit ihrer Kritik. Hegels Theorem vom Ende der Kunst formuliert so ein systematisch konsequentes und oft unterschrittenes Reflexionsniveau für die Analyse moderner Kunst. Hegels These begründet einerseits Kunst als genuinen Gegenstand der philosophischen Kritik. Diese begründende Kritik der Kunst bleibt der Kunst jedoch nicht äußerlich, wird diese doch im Zuge ihrer Emanzipation selbst kritisch, will sagen philosophisch. Kommen wir vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion des hegelschen Gedankens zur Frage, mit der wir schließen werden. Wie steht es mit der Aktualität der idealistischen Poetik? Entwickelt Hegels poetischer Pluralismus auch für unsere Gegenwart philosophische Kraft? Die theoretische Fruchtbarkeit der hegelschen Ästhetik zeigt sich da, wo sie auf keine historische Erfahrung mehr bauen kann, in prognostischer Hinsicht. Das Ende der Kunst als Theorie ihrer Emanzipation erlaubt es, die Zukunft der Kunst zu betrachten. Hat Kunst Zukunft oder ist der Text ihrer Emanzipation auserzählt? Schauen wir dazu zuerst auf die Zukunft der Kunst von Hegels Warte aus. Hegels genealogisch begründete Prognose ist, dass die Entwicklung der Kunst eine weitere Emanzipation vom Material darstellen wird. Ihr „allgemeiner Fortgang“ ist die weitere Auflösung ihres Stoffs in seine Elemente. Kunst wird deshalb selbst philosophisch werden, ohne aufzuhören, Kunst zu sein. Und tatsächlich wird die Emanzipation vom Material spätestens mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts in einer Weise radikalisiert, dass die ästhetische Differenz nicht mehr unter Verweis auf sinnliche Qualitäten des Kunstwerks zu ermitteln ist. Das Spektrum reicht von Pissoirs und Flaschentrocknern, die als Kunstwerk präsentiert wer-

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den,22 über Konsumgüter aus dem amerikanischen Supermarkt23 zu den Kunstwerken ohne materiale Objektivität der Performance Art. Es gibt kein Objekt mehr im engeren Sinne, das Ausdruck ästhetischen Formwillens wäre, sondern es geht um die situative Produktion sozialer Räume, in denen die Grenzen von performance und audience ineinandergreifen. Performances thematisieren so etwa die nonverbale zwischenmenschliche Kommunikation, ohne dass dabei überhaupt ein Werk im klassischen Sinn im Spiel wäre.24 Hegels Narrativ von der Vergeistigung des Materials erweist also tatsächlich seinen prognostischen Wert, lässt es sich doch gut als Theorie der Konzeptualisierung der Kunst verstehen. Die Entwicklungen moderner und postmoderner Kunst bestätigen Hegels dialektischen Befund der Kunst als einer Praxis, die die Macht des Sinnlichen in der Sphäre des Sinnlichen konkret zu gestalten vermag. Es ist Danto, der im Rückgriff auf Hegel versucht, diese Entwicklungen moderner und postmoderner Kunst philosophisch im Begriff einer aboutness der Kunst des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Danto bestimmt die Bedingungen ästhetischer Erfahrung in der Moderne, indem er die Emanzipationsbewegung der Kunst mit der Intellektualisierung ästhetischer Erfahrung in der Postgeschichte der Kunst verbindet. Danto deutet das Ende der Kunst so, dass nun der Kunst alles möglich geworden, mithin jede ästhetische Strategie möglich ist. Postgeschichtliche Kunst ist Kunst, die in den Zustand der Pluralität ihrer ästhetischen Strategien eingetreten ist, in der sich also die ästhetischen Strategien nicht mehr diachron voneinander ablösen, sondern miteinander synchron um einen treffenden Ausdruck des Zeitgeistes ringen. Moderne Kunst ist vom Zugleich symbolischer, klassischer und romantischer ästhetischer Strategien gekennzeichnet. Der „Pluralismus der Kunstwelt“ ist für 22 23 24

Denken wir exemplarisch an Marcel Duchamps Readymades. Andy Warhols Pop Art ästhetisiert mit den rekonstruierten Brillo-Boxes gewöhnliche Gegenstände der Konsumwelt. So beschreibt Marina Abramović den Gehalt ihrer retrospektiven Perfomance The Artist Is Present: Abramović, Walk Through Wall, S. 251.

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Danto der historische Index der modernen und postmodernen ästhetischen Produktion und Erfahrung.25 Danto entwickelt in diesem Kontext ein Gedankenexperiment – es ist wichtig auf dessen vermeintlich kontrafaktischen Charakter hinzuweisen –, um die Radikalisierung der konkreten Emanzipation der Kunst vom Material begrifflich zu fassen: Wir sind dazu von Danto angehalten, uns eine Galerie von Kunstwerken vorzustellen, die alle sinnlich identisch sind. Sie sind alle monochrom rot, tragen aber verschiedene Titel, die ihr Sujet andeuten. Obzwar alle rot, heißt eines „The Israelites Crossing the Red Sea“, ein anderes „The Legend of the True Cross“, ein anderes verbleibt schlicht „Untitled“.26 Die ästhetische Erfahrung, das ist Dantos Punkt dabei, lässt sich nicht mehr auf die Ontologie des Dings des Kunstwerks zurückführen, da das moderne Spiel von Ergon und Parergon das ergonale Werkverständnis überwunden hat. Kunst kann nicht mehr über sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften definiert werden. Der Unterschied zwischen Kunstwerken und bloßen Dingen ist kein Unterschied auf der Ebene der Wahrnehmung, sondern ein Unterschied auf der kognitiven Ebene. Das Wissen von der Struktur der jeweiligen Epoche und des Stils der Künstler*in wird Bestandteil ästhetischer Erfahrung.27 Der Unendlichkeit der ästhetischen Möglichkeiten in der Postmoderne korrespondiert also eine Steigerung der Intellektualität der Erfahrung.28 Danto argumentiert ferner, dass die Emanzipation vom Material zu einer selbstbezüglichen Bewegung in der Kunst führt. Kunst in der Postmoderne fragt immer: Bin ich Kunst? Leiste ich eine interessante Metapher? Es geht also nicht darum, ordinäre Konsumgüter aus dem Supermarkt zu nobilitieren, sondern die Kunst selbst fragt nach den Strukturen der Kunst. Bin ich Kunst oder Kitsch? Wer entscheidet das? Wer bestimmt über den Kanon? Bin ich eine autonome Expression freier 25 26 27 28

Danto, After the End of Art, S. 198. Danto, Transfiguration of the Commonplace, S. 1–3. Ebd., Kap. 7. Vgl. zu dieser nicht unproblematischen Kopplung von ästhetischer Erfahrung und Belesenheit: Steinbrenner, Kognitivismus in der Ästhetik.

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Weltaneignung oder folge ich nur den Erwartungen des Publikums? Da keine ästhetische Strategie mehr allein aus sich heraus ein klarer Fall von Kunst ist, beginnt die Selbstbefragung der Kunst. Kunst steckt in einer Krise, auf die sie reagiert, wie der Geist auf Krisen reagiert: Krisen erfordern konzeptionelle Praxis. Die konzeptionelle Praxis der Selbstthematisierung bleibt in der Kunst material gebunden. Mit der inhaltlichen Unendlichkeit der modernen Kunst, der eigentlich souveränen Kunst, korrespondiert eine Krise auch der Darstellung. Die von Hegel diagnostizierte thematische Krise der Kunst – alles ist potentiell Gegenstand poetischer Aneignung und damit ist nichts notwendig ihr Gegenstand – mündet in der Zeit bald nach Hegel in eine piktoriale Krise, die Krise der Darstellung selbst. Die Krise der Darstellung der „piktorialen Moderne“ lässt sich in Frieds kunsthistorischer Perspektive für die bildenden Künste paradigmatisch an Manet festmachen: Mit dem Impressionismus beginnt eine Entwicklung, bei der das Bild als Bild im Bild thematisch wird, indem es seine eigene Darstellungsbedingungen darstellt und so reflektiert. So zeigt es schließlich nicht mehr nur etwas Anderes, sondern mit der Materialität der Leinwand, einer nichtidealen Lichtführung oder der Flächigkeit und Sichtbarkeit der Farbe auch sich selbst. Damit drückt das Bild sich aus und sucht so neuartige Verbindungen zum Betrachter herzustellen.29 Der inhaltlichen Unbeschränktheit der modernen Kunst geht damit eine „Bedrohung der bildlichen Intelligibität und der Glaubwürdigkeit“ einher,30 denn die moderne, unselbstverständliche Kunst verlangt eine neue Art des sinnlichen Sich-Einlassens auf das Kunstwerk und die Bereitschaft, in einem Ringen um ein Verständnis des Kunstwerks die ästhetische Erfahrung zu machen. Moderne ästhetische Erfahrung ist keine Kontemplation schöner Gegenstände mehr, sondern kritischer Nachvollzug der Rationalität des Kunstwerks. Das Problem des Manierismus, das Hegel mit Blick auf die Frage des Inhalts identifiziert hat, stellt sich in 29 30

Vgl. hierzu die Interpretation der Bezüge dieser Verbindung: Fried, Manet’s Modernism. Pippin, Kunst als Philosophie, S. 102.

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der Moderne nun auch für die Mittel der Gestaltung. Moderne Kunst kann aufgrund ihrer thematischen und formalen Freiheit in der Pluralität der Kunstwelt Werke produzieren, die nur noch Kunstweltphänomene zeigen und in diesem Sinne selbstreferentiell werden. Reiner Selbstbezug verbleibt vom spekulativen Standpunkt der pluralistischen Ästhetik leer und gerät zum subjektiven Formalismus. Das Problem leerer Selbstreferentialität zeigt sich auch in Dantos theoretischen Reflexionen. Sie sind zwar hilfreich, um das Philosophischwerden der Kunst, mithin um die „ästhetische Logizität“ in der Signatur der Moderne31 zu beschreiben. Moderne Kunst wird konzeptionell und verhandelt im sinnlichen Material ihren eigenen Begriff. Wir folgen Danto darin, dies im Sinne von Hegels These der „Vergeistigung des Materials“ im Medium des Materials zu deuten. Die ästhetische Logizität der modernen Kunst besteht in der Selbstthematisierung in der sinnlichen Gestalt ihrer Form, aber auch nichtrepräsentationale, rein piktoriale Kunst zeigt mehr als nur sich selbst. Sie zeigt sich und die sozialen Bedingungen des Zeigens des Gezeigten, wenn sie auch die sozialen Bedingungen oft nur symbolisch darstellt.32 Das wird exemplarisch an Dantos Galerie ununterscheidbarer Kunstwerke deutlich, die er etwas „unbekümmert“ als kontrafaktisches Szenario einführt.33 Es gibt eine reale Entsprechung der Ga31 32

33

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 431. Dantos systematisches Interesse gilt dabei nicht den politisch-sozialen Bedingungen der Kunst, sondern der Frage, in welchem Verhältnis Theorie und ästhetische Wahrnehmung stehen, so: Wollheim, „Danto’s Gallery of Indiscernibles“, S. 37. Zu diesem Schluss kommt der Kunsthistoriker Michael Lüthy: „Aufgrund von Dantos werkhermeneutischer und kunsthistorischer Unbekümmertheit verkehrt sich das Versprechen seiner Kunstphilosophie, die historische und die systematische Perspektive auf die Kunst zu verschränken, in die Erneuerung des alten Mißtrauens zwischen Philosophie und Geschichte beziehungsweise zwischen Ästhetik und Kunstgeschichte. Zu deutlich ist der subordinierende Gestus, der die Kunst dem analytischen Argument bis zum Punkt unterwirft, wo sie darin ver-

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lerie Dantos: Yves Klein hat 1957 in einer Ausstellung seiner monochromen Bilder in Mailand das Blau, das ihn so berühmt machen wird, auf zwölf identischen Bildern gezeigt und damit einen Kunstskandal ausgelöst. Kleins Monochrome sollen nichts darstellen, es geht allein um die Intensität des Farbraums. Kleins Monochrome zeigen trotzdem mehr, als sie darstellen. Der entscheidende Punkt ist, dass Klein den zwölf Bildern nicht zwölf verschiedene Titel gab, wie es Danto imaginiert, sondern die zwölf Bilder mit unterschiedlichen Preisen versah.34 Die Frage der Kunst ist nicht einfach: Bin ich Kunst? Progressive Kunst fragt spezifischer und thematisiert neben der Unselbstverständlichkeit ihrer Darstellung auch ihren Zeitgeist und ihren Sitz im Leben. Bin ich Kunst unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit und des Kunstmarkts? Was ist Kunst, wenn alles reproduzierbar ist? Bin ich Kunst oder Kommerz? Was ist der Wert der Kunst? Was folgt aus dem sich verstärkenden Problem der Selbstbezüglichkeit der Gegenwartskunst, dessen erster Diagnostiker Hegel war, für den Begriff der Souveränität der modernen Kunst? Es gilt weiterhin, die Figur der Selbstthematisierung der Poesie als Moment der Thematisierung der Prosa zu denken, um einen kritischen Begriff der modernen Kunst zu entwicklen. Die hegelsche Ästhetik ist in ihren grundbegrifflichen Zügen weiterhin aktuell. Es gibt weiterhin eine ästhetische Differenz, die in den Kategorien von Prosa und Poesie philosophisch zu reflektieren ist. Zwar gibt es ästhetische Grenzbereiche wie Design und anspruchsvolle Unter-

34

schwindet wie in einer Box.“ Lüthy, „Das Ende wovon? Kunsthistorische Anmerkungen zu Dantos These vom Ende der Kunst“, S. 65. Klein hat diese Pointe seiner Ausstellung erst nachträglich platziert. Das Verhältnis von Kunst und Kapitalismuskritik ist m. E. in jedem Einzelfall durch die besondere Selbstinszenierung der Künstler*innen geprägt. Die Ebene der Selbstinszenierung ist zu reflektieren, damit die Kunst nicht in subordinierender Geste zum philosophischen Argument funktionalisiert wird, sondern als Gegenstand eigenen Rechts und eigener Genese erhalten bleibt. Vgl. zu Kleins retrograder Selbstinszenierung: Bois, „Yves Kleins Aktualität“, S. 109.

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haltung, aber sie nivellieren nicht die ästhetische Differenz, sondern erweitern den Bereich der expressiven Tätigkeit des Menschen. Die Differenz von Poesie und Kommerz stellt eine wesentliche Frage an jede ästhetische Produktion: Will sie marktförmige Erwartungen bedienen oder die Arbeit am eigenen poetischen Ausdruck pflegen? Die Souveränität der Kunst wird in der Zeit nach Hegel also mit einer Frage konfrontiert, die Hegel nicht explizit thematisiert: Die Frage steht zur Diskussion, ob Kunst, obzwar von der dienenden Funktion für die Religion emanzipiert, mit dem Markt einer neuen Form der Heteronomie unterliegt. Die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie der Kunst und ihrer Marktförmigkeit ist zwar historisch nachhegelianisch, aber beileibe nicht gegenhegelianisch. Im Gegenteil, die hegelsche Diagnose der modernen Kunst als krisenhaft selbstbegründete hat sich für unsere Gegenwart verschärft. Einem Kapitalismus, der dem Profit alles unterordnet, ist auch die Sprache der Kunst nur eine Ware, die sich auf dem Markt behaupten muss. Die Herrschaft der Politik droht der Macht der Ökonomie zu unterliegen, seit die technischen Bedingungen der Subsistenz und der Produktion der Warenwelt kaum noch innere Grenzen kennen. Aber was folgt daraus? Ist im Konsumliberalismus die Freiheit des Wortes und der Kunst – obzwar konstitutionell gewährleistet – um den Preis einer weitgehenden Machtlosigkeit von Kunst und Philosophie etabliert? Kommt die Liberalität der freien Expression – Kunst und Wissenschaft dürfen alles und müssen nichts – einer Entwertung der Sprache gleich, wird ihr keine wirklich systemverändernde Potentialität mehr zugeschrieben? Welche Rolle bleibt dann der Poesie, will sie nicht als Bebilderung des Konsumspektakels enden? Welchen Wert hat die Fiktion für unsere Realität? Was ist kulturell wertvoller, die prosaische Gewissheit der Produktion und Reproduktion der Warenmechanik oder das Unbestimmte und Offene der ästhetischen Rationalität?35 35

Vgl. als eine Ästhetik des Postkommunismus, die die Entwertung der Sprache nach dem Ende des Kommunismus auf dem freien Markt zeichnet: Grois, Das kommunistische Postskriptum.

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Verstehen wir Hegels Ästhetik im Sinne einer agonal gedachten Versöhnung von Prosa und Poesie, enthält sie durchaus Aufschlussreiches in dieser Hinsicht. Eine Gesellschaft, die aufhört, sich die Wertfrage der Kunst zu stellen, verliert etwas Lebenswichtiges aus dem Blick: die Differenz von Realität und symbolisch wie sprachlich vermittelter Vorstellungswelt. Sprache dient ihr dann nur noch als bloße Bezeichnung und folgt einer Mechanik der effizienten Benennung. Solche Sprache ist Mittel der Informationsübertragung, kein kommunikatives Medium der Weltdeutung mehr. Eine Sprache, die nur noch bezeichnet, keinen Raum mehr für Deutung und Transformation der Welt in der Differenz von Realität und Vorstellung eröffnet, ist tote, wiewohl vielfach gesprochene Sprache. Diesen Zusammenhang formuliert Lukács mit der These der „Unmenschlichkeit und Kulturlosigkeit des Kapitalismus“36 im direkten Anschluss an Hegel, lange bevor der neoliberale Kapitalismus begann, die Algorithmisierung der Sprache voranzutreiben. Die tote Sprache des Kommerz hinterlässt bei den Sprechenden das taube Gefühl der sozialen Wirkungslosigkeit und Ohnmacht. Hegels Ästhetik erlaubt es, so Lukács, die wesentliche Aporie des Kulturkapitalismus zu fassen: Die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte realisiert im Kontext des prosaischen Texts der bürgerlichen, arbeitsteiligen Existenz eine enorme Freisetzung der Produktivität und damit potentieller Expressivität, weshalb Hegel mit Blick auf das Ganze jeden romantischen Miserabilismus ablehnt. Gleichzeitig aber bringt genau diese Entwicklung einen Menschentypus hervor, der das poetisch Komplexe, Tiefsinnige, Unbestimmte ästhetischer Bedeutung negiert. „Dieses Erkaufen des Fortschritts durch diese Erniedrigung“ der expressiv-geistigen Fähigkeiten des Menschen, so Lukács, „ist der reale Kern der ‚Tragödie im Sittlichen‘.“37 Die konzeptionelle Stärke Hegels besteht darin, diesen inneren Widerspruch des Kulturkapitalismus nicht zu pathologisieren und ihm keine romantisierende Vorstellung ungeteilter, „natürlicher“ 36 37

Lukács, Der junge Hegel, Bd. 2, S. 637. Ebd., Bd. 2, S. 635.

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Produktivkräfte vorzuhalten. Die von Hegel anvisierte Versöhnung von Prosa und Poesie sucht nicht das Nebeneinander zweier Wertsphären, sondern ihre konfliktuöse Dimension. Nicht der heldenhafte Kampf der Kunst gegen ihre „Verstrickung“38 ist das Motto seiner spekulativen Ästhetik. Es geht darum, die Differenz von sprachlich vermittelter Anschauung und Realität als eine hervorzubringende Differenz zu begreifen und aus den Bedingungen ihrer Hervorbringung ethische Aussagen mit Blick auf Wert und Spezifik der Kunst in der arbeitsteiligen Existenz des Menschen abzuleiten. Sprache und Welt sind nicht unmittelbar different, sondern werden es für den Geist erst durch Auseinandersetzung mit und Entzweiung von der Welt. Kunst eröffnet durch die poetische Verdichtung prosaischen Materials Räume der Ambivalenz und der Unbestimmtheit und opponiert so gegen die Tendenz der Prosa zu einer dogmatischen Praxis der festen Benennung. Kunst realisiert damit eine „Veränderung unserer Praktiken, unseres Lebens“.39 Das lässt sich mit Rekurs auf den Begriff der Entfremdung fassen: Entfremdung ist eine konstitutive Bedingung des hegelschen Bildungsbegriffs und meint das Resultat geistiger Arbeit. Während in der rousseauisch-marxistischen Tradition der Begriff der Entfremdung den Effekt der Arbeitsteilung entlang der kapitalistischen Differenz von Kapital und Arbeit meint, ist Entfremdung bei Hegel wesentliches Moment prozessualer Subjektivität: das Für-AndereSein, das Sich-zum-Dinge-machen, das Entäußern des Geistes. Ohne Entfremdung gibt es keine Subjektivität im emphatischen Sinne. Der Vorteil des hegelschen Entfremdungsbegriffs ist, dass er der Verstrickung der Kunst im Kulturkapitalismus nicht defätistisch begegnet, indem die Aristokratie der Hochkultur sich strikt gegen ihre Marktteilnahme stilisiert und rein gewaschen wird, um dann über ihren inneren Schmutz zu klagen. Nur diese Hochkunst gebär38 39

„Verstrickung“, so Adorno, „ist der Kern aller bis heute hergestellten Identität“. Adorno, Negative Dialektik, S. 304. Kunst hat somit eine Kraft und Wirkung über Kunst hinaus, wie es Menke mit Blick auf Baumgarten und Nietzsche fasst. Menke, Kraft, S. 108.

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de sich Adorno zufolge angesichts der Kulturlosigkeit und Unvernunft des Kapitalismus als „Statthalter“ des wahren Fortschritts.40 „Weil es in der Welt noch keinen Fortschritt gibt, gibt es einen in der Kunst. ‚Il faut continue.‘ Freilich bleibt Kunst verstrickt in das, was Hegel Weltgeist heißt, und darum mitschuldig, aber dieser Schuld könnte sie entgehen nur, indem sie sich abschaffte, und damit leistete sie erst recht der sprachlosen Herrschaft Vorschub und wiche der Barbarei.“41

Der Kunst bleibt in dieser ausweglosen Lage nur eine Rückkehr zur Mimesis, die Adorno zum Widerstand gegen das Bestehende ausdeutet. In der Angleichung an das Bestehende opponiert Kunst gegen das Bestehende, weil sie darstellend sichtbar macht, was an diesem fehlt. Die „ästhetische Rationalität will wiedergutmachen, was die naturbeherrschende draußen angerichtet hat.“42 Diesem philosophischen Defätismus, der Existenz und Mitschuld gleichsetzt, steht ein ästhetisches Programm entgegen, das Hegel als „objektiven Humor“ bezeichnet. Hegel beschreibt die romantische Innigkeit als eine „Weltanschauung“, die nicht mehr an das Substantielle ihrer Sittlichkeit glaubt: Uns Modernen ergeht es, wie Hegel nicht ohne Ironie festhält, mit Blick auf fixe ethische Grundlagen unserer Lebenswelt so wie einem Protestanten, der „die Maria darstellt, [es ist] damit kein wahrhafter Ernst“ (GW 28.1, S. 435). Die Weltanschauung des liberalen Kulturkapitalismus ist der Relativismus und Nihilismus, seine ästhetische Entsprechung ist die Ironie. Diesen Zeitgeist fasst Hegel in ästhetischer Hinsicht so: „Kunst in solchem Fall ist gegen den Stoff gleichgültig, Kunst des Scheines, welcher Gegenstand auch behandelt werde.[…] Der Künstler ist gleichsam Dramatiker, der fremde Gestalten auftreten läßt, in sie sein Genie legt, sie zum Organ macht, so aber, daß sie ihm zugleich fremde sind. Dies dann also ist das moderne Verhältnis überhaupt, abstrakte Geschicklichkeit, ungebunden in betreff des Stoffs“ (ebd., S. 444) 40 41 42

Adorno, „Der Artist als Statthalter“, S. 124. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 310. Ebd., S. 430.

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Die Errungenschaft der abstrakten Geschicklichkeit verführt den ironischen Zeitgeist dazu, allen Prämissen und Prinzipien der Sittlichkeit zu misstrauen und mittels vordergründiger Ironie das Dargestellte als bloßen Schein zu entlarven. Statt die Idee der Flüssigkeit der ethischen Substanz zu entwickeln, hält die relativistische Ironie jede Begründung von Ethik für bodenlos. Auch Hegel bejaht die Freiheit der modernen Unselbstverstständlichkeit der Substanz, geht es ihm doch um die Versöhnung von reflexiver Subjektivität und ethischer Substanz. Der relativistischen Ironie stellt er aber eine Auffassung entgegen, in der der „Humor zur geistreichen Form [erblüht], zum Talent des Auszeichnens von höchst individuellen Gestalten, von den feinsten und tiefsten Empfindungen und philosophisch gedachten Gedanken und originellen Charakteren, Situationen und Schicksalen.“43

Die Kunst der entzweiten Welt der Moderne, der Welt, in der Subjekt und Substanz nicht mehr unmittelbar identisch sind, ist eine Kunst, die das Wahre in den individuellen Gestalten menschlicher Weltaneignung aufnimmt und poetisiert. Die humoristische Verschränkung von Subjektivität und Objektivität im Namen eines „menschlich“ Poetischen reagiert auf die transzendentale Obdachlosigkeit der Moderne nicht mit der hilflosen Geste des Relativismus und Eskapismus. Der objektive Humor entwirft stattdessen eine Welt, in der die Protagonist*innen mit Gespür für ihre Psychologie und für die Objekte ihrer Weltaneignung aus einer Haltung zur Welt heraus gezeichnet werden, die der Vielfalt der Welt mit Interesse begegnet und sich von ihr überraschen lässt. Der objektive Humor meint die Erzählfreude und Gestaltungslust künstlerischer Produktion und begreift die Krise der Kunst als Moment ihrer Plastizität. Der objektive Humor bezieht sich also nicht auf eine 43

Hegel formuliert diesen Gedanken zum objektiven Humor anlässlich einer überwiegend negativen Sammelrezension der Schriften Hamanns in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik im Jahr 1828. Für Hegel exemplifiziert Gottlieb von Hippel den objektiven Humor (TWA 11, S. 336).

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ästhetische Strategie im engeren Sinne einer „Werkform“, sondern beschreibt eine humanistische Haltung zur Welt, die um die historische Wandelbarkeit ethischer Substanz weiß, ohne sich auf einen Nihilismus zu versteifen, für den Mitmenschlichkeit und kommunikative Intersubjektivität nur versteckte strategische Handlungsformen sind. Dem objektiven Humor geht es darum, das Menschliche hinter der Person, jenseits der Prosa des Systems der Bedürfnisse zu zeigen. Der menschliche Blick der Kunst menschelt nicht und wird auch nicht sentimental, sondern sucht hinter der „Charaktermaske des Bestehenden“44 den Menschen in unserer Idealität und Größe, unserer tragischen Sprachlosigkeit, unserer Gewalt und Herrschaftssucht epischen Ausmaßes, unserer Liebe, Offenheit und lyrischen Zärtlichkeit und unserer komischen Absurdität. Die Klassik musste im Kampfe mit der mythischen ersten Natur die menschliche Gestalt idealisieren, um sich zu bestätigen. Der moderne Mensch weiß um das Menschliche in all unserer Vielfalt und Negativität. Wir brauchen uns nicht mehr im Sinne des strengen Stils zu idealisieren, um uns zu erkennen. Der objektive Humor stellt somit keine „letzte Synthesis“ der Ästhetik dar.45 Anders als die ästhetischen Strategien der Satire, Parodie und Komödie, die Ausdruck des „subjektiven Humors“ sind, meint die Objektivität des Humors den Anspruch der Kunst auf Aneignung und Teilhabe an der Praxis der Bildung des Geistes. Objektiver Humor sucht im Streit von prosaischer Weltanschauung und poetischer Vorstellungsweise nach neuen, unverbrauchten Ausdrücken dieses Widerspruchs und hält ihn so realiter am Leben. Objektiv ist die freie Phantasie ästhetischer Produktion dann, wenn sie sich nicht mehr als Kontemplation, sondern als Teilhabe, das heißt Spekulation begreift. Es geht dabei um die Fluidität und Wandelbarkeit ethischer Substanz, die wesentlich durch Kunst gewonnen wird. Es sind ästhetische Teilhabe und expressive Aneignung, die 44 45

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 435. Vgl. zu einer gegenläufigen Deutung, die im Humor die letzte Verfallsstufe der modernen Kunst sieht: Henrich, „Zerfall und Zukunft“, S. 82– 108.

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den undialektischen Gegensatz von objektiver Prosa und subjektiver Poesie so vermitteln, dass er als Widerspruch von Prosa und Poesie Grund vitaler Bildung und Kultur ist. Humorvoll meint in dieser Perspektive, dass kritische Distanz zur ethischen Substanz eine Bedingung der Teilnahme ist. Das bedeutet in erster Linie, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Objektiv ist an der Haltung des objektiven Humors, dass er die Fluidität der ethischen Substanz als ästhetische Aufgabe der Gestaltung begreift. Kunst ist objektiv relevant, weil die Prosa der bürgerlichen Existenz ohne die freie Aneignung durch die Kunst Gefahr läuft, zur einzigen Perspektive auf die soziale Objektivität des Geistes zu werden und so jede Ambivalenz und Unbestimmtheit zu tilgen. Der objektive Anspruch des Humors bezieht sich auf das Realwerden der expressiven Vermögen des Menschen. Jede menschliche Expressivität ist wertvoll, jede*r von uns ist Künstler*in. Kunst ist Plastik, „soziale Plastik“.46 Der poetische Pluralismus der Vielfalt geistiger Expressivität ist folglich eine zu gestaltende Aufgabe, kein einfach Gegebenes. Die ethische Vielfalt ist eine fragile Konstellation, da sie nicht in einem konfliktlosen Nebeneinander der Lebensformen, sondern in ihrem konfliktuösen Miteinander besteht. Kunst als Raum pluraler Expressivität anti-repräsentalistisch zu deuten heißt also auch, Freiheit nicht als prosaisch-instrumentelle Durchsetzung eigener Interessen zu verstehen, sondern Freiheit als eine Selbstverwirklichung zu deuten, die allein intersubjektiv real wird. Diese subjektive, produktionsästhetische Dimension der modernen Kunst lässt sich im Anschluss an Hegel auch mit der objektiven Seite ästhetischer Produktivität und Rezeption verbinden. Die Akteure der kulturellen Archive und Bildungsinstitutionen – die Schulen, Museen, Universitäten, Kulturvereine und Stiftungen der öffentlichen Hand – sind kein kulturschicker Luxus, sondern ein lebenswichtiger Raum der gesellschaftlichen Kommunikation. Deshalb steht bürgerlicher Kulturförderung jeder Dünkel schlecht zu 46

Dieses ästhetische Programm formuliert Beuys, Die Revolution sind wir.

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Gesicht. Entfremdung als Kulturgut, als produktive Entzweiung, entsteht nur in inklusiven, offenen sozialen Räumen. Das zeigt die immanente Kritik der Kunstphilosophie Hegels im Spannungsfeld ihres systematischen Anspruchs und der mitunter engen Wirklichkeit ihres Stilideals. Kunst ist zentraler Raum der menschlichen Weltaneignung und trotzdem notwendig fragil. Lust an Entfremdung und riskanten Pointen, humorvolle Distanz zu den eigenen Positionen und urteilsenthaltende Neugierde – solche Tugenden sind auch in der pluralen Gegenwart nicht einfach gegeben, sondern bedürfen der Bildung. Es bleiben bürgerliche Tugenden – und dann auch wieder nicht: „Der Humor bleibt stets irgendwie bürgerlich, obwohl der echte Bürger unfähig ist, ihn zu verstehen. […] In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, ‚als besäße man nicht‘, zu verzichten, als sei es kein Verzicht – all diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig“.47

47

Hesse, Der Steppenwolf , S. 46 f.

Teil II

Religion

Einleitung Die hegelsche Lehre vom absoluten Geist bietet mit der Religion einen Gegenstand für die philosophische Reflexion, an dem sich wie an kaum einem zweiten die Geister scheiden. In der Rezeption der hegelschen Philosophie hat dies zu einer Art Schisma, der Kirchenspaltung in links und rechts, geführt. Seit Feuerbach, Bauer und Marx gilt in der materialistischen Linie die Emanzipation von der Religion als notwendige Bedingung der Emanzipation des Menschen. Diese Position ist in der Kritischen Theorie im Anschluss an Hegel nach wie vor virulent. So diagnostiziert Habermas eine nachmetaphysische Gegenwart und fasst die schwindende kognitive Kraft überlieferter Offenbarungsreligion als Resultat der modernen Entzauberung der Welt.1 Die rechtshegelianische Linie hält hingegen an Hegels Projekt der Versöhnung von Religion und Moderne, Glauben und Wissen, Kirche und Staat fest. Der Gegensatz von links- und rechtshegelianischen Positionen ist deshalb oft als Gegensatz von progressiv und reaktionär betrachtet worden. Wir werden hier den Gedanken verfolgen, sie als verschiedene Auffassung dessen zu deuten, was metaphysische Progressivität meinen könnte. Eine reaktionäre Restauration der Autorität offenbarungsgestützter Normativität kann sich, wie wir im Folgenden sehen werden, nur schlecht auf Hegel stützen. Hegels Projekt der Versöhnung von Glauben und Wissen ist, so die leitende These, ein Projekt progressiver Metaphysik, die den gesellschaftlichen und politischen Charakter ihres Gegenstandes hervorhebt. 1

Der späte Habermas revidiert die These von der nachmetayphysischen Moderne zugunsten einer Theorie der Postsäkularität, nach der positive Religionen unter einem rationalistischen kognitiven Vorbehalt stehen, aber auch zur Vielfalt weltanschaulicher Positionen gehören. Vgl. die Diskussion zwischen Taylor in Säkulares Zeitalter und Habermas in „Religion in der Öffentlichkeit der ‚postsäkularen‘ Gesellschaft“.

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Religion

Hegels spekulative Religionsphilosophie widerspricht der These der postmetaphysischen Moderne. Hegel versteht unter Moderne nicht die Säkularisierung im Sinne eines Verschwindens des religiösen Lebens. Wir werden deshalb einen Begriff von Säkularisierung entwickeln, der darunter die Transformation des religiösen Lebens in der sich wandelnden ethischen Landschaft der säkularen Moderne begreift.2 Wesentliches Moment der veränderten modernen ethischen Landschaft ist die Pluralität der Lebensformen samt der Pluralität der sie begründenden ethischen Einstellungen und Werte.3 Es ist dazu m. E. produktiv, Hegels These vom Ende der Kunst in der modernen Welt als Paradigma des religiösen Lebens in der Moderne zu nutzen. Kunst nach dem Ende der Kunst ist souveräne Kunst im Spannungsfeld ihres gesellschaftlichen Charakters und der freien poetischen Aneignung der Nichtkunst.4 Moderne Religion ist Religion nach dem Ende der Religion. Sie ist nach der Seite ihrer höchsten, das heißt kulturstiftenden Bestimmung ein Vergangenes. Sowenig wie wir Hegels Theorie der Kunst nach dem Ende der Kunst als Verfallstheorem der nachklassischen Kunst deuten sollten, sollten wir das Ende der Religion weder als Verfall noch als modernistische Emanzipationsgeschichte deuten, sondern als einen Pluralismus religiösen und nichtreligiösen Lebens verstehen. Können und wollen die Religionsgemeinschaften den Wandel ihrer sozialen Stellung, ihr Ende, ihrerseits als Möglichkeit ihrer Befreiung und Autonomie gestalten? Es wird darum gehen, mit philosophischen Mitteln Kriterien der Modernisierung des religiösen Lebens zu reflektieren. 2 3

4

Vgl.: Taylor, Säkulares Zeitalter, Teil IV. „Lebensformen“ meinen hier, darin Rahel Jaeggi folgend, individuelle und kollektive „Zusammenhänge von Praktiken“ der Selbstgestaltung und Weltaneignung im sozialen Kontext. Vgl.: Jaeggi, Kritik von Lebensformen, S. 118. Siehe den vorangehenden Teil zur Kunst, der gezeigt hat, dass Hegel die These Adornos vom Doppelcharakter der Kunst als „fait social“ und „autonom“ teilt, aber keine negativistischen Konsequenzen daraus zieht.

Einleitung

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Da Hegels spekulative Religionsphilosophie sich der positiven Religion gegenüber sowohl affirmativ als auch kritisch verhält, verfährt sie methodisch komplex. Der methodische Hintergrund, der dabei artikuliert werden muss, besteht darin, das Verhältnis von Kunst, Religion und Philosophie nicht als „indifferente Harmonie“,5 sondern als ein Paradigma moderner Streitkultur zu verstehen. Hegel verwirft nämlich die klassische Metaphysik der rationalen Theologie nicht wie Kant als unsinnig, sondern unternimmt den Versuch, rationale Theologie und Sozialphilosophie zu verbinden. Hegels Begriff der Religionsphilosophie betont sowohl den ersten Teils des Begriffs Religionsphilosophie und behandelt z. B. mit der Andacht des religiösen Subjekts und dem intersubjektiven Kultus Momente des religiösen Lebens. Das liefert so keine Metaphysik des Absoluten, sondern eine religionssoziologische Fragerichtung. Die relevanten Größen bilden hier die Praktiken religiösen Lebens. Wir werden also von einer Praxeologie des Absoluten sprechen.6 Andererseits betont Hegels spekulative Religionsphilosophie den philosophischen Anspruch der kritischen Aneignung der theologia naturalis, die beispielsweise im Rahmen der wolffschen Philosophie die Natur Gottes zu ihrem Inhalt hatte. Der philosophischsokratischen Subjektivität ist Gott eine fundamentale Frage und Problematik. Diese zweifache Bestimmung des Begriffs der Religionsphilosophie ist spannungsreich, da von der praxeologischen Warte aus die theologia naturalis ihr Recht verloren hat, die natürliche Idee Gottes zu begründen, da sie nach der fundamentalen Kritik Kants die Natur Gottes ohnehin nicht erkennen kann. Hegel steht auf dem Standpunkt, „daß man die theologia naturalis als eine Erkentniß von Gott selbst genommen hat: so für sich ist sie einseitig, sie muß für sich, zum Subjektiven führen“ (VR 1, S. 12). Die zwei Denkrichtungen über Gott – die metaphysische und die praxeologische – konstituieren in dieser Spannung die hegel5 6

Jaeschke, Vernunft in der Religion, S. 178. Um diesen praktischen Aspekt herauszuarbeiten, werden wir daher Hegels Begriff der Religion mit Durkheims Paradigma religiösen Lebens zusammenführen. Durkheim, Elementare Formen.

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Religion

sche Spekulation. Ihr gilt es im Folgenden nachzugehen und sie dabei in der Idee einer Kritischen Theorie des Absoluten zusammenzuführen.7 Hegels Religionsphilosophie zeigt den Inhalt der Religion als vernünftig auf, kritisiert aber die religiöse Form, diesen Inhalt zu realisieren, als problematisch. Hegels Religionsphilosophie als immanente Kritik zu deuten, führt damit unmittelbar zu einer Kernfrage kritischer Theoriebildung. Was sind die Bedingungen ihrer eigenen Wirklichkeit? Was ist das emanzipative Potential der Kritischen Theorie? Kann sie, um es mit Habermas zu sagen, ein Bewusstsein schaffen von dem, was fehlt?8 Was leistet philosophische Kritik mit Blick auf die Stabilität und Immunität problematischer sozialer Vorstellungs- und Verhaltensschemata? Um die doppelte Aufgabenstellung einer Kritischen Theorie der Religion noch einmal anders zu perspektivieren: Es muss ein Begriff des religiösen Lebens entwickelt werden, der einerseits die Kritik des Religiösen erlaubt. Eine unkritische Beziehung auf das Religiöse würde der Struktur philosophischer Subjektivität zuwiderlaufen. Gleichzeitig muss der Begriff des religiösen Lebens auch das Selbstverständnis dieser Praxis rekonstruieren. Wenn Religionskritik ihren säkularen, das heißt eben partikularen Maßstab zum Kriterium ihrer Kritik macht, ist sie von Diffamierung letztlich nicht unterscheidbar. In in diesem Sinne meint Spekulation also die Doppelbewegung einer Kritischen Theorie, die Metaphysik und Praxeologie verbindet. Es gilt so, auf die problematischen, repressiven Dimensionen religiösen Lebens zu reflektieren, ohne dabei die Gotteshypothese zum alleinigen Probierstein eines aufgeklärten, säkularen Welt- und Selbstverständnisses zu verklären. 7

8

In diesem Sinne muss eine jede aktualisierende Form der Rekonstruktion des hegelschen Textes – sei sie direkt an seinen eigenen methodischen Standards orientiert oder verfahre sie indirekt, also ohne die operativen Anweisungen der Logik zu nutzen – sich tatsächlich an „nachmetaphysischen Rationalitätsstandards“ orientieren. Siehe: Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 13. Vgl.: Habermas, „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“.

Einleitung

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Die Kritische Theorie der Religion im Anschluss an Hegel geht von der These der Ambivalenz des Religiösen aus. Religiöses Leben kann selbst Formen sozialer Herrschaft annehmen oder sie durch Indoktrination stützen. Sie kann aber auch Versöhnungssinn und gemeinschaftlich-solidarische Praxis stärken. Sie entzieht sich so einem einfachen Urteil und zeigt erst in dieser Problematik ihren philosophischen Charakter. Diese Ambivalenz ist in ihren begrifflichen Konsequenzen zu reflektieren und auszuhalten. Um die Ambivalenz des religiösen Lebens philosophisch zu reflektieren, ist es zentral, das religiöse Leben als eine gesellschaftliche Kategorie zu begreifen, die sowohl das Selbstverständnis gläubiger Menschen trifft, als auch erlaubt, eine kritische Perspektive auf die dunklen Seiten religiösen Lebens zu werfen. Die kritische Apologie Hegels lässt sich vielleicht am besten greifen, wenn wir sie auf Kants systematische Position zurückbeziehen. Kant unternimmt den Versuch, Religion innerhalb der transzendentalen Grenzen der Vernunft einer Kritik zu unterziehen, um vernünftigen Glauben auf diese Weise zu rechtfertigen. Im ersten Schritt wird die Seite der rationalen Theologie entwickelt, die Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion aus den 1820er Jahren erarbeitet. Hegel wendet dabei seinen Expressivismus – „der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist“ (GW 20, § 564) – auf die philosophische Frage der Natur Gottes an. Das steht im Kontrast zu Kants Kritik an Offenbarungstheologie, wie sie die erste Kritik und die Schrift zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft artikuliert. Im darauffolgenden Teil wird mit der Kategorie des religiösen Lebens die praxeologisch-soziologische Dimension untersucht. Hegel historisiert die ontotheologischen Metaphysik. Diesen Gedanken werden wir aufnehmen und darzustellen haben. Im Anschluss an diesen eher rekonstruktiven Gedankengang stellt sich uns dann die Frage nach den systematischen Potentialen einer Aktualisierung dieses Grundgedankens.

4. Expressive Religionsphilosophie Der Versuch einer Erkenntnis Gottes auf theoretischem Wege führt für Kant nur zu schlechter, dogmatischer Spekulation. In der „transzendentalen Dialektik“ der KrV hat er den „spekulativen“ Gottesbeweisen der theoretischen Philosophie jeden methodischen Grund entzogen. Es gehört zu den konstitutiven Bedingungen menschlicher Vernunft, theoretisches Wissen nur aus dem Zusammenspiel von Anschauung und Verstand gewinnen zu können. Der Kern von Kants Metaphysikkritik besteht in einer engen Bindung von Wissen an Sinnlichkeit. Kants Lehre von Raum und Zeit, wie er sie in der transzendentalen Dialektik als Formen der Anschauung grundlegt, in denen allein den endlichen Menschen etwas „gegeben“ sein kann, kennt zwar die Perspektive einer „intellektuellen Anschauung“, versteht diese aber als Auszeichnung des nichtmenschlichen, „unendlichen Intellekts“. Die Möglichkeit einer Erkenntnis ohne Anschauung, intellektuelle Anschauung, definiert den Standpunkt Gottes. Anschauung und Begriff sind die analytischen Momente der menschlichen Erkenntnis, die nur in Kooperation Erkenntnis bringen. Kant etabliert derart die Prämisse, der zufolge das Absolute nicht Gegenstand theoretischer Bezugnahme sein kann. Wir können also als endliche, auf Sinnlichkeit angewiesene Wesen die Natur Gottes nicht erkennen. Jeder Schritt über die Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft hinaus bedeutet, so können wir diesen Punkt vielleicht am besten fassen, eine Verdinglichung des Absoluten. Für die theoretische Vernunft ist deshalb die Vernunftidee Gottes nur regulativen, niemals konstitutiven Gebrauchs.1 Wir können nach Kant Gottesbegriffe nur analysieren und sie etwa als anthropomorphistisch zurückweisen, aber keinen positiven Begriff geben. Die transzendentale Vernunftlehre begründet die Lehre der Unerkennbarkeit Got1

Kant, KrV, B 670–696.

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tes als eines Noumenons, eines Dinges an sich, das sich der Welt der Erscheinungen entzieht. Der Gott der Vernunft ist transzendente Realität, Realität an sich, ultimative Realität, nicht Erscheinung. Gott ist der Inbegriff der Erkennbarkeit der Welt, wenn auch selbst nicht erkennbar. Der transzendental argumentierende Kant zieht so eine manifeste Grenze zwischen Glauben und Wissen. Der kantische Kritizismus artikuliert derart eine geradezu existentielle Fremdheit zwischen Religion und Philosophie. Das kritische Geschäft der theoretischen Philosophie bezieht sich allein auf die kognitiven Gehalte von Anschauungen, Vorstellungen und Begriffen. Die symbolischnarrativen Aspekte religiösen Lebens können Gegenstand von Theologie und einer sozialen Religionsphilosophie sein, betreffen damit nach Kant aber keine Fragen von philosophischer Wahrheit, sondern nur von Richtigkeit. Kant konzediert zwar der Offenbarungsreligion die nützliche Funktion, Menschen dazu zu motivieren, der moralischen Pflicht des kategorischen Imperatives gemäß zu handeln. Diese extrinsische Motivation2 steht aber in keinem Verhältnis zu den Kosten, die Kant als „Fronglauben, Afterdienst, Fetischismus und Fanatismus, Heuchelei und Pfaffenherrschaft“ bezeichnet,3 die letztlich nur einer schriftgelehrigen, esoterischen Theologenelite dient. Jede Form von Theokratie ist unsittlich, weil sie die freie „Denkungsart“, in der alle, unabhängig von ihrem Zugang zum theologischen Diskurs, vernünftige Deliberation über das moralische Gesetze vollziehen sollten, unterminiert. Kants antiklerikale Position nimmt vom Standpunkt der „Verbindung der Menschen nach der moralischgesetzgebenden Vernunft“4 eine Zukunft ins Visier, in der die 2

3 4

Ob es innerhalb des kantischen Systems überhaupt kohärent ist, eine solche Begründung zu geben, diskutiert Longuesse sehr aufschlussreich: Der kategorische Imperativ sollte eigentlicher keiner extrinsischen Motivation bedürftig sein, um kategorische Geltung zu beanspruchen. Vgl.: Longuenesse, Kant on the Human Standpoint, Kap. 9. Kant, Religionsschrift, B 225–296. Ebd., B 130.

4. Expressive Religionsphilosophie

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Moral ohne Trinität, ohne Dogmen, ohne klerikale Herrschaft in ihrer Gültigkeit allen offen stehe. Vernunftreligion ist nach Kant eine Religion ohne eigenständige, also schriftgelehrte Theologie. Die Offenbarung muss restlos in die säkulare Sprache der reinen Vernunft übersetzt werden, so „daß sie mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt.“5 Kants so umrissene sogenannte Ethikotheologie erhebt damit die Vernunft zum alleinigen Maßstab, nach dem sich alle Hermeneutik des Kirchenglaubens zu richten habe. Das Ziel seiner Religionsphilosophie ist es, „nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, […] vorstellig [zu] machen.“6 Er macht die „moralische Besserung des Menschen, den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion, zum oberste[n] Prinzip aller Schriftauslegung.“7 Kurz gesagt, praktische Vernunft besteht in der Befolgung des kategorischen Imperatives. Und positive Religion ist solange begründet, wie sie dessen Befolgung Vorschub leistet, fordert sie mehr – etwa vorbehaltlose Treue klerikalen Institutionen gegenüber oder andere Fetischismen – verlässt sie die legitimierenden Rahmen der bloßen Vernunft. Hegel teilt nun mit Kant die Überzeugung, dass das Absolute nicht durch sinnliche Beobachtung erkannt werden kann. Der Standpunkt des Beobachtens ist nicht der Standpunkt einer spekulativen Erkenntnis des Absoluten. Anders als Kant zieht Hegel aber daraus den Schluss, dass die Erkenntnis des Absoluten allein auf dem Wege des Denkens möglich ist. „Denn Denken ist die Quelle, der Boden, auf dem das Allgemeine überhaupt, Gott ist; das Allgemeine ist im Denken, nur im Denken, und für das Denken“ (VR 1, S. 216). Dahinter steht die methodische Reflexion, dass Beobachtung eine Form der Bezugnahme ist, die in einem äußerlichen Verhältnis zur Sache selbst verbleibt. Wir müssen im Sinne 5 6 7

Ebd., B 158. Kant, Streit der Fakultäten, A XI. Kant, Religionsschrift, B 116.

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einer kritischen Spekulation daher das „abstrakte Verhältnis des Beobachtens aufgeben“ (VR 1, S. 218). Eine innere Bezugnahme auf die Sache ist spekulativer, nicht empirischer Natur. Bei aller Nähe, gar Liebe zum Begriff entwickelt Hegel aber keine rationalistische Theorie des Absoluten. Das Göttliche ist nicht der alles haltende Grund, nicht die „metaphysische Leere des Inbegriffs aller Realität“ (GW 12, S. 192), sondern Ungrund. „Das Wesen, indem es sich als Grund bestimmt, bestimmt sich als das Nichtbestimmte, und nur das Aufheben seines Bestimmtseyns ist sein Bestimmen“ (GW 11, S. 291). Der letzte Grund, so heißt es in der Logik, „ist das Wesen, das in seiner Negativität mit sich identisch ist“ (ebd., S. 294). Hegel entwickelt einen anti-fundamentalistischen Begriff des letzten Grundes und setzt im Rahmen einer expressiven Theologie Vertrauen und Glaube in die Fähigkeit der kommunikativen Selbstbegründung des Geistes im Rahmen der fundamentalen Grundlosigkeit allen Seins. Der Geist braucht keinen letzten Grund, der alles hält, sondern kann sich selbst im Anderen begründen. Der spekulative Begriff des logischen Grundes ist nicht fundamentalistisch, sondern holistisch, strikt immanent und expressiv. Vor dem Hintergrund der kantischen Religionsphilosophie mag Hegels spekulative Religionsphilosophie nun wie ein Rückfall erscheinen, schreibt sie sich doch als „Vermittlungswissenschaft“8 zwischen dem religiösen Bewusstsein und der philosophischen Behandlung der Religion in die Tradition der Offenbarungstheologie ein. Hegels Religionsphilosophie ist tatsächlich eine Philosophie der Offenbarung: „Gott ist nicht zu fassen [als einer], der in sich verschlossen ist, der nicht erscheint, [sondern] als Geist“ (VR 1, S. 229). Spekulative Religionsphilosophie nach Hegel steht im Gegensatz zur Vernunftreligion. Vernunftreligion müsse, so Hegel, ihren Gegenstand so beweisen, „daß, ehe sie existierte, sie bewiese, daß sie existiert, daß sie ist; sie müßte vor ihrer Existenz ihre Existenz beweisen“ (ebd., S. 52). Hegel zieht also aus Kants Kritik theoretischer Beweise vom Dasein Gottes den Schluss, dass Gottes 8

Kruck, Religionsphilosophie, S. 74.

4. Expressive Religionsphilosophie

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Existenz nur im Rahmen religiösen Lebens, das heißt praxeologisch, philosophisch reflektiert werden kann. Wir werden dies unter dem Stichwort einer expressiven Religionsphilosophie diskutieren, die Gott nicht in sich verbleibend und isoliert betrachtet, sondern über das „Gegenbild einer Gemeinde und die Tätigkeit einer Gemeinde in Beziehung auf ihn“ (ebd., S. 33) versteht. Auf Basis der expressiven Religionsphilosophie weist Hegel das „Vorurtheile“ von der Unerkennbarkeit Gottes zurück (GW 29.1, S. 3). Den Einsatzpunkt für die Vermittlung des religiösen Bewusstseins im historischen Kontext seiner veränderten ethischen Landschaft bildet der expressive Begriff der Religion, der das notwendige Moment aller Subjektivität von Entäußerung und Im-Anderen-Sein auf die philosophische Struktur des absoluten Geistes überträgt: „Der Begriff ist die Beziehung des Subjekts, des subjektiven Bewußtseins auf Gott, […] der seines Wesens, seiner selbst bewußt ist“ (VR 1, S. 86). Die Religion besteht für Hegel in Gottes Selbstbewusstsein im Bewusstsein der Menschen. Damit ist für Hegel die Aufgabe gegeben, das Absolute nicht als Alterität zu denken, die sich einer menschlich-sinnlichen Bezugnahme entzöge. Das Absolute in diesem Sinne als Alterität zu verstehen, hieße für Hegel vielmehr, es zu verdinglichen. In der von Lèvinas entwickelten Alteritätstheorie wird hingegen die Uneinholbarkeit des theologisch Anderen als grundlegendes Moment der Bezogenheit auf ihn begriffen.9 Hegel denkt die Bezogenheit meines Erachtens im Kontrast zu Konzeptionen wie der der Alterität und betont den partizipativen Charakter auch der ontotheologischen Differenz: „Die Philosophie erkennt Gott wesentlich als den konkreten, als geistige, reale Allgemeinheit, die nicht neidisch ist, sondern sich mitteilt“ (ebd., S. 175). Der Mitteilungscharakter des Absoluten ist im Begriff einer expressivistischen Religionsphilosophie zu reflektieren. Expressive Religionsphilosophie begreift das Absolute nicht als transzendente Realität an sich, sondern als Geist, der wesentlich für Anderes ist. Hegel deutet die Offenbarung als historischen Prozess der Bezie9

Vgl.: Lévinas, Humanismus des anderen Menschen.

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hung von subjektivem und absolutem Geist im Kontext der sich ändernden Sittlichkeit einer modernen Kultur. Für Hegel ist nicht die transzendentale, ahistorische Vernunft der Maßstab seiner Religionskritik, sondern die Praxis religiösen Lebens im Verhältnis zu ihrer Theorie. Von hier aus können wir die Kontinuität von Kant und Hegel gut apostrophieren: Das Absolute ist für beide nicht a priori erkennbar. Kant folgert daraus, dass das Absolute nicht erkennbar ist; Hegel hingegen, dass es nicht a priori erkennbar ist. Noch die apriorische Ethikotheologie liefert eine Theoretisierung des Absoluten, das heißt, auch sie ist Ausdruck von Praxis. Jede Theorie setzt eine Praxis als die materiale Bedingung ihrer Existenz voraus. Um das Absolute also immanent zu verstehen, bedarf es einer philosophischen Praxeologie des Glaubens, die die theoretischen und praktischen Aspekte religiösen Lebens in ihrem Spannungsverhältnis zu denken erlaubt. Das Verhältnis von Theorie und Praxis an die Interpretation spekulativer Religionskritik heranzutragen, impliziert in methodischer Hinsicht zweierlei. Erstens ist Hegels Religionsphilosophie als begrifflich operierende Kritik der positiven Religion zu deuten. Spekulative Religionsphilosophie betreibt keine dogmatische Apologie der Religiosität, sondern ihre immanente Kritik. Immanente Kritik besteht in der produktiven Wiederholung einer Vorstellung im Medium des Begriffs. Sie transformiert also die Vorstellung und erlaubt es so, ihre Wahrheit zu fassen. Das firmiert für Hegel unter dem programmatischen Leitsatz der „Flucht des religiösen Inhalts in den Begriff“ (VR 3, S. 174). Spekulative Religionsphilosophie ist eine Rechtfertigung des religiösen Bewusstseins mit seinen Vorstellungen, die im Übergang zum philosophischen Begreifen zugleich kritisiert werden. Mit Blick auf Kant gesagt, während Kants Religionskritik die Religion extern, das heißt am Maßstab transzendentaler Vernunft kritisiert und sie begrenzen will, zielt Hegels immanente Kritik auf ihre Veränderung im Lichte philosophischer Erkenntnis. Die moderne, um mit Weber zu sprechen, entzauberte Gegenwart ist für die Religion bedrohlich geworden. Hegel sieht in dieser Lage die begriffliche Rechtfertigung durch begreifendes Denken als

4. Expressive Religionsphilosophie

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einzig sinnvolle Reaktion des religiösen Lebens: Die „Religion muß in die Philosophie sich flüchten“ (ebd., S. 96). Wir werden im Folgenden versuchen, diese „Flucht in den Begriff“ mit Blick auf ihre emanzipativen Potentiale zu rekonstruieren. Mit Blick auf die Differenz von Religion und Philosophie heißt das, dass Religion dasselbe vorstellt, was die Philosophie begreift. Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff haben mit dem Absoluten einen Gegenstand, der sich nicht unmittelbar zu erkennen gibt. Das Absolute ist in diesem Sinne etwas Negatives, es entzieht sich direkter, sinnlicher Bezugnahme. Die spekulative Religionsphilosophie Hegels versucht so eine Versöhnung von Religion und Philosophie, indem sie einen Begriff der Religiosität entwickelt, der für beide Seiten eine Herausforderung darstellt. Die Religiosität muss auf buchstäbliches, verständiges Wissen verzichten; die Philosophie ihr zugestehen, dass Religion geistiger Begründung fähig ist. Philosophie, die in jeder Religiosität nur Fundamentalismus und Ideologie erkennt, ist einseitig. Wir werden im Folgenden dieses Verhältnis so auslegen, dass damit keine harmonische epistemische Arbeitsteilung der Fakultäten gemeint ist, sondern ein kritisches Verhältnis.10 Die Philosophie greift kritisch auf die Ausdruckswelt der Religion zu (GW 29.1, S. 216). Deshalb interpretieren wir im Folgenden zweitens Hegels Religionsphilosophie nur sekundär im Lichte der Tradition der metaphysica specialis.11 Es geht uns dabei nicht primär um die Überzeugungskraft seiner Interpretation der Gottesbeweise. Der Fokus liegt nicht auf der Reflexion, was und ob Gott ist. Der Gegenstand der Reflexi10 11

Vgl. als eine Hegellektüre, die das Verhältnis eher im Sinne einer Arbeitsteilung zu verstehen sucht: Mooren, Hegel und die Religion. Kalatzis folgend, können wir die Logik als eine kritische Fortführung der rationaltheologischen Tradition deuten, wenn Hegels radikale Umdeutung des ontologischen Gottesbeweises ernst genommen wird. Das Ziel des spekulativen Gottesbeweises ist einerseits die immanente Vernunfttransparenz der Wirklichkeit, andererseits die Negation aller Verständnisse des Absoluten, die auf einem Unbegrifflichkeits- und Transzendenzrest basieren. Kalatzis, Explikation und Immanenz.

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on ist die religiöse Ausdruckswelt, deren materielle Voraussetzung die soziale Praxis auf Erden ist. Für Hegel ist der Gegenstand einer kritischen Religionsphilosophie nicht mehr die abstrakte Vorstellung von einem Gott, sondern die Realität der Vorstellung im Rahmen religiöser Praxis. Deshalb werden wir einen Begriff von Religiosität rekonstruieren, der den Fokus auf die sozialphilosophische Ebene des Zusammenhangs des religiösen und säkularen Lebens legt und den hegelschen Grundimpuls der Versöhnung von Glauben und Wissen im Sinne einer pluralistischen Kultur der Differenz reformuliert. Der sozialphilosophische Fokus ist zwingend vor dem Hintergrund der dialektischen These von der Inhaltsgleichheit von Kunst, Religion und Philosophie bei ihrem gleichzeitigen Formunterschied zu lesen. Mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Philosophie heißt das: „Worauf es ganz allein ankommt, ist der Unterschied der Formen des speculativen Denkens von den Formen der Vorstellung und des reflectirenden Verstandes. […] Nur auf den Grund dieser Erkenntniß der Formen läßt sich die wahrhafte Ueberzeugung, um die es sich handelte, gewinnen, daß der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe ist, […]“ (GW 20, § 573 A).

Die Inhaltsgleichheit von Religion und Philosophie bedeutet, dass wir es mit der These zu tun haben, nach der es Wahrheit in der Religion gibt.12 In der Vorlesung zur Religionsphilosophie erläutert Hegel den Unterschied von Religion und Philosophie im Sinne eines Merkmals des Begriffes der Religion wie folgt: „Philosophie ist ebenso denkende Vernunft, nur dass bei ihr dies Thun welches Religion ist, in der Form des denkens [sic] erscheint, während die Religion als so zu sagen unbefangene, denkende Vernunft in der Weise der Vorstellung stehen bleibt“ (GW 29.1, S. 171).

Kunst, Religion und Philosophie sind je Erscheinungsformen des Wissens, die wir praxeologisch als originäre Formen der Selbstgestaltung 12

Vgl.: Jaeschke, Vernunft in der Religion.

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und des Selbstwissens des Geistes interpretieren. Kunst gestaltet Wissen durch die Entwicklung von sinnlich-poetischer Allgemeinheit.13 Kunst ist die der Anschauung zugeordnete Praxis. Der philosophische Begriff religiösen Wissens ist Gegenstand der folgenden Argumentation. Es gilt dabei, religiöses Wissen mit der Pluralität dieses Wissens im Rahmen der Vielfalt des religiösen Lebens philosophisch zu verbinden. Die entscheidende Differenz von Vorstellung und Begriff besagt, dass Apologien, die die Wahrheit einer Religion auf die exklusive Erfahrung ihrer offenbarten Wahrheit stützen, diese Erfahrung in einen ausschließenden Gegensatz setzten. Entweder Gott ist personal oder nichtpersonal, dreieinig oder nicht, entweder hat sich Gott den Juden und Muslimen selbst offenbart oder nicht.14 Solche Formen von Erfahrungswissen entsprechen in philosophischer Terminologie einem Positionalismus: Nur meine Vorstellung ist Wahrheit, was ihr widerspricht, ist folglich unwahr. Jede erfahrungsbasierte Apologie muss widersprechenden religiösen Vorstellungen ihre Wahrheit in Abrede stellen. Eine philosophisch-pluralistische Apologie der Religion hingegen vertritt die These, dass alle Religionen Wissenskonstellationen sein können. Diese Apologie folgt der Idee der immanenten Kritik, das heißt, sie muss dem Exklusivimus und Positionalismus erfahrungsbasierter Apologie widersprechen: Es kann nur Wahrheit in einer Religion sein, wenn in allen Religionen Wahrheit sein kann. Anders ist die Pluralität religiösen Lebens nicht zu begreifen. Der Modus des religiösen Wissens ist nun tiefgreifend bestimmt durch das religiöse Leben des vorstellenden subjektiven Geists. „Die vorstellende Welt“, sagt Hegel, „insofern sie denkt, kann nur zum abstrakten Denken kommen“ (VR 3, S. 147). Dieser Modus bestimmt, wie das Absolute zu Bewusstsein kommt und in diesem Modus unterscheiden sich religiöse Kulturen und Epochen.15 Die vorstellende Welt der Kultur stellt die Realität des Geistes dar. Die philosophische Kritik religiöser Vorstellung muss zeigen, dass Wahrheit solan13 14 15

Vgl. die Überlegungen im ersten Teil dieser Arbeit. Vgl.: Hick, Dialogues in the Philosophy of Religion, S. 27. Vgl.: Hick, An Interpretation of Religion, S. 231–296.

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ge nur niedere Verstandeswahrheit ist, wie sie im Entweder-Oder pseudo-existentialer Erfahrungsapologie stecken bleibt. Das Absolute mit einer seiner Erscheinungen zu identifizieren, verdinglicht es ebenfalls. Solche Dingwahrheit wird dem spekulativen Begriff des Absoluten nicht gerecht: „In der spekulativen Logik ist [also] die bloße Verstandes-Logik enthalten und kann aus jener sogleich gemacht werden; es bedarf dazu nichts, als daraus das Dialektische und Vernünftige wegzulassen“ (GW 20, § 82 A). Näher zu zeigen sein wird, dass erstens der „dialektische vernünftige“ Begriff der Religion über die exklusivistischen Rahmen der Vorstellung hinausgeht und die Pluralität religiösen Lebens als notwendige Bedingung seiner Vitalität versteht. Die Praktiken des absoluten Geistes lassen sich nicht auf das Wirken einzelner Subjekte reduzieren und meinen dezidiert eine gemeinschaftliche Praxis, die mit symbolischen Artikulationen verbunden ist. Diese kollektive Praxis ermöglicht die Herausbildung von Selbstverständnissen, die in Konflikten verteidigt werden.16 Durch sie ist die menschliche Selbstverständigung wirklich und konkret, durch sie schafft sich der Mensch vermittels seiner Subjektivität „Ausdruckswelten“17 . Die Selbstdeutungspraxen sind so nicht losgelöst von ihrem historisch-kulturellen Ort und Kontext zu betrachten, ihrem Sitz im Leben des objektiven Geistes, sondern kommunizieren in freier Weise mit den Praktiken des subjektiven und objektiven Geistes. Zweitens geht die Vorstellung darin über die Anschauung hinaus, als dass sie sich kein Bild vom Absoluten macht, sondern ein handlungsleitendes normatives Schema des Absoluten gibt. Religiöses Leben bringt lebensweltliche Selbstverständnisse des Richtigen und Guten hervor und ist auf diese Weise handlungsleitend. Ihre Ausdruckswelt bleibt aber im Vergleich zur Philosophie abstrakt, ist sie doch durch eine doppelte Trennung gekennzeichnet. Der Defekt der Vorstellung, ihre Abstraktheit, besteht aus der philosophischen Perspektive der immanenten Kritik darin, dass sie das 16 17

Bertram, Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 25. Benn, Ausdruckswelt, S. 1855.

4. Expressive Religionsphilosophie

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Absolute einseitig als unwandelbar, als reine Substanz imaginiert. Anders gesagt, das vorstellende religiöse Denken ist dem Verstand in einer zentralen Dimension analog: Beide sind unfähig, den Widerspruch als wesentliches Moment der Wahrheit des Absoluten zu begreifen. Beide halten die widersprechenden Momente in Raum und Zeit auseinander, anstatt sie begrifflich zu durchdringen. Ferner präsentiert die Vorstellung ihre selbst voneinander getrennten Vorstellungsinhalte als vom Vorstellenden getrennt. Sie verortet das Absolute in einem ortlosen „da oben“. Die Vorstellung tendiert zum Zwei-Welten-Dualismus und setzt eine manifeste Grenze zwischen dem Sakralen und Profanen. Den Kern der hegelschen Religionsphilosophie bildet die Kritik an dieser undialektischen Vorstellung. Indem spekulative Religionsphilosophie das Nebeneinander und Auseinander der Vorstellung des Absoluten auf den Begriff bringt, transformiert sie diese Vorstellung und macht das Moment des Lebendigen und Prozessualen im Absoluten begreifbar. Um die manifeste Grenze zwischen dem Sakralen und Profanen praxeologisch zu deuten, hilft der Blick auf einen Klassiker der Religionssoziologie. Die seit Durkheim kanonische Definition des religiösen Lebens stellt heraus, dass Religionen immer Unterscheidungen von profaner und heiliger Welt operieren.18 Das Heilige ist das, was die empirische Wirklichkeit übersteigt, es ist ultimative, ideale Wirklichkeit. Die Unterscheidung von sakral und profan ist für Durkheim sozialen Ursprungs. Das Ideal des höchsten Wesens ist, so Durkheim, ein der Wissenschaft zugängliches „Produkt des gesellschaftlichen Lebens.“19 Hegel könnte dem gut zustimmen, betont aber das spekulative Moment an der Unterscheidung von profan und heilig, das Moment einer Praxis der Transzendenz, die ebenfalls für religiöses Leben konstitutiv ist. Der Gegensatz von profaner und sakraler Welt wird von Hegel so begriffen, dass er weder bloße Verschiedenheit noch einen Gegensatz bildet, sondern als Widerspruch begreifbar wird, der die Kommunikation zwischen beiden Welten 18 19

Durkheim, Elementare Formen, S. 62. Ebd., S. 618.

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eröffnet. Das Profane und das Heilige können sich so nähern und kommunizieren und ihre Natur bewahren. Die Flucht in den Begriff meint – wie Kunst nach dem Ende der Kunst – eine Bewegung, die aus der Praxis kommt, aber selbst in Richtung des Begriffs und theoretischer Grundlagenarbeiten geht. Es sind also die Vorstellungsinhalte selbst, durch die die Form der Vorstellung ihrem Inhalt zu widersprechen beginnt. In der kommunikativen Wechselwirkung des Sakralen und des Profanen liegt das Spezifische der hegelschen Religionsphilosophie. Das Sakrale muss am Profanen, das Profane am Sakralen teilnehmen. Religiöse Vorstellungswelten schaffen keine Repräsentationen des Absoluten, sondern handlungsleitende Vorstellungen. Sie bilden moralische Selbstverständnisse aus. Wir werden unter Rekurs auf Taylor unten von der „Transformationsperspektive“ im Lichte von Gottesgegenwart sprechen. Reflexive Religiosität ist die Anerkennung einer transzendenten Realität im Sinne der ethischen Transformation, die über menschliches Wohlbefinden hinaus geht.20 Das Selbstverständnis religiösen Lebens verstehen wir hier so, dass religiöses Wissen nicht ein spezifisch religiöses Wissen meint, sondern ein Wissen, das Gläubige zum Handeln und praktischer Selbsttransformation bringt. Religion hat damit eine genuin praktische Seite. Gleichzeitig ist Religion genuin theoretisch. Ihre Kritik durch den Begriff ist so eine externe Größe, die ihr aber nicht fremd bleibt. Eine wirkliche, das heißt, immanente Kritik religiösen Lebens muss also das Wahre der Religion zu bewahren versuchen, indem sie es modern interpretiert.21 Wir legen Hegels spekulative Religionsphilosophie als immanente Kritik des überlieferten Credos, des offenbarten Wissens aus. Religionsphilosophie nach Hegel ist kritisch, weil in ihrer Perspektive die Religion dieses Wissen nur in der Form der Vorstellung tradiert. Als vorbegriffliches Wissen ist dieses Wissen abstrakt, liegt also in unwahrer Form vor. Hegels spekulative Religionsphilosophie ver20 21

Vgl.: Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 703–787. Das Zugleich von Kritik und Rekonstruktion ist der zentrale Gedanke in: Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 27–59.

4. Expressive Religionsphilosophie

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fährt dabei in einem zweifachen Sinne immanent: Sie teilt mit der Religion die These der Wahrheit des Offenbarungsgeschehens. Sie kritisiert die Religion also nicht von einem externen Standpunkt aus. Es geht Hegel keineswegs darum, die positiven, das heißt offenbarungsgestützten Religionen vom Standpunkt einer reinen Vernunftsreligion zu kritisieren. Sie ist darüber hinaus in dem zweiten Sinne immanent, dass sie die Beziehung des absoluten, unendlichen Geistes und des subjektiven, endlichen Geistes nicht im Sinne einer Zwei-Welten-Dualität auffasst. Es gibt nur eine Welt und das Göttliche existiert, wenn es existiert, nur diesseitig. Eine jenseitige Vorstellung des Absoluten verendlicht das Absolute, weil es so der diesseitigen Welt des Wandels und der Erscheinung entgegengesetzt wäre. Nur das immanente Absolute ist überhaupt ein Absolutes. Sehr deutlich fasst Hegel die logische Voraussetzung in der Logik: „Der Dualismus, welcher den Gegensatz von Endlichem und Unendlichem unüberwindlich macht, macht die einfache Betrachtung nicht, daß auf solche Weise sogleich das Unendliche nur das Eine der Beiden ist, daß es hiermit zu einem nur Besondern gemacht wird, wozu das Endliche das andere Besondere ist. Ein solches Unendliches, welches nur ein Besonderes ist, neben dem Endlichen ist, an diesem eben damit seine Schranke, Gränze hat, ist nicht das, was es seyn soll, nicht das Unendliche, sondern ist nur endlich“ (GW 20, § 95 A).

Das Absolute kann dem Endlichen nicht abstrakt entgegengesetzt sein, sondern muss das Endliche so in sich enthalten, dass sich beide Seiten in dieser Beziehung in ihrer Selbständigkeit und Unselbständigkeit verwirklichen. Die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit wird, so der spekulative Impuls, nur in einem Modell verständlich, in dem Unendlichkeit nicht als selbstgenügsame Substanz, sondern als freie Selbstbestimmung in einem freien Anderen gedacht wird.22 Das Absolute muss sich in einem Anderen ausdrü22

Nonnenmacher, „Hegels Begriff des Absoluten und die Religionen“, S. 135.

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cken, das es zwar selbst setzt, es aber im Akt dieser Setzung zugleich freisetzt. Die Substanz muss als Subjekt, das Subjekt als Substanz gedacht werden. Das ist die Doppelaufgabe spekulativer Philosophie (vgl.: GW 9, S. 18). Die Vermittlung dieses Gegensatzes erfolgt durch das Moment der Tätigkeit, Bewegung, Lebendigkeit ihrer wechselseitigen Bestimmung. Eine solche Ontotheologie nennen wir expressiv, ihr Grundgedanke ist der der Wechselwirkung. Der Begriff der „Expressivität“ meint hier nicht einen ästhetischen, affektiven, bloßen Ausdruck, sondern „Ausdruck“, „Äußerung“ oder „Entäußerung“. Sie tritt bei Hegel an die Stelle der klassisch-philosophischen Rede vom Wesen, mit den Begriffen der Logik gesagt: Wesen wird bei Hegel zur Reflexion im Anderen. Das Wesen einer Sache besteht in den Relationen zu ihrem konstitutiv Anderen. Expressivität ist so keine allein ästhetische, sondern auch eine ontologische Kategorie. Expression mit einer Logik der Wechselwirkung zu verbinden, setzt voraus, sie nicht als eine einmalige Aktion zu verstehen. Vielmehr ist es die Rückwirkung vom Anderen, auf die es ankommt. Den Prozess der Wechselwirkung werden wir als wiederkehrende Selbstnegation des subjektiven wie absoluten Geistes deuten. Die Betonung der Wechselwirkung in der Beziehung von subjektivem und absolutem Geist mag Anstoß erregen und die Rückfrage nach der Differenz von Geist aufwerfen. Die Idee einer praktischen Wechselwirkung von subjektivem und absolutem Geist ist nicht gleichbedeutend mit der These ihrer Symmetrie. Die Weise der Teilnahme des Subjektiven am Idealen erfolgt nicht dadurch, dass das Subjektive einfach das Absolute setze. Das Absolute ist für Hegel keine Konstruktion des subjektiven Geistes. Das Subjekt bestimmt vielmehr die Substanz fort, indem es an sich selbst eine Negation vollbringt. Der Mensch nimmt durch Selbstnegation an der Fortbestimmung des Absoluten teil. Die Praktiken des absoluten Geistes bilden praktische Festlegung und Bestimmung von Selbstverständnissen des Geistes aus, in denen es nicht um bloße Reflexion, sondern um praktische Interpretation geht. Mit praktischer Festlegung ist Folgendes gemeint: Die empirischen Individu-

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en verändern sich im Lichte des Ideellen, machen sich seiner gemäß. Dieses Sich-gemäß-Machen ist keine bloße Adaption des Endlichen an das Unendlichen, keine Mimesis. Die Individuen verändern das Ideelle, indem sie es exemplifizieren. Das Subjekt bestimmt die Substanz, insofern das eigene Leben das Gute, Schöne, Wahre des Nous in je individueller Weise verkörpert, es exemplifiziert. Es ist nicht der Fall, dass der subjektive Geist somit einfach den absoluten Geist bestimme und das Niedere dem Höheren derart das eigene So-undso-bestimmt-Sein oktroyiere. Die ontotheologische Differenz bleibt gewahrt, partizipiert doch das Subjekt nur an der Fortbestimmung der Substanz, indem es von der eigenen Partikularität absieht. Das Endliche partizipiert, dialektisch gedacht, am Unendlichen durch eine Praxis der Selbstnegation. Es ist für Hegel das Christentum, das diese grundlegende Bewegung aller Religionen in besonderer Weise ausdrückt, partizipiert doch der christliche Gott am Endlichen in der Form der Selbstnegation am Kreuze. Die Rede von der Teilnahmebeziehung impliziert deshalb die Aufgabe, die Beziehung von subjektivem Geist und absolutem Geist nicht kontemplativ, sondern als intersubjektive Gestaltungsbeziehung zu denken. Das setzt für Hegel voraus, dass die Perspektive des Verstandes verlassen werden muss, um ihr Verhältnis aus der Perspektive des Geistes zu begreifen. Mit der Perspektive des Verstandes ist eine Beobachterperspektive gemeint, der die ontotheologische Frage nach der Fundierung der Wirklichkeit mit einer Gegebenheit oder einem angenommenen Bereich eigentlicher Realität zu beantworten sucht. Es bedarf aber einer, so können wir Hegels Programm fassen, praxeologischen, keiner apriorischen Methode der Erkenntnis des Absoluten. „Alles Konkrete, alles Lebendige ist der Widerspruch in sich, nur der todte Verstand ist identisch in sich, aber der Widerspruch ist in der Idee auch aufgelöst, und die Auflösung ist die geistige Einheit. Das Lebendige ist davon ein Beispiel, was sich nicht mit dem Verstande fassen läßt. Gott ist die Liebe, da ist Gott in der Empfindung, er ist so Person, und das Verhältniß ist so, daß das Bewußtsein des Einen sich nur hat im Bewußtsein des Anderen, Eins sich nur bewußt ist im Anderen, in der absoluten Entäusserung,

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dieß ist die geistige Einheit in der Form des Gefühls. In dem Verhältniß der Freundschaft, der Familie ist ebenso diese Identität Eines mit dem Anderen vorhanden. Dieß ist alles gegen den Verstand, daß ich der ich für mich bin, also Selbstbewußtsein bin, mein Bewußtsein in einem Anderen habe, aber die Aussöhnung ist der abstrakte Inhalt, das substantielle, allgemeine sittliche Verhältniß überhaupt“ (GW 29.1, S. 408).

Wir müssen also das „Verhältniß“ von Gott und Mensch nicht als ein verstandesmäßiges Apriori fassen, sondern als etwas „Lebendiges“, als lebendige Praxis, in der das Eine „sich nur hat im Bewußtsein des Anderen“.

4.1 Die Kategorie des religiösen Lebens Hegels Metaphysik des Absoluten denkt die Beziehung von Subjektivität und Substantialität nicht dualistisch und bricht mit der rationalistischen Vorstellung, das Absolute sei transzendente Realität an sich, sei Inbegriff aller Realität. Hegel modelliert die Wechselwirkung von Substanz und Subjekt praxeologisch im Rahmen des religiösen Lebens des Geistes. Nun ist es in Anbetracht der Vielfalt religiösen Lebens „eine Art Willkür zu sagen, ‚dies ist Religion‘“ (ebd., S. 219). Der Begriff der Religion ist erst zu entwicklen. Was ist mit Religion, mit religiösen Leben überhaupt gemeint? Was enthält und umfasst die spekulative Kategorie des religiösen Lebens, die Hegel an die Vielfalt religiösen Lebens heranträgt, um es zu systematisieren? Seinem Selbstanspruch nach gewinnt Hegel diese Kategorie nicht, indem er die trinitarische Gottesvorstellung des Christentums zum Maß aller Religionen macht, sondern indem er die spekulative Metaphysik zur methodischen Grundlage erhebt, von der aus ein allgemeiner Begriff des religiösen Lebens gewonnen wird. „Indem sich der [absolute] Geist an sich selbst unterscheidet, tritt die Endlichkeit des Bewußtseins ein. Das Bewußtsein, für welches er ist, ist endliches Bewußtsein, aber dies endliche Bewußtsein ist Moment des absoluten

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Geist selbst; er ist das Sichunterscheiden, das Sichbestimmen, d.h. sich als endliches Bewußtsein Setzen“ (VR 1, S. 222).

Dieses Setzen eines Anderen kommt „innerhalb der Idee [des absoluten Geistes] als Tätigkeit, Bewegung derselben selbst vor. Dies ist nichts anderes, als wenn populär gesagt wird, Gott erschafft die Welt“ (ebd., S. 226). Die Vorstellung des schöpfenden Gotts kommt in der Idee des Absoluten als Tätigkeit und Bewegung auf den Begriff. „Diese Bewegung macht das göttliche Leben aus“ (ebd., S. 227). Hegel will also nicht den trinitarischen Gottesbegriff als Referenzpunkt der Totalität religiösen Lebens setzen, sondern unternimmt das Projekt, die geschichtlichen Gestalten religiösen Lebens in ihrer Eigenart zu erfassen und als – wenn auch defizitäre – Momente des Zu-sich-Kommens des Geistes zu dechiffrieren. Der Zweck dieser Dechriffrierung und Rekonstruktion ist es, einen Begriff philosophischer Subjektivität in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Herkunft zu gewinnen. Religion und Philosophie teilen sich denselben Inhalt, ihre Form differenziert sie. Hegels philosophischer Begriff des religiösen Lebens investiert also die Prämisse einer Universalgeschichte des religiösen Lebens und zeichnet dessen „historische Topographie“.23 Es ist für Hegel eine notwendige Aufgabe eines kritischen Begriffs der Religion, die Vielfalt religiösen Lebens als notwendige Konkretionen des Begriffs zu verstehen. Hegel unterscheidet die Logik des objektiven Geistes so von der des absoluten Geistes: „Es ist hier [in der Religionsphilosophie] nicht so, wie wenn man z. B. das Recht empirisch abhandelt. Die Bestimmtheiten der Rechtsgeschichte folgen nicht aus dem Begriff, sondern man nimmt sie anderswoher. Da bestimmt man erst überhaupt, was Recht heißt; die bestimmten Rechte aber, das römische, deutsche sind aus der Erfahrung zu nehmen. Hier dagegen [in der Religionsphilosophie] hat sich die Bestimmtheit aus dem Begriff selbst zu ergeben“ (ebd., S. 84). 23

Arndt, Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, S. 153.

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Hegel gesteht also mit der systematischen, begrifflichen Pluralität den Praktiken des absoluten Geistes zu, was er dem objektiven Geist nur als empirische Pluralität zugesteht.24 Die hegelsche Kategorie des religiösen Lebens verfolgt den Anspruch, die Vielheit der bestimmten Religionen abzuleiten, ihre innere Struktur zu gewinnen und eine gedankliche Ordnung der Religionsformen zu generieren. Hegels Kategorie der Religiosität unterscheidet sich von den vertrauten begrifflichen Verhältnissen, denn die bestimmten Religionen sind nicht einfach Fälle einer invarianten Allgemeinheit. Sie verhalten sich nicht wie Arten zu einer Gattung, sondern sind die Fortbestimmung und Gestaltungen des Allgemeinen. In ihnen wird das Allgemeine der Religiosität erst konkret. In dieser logischen Struktur sind der Religionsbegriff und die Begriffe der Kunst und Philosophie analog. In begriffstheoretischer Terminologie gesagt, die bestimmten Religionen sind nicht Fälle eines an sich invarianten Oberbegriffs, sondern bilden als dessen Varietäten seinen Umfang und Inhalt.

4.2 Religiöses Leben und Kultur Die Grundbeziehung des religiösen Lebens ist für Hegel die Teilnahmerelation von subjektivem und absolutem Geist. Die Rede vom absoluten Geist ist nicht synonym mit Gott, denn ein theistischpersonaler Gott ist nur eine Vorstellung der Manifestation des Absoluten. Schematismen des absoluten Geist lassen sich formal so auszeichnen, dass sie wie auch immer geartete Entitäten meinen, deren Kräfte die des menschlichen, subjektiven Geistes übersteigen. Diese Qualifikation erfüllen auch die Seelen der Toten, die als Schutzgeister verehrt werden. Hegel fasst also Religion allgemein als die Wechselbestimmung des subjektiven und des absoluten Geistes und konkretisiert diesen abstrakten Begriff, indem er die praxeologische Struktur dieser Wechselbestimmung entwickelt. 24

Vgl. zu einer Kritik an dieser Logik des objektiven Geistes: Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 376.

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Sein Begriff der Religiosität weist eine dreigliedrige Binnenstruktur auf. Religiöses Leben hat erstens theoretische, zweitens praktische und drittens philosophische Momente. Um diesen dreigliedrigen Begriff zu entwickeln, ist es hilfreich, Hegels Begriff des religiösen Lebens mit Durkheims Religionssoziologie zusammenzubringen. Beide brechen nämlich mit dem religiösen Rationalismus, der religiöses Lebens als ein System von Überzeugungen mit Bezug auf einen sakralen Gegenstand auffasst. Hegel wie Durkheim verstehen diese individuelle Vorstellungswelt vielmehr aus ihrer Abhängigkeit von der religiösen Praxis heraus. Hegel spricht von „Theorie“ und „Praxis“, Durkheim von kollektiver kosmologischer Klassifikation in profane und sakrale Zeit in ihrem „sozialen Ursprung“. Ihrem Religionsbegriff nach bilden die Riten und Kulte religiöser Praxis die materielle Bedingung der individuellen Vorstellungswelt. Beginnen wir bei der theoretischen Seite. Religiöses Leben macht sich eine Vorstellung von der Realität im Sinne einer wirklichen Realität. Der Gott eines Monotheismus ist etwa eine Vorstellung einer transzendenten Realität an sich. Der theistische Gott ist keineswegs der einzige mögliche Schematismus der Idee einer wirklichen Realität jenseits unserer Wahrnehmung. Religionen müssen nicht monotheistisch sein, sie können auch nichttheistisch oder pantheistisch sein.25 Ein religionsphilosophischer Theozentrismus erklärt den Gottesbegriff für alles das charakteristisch, was religiös ist. Das ist insofern verkürzend, als dass eine spezifische religiöse Ausdruckswelt keinen Gott kennen muss, um religiös zu sein. In jedem Fall verfügt sie über eine spezifische kosmologische Vorstellungsund Ausdruckswelt. Jede Religion verfügt über eine Kosmologie. Diese Kosmologie ist, in den Worten von Durkheim, eine „eminent soziale Angelegenheit. Die religiösen Vorstellungen sind Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken.“26 Religionen klassifizieren die Welt in profane und sakrale Sphären. Dieser 25 26

Konfuzianismus, Buddhismus, Taoismus sind nichttheistische Religionen. Vgl.: Maclure und Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S. 111. Durkheim, Elementare Formen, S. 25.

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Klassifikation liegt die kosmologische Vorstellung von der Beschaffenheit der Totalität zugrunde. Die je unterschiedliche Weisen des Gegensatzes von profan und sakral sind Momente der religiös vorgestellten Totalität und bilden so die je verschiedenen Kosmologien der Vielfalt des religiösen Lebens.27 Hegel könnte diese These Durkheims gut unterschreiben, er betont aber stärker, dass die kollektive Ausdruckswelt Resultat einer aneignenden Bezugnahme und kein passives Empfangen ist. „Von keiner Religion kann man sagen, daß die Menschen die Natur angebetet hätten, Sonne, Meer usf.; es ist ihnen damit nicht mehr dies prosaische Meer, was es für uns ist; indem sie sie anbeten, sind diese Naturgebilde göttlich“ (VR 1, S. 231). Wenn hier also von der theoretischen Seite des religiösen Lebens die Rede ist, meint das nicht Kontemplation. Theorie ist Weltaneignung im Modus des Vorstellens. Wenn eine animistische Religionsgemeinschaft ein Totem als Ausdruck göttlicher Präsenz rituell verehrt, dann ist dieses Totem kein Naturgegenstand mehr. Die religiöse Vorstellung „steht zwischen der unmittelbar sinnlichen Empfindung und dem eigentlichen Gedanken“ und greift aufgrund dieser Zwischenstellung „leicht zu bildlichen Ausdrücken, Analogien oder zu [anderen] unbestimmten Weisen“ der Vergegenwärtigung dessen, wovon es keine unmittelbare Anschauung gibt“ (ebd., S. 235). Religiöses Leben stiftet durch diesen aneignenden Bezug Sinn, indem es das Leben in seinem kosmischen Ort sozusagen nach oben öffnet und Außerweltliches erfahrbar macht. Die eher animistischen Sinnstiftungspraktiken werden mit der kosmischen Erzählung konkreter. Narrative Sinnstiftungspraktiken erlauben den Religionen eine „Vergegenwärtigung“ ihres Inhalts. Religiöses Leben erzählt sich, wie das All entstand und immerfort entsteht und welchen Ort der Mensch darin einnimmt und einnehmen soll. Die kosmischen Narrationen erlauben ein je spezifisches Credo, ein Bekenntnis: „[I]ch glaube an den Inhalt, und diese Überzeugung beruht auf diesen oder jenen Zeugnissen, äußeren 27

Durkheim, Elementare Formen, S. 645.

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Umständen, Wundern usf.“ (ebd., S. 236). Die theoretische Seite des Verhältnisses von subjektivem und absolutem Geist bezeichnet den Glauben im Sinne des Credos. Religiöses Leben ist somit eine doxastische Praxis, eine Praxis des Glaubens. Das Interessante am spekulativen Begriff des Glaubens ist Hegels theoriegeschichtlich fast einzigartige Betonung des reflexiven und aktiven Charakters des religiösen Glaubens. Glaube ist für Hegel an sich eine Praxis der Aneignung des kosmischen Ganzen. Das gilt also auch dann, wenn Glaube sich selbst nicht als Aneignung begreift. „Ich mache mir im Glauben das zu eigen, was Grund des Glaubens ist, d.h. es hört auf, ein Anderes für mich zu sein“ (ebd., S. 238). Glauben als Vermittlung und Aneignung zu fassen, bestimmt den Glauben als reflexiven Akt. Glauben ist ein sich Gründe gebendes Erkennen. Im Akt des Glauben gebe ich mir Grund zu glauben. „Der wahrhafte Grund des Glaubens ist er selbst, das Zeugnis des Geistes von dem Geist, und das Zeugnis des Geistes ist allerdings ein Lebendiges – diese Vermittlung in sich. Die Erkenntnis ist dies Auslegen“ (ebd., S. 238). Dieser Vermittlung zum Trotz wird auch im aneignenden, auslegenden Glauben das Absolute als an sich seiend gefasst, als Realität an sich, von der uns nur durch indirekte Mitteilung Grund gegeben ist, an sie zu glauben. Theorie als Glauben wird deshalb von Hegel als „Entzweiung des Subjekts mit dem Gegenstand“ gefasst (ebd., S. 236). Der subjektive Glaube ist zwar aktiver Nachvollzug des überlieferten Zeugnisses, aber stellt dasjenige, wovon er sich Zeugnis gibt, als objektives Anderes vor. Die Rede von Aneignung als Zeugnisgabe des Geistes von dem Geist zieht eine normative Ebene in die Kategorie religiösen Lebens ein: Die Wahrheit des Glaubens liegt nicht im passiven Hinnehmen der doxastischen Praxis, sondern darin, sich zu ihr nach Maßgabe gewissenhafter Prüfung in ein Verhältnis zu setzen. Die kritische Aneignung meint keine Selbstermächtigung des Subjekts, sondern die Doppelbewegung von Kritik und Affirmation. Die doxastische Praxis einer Religionsgemeinschaft ist bezüglich ihrer Integrität zu befragen und umgekehrt ist die eigene Lebenspraxis selbstkritisch in ihrem Lichte zu reflektieren. Diese normative Ebene der Kate-

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gorie des religiösen Lebens führt, wie wir unten mit Blick auf die sozialphilosophischen Konsequenzen genauer erörtern werden, zu einem Begriff individualistischer religiöser Praxis, die kritisch gegenüber Phänomenen der religiösen Rechten und nationalistischer Instrumentalisierung religiöser Kultur ist. Die notorische Ambivalenz religiösen Lebens rührt daher, dass religiös geformte Kultur kollektivistische und xenophobe Tendenzen zeitigen kann, aber auch die Kraft nähren kann, sich diesen Verfehlungen entgegenzustellen. Um die Ambivalenz des religiösen Lebens näher zu verstehen, müssen wir auf deren praktische Seite, auf den Begriff des Kultus, eingehen. Glaube ist sozusagen nur Vermittlung an sich. Das heißt, Glauben realisiert nur ein Moment der Teilnahmerelation des Endlichen am Unendlichen. Religiöse Vorstellungen sind kollektive Vorstellungen, deren kohäsive Wirksamkeit die praktische Seite des Zwecks voraussetzt: „Der Gegenstand des Kultus ist der Zweck des Glaubens, und das, was der Kultus zu vollbringen hat, ist, daß er nicht am Objektiven etwas trennt“ (VR 1, S. 249). Die praktische Seite hebt also Trennung des Theoretischen im Kultus auf. Das theoretische Wissen hat daher die soziale Praxis des Kultus als ihre materielle Voraussetzung. Die kosmologischen Vorstellungen einer Religion sind, nach Durkheim, wie wir oben bereits gesehen haben, „sozialen Ursprungs“.28 Erst als Moment sozialer Praxis ist die kosmologische Theorie des Glaubens wirklich. Diese Wirklichkeit erläutert Hegel durch ihre transformative Wirkung. Symbolische Praxis transformiert das religiöse Selbstbewusstsein, in Hegels Worten: „Es soll der Zweck, das Absolute werden durch mich in mir, und das, wogegen die Aktion geht, welche meine Aktion ist, das ist das Aufgeben meiner überhaupt“ (ebd., S. 249). Dass ich als Subjekt am Absoluten „meinen Anteil nehme und dessen teilhaftig bin“ (ebd., S. 250), beschreibt Hegel als Selbstnegation: Ich nehme Anteil am Absoluten, indem ich meiner entsage. 28

„Der Kult ist nicht einfach ein System von Zeichen, durch die sich der Glaube äußert, sondern die Summe der Mittel, mit denen er sich erschafft und periodisch wieder erschafft.“ Durkheim, Elementare Formen, S. 611.

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Indem ich mich im Sinne der Vorstellung des Absoluten verändere und transformiere, mich „dem gemäß mache, daß der Geist in mir wohne“ (ebd., S. 249), bin ich Bedingung der Erscheinung des Absoluten. In diesem Akt der anteilnehmenden Selbstnegation gewinnt das Subjekt Freiheit, denn durch die Transformation im Sinne einer Vorstellung des wirklich Wahren und Guten negiert das Selbstbewußtsein seine Natürlichkeit, seine Endlichkeit. Es erhebt sich und macht sich dem Höheren gemäß, es negiert sich praktisch und bildet so eine Subjektivität aus, die der Teilhabe am kollektiven religiösen Leben gemäß ist. Hegel fasst die praktische Negation über die Differenz von bloßem Gefühl im Gegensatz zum gebildeten Gefühl, also als Negation an sich. „Das Subjekt verzichtet auf etwas, negiert etwas an ihm“ (ebd., S. 334). Anders als die gefühlsreligiöse Vorstellung der Romantik ist für Hegel das wahre religiöse Gefühl eines, das durch die Aneignung von geteilten normativen Inhalten, Glaubensüberzeugungen und „Symbolen“ im Kontext einer stabilen Handlungspraxis im sittlichen Sinne wirksam ist.29 Nur gebildete oder, moderner gesprochen, sozialisierte Gefühle tragen in affirmativer Form zur geteilten Normativität und so zum Erhalt der sittlichen Traditionen und der sozialen und rechtlichen Institutionen der Sittlichkeit und des Staates bei.30 „Ist Herz, Wille ernstlich durch und durch zum Allgemeinen, Wahren gebildet, so ist das vorhanden, was als Sittlichkeit erscheint. Insofern ist die Sittlichkeit der wahrhafteste Kultus. Damit aber muß dann zugleich das Bewußtsein des Wahren, des Göttlichen, Gottes verbunden sein“ (ebd., S. 334).

Die Bildung des Menschen durch Selbstnegation rekonstruiert Hegel als ethische Transformation durch Hingabe an die Idee des Absoluten, die über das normale menschliche Gedeihen hinausgeht. 29 30

Vgl. zum Zusammenhang von Symbol und Glaubensartikel: Henrich, Grundlegung aus dem Ich, I, S. 40. Mooren, Hegel und die Religion, S. 116.

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Diese Bildung einer sozialen Gefühlswelt im Subjekt ist Funktion des Kultus, unabhängig von den mannigfaltigen Formen kultischer Praxis im religiösen Leben. Seine Funktion ist die Transformation von natürlicher Subjektivität in sittliche, sozialisierte Subjektivität. Der Kultus geschieht allgemein im „Bewußtsein gegen das gewöhnliche Leben“ (VR 1, S. 254) und ereignet sich als Fest, Opfer, liturgisches Handeln, Andacht, Sakrament, Zeremonie oder Totendienst. Diese Aktivitäten strukturieren sakrale Zeit und ermöglichen den Teilnehmenden transformative Erlebnisse und Augenblicke kollektiven Überschwangs, welche die Angehörigen einer Gesellschaft aneinander binden. Solche Praktiken reichen zurück bis in die ersten Anfänge der menschlichen Religion und gehören zu jenen Dingen, die in der Religion des modernen Westens marginalisiert worden sind, wo der Schwerpunkt des religiösen Lebens eine stark kognitive und individualistische Ausrichtung hat.31 Durkheim misst diesen Zeiten des Sakralen und kollektiven Überschwangs für die soziale Kohäsion große Bedeutung bei. Religiöses Leben klassifiziert Sphären in profan und heilig, indem es im Kultus Übergänge und Transzendenzerfahrungen ritualisiert. Paradigmatisch sind Initiationsriten und Totenkulte, die den Eintritt ins und den Austritt aus dem profanen Leben organisieren. In dieser Stellung gegen das natürliche, profane Leben des Alltags, gegen die zweite Natur unserer habitualisierten Praxis, negiert der Kultus das Versenktsein in unsere unmittelbare Praxis. Als kollektive Selbstdeutungspraxis zeichnet sich das religiöse Leben durch geteilte Einstellungen, den gemeinsamen Bezug auf einen kosmologischen Inhalt und ein damit einhergehendes Gemeinschaftserleben aus. Die Selbstdeutungspraxis des Geistes beruht auch auf Klassifizierungspraktiken, in denen Gegenstände und Handlungen kosmologisch konstituierten Welten oder Zeiten zugeordnet werden, deren Grundunterscheidung als die von profan und sakral konzeptualisiert wird. 31

Vgl.: Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 1208.

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Eine zentrale Stellung nehmen dabei Opferpraktiken ein. Hegel bespricht die unmittelbaren Formen des Opfers, bei der Tiere und Menschen geopfert werden. Im Opfer negiert der Mensch das Tier in sich, seine erste, animalistische Natur. Das sich opfernde Tier negiert die Unmittelbarkeit der eigenen Animalität und hört so auf, bloß Tier zu sein. Dieser Tod trifft aber immer nur die körperliche Seite des Geopferten. Im Opfer negiert der Mensch seine körperliche Seite und wird so als Geist offenbar, doch diese Offenbarung findet eigentlich nie statt, hört der Geist so auf, zu sein. Damit der Mensch sich im Opfer offenbart und sich Gestalt gibt, müsste er lebend sterben können.32 Es ist für den Menschen nur möglich, das Ganze des Lebens in dem Moment zu erkennen, in dem er stirbt. Deswegen begreift es Hegel als Konkretion, dass Kunst als Opferpraxis entsteht. Die Arbeit am poetischen Ausdruck einer Vorstellung des Absoluten entstammt der Arbeit des Menschen und bildet eine geistige Form des Opfers, mithin der Selbstnegation. In der Kunst negiert der Geist seine unmittelbare Körperlichkeit, ohne aufzuhören, körperlich zu sein. Kunst bringt das Negative zur Erscheinung, indem sie es darstellt. Ohne diese Darstellung wären wir angesichts des Todes so blind und unwissend, wie die Natur, die ihrer Endlichkeit nicht bewusst ist. In religiösen Praktiken werden die sinnstiftenden Erzählungen und die gemeinsamen Regeln narrativ eingebettet und dabei aktualisiert. Diese Wiederholung ist für die Bildung und Sozialisation der sittlichen Gefühle konstitutiv, denn die Wiederholung im Kultus bildet den Kontext, in dem die religiöse Ausdruckswelt gelebt und lebendig gehalten wird. Als soziale Sprach- und Handlungspraxis mit ihren besonderen Regeln ist das religiöse Leben eine wesentliche Gestalt des objektiven Geistes. Diese Sozialisation prägt die affektiven Einstellungen und hebt bestimmte Handlungsmaximen vor anderen als moralisch wertvolle hervor. Sie verleiht den bestimmenden Prinzipien einer Lebensform Ausdruck und verschafft ihnen Autorität und Legitimation. Politische Autorität und soziale 32

Vgl.: Bataille, „Hegel, der Tod und das Opfer“, S. 50.

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Legitimation erhalten so im Rahmen des objektiven Geistes auf Basis der kollektiven Klassifikationspraxis ihre Wirksamkeit, weil sie von einem gemeinsamen Gefühlsleben, einer geteilten Ausdruckswelt, getragen werden. Die soziale Wirksamkeit religiösen Lebens hat eine institutionelle Voraussetzung. Die soziale Wirksamkeit religiöser symbolischer Praxis hängt an der Wiederholung der Riten und Kulte der Klassifikation der profanen und sakralen Zeitlichkeit. Diese Praxis bedarf in ihrer Iterativität einer organisatorischen Basis. Nach Durkheim gibt es in diesem Sinne „keine Religion ohne Kirche“. Der Kirchenbegriff ist dabei klarerweise weit gefasst und meint den organisatorischen „Unterbau“ religiösen Lebens.33 Die Frage, ob es religiöses Leben ohne den Unterbau einer Kirche geben kann, also ein rein individualistisches religiöses Leben möglich ist, verneint die Religionssoziologie von Durkheim. Sie bestreitet die Möglichkeit eines religiösen Individualismus ohne moralische Gemeinschaft, ohne Kirche.34 Die These, Kirche sei als organisatorisches Zentrum elementar für religiöses Leben, teilen Hegel und Durhkeim. Taylor spricht mit Blick auf diesen Religionsbegriff, der die individuellen Vorstellungen unter Rekurs auf die soziale Praxis der Vergemeinschaftung zurückführt, auch von einen durkheimschen Paradigma.35 Die kollektive Praxis der Produktion von Idealen, die Bildung einer geteilten Ausdruckswelt ist der Akt einer Gesellschaft, „mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert.“36 Religionen reproduzieren sozia33

34 35

36

Der fehlende organisatorische Unterbau ist das entscheidende Unterscheidungsmerkmal Durkheims zwischen magischer und religiöser Praxis: „Es gibt keine magische Kirche.“ Durkheim, Elementare Formen, S. 71 f. Ebd., S. 76. Kirche ist diesem Paradigma zufolge der soziale Raum, der dem Anspruch nach die gesamte Gesellschaft vereinigt. Kirchen bestehen aus sozialen Verbänden, den Gemeinden, in denen der konkrete Austausch der Mitglieder stattfindet. Innerhalb dieses Rahmens kann die Individualität der privaten religiösen Praxis der Mitglieder durchaus toleriert werden. Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 865 f. Durkheim, Elementare Formen, S. 619.

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le Vorstellungsschemata. Mit „sozialem Vorstellungsschema“ ist das kollektive Imaginäre der sozial vermittelten Welt gemeint, samt den inneren Vorstellungen des subjektiven Geistes, den affektiven Antizipationen des Unbekannten und vorgreifenden Ängsten auf das individuelle Ende sowie dem Trost, darin nicht alleine zu sein.37 Das kollektiv Imaginäre ist nicht zu trennen von der Konstruktion sozialer Räume der wechselseitigen Zurschaustellung und Vermittlung. Religiöses Leben hat nach diesem Schema immer einen organisatorischen Unterbau, entwickelt eine theoretische Kosmologie und eine Praxis des kollektiven Symbolismus der Klassifikation in profan und sakral. Diese Eigenschaften teilt Durkheims Begrifflichkeit mit der Hegels. Durkheim betrachtet aber Theorie und Praxis als „soziale Tatsache“, fragt also nicht nach der normativen, philosophischen Spannung zwischen ihnen. Das ist eine Fragestellung der Religionssoziologie. Wie oben aufgezeigt, thematisiert Hegels Religionsphilosophie die Spannung von philosophischer Subjektivität und religiöser Praxis und denkt die Vorstellungswelt von den sozialen Tatsachen her. Die Kategorie des religiösen Lebens erlaubt eine Ritualanalyse,38 die nicht bloß die Entzifferung von symbolischen Handlungen und Prozessen meint, sondern den Bezug des Ritus zum Kern der menschlichen Kultur, dem religiösen Leben, aufzeigt. Dass damit Erfahrung und Wissen viel weiter gefasst werden als im religiösen Rationalismus, wird daran klar, dass Riten und religiöse Praxis 37

38

Taylor hebt an der Struktur sozialer Vorstellungsschemata die horizontale und simultane Präsenz der wechselseitigen Wahrnehmung im Handeln in geteilter sozialer Praxis hervor. Es spielt in unserem Handeln eine Rolle, dass die anderen Zeugen unseres Handelns sind und so mitbestimmen, was dieses Handeln bedeutet. Vorstellungsschemata sind aufgrund ihrer Wechselseitigkeit von Anschauung und Tätigkeit im Wandel, was nicht bedeutet, dass das kollektive Imaginäre sich schnell wandelte. Es kann gerade in moralisch-affektiver Dimension eine enorme Beharrlichkeit entwickeln und seine Entstehungspraxis überdauern. Vgl.: Taylor, Modern Social Imaginaries, S. 730. Die empirische Materialfülle von Durkheims Analyse geht deutlich über Hegels Quellenlage hinaus. Vgl.: Durkheim, Elementare Formen.

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für Hegel wie Durkheim kein Beiwerk, sondern zentrales Moment der Lebendigkeit religiösen Lebens sind. Beide brechen mit der rationalistischen Idee, religiöses Leben allein in foro interno zu verstehen. Die kulturelle Prägung durch die kulturelle Praxis stiftet Loyalitäten. Loyalität meint affektive Bindung, keine wohlüberlegte Entscheidung. Dasjenige, dem unsere Loyalität gilt, ist uns in einer grundsätzlichen Weise eigen. Anders als regelgeleitete Verpflichtung ist Loyalität eine persönlichkeitsintegrierende Haltung einer kollektiven Praxis gegenüber. Aus der Teilnahme an dieser Praxis erwächst der loyalen Teilnehmer*in ein Selbstwert.39 Es gilt trotz aller begrifflichen Stärke zwei Aspekte des religiösen Lebens, die weder Hegel noch Durkheim problematisieren, zu nennen. Beide lassen den Konformitätsdruck religiöser Vergesellschaftung außen vor und reden keiner nonkonformistischen Revolution das Wort. Zweitens untersuchen beide nicht, ob und inwieweit kollektive Vorstellungswelten eine Art Longue durée entwickeln. Sie fokussieren stark auf die Genese von individueller Ausdruckswelt, es scheint aus heutiger Perspektive aber mehr als deutlich, dass die Ausdruckswelt einer religiös-symbolischen Form der Sozialisierung sozusagen transgenerational wirkt. Ihre Konnotationen und Hierarchien sind noch wirksam, wenn sich die soziale Praxis in ihrer ethischen Textur verändert. Anders gesagt, die kollektive Vorstellungswelt präformiert das Unbewusste im Erfahrungsraum der Einzelnen und wird von Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Diese Transgenerationalität der Ausdruckswelt bildet ein gefährliches Potential der kohäsiven Kraft religiöser Kulturstiftung, das in der Ablehnung und Exklusion von Subkultur und marginalisierten Lebensformen liegt. Die affektive Dimension der Vorstellung ist sozial bestimmt und hat eine andere, viskose Plastizität. Kollektive affektive Welten ändern sich mitunter langsamer als das ethische Leben. Sie entwickeln ein beachtliches Beharrungsvermögen und zeigen, wie wir unten weiter im Detail verfolgen werden, die paradoxe Dispositi39

Wir werden diesen Gedanken der Loyalität unten problematisieren. Vgl.: Shklar, „Verpflichtung, Loyalität, Exil“, S. 20.

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on, sich in dem Maße bei einigen zu verhärten und ideologisch zu verfestigen, in dem sie ihre soziale Bindungskraft für alle verlieren. Religiöses Leben und, wie wir vielleicht verallgemeinern dürfen, kulturelles Leben entwickeln sich sozusagen Schicht auf Schicht, die aus uralten Religionsritualen bestehen, aus ererbten ethischen Sentimentalitäten und aus ideologischen Überresten, deren ursprünglicher Zweck inzwischen vergessen ist. Kultur besteht aus moralischen Vorstellungswelten, die ihren historischen Entstehungskontext überlebt haben. Kultur besteht zugleich – darin besteht ihre Dialektik und Vitalität – aus altem Wissen, tiefen Erfahrungsräumen, Problemlösungsstrategien und Lebensformen, die uns heute abhanden gekommen sind. Alte Schichten bergen, unter Ideologien begraben, Neues, Überraschendes, Visionäres. Kulturelle Lebensformen können sich von der allerjüngsten Vergangenheit, die wir Gegenwart nennen, so sehr unterscheiden und ihr gleichzeitig so ähneln, dass Narrative des einfach Vergangenen nicht der Longue durée kultureller Prägung gerecht werden. Um ein Zwischenfazit zu ziehen: Der Religionsbegriff Hegels weist in Verbindung mit den religionssoziologischen Begriffen Durkheims hinsichtlich des theoretischen Wissens das Moment der auslegenden Aneignung des Zeugnisses auf. Im praktischen Selbstwissen werden die Subjekte durch die Bildung einer sittlichen Gefühlswelt sozialisiert und erlangen praktisches Selbstwissen in der Anerkennung der anderen als Teilnehmer*innen der gemeinsamen Praxis. Religion besteht aus kosmologischen Überzeugungen, die eine Trennung von sakraler und profaner Welt artikulieren, und einer Praxis, die diese Trennung transzendiert. Mit diesen Bestimmungen allein fehlt aber ein zentrales Element des hegelschen Begriffs des religiösen Lebens. Dieses Element berührt die normative Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Es gibt einen „Bruch zwischen Denken und Glauben“, den Hegel als einen Bruch zwischen Form und Inhalt rekonstruiert. Dieser „Bruch, den wir schon in Griechenland zur Zeit des Sokrates sehen, […] ist eine neue Beziehung gegen den Glauben. Die Seite der Form tritt nämlich gegen das Substantielle der Wahrheit in Beziehung“ (VR

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1, S. 337). Religion ist Ausdruck sozialer Praxis und reflektiert, so Hegel, ihre Beziehungen von Ausdruck und Praxis nochmals auf höherer, theoretischer Stufe. Der sokratische Begriff des Glaubens enthält eine normative Dimension davon, was als Begründung des Glaubens zählen kann.40 Glaube ist auslegendes Erkennen des Zeugnisses des Geistes. Wenn Glaube nicht als Auslegung und freie Erkenntnis, sondern formell auf „äußerlichen Erzählungen“ beruhen soll, „so mutet dies dem Menschen zu, an Dinge zu glauben, an die der Mensch an einem gewissen Stand der Bildung nicht mehr glauben kann“ (VR 1, S. 239). Glaube durch „Überredung, durch Bestrafung, durch Drohung, durch Wunder“ ist kein Zeugnis des Geistes. Aufgeklärter, sokratischer Glaube beruht auf der freien Auslegung des Zeugnisses des Geistes. „Der Geist wird nur von dem Selbstbewußtsein gewußt in seiner Freiheit“ (ebd., S. 243). Hier prallen der Wille zu glauben und der Wille, Dinge infrage zu stellen, aufeinander. Damit steht die normative Dimension des Glaubens als freier Aneignung in Spannung mit ihrem Inhalt. Denn „indem man eben glaubt, so nimmt man etwas Gegebenes, Vorhandenes an: Die Freiheit aber verlangt, daß dies von mir gesetzt, produziert sei“ (ebd., S. 337). Die selbstbestimmte Aneignung der gebildeten Subjektivität richtet sich gegen ihren substantiellen Inhalt, die Theorie richtet sich gegen die Praxis. Welche Verwendung findet die so rekonstruierte AnalyseKategorie des religiösen Lebens nun in Hegels Religionsphilosophie? Die Kategorie des religiösen Lebens samt ihrer Brüche und Spannungen trägt Hegel an die Vielfalt der „bestimmten Religionen“ heran und zeigt ihre je spezifische Konfiguration entlang des Spannungsfeldes von Theorie und Praxis auf. Wir werden hier die Religionsgeschichte nicht rekonstruieren, weil wir nicht an der historischen Richtigkeit der hegelschen Historiographie der Re40

Hegel entwickelt keinen selbständigen Begriff der Achsenzeit, der den konstitutiven Bruch zwischen Glauben und Wissen im globalen Kontext verorten ließe. Jaspers nimmt aber explizit die Idee einer „Achse der Weltgeschichte“ von Hegel her. Jaspers, Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 17.

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ligionen, sondern an den systematischen Konsequenzen für die pluralistische Gegenwart interessiert sind. Die Entwicklungsgeschichte, die Hegel von der Pluralität religiösen Lebens zeichnet, folgt, soviel sei hier in dieser Hinsicht behauptet, dem Narrativ einer zunehmenden Vergeistigung: Der absolute Geist entwickelt sich erstens von substanzhaften Vorstellungen zu subjekthaften, indem er zweitens von einer ersten Phase der Unmittelbarkeit über die der Entzweiung zu neuer Vermittlung gelangt, wobei jeweils ein Moment des Geist- und Religionsbegriffs in einer Religion eigens gesetzt wird. Hegel versteht die Entstehung einer Religion also wesentlich als Prozess der kritischen Aneignung und Weiterentwicklung einer anderen Religion. Eine erste Religion gibt es also streng genommen nicht.41 Keine Religion hat jemals bloße Natur angebetet. Die Aneignung der Welt im Kontext religiösen Lebens negiert die Unmittelbarkeit der Naturgebilde. Religion ist also ein System von Vorstellungen und ritualisierten Praktiken, die sich entwickeln und sich den transkulturellen Umständen anpassen, indem sie bestehende Praktiken aufnehmen und modifizieren. Jede Religion ist historisch geworden, das heißt, sie ist eklektisch und nie statisch. Religiöses Leben ist im Kern synkretistisch. Es ist dabei nicht nur das Entstehen kosmologischer Ausdruckswelt, die sich gesellschaftlicher Arbeit verdankt, sondern auch ihre Überlieferung entstammt konstanter, gesellschaftlicher Arbeit. Diese Überlieferungen, die zu Kulturgütern verschiedener Art werden, sind immer Produkte von gesellschaftlichen Tauschprozessen, darin ihrem materialistischen Pendant, dem Konsumgut, analog. Auch können sie sich verselbständigen. Ihr Fetischcharakter tritt dann ein, wenn ihre Herkunft in Tausch und Reziprozität vergessen wird. Dann 41

Durkheim drückt dies so aus: „Wie jede menschliche Einrichtung beginnt auch die Religion nirgends.“ Der methodische Unterschied beider besteht darin, dass Hegel die empirischen Formen religiösen Lebens von ihren Grundbegriffen her denkt. Das Komplexe erklärt das Primitive. Durkheim geht genau andersherum vor und versucht die komplexere Praxis aus ihren primitiven Formen zu erklären. Vgl.: Durkheim, Elementare Formen, S. 61 ff.

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werden die Praktiken des objektiven wie absoluten Geistes mystifiziert. Die systematische Notwendigkeit der Pluralität der Religion fasst Hegel so historisch oder evolutionär. Mit der zunehmenden Wirk-, Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, der Vergeistigung religiöser Praxis, entstehen neue Formen der kollektiven Bindung im religiösen Leben. Mit Blick auf die empirische Vielfalt und Dynamik religiösen Lebens zeigt die Parallele zum ästhetischen Leben einen aufschlussreichen Aspekt auf, der abermals die editorische Situation der Hegelschen Vorlesungen betrifft. Während Hegel die Entwicklungsgeschichte der Kunst mittels der drei Idealtypen der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform ordnet, hat er in den Vorlesungen zur Religionsgeschichte verschiedene Versuche unternommen, die Vielfalt der Religionen in die Einheit einer Entwicklungsgeschichte einzupassen. Die verschiedenen Kollegs von 1821, 1824, 1827 und 1831 scheinen – mit Jaeschke gesprochen – ein einziges „Experimentierfeld“ zu sein, auf dem Hegel seine zunehmenden Kenntnisse der Religionsgeschichte ausprobiert.42 Alles ist im Fluss: Erstens werden die verschiedenen Religionen in den jeweiligen Kollegs unterschiedlich dargestellt; hier ist vor allem auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Naturreligionen zu verweisen, siehe etwa die Differenzen in der Darstellung des Buddhismus und der chinesischen Religion in den Kollegs von 1821 und 1827. Zweitens werden unterschiedliche Einteilungen angewandt, so dass Hegel in dem Kolleg von 1824 mit einer Zweiteilung der Religionen in die „Unmittelbare Religion“ und die „Religionen der geistigen Individualität“ arbeitet, ansonsten aber mit einer Dreiteilung. Hinzu kommt, dass den jeweiligen Unterteilungen der Dreiteilungen in den verschiedenen Kollegs auch noch verschiedene Funktionen und unterschiedliche Religionen zugeschrieben werden. Zudem verändert sich die Terminologie erheblich, auch wenn ihr systematischer Kern doch wohl erhalten bleibt: Das Kolleg von 1821 wird durch die Einteilung von Sein, Wesen und Begriff strukturiert. Das Kolleg von 42

Vgl.: Jaeschke, Vernunft in der Religion, S. 288.

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1824 wiederum ist durch die Gottesbeweise organisiert, während das Kolleg von 1817 keinem festen Schema folgt. Das Kolleg von 1831 ist durch den Dreischritt von Unmittelbarkeit, Entzweiung und Versöhnung gegliedert. Diesen work-in-progress Charakter tilgt die von Hoffmeister editierte Vorlesung und verleiht ihr vielmehr einen apodiktischen Charakter. Darin gleichen sich die Ästhetik und Religionsphilosophie. Da uns die systematische Frage nach dem religiösen Leben in der Moderne im Sinne Hegels interessiert, sehen wir von Fragen zur empirischen Richtigkeit seiner Religionsgeschichte ab. Wir werden uns der Frage zuwenden, ob Hegels Begriff des religiösen Lebens hybride und synkretistische Neuformationen religiösen Lebens unter den Bedingungen des Wertepluralismus begreifbar machen kann. Religionen entwickeln sich, so der Einsatzpunkt der folgenden Aktualisierung, im „Dritten Raum“ inter-kultureller Lebensformen.43 Sie begegnet uns als Euro-Islam, als Christentum mit Yoga-Elementen, um nur zwei Varianten zu nennen.44 Im (westlichen) Kontext des Primats der Individualisierung reinterpretieren immer mehr Menschen ihre eigene religiöse Tradition im Lichte persönlicher Erfahrung oder sie verfahren dezidiert eklektisch und entnehmen der Vielfalt religiöser Systeme diejenigen Gehalte, die ihnen ein Narrativ ihrer eigenen spirituellen Identität zu weben erlauben. Diese Form von Religiosität hat James bereits 1902 als „persönliche Religion“ bezeichnet und von der konfessionell gebundenen, institutionalisierten Religion differenziert.45 Persönliche und individuelle Religiosität hat seit James’ Zeiten zugenommen. Es kommt zu einem Bruch mit den durkheimschen Paradigma der organisatorisch gebundenen Religionsausübung, da das religiöse Leben individualistischer und Spiritualität vermehrt 43 44 45

Vgl. Bhabha, The Location of Culture, S. 212–235. Wendte, „Hegel und der Religionspluralismus“, S. 195. Vgl.: James, Varieties of Religious Experience. James’ Idee einer persönlichen Religion lässt sich mit einem resignativen Unterton als Religion à la carte bezeichnen. Gegen diesen Unterton verteidigt sie unter Rekurs auf James: Taylor, Formen des Religiösen.

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jenseits konfessioneller Bahnen gelebt wird. Die expressive, individualistische Moderne wird im Anschluss an Hegel nicht als Verfall einer substantiellen Praxis, sondern als deren Vervielfältigung konzeptualisiert. Die Religion nach dem Ende der Religion meint ein religiöses Leben im Plural. Im Lichte dieser Haltung meint Säkularisierung nicht das Verschwinden der Religion im Sinne einer postmetaphysischen Gegenwart. Um die veränderte Spiritualität und Metaphysik der Gegenwart philosophisch zu reflektieren, müssen wir zuvor ihre Herkunft begrifflich durchdringen. Um also Hegels Position auf unsere Gegenwart übertragen zu können, müssen wir uns mit ihrer Vorstellungswelt auseinandersetzen. Das führt uns zum Christentum.

4.3 Der spekulative Begriff des Christentums Der Begriff des religiösen Lebens bildet eine Kategorie, das heißt ein Allgemeines, das erst in den Besonderungen seiner einzelnen Gestaltungen, seinen Varietäten, aktual ist. Bevor wir diesen Begriff an die pluralistische Gegenwart herantragen, ist die Frage zu erörtern, ob Hegel diesen Begriff dogmatisch setzt. Das heißt zu fragen, ob er die trinitarische christliche Religiosität insgeheim als Referenzpunkt setzt und das Christentum so als Religion der Versöhnung und Liebe idealisiert. Zu fragen ist, ob er kritisch vorgeht, also die Merkmale religiösen Lebens in reflexiver Auseinandersetzung mit der Realgeschichte der eigenen weltanschaulichen Position beschreibt. Im Sinne der stützenden Hermeneutik, die uns in diesem Buch insgesamt leitet, rekonstruieren wir Hegels Position so, dass sie ihrem Anspruch gerecht werden kann. Seine spekulative Religionsphilosophie eröffnet also die Frage nach der Religion nach dem Ende der Religion. Diese Frage berührt unmittelbar den geschichtsphilosophischen Rahmen, der für Hegel mit dem Christentum verbunden ist. Analog der obigen Lesart vom Ende der Kunst als These der Emanzipation von Kunstproduktion und ihrer Rezeption versuchen wir dabei, die These der Religion nach dem Ende der Reli-

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gion als Theorie der Emanzipation von Religion und Wissenschaft zu deuten. Mit Blick auf dessen historische Stellung sieht Hegel im Christentum eine Versöhnung von Theorie und Praxis erreicht: „In der christlichen Religion ist von Anfang an dies Prinzip [der freien Aneignung durch das Denken] vorhanden; sie fängt zwar einerseits von einer äußerlichen Geschichte an, die geglaubt wird, aber zugleich hat diese Geschichte die Bedeutung, daß sie die Explikation der Natur Gottes ist“ (VR 1, S. 337).

Das Christentum als Religion der Freiheit versöhnt freie Theorie und soziale Praxis in der Explikation der Natur Gottes. Christliche Subjektivität ist die Form, die für Hegel der Substanz ihre „unendliche Elastizität“ verleiht (VR 3, S. 105). Subjektivität – freie Aneignung jeden gegebenen Inhalts – und Substantialität – an sich seiende Prinzipien der Sittlichkeit – sind versöhnt, wenn sie als Momente eines Prozesses, als Seiten derselben Medaille vermittelt sind: Dieser Prozess ist das geschichtliche Werden durch die transformative, kommunikative Praxis des Geistes, der die Elastizität der sittlichen Prinzipien erhält und so ihre Geltung begründet. Mit der Betonung des Aneignungsscharakters in der Explikation Gottes geht keineswegs eine Parteinahme für das ebenso einseitige Extrem eines subjektivistischen Aktivismus einher, sondern die Überzeugung, die totale Revolutionierung der weltlichen Wirklichkeit müsse durchaus von Gott ausgehen und sei gleichwohl auf die Tätigkeit menschlicher Subjekte angewiesen.46 Hegel sieht so im Christentum die philosophische Subjektivität Athens mit der Idee einer ultimativen Gesetzlichkeit der sittlichen Welt, dem Gott des alten Testaments, versöhnt.47 46 47

Vgl.: Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 395. Taubes wirft in seiner spirituellen Geschichte der Menschheit die Frage auf, warum alle bedeutenden Hegelianer Juden sind. Man denke nur an Marx, Bloch, Lukács oder Adorno. Taubes Antwort lautet, Hegel sei der einzige bedeutende deutsche Philosoph des 19. Jahrhunderts, der „Athen“ und „Jerusalem“ miteinander verknüpft. Glauben und Wis-

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Hegels kritische Apologie des Christentums ist so vor dem Hintergrund seiner grundsätzlichen Bejahung der philosophischen Leistung der Moderne zu setzen, der kommunikativen Prosaisierung und Versachlichung lebensweltlicher Differenzen. Er schließt sich dem aufklärerischen modernen Prinzip der Reflexion an und spricht affirmativ vom „Einbruch der Reflexion“ in die Zeit. „Es ist der große Fortschritt unserer Zeit, daß die Subjektivität als absolutes Moment erkannt wird; dies ist so wesentliche Bestimmung. Es kommt jedoch darauf an, wie man diese Subjektivität bestimmt“ (VR 3, S. 101). Die für Hegels Religionsphilosophie entscheidende Frage ist, ob und wie die christliche Religion einen Begriff der Freiheit des Menschen entwickeln kann, der die sokratischen Prinzipien der freien Aneignung, der Freiheit, der Wissenschaftlichkeit, der individuellen Expressivität als integrale Bestandteile der Lebendigkeit christlicher Ausdruckswelt begreifen kann.48 Gleichzeitig beginnt es bei und für Hegel fraglich zu werden, ob das christliche Narrativ des liebenden Gottes, der freie Selbstbewusstseine will, wirklich noch die gesuchte Versöhnung leistet. Zwar erfüllt das Christentum die „Forderung der Innerlichkeit, des Denkens“, aber „der Bruch des Denkens und des Glaubens entwickelt sich dann weiter. Das Denken weiß sich frei, nicht nur der Form nach, sondern auch in Rücksicht auf den Inhalt. […] Die Prinzipien [des freien Denkens] gehören selbst der Entwicklung an; eine Zeit hat gewisse Prinzipien, und insofern ist darin auch Autorität: Die letzte Analyse, wo keine vorausgesetzten Prinzipien mehr sind, ist erst das Fortschreiten zur Philosophie“ (VR 1, S. 338).

Das wissenschaftliche Denken und das religiöse Denken stehen in einer Spannung, da das wissenschaftliche Denken sich aus dem religiösen Denken entwickelt, sich an dessen Stelle setzt und sich anschickt, dessen affektive und intellektuelle Funktionen zu über-

48

sen bilden keinen Gegensatz, aber auch keine Identität, sondern einen produktiven Widerspruch. Das heißt: Hegel denkt eschatologisch, allerdings auf seine ganz eigene Weise. Taubes, Abendländische Eschatologie. Vgl.: Jaeschke, „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“, S. 21.

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nehmen. Die letzte Analyse der Philosophie kann keine Voraussetzungen eingehen, da alle Prämissen und Präsuppositionen einer Ausdrucks- und Vorstellungswelt zu reflektieren und anzueignen sind, wenn sie auf ihren philosophischen Begriff gebracht werden. Damit treten das wissenschaftliche Bewusstsein im Sinne der letzten Analyse der Philosophie und das religiöse Bewusstsein in einen Kampf. Die Frage wird sein, ob es sich dabei um eine tragische Kollision handelt, die mit dem Tod einer oder beider Seiten endet, oder ob ihre Differenzen im Rahmen eines Konflikts produktiv wirken.49 Um den Versöhnungsanspruch des Christentums zu begreifen, ist das Theologem der Inkarnation, der Fleischwerdung des Wortes, zentral, nach dem am Anfang das Wort war, es aber erst als „Fleisch“ unter uns wirksam geworden ist.50 Hegel interpretiert das Christentum damit wesentlich über den Begriff der Trinität des christlichen Gottes. Die Trinität stellt das Moment der Lebendigkeit Gottes vor, erzählt Gottes Geschichte. Trinitarische Theologie oder Kreuzestheologie betont den menschlichen Beitrag zum Versöhnungsgeschehen, ohne dass die ontotheologische Differenz nivelliert würde. Die Unendlichkeit Gottes besteht darin, durch Mensch-Werdung und menschlichen Tod die Versöhnung der Menschen an sich vollbracht zu haben. Das bedeutet für Hegel, dass dem endlichen Geist das Vermögen der Versöhnung zukommt. Der endliche Geist kann vergeben und so Negativität negieren, weil Gott uns diese Gabe gab. Der Tod des Todes geschieht in der lebendigen Praxis der Versöhnung. Die christliche Kernidee und ihre historische Rolle liegen für Hegel in der Botschaft der Versöhnungsbefähigung des Menschen. Diese Wahrheit der Idee Gottes ist 49

50

Wir haben im ersten Teil den Unterschied von Kollision und Konflikt anhand von Hegels Lektüre der Tragödie im Sittlichen entwickelt: Anders als in der Kollision steht im Konflikt des Existenzrecht beider Seiten für beide Seite nicht mehr infrage. In der gegenseitigen Anerkennung als substantiell gerechtfertigte Positionen besteht nach obiger Deutung die konkrete Negation des prä-kommunikativen Mythos. Joh, 1.14

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zwar an sich allgemein, sie muss aber für das „vorstellende Denken offenbar“ werden. Das Sichoffenbaren Gottes am Kreuze erfüllt hierbei den weiten Sinn einer „Selbstvergegenständlichung“.51 Die kommunikative Selbstvergegenständlichung Gottes geschieht im Tode Gottes am Kreuz, die Hegel als die Geschichte der göttlichen Liebe interpretiert. Im Liebesmotiv ist die genuin ethische Dimension der christlichen Kreuzestheologie angesprochen. Hegel ruft, wenn er den Charakter des Absoluten im Vorstellungsschema des dreieinigen Gottes beschreibt, nicht die theologischen Konzepte des strafenden, rächenden, richtenden Gottes auf, sondern affirmiert allein den Gottesbegriff der selbstlosen Liebe, die sich im Anderen erhält. Das Sein für Anderes ist damit nicht bloß eine ontologische Dimension, sondern enthält eine genuin ethische Qualität. Das ethische Moment ist zentral für die Bestimmung der christlichen Subjektivität. Die christliche Heilsidee formuliert die Idee einer Gemeinschaft im Namen der Liebe. Es ist ontologische Liebe, die die tragische Kollision von Religiosität und Wissenschaft in einen Konflikt ihrer wechselseitigen Konstitution überführt. Gott als Liebe zu verstehen, markiert für Hegel ein modernes, reflexives Konzept des Absoluten. Nehmen wir nach dieser geschichtsphilosophischen Verortung die Details in den Blick und greifen dabei auf die Kategorie des religiösen Lebens zurück, die Hegel bündig zusammenfasst: „Religion, oberflächlich gesagt, ist Beziehung auf Gott. […] Das erste Verhältnis, das wir betrachtet haben, war das des Wissens, das theoretische Verhältnis. Das zweite ist das praktische, das Wissen dieser Erhebung, und die Erhebung selbst ist Wissen. Das dritte Moment ist das Wissen des Wissens. Das ist wirkliche Religion“ (VR 1, S. 336 f.).

Wir nutzen die Kategorie des religiösen Lebens, das das theoretische Wissen, das praktische Wissen und das Wissen des Wissens voneinander differenziert, um christliche Religiosität in Hegels Sicht zu reflektieren. Hegels Begriff des christlich-religiösen Lebens artiku51

Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 219.

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liert das theoretische Verhältnis des subjektiven und des absoluten Geistes mit Blick auf die Dreieinigkeit in kommunikativer Hinsicht. Nirgends wird der Unterschied von Kants kritizistischer und Hegels spekulativer Religionsphilosophie so plastisch und deutlich wie an dem Problem der christlichen Fundamentaltheologie, der Lehre der Dreieinigkeit Gottes. Während für Kant die Trinität nicht vernünftig sein kann, dieses Theologem also aus den Grenzen der natürlichen Ethikotheologie zu eliminieren sei, rekonstruiert es Hegel mittels der strukturellen Identität von Liebe und Begriff. Indem die Religion zur Form der Vorstellung greift und Gott auf drei Personen verteilt, umgeht der Glaube die eigentliche Aufgabe, das Absolute auf den Begriff zu bringen. Der lebendige Gott ist begrifflich als Widerspruch der Identität des Unendlichen und Endlichen, als geistige Einheit, zu fassen. „Alles Konkrete, alles Lebendige ist der Widerspruch in sich; nur der tote Verstand ist identisch mit sich, der Widerspruch ist in der Idee auch aufgelöst, und diese Auflösung ist geistige Einheit“ (GW 29.1, S. 408). Die Liebe Gottes stiftet genau diese „geistige Einheit“, löst den Widerspruch in allem lebendig Seienden und erhält ihn am Leben. Denn als Lebendiges ist das Konkrete nicht aus sich heraus das, was es ist, sondern erst durch die Beziehung zum Anderen wird es das, was es ist. Liebe ist gelebter Widerspruch, ist doch die liebende Subjektivität einerseits bei sich und erhält sich, ist identisch mit sich. In der Identität mit sich ist sie aber konstitutiv auf Andere bezogen. Sie ist bei sich im Anderen. In der „Liebe und Gegenliebe […] sind alle Handlungen nur Bestätigung und bringen hervor, was schon ist“ (ebd., S. 410). Der konstitutive Widerspruch der Liebe – der Widerspruch, ohne den keine Liebe ist noch sein kann – besteht in der Identität von Resultat und Prozess. Die Liebe ist Resultat der Handlung der Liebe und Gegenliebe; und sie ist der Prozess der Liebe und Gegenliebe. Anfang und Ende fallen in eins, ohne eins zu werden; das Ende ist der Anfang und nicht der Anfang. Liebe ist unendlicher Widerspruch, ihr Axiom ist, dass ein Teil das Ganze, das Ganze ein Teil ist. Liebe „drückt ein Verhältnis, ein Wissen, ein Schauen des Einen im Anderen aus, so daß beide Extreme selbstän-

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dig bestehen bleiben“ (VR 3, S. 161). Als wechselseitige Erhaltung im Anderen ist Liebe zugleich eine Versöhnung der Extreme, verlieren doch beide ihre spröde Selbständigkeit. Diese Verbindung im Wissen um die Differenz aktualisiert die Liebe, sie bringt hervor, was an sich immer schon war. Liebe ist nie historisch, sie kann nie sein, weil sie war. Liebe ist aktual, sie kann nur sein, weil sie wird. Sie vergegenwärtigt das Vergangene und reproduziert es als Voraussetzung ihrer selbst. In der Liebe greift das Eine in das Andere und die Extreme konstituieren sich wechselseitig. Liebe ist somit die Kommunikation des Differenten im Prozess ihrer Identitätsbildung. Der spekulative Liebesbegriff ist weder ein romantischer, der die Unerfüllbarkeit und Ineffabilität der Einheit postulieren würde. Das Absolute ist für Hegel verdinglicht, wenn es in das begrifflose Schema jenseitiger Alterität gepresst wird. Dieser fundamentale Immanenzgedanke in Hegel hat zur Ablehnung derer geführt, die am Transzendenzgedanken des Absoluten festhalten wollen. Noch ist der spekulative Liebesbegriff transzendental verstehbar. Liebe ist keine Synthesis, sondern geistige Einheit. Liebe ist nicht das ruhende, harmonische Nach- und Nebeneinander von Liebe und Gegenliebe, sondern der Prozess der Entwicklung von Liebe und Gegenliebe. Das ist, um das Zitat in Erinnerung zu rufen, „alles gegen den Verstand, daß ich der für mich bin, also Selbstbewußtsein bin, indem ich mein Bewußtsein in einem Anderen habe“ (GW 29.1, S. 408). Liebe ist eine Beziehung, die der Verstand nicht denken kann, weil die Endlichkeit des Verstandes darin besteht, Identität als Identität mit sich, als Sichselbstgleichheit schematisieren zu müssen. Stattdessen sind in der ontologischen Liebe die Extreme – Gottes Natur und die Menschennatur; Gegebenheit und Reflexion; Faktizität und Transformation – keine Extreme. Sie sind weder identisch noch verschieden oder gegensätzlich, sie sind im konkreten Widerspruch versöhnt. Wie ist diese Versöhnung näher zu verstehen? Liebende Subjektivität macht die Voraussetzung, „daß das Gute Gedeihen an und für sich habe, nicht nur ein Gesetztes sei, sondern seiner Natur nach objektiv“ sei (VR 3, S. 144). In liebender Subjektivität muss also die

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Wahrheit dieser Setzung in Erscheinung treten. Die Voraussetzung der Liebe ist, dass das Gute gedeiht. Das Gedeihen des Guten wiederum setzt voraus, dass die Subjektivität sich geistig verhält und tätig ist. In den Anerkennungs- und Liebesbeziehungen des Geistes werden diese Voraussetzungen eingelöst. Liebende Praxis macht die Voraussetzung, dass Liebe möglich ist, sich Liebe also reproduzieren kann, mithin ihre eigenen Voraussetzungen einholen kann. Liebe ist als Praxis dann nachhaltig, wenn sie mit einer Lebensführung einhergeht, die in der Transformation der Subjektivität im Lichte des Selbstverständnisses als liebende besteht. Liebe steht jedem hartherzigen Moralisieren, intoleranten Ausschließen von Andersdenkenden oder selbstgefälligen Fanatismus entgegen.52 Liebe ist ein zu großes Wort, um als solches erklärenden Gehalt zu haben. Es muss daher weiter geschärft werden. Christliche Liebe meint Caritas beziehungsweise Agape und kann mit barmherziger Nächstenliebe übersetzt werden. Agape steht im Gegensatz zum erotischen Begriff der Liebe. In der philosophischen und theologischen Diskussion sind diese Unterscheidungen als ausschließende Gegensätze verstanden worden. Christlich ist die absteigende, schenkende Liebe, die Agape. Die nichtchristliche, besonders die griechische Kultur, ist dagegen von der aufsteigenden, begehrenden Liebe, dem Eros geprägt. Die sokratische Ontotheologie versteht die Liebe als die praktische Lösung für das Problem der Wechselwirkung, der Teilnahme des Endlichen am Unendlichen. Denn die Liebe ist die Weise, wie das Unsterbliche im Sterblichen sein kann. Als Erzeugen ist die Liebe das Ewige und Unsterbliche, so argumentiert Diotima in der sokratischen Rekonstruktion im Symposium. Diotima, die weise Frau aus Mantineia, ist es, die Sokrates lehrt, welches die Stufen der scala amoris seien, um das Schöne an sich zu erreichen.53 Die Ursache der Liebe ist das Verlangen des Sterblichen nach Unsterblichkeit. Durch die ontologische Liebe hat das Sterbliche Anteil an der Unsterblichkeit. Die scala amoris, die Stufenleiter 52 53

Vgl.: Houlgate, „Glaube, Liebe, Verzeihung“, S. 268. Ménage, Geschichte der Philosophinnen, S. 12.

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der Liebe etabliert dabei eine Hierarchie liebender Praxis. Die Liebe zum Leib dient der Reproduktion und steht daher unterhalb der ideellen Sphäre der Theorie. Nur ein wahrer „Zögling in der Liebeslehre“ erkennt die höchste Stufe der Schönheit, „rein für sich und mit sich in unabänderlicher Daseinsform verharrend“. Diese Schau des Schönen vermag nur die Seele. Sie vermag es, das göttlich Schöne „in voller Deutlichkeit, Reinheit, und Unvermischtheit, ohne jede Spur von menschlichem Fleisch, von Farben und sonstigem irdischem Tand“ zu schauen.54 Das Christentum hat diesen platonischen Begriff der Liebe zum alleinigen Begriff der Liebe erhoben und, so fasst es Nietzsche, „gab dem Eros Gift zu trinken: – er starb zwar nicht daran, aber entartete zum Laster.”55 Das Christentum hat sich aus dem Griechischen einen Begriff der Liebe angeeignet, der epochal bedeutsam wurde: Agape. Ihr Sinn geht auf die Hymne von Paulus auf Jesus im Brief an die Philipper (Kap. 2, 5–11) und auf das Paulinische Hohelied der Liebe im ersten Brief an die Korinther (1. Kor 13, 1–13) zurück. Bei Paulus heißt es, dass der Sohn Gottes sein göttliches Leben nicht wie einen Raub festhielt, um Gott gleich zu bleiben und die Freuden im Himmel zu genießen, sondern sich entäußerte, erniedrigte, sein Leben hingab bis hin zum Tode am Kreuz. Johannes legt im hohepriesterlichen Gebet (Joh 17) Gewicht auf die trinitarische Dimension der Liebe Gottes, die er im Schlüsselsatz verdichtet: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4, 8.16). Diesen Grundsatz legt die expressive Theologie Hegels mit der Idee gelingender zwischenmenschlicher Anerkennung aus. Es ist aber beileibe nicht allein Hegel, der die christliche Botschaft in einer dialogischen Anerkennungsbeziehung in Philosophie übersetzt. Das Spektrum divergierender Anerkennungsmodelle reicht von den Konflikt-Modellen von Hobbes, Macchiavelli, Nietzsche, Freud und Sartre bis zu den Harmonie-Modellen von Fichte, Hölderlin, Feuerbach, Buber, Levinas. Anerkennung wird dabei entweder als die Befriedung und Domestikation des Kampfes auf Leben und Tod oder 54 55

Plato, Gastmahl, 211e. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 168 im vierten Teil.

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als Begegnung von Ich und Du begriffen, die die Realisierung der wahren Bestimmung des Menschen meint.56 Bei Hegel spitzt sich die Anerkennung einerseits auf die absolute Identität beider Extreme, Gott und Mensch, Ich und Du, auf ein bedingungsloses Sichim-Andern-Verlieren zu. Andererseits ist Anerkennung die absolute Differenz beider. Gelingendes Anerkennen besteht für Hegel in der Überwindung des Gegensatzes von Identität und Differenz im Sinne einer geteilten Praxis der wechselseitigen Fortbestimmung ihrer selbst. Die Kollision von Religion und Philosophie, von gegebener Voraussetzung und ihrer aneignenden Reflexion, wird in den Konflikt ihrer wechselseitigen Fortbestimmung überführt. Es ist in dieser Wechselseitigkeit, dass der Geist bei sich im Anderen ist und sich aus dem Verlust seiner im Anderen gewinnt. Die Selbstnegation liebender Subjektivität wird dabei im Christentum oft als platonisch-asketische, sexuell enthaltsame Lebensführung schematisiert. Sie kann als Sorge und Umsicht im Wissen der eigenen Endlichkeit und Fallibilität gefasst werden. In Sorge und Fürsorge mit und für Andere zu leben, avanciert dann bei Heidegger zum wesentlichen Moment des Daseins überhaupt. Die menschliche Existenz ist, in Heideggers Begriffen gesagt, doppelt bestimmt als Faktizität und offene Transformation im Lichte der eigenen Endlichkeit. Menschliche Existenz ist „geworfener Entwurf“. Solches Dasein ist stets unterwegs, ist stets in via. Es sind also nicht Ziel und Ende das Telos der Selbstnegation der Liebe, sondern der Weg der Negation an sich selbst ist ihr Telos.57 Die Botschaft der 56 57

E. Düsing, „Geist, Eros und Agape“, S. 17. Transformation im Sinne des in via-Charakters der Existenz ist ein genauso wichtiger Bestandteil einer Fundamentalontologie des menschlichen Daseins wie die Faktizität: „Das Verstehen macht in seinem Entwurfcharakter existenzial das aus, was wir die Sicht des Daseins nennen. Die mit der Erschlossenheit des Da existenzial seiende Sicht ist das Dasein gleichursprünglich nach den gekennzeichneten Grundweisen seines Seins als Umsicht des Besorgens, Rücksicht der Fürsorge, als Sicht auf das Sein als solches, umwillen dessen das Dasein je ist, wie es ist.“ Heidegger, Sein und Zeit, S. 145.

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Liebe ist im Christentum zentral mit dieser Idee der Transformation verbunden. Wirkliche, das heißt liebende Subjektivität ist eine, die sich um Andere sorgt, Selbstnutz beargwöhnt und in Fürsorge für andere lebt. Liebe ist nachhaltig, da sie als Prozess wechselseitiger Sorge ihr eigenes Resultat manifestiert. Indem wir für Andere da sind, sind Andere für uns da. Die „revolutionäre Lehre“ des neuen Testaments besteht für Hegel so darin, dass es „die Liebe zum Hauptgebot“ macht (VR 3, S. 148 f.). Das ist die zentrale Lehre, die Hegel als das theoretische Verhältnis des Christentums rekonstruiert. Liebe ist Theorie, ein Wissen, das sich einem Anderen gegenüber weiß. Wie verhält es sich nun mit der Praxis des christlich-religiösen Lebens? Wenn Liebe die Theorie ist, was ist dann eine Praxis, die diese Theorie exemplifiziert? Das praktische Wissen der Liebe führt zum Begriff der Gemeinde. Christliche Praxis ist die Konstitution der Gemeinde. Gemeinde entsteht durch die wiederholende Narration der „Geschichte […] der Erscheinung Gottes im Fleische“ (ebd., S. 152). Es ist die Geschichte vom Leben und Tod Gottes, vom Tod Gottes am Kreuz und der Auferstehung des Sohnes. Dieser „Tod ist die Liebe selbst“ (ebd., S. 150). Die Erscheinung Gottes im Fleische geschieht in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, Gottes Erscheinung ist somit vergangene Geschichte. Der christliche Mythos vom Tode Gottes am Kreuze drückt damit in vager, abstrakter Weise das „absolute Wissen“ der Philosophie aus, dass das Göttliche auch endlich ist. Die Gemeindekonstitution geschieht nun, indem dieser Mythos, diese Urgeschichte immer wieder vergeistigt, also vergegenwärtigt wird. Diese Vergegenwärtigung des Mythos im Logos kann „in Bildern, Reliquien usf.“ geschehen, verbleibt so aber letztlich abstrakt. Die Präsenz des Geistigen und Absoluten muss selber geistig gegeben, erinnert sein. Die „innerliche Weise“ der Vergegenwärtigung ist der Prozess der Gemeindebildung. Hegel unterscheidet nun drei geschichtsphilosophische Phasen der Gemeindebildung: a) ihr Entstehen, b) ihr Bestehen und c) „die Realisierung des Glaubens, die zugleich ein Übergang des Glau-

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bens, Veränderung, die Verklärung selbst des Glaubens ist“ (ebd., S. 154). a) Die Entstehung der Gemeinde ist die ursprüngliche Erzeugung des Inhalts der christlichen Erzählung vom Gottmenschen. Diese Narration erzeugt ein gemeinsames Bewusstsein der Urgemeinde, eine kollektive Identität. Es geht dabei nicht um „die juristische, historische Weise, ein Faktum zu beglaubigen“, nach dem Jesus Christus dieser oder jener Mensch war, „sondern daß dieser Mensch Sohn Gottes war“ (ebd., S. 157). Das gemeinschaftsstiftende Moment ist nicht die Übereinstimmung im Faktum der historischen Existenz eines Menschen, sondern die Teilhabe an der Verwandlung der historisch-sinnlichen in eine geistige Existenz. So ist die sinnliche Geschichte vom Tode Gottes am Kreuz nur Ausgangspunkt für den Geist. Die wirkliche Geschichte ist nicht die des Todes Gottes, sondern dessen gelebte Erinnerung im Rahmen der Gemeinde. Wirklichkeit erfährt die Geschichte erst, indem der heilige Geist sich ergießt, die Geschichte iteriert wird und so verbindliche Ausdruckswelt einer sozialen Praxis wird. b) Das Narrativ der Versöhnung von menschlicher Endlichkeit und göttlicher Unendlichkeit am Kreuze ist das zentrale Motiv der christlichen Identität. Gott ist diesem gemäß wesentlich durch die wechselseitige Liebe der Gemeinde. Dieses Narrativ erfährt durch die Kirche einen dogmatischen Rahmen, eine feste Auslegung. Für Hegel ist die klerikale Praxis also notwendige Bedingung des christlich-religiösen Lebens. Die göttliche Geschichte wird für Hegel wahr, indem sie als Gemeinschaftsstiftung im Namen der Liebe wiederholt wird. Diese Wiederholung, die „Wiedergeburt“ (ebd., S. 166), leistet die Kirche einerseits durch die Sakramente und die Eucharistie. Die in Gottes Tod vollbrachte Versöhnung muss als partikulares Ereignis durch den Kultus erinnert werden, um aktualisiert zu sein. Denn nur durch den immer lebendigen und jeden Tag geopferten Christus kann die christliche Gemeinde mit den höchsten Quellen des geistigen Lebens kommunizieren.58 58

Vgl. in gleichem Sinne: Durkheim, Elementare Formen, S. 56.

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Hegel vertritt also die Auffassung, dass die Kirche eine innere Notwendigkeit christlich-religiösen Lebens darstellt. Sie verleiht dem Narrativ Autorität in der Auslegung der Schrift und entwickelt die liturgischen Techniken ihrer Ritualisierung. Sie sind keine mystische Technik, sondern erben ihre Kraft aus der Verbindlichkeit der klassifikatorischen Praxis religiösen Lebens, deren Garant die christliche Geistlichkeit ist. Hegels Position zur Frage, ob christliche Gemeinde zwingend der Kirche bedarf, zeigt andererseits auch Ambivalenzen. Die Kirche ist die Autorität über die Auslegung des christlichen Narratives, sie behält nur nicht das letzte Wort. Ihre Auslegungen „werden uns als wahr gegeben, es ist nicht die eigene Einsicht; diese ist erst das Spätere, die Verarbeitung, Assimilierung, Zurücknahme, Aneignung dieses Stoffes“ (VR 3, S. 164). Erst in dieser selbstbewussten, aneignenden Annahme des christlichen Narratives ist freie Subjektivität ausgesprochen. Die Spannung besteht zwischen der freien Aneignung der Narrative und ihrer dogmatischen Auslegung durch die Kirche. Hegels philosophische Rekonstruktion des christlichen Narratives sucht nicht die explizite Kritik an der klerikalen Tradition der Auslegung, aber spricht auch keinem Gehorsam dem Klerus gegenüber das Wort. Hegels spekulative Rekonstruktion verbleibt vielmehr oft implizit mit Blick auf das klerikale Dasein der revolutionären Lehre der Liebe. Das Schweigen Hegels in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen zum Problem des Klerus ist für einen erklärten Lutheraner ein bemerkenswerter Sachverhalt. Das wird im Kontrast zu Kants ethikotheologischer Religionsphilosophie deutlich. Kant spricht einer antiklerikalen Skepsis das viel lautere Wort. Da Religion nach Kant nur innerhalb der Grenzen der Vernunft agiert, insofern sie das Befolgen des kategorischen Imperativs erleichtert, wird sie dogmatisch, sobald sie mehr als dessen Befolgen fordert. Der Gehorsam der Institution der Kirche gegenüber hat für Kant keinen Rechtsgrund im kategorischen Imperativ, ist somit „Afterdienst“ und „Fetischglauben“.59 59

Kant, Religionsschrift, B 225.

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Dieses Schweigen in der Religionsphilosophie mag mitverantwortlich dafür sein, dass in der Folge seine Philosophie als affirmativ, gar restaurativ verstanden wurde. Es geht für Hegel aber keineswegs um eine Restauration der Philosophie auf christlichem Boden. Der im Umkreis der Restauration erhobenen Forderung nach einer Verchristlichung beziehungsweise Rechristianisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens, einschließlich der Kunst und der Wissenschaften, stellt sich Hegel deutlich entgegen.60 Ihm geht es umgekehrt darum, der christlichen Religion auf philosophischem Boden eine moderne Begründung zu geben. Doch auch vor diesem Hintergrund bleiben die kritischen Töne zur Aktualisierung des Liebesbegriffs in der Institution der Kirche tatsächlich sehr leise. Hegel wendet an keiner Stelle die Realgeschichte der Praxis christlicher Religiösität gegen den Stellenwert ihrer Theorie. So heißt es etwa mit Blick auf christliche Missionstätigkeit nur: „Auf welche empirische Weise [die Ausbreitung der Kirche] geschehen ist, geht uns hierbei nichts an“ (ebd., S. 162 f.). Hegel erläutert so die Ausbreitung des Christentums über die überzeugende Kraft ihrer Glaubenslehre und sieht dabei von der empirischen, machtbasierten Wirklichkeit ab. Diese Abstraktion werden ihm später Marx und Nietzsche als Affirmation entgegenhalten: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“61 Die Überzeugungskraft der christlichen Heilsbotschaft macht irdisches Leid erträglicher. Deshalb gibt es eine systematische Verbindung von Christentum und sozialer Herrschaft. Auch für Nietzsche dient so die in den „älteren Köpfen noch qualmende Hegelische Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit [des Christentums], etwa dadurch, dass man die ‚Idee des Christenthums‘ von ihren mannichfach unvollkommenen ‚Erscheinungsformen‘ unterscheidet und sich vorredet, es sei wohl gar die 60 61

Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 507. Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, S. 378.

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‚Liebhaberei der Idee‘, sich in immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiss allerreinste, durchsichtigste.“62

Die Abstraktion von der empirischen Praxis der sozialen Herrschaft der Kirche ist, so können wir Marx und Nietzsche bündig fassen, Ideologie. Hegels idealistisch-immanente Kritik verliert in den Augen ihrer materialistischen Kritiker ihr kritisch-emanzipatives Potential. Hegel entwickelt den spekulativen Begriff der Religiosität in der Tat nicht in empirischer Hinsicht und wendet folglich auch die Verwerfungen der Praxis nicht gegen den Begriff. Berechtigt dies aber zur Behauptung, dass Hegels Religionsphilosophie deshalb unkritisch und der Kirche ideologisch verhaftet bleibt? Es gibt deutliche Aussagen Hegels zur Gewaltherrschaft christlicher Theokratien, die empirisch fundierte Kritik klerikaler Macht artikulieren. Die deutlichste These dazu formuliert Hegel bezeichnenderweise in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Die Geschichte der Kirche ist auch eine Geschichte der Barbarei. Sie bringt „Fanatismus […] oder passive Obedienz“ hervor (GW 30.1, S. 145). Die Rohheit im Namen Gottes kulminiert vor allem in Hexenprozessen und Inquisition, deren Ausmaß über die klerikal verfestigte Obedienz der Feudalherrschaft noch hinausging, weil sie sich auf die Form des Rechts berief und so „die Verdorbenheit der Sitten, so wie die Verrücktheit des Verstandes“ hervorrief (ebd., S. 145). Der Blick auf diese Kirchengeschichte zeigt: „Wenn die Kirche das Prinzip des Geistes hatte, so ist sie in ihrem objektiven Charakter dem Prinzip der Freiheit entgegengesetzt“ (ebd., S. 150). Hegel beschreibt das Mittelalter und die manifeste europäische theokratische Tradition als eine dunkle Zeit, eine Zeit der Zerrissenheit, deren Ende mit der Renaissance und der humanistischen Philosophie kam. Der philosophische Humanismus realisiert für Hegel einen tiefgreifenden Wandel, veränderte den intellektuelle Raum der Natur- und Rechtsphilosophie und begann zu entwickeln, was man im heutigen Sprachgebrauch als neuen Subjektivitätsdiskurs definieren könnte, 62

Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 297.

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in dem das neuzeitliche Prinzip der freien Subjektivität die ontologische Geltung erfährt, die ihr aus Hegels Perspektive gebührt. c) Das kritische Moment der Aneignung des christlichen Narratives artikuliert Hegel also nicht im Verweis darauf, dass christliche Theorie und ihre Lehre der Liebe nicht durch die klerikale Praxis reproduziert werden. Diese Abweichung von klerikaler Praxis und theoretischer Fundierung kritisiert er ebenfalls, diese Kritik bildet aber nicht den Kern seiner Religionskritik. Es reicht für Hegel methodisch nicht hin, dem Begriff der christlichen Religiosität die kirchliche Wirklichkeit – der Theorie die Nichterfüllung ihrer Praxis – entgegen zu halten. Radikale Kritik muss die Transformation der kritisierten Praxis erwirken und darf deshalb keinen partikularen Maßstab an die Praxis herantragen. Das wird deutlich in der Kritik der Aufklärung, Hegels Kritik der Kritik. Hegel kritisiert die Stellung der Aufklärung zum christlichen Narrativ als abstrakte Negation. Abstrakt ist Negation, wenn sie den eigenen Maßstab zum universellen Maßstab macht. „[D]ie neuere Aufklärung, durch welche vom Religiösen selbst sehr wenig, ein kleines Aschenhäufchen blieb“ (ebd., S. 138), wird selbst fanatisch, wenn sie ihre eigene Subjektivität zum Maß aller Dinge macht. Sie setzt sich damit mit einer ihrer Bestimmungen gleich, der wichtigen Bestimmung des Geistes, sich den Inhalt des gemeinschaftsstiftenden Narratives aneignen zu müssen, damit er real wird. Aber die Religion der Aufklärung bleibt im kritizistischen Modus der Negation stehen. Als prosaisch-verständige Weltanschauung der Säkularisierung kann die Aufklärung für Hegel ihre Weltanschauung nur polemisch gegen die Religiosität behaupten. Als abstraktes, verständiges Denken, bleibt sie eine partikulare Stimme gegen andere partikulare Stimmen. Die Aufklärung verbleibt, auch in der Form von Kants Ethikotheologie, die Gott als transzendentales Ideal im Sinne des Urhebers des moralischen Gesetzes denkt, polemisch gegen die Religion und so ihrem Gegner ideologisch verhaftet. Als externe Kritik ist die Aufklärung der kritizistischen Philosophie nicht durchgreifend genug, um Religiosität und Moderne wirklich zu versöhnen. Radikale und konkrete Kritik muss nämlich auch affirmie-

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ren, was sie kritisiert, teilt sie doch mit ihm den Ursprung. Konkrete Kritik affirmiert und kritisiert zugleich, indem sie sich die eigene Geschichte aneignet und das Wahre in ihr kritisch zur Darstellung bringt. Kritik bleibt hingegen abstrakt, wenn sie nur negativ zu ihrem Ursprung verfährt. Die Dialektik der Aufklärung, die Hegel zeichnet, sieht das Programm der Aufklärung darin scheitern, sich allein zum Maßstab des Modernen und Progressiven zu erheben. Dieser Anspruch schafft eine neue Form der Unfreiheit, die im polemischen Gebundensein an ihren Gegner besteht. Die aufklärerische Säkularisationsthese blendet in den Worten von Hans Joas „die Selbstsakralisierung als einer mit jeder Säkularisation verbundenen Gefahr“ aus.63 Anders gesagt, Religionskritik sollte nicht extern und apagogisch verfahren, indem sie durch das Aufzeigen innerer Widersprüche die Falschheit des Gegners aufzeigt, um daraus die Wahrheit der eigenen Position abzuleiten. Um wirkliche geistige Freiheit zu gewinnen, muss vielmehr der emanzipative Sinn der Religiosität gegen die Positivität der Tradition entwickelt werden. Die Befreiung vom klerikalen Zugriff auf das Gewissen und die Relevanz der Aneignung für den Glauben sind für Hegel kein externer Standpunkt gegen die christliche Religion, sondern entsprechen ihrem begrifflichen Kern. Immanente Kritik muss also auch ihr eigenes Selbstverständnis aufs Spiel setzen, wenn sie wirklich den Kern der Sache treffen möchte. Immanente Kritik kann den Anspruch auf Transformation des Kritisierten nur erfüllen, wenn sie sich selbst dadurch transformiert. Eine Philosophie der Religion, die keine Wahrheit in der Religion zu erkennen vermag, leistet für Hegel keine konkrete Reflexion ihrer Voraussetzungen. Wenn aber der Nachvollzug des religiösen Gehalts in der spekulativen Form der philosophischen Religionskritik nur als ein Nachdenken im Sinne eines Explizit- oder „Ausdrücklich-Machens“ derjenigen Bestimmungen gedeutet wird,64 die im religiösen Vor63 64

Joas, Macht des Heiligen, S. 19. Halbig, Objektives Denken, S. 152–158.

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stellen nur auf implizite Art und Weise enthalten sind, dann gerät der transformative Anspruch der spekulativen Religionskritik vollständig aus den Augen. Die wahre, konkrete Negation geschieht in der Philosophie, in der „Flucht in den Begriff“ (VR 3, S. 174). Sehr deutlich formuliert Hegel 1821: „Die Philosophie hat die absolute Wahrheit zum Gegenstand. Die Religion auch, beide haben denselben substantiellen Inhalt. Die Philosophie hat nicht erst die Religion hervorzubringen, diese hat nicht erst auf die Philosophie zu warten gebraucht, sondern der Mensch, als an sich vernünftig wird zur Religion getrieben, sein Wesen muß ihm objektiv werden. Daß die Wahrheit für den Menschen werde, liegt in der Vernunft selbst, allein in welcher Form? Dieß macht die Differenz zwischen Philosophie und Religion aus. Die Vorstellung in die Form des Begriffs zu transformiren, in die absolute Nothwendigkeit, welche die Natur des Begriffs ist, ist das Thun der Philosophie“ (VR 1, S. 31).

Diese Transformation fassen wir im Sinne einer immanenten Kritik der religiösen Form, ihren substantiellen Inhalt objektiv werden zu lassen. Immanente Kritik hat nach Hegel die Vorstellung zu kritisieren und gleichzeitig „die Form der Vorstellung“ als notwendig zu erkennen (VR 3, S. 175). In der Explikation der Vorstellung durch den Begriff verändert sich die Vorstellung und bleibt sich dennoch gleich. „Die Philosophie erkennt Gott wesentlich als die konkrete, als geistige, reale Allgemeinheit, die nicht neidisch ist, sondern sich mitteilt“ (ebd., S. 175). Das Absolute nicht vorzustellen, sondern auf den Begriff zu bringen, heißt also, den Mitteilungscharakter des unendlichen Geistes zu artikulieren. Die begriffliche Explikation des Mitteilungscharakters des Absoluten ist dabei die spekulative Rekonstruktion des Inhalts der Religion, der ihr mit der Philosophie eigen ist. Spekulative Religionsphilosophie rekonstruiert die Beziehungen zwischen der absoluten Substanz und der Subjektivität als Teilnahmebeziehung. Das setzt voraus, die „Explikation der Natur Gottes“ nicht als einfache Artikulation zu verstehen, sondern selbst als Transformation. Die Transformation der Religion, ihre Versöhnung mit dem Recht der Subjektivität auf freie Aneignung des Narratives, ist die Aufgabe

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der immanenten Kritik der Religion. Die immanente Kritik des religiösen Lebens setzt für Hegel voraus, dass die Philosophie es sich zur Aufgabe macht, „die Vernunft in der Religion zu zeigen“ (VR 3, S. 175). Erst in der „Gemeinde der Philosophie“ kommt die freie Aneignung der religiösen Ausdruckswelt zu ihrem Recht, ohne dass das religiöse Leben „in Atome zerfällt, jedes von eigener Anschauung“ (ebd., S. 174). Mit dem philosophischen Prinzip der Freiheit liegt der spekulativen Religionsphilosophie eine genuin aufklärerische Idee zugrunde, der modernes religiöses Leben zuträglich sein muss: Keine offenbarungsgestützte Norm kann mit dem Verweis auf eine etwaige Tradition begründet werden, sondern muss sich an dem Prinzip der Reflexion erweisen. Hegels Religiosität der Moderne wäre also fundamental missverstanden, wenn sie restaurativ gedeutet würde. Anders als vielen seiner Zeitgenossen geht es Hegel nicht um eine christliche Fundierung der Philosophie, sondern um eine philosophische Fundierung der Religion, um nichts Geringeres als die „Gemeinde der Philosophie“ (ebd., S. 176). Diese Gründung der Religiosität in philosophischer Praxis transformiert die Religiosität, kommt sie doch in ihrem Anderen zu sich. Erst als Philosophie kann die Wahrheit der Religion als anerkennende Liebe mit der modernen Prosa der politischen und konfliktuösen Lebenswelt versöhnt werden. Die Transformation einer Gemeinde von obedienten Jüngern zu selbstbewussten Philosoph*innen ist die moderne „Realisierung des Glaubens“ (ebd., S. 167). Das wirft die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität vom Religion und Philosophie auf, der wir nun nachgehen werden. Es bleibt nämlich offen, wie tiefgreifend der Bruch von Glauben und Wissen eigentlich ist, den die neue Welt des wissenschaftlichen Geistes mit der alten, religiösen Welt bildet. Wenn der religiöse Geist als wissenschaftlicher Geist zu sich kommt, dann lautet die naheliegende Frage, welche dann die Prinzipien dieser Welt sind. Hegel sagt uns dazu nicht viel, da sich seine Philosophie nicht mit Prophezeiungen abgibt. Die prägnanteste Stelle findet sich dazu am Ende der Einleitung in die Rechtsphilosophie:

4. Expressive Religionsphilosophie

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„Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. […] Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit“ (GW 14.1, S. 16).

Die „Versöhnung mit der Wirklichkeit“ bildet den Kern der spekulativen Eschatologie Hegels. Spekulation ist dabei kein utopisches Denken. Hegels politische Eschatologie weigert sich, vor dem Sein der Gegenwart in irgendein vages Seinsollen auszuweichen, eine unbestimmte Utopie künftiger Welten zu konstatieren, eine Welt im bloßen Meinen zu bauen. Es geht in Hegels Denken des Endlichen und Unendlichen letztlich um die Liebe und den Tod im Diesseits. Der menschliche Tod ist der einzige Tod, der Furcht erregt, weil der subjektive Geist von einem Bewusstsein eines abgetrennten und unersetzlichen Wesens erfüllt ist, das vom sicheren Verschwinden gezeichnet ist. Den menschlichen Tod zu akzeptieren und als Bedingung menschlicher Expressivität zu denken, das ist für Hegel zentrales Element seiner Eschatologie.65 In der Vorrede der PhG formuliert er dies so: „[N]icht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“ (GW 9, S. 27). Hegels Philosophie ist eine Philosophie des Todes und denkt die Negativität des Geistes angesichts des Todes und des Bewusstseins des kommenden Verschwindens als Kraft, dieses Wissen zu ertragen und als Bedingung der menschlichen Existenz zu integrieren. Produktiv wird das Wissen um die eigene Endlichkeit in Hegels Heils65

Vgl.: Bataille, „Hegel, der Tod und das Opfer“, S. 43.

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lehre als die Negation des Geistes an sich in Opferpraktiken,66 caritativen Praktiken, der Kunst als der Arbeit am poetischen Ausdruck der Vorstellungswelt sowie der Philosophie. Dieses Verständnis von Zukunft klärt auch Hegels Geschichtsverständnis auf: Die Negativität der Zukunft ist damit ein aktives Prinzip des wissenschaftlichen Geistes. Jede Gegenwart erleidet die Zukunft, denn die Zukunft löst die Konstruktionen und Praktiken des Geistes auf, diese Negativität der Zukunft geschieht der Gegenwart. Unter uns Sterblichen gibt es keine Seele, die die Zukunft kennt, weil die Zukunft immer das ist, womit niemand gerechnet hat. Umgekehrt aber bleiben Prognosen eng mit der Gegenwart verbunden und von ihr handeln sie auch.67 Hegel bestimmt die Geschichte als einen Prozess, der in der begrifflichen Spannung zwischen einem Streben nach Vollendung im Sinne ihrer Voraussetzungen in der Gegenwart und der prinzipiellen Offenheit dieser Manifestation für die Zukunft steht. Höhepunkt einer historischen Bewegung ist so für Hegel immer ein Umschlagspunkt: Die Totalität einer Zeit, ihre vollendete Gegenwart, ist kaum erreicht, da beginnt schon ihre Detotalisierung, die Raum eröffnet für die Retotalisierung ihrer Elemente auf neuerer, „höherer“ Ebene. Die historische Zeit ist prinzipiell unendlich, solange wir Menschen nicht aufhören, unsere Welt zu verändern. Die Negativität des Menschen impliziert, dass wir in keiner Lebensform letzte Totalität gewinnen können. Sie markiert die spezifische Historizität des Menschen.68 Da der Geist in seiner Expressivität sich selbst gewinnt, indem er sein Selbstverständnis im Kontext der kommunikativen Praktiken artikuliert, sich „gegenständlich macht“, transformiert er sich durch diese Kommunikation. Das 66

67 68

Eine philosophisch aufschlussreiche Deutung des Opfers entwickelt Bataille unter explizitem Rekurs auf Hegel: Bataille, „Hegel, der Tod und das Opfer“, S. 47–67. Bataille gewinnt dabei dem Opfer eine Seite ab, die sich so in Hegel nicht findet: „die Erotik der Welt des Todes“, S. 57. Vgl. zu dieser Lesart des Endes der Geschichte: Bischof, „Negativität und Anerkennung“, S. 267. Vgl.: Bataille, „Hegel, der Mensch und die Geschichte“.

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Ende der Geschichte ist immer das Ende einer Geschichte, nie aber kommt die Geschichte zu Ende, solange Geist in seiner Negativität wirkt. Geist ist wesentlich Freiheit und aneignende Tätigkeit in kommunikativen Praktiken, lebt als „Unruhe des Negativen“. Ein manifestes Ende der Geschichte wäre das Ende der Geschichte der Transformation des Geistes: Es gäbe keine Philosophie mehr, denn wenn der Mensch sich nicht mehr wesentlich ändert, gibt es auch keinen Grund für die konzeptionelle Arbeit mehr, die Prinzipien unserer Subjektivität zu vergegenständlichen.69 Das „Ende der Geschichte“ ist der Tod des Menschen im eigentlichen Sinn. Der Mensch wird beliebig und „austauschbar“.70 So ist das Christentum nach dem Ende der Religion eine Religion allein der sakralen Zeit und scheut die normative Regelung des Profanen. Es sind der säkular-laizistische, liberale Rechtsstaat und eine pluralistische Zivilgesellschaft, in denen sich das Christentum vollendet.71 Versöhnung kann im hegelschen Sinne also keine Vollendung des Menschen von der Geschichte meinen, Wahrheit und Faktizität fallen aber auch nicht zusammen. Hegels Eschatologie bietet keine Erlösungstheorie, die das Heil in der Erlösung von menschlichem Sein und seiner Negativität verspricht, sondern die Versöhnung mit dem Menschlichen im Sein sucht. Vor dem Hintergrund des Gegensatzes von Erlösung vom Sein und Versöhnung im Sein wird in eschatologischer Hinsicht klar, warum Hegels Versöhnungbegriff den systematischen Kern der Versöhnung als Konflikttheorie auf den Begriff bringt. Während in der kantianisch-marxistischen Tradition die Erlösung von den Widersprüchen und Dysfunktionen gesellschaftlicher Antagonismen gesucht wird, um das Ende aller Kämpfe und Antagonismen zu realisieren, sieht Hegel in Indifferenz und dem Mangel an Partizipation die Quelle historischer Dysfunktionalität. 69 70 71

Ebd., S. 91. Kojève, Introduction to the Reading of Hegel, S. 252. Löwith kennzeichnet Hegels Philosophie so denn auch als „letzten Schritt vor der großen Umkehr und Bruch mit dem Christentum“. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 53.

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Der Geist stirbt allein den Tod der Gewohnheit und differenzloser Wiederholung. Denn nicht in einer –- wie auch immer zu definierenden –christlich-protestantischen Ethik ist das Bewusstsein der Freiheit vollendet, sondern in der gesellschaftlichen Leistung, den Staat als Partizipationsbedingung aller Lebensformen zu gestalten. Im Säkularismus der Moderne kommt die Religion nach dem Ende der Religion nach der Seite ihrer höchsten, strenge Allgemeinheit verbürgenden Bestimmung zu sich. Diesen Grundgedanken Hegels zu rekonstruieren, war Gegenstand der voran stehenden Überlegungen. Nun geht es an die Frage ihrer Aktualität. Es geht also um die Struktur eines postdurkheimschen Paradigmas religiösen Lebens im Anschluss an Hegel. Religion nach dem Ende der Religion meint religiöses Leben ohne Anspruch auf die Hervorbringung einer kollektiv geteilten Ausdruckswelt, keine Kosmologie ist verallgemeinerbarer Ausdruck einer geteilten kulturellen Identität mehr. Werte gelten in ihrer pluralen Ontologie. Das ist Religion nach dem Ende der Religion. Kann, muss gar die Religion ihren Verlust des Status als zentraler Agent moralischer Normsetzung nun selbst als Emanzipation begreifen? Ist individuale Spiritualität eine wichtige, normative Komponente gelingenden Lebens? Jede*r folgt dabei dem eigenen Weg der spirituellen Inspiration, keine Kirche bildet den organisatorischen Unterbau der Gesellschaft mehr. Das religiöse, spirituelle Leben steht in keiner stabilisierenden Verbindung zur zivilisatorischen Ordnung mehr. Die philosophischen Voraussetzungen einer Religionspolitik bestimmen sie als Vielfaltspolitik. Ist das ein Gewinn religiöser Autonomie oder ihr Zerfall? Mit Blick auf Hegels Ästhetik haben wir oben gesehen, dass sie eine Theorie der Souveränität der Kunst entwickelt, die den Verlust der klassischen Stellung der Kunst als den Gewinn ihrer selbst zu deuten vermag. Wir übertragen diesen Gedanken nun auf die Religion. Als Kinder unserer Zeit müssen wir die Aufgabe, die Wahrheit der Religion auf den Begriff zu bringen, stets neu unternehmen, ändert sich doch ihr historisch-kultureller Kontext. Die hegelsche

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Aufhebung der Religion in der Philosophie bleibt so aktuell wie der Aktualisierung bedürftig.

5. Spekulation und religiöser Pluralismus Hegels Begriff der Religion ist kein abstrakter Begriff, der von den spezifischen Differenzen zwischen den Religionen absieht, nur ihre gemeinsame Grundstruktur heraushebt und zu dem diese Religionen deshalb in einem bloßen Subsumptionsverhältnis stehen. Vielmehr ist er Kategorie, also ein konkreter Begriff, der die besonderen Religionen als „Gestaltungen des Begriffs“ umschließt.1 Ihr Verhältnis ist weder Subsumption noch Inhärenz. Die Rede von der „Varietät“ religiösen Lebens bezieht sich auf diese logische Struktur der konkreten Allgemeinheit des religiösen Lebens. Mit den zunehmenden Wirk-, Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten im geschichtlichen Prozess entstehen neue Formen der kollektiven Bindung im religiösen Leben. Wir werden diesen Grundgedanken auf die Form religiösen Lebens in der Gegenwart anwenden. Hegels Begriff der Religion interessiert uns also nun mit Blick auf die Vielfalt und den Varietätenreichtum des religiösen Lebens der Gegenwart. Die These ist, dass Religion nur im Plural dem Begriff der Religiosität entspricht, eben weil es im Begriff des Absoluten enthalten ist, dass dieser seinen endlichen Erscheinungsformen nicht entgegengesetzt werden kann, da er ansonsten selbst ein Endliches wird.2 Aus systematischen Gründen gilt im spekulativen Denken, dass das Absolute nur in der Vielfalt seiner Gestaltungen wirklich ist. In der Historisierung der ontotheologischen Metaphysik leistet Hegel den Schritt, die ungeschichtlichen theologischen Begriffe der metaphysischen Tradition in geschichtliche Kategorien zu transformieren, die ihren sozialen Ursprung zu thematisieren erlauben. Das Subjekt der 1 2

Vgl.: Hermanni, „Hegel über die Evolution des religiösen Bewusstseins“, S. 156. Nonnenmacher, „Hegels Begriff des Absoluten und die Religionen“, S. 139.

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Geschichte ist nicht länger Gott, sondern die Wechselwirkung von absolutem Geist und dem Gattungswesen des Menschen. Kurzum, die Vielfalt der Religion ist dem Begriff der Religion nicht äußerlich, sondern wesentlich. Das meint die obige These von der systematischen Pluralität des geschichtlich gedachten, absoluten Geistes, die wir nun ergänzen können: Die Pluralität des absoluten Geist ist notwendig, weil die endliche Welt, ohne die das Absolute nicht ist, wesentlich plural ist. Die dabei in Anschlag gebrachte Rede vom religiösen Pluralismus entstammt der Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts, deren zentrale Frage darin besteht, wie sich die Pluralität der Religionen zum Wahrheitsanspruch von Religion verhält.3 Wir können vier Grundpositionen schematisch differenzieren: Ist es genau eine Religion, die als Einlösung des religiösen Wahrheitsanspruchs zu gelten hat, dann entspricht dies der Position eines religiösen Exklusivismus. Dass keine Religion diesen Wahrheitsanspruch einlöse, formuliert der religiöse Naturalismus. Wenn mehr als eine Religion wahr sein soll, heißt das dann, dass alle gleichermaßen wahr sind (Pluralismus) oder nur einige (Inklusivismus)? Wie ist Hegels spekulativer Begriff der Religion hier zu platzieren? Hegel vertritt keinesfalls einen bloßen Religionsrelativismus, in dem jede Religion ebenso wahr oder unwahr ist wie die andere. Vielmehr vertritt Hegel, wie Hermanni argumentiert,4 einen kritischen Inklusivismus. Kritischer Inklusivismus schließt zwar keine bestimmte Form der Religion aus, will aber fundiert im Grad der Reflexivität entscheiden, welcher Inhalt des Glaubens und aus welchem Grund heraus als wahr gelten kann. Der obige Gedanke, Hegels Position als immanente Kritik der christlichen Überlieferung im Rahmen einer expressiven Religionsphilosophie zu deuten, ermöglicht es, die inklusivistische Position Hegels zu einem kritischen Pluralismus zu erweitern, der das synchrone Bestehen konfessioneller und akonfessioneller Religiosität und Spiritualität besser fassen 3 4

Vgl. zu den epistemologischen Herausforderungen des religiösen Pluralismus: Hick, Dialogues in the Philosophy of Religion, S. 25–36. Vgl.: Hermanni, „Kritischer Inklusivismus“.

5. Spekulation und religiöser Pluralismus

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kann. Die systematische Notwendigkeit der Pluralität der Religion lässt sich mit Hegel denken, aber nur evolutionär. Das evolutionäre Entwicklungsmoment lässt sich so verstehen, als ob der systematische Widerspruch der Religiosität – das Absolute ist nur in der Vielfalt seiner Gestaltungen wirklich – temporal aufgelöst würde. Es ist aber nicht so, dass jede vorchristliche Religion nur eine unvollständige, abstrakte Fassung der christlichen Religion wäre. Nach Hegel entspricht nicht nur die vollendete Religion, sondern jede Religion dem Begriff der Religion und ist insofern vollständig. Denn jede Religion ist eine Gestalt des absoluten Geistes, der durch Vermittlung des endlichen Geistes von sich weiß. Daher realisiert sie in bestimmtem Sinne alle Momente des Begriffs: die dialektische Einheit zwischen absolutem und endlichem Geist, ihre Unterscheidung in der Vorstellung und ihre Versöhnung im Kultus. In der Binnenstruktur jeder Religion verwirklicht sich also die dreigliedrige Binnenstruktur des Religionsbegriffs.5 Dennoch begreift Hegels evolutionärer Pluralismus beziehungsweise Inklusivismus die vorchristlichen Religionen als beschränkte Realisierungen des Begriffs. Nach Hegels evolutionärem Pluralismus realisieren zwar alle Religionen ihren Begriff, aber nicht jede Religion aktualisiert ihren Begriff, hat ihn also zum Gegenstand. Der Begriff der Religion ist für Hegel nur in der vollendeten Religion selbst Gegenstand der Religion. Der „Schluß der Religion, die wahrhafte Religion, [ist die], die das Bewußtsein ihrerselbst hervorbringt – die das, was Religion ist, zu ihrem Gegenstand hat“ (VR 1, S. 220). Diese Stelle ist zutiefst ambivalent, lässt sie sich einerseits als inklusivistische These von der Vollendung der Entwicklung der Idee Gottes im Christentum lesen. Anderseits lässt sie sich auch so deuten, dass „Vollendung“ des religiösen Lebens im Bewusstsein seiner selbst als Gegenstand der Philosophie meint. Diese notorische Ambivalenz im Begriff der Vollendung ist für den spekulativen Begriff religiösen Lebens zentral. Zum Begriff Gottes als Geist, der für einen Geist ist und den damit verbun5

Vgl. zu dieser Einschätzung: Hermanni, „Hegel über die Evolution des religiösen Bewusstseins“, S. 161.

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denen religiösen Vorstellungen, die im religiösen Subjekt ihren Ort haben, gehört nämlich, dass dieser Begriff vermittelt für das Bewusstsein ist. An sich sind alle Religionen Gestalten des Absoluten, aber nur die christliche, und wie Hegel weiter einschränkt, nur die lutherische, sind auch für sich Gestalten des Begriffs der Religion. Zwar geht der kritische Inklusivismus bei Hegel nicht mit einem abstrakten Positionalismus einher, findet die vollendete Religion doch ihre Letztbegründung nicht in sich, sondern in einer methodisch an der Subjektivität reflektieren theoretischen Wissenschaft, der Philosophie.6 Dennoch ist für Hegel das Christentum von einem Maß an Reflexivität geprägt, das er anderen Religionen abspricht. Wenn wir diese Position nicht teilen, dann stellt sich die Aufgabe, eine kritische Distanz zu gewinnen. Die nötige Emanzipation vom Buchstaben der hegelschen Religionsphilosophie werden wir nun mit Blick auf die sozialphilosophischen Konsequenzen eines kritisch-pluralistischen Begriffs der Religiosität zu gewinnen versuchen. Da die hegelsche Religionsphilosophie eine immanente Kritik des Christentums ist, aber seiner Ausdruckswelt verhaftet bleibt, verstehen sich diese Überlegungen durchaus als Fortsetzung seiner Überlegungen. Diese Aktualisierung reklamiert also als Kritik an seiner Position Hegel Treue zu halten, um die Dringlichkeit und Einspruchsmöglichkeiten einer spekulativen Religionsphilosophie aufzuzeigen.

5.1 Säkularismus Was wären also Eckpfeiler einer Aktualisierung des hegelschen Versöhnungsanspruches von Glauben und Wissen? Eine der zentralen Prämissen in Hegels Philosophie der Religion ist die Trennung von weltlichem und sakralem Recht. Das Verhältnis von Staat und Religion thematisiert Hegel in den Vorlesungen zur Religionsphilosophie, der kanonische, da editorisch unkontroverse Ort ist aber der § 6

Wendte, „Hegel und der Religionspluralismus“, S. 186.

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270 der RPh von 1821, wo sich Hegel umfassend über das Verhältnis von Staat und Religion ausspricht. Hegel argumentiert konsequent säkularistisch. Der Staat ist seinem Begriffe nach säkular, weil es seine Idee ist, öffentliche Gewalt im Dienste der Bürger*innen zu sein. „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besondern Selbstbewußtseyn hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freyheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu seyn“ (GW 14.1, § 258).

Der Staat ist die sich wissende Organisation freier Verhältnisse und so Selbstzweck. Er dient allein der Idee der individuellen und politischen Freiheit der Bürger*innen. Unter Hegels Säkularismus können wir den Grundsatz verstehen, dass staatliche Gewalt nur als öffentliche und diskursive Gewalt legitim ist. Der Kern staatlicher Legitimität ist prozeduralistische Legalität, die Herrschaft des diskursiven Rechts und der politischen Kommunikation.7 Um die säkulare Staatsidee zu begründen, greift Hegel auf die Differenz von religiöser und wissenschaftlich-philosophischer Reflexionsform des Absoluten zurück. Zwar kann Religiosität eine empirische Gestalt annehmen, „welche die härteste Knechtschaft unter den Fesseln des Aberglaubens und die Degradation des Menschen unter das Thier […] zur Folge hat“ (ebd., § 270 A). Aber die empirischen Auswüchse klerikaler Herrschaft sind nicht der Grund, warum der Staat säkular begründet werden muss. Die Notwendigkeit der Begründung der säkularen Staatsidee leitet Hegel aus dem Begriff der Religion selbst ab und argumentiert dabei, dass „die Religion das Wahre zu ihrem allgemeinen Gegenstande [hat], jedoch als einen gegebenen Inhalt; der in seinen Grund-Bestimmungen nicht durch das 7

Habermas betont mit dem Stichwort des diskursiven Rechtsstaats dessen inklusive, reflexive Rechtssetzungsverfahren. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 187–207.

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Denken und Begriffe erkannt ist; eben so ist das Verhältnis des Individuums zu diesem Gegenstande eine auf Autorität gegründete Verpflichtung, und das Zeugniß des eigenen Geistes und Herzens, als worin das Moment der Freiheit enthalten ist, ist Glaube und Empfindung. Es ist die philosophische Einsicht, welche erkennt, daß Kirche und Staat nicht im Gegensatze des Inhalts der Wahrheit und Vernünftigkeit, aber im Unterschied der Form stehen“ (GW 14.1, § 270 A).

Dieser „Unterschied in der Form“ macht die Religion ungeeignet, die Basis für weltliche Macht und Staatlichkeit zu bilden. Selbst wenn eine positive, auf Offenbarung gestützte, allgemein als verbindliche Universalreligion anerkannte Religion denselben staatsbezogenen Inhalt hätte wie eine analoge säkulare Begründung, wäre sie qua ihrer Form dieser Begründung unfähig. Die Idee der Gerechtigkeit mag etwa als eine Weise verstanden werden, die Idee des Reiches Gottes auf Erden säkular auszubuchstabieren, aber das Reich Gottes ist eine Vorstellung, die der Prosa der rechtlichen Form extern bleibt. Ohne eine konstitutive Beziehung zur prosaischen Form des Rechts wird noch die vernünftigste Theokratie im Sinne der Gerechtigkeit zur Willkürherrschaft und „religiöse[m] Fanatismus“ (ebd., § 270 A): Religiosität ist der Poesie zu nahe, um weltliches Recht stabil begründen zu können. Das „unbestimmte Gefühl“ des göttlichen Willens bräuchte eine Art Übersetzung in die Prosa politischer Praxis.8 Der Staat ist aber kein Übersetzer von Gefühlen, sondern Urheber von Rechtsprosa und nur ihrer Durchsetzung verpflichtet. Der Staat findet seinen Rechtsgrund in der Garantie der Geltung unpersönlicher Gerechtigkeits- und Teilnahmeregeln. Gruppen und Gemeinschaften innerhalb dieses prosaischen Rahmens sind ermächtigt, ihre Gruppenidentität und ihre Kultur zu tradieren. Das Argument für den modernen, säkularen Staat ist, dass er über den in Konflikt liegenden Gruppen steht und die Aufgabe hat, die von rassistischer, ethnischer oder religiöser Loyalität hervorgebrachten mörderischen Neigungen durch legale Zwangsmittel im Zaum zu halten. Der star8

Schick, „Staat und Religion nach § 270“, S. 28.

5. Spekulation und religiöser Pluralismus

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ke Staat Hegels beschützt nicht nur, er fördert auch sowohl die Freiheit des Einzelnen wie die Unabhängigkeit von Vereinigungen und Religionsgemeinschaften, solange sie sich einem Rechtssystem unterwerfen, das für alle gleichermaßen gilt. Hegel begründet also, wie so viele andere vor und nach ihm, die moderne Staatsidee auch aus der historischen Erfahrung der europäischen Religionskriege und ihrer 30jährigen Verheerung heraus.(ebd., § 270 A). Diese liberale Staatsidee werden wir unten als kooperativen Laizismus näher beschreiben. Mit Blick auf den Formunterschied von religiöser und weltlicher Normativität gibt es eine sich entwickelnde Kontinuität des frühen mit dem reifen Hegel. In dieser Betonung der Nähe von Poesie und Religion sind sich der frühe Hegel, Schelling und Hölderlin nahe, ziehen aber im Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte unterschiedliche Konsequenzen aus ihr. Hölderlin reflektiert die poetische Praxis und ihre religiöse Bedeutung, indem er „alle Religion ihrem Wesen nach poetisch“9 auffasst. Für Hölderlin ist es der kommunikative Austausch dichterischer Mythen, der in dieser Wechselbeziehung je zum Ausdruck bringt, was den Einzelnen „ihr heiligstes“10 ist. Dieser Austausch von poetischer Erinnerung, von „Mnemosyne“, ist es, der es der modernen Gesellschaft erlaubt, sich mit sich zu vermitteln. Die individuellen und poetischen „Winke zur Fortsetzung“ entwerfen die soziale Utopie eines Festes, „wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren […].“11 Damit sucht Hölderlin eine eine neo-mythische Konzeption umzusetzen: Eine poetisch-moderne Religion soll sich von der christlichen als einerseits „vernünftige“ Religion unterscheiden, die aber zugleich als „sinnliche Religion“ auch das Herz des einfachen Volkes ansprechen sollte. In etwas sorgloser und beinah 9 10 11

Hölderlin, „Über Religion“, S. 281. Ebd., S. 275. Ebd., S. 281.

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stolzer Programmatik spricht auch das Systemprogramm12 von einem „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, [und einem] Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst.“ Es bedarf einer „Mythologie der Vernunft“ (GW 2, S. 616). Hegel wird nach den gemeinsamen Jugendjahren Abstand von der Idee nehmen, moderne Sittlichkeit auf der gemeinsamkeitsstiftenden Kraft der poetisch geformten Erinnerung zu gründen. Er hält aber an der Idee der Kommunikation als Praxis der gesellschaftlichen Selbstbestimmung fest, indem er die sozialen Räume kultureller Selbstbestimmung in ästhetische, religiöse und philosophische Praktiken differenziert. Während für Hölderlin das Heil in einer Poesie liegt, die die Gegenwart der Götter in der Welt evoziert und eine neue, sinnliche Bindung der Menschen an das Göttliche beschwört,13 sind für den reifen Hegel weder Sittlichkeit noch Staat auf Mythos, Poesie und religiösen Ausdruckswelten zu gründen. Der reife Hegel nimmt also von der romantischen Vorstellung Abstand, nach der der Staat nur „mechanisches Räderwerk“ sei, der eine neomythische Einbettung bräuchte (ebd., S. 616 f.). Der Staat gründet allein auf dem Gedanken, also der reflexiven Aneignung präreflexiv gegebener Inhalte. Das meint einen Staat, der die konkrete Wirklichkeit des Rechts ist. Der idealistisch gedachte Staat ist der Prozess der Rechtssetzung, Rechtssprechung und der administrativen Exekution des Rechts im Sinne der Freiheit der Bürger*innen. Die Idee des Staates aktualisiert sich in seinen legislativen, judikativen und exekutiven Gewalten. Bekanntlich denkt Hegel den Prozess der Gewalten und die Mitbestimmung daran nicht im Sinne demokratischrepräsentationaler Teilnahme, kennt sein Staat im Rahmen der 12

13

Die Urheberschaft des Systemprogramms ist nach wie vor ungeklärt. Die Mehrheitsmeinung ordnet es Hegel zu, aber auch Schelling und Hölderlin sind mögliche Urheber. Vgl.: Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 76–80. Vgl.: Witte, „‚ChristosDionysos‘“, S. 347.

5. Spekulation und religiöser Pluralismus

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konstitutionellen Monarchie doch keine Wahlen.14 Dennoch ist der Staat seiner idealistischen, anti-libertären Rechtstheorie zufolge eine der konstitutiven Voraussetzungen des ethischen Lebens. Individuelle Freiheit ist nur innerhalb eines staatlichen Rechtsraumes möglich. Religiöse Normativität ist nun aus zwei Gründen nicht fähig, diese Voraussetzung zu erfüllen. Diese Voraussetzung muss erstens intersubjektiv offen sein, um als Voraussetzung kommunikativ geteilt werden zu können, und zweitens widerspricht der Paternalismus religiösen Rechts der Idee des säkularen Rechtsstaats. Erstens erfüllt Religiosität für Hegel die Voraussetzung der kommunikativen Intersubjektivität nicht, weil sie primär das Verhältnis des subjektiven Geistes zum absoluten Geist im Medium der Vorstellung betrifft. Zwar hat auch die religiöse Ausdruckswelt mit der Gemeinde eine materielle, das heißt intersubjektive Voraussetzung, aber sie bleibt als Vorstellung subjektiv, nur „innere Gesinnung und Ansicht“ (GW 14.1, § 270 A). Als innere Gesinnung, der die Prosa des Rechts äußerlich ist, ist Religiosität in rechtlicher Hinsicht notorisch willkürlich, muss sie doch das abstrakte Gebot der Gottgefälligkeit in immer neue rechtliche Kontexte übersetzen. Für diese Fortbestimmung ist die begriffsferne Form der Vorstellung ungeeignet. Es ist der Vorstellung des Absoluten ja geradezu eingeschrieben, Gott als unwandelbare Substanz vorstellen zu müssen. Erst der explizierende Begriff erlaubt die Überwindung dieser Einseitigkeit und eine differenzierende Interpretation normativer Prinzipien in Normen einer sich wandelnden sozialen Praxis. Geltendes Recht muss in veränderten Kontexten angesichts neuer Bedürfnisse, Technologien und neuer Interessen stets neu interpretiert werden. Rechtsentwicklung ist eine begriffliche Praxis, keine der Vorstellung. Diese Interpretation ist, besonders mit Blick auf Rechte, die die kulturelle Integrität und Autonomie betreffen, immer auch ein 14

Vgl. für eine konsequente Lesart dieses Staatsbegriffes als Theorie demokratischer Sittlichkeit im Sinne von sozialer Freiheit und Gerechtigkeit: Honneth, Recht der Freiheit.

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Religion

Kampf um die Legitimität von Rechten. Da die praktische Geltung normativer Prinzipien in die gewachsene Sittlichkeit kultureller Verhältnisse eingebettet ist, führen Fragen der theoretischen Interpretation legitimer Rechte in kulturpolitische Kontroversen, in der die kulturellen Selbstverständnisse der Beteiligten kollidieren.15 In diesem „Kampf um Anerkennung“ spielen, wie Honneth zeigt, kollektive Erfahrungen verletzter Integrität und die Empörung gegen Missachtung eine entscheidende Rolle.16 Die historische Erfahrungen der Religionskriege und der protestantisch-katholischen Kulturkämpfe zeigen schon zu Hegels pluralen Zeiten, dass die kulturelle Autonomie unterschiedlicher Religionsgemeinschaften innerhalb des rechtlichen Rahmens eines Staates ein fragiles, nie selbstverständliches Gut ist. Der säkulare Staat dient der Versachlichung des Kulturkampfes, indem er neutrale Entscheidungswege etabliert. Im sozialen Raum politischer Kommunikation müssen die sozialen und politischen Normen sich deliberativ und argumentativ Geltung verschaffen. Zweitens kann Religiosität qua ihres Vorstellungscharakters keine Staatlichkeit begründen, weil sie von einem gegebenen Inhalt ausgeht. Die Verkehrsformen rechtlicher Praxis müssen durch die Intersubjektivität selbst zu gebende Formen sein. Die Begründung weltlicher Normen und Verkehrsformen muss Ausdruck der Selbstbestimmung des objektiven Geistes sein, um bindende Kraft zu begründen. Religion blendet strukturell etwas aus, das mit dem kantischen Antinomiebegriff klarer gefasst werden kann: In kantianischer Terminologie gesagt, gilt im modernen Rechtsstaat das Ideal, dass öffentliche und private Autonomie gleichursprünglich sind. Die Adressat*innen des modernen Rechts können nur in dem Maße Autonomie erwerben, wie sie sich selbst als Autor*innen der Gesetze verstehen können, denen sie als private Rechtssubjekte 15

16

In diesem Punkt folgt Habermas der Kantkritik Hegels durchaus, denn eine trennscharfe „Unterscheidung der theoretischen und praktischen Vernunft“ ist hinfällig. Habermas, „Hegels Kantkritik“, S. 27. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 212–225.

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unterworfen sind.17 Nur unter dieser Bedingung ist der Rechtsstaat notwendige Bedingung individueller und politischer Freiheit. Aufgrund der Gegebenheit ihres Inhalts genügt Religion auch dieser Voraussetzung für die Rechtfertigung weltlicher Macht nicht. Auf Basis seines Säkularismus diagnostiziert Hegel der Moderne die machtpolitische Depotenzierung der Kirche, sodass diese nicht mehr die verbindliche, unkontroverse Instanz der Weltorientierung ist. „Insofern aber die Religion, wenn sie wahrhafter Art ist, ohne […] negative und polemische Richtung gegen den Staat ist, ihn vielmehr anerkennt und bestätigt, so hat sie ferner für sich ihren Zustand und ihre Aeußerung. Das Geschäft ihres Cultus besteht in Handlungen und Lehre“ (GW 14.1, § 270 A).

Kirche beschränkt sich fortan auf den Bereich der individuellreligiösen Interessen – auf Fragen des Lebenssinnes, auf Individualethik, auf Vergebung der Sünden und auf das Leben nach dem Tod.18 Der moderne Staat braucht die moralische Agentur der Kirchen nicht mehr zu bekämpfen, sondern kann sie als individualethischen Rückzug ins Private in den Bereich seines Rechtszwanges integrieren. Hegel zeigt sich früh davon überzeugt, dass die Kirchenspaltung bei der Herausbildung moderner Staatlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt hat und die institutionelle Einheit von Kirche und Staat nicht zu restaurieren sei. Die konfessionelle Spaltung ist für Hegel kein Geburtsfehler des Staates, den die Moderne zu heilen hätte. „Es ist daher so weit gefehlt, daß für den Staat die kirchliche Trennung ein Unglück wäre oder gewesen wäre, daß er nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Eben so ist es das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freyheit und Vernünftigkeit hat wiederfahren können“ (ebd., § 270 A). 17 18

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 112–134. Jaeschke, „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“, S. 10.

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Religion

Der moderne Staat verzichtet auf die Macht der Religion um seiner selbst willen, weil nur dieser Verzicht ihn zu seinem Eigenen bringt.19

5.2 Laizimus Hegels Kategorie des religiösen Lebens versteht Religiosität wesentlich über die Beziehung des subjektiven mit dem absoluten Geist. Damit korrespondiert eine säkulare Staatsidee. Was setzt nun säkulare Staatlichkeit mit Blick darauf voraus, wie Staat und Kirche zueinander stehen? Denn auch im säkularen Staat gibt es konfessionell gebundene Körperschaften. Ich möchte vorschlagen, hier begrifflich zu differenzieren: Während nun „säkular“ die Begründung des Staates in der Idee der öffentlichen und autonomen Gewalt meint, beschreibt „laizistisch“ die Modalität der Beziehungen der Staatsgewalten zu den institutionellen Glaubensgemeinschaften. Laizistisch ist ein Regime, das den Gegensatz von bürgerlichem und kanonischem Recht kennt und letzteres dem bürgerlichen Recht unterstellt.20 Laizismus meint so erstens die Trennung von Staat und konfessionellen Institutionen und zweitens die staatliche Neutralität in weltanschaulichen Fragen, was vor allem in Fragen der Erziehung eine maßgebliche Rolle spielt. Laizismus ist, in den Worten von Maclure und Taylor, der „Modus des Regierens“, der eine konstitutive Spannung in der Idee des säkularen Rechts verhandeln muss.21 Es gilt nämlich, die Idee der Rechtsgleichheit mit der Idee der Gewissensfreiheit auszuhandeln. Das Verhältnis von Rechtsgleichheit und Gewissensfreiheit ist nicht spannungslos, weil Gewissensfreiheit auf Ausnahmen von der Rechtsgleichheit zielt. Sind im Namen kulturell-religiöser Autonomie und individueller Gewissensfreiheit Ausnahmen von der Rechtsgleichheit statthaft? Ein jüngstes Bei19 20 21

Jaeschke, „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“, S. 12. Das Wort kommt von altgriechischen laïkós und meint den Ungeweihten, den Laien im Gegensatz zum Priester. Vgl.: Mehl, Laizismus, S. 404. Maclure und Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S. 12.

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spiel aus der deutschen Rechtssprechung betrifft die Sikh-Religion, deren männliche Anhänger einen Turban tragen. Im Namen ihrer kulturellen Autonomie argumentieren ihre Anhänger für die Befreiung von der allgemeinen Helmpflicht beim Motorradfahren.22 Allgemein gesagt: Laizismus steht in der dialektischen Spannung der Rechtsgleichheit und der kulturellen Autonomie der Bürger*innen. Um diese begriffliche Spannung im Laizismus zu reflektieren, folgen wir Taylor darin, zwei Formen von Laizismus zu unterscheiden. Da ist einerseits ein Laizismus, den Taylor mit Blick auf Frankreich und die Türkei als „republikanischen“ Laizismus bezeichnet. Dieser gewichtet das Gleichheitsgebot höher als die Gewissensfreiheit. Es gibt also keine Ausnahmen von der Regel, da jede Ausnahme ein Privileg darstellt, das gerechtigkeitstheoretisch nicht zu begründen ist. Die Kritik an religiös begründeten Ausnahmen von der Rechtsgleichheit kann sich dabei auf das Prinzip stützen, dass Normen und Rechtsinstitute alle Bürger*innen auf faire Weise behandeln müssen. Fair heißt, dass alle ihren gerechten Anteil an den Vorteilen sozialer Kooperation erhalten und im Gegenzug einen gerechten Anteil der damit verbundenen Lasten tragen.23 Religiöse Ausnahmen gleichen in dieser Hinsicht einer Vorzugsbehandlung und sind daher unfair. Das Rechtsgut der Rechtsgleichheit wiegt dem republikanischen Laizismus schwerer. Dementsprechend skeptisch ist der „prozedurale Republikanismus“ gegenüber der Idee kultureller Autonomie.24 Die zweite Form des Laizismus bezeichnen Maclure und Taylor als „pluralistischen“ Laizismus. Dieser folgt der Idee eines „Laizismus der Anerkennung“.25 Es ist diesem Verständnis zufolge nicht 22

23 24 25

Vgl. zur Urteilsbegründung, die das Risiko, aufgrund eines nicht getragenen Helms bei einem Unfall nicht helfen zu können, gegen die kulturelle Autonomie abwägt: BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 3 C 24.17. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 20 f. Vgl. zur kommunitaristischen Kritik am Republikanismus auch: Sandel, Liberalismus oder Republikanismus. Die pluralistische Vorstellung von Laizität hat, so Maclure und Taylor, starke Ähnlichkeit mit dem, was Micheline Milot „Laizität der Anerken-

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Religion

a priori unfair, religiös begründete Ausnahmen mit der Idee der Egalität vor der öffentlichen Rechtsgewalt zu verbinden. Im Gegenteil: Erfordert die säkulare Grundidee der Neutralität des Staates es nicht sogar gegenüber den philosophischen, spirituellen oder religiösen Weltanschauungen, Ausnahmen im Sinne sozialer Gerechtigkeit zu erlauben? Republikanischer Laizismus versteht unter Gerechtigkeit wesentlich Gleichheit. Ungerecht im republikanischen Verständnis ist soziale Praxis, wenn sie die Möglichkeiten von Teilnahme und Mitbestimmung entlang partikularer Identitäten ordnet und in der Folge an diesen entlang ausschließt. Ungerecht im pluralistischen Sinne ist soziale Praxis, wenn die Teilnahme an der Selbstbestimmung der Praxis den Verzicht auf das spezifische Selbstverständnis voraussetzt und der Mensch nur als universelles Abstraktum politisch mitwirken kann. Die republikanische Vorstellung, der Staat sei ein weltanschaulich neutraler Akteur, der unparteilich die Grenze zwischen weltlich-bürgerlicher und kanonisch-offenbarter Normativität, zwischen der Prosa der Welt und der Poesie des Himmels, zöge, wird von Maclure und Taylor mit dem Verweis darauf befragt, dass die Neutralität unter den Bedingungen der multikulturellen Moderne selbst nicht vollständig sei. Der Säkularismus und Laizismus des westlichen Liberalismus sind so weltanschaulich selbst im Christentum verwurzelt.26 Beispielsweise erfordert es die Koordination von Handlungen in der arbeitsteiligen Gesellschaft, dass das Zusammenleben von einem einheitlichen Kalender bestimmt wird, der aus historischen Gründen vom liturgischen Kalender der Mehrheitsreligion dominiert ist. Grundlegender noch gewichtet der moderne Staat kritische Autonomie und Urteilskraft höher als die Achtung der Tradition, was vor allem im pädagogischen

26

nung“ nennt. Ihr zufolge ist die Laizität der Anerkennung „zweifelsohne unter den verschiedenen Umsetzungsmodalitäten der Laizität die sozial, ethisch und politisch anspruchsvollste“. Milot, Laïcité. Zitiert nach: Maclure und Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S. 48. Taylor, „Die Politik der Anerkennung“, S. 49.

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Bereich deutlich wird.27 Maclure und Taylor kritisieren die republikanische Laizität dafür, dass sie diese strukturelle Benachteiligung religiöser Lebensformen, teils unter der Hand, teils offen, weiter vertiefe. Republikanischer Laizismus gerät so zu einem Regime, das eine naturalistische „Zivilreligion“ durchsetzen will, die auf die Emanzipation aller Menschen von der Religion abzielt. Der Staat verletze so das Neutralitätsgebot. Anstatt die kulturelle Integrität der verschiedenen religiösen Lebensformen zu wahren, zielt er so auf die Angleichung sozialer und kultureller Lebensformen. Zweitens verfolgt republikanischer Laizismus ein Konzept nationaler Identität, das an die Stelle von weltanschaulichem Kulturpluralismus eine national-kulturelle Einheit setzt. Diese Form des Laizismus resultiere darin, dass Religion Privatsache und religiöse Menschen zu Bürger*innen zweiter Klasse würden.28 Um diese strukturelle Ungerechtigkeit auszugleichen, ist es, so Taylors gerechtigkeitstheoretischer Grundzug, ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, Ausnahmen von der rechtlichen Gleichheit zuzulassen.29 Der Begriff des Laizismus entsteht historisch erst nach Hegel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wird in den Bereichen der Rechtssprechung – hier steht kanonisches gegen bürgerliches Recht – und im pädagogischen Bereich gegen die Kirche erkämpft. So wirft Taylors systematische Unterscheidung von republikanischem und pluralistischem Laizismus die Frage auf, wie sich Hegels säkulare Staatsidee zu den alternativen Modellen des Laizismus verhält. Sollten wir Hegel eine republikanische oder eine plu27 28 29

Maclure und Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S. 26. Ebd., S. 40 f. Damit ist die rechtsphilosophische Frage berührt, ob es eine Antwort auf die kulturellen Deutungskämpfe sein kann, kollektive Schutzrechte einzuführen. Habermas hält die normative Idee kollektiver politischer Rechte für überflüssig, da es im demokratischen, auf die subjektiven Rechte zugeschnittenen Rechtsstaat unnötig sei, „systemfremde kollektive Rechte“ einzuführen. Der Pluralismus, so wie wir ihn hier mit Hegel entwickeln, teilt diese Skepsis mit Habermas. Die Anerkennung kultureller Differenz ist primär eine zivilgesellschaftliche Frage. Siehe: Habermas, „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat“, S. 131.

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ralistische Haltung zuschreiben? Einschlägig sind diesbezüglich seine Anmerkungen zu § 270 der RpH, die Diasporagemeinden behandeln, die den Staat und ihre direkten Pflichten gegen ihn nicht anerkennen beziehungsweise denen die bürgerlichen Rechte aufgrund kultureller Differenzen verwehrt werden. Hegel diskutiert die Religionsgemeinschaften der Quäker, die aus religiösen Gründen die Militärpflicht ablehnen. Sein Punkt ist aufschlussreich, da er argumentiert, dass aus der Ablehnung der Pflichten gegen den Staat im Namen kultureller Selbstbestimmung nicht der Rechtsverlust folge, als Mitglied und Rechtssubjekt der politischen Gemeinschaft behandelt zu werden. Deutlich wird das auch an der Frage nach der rechtlichen Emanzipation der Juden. Juden sind in Hegels souveränem Staat „zu allererst Menschen“ mit allen „bürgerlichen Rechten“. Die Exklusion der jüdischen Diaspora von bürgerlichen Rechten vertieft die kulturelle Differenz zu einer politisch gefährlichen Kluft. Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ist zwar ein wesentliches Prinzip staatlicher Sittlichkeit, aber Hegel versteht sie so, dass sie in Spannung mit dem Recht der kulturellen Autonomie steht. Für Hegel ist die Frage der kulturellen Identität von Christen und Juden in einem Staat nur zu lösen, wenn der säkulare Staat die Gleichheit politischer Rechte gewährt, ohne die Aufhebung der kulturellen Autonomie des Judentums zur Bedingung zu erheben.30 Hegel argumentiert im Sinne dieser Spannung, dass der liberale Staat tolerant sein muss: „Der in seiner Organisation ausgebildete und darum starke Staat kann sich hierin desto liberaler verhalten, Einzelheiten, die ihn berühren, ganz übersehen, und selbst Gemeinden (wobey freilich auf die Anzahl ankommt) in sich aushalten, welche selbst die directen Pflichten gegen ihn religiös nicht anerkennen, indem er die Mitglieder derselben der bürgerlichen Gesellschaft unter deren Gesetze überläßt“ (GW 14.1, § 270 A). 30

Für Marx ist die politische Emanzipation im Sinne voller politischer Rechte solange unzureichend, wie sie mit der „menschlichen Emanzipation“ von Religiosität überhaupt nicht einhergeht. Marx kennt also kein Recht kultureller Autonomie auf Basis des religiösen Lebens. Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, S. 361.

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Gegen Gruppen, die den Staat nicht anerkennen, „ist es im eigentlichen Sinne der Fall, daß der Staat Toleranz ausübt“ (ebd., § 270 A). Souveränität besteht, so können wir Hegels Punkt interpretieren, in Toleranz, da der Mangel an Toleranz eine schwache eigene Identität bedeutet.31 Souverän ist, wer Toleranz ausübt. Toleranz im starken Sinne betrifft nach Walzers Verständnis die tiefen ethischen und religiösen Differenzen der pluralen Moderne: „the differences at issue are cultural, religious, and way-of-life differences  when the others are not fellow participants and when there is no common game and no intrinsic need for the differences they cultivate and enact.“ Grundsätzlich gilt: Je mehr Freiheiten, desto mehr Differenzen, desto notwendiger die Toleranz. Walzers Beschreibung toleranten Verhaltens in der pluralen Moderne umfasst so unterschiedliche Typen von Toleranz wie „resignation, indifference, or stoicism, whereas others need to encourage curiosity or enthusiasm“.32

5.3 Zwei Antworten Es gibt im Rahmen der politischen und sozialen Kommunikation über rechtsstaatliche Prinzipien, kulturelle Autonomie und legale Egalität Spannungen, die jeder Laizismus auszuhalten hat und unterschiedlich gewichtet. Diese Spannung wächst mit der Zunahme kultureller Vielfalt und damit wächst auch die Tendenz, Vielfalt als Bedrohung sozialer Kohäsion und normativer Verbindlichkeit zu verstehen. Der Streit um die laizistische Modalität erscheint als Ausdruck einer heterogenen Kultur, der, so eine mögliche Intuition, Quellen der Kohärenz einer geteilten Kultur mit hinreichend ähnli31

32

Iber spricht von einer „halbherzigen religiösen Toleranz“ bei Hegel aufgrund des schwierig zu verstehenden Umstands, dass Hegel Säkularismus und gleichzeitig die Religion als Grundlage des Staates zusammendenken will. Diesen Aspekt des hegelschen Säkularismus werden wir unter dem Stichwort der Säkularisierung diskutieren. Iber, „Staat, bürgerliche Gesellschaft und Religion“, S. 134. Walzer, On Toleration, S. 9-13.

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cher Ausdruckswelt entgegenzubringen seien. Es brauche gewissermaßen verbindliche Quellen der Loyalität, die in der Lage sind, den Streit von Gleichheit und Autonomie zu lindern und ihn idealerweise zu befrieden. Dafür sei eine Konzeption des ethischen Lebens unerlässlich, die ein Gemeinsames der Lebensformeh in Form eines geteilten Guten, einer geteilten Ausdruckswelt, stiftet. Nennen wir dies die kommunitaristische Intuition. Diese Intuition ist auch in Hegel präsent. Sein Konzept der Sittlichkeit ist insofern kommunitaristisch, als dass es die subjektive Integrität und Moralität in die gewachsene Sittlichkeit kultureller Lebensformen einbettet: Der „Nationalgeist […] macht die substantielle Grundlage im Individuum aus; ein jeder ist in seinem Volke geboren und gehört dem Geiste desselben an. Dieser Geist ist das Substantielle überhaupt und das Identische gleichsam von Natur“ (VR 1, S. 335). Mit Blick auf die Idee einer sozialen Gemeinschaft, in die die moralischen Regeln eingebettet sind, spricht Hegel auch vom „Volksgeist“ (GW 14.1, § 257). Hegel greift damit eine Figur von Herder auf, dessen Idee einer Volksgemeinschaft sich als demokratisches Ideal gegen die Herrschaft feudaler Eliten wandte.33 Hegels Dafürhalten ist, dass Religiosität eine solche volksgeistliche Einbettung, eine konkrete Basis moderner Sittlichkeit also, liefere. Man kann Hegel auf guter textueller Basis das Theorem von der Religion als Basis des Staates zuschreiben und ihn so verstehen, dass er Religiosität als eine Art komplementäre Bedingung von Sittlichkeit denkt.34 Religiöses Leben stiftet soziale Kohäsion, indem es 33 34

Vgl. zu dieser Herderdeutung: Mährlein, Volksgeist und Recht. Schick differenziert in ihrer Interpretation so zwischen Religion im engeren und im weiteren Sinne: „Dass Religion die Grundlage des Staates ist, knüpft dann an den weiteren Sinn an und beharrt für die theoretische Verwandlung von Zwang in Freiheit auf anspruchsvollen Begründungsbedingungen – Bedingungen, die nicht durch den Rückbezug auf den Dienst am beschränkten Interesse und auch nicht durch den Verweis auf Formeigenschaften des Staatshandelns wie Gesetzesform und Gewaltenteilung allein einlösbar sind. Dass Religion nur die Grundlage des Staates ist, knüpft hingegen an den engen Sinn an und beharrt gegen die spezifische epistemische Form der Religion auf dem Deside-

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Loyalität mit dem eigenen Volk weckt, die über staatsbürgerliche Verpflichtung hinausgeht. Damit antizipiert Hegel gewissermaßen die Ansicht Böckenfördes, dass das Politische auf Voraussetzungen basiert, von denen es seine Legitimität bezieht, die es aber selbst nicht garantieren kann.35 Böckenförde hält mit Blick auf das Christentum fest: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“.36 Dieses Paradoxon begründet Böckenförde explizit durch den Verweis auf Hegels These, dass das Christentum die Religion der Freiheit sei. Böckenförde argumentiert dabei, dass die Religion – und nur die Religion – die Sittlichkeit hervorbringt, auf der der Staat beruht. Daher ist das Christentum für Böckenförde die Antwort auf die Frage nach der „homogenitätsverbürgende[n] Kraft“.37 In späteren Schriften hat Böckenförde diesen Zusammenhang abgeschwächt, da er neben der Religion weitere „vorrationale Quellen“ der Gemeinsamkeit ausmachen kann, auf der eine Demokratie beruht.38 Da es zugleich für den säkularen Staat zwingend ist, sich von der Religion zu emanzipieren, stellt sich die dringliche Frage, wie diese Einbettung genauer zu verstehen ist, handelt es sich doch um zwei einander ausschließende Thesen: Eine entscheidende Bedingung säkularer Staatlichkeit liegt in der Trennung von Staat und Religion und eine entscheidende Bedingung moderner Staatlichkeit liegt in der Einheit von Staat und Religion. Religiöses Leben ist eine Voraussetzung von Staatlichkeit, weil religiöses Leben Loyalität dem Staat gegenüber stiftet, die er mit seinen legalen Zwangsmitteln nicht

35 36 37 38

rat der Entwicklung des in dieser Form abstrakt, d. h. getrennt von seiner Wirklichkeit, gedachten Inhalts.“ Schick, „Staat und Religion nach § 270“, S. 35. Vgl.: Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 112. Ebd., S. 111. Böckenförde, „Stellung und Bedeutung der Religion in einer ‚Civil Society‘“, S. 281 ff.

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schaffen kann. Rechtsprosa berührt keine Herzen. Auf Rechtsprosa allein werde der Staat ein „Not und Verstandesstaat“, eine äußerliche Zwangsinstitution gegenseitiger Abhängigkeit und heteronomer Verkehrsformen (GW 14.1, § 183). Hegel bestimmt das Verhältnis von Staat und Kirchen daher reziprok. Einerseits erfüllt „der Staat eine Pflicht [darin], der Gemeine für ihren religiösen Zweck allen Vorschub zu thun und Schutz zu gewähren“. Er kann andererseits im Gegenzug erwarten, dass „die Religion das ihn das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment ist“, und so darf er es sich erlauben, „von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß sie sich zu einer Kirchen-Gemeinde halten – übrigens zu irgend einer, denn auf den Inhalt, insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen“ (ebd., § 270 A). Um diesen Widerspruch analytisch zu durchdringen, greifen wir auf zwei Lesarten der Beziehung von Religion und Staat zurück. Dem ersten Modell ihrer liegt eine Kompatibilitätsthese zugrunde, der zufolge die Religion mit dem modernen Staat kompatibel ist. Dieser Lesart zufolge zielen Hegels Ausführungen vor allem darauf ab, die Vereinbarkeit von christlicher Religion und modernem Staat nachzuweisen. Die religiöse Gesinnung stiftet auf kultureller Ebene Loyalität gegenüber dem Staat. Eine solche Loyalität könne zwar auch auf anderem Wege garantiert werden, religiös motivierte Loyalität ist in diesem Modell nicht notwendig für den Staat.39 Anders argumentiert eine zweite, voraussetzungsstärkere Lesart, der zufolge religiöse Loyalität für Hegels Staatskonzeption keine nur mögliche, sondern eine notwendige Bedingung darstellt. In dieser Deutung bedarf der Staat einer ihm loyalen, zivilreligiösen Kultur, die ihm allein aus dem religiösen Leben zuwächst.40 Zwar gibt es, wie wir zeigen werden, textuelle Evidenz für die erstgenannte, schwächere 39

40

Ludwig Siep versteht etwa den säkularen, gewaltenteiligen Rechtsstaat zwar als philosophisch letztbegründet, er kann aber vom religiösen Gewissen und seinem Gottesbild bestätigt werden. Vgl.: Siep, Der Staat als irdischer Gott, S. 182. Eine solche Rekonstruktion entwickelt: Mooren, Hegel und die Religion, Vgl. auch die Ausführungen von: Halbig, Der Begriff der Tugend und die

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kompatibilistische Interpretation, aber das zweitgenannte, zivilreligiöse Modell lässt sich exegetisch besser ausweisen. Wir werden aber beide Modelle aufgrund des problematischen Loyalitätsbegriffs zurückweisen und ein drittes Modell entwickeln, das einen kooperativen Laizismus vertritt, der sich aus der Ambivalenz im Verhältnis von Staat und Religion her denkt. Die Ambivalenz des religiösen Lebens besteht darin, dass es integrieren wie desintegrieren kann beziehungsweise dass religiös-kulturelle Integration immer mit Ausschluss verbunden ist. Sowohl der Kompatibilismus als auch das zivilreligiöse Modell werden dieser Ambivalenz nicht gerecht. Diese komplexe dialektische Situation wird noch dadurch erschwert, dass Hegel im Zuge der politischen Entwicklungen seiner Zeit zwischen zwei Positionen dazu oszilliert, wie und welche religiöse Loyalität für den Staat als notwendige Voraussetzung zu denken sei. Er vertritt 1821 eine zivilreligiöse Position, für die in erster Linie der Paragraph 270 der Rechtsphilosophie textuelle Evidenz liefert. Später formuliert er eine Position im Sinne des politischen Protestantismus, die sich in den religionsphilosophischen Vorlesungen von 1831 am deutlichsten findet. Wir beginnen mit der zivilreligiösen Interpretation der Notwendigkeit religiösen Lebens. Zivilreligion ist ein Begriff, der generell ein überkonfessionelles Credo meint, das allein auf den Staat bezogen ist.41 Nach dem angelsächsischen Verständnis der „civil religion“, das Bellah entwickelt hat,42 sind Religionsgemeinschaften konstitutiver Bestandteil der „civil society“. Der liberaldemokratische Staat nimmt die religiös geprägte Zivilgesellschaft weitgehend in sich auf und erhält dadurch selbst eine zivilreligiöse Prägung.43 Religion ist in diesem Sinne Teil der politischen Identität. Waren die USA ursprünglich protestantisch, dann christlich,

41 42 43

Grenzen der Tugendethik und von Jaeschke, „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“. Vgl. die konzise Ideengeschichte des Begriffs in: Nix, „Zivilreligion“. Vgl.: Bellah, „Civil Religion in America“. Deutlich wird das am Wortlaut der US-amerikanischen Pledge of Allegiance: „I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and

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dann jüdisch-christlich, sind sie heute weitgehend monotheistisch. Jeweils neu eingewanderte Bevölkerungsgruppen und deren Religionszugehörigkeit werden in die Zivilreligion integriert. Die angelsächsische Zivilreligion lässt sich als der kleinste gemeinsame Nenner der gesellschaftlich virulenten Religionen und Bekenntnisse verstehen. Das zivilreligiöse Moment geht auf den Staat über. Derart garantiert die Vielfalt religiöser Gemeinden eine grundsätzliche Loyalität dem Staat gegenüber, weil der Staat es ist, in dessen Rahmen die Unterschiede des religiösen Lebens so befriedet sind, dass individuelle Religionsfreiheit gewährleistet ist.44 Hegel formuliert 1821 den zitierten Grundsatz, dass der säkulare Staat mit Blick auf die individuelle Gewissensfreiheit nicht vorschreiben kann, welcher Gemeinde die Bürger*innen anzugehören hätten, aber er könne fordern, sich zu einer zu bekennen. Diesen Grundsatz interpretieren wir im Sinne der angelsächsischen civil religion. Die Notwendigkeit einer Zivilreligion im Sinne der Position von 1821 vertritt einen religionspolitischen Pluralismus, der erstens die Gleichheit aller Konfessionen vor dem Staat zivilreligiös begründet und zweitens im Rahmen des Toleranzgebotes auch Mitgliedern von Gemeinden, die den Staat nicht anerkennen, politische Teilnahmerechte zuspricht. Hegels religionspolitische Position verändert sich nun im Verlauf der 1820er Jahre und wendet sich zu einer Position, die, am markantesten in der Vorlesung von 1831, einem politischen Protestantismus das Wort spricht. Mit Blick auf die religionspolitische Zuspitzung im Laufe der 1820er Jahre in der Folge der Juli-Revolution und des Kampfs um den politischen Neuprotestantismus hält es Hegel nicht mehr für beliebig, welcher kirchlichen Gemeinschaft die einzelnen Bürger*innen zugehören.45 Die zivilreligiöse Versöhnung, die ihren Ausdruck darin findet, dass der Staat von seinen Bürger*innen ver-

44 45

to the republic for which it stands, one Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.“ Taylor entwickelt diesen Zusammenhang unter dem Stichwort eines neodurkheimschen Paradigmas. Taylor, Säkulares Zeitalter, Kap. 13. Jaeschke, „Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“, S. 15.

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langen konnte, sich zu einer beliebigen Religionsgemeinschaft zu bekennen, sieht Hegel infolge der europäischen Restaurationsbewegung zunehmend gefährdet.46 Die konfessionelle Rückbindung der Zivilreligion an den Protestantismus hält Hegel im Kontext der europäischen Restauration für nötig, weil nur das protestantische religiöse Leben dem Säkularismus zuträglich sei.47 1831 fasst Hegel den politischen Kern des Protestantismus bündig: „[D]er Protestantismus fordert, daß der Mensch nur glaube, was er wisse, daß sein Gewissen als ein Heiliges unantastbar sein solle; in der göttlichen Gnade ist der Mensch nichts Passives; er ist mit seiner subjektiven Freiheit wesentlich dabei“ (VR 1, S. 344). Hegels Gründe der Revision seines pluralistischen Standpunkts der Rechtsphilosophie zugunsten des politischen Protestantismus werden vor allem durch den innerchristlichen Kulturkampf und die Politik der Restauration in Frankreich – und nicht allein in Frankreich – gespeist, in dem sich Hegel den protestantisch-säkularen Staatsbegriff gegen die katholische Restauration zu verteidigen genötigt sieht. Hegel polemisiert 1831 deutlich gegen die „Thorheit unserer Zeiten, Staatsverfassungen unabhängig von der Religion erfinden und ausführen zu wollen; die katholische Religion obgleich mit der protestantischen gemeinschaftlich innerhalb der christlichen Religion läßt die innere Gerechtigkeit und Sittlichkeit des Staates nicht zu, die in der Innigkeit des protestantischen Principe liegt“ (GW 18, S. 173). Aufgrund dieses zeitgebunden Kontexts im Kulturkampf seiner Zeit sollte Hegels Option für die Vorrangstellung eines politischen Protestantismus in unserer Gegenwart nicht genutzt werden, um etwa anti-islamisches Ressentiment philosophisch hoffähig zu machen.48 Es gilt zwischen Islamismus und einem islamisch–religiösen Leben zu differenzieren, also einem liberalen Kulturislam, der vi46

47 48

Auch Arndt betont den Kontext des innerchristlichen Kulturkampfes vor der Entstehung der ökumenischen Zentrumsbewegung. Arndt, Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, S. 148. Jaeschke, „Hegels Begriff des Protestantismus“, S. 84 ff. Vgl.: Labuschagne, „Vom religiösen Pluralismus zum zivilreliösen Protestantismus?“

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taler Teil pluralistischer Zivilgesellschaft ist.49 Die pluralistische laizistische Position macht geltend, dass der Universalismus exklusivierend wirkt, wenn er die Möglichkeiten von gesellschaftlicher Teilnahme an eine geteilte Ausdruckswelt bindet. Im Sinne der kultursensitiven Sachlichkeit müssen religiöse Gründe zulässig sein und dürfen nicht a priori ausgeschlossen werden. Religiöse Gründe können aber von Sachgründen relativiert werden. Die Grenzen der Toleranz können im souveränen Staat nicht apodiktisch gesetzt werden, sondern sollten in einem sachlichen Diskurs bestimmt werden. Die Grenzen der Toleranz als politische Frage ernst zu nehmen, heißt auch, einer Entdramatisierung identitätspolitischer Fragen das Wort zu reden und Identität als Prozess ihrer Selbstbestimmung und -deutung zu verstehen. Ein ausschlaggebender Grund für eine Zurückweisung von Hegels protestantischem Positionalismus ergibt sich – neben dem humanistischen Grundsatz einer Ökumene aller Religionen als Grundsatz idealistisch-spekulativer Religionsphilosophie – auch aus der historischen Erfahrung, dass auch protestantisch geprägte Kultur vor Kulturchauvinismus nicht schützt. Die Ausdruckswelt der white supremcacy stützt sich geradezu auf die weiße, protes49

An kaum einem anderen Stoff entbrennt die Kontroverse um Laizismus und kulturelle Autonomie im europäischen Diskurs so sehr wie am Hidschāb. Die Debatte betrifft keine private Angelegenheit bezüglich der Frage, ob Frauen diesen nun freiwillig tragen oder nicht, sondern stellt eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Im Streit von republikanischem und pluralistischem Laizismus steht die Universalität der Grund– und Menschenrechte, gerade als Errungenschaft feministischen Kampfes, gegen die Idee des Pluralismus, dass soziale Gerechtigkeit auch das Recht auf kulturelle Autonomie beinhaltet. Die universalistisch-republikanische Position problematisiert an dieser Haltung die Tendenz zu einer „falschen Toleranz“ und voreiligen Relativierung universeller Teilhaberechte. Wer sich um kulturellen Dialog, Verständnis und Versöhnung bemüht, sollte weder die sozialen und politischen Auswirkungen des Hidschāb auf Gesellschaft und die Bedingungen sozialer und politischer Teilhabe ausblenden noch ihn pauschal als Fremdbestimmung abwerten.

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tantisch „offenbarte“ Vorsehung der eigenen Vorherrschaft. Der Protestantismus ist nicht per se dagegen gefeit, in Aberglauben umzuschlagen und eine fanatische Herrschaft zu legitimieren. Entsprechende Tendenzen in den USA lassen sich in Bezug auf die christliche Rechte empirisch eindeutig feststellen.50 Es ist daher meines Erachtens eine stärkende Lesart, das Verhältnis von Staat und Gemeinden im Sinne des angelsächsischen liberalen Verständnisses zu deuten und bei der zivilreligiösen Position der Rechtsphilosophie von 1821 zu bleiben. Es stellt sich aber auch in diesem Modell die Frage nach der Gültigkeit des religiösen Volksgeistes als einbettende Basis ethischen Lebens. Wenn Religiosität nach Hegel eine notwendige Bedingung der Sittlichkeit ist, dann sind areligiöse Lebensformen nach Hegel unsittlich. Die Religion ist die „Grundlage des Staates“ in dem Sinne, dass die staatstreue Gesinnung vernünftiger Ausdruck einer aufgeklärten Religiosität ist. Der Staat bedarf zu seiner Wirksamkeit des Komplementes einer individualethischen „Gesinnung“ – und so bleibt die Religion im Spiel. Bei Hegel ist die Vorstellung einer systematisch-begrifflichen Verbindung von religiösem Leben und moderner, zivilisatorischer Ordnung sehr präsent. Dieses durkheimsche Paradigma sieht die soziale Funktion des religiösen Lebens in der Sozialisierung der kollektiv geteilten Vorstellungswelt. Hegels soziales Vorstellungsschema sieht eine notwendige systematische Verbindung von konfessionell gebundener Religiosität und zivilisatorischer Ordnung vor. Es ist nun nicht so, dass für Hegel das integrierende Moment notwendig als religiöses Leben schematisiert werden muss. Es gibt auch textuelle Evidenz für die Lesart des Verhältnisses von Sittlichkeit und Staat, in der Religion sich zur politischen Praxis komplementär verhält. Sie kann politische Gesinnung also stützen, diese ist aber nicht notwendig auf sie verwiesen. Das meint das Kompatibilitätsmodell, von dem oben bereits die Rede war. Hegel fasst es so: „Gesinnung nimmt nicht notwendig die Form der Religion an, sie kann auch mehr beim Unbestimmten stehenbleiben.“ Die po50

Vgl. die verschiedenen Perspektiven in: Brocker, God bless America.

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litische Gesinnung, eine individuelle Ethik der Teilnahme, die den Staat als objektive Bedingung ihrer Freiheit begreift, lässt sich theoretisch also auch ohne spezifisch religiöse Gesinnung verwirklichen. Die kompatibilistische Lesart des Verhältnisses von religiösem Leben und Staat kann sich hierauf stützen. Hegel sagt jedoch auch, was diese Option erschwert: „[In] dem, was man das Volk nennt, [sei] die letzte Wahrheit nicht in Form von Gedanken und Prinzipien“ vorhanden. Der ethische Volksgeist habe „seine letzte Bewährung nur in der Form einer vorhandenen Religion“ (VR 1, S. 347). Nur Religion kann Ausdruckswelten generieren, die eine hinreichend wirkungsmächtige, sinnlich-assoziative Gestalt für das Volk bilden. Es braucht, zeitgenössisch gesprochen, eine kollektive Identität auf Basis eines geteilten Vorstellungsraumes der Bürger*innen, die der politischen Praxis vorgängig ist. Da für Hegel die Religion das Ganze des menschlichen Inderweltseins im Medium der Vorstellung prägt, hat sie, so lässt sich sein Punkt vielleicht am besten fassen, konkretere Anschaulichkeit als die im Vergleich abstraktere Identität als weltlicher citoyen. Deshalb unternimmt Hegel nicht den Versuch, den abstrakten Begriff des citoyen als identitätsstiftendes Merkmal säkularer Ethik aufzubauen, sondern entwickelt Prinzipien der Transformation religiösen Lebens. Das trifft die kompatibilistische Interpretation präzise. Eine Voraussetzung seiner Strategie besteht in Hegels Skepsis, dass eine säkulare politische Ethik wirklich die letzte Bewährung der Wahrheit bietet. Hegel hält eine solche Ethik zwar für möglich, sie bleibt ihm aber ein „Unbestimmtes.“

5.4 Säkularisierung Hegels Skepsis gegenüber einer säkularen Form, die Prinzipien der Freiheit anschaulich, vorstellbar und allgemeinverbindlich zu fassen, berührt Fragen nach der Selbstdeutung der Moderne im Lichte ihrer religiösen Herkunft. Diese Frage kulminiert im Streit um die angemessene Deutung der Säkularisierung. Taylor schlägt einen hilfreichen Begriff der Säkularisierung vor und versteht sie als „Veränderung der Bedingungen des Glaubens“ unter der Bedingung

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einer humanistischen Alternative.51 Säkularisierung ist nicht identisch mit dem Prozess der linearen Entzauberung der Welt, mithin dem Verschwinden des religiösen Lebens. Säkularisierung nennt Taylor den Prozess, in dem Religiosität „ihre eigenständige Motivationskraft“ verliert.52 Dem hegelschen Begriff des religiösen Lebens nach ist der kollektiv bindende Charakter von Klassifikationspraktiken für religiöses Leben konstitutiv. Daher steht der Prozess der Säkularisierung in Spannung mit dem durkheimschen Paradigma. Die säkulare, sokratische Subjektivität hinterfragt solche kollektiv bindenden Klassifikationspraktiken stark und etabliert die freie Expression und Selbstverwirklichung als ihre Grundwerte. Die individualistische ethische Landschaft der Gegenwart – der „Expressivismus“53 – kollidiert mit der auf Basis kollektiv geteilter Erfahrungsräume postulierten Loyalität. Seit der frühen Neuzeit entwickelt sich der Expressivismus im westlichen Liberalismus derart, dass die Verbindungen von Glaube und politischer Identität beständig schwächer werden.54 Unsere sozialen Vorstellungsschemata ändern sich, da traditionelle symbolische Praxis und ihre Teilung in profane und sakrale Welt für den expressiven Individualismus ihre Verbindlichkeit verloren haben. In der pluralistischen Welt reiben sich viele Formen des Glaubens und des Nichtglaubens aneinander und destabilisieren sich wechselseitig. Auf diese Entwicklung lässt sich theoretisch auf zwei Weisen reagieren. Führt der Expressivismus – also Selbstverwirklichung des Geistes als Verwirklichung der Freiheit – zum Niedergang der Religion? Diese erste Reaktion können wir mit Habermas als säkularistische Gewissheit bezeichnen, nach der die Religion im Zuge der beschleunigten Modernisierung weltweit verschwinden wird. Oder wir verstehen unter dem Prozess der Säkularisierung nicht 51 52 53 54

Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 703. Ebd., S. 723. Wir folgen mit der Betonung des Expressiven als zentraler Größe des neuzeitlichen Individualismus: Taylor, Quellen des Selbst, Kap. 21. Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 866.

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das Verschwinden religiösen Lebens sondern des dessen pluralistische Transformation. Die normative Dimension der Säkularisierung fasst der frühe Habermas darin, dass die Funktion der Religion, soziale Integration herzustellen, im Grunde mit der Entwicklung der modernen demokratischen Gesellschaft auf die säkularisierte kommunikative Vernunft übergeht. „[D]ie sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, [gehen] auf das kommunikative Handeln über, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird“.55 Der reife Habermas teilt diese Gewissheit nicht mehr, hält aber an normativen Idee der postsäkularen Gesellschaft fest und argumentiert für eine „inklusive Bürgergesellschaft, in der sich staatsbürgerliche Gleichheit und kulturelle Differenz auf die richtige Weise verbinden.“ Die richtige Weise setzt für Habermas einen „Filter“ voraus, „der nur ‚übersetzte‘, also säkulare Beiträge aus dem babylonischen Stimmengewirr der Öffentlichkeit zu den Agenden der staatlichen Institutionen durchlässt.“56 Müssen und sollten wir Säkularisierung so verstehen, dass ihre vorbegrifflichen Glaubensinhalte nach und nach in „konsensfähige“ rationale Beiträge übersetzt werden? Oder lässt sich derselbe Prozess auch als die Transformation religiösen Lebens begreifen?57 Was hieße von heute her zu denken, dass es Vernunft gibt in der Religion, wie Hegel es tut? Ist Metaphysik auch im liberalen Individualismus ein Grundbedürfnis des Menschen?58 Gibt es ein dem Geist irreduzibles Bedürfnis nach einer Welt der Schönheit, des Sinns, der Wärme, nach metaphysischer Poesie oder sind dies nur Epiphänomene unaufgeklärter Weltdeutung? Wie kann angesichts der gesellschaftlichen Pluralität der Lebensformen das Verhältnis von säkula55 56 57 58

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, II, S. 118. Habermas, „Religion in der Öffentlichkeit der ‚postsäkularen‘ Gesellschaft“, S. 315–326. Vgl.: Taylor, Säkulares Zeitalter, Kap. 14. Joas spricht in diesem Sinne vom „Faktum der Idealbildung“ des menschlichen Inderweltseins. Joas, Macht des Heiligen, S. 170.

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ren und religiösen Sprachspielen zwischen Bürger*innen und Institutionen gedacht werden? Besteht ein komplementäres, gar kooperatives Verhältnis zwischen beiden oder muss aus politischen und ethischen Argumenten ein Vorrang der einen über die andere Form angenommen werden? Was für die These des Verschwindens des religiösen Lebens im Prozess der Modernisierung spricht, ist erstens, dass naturwissenschaftliche Erklärungen von Sachverhalten entwickelt werden, die den personalen Gott als Erklärer obsolet machen. Die moderne Naturwissenschaft bildet den immanenten Rahmen des Atheismus. Religion wird in der atheistischen Kultur der Gegenwart als ein Bild verstanden, was uns, frei nach Wittgenstein, gefangen hält und verhindert, die Welt in ihrer prosaischen Verlassenheit und Kontingenz zu erkennen. Die Gültigkeit der Naturwissenschaft als prävalente Kosmologie der Gegenwart ist aber nicht der alleinige Motor der Veränderungen religiösen Lebens, trifft er doch nur beschränkte, nämlich personale Gottesvorstellungen. Zweitens haben Urbanisierung, Industrialisierung, Migration und soziale Desintegration das religiöse Leben derart unter Druck gesetzt, dass frühere religiöse Praktiken ihren Sitz im Leben verloren zu haben scheinen. Beide Prozesse führen historisch dazu, dass jeglicher Religion widersprechende Einstellungen entstanden, wie der französische Jakobinismus, der Marxismus oder der Anarchismus. Es führt aber auch dazu, dass moderne Menschen neue Formen des religiösen Lebens entwickeln, wie im Methodismus und dessen Varianten, beziehungsweise dazu, dass innerhalb etablierter Kirchen neue spirituelle Richtungen entstehen.59 Wer in dieser komplexen Gegenwart der Gleichzeitigkeit von Kosmologien verschiedenster Couleur einen strikten Gegensatz von konventioneller Normativität und reflexiver Normativität aufmacht, wird dazu tendieren, religiöses Leben mit der dogmatischen Praxis des Klerus zu identifizieren. Diese Identifikation setzt aber Ungleiches gleich und übersieht das Streben nach Transformati59

Siehe: Taylor, Säkulares Zeitalter, S. 728.

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on in der religiös-spirituellen Praxis. Die post- beziehungsweise neodurkheimschen Formen religiösen Lebens in ihrem Hang zum Individualismus erscheinen in der Hinsicht dann eher als Rückfall hinter die postmetaphysische, posttraditionale Moral. Es gibt einen Atheismus, der sich sozusagen darüber entsetzt, dass religiöses Leben nicht mehr in der üblichen Gestalt seines Lieblingshassobjekts – der klerikalen Konfession und seiner konformistischen Vergesellschaftung – daherkommt. Anstatt an alten Dichotomien festzuhalten, möchten wir hier die Option verfolgen, die religiöse Landschaft der Gegenwart so zu verstehen, dass religiöses Leben in dem durch William James entwickelten Sinne auf die persönliche Erfahrung ausgerichtet ist.60 Eine zentrale Frage lautet dann, ob dies eine Verflachung der ehemaligen Tiefe religiösen Lebens darstellt. Oder ob die Pluralisierung der Formen spiritueller Lebenspraxis es fordert, einen begrifflichen Unterschied von religiösem und spirituellem Leben zu machen und so dem metaphysischen Erfahrungsraum mehr Tiefe zu geben? Säkularisierung wäre falsch gefasst, wenn sie nur als Prozess des spirituellen Individualismus der Moderne gefasst würde. Im Gegenteil, das Nebeneinander von religiösem und säkularem Leben zeigt die Dynamiken eines historischen Prozesses, den es im Begriff metaphysischer Fragilisierung philosophisch zu fassen gilt. Die Existenz einer Alternative zu den eigenen Ausdruckswelten bringt die Sicherheit der eigenen Setzungen ins Schwanken. Dieser Prozess ist von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt. Einerseits wird das Gefühl für das Denkbare und das Undenkbare im Pluralismus unsicher und verletzlich, sodass beispielsweise mehr Menschen im Laufe ihres Lebens konvertieren oder sich eine andere Ausdruckswelt als die der Eltern zu eigen machen. Sie reagieren auf die Vielfalt und Fluidität religiöser Heimaten mit Neugier und Offenheit. Fragilisierung im Sinne der Erfahrung von Alternativen zur eigenen Aus60

James modelliert die individuelle religiöse Erfahrung anhand des Begriff des „feierlichen Enthusiasmus“ (enthusiasm in solemnity). James, Varieties of Religious Experience, 2. Vorlesung.

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druckswelt kann Offenheit gegenüber Anderen und eine demokratische Grundhaltung fördern. Diese Reaktion entspricht dem liberalen Wunschbild von aufgeklärten, toleranten Bürger*innen. Auf der anderen Seite können Menschen auch durch Verhärtung auf die letztbegründungstheoretisch fragile Gegenwart reagieren. Schließung ist auch eine Reaktion auf die grundständige Offenheit metaphysischer Begründung. Oft nehmen Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie nicht mehr recht substantiell begründbar sind, destruktive Züge an. Gemeinden können sich abschotten und ihren Mitgliedern eine Konformität und Verhärtungsdynamik aufzwingen. Fragilisierung kann so einen Ethos fördern, der unter den Bedingungen eines ethischen Pluralismus traditionelle Werte übersteigert und Abweichung sanktionieren muss, um an ihnen ein Exempel zu statuieren, da jede Nonkonformität als ein Dammbruch des Liberalen ins Traditionelle zu bekämpfen ist. Die Fragilisierung und Erfahrung der Alternative zur eigenen Kosmologie kann daher auch ins Gegenteil umschlagen und zu einer Verhärtung der eigenen Lebensform führen. Das trifft religiöses wie politisches Bewusstsein gleichermaßen und kann in einem Fanatismus gipfeln, der das Religiöse und das Politische gleichermaßen zerstört.61 Die Fragilisierung metaphysischer Positionen führt zur Polarisierung des Streits, weil die Unmöglichkeit einer Letztbegründung dazu verführt, die eigene Position dadurch zu etablieren, dass die des Gegners attackiert wird. „Fragil“ meint also nicht notwendig, dass die Positionen offener werden. Diese Fragilität sollte sich in der sozialen Praxis und ihrer institutionellen Grundlage reflektieren. Wenn das Verhältnis von Staat und Gemeinden nicht kooperativ ist, entstehen gefährliche Verhärtungen und Fanatismen. Fanatismus ist die Haltung, die abstrakte Wahrheit des religiösen Lebens in der konkreten Prosa rechtlicher Verfahren zu verwirklichen. Die 61

Der „immanente Rahmen“ der Naturwissenschaften und Expressivismus macht das aufgeklärte Bewusstsein blind für Kraft und Ruhe durch die individuelle religiöse Erfahrung. Taylor, Säkulares Zeitalter, Kap. 15.

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kulturelle Loyalität und Identifikation über tradierte Gruppenzugehörigkeit ist so nicht nur exklusiv und potentiell diskriminierend, sondern unterbindet das Interesse am Austausch mit Menschen anderer Weltanschauung. Dieser Mangel an Interesse an Anderen ist nicht nur demokratietheoretisch betrachtet extrem problematisch. Es ein Kernproblem des sich metaphysisch neutral verstehenden Liberalismus, dass er dieser Indifferenz der Lebensformen zuträgt, indem er Religion zur Privatsache erklärt. Um wirkliche Privatsache zu sein, ist religiöses Leben aber zu sehr von Ambivalenz geprägt. Ein Bewusstsein von dem zu schaffen, was fehlt, heißt meines Erachtens also, die Konflikte um Werte und ihre Begründung als Bewegung wider der oberflächlichen Indifferenz des Liberalismus zu gestalten. Welche Dringlichkeit kann vor diesem gegenwärtigen Problemhintergrund nun der spekulativen Religionsphilosophie Hegels zukommen? Hegel spricht, wie oben zitiert, explizit davon, dass die Spaltung der Kirche kein „Unglück“ für den modernen Staat gewesen sei. Er geht aber noch weiter und begreift diese Spaltung als für die Religiosität selbst förderlich. „Ebenso ist es [die Kirchenspaltung] das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können“ (GW 14.1, § 270 A). Was Hegels Religionsphilosophie in kulturtheoretischer Hinsicht so attraktiv macht, ist die damit angesprochene Idee, den Verlust ihrer unkontroversen moralischen Macht als Gewinn ihrer „Freiheit und Vernünftigkeit“ zu denken. Wie könnte eine spekulative Position im Lichte dieser säkularen Gegenwart aussehen, die den Ambivalenzen des religiösen und säkularen Lebens gerecht werden kann?

5.5 Kooperativer Laizismus Es ist viel Ambivalenz im Verhältnis von Staat und religiösem Leben. Potentiell dient Religion dem Staat, denn sie kann eine integrative Wirkung und damit sozial kohäsive Kraft entfalten. Sie ist ebenso sehr das den Staat potentiell am tiefsten bedrohende, ihn desin-

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tegrierende Moment. Nicht der Staat bedroht die Kirche, sondern der Staat ist als Bedingung wirklicher Sittlichkeit vor dogmatischfrömmiger Religiosität und den exklusiven, isolierenden Effekten einer kulturell tradierten Loyalität zu schützen. Das git auch für die christliche Religion. Die ist zwar für Hegel „die Religion der Freiheit […]. Diese kann freilich wieder eine Wendung bekommen, daß die freie zur unfreien verkehrt wird, indem sie vom Aberglauben behaftet ist“ (ebd., § 270 A). Das Gebot des Selbstschutzes des säkularen Staates vor dem Fanatismus des religiösen Lebens liegt in der Ambivalenz des Religiösen begründet. Der Selbstschutz des Staates begründet den kooperativen, pluralistischen Laizismus der Anerkennung, nach dem Staat mit den religiösen Gemeinden kooperiert und so säkulare Standards verteidigt. In Hegels kooperativ laizistischem Staat stehen die Gemeinden deshalb unter der „oberpolizeylichen Oberaufsicht des Staates“ und seiner Gerichtsbarkeit (ebd., § 270 A). Das meint nicht nur die Vorgabe und Überwachung des rechtlichen Rahmens, sondern auch, dass der Staat den Gemeinden „Vorschub und Schutz“ bietet (ebd., § 270 A). Schutz wird gewährt, indem der Staat gegenüber religiösen Minderheiten Toleranz walten lässt und politische Teilhaberechte von kultureller Identität entkoppelt. Die Idee der zivilgesellschaftlichen Kommunikation über die Gebote und Grenzen der Toleranz setzt die Möglichkeit voraus, über die rechtliche Rahmensetzung hinaus konkret an der Bildung pluralistischer Lebensformen mitzuwirken. Die Dialektik von Egalität und der sozialen Anerkennung der religiösen Gewissensfreiheit entlarvt den Mythos einer stabilen, einmalig gegebenen Antwort auf Gebote und Verbote der Toleranz. Das laizistische Regime muss Gegenstand öffentlicher, politischer Deliberation sein und bleiben. Dabei geht es nicht darum, das hohe Rechtsgut der Egalität vor dem Gesetz beliebig aufzuweichen und in relativistischer Manier alle möglichen Konzeptionen des Wahren gesellschaftlich zu tolerieren. Es geht darum, dass der Laizismus ein Modus des Regierens ist, der sozial gerecht vorgehen und kulturelle Autonomie und Rechtsgleichheit aushandeln muss. Die Rede von „Multikulturalismus“ droht dabei, Probleme der interreligiösen Ge-

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genwart zu verschleiern, weil sie die Konflikte von pluralen Identitäten und Loyalitäten nicht thematisiert. Das multikulturelle Ideal ist ein gesellschaftlicher Konsens, der durch „verständigungsorientiertes Handeln“62 erfolgt. Das pluralistische Ideal sieht im Sachstreit um Identität und Loyalität eine gelingende Form inklusiver Vergesellschaftung, mithin des kommunikativen Handelns. So teilen die theoretischen Konzepte „Pluralismus“ und „Multikulturalismus“ zwar die grundsätzliche Affirmation der kulturellen Vielfalt, ersterer betont aber das konflikttheoretische Moment der Politik der Anerkennung stärker. Die gesellschaftliche Integration scheint im theoretischen Multikulturalismus unvermittelt aus der Pluralität der Lebensformen hervorzugehen. Ethische Vielfalt braucht zu ihrer Vermittlung kontroverser gesellschaftlicher Selbstverständigung, in der die Marginalisierungen und Anerkennungsverweigerungen von Minderheiten ernst zu nehmen und die politischen Grundrechte im Hinblick darauf fortzubestimmen sind. Erst in dieser Fortbestimmung kann es überhaupt plausibel werden, an ihnen im pluralen Kontexten festzuhalten. Die Grundrechte sollen nicht ausgehöhlt, sondern weiter entwickelt werden.63 Kooperativer Laizismus als praktische Modalität des Rechtfertigungspluralismus geht davon aus, dass religiöses Leben ambivalent ist. Religiöses Leben kann Loyalität zur offenen Kultur und bürgerschaftliche Solidarität genauso fördern, wie es auch Abspaltung, Radikalisierung, Hass herbeiführt.64 Der Staat hat daher die Pflicht der Finanzierung von „Kult und Handlung“ der religiösen Gemeinden, um im Gegenzug pluralistischen Grundsätzen als Vorausset62 63

64

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, I, S. 439. Das bedeutet in Habermas’ Worten, dass die „konsequente Verwirklichung“ des „individualistischen Zuschnitts des Systems der Rechte“ mit sozialen Bewegungen und politischen Kämpfen einhergehen muss. Habermas, „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat“, S. 129. Ablehnungen des kooperativen Laizismus unterschlagen oft die Ambivalenz der Kategorie des religiösen Lebens und reduzieren sie auf dogmatische Praxis. Siehe etwa: Ortner, Exit.

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zung des Zusammenlebens verschiedener Diasporagemeinden Geltung zu verschaffen. Bevor wir genauer spezifizieren, was die Finanzierung von Kult und Handlung heißt, sollten wir dem Begriff der Loyalität unsere Aufmerksamkeit schenken, um die Frage zu reflektieren, ob religiöses Leben in seiner zivilreligiösen Form tatsächlich, wie Hegel denkt, eine notwendige Bedingung politischer Sittlichkeit ist. Hinsichtlich dieser Frage, können uns Überlegungen helfen, die Shklar mit Blick auf die ethischen Konfliktlinien vorbringt, die im Exil besonders klar hervortreten. Shklar reflektiert die Spannung zwischen Loyalitäten und Verpflichtungen und fragt, wie Loyalität öffentliche Regeln stützen oder auch unterminieren kann. Loyalität meint bei ihr affektive Bindung. Sie kann Folge von Geburt sein oder einer Wahl entspringen. Es ist der emotionale, identitätsbezogene Charakter der Loyalität, der die Normen der Praxis, der die Loyalität gilt, bejaht. Das unterscheidet Loyalität von Verpflichtung. Ist Verpflichtung regelgeleitet und rational, ist Loyalität durch die ganze Persönlichkeit des Handelnden motiviert. „Loyal ist man als ganze Person“, verpflichtet nur als Teilnehmer*in einer bestimmten normativen Praxis.65 In migrantischen, multikulurellen Gesellschaften sind MehrfachLoyalitäten und die damit evozierten Spaltungserfahrungen eher die Regel als die Ausnahme und lassen sich weder per Dekret verbieten noch monopolisieren. Shklar argumentiert dafür, das Gebot der Loyalität von dem der politischen Verpflichtung zu differenzieren, da die Verwechslung von Loyalität und Verpflichtung zu staatlicher Ungerechtigkeit führt. Den Unterschied von Verpflichtung und Loyalität erläutert sie ausgehend von Arendts Grundsatz des Rechts auf Rechte und der historischen Erfahrungen des Exils. Unter Exil versteht Shklar die Migration aufgrund von „Regierungskriminalität“, also dem Bruch mit dem Recht, der 65

Shklar, „Verpflichtung, Loyalität, Exil“, S. 20.

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Entrechtung im Sinne des Rechts auf Rechte.66 Regierungskriminalität ist nicht der Bruch mit einem bestimmten Recht, sondern der Entzug des Rechts auf Legalität. Aufgrund dieses Verbrechens, so Shklar, bestehe keine Verpflichtung mehr gegenüber dem Land, das die Opfer der Regierungskriminalität ins innere oder äußere Exil verstößt. Dennoch fühlen Exiliant*innen Loyalität gegenüber ihrem Herkunftsland und seiner „echten“, unkorrumpierten Kultur. Eine solche Spaltung muss keine Schizophrenie darstellen, denn der Unterschied von verbrecherischer politischer Praxis und restlicher Kultur kann die Spaltung rationalisieren, indem es den Doppelcharakter narrativ einbettet. Die Differenz von tatsächlicher Politik und ideeller Kultur kann den Bruch von Verpflichtung und Loyalität gewissermaßen integrieren. Biografien wie die Willy Brandts illustrieren dies. Einerseits kämpft er im norwegischen Exil mit norwegischer Staatsbürgerschaft gegen den NS, verliert aber seinen politischen Glauben an die deutsche Arbeiterschaft nicht. Seine politische Autorität und sein Charisma haben in seinem Fall nach der Reimmigration durch die Exilerfahrung sogar zugenommen. Es kommt aber auf das Ausmaß der Ablehnung und der Brutalität im Herkunftsland an, ob der Vertrauensbruch durch die Differenz von Regierung und Kultur integriert werden kann. Der deutsch-jüdischen Diaspora ist nach dem NS eine solche integrierende Differenzierungen von kriminellem staatlichen Handeln und guter Kultur nahezu unmöglich, da sie sowohl als Mitglieder der Gesellschaft als auch als Bürger*innen des Staates verraten wurden. Der doppelte Vertrauensbruch – der doppelte Verrat durch Regierungskriminalität und zivilgesellschaftliche Indifferenz – ist dermaßen fundamental, dass die Beseitigung des politischen Regimes keinen hinreichenden Grund abgibt, Loyalität und Verpflichtung seinem Rechtsnachfolger entgegenzubringen. Die Erfahrung des eliminatorischen Antisemitismus geht zu tief. Dessen Legitimation durch seinen 66

Dieses Recht auf Rechte steckt gegenwärtig selbst in einer schweren Krise. Vgl.: Menke, „Zurück zu Hannah Arendt“.

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prozeduralen Legalismus kann sich als dünner Firnis erweisen, unter der die Barbarei jederzeit wieder durchbrechen kann. Generell bedeutet das, dass politisches „Grundvertrauen“ in Institutionen und Kultur eines Landes keine vertretbare Idee mehr ist. Deshalb ist „Staatsbürgerschaft“, so Shklar in ihrem Rekurs auf Arendt, in irgendeinem Land das eine notwendige Menschenrecht unseres Jahrhunderts, weil es das Recht auf Rechte trägt.67 Loyalität meint die affektive, identitätsstiftende Beziehung zu einer Praxis, einer Kultur oder Individuen. Die geschichtlich wirkmächtigsten Kandidaten für Loyalität waren ethnisch-religiöse und nationale Solidarität.68 Die Schwierigkeiten und der Zweifel an der Idee der Loyalität, den Shklar artikuliert, speisen sich aus der historischen Erfahrung, dass Repräsentation als Identität, also von seinesgleichen regiert zu werden, eine Geschichte hat, die für den größten Teil der Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich ist. Aufgrund der Konformität politischer Loyalität kann auch eine Demokratie einer „Ideologie der Einigkeit“ unterworfen sein, wenn sie die Einheit eines Volkes zu ihrem Wesen macht. Aus Shklars kritischer Perspektive scheint Loyalität konstitutiv mit Exklusion verbunden zu sein, selbst dann, wenn Exklusion nicht das primäre Ziel der Gruppe ist. Da der moderne Staat auf dem Prinzip der Teilhabe der Bürger*innen an der politischen Willensbildung beruht, sollte politische Verpflichtung, so Shklar, von nationaler und kultureller Zugehörigkeit unabhängig gemacht werden.69 Es ist eine falsche ethische Position, Einbürgerung und Staatsbürgerschaft an eine geteilte Loyalität zur selben Kultur zu binden. Diasporagruppen in Ländern sind in der Regel gesetzestreu und ebenso durch Verpflichtung gebunden wie die einheimischen Milieus. Das zeigt sich statistisch bei Steuermoral und Rechtstreue. Deshalb sind im Liberalismus Shklars nicht Treue und Loyalität zu einer Kultur oberste politische Tugend, sondern 67 68 69

Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 614. Shklar, „Verpflichtung, Loyalität, Exil“, S. 50. Ebd., S. 52.

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allein Gesetzestreue. Zudem erscheinen säkulare Staaten heute nur in ideologischer Verzerrung noch national und kulturell homogen. Der einheitliche Nationalstaat ist eine historische Konstruktion, ein philosophischer Atavismus. Es gibt keine homogenen Nationalstaaten, alle modernen Staaten sind multinational. Was sie an Gesinnung vorauszusetzen haben, ist nicht mehr Gruppenloyalität sondern allein Gesetzestreue. So gilt es, einen Sinn für Solidarität zu entwicklen, die nicht auf kultureller Identität gründet, sondern auf „komplexer Gleichheit“.70 Welche Schlüsse erlaubt die Trennung von politischer Loyalität und Verpflichtung, die Shklar anhand des Exils entwickelt, für den religiösen Pluralismus? Exil und Diospora sind analoge, keine identischen Fälle. Diese Überlegung führt uns zunächst zu einem Phänomen der Diaspora: der Radikalisierung. Diasporagemeinden bilden Gemeinschaften, in denen sich Menschen mit ähnlicher Herkunft und religiös-kultureller Tradition zusammentun, um sich wechselseitig den Einstieg in die aufnehmende Gesellschaft zu erleichtern und gemeinsam um Anerkennung zu kämpfen.71 Religion kann durch die Verletzungen im Kontext von Anerkennungskämpfen radikalisierende Dynamiken entfalten. Diasporagemeinden unterliegen einem doppelten Anpassungsdruck und einer doppelten Loyalität: Sie müssen um ihre soziale Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaft ringen und sehen sich gleichzeitig verpflichtet, ihrem kulturell-religiösen Erbe treu zu bleiben. Diese doppelte Identität kann Gewinn sein, sie bedeutet unter Umständen jedoch auch eine enorme Belastung. Gerade in pluralistischen Gesellschaften zeigen religiöse Gemeinschaften in der Diaspora die Tendenz, auf die Relativierung ihrer tradierten Lebensformen mit einer Radikalisierung ihrer 70

71

Walzer entwickelt eine Idee von Identität mit Blick auf verteilungsgerechte Fragen ebenfalls unter dem Stichwort des Pluralismus. Walzer, Spheres of Justice. Vgl. mit Blick auf das Verhältnis von Migration und Religion in den USA: Bruce, Religion in the Modern World, Kap. 6.

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Glaubenssätze zu reagieren.72 Dazu gibt es immer gegenläufige Strömungen innerhalb der community, aber Radikalisierung ist auch ein Effekt offener Gesellschaft. Es wäre daher naiv zu glauben, dass sich die Werte des Pluralismus aufgrund ihrer argumentativen Kraft durchsetzen werden. Das gilt insbesondere für die sozialen Gruppen nicht, die in Diskursivität und Kommunikation keine universellen Werte, sondern gottlose Dekadenz oder eine tödliche Krankheit der Moderne sehen. Im Gegensatz zum Kommunitarismus fordert die pluralistische Idee einer Streitkultur weder Loyalität noch Assimilation, keine Loyalitätsbeweise, keine Affekte wie Dankbarkeit, Belobigung oder Patriotismus, sondern nur die Verpflichtung zur Teilnahme an der politischen Praxis. Loyalität zu fordern ist mit der Freiheit des politischen Gewissens und politischer Urteilskraft nicht vereinbar. Es geht nicht um politische Loyalität, sondern um politische Teilhabe. Vertrauen in eine gemeinsame politische Kultur setzt voraus, dass das Menschenrecht auf Rechte unverbrüchlich gewahrt und verteidigt wird. Da es Ideologie wäre, eine solche Garantie als gegebene Bedingung säkularer Staatlichkeit zu unterstellen, meint Pluralismus die konfliktuöse Teilhabe aller Bürger*innen an der Entwicklung der Kultur. Die Mehrheitsgesellschaft öffnet sich für die Pluralisierung und muss sich der Aufgabe stellen, Normen und Praktiken, die im Kontext ethischer Vielfalt allein dadurch fragil werden, dass sie nicht mehr alternativlos sind, zu hinterfragen und zu ändern. Das bedeutet, Kritik an den rassistischen und sexistischen Verengungen der eigenen Ausdruckswelt nicht als Identitätspolitik zu diffamieren, sondern sie anzuerkennen und auf sie durch handlungsverändernde Festlegungen zu reagieren. Die Verpflichtung aller an der Teilnahme an politischer Praxis muss mit einem inklusivistischen Selbstverständnis korrespondieren, also mit der Vorstellung brechen, gelingende politische Repräsentation sei auf kulturelle Identität verwiesen. 72

Vgl. zu dieser These im Rückgriff auf Jan Assmans Ausführungen zu Monotheismus und Gewalt: Waldmann und Imbusch, Radikalisierung in der Diaspora, S. 14 f.

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Die Diaspora hat umgekehrt die Verpflichtung, am Prozeduralismus kultureller Selbstbestimmung teilzunehmen und die kulturelle Kommunikation über die Grenzen der Toleranz nicht als Diffamierung und Respektlosigkeit ihrer tradierten Kultur zu begreifen, um sie als Identitätspolitik zu attackieren. Tradition ist für beide Seiten kein Argument. Soviel philosophische Subjektivität muss gefordert sein. Die Bildung einer konfliktuös-pluralistischen Kultur der Auseinandersetzung betrifft alle Beteiligten. Es geht insgesamt darum, in Fragen nach Grenzen und Voraussetzungen einer gemeinsamen Kultur in der Gleichzeitigkeit von säkularem und religiösem Leben Distanz zu gewinnen. In der pluralistischen Gesellschaft betreffen die Fragen des Zusammenlebens Sachfragen, keine identitätspolitische Diffamation. Anders gesagt, Sachfragen betreffen Konflikte um die Normen gemeinsamer Praxis, nicht die Kollisionen um Teilhabemöglichkeiten an der gemeinsamen Praxis. Inklusive Gruppenidentität vergemeinschaftet sich über das Interesse und die Perspektivenvielfalt auf Sachprobleme, nicht über Bekenntnisse und Loyalitäten. Der kooperative Laizismus organisiert das Verhältnis von Kirchen und Staat im Sinne der Stärkung der Teilnahme aller an der Fortbestimmung der Normen. Er begründet daher die Finanzierung von Kult und Handlung. Dies hat eine Konsequenz: Konfessionelle Lehre muss durch Lehrende mit Ausbildung in staatlichen Institutionen geschehen, da Bildung und Lehre in der pluralistischen Gesellschaft auch eine Praxis von Debatten und kontroverser Selbstverständigung sein müssen. Es ist deshalb Staatsaufgabe, Schauplätze für Sachdebatten, das heißt Reflexions- und Diskursorgane für Mehrheits- wie Diasporagemeinden zu finanzieren. Das meint einerseits im akademischen Raum entsprechende Forschungseinrichtung mit interkulturellen Fragestellungen. Vor allem aber bedarf es offener Reflexionsräume für die Öffentlichkeit im breiteren Sinne. Museen und Kultureinrichtungen, die dem interreligiösen Austausch und der Bildung dienen, sind soziale Orte zivilgesellschaftlicher Kommunikation über die Modalitäten des laizistischen Regimes.

5. Spekulation und religiöser Pluralismus

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Damit ist die Fragen nach dem Kulturkanon berührt. Was eine Kultur als für sich kanonisch beschreibt, muss mit einer Bereitschaft zur Revision reflektiert werden. Diese Revision muss nicht zwangsläufig auf eine Exklusion ehemals wichtiger Autor*innen und Positionen hinauslaufen, es gibt aber keinen „kulturellen Artenschutz“. Wenn Positionen in der pluralistischen Moderne ihren Platz im Kanon behalten sollen, ist es Aufgabe ihrer Anhänger*innen, diese Positionen aus der historischen Bedeutung heraus in die aktuelle Debatten einzubringen und ihre Aktualität argumentativ zu belegen. Die Position im Kanon der Kultur ergibt sich allein aus ihrem Potential zur Aktualisierung im Lichte von Fragen und Problemen, das den historischen Horizont des jeweiligen Werks transzendiert und so ihre Aktualisierung als Beitrag zur kulturellen Selbstbestimmung begründet. Der kooperative Laizismus kann so als eine Form des Verhältnisses von religiösem und säkularem Leben gelten, das Hegels Religionsphilosophie aktualisiert. Solche sozialen Orte, an denen fruchtbare Momente von Entfremdung, Staunen und Erkenntnis darüber stattfinden, sind für die kulturelle Selbstbestimmung konstitutiv.73 Wer sich der Wirklichkeit religiöser und kultureller Pluralität öffnet, wird sehen, wie verwoben, situativ, vielen identitätspolitischen Narrativen gegenläufig die Geschichte der religiös-narrativen Identitätsbildung ist. Es gibt in der pluralistischen Moderne zu viele Fronten, die sich einfachen Zuordnungen entziehen. Eine zentrale Tugend des Pluralismus besteht deshalb darin, Kritik an Lebensformen und ihre Diffamation unterscheiden zu können und im Streit um die Sache die Anerkennung der Identität der Anderen zu artikulieren. Das bedeutet auch, inhaltliche Punkte zu identifizieren, die im Streit der Werte zu begründen sind. Wenn die Intuition stimmt, dass der Liberalismus am Problem der ethischen Indifferenz krankt, dann ist der Streit um kulturelle Repräsentation und Formen kultureller Teilhabe etwas, das wir anstreben und suchen sollten. 73

Vgl. für eine hilfreiche Interpretation des produktiven Charakters der Entfremdung in Bildungsprozessen: Sandkaulen, „Bildung bei Hegel“.

6. Die Dialektik der Aufklärung Wir haben einen weiten Bogen geschlagen. Im ersten Schritt beschäftigte uns die Frage nach einer Metaphysik der Teilnahme des subjektiven, endlichen Geistes am absoluten, unendlichen Geist. Im zweiten Schritt führte dies zur Frage nach einer Konflikttheorie der modernen Gleichzeitigkeit von säkularem und religiösem Leben. Wir haben dabei die prävalente, postmetaphysische Kosmologie des Rationalismus dahingehend kritisiert, dass er die transformativen Elemente religiösen Lebens nicht hinreichend als reflexive Aneignung der kulturellen Ausdruckswelt verstehen kann. So kann er die individualistischen Varietäten nicht als moderne Veränderung des religiösen Lebens, sondern allein als Anzeichen ihres Verschwindens deuten. Während Rationalismus und Materialismus Religion mit klerikaler Praxis identifizieren, haben wir im idealistischen Sinne Religion als Kategorie kultureller Praxis gedeutet, die den Wandel religiösen Lebens begrifflich zu strukturieren erlaubt. Das ist der Kern unserer Aktualisierung der hegelschen Religionsphilosophie. Deren Stärke ist es, religiöse Theorie in Form von Kosmologie und Glaube in Wechselwirkung mit ihrer sozialen Praxis zu bringen. In der Historisierung der ontotheologischen Metaphysik entwickelt Hegel die Kategorien des religiösen Lebens in praxeologischen Begriffsregistern. Das Subjekt der Geschichte ist die Wechselwirkung von absolutem Geist und dem Gattungswesen des Menschen – weder das eine noch das andere, sondern ihre dialektische Beziehung. Der idealistische Impetus entstammt dabei dem philosophischen Bewusstsein für den Reichtum menschlicher Werte, symbolischer Praxis und Ausdruckswelten. Hegel verschränkt die ontotheologische Theorie mit der menschlichen Praxis, ohne dass er die Geltung der Theorie auf die praktischen Interessen reduzieren würde. Hegel entwickelt damit einen Begriff des religiösen Lebens, der es erlaubt, sowohl dessen Selbstbewusstsein zu beschreiben als auch ei-

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ne kritische Perspektive auf das religiöse Leben einzunehmen. Die linkshegelianische Tradition hat an Hegels kritischer Apologie des Religiösen früh und mit aller Deutlichkeit Anstoß genommen, dabei aber das Verhältnis von Theorie und Praxis reduktiv interpretiert: Die ökonomische Basis determiniere den kulturellen Überbau und der Überbau sei deren verzerrte Spiegelung. Die Existenz der Religion und ihre Kultur prägende Kraft deutet Marx als Ausdruck des Daseins eines gesellschaftlichen Mangels. Religion sei verkehrtes Bewusstsein der Menschen von einer durch entfremdende Herrschaft gekennzeichneten sozialen Wirklichkeit. Religion sei so „das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat“.1 Im Sinne des Verzerrungstheorems deutet Marx Hegels kooperativen Laizismus der Anerkennung als prärevolutionäre Fixierung der Dichotomie von öffentlich-politischem citoyen und privat-besitzendem bourgeois. Die Trennung von sozialer Teilhabe durch Arbeit und politischer Teilnahme durch Repräsentation sei der Mangel, den die Religion der bürgerlichen Moderne kaschiere und so dem politischen Zugriff entziehe. Deshalb sei die Emanzipation von der Religion notwendige Bedingung der Emanzipation des Menschen.2 Lukács folgt Marx und fasst die selbstgeschaffene „transzendentale Obdachlosigkeit“ der bürgerlichen Moderne so, dass das Individuum der prosaisch-objektiven Wirklichkeit als „einem Komplex von starren Dingen gegenüber“ steht.3 Für Marx wie Lukács muss deshalb der Mensch wieder „zum Maß aller (gesellschaftlichen) Dinge“ werden.4 Die soziale Wirklichkeit mit Staat, Privateigentum samt kapitalistischem Produktionszusammenhang und Bedürfnisbefriedigung macht den Menschen zur Abstraktion seiner selbst, indem er ihn von seiner Arbeit entfremdet. So muss 1 2 3 4

Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, S. 387 f. Ebd., S. 356 f. Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewusstseins des Proletariats“, S. 332 ff. Ebd., S. 320.

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das neue Maß eine revidierte Auffassung des Menschen sein. Der Materialismus denkt das neue Maß des Menschen im Sinne eines postrevolutionären Menschen, einer materialistischen Utopie, in der die technisierte Arbeit unentfremdeter Ausdruck der kollektiven Selbstbestimmung ist. „Das Individuum kann niemals zum Maß der Dinge werden“, denn als einzelnes ist es zur Kontemplation der dinglichen Wirklichkeit gezwungen. Nur als politisches Makrosubjekt, als Klasse, kann der Mensch die Kontemplation hinter sich lassen, um sich „praktisch umwälzend auf die Totalität der Wirklichkeit zu beziehen“. Das Maß der Dinge ist das Proletariat. Im kommunistischen „Reich der Freiheit“ gelangt die Geschichte des Gattungswesen dann an ihr Ende. Der Mensch ist schließlich vom Antagonismus der bürgerlichen Arbeits- und Eigentumsverteilung erlöst.5 In der materialistischen Geschichts- und Kulturphilosophie kaschieren die Produkte des absoluten Geistes die selbstgeschaffene, doch entfremdete Wirklichkeit des objektiven Geistes. Objektiver und absoluter Geist werden so aufgefasst, dass nur im objektiven Geist gesellschaftliche Dynamik und „praktische Umwälzung“ stattfindet, der absolute Geist ist hingegen statisch und kontempliert nur die objektiven Geschehnisse gesellschaftlicher Praxis, wenn auch in ideologisch verzerrter Form. Bündig drückt dies Marx in der elften seiner Thesen zu Feuerbach aus: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“6 Die Dichotomie von schöngeistiger Interpretation und praktischer Veränderung ist aus idealistischer Perspektive der Kardinalfehler des Materialismus. Dialektische Philosophie begreift Interpretation als Veränderung; Kommunikation ist praktische Veränderung. Einer deterministischen, vulgärmarxistischen Kulturkritik verweigert sich auch Benjamin. Wohl gibt es ohne die soziale Praxis keine geistige Theorie, aber ihr Verhältnis fasst Benjamin nicht 5 6

Ebd., S. 332 ff. Marx und Engels, „Thesen über Feuerbach“, S. 7.

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über den Gegensatz von Dynamik und Statik, Veränderung und Interpretation.7 Die Erzeugnisse des absoluten Geistes können zwar in Ideologie umschlagen und das „verlorene Selbstgefühl des Menschen“ kaschieren. Analog können Konsumgüter einen Fetischcharakter annehmen, wenn ihre Herkunft in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entlang der Grenze von Kapital und Arbeit vergessen wird. Benjamins Kulturkritik differenziert aber den vulgärmarxistischen Kulturdeterminismus. Benjamin schreibt über die „Lehre vom ideologischen Überbau[:] Zunächst scheint es, als habe Marx hier nur ein Kausalverhältnis zwischen Überbau und Unterbau feststellen wollen. Aber bereits die Bemerkung, daß die Ideologien des Überbaus die Verhältnisse falsch und verzerrt abspiegeln, geht darüber hinaus.“8 Für Benjamin ist die Frage vielmehr: „[W]enn der Unterbau gewissermaßen im Denk- und Erfahrungsmaterial den Überbau bestimmt, diese Bestimmung aber nicht die des einfachen Abspiegelns ist, wie ist sie dann […] zu charakterisieren?“ Benjamin findet die Antwort im Begriff des Expressiven: „Der Überbau ist der Ausdruck des Unterbaus. Die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft existiert, kommen im Überbau zum Ausdruck“.9 Auch für Hegel ist Kultur autonomer Ausdruck, nicht Spiegel gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und ihrer Verkehrsformen. In einer dialektischen, expressiven Kulturtheorie kommen sich Benjamin und Hegel nah, da für beide der Gegensatz von Tradition und Progression auch innerhalb des Idealen stattfindet. Neue Selbstverständnisse, neue Konzepte und ihre Interpretationen wirken zurück 7 8

9

Vgl.: Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, S. 128. Benjamin illustriert den Unterschied von deterministischer Spiegelung und freiem, expressivem Ausdruck weiter anhand der Analogie eines „Schläfers [dessen] übervoller Magen im Trauminhalt, obwohl er ihn kausal ‚bedingen‘ mag, nicht seine Abspiegelung sondern seinen Ausdruck findet. Das Kollektiv drückt zunächst seine Lebensbedingungen aus. Sie finden im Traum ihren Ausdruck und im Erwachen ihre Deutung.“ Benjamin, Passagen, S. 495 f. Ebd., S. 495 f.

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auf die Sphäre der Interessen. Interpretation verändert die Welt. Deshalb ist es in kritischer Absicht sinnvoll, Kategorien des absoluten Geistes auf Phänomene des objektiven Geistes anzuwenden. Das bezieht sich nun nicht nur auf das Feld der Ästhetik, wo der Transfer von Kategorien des absoluten Geistes auf den objektiven und umgekehrt für beide funktioniert. Auch die Kategorie des religiösen Lebens kann auf die Sphäre des objektiven Geistes übertragen werden. Benjamin unternimmt eine solche Übertragung in dem Fragment Kapitalismus als Religion. Der Kapitalismus – mit Hegel gesprochen, das ökonomische „System der Bedürfnisse“ – werde nicht nur religiös verbrämt, wie der materialistische Kulturdeterminismus suggeriert, sondern ist selbst Religion, und zwar eine quasi-pagane Kultreligion ohne jede Transzendenz. Ihre Eschatologie verspricht Erlösung durch Wiederholung des konsumptiven Aktes, ihre Heilslehre ist rein immanent und kommt ohne jeden Bezug auf ein Absolutes aus. Im Sinne dieser Kritik zweifeln auch Horkheimer und Adorno nicht an, dass Kultur Veränderung und sogar „Fortschritt“ hervorbringen könne. Sie machen aber in der Konsumkultur der Gegenwart ebenfalls eine immanente Form von Verschleierung aus: „Die Fusion von Kultur und Unterhaltung heute vollzieht sich nicht nur als Depravation der Kultur, sondern ebensosehr als zwangsläufige Vergeistigung des Amusements.“10 Benjamin skizziert das religiöse Leben des kapitalistischen Systems der Bedürfnisse anhand von vier Kriterien: „Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat.“ Der Kapitalismus kennt keine religiöse Theorie, keine „spezielle Dogmatik, keine Theologie.“ Mit dieser theoriefreien Kultreligiosität hängt für Benjamin ein „zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci.“ Das kapitalistisch-religiöse Leben klassifiziert nicht in profane und sakrale Zeit, sondern im ungehemmten System der Bedürfnisse gibt 10

Adorno und Horkheimer, „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“, S. 152.

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es keinen Tag, der „nicht Festtag“ des Konsums wäre. Der moderne Kapitalismus überwindet die Knappheit seiner Vorläufer nicht, sondern erzeugt umgekehrt den Mangel, indem er ständig neue Bedürfnisse weckt, die es möglichst umgehend zu befriedigen gilt. Deshalb ist der kapitalistische Kultus „zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ Der vierte Zug des religiösen Kapitalismus äußert sich nach Benjamin darin, daß sein „Gott verheimlicht werden muß“. In diesem verheimlichten Gott ist letztlich jener Mensch zu erkennen, der den Übermenschen Nietzsches, genauer dessen Perversion, verkörpert: „Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ‚Sprung‘ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung.“11 Das Bilderverbot im Kapitalismus dient der Verschleierung dessen, dass der Mensch nur sich selbst vergöttert. Die konsumptive Transformation des Menschen kommt in kapitalistischer Kultreligiosität sozusagen ohne „Negation an sich selbst“ aus und erklärt die eigenen Bedürfnisse zum Maß aller Dinge. In einer von solchem Geltungskonsum bestimmten Gesellschaft scheint ein*e jede*r nach dem richtigen Platz in ihr zu suchen, nach dem, was „in“ ist in Sachen Mode, Wohnen, Essen, Autos, Ferien, Hochschulen und Kultur.12 Die individuellen Vergnügen des Geltungskonsums haben systemische Gründe in einem Kapitalismus, in dem Arbeit keine Garantie auf gesellschaftliche Mitbestimmung und Teilhabe mehr gibt. Vielmehr kann, wer die kritische, immer weiter steigende Eigenkapitalgrenze einmal überschritten hat, sein Geld für sich arbeiten lassen. Es entwicklen sich neue Formen von Snobismus und Entsolidarisierung , die neuen Formen von Exklusion bedingen. So wandeln sich die gesellschaftlichen Ausschlussformen und Verhinderungen an gesellschaftlicher Teilnahme: In einer 11 12

Benjamin, „Kapitalismus als Religion“, S. 100 f. Vgl. auch: Shklar, Ganz normale Laster, S. 143.

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solchen, individualistischen, unsolidarischen Ökonomie wächst, so Hegel, „dieVereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundene Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt“ (GW 14.1, § 243).

Innerhalb der historischen Topographie Hegels wäre der Kapitalismus als Religion wohl am ehesten der unmittelbaren Religion und hier der Naturreligion zuzuordnen. Nur handelt es sich dabei eben nicht um eine vergangene geschichtliche Stufe in der Entwicklung der Religion, sondern um die Gegenwärtigkeit religiösen Lebens in der modernen Welt, also, wenn man so will, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.13 Das unreglementierte System der Bedürfnisse bildet so, um mit Hegel zu sprechen, ein „geistiges Tierreich“, in dem die Selbstverwirklichungsprojekte des expressiven Individualismus so aufeinanderprallen, dass jede Form von Kooperation als Korruption am eigenen Projekt erscheint (GW 9, S. 216–228). Die theoriefreie, rein kultische Praxis des neoliberalen Kapitalismus widerstrebt allen Versuchen, das Marktprinzip und den Primat des Wachstums innerhalb einer politischen Rahmenordnung zu gestalten. Sie ist konstitutiv transgressiv. Der religiöse Kapitalismus der Gegenwart ist fundamentalistisch, greift totalitär aus und mystifiziert die eigene Religiosität hinter der säkularen Maske eines konsumorientierten Individualismus. Weil der religiöse Kapitalismus gerade durch das Fehlen eines dogmatischen Standpunktes gekennzeichnet ist, ist angebracht, zu fragen, ob nicht die Tendenz, jedes Dogma in Frage zu stellen, diesen Kapitalismus ungewollt sogar befördert. In selbstkritischer Perspektive heißt das, ob nicht gerade die Ausrichtung auf ein Absolutes eine Politik erlaubt, die eine kritische Distanz zu den herrschenden neoliberalen Zuständen zu wahren erlaubt. Der Antidogmatismus kritischer Subjektivität 13

Arndt, „Staat, bürgerliche Gesellschaft und Religion“, S. 153.

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kann umschlagen in Substanzverlust und in die schlechte Unendlichkeit unstillbarer, da immer wieder neu entfachter Bedürfnisse. Wenn diese Hypothese stimmt, dann ist zu fragen, wie eine neue, spekulative Doktrin aussähe? Die Religionsphilosophie Hegels kann nun weder nur gegen die schlechte Unendlichkeit des konsumptiven Hedonismus predigen noch über das Ende der Geschichte im Kommunismus nach dem Ausfall des revolutionären Subjekts des Proletariats räsonieren. Ein neues Dogma der Versöhnung muss eine Vorstellung der Transformation im Sinne einer höheren Idee zu gewinnen suchen, die sowohl säkulare als auch religiöse Kosmologie ausdrücklich machen kann. Das formuliert die philosophische Bedingung für den Rahmen einer politischen Ethik. Damit ist die folgende Idee gemeint: Es ist in einer pluralistischen Gesellschaft nicht allgemeinverbindlich zu entscheiden, wie Lebensformen kosmologisch begründet werden, aber es ist entscheidend, was begründet wird. Nur dasjenige, was sich durch eine Vielfalt von Rechtfertigungen begründen lässt, ist metaphysisch wahr. Was sich nur in einer Weise begründen kann, konstituiert keine Wahrheit, sondern nur subjektive Gewissheit. Das ist, so der Vorschlag, die politische Kontur des Rechtfertigungspluralismus. In diesem Sinne müssen wir fragen: Was ist angesichts der modernen Destruktion alter metaphysischer Gewissheit als Wahrheit des Religiösen zu bewahren? Was können unter der rechtfertigungspluralistischen Bedingung Grundsätze einer kritischen Sozialtheorie sein, die mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes solidarisch ist? Hier hilft vielleicht der Blick über allzu enge Schulgrenzen hinweg: Heideggers Konstellation der Welt als „Geviert“ beschreibt in etwas raunenden Worten einen Gegenentwurf zu der konstatierten Heimatlosigkeit und Seinsverlassenheit des modernen Menschen: „Diese ihre Einfalt nennen wir das Geviert. Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen. Der Grundzug des Wohnens aber ist das Schonen. Die

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Sterblichen wohnen in der Weise, daß sie das Geviert in sein Wesen schonen. Demgemäß ist das wohnende Schonen vierfältig.“14

Der moderne Mensch setzt sich, so Heidegger, selbst ins Zentrum alles Seienden und erschließe durch seine planend-berechnende, prometheische Subjektivität alles ihn Umgebende nur im Hinblick auf die Verwertbarkeit als Rohstoff oder Energiequelle. Damit beraubt er sich selbst seiner sinnhaften Totalität, welche auch solche Beziehungen in sich birgt, deren Verweisungsketten nicht in das Um-willen des Menschen münden. Dies versagt letztlich dem Menschen das Wohnen und macht ihn heimatlos. „Die Erde retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo es nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.“15 Diesen existentiellen Pathos Heideggers urbanisiert Marcuse und interpretiert die Ökologiebewegung als „eine politische und psychologische Freiheitsbewegung“.16 Deren Verbindung des Politischen mit dem Psychologischen ist zentral, da eine radikale Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse auch die Trieb- und Bedürfnisstruktur der Individuen einbegreifen muss. Gerade dies ist ein bewahrenswerter Gedanke, wo heute Umweltschutz vielfach auf den Einsatz nachhaltiger Technik reduziert wird und die Trieb- und Bedürfnisstruktur der Individuen als außerpolitische Frage verstanden wird. Die Transformation – die Negation an sich selbst, die das eigene Leben übersteigt – ist der hegelschen Spekulation zufolge die Bedingung der Teilnahme des Endlichen am Unendlichen. Es kommt dabei nicht darauf an, wie das Absolute benannt wird. Ob Geist, Liebe, Gott, JHWH, Allah, Natur, Leben, Welt, das All. Es geht um die philosophische, rechtfertigungspluralistische Einsicht, dass der Mensch Moment eines holistischen Ganzen ist, das wir zwar voraussetzen, aber nicht selbst reproduzieren können. 14 15 16

Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, S. 152. Ebd., S. 152. Marcuse, Ökologie und Gesellschaftskritik, S. 174.

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6.1 Religiosität und Sexualität Wenn mit ihrer ökologischen Wendung die soziale Frage einen weiteren, holistischen Rahmen bekommt und nur innerhalb dieses Rahmens adäquat angegangen werden kann, ist damit bereits ein Vorschlag formuliert, worauf eine Ökumene von säkularem und religiösem Leben abzielen könnte. Ein zentraler Vorwurf von säkularer Seite an Christentum und religiöses Leben generell bleibt davon aber noch unberührt. Es geht um das Problem, dass religiöses Leben die menschliche Erfüllung verhindert und zu einer Entfremdung von Geist und Leib führt. Die expressivistische Ethik der Selbstverwirklichung läuft der Ethik des Christentums vor allem mit Blick auf die sexuellen Vorschriften, die zum guten christlichen Leben gehören, entgegen. Nicht erst im Zuge der Kulturrevolution der 1960er Jahre gerät der kirchliche Moralismus und die Unterdrückung des Sexuallebens mit der sich allmählich entfaltenden expressiven Moderne und dem ethischen Wert der Selbstverwirklichung zunehmend in Kollision.17 Die Veränderungen der ethischen Prinzipien im Zuge der kulturellen Emanzipation lassen sich als eine Rehabilitation des Sinnlichen fassen und sie betreffen nicht zuletzt das sexuelle Verlangen als genuines Moment menschlicher Existenz. Im Zuge der Herausbildung neuer, von tradierten Genderrollen unabhängiger Ideale der Fluidität von Partnerschaft und Intimität werden sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Freiheiten zu Geboten der Befreiung von überkommender Moralität. Gleichzeitig ist die Longue durée der christlichen Vorstellungs- und Ausdruckswelt kulturell tief verwurzelt und wirkt so über die direkte Prägung durch die Familie hinaus. So erklärt sich, dass auch atheistisch erzogene Menschen der affektiven Ausdruckswelt des Christentums folgen, obwohl ihre intellektuelle Loyalität diesem lange nicht mehr gilt. Nirgendwo ist die transgenerationale Wirksamkeit der affektiven Klassifikation in gut und schlecht so wirksam wie in Sexualmoral und Trieblehre. 17

Vgl. zur Spannung von Eros und Ethos: Nussbaum, Love’s Knowledge, S. 50–53.

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Dass die reproduktive Emanzipation, sexueller Nonkonformismus und die Bejahung devianter Triebstrukturen mit dem Christentum kollidieren, ist kein Zufall. Das Neue Testament will die Liebe von der Sexualität abtrennen, indem es Agape gegen Eros stellt. Die christliche Trieblehre spaltet Sexualität von Liebe und schlägt Sexualität dem Bösen zu. Mit der verführerischen Eva ist die Sünde in die Welt gekommen.18 Die christliche Misogynie tritt besonders in ihrer Sprache deutlich zutage: Die Beschreibung der Hingabe der Eva, die Rede vom heiligen Vater, der unbefleckten Empfängnis und seiner Entäußerung im Sohne offenbart dem offenen Ohr eine fast schon obszöne semantische Doppeldeutigkeit. Diese Sprache ist nicht unschuldig, sondern weist sexuelle und politische Untertöne auf. Meisterlich bringt Derrida die Doppeldeutigkeiten der trinitarischen Sprache hervor, indem er in Glas auf der einen Seite Hegels Dialektik des absoluten Geistes verfolgt und ihr Vexierbild auf der anderen Seite im Werk Jean Genets erkennt.19 Eine feministisch-kritische Perspektive muss ihre christliche Bindung gar nicht aufgeben, um die oft impliziten Implikationen trinitarischer Sprache zu Bewusstsein zu bringen und zu problematisieren.20 Besonders markant tritt die Un-unschuldigkeit trinitarischer Sprache und Ausdruckswelt in der Verehrung der heiligen Maria hervor, der Mutter des Herrn. Sie ist in den Worten des emeritierten Papstes Joseph Ratzinger der „Spiegel aller Heiligkeit. [… Ihr Ausspruch] ‚Meine Seele macht den Herrn groß‘ — (Lk 1, 46) drückt damit das ganze Programm ihres Lebens aus: nicht sich in den Mittelpunkt stellen, sondern Raum schaffen für Gott, dem sie sowohl im Gebet als auch im Dienst am Nächsten begegnet – nur dann wird die Welt gut. Maria ist groß eben deshalb, weil sie nicht sich, sondern Gott 18 19 20

Vgl. als eine umfangreiche kritische Interpretation dieses christlichen Mythos: Greenblatt, Adam and Eve. Derrida, Glas. Unter dem Stichwort einer „théologie totale“ ist das ein Projekt christlichen Feminismus. Vgl.: Coakley, God, Sexuality and the Self , S. 308.

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groß machen will. Sie ist demütig: Sie will nichts anderes sein als Dienerin des Herrn zu sein.“21

Noch in der unüberhörbar sexuellen Konnotation von Hingabe an und Submission unter den Herrn verklärt diese Sicht die Frau zur Heiligen. Die Größe ihres Selbstverzichtes mache sie rein, keusch und aller irdisch-fleischlichen Verderbtheit enthoben. Aufgrund der narrativen Abspaltung von selbstloser Liebe und böser Sexualität bleibt es aber im kollektiv Imaginären nicht allein bei dieser Erscheinungsform des Weiblichen. Im christlichen Narrativ wird der heiligen Stadt Jerusalem, die die reine Liebe beherbergt, eine andere Stadt, Babylon entgegengesetzt, „die große Hure, die an vielen Gewässern sitzt. Denn mit ihr haben die Könige der Erde Unzucht getrieben und vom Wein ihrer Hurerei wurden die Bewohner der Erde trunken“ (Offb 17,1–2). Die Hure Babylon symbolisiert für das frühe Christentum das sie verfolgende römische Reich und verknüpft römische Dekadenz und moralische Verdorbenheit mit weiblicher Sexualität. Die Frauen werden dafür verachtet, gefürchtet und ausgeschlossen, dass sie die böse, verführerische Sexualität provozieren. Frauen, deren sinnlicher Verführungskraft die Männer stets zu verfallen drohen, müssen männlicher Macht unterworfen werden, um der Gefahr, die von ihnen ausgeht, Herr zu werden. Neben den Erscheinungsformen des Weiblichen als Heilige und Hure begegnet uns im kulturellen Gedächtnis ein drittes, wirkmächtiges Schema: die Verbindung aus Unsichtbarkeit und Unwissenheit. Mit der Heiligenverklärung und Verachtung speisenden Misogynie verbindet sich eine unfassbare Ignoranz. In dieser Form erscheint das Weibliche auch in Hegels Philosophie. Gut illustrieren dies seine Reflexionen in der Enzyklopädie, die an der bezeichnenden Stelle des Übergangs von Naturphilosophie und Geistphilosophie stehen. „Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse herabsinkt [Hegel setzt irrtümlicher Weise die männliche Prostata mit dem Uterus gleich, tatsächlich 21

Benedikt, „Enzyklika: Deus Caritas Est“, § 41.

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entspricht ihr aber die Paraurethraldrüse, die das weibliche Ejakulat produziert.], so bleibt dagegen der männliche Testikel beim Weibe im Eierstocke eingeschlossen, tritt nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für sich, zum tätigen Gehirn, und der Kitzler ist das untätige Gefühl überhaupt. Im Manne hingegen haben wir dafür das tätige Gefühl, das aufschwellende Herz, die Bluterfüllung der corpora cavernosa und der Maschen des schwammigen Gewebes der Urethra; dieser männlichen Bluterfüllung entsprechen dann die weiblichen Blutergüsse. Das Empfangen des Uterus, als einfaches Verhalten, ist auf diese Weise beim Manne entzweit in das produzierende Gehirn und das äußerliche Herz. Der Mann ist also durch diesen Unterschied das Tätige; das Weib aber ist das Empfangende, weil sie in ihrer unentwickelten Einheit bleibt“ (GW 20, § 369 A).

Hegel leitet mit seinen spekulativen Mitteln eine manifeste, binäre sexuelle Differenz her, die den Mann als Telos der Frau denkt. In seinem sozialen Vorstellungsschema verbleibt die empfangende und untätige Weiblichkeit im privaten Bereich der Familie und erfährt in Ehe und Reproduktion die Vervollständigung ihrer selbst. Die männliche Konstruktion vom Weiblichen „begründet“ so die Unsichtbarkeit des Weiblichen. Diese Unsichtbarkeit reproduziert wiederum die Unwissenheit. Das Weibliche wird stigmatisiert und als das Andere der aktiven und öffentlichen Vernunft diskriminiert und unsichtbar gemacht. Das tiefsitzende Problem dieser Konstruktion von Gender bringt Irigaray gut auf den Punkt: „The teleologically constructive project it takes on is always also a project of diversion, deflection, reduction of the other in the Same. And, in its greatest generality perhaps, from its power to eradicate the difference between the sexes in systems that are self representative of a ‚masculine subject‘.“22 Die schlechte Unendlichkeit der misogynen Dreifaltigkeit aus Verklärung, Verachtung, Verbannung ins Unsichtbare verkehrt die Idee der Liebe als Teilnahme am Absoluten in ihr Gegenteil. Die paulinischen Tugenden sind zentrale Tugenden christlichen Selbstverständnisses, aber seine ideologischen Vorstellungen von der „Natur“ des Menschen pervertieren die Liebe zum manifesten Herr22

Irigaray, This Sex which is Not One, S. 74.

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schaftsinstrument. Die Moral der Selbstlosigkeit und der Ablehnung reproduktiver Freiheit wird in einem Maße besonders an Frauen gerichtet, sodass das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Selbstlust, auf amour propre und Expressivität, als egoistische Anmaßung verwehrt wird. Der Frau wird keine eigene sexuelle Subjektivität zugesprochen, ist doch der „Kitzler das untätige Gefühl überhaupt“. Sie ist allein Objekt des männlichen Blicks und Begehrens, das sie zwar als Hure provozieren, aber nicht reziprok erwidern kann. Eine solche Normierung der Liebe schreibt sie als Demut vor, nicht als Partizipation und Selbstausdruck. Sie kann vom Menschen nur unter der Preisgabe der Subjektivität erfüllt werden. Diese Nichterfüllung des Pseudoideals erzeugt im prävalenten sozialen Imaginationsraum das notorische Gefühl von Schuld und Scham. Da die moralische Instanz der Kirche sich gleichzeitig in die Position versetzt, die Normen der Entschuldung und Sühne vorzugeben, erzeugt das christliche Liebesnarrativ soziale Herrschaft. Wer über Schuld und Sühne gebietet, kontrolliert den Geist des Menschen, den ganzen Menschen. Nichts macht den Menschen so gefügig und manipuliert so langfristig wie die Affekte von Schuld und Scham. Nichts legitimiert Gewalt und Brutalität so sehr wie kollektiv geteilte Verachtung. Nichts wirkt einer Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse so entgegen wie Unwissenheit. Der Geist in seinem Begehren, in seiner Erotik, ist das, was uns Menschen eigen ist und uns vom Tier unterscheidet. Der christliche Liebesschematismus gründet hingegen auf einer geistlosen Anthropologie, die die erotische Seite des Menschen nicht mit dem Geist, sondern mit dem Fleisch verbindet. Das ist kein auf den christlichen Kulturraum beschränktes Phänomen. Religiös geprägter Sexismus und Misogynie sind ein globales Problem. Für die islamischen Fundamentalisten ist die obsessive Verhüllung der Frauen so unverzichtbar wie für die christlichen Fundamentalisten das Abtreibungsverbot. Immer geht es dabei um die Kontrolle des weiblichen Körpers. Das Absolute in seiner Unendlichkeit zu begreifen, heißt es aus seinem misogynen, homophoben Schematismus zu befreien.

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Das ist eine zwingende Folge aus dem spekulativen Begriff des Absoluten. Eine philosophische Emanzipation von der religiösen Moralität muss sich daher den Liebesbegriff aneignen. Die philosophische Kritik der Vorstellung durch den Begriff muss der religiösen Verkehrung der scala amoris entgegenwirken und an die Wahrheit der Diotima erinneren, die den Sokrates die Liebe lehrte, ihr aber eine neue Form geben. Liebe zum Anderen setzt die Liebe zu sich voraus. Es braucht Interesse und Leidenschaft, um überhaupt ethisch handeln zu können. Liebe und Freiheit sind ein Bei-sich-Sein-imAnderen, in dem das Individuum sich groß macht, weil es an der Liebe partizipiert und sich dadurch erhält. Der Mensch liebt erotisch und der Eros bedarf der Selbstliebe: „Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation and that is an act of political warfare.“23 Audre Lorde entwickelt ihre Idee einer Love-Politics, einer Gegenimagination wider der herrschenden Imagination im Kontext des Black Feminism. In der Verbindung von self-care und radikaler Selbstkritik anvisiert sie eine politische Kollektivität, die von der Erotik als Wissens- und Machtquelle für die Entwicklung widerständiger politischer Bewegung getragen wird. Um nicht missverstanden zu werden: Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft, in der Pornographie und Sexualität allgegenwärtig sind.24 Erotik bleibt aber als Wissensquelle unverstanden, wenn keine hinreichend pluralen Vorstellungen dazu entwickelt werden, wie eine freie, auf Anerkennung und Konsens aufbauende Sexualität aussehen könnte. Wir sind weit entfernt von der Zukunft, die Audre Lordes Idee der Love-Politics zeichnet. Zygmunt Bauman beschreibt unsere Zeit vielmehr als eine Zeit, in der Sublimation wirtschaftlich nicht mehr erwünscht ist. Sexuelle Energie muss in unserer Gegenwart von Produkten angefacht 23 24

Siehe den Epilog zu: Lorde, A Burst of Light. Nussbaum diskutiert mit der Objektivierung des Anderen ein zentrales Problem sexueller Expressivität. Sie argumentiert gegen vorschnelle Verurteilungen der Objektivierung: „In the matter of objectification, context is everything.“ Nussbaum, „Objectification“, S. 227.

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und aufgeladen werden, „so that cars leaving the assembly line might be lusted after as sexual objects.“25 Sex sells. Ein christlicher Neo-Platonismus empfiehlt gegen diese erotische Malaise der Gegenwart eine teils asketische, jedenfalls monogame Lebensführung als transformative Praxis der lustvollen Zuwendung innerhalb der Partnerschaft, hält aber die Assoziation von Sex und Fleisch bei.26 Wenn eine sex-positive, pluralistische Aneignung der Liebe im Sinne einer Love-Politics diesem religiösen Moralismus entgegenwirken will, dann also nicht in einem hedonistischen, sondern in einem politisch-sozialen Sinne. Das Private ist zutiefst politisch. Es muss so um die Kritik an der neoliberalen Konsumkultur in Verbindung mit einer heteronormativen Praxis gehen, in der die Idee einer erotischen Transformation keinen Raum hat, sondern in binärer Verdinglichungen und polarer Genderschematik gehalten wird. Wir enden also mit einer offenen Frage. Kann religiöses Leben sich von seiner zerstörerischen Herrschaft über den Eros emanzipieren oder käme sie durch diese Transformation an ihr Ende? Ließe sich also eine Religion vorstellen, die keine repressive Sexualmoral vertritt, keine Obsession mit erotischer Freiheit hat, keine patriarchalische Herrschaft annimmt oder ihr zuträgt? Wir Kinder unserer Zeit stehen vor einer offenen Frage.

25 26

Bauman, Liquid Love, S. 57. Aus neoplatonischer Perspektive ist wirkliches Begehren nur das Begehren nach Gott. „Hence […] desire is more fundamental than ‚sex‘. It is more fundamental, ultimately, because desire is an ontological category belonging primarily to God, and only secondarily to humans as a token of their createdness ‚in the image‘“ Coakley, God, Sexuality and the Self , S. 10.

Teil III

Philosophie

Einleitung Wir haben im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit Hegels spekulative Lehre des absoluten Geistes mit Blick auf das Kunstschöne sowie auf das Gute des Glaubens praxeologisch gedeutet. Wir sind dabei den jeweiligen Eigenarten von Kunst und Religion nachgegangen und haben uns dabei von Hegels Identitätsthese leiten lassen, nach der Kunst als die Anschauung der Idee, die Religion als Vorstellung der Idee und Philosophie als der Begriff der Idee sich zwar denselben Inhalt teilen, zugleich aber eine wesentliche Formdifferenz aufweisen. Kunst, Religion und Philosophie bedienen sich unterschiedlicher „Sprachen“ (GW 20, S. 13), um das Absolute zu aktualisieren. Wir müssen nach Hegel also drei paradigmatische Weisen der „Bewusstmachung“ des Absoluten unterscheiden.1 In der Sprache der Kunst ist es die Spannung von Prosa und Poesie, aus der heraus die Kunst zur Selbstbestimmung des Geistes beiträgt. In der Religionsphilosophie haben wir im Rückgriff auf die Idee der Expressivität versucht, der Idee der Teilhabe des Sozialen und Subjektiven an der Fortbestimmung der ultimativen Substanz begriffliche Gestalt zu geben. Das Grundmotiv des aktualisierenden Zugriffes auf Hegels Nachdenken über die Weltlichkeit des Absoluten besteht darin, die Praktiken des absoluten Geistes nicht als kontemplative Reflexion, sondern als Kommunikation, als praktische Reflexion, zu verstehen. Die Praktiken spiegeln nicht die Natur des Geistes, sondern tragen zu dessen Fort- und Selbstbestimmung bei. Diese Fortbestimmung im Sinne der Zunahme kommunikativer Freiheit ist Inhalt und Zweck von Kunst, Religion und Philosophie. Das meint die These vom gesellschaftlichen Charakter der hegelschen Lehre des absoluten Geistes und der Absolutheit des Geistes. Hegel entwickelt keine „Ursprungsphilosophie“ des Absoluten im 1

Emundts, Erfahren und Erkennen, S. 386.

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traditionellen Sinne einer unwandelbaren Substanz,2 sondern eine „Emanzipationsphilosophie“ des Absoluten.3 Hegel formuliert eine Transformationsphilosophie, eine Philosophie der Aktualität der Ideen. Unsere Leitidee, Hegels Lehre des absoluten Geists als eine Theorie transformativer sozialer Praxis im Zeichen der Pluralität des Geistes zu deuten, mag den Einspruch anregen, dass Hegel die Sprachen von Kunst, Religion und Philosophie zur Bewusstmachung der wesentlichen Strukturen des geistigen Inderweltseins zu hierarchisieren scheint. „[D]ie Philosophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu fassen, weil ihre Weise die höchste, der Begriff, ist“ (GW 12, S. 236). Der philosophische Begriff ist demnach die „höchste Weise“, die absolute Idee zu fassen. In philosophischer Bewusstwerdung wird der Geist sich begrifflich präsent. Was wäre nun aber eine Position, die diese Rede von der „höchsten Weise“ nicht als Hierarchie deutet, sondern die Sprachen von Kunst, Religion und Philosophie als aufeinander irreduzibel anerkennt und dabei ihre Pluralität betont? Was für ein Begriff des Begriffs folgt daraus? Kunst und Religion wären in diesem Bild Voraussetzungen, die die Philosophie selbst nicht reproduzieren kann, auf die sie aber konstitutiv verwiesen ist. Die Philosophie kann ihre Voraussetzung explizieren und sich selbst in ihrer Abhängigkeit von ihnen wissen. In ihrer Kraft zur Selbstbegründung in ihrem Anderen geht Philosophie aus Hegels Perspektive über Kunst und Religion hinaus. Philosophie muss Kunst und Religion nicht „setzen“, um ihre Beziehung zu ihnen zu reflektieren. 2

3

Henrich versteht die Lehre vom Absoluten u.a. durch die These markiert, dass sie die „grundlose ursprüngliche Einheit des Negativen mit sich“ fasse. Deshalb sei hegelsche Dialektik weder Ursprungsphilosophie noch Emanzipationsphilosophie. Vgl.: Henrich, „Anfang und Methode der Logik“, S. 93 f. Spekulative Dialektik ist Theunissen zufolge als Ursprungsphilosophie eine Emanzipationsphilosophie. Vgl.: Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, S. 22.

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Hegels These mit Blick auf Kunst und Religion ist vielmehr umgekehrt, dass Kunst und Religion selbst philosophisch werden. Dass sie philosophisch werden, heißt nicht, dass sie aufhörten, Kunst und Religion zu sein. Auch in diesen Praktiken kommt es zu einer begrifflichen Weise der Bewusstwerdung ihrer Stellung in der Welt, die sich aber in ihrem spezifischen Material vollzieht. Wir werden im Folgenden versuchen, eine Interpretation von Hegels philosophischer Methode zu entwickeln, die dem Pluralismus der höchsten Sprachen gerecht wird, ohne die Eigenart der Philosophie zu unterschlagen. Wir deuten Hegel so, dass die kritische Beziehung der drei Praktiken aufeinander eine konstitutive Bedingung ihrer gesellschaftlichen Relevanz ist. Wenn sich Kunst, Religion und Philosophie wirklich hierarchisieren ließen, wäre dies nur Ausdruck ihrer nunmehr erreichten gesellschaftlichen Irrelevanz als tote, museale Schalen vergangener geistiger Bewegung. Es ist daher nur konsequent, dass Hegel im Streit der Selbstbestimmungsfakultäten des Geistes Position für die begriffliche Praxis der Philosophie bezieht, drückt sich darin doch ein Selbstverständnis aus, das in der Liebe zur Philosophie seine letzte Begründung findet. Wie können wir dieses Philosophieverständnis so auslegen, dass wir der Idee der Pluralität der Sprachen dabei Raum zu geben? Wenn wir nun im letzten Teil der vorliegenden Arbeit die Fragen nach dem Zusammenhang von Geist, Pluralität und gesellschaftlicher Dringlichkeit von Emanzipation und Selbstbestimmung an die Philosophie herantragen, dann heißt das, den sozialen Charakter der philosophischen Wissenspraxis, mithin des Begriffs des Begriffs, so zu entwickeln, dass der Pluralismus der höchsten Sprachen als dessen zentrale Voraussetzung zutage tritt. Hinter der folgenden interpretativen Arbeit an Hegels Begriff des Begriffs – das ist gleichbedeutend mit seinem Philosophieverständnis – steht folgender systematischer Grundimpuls: Wenn eine Sozialtheorie weltanschauliche Vielfalt und die kommunikative Auseinandersetzung mit der Vielfalt ethischer Werte als konstitutiv für eine offene Gesellschaft begründen will, dann muss sie Widerspruch und Wahrheit zusammenbringen können. Es braucht, anders

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gesagt, eine pluralistische Theorie von Rationalitätsstandards. Die pluralistischen Rationalitätsstandards sollen hier im Rahmen einer grundlegenden Reflexion auf die Struktur der Offenheit des Geistes zur Welt gewonnen werden. Das berührt die begrifflichen Grundlagen der offenen Gesellschaft. Die Ambivalenzen und Offenheit normativer Praxis sind kein über uns hereinbrechendes Schicksal. Normative Praxis ist eine Praxis, die sich verändern muss, um ihren Grundlagen treu zu bleiben. Ihre Grundlagen werden befragt, indem sie angewendet werden. Normative Strukturen sind im emphatischen, das heißt idealistischen Sinne genau dann bindend, wenn sie in ihrer Anwendung kritisch reflektiert werden können. Andernfalls sind sie von äußeren Zwängen begrifflich nicht zu unterscheiden. Normen werden nicht mechanisch angewendet, sondern „appliziert“.4 In der Applikation einer Norm fallen ihre Reflexion – mit Kant werden wir dies als den reflexiven Gebrauch der Urteilskraft fassen – und ihre Institution – Kant weiter folgend entspricht dies dem bestimmenden Gebrauch der Urteilskraft – zusammen. Kritik ist folglich ein konstitutiver Faktor der bindenden Kraft einer Norm. Wahrheit und Widerspruch stehen von daher in einer, im Folgenden zu erhellenden systematischen Verbindung. Mit Hegel werden wir das Zusammenwirken reflexiver und bestimmender Urteilskraft in der Idee dialektischer Urteilskraft zusammenführen. Zentrale Größe der Offenheit des Geistes für die Objektivität besteht in der Bejahung der Widersprüchlichkeit von Geist und Objektivität. Die Aufgabe, Wahrheit und Widerspruch zusammenzuführen, lässt sich anhand von zwei Bestimmungen, die Hegel der Philosophie einschreibt, weiter konkretisieren: Einerseits ist nach Hegel alle wahre Philosophie wesentlich dialektisch, kann doch nur der dialektische Begriff Anspruch erheben, den Kern der Sache in dessen Antinomizität selbst zu greifen: 4

Vgl. zum hier im Hintergrund stehenden hermeneutischen Begriff der Applikation: Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 312–329.

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„Diß zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische Moment des Logischen bestimmt“ (GW 20, § 48 A).

Andererseits kommt die Pluralität auch der Philosophie selbst zu. So hält Hegel in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie als Explanandum seiner Ausführungen fest: „Wir müssen dies begreiflich machen, daß diese Mannigfaltigkeit der vielen Philosophien nicht nur der Philosophie selbst – der Möglichkeit der Philosophie – keinen Eintrag tut, sondern daß sie zur Existenz der Wissenschaft der Philosophie schlechterdings notwendig ist und gewesen ist, – dies ihr wesentlich ist“ (TWA 18, S. 37).

Die vielen Philosophien haben nicht einfach als historische Vorläufer gegenwärtiger Philosophie ausgedient, sondern ihre Pluralität ist für die Aktualität philosophischer Wissenskultur, mithin von dialektischer Urteilskraft, eine konstitutive Bedingung. Wie lässt es sich nun aber verstehen, dass alle wahre Philosophie an sich dialektisch ist und gleichzeitig die Mannigfaltigkeit der vielen Philosophien für die Existenz philosophischer Praxis notwendig ist? Um diese Spannung in Hegels spekulativem Philosophiebegriff zu artikulieren, braucht es eine komplexe Kategorie, die Identität und Differenz nicht als Gegensatz, sondern als Momente konkreter Identität zu denken erlaubt. Diese Kategorie liefert nach Hegel die Reflexionsbestimmung des Widerspruchs. Wir werden die systematische Hauptrolle, die der Widerspruch für Hegel spielt, herausarbeiten und damit die Opposition zum gängigen Hegelbild suchen. Es ist das wohl hartnäckigste Vorurteil bezüglich der hegelschen Dialektik, ihr Ziel als Synthese aufzufassen, in der die Widersprüche in eine harmonische Einheit überführt würden. Dieses Vorurteil wird sich in Anbetracht der textuellen Evidenz als unhaltbar herausstellen. Wenn die hegelsche Logik ein Ziel hat, dann ist es radikal. Es gilt den Widerspruch als das zu denken, was er ist: als Wahrheit der Sache selbst.

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Hegel ist konzeptionell radikal, weil er die Idee einer Einheit von gegensätzlichen Momenten nicht mehr anhand von a priori bestimmten Gesetzen denkt. Hegels konzeptionelle Radikalität besteht weiter darin, nicht in einer letztgültigen, „reinen“ Form eine Garantie für die Einheit von Denken und Welt zu suchen. Es gibt keine formalen Gesetze des Denkens, die einen unwandelbaren Status hätten, und deren Befolgung logisch gültige Gedanken garantierte. Anders gesagt, das Ziel der hegelschen Logik besteht nicht in der Suche nach synthetischen Urteilen a priori. Es geht vielmehr um den Nachvollzug der begrifflichen Bewegung der Verflüssigung von Gegensätzen, wie beispielsweise dem Gegensatz von Urteilen a priori und a posteriori. Es gibt weder eine Substanz noch eine Form, die die Beziehung von Denken und Welt sichern würde. Es gibt allein die Problematizität ihrer Beziehung. Das ist die Wahrheit der Sache selbst. Mit der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs entwickelt Hegel das Schema der problematischen Beziehung von Subjektivität und Objektivität. Diesem radikalen Ansatz dialektischer Philosophie werden wir im Folgenden nachgehen, indem wir Hegels Begriff des Begriffs als Dialethismus auslegen. Hegels Radikalität drückt sich in der dialethischen Konzeption der Wahrheit aus. Im Zuge ihrer Rekonstruktion müssen wir erstens darlegen, warum Hegels Dialethismus eine Theorie bietet, die trotz der Zurückweisung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch weiterhin methodisch transparente Konsequenzen und Inferenzen zu ziehen in der Lage ist. Es wird insgesamt darum gehen, begriffliche Normativität offen und prozessual zu verstehen. Logische Gültigkeit versteht Hegel gerade nicht anhand des Paradigmas der Deduktion, sondern anhand tatsächlicher epistemischer Handlungen wie der induktiven und analogisierenden Beweisverfahren. Zweitens muss eine wissenschaftliche Praxis dazu etwas sagen, für welchen Gegenstandsbereich ihre methodisch gewonnenen Verknüpfungen gelten. Sie muss sich also in ontologischer Hinsicht erklären. Ontologie meint hier also nicht die Frage nach dem Sein des Seienden der Metaphysik, sondern die Frage nach dem Geltungsbereich einer wissenschaftlichen Theorie. In der Analyse ihrer Vor-

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aussetzungen macht sich dialektische Methode nicht einfach explizit, sondern sie begründet ihre Voraussetzungen rekursiv. Rekursive Begründung meint, dass die Voraussetzungen nicht einfach zu affirmieren, sondern im Lichte ihrer Begründung zu transformieren sind. Immanente Kritik ist in diesem Sinne notwendig rekursiv, lässt sie doch ihre eigenen Voraussetzungen nicht einfach als Gegebenes stehen, sondern eignet sie sich an. Die mit der Wissenschaftlichkeit kritischer Theoriebildung verbundenen Fragen tragen wir an die Logik heran. Im ersten Schritt werden wir von der Frage des gesellschaftlichen Charakters des kritischen Denkens absehen und den wissenschaftlichen Charakter der spekulativen Dialektik präsuppositionslogisch ausweisen. Im ersten Schritt ist dazu der spezielle Begriff der Reflexion zu entwickeln, den Hegel in der Wesenslogik zeichnet. In der folgenden Rekonstruktion der Logik liegt der primäre Fokus auf der Logik des Begriffs. Hier entwickelt Hegel die Struktur einer Methode, die an der Inferenz festhält, obwohl sie den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch auf Basis der Kritik am leibnizschen Satz der Identität nicht akzeptiert. Wie trotzdem logisches Denken möglich sein soll, machen die beiden Kapitel deutlich, die die begriffliche Struktur der Subjektivität und Objektivität explizieren. Die These ist, dass der Begriff der Pluralität es erlauben wird, Subjektivität und Objektivität zu vermitteln. Trotz ihres ontologischen Gegensatzes sind sie darin wesensgleich, dass sie die Vielfalt ihrer Formen generieren. Um anschließend den gesellschaftlichen Charakter einer philosophischen Wissenskultur im Sinne der Vielfalt der Perspektiven zu fassen, ziehen wir im Schlussteil der Arbeit die Konsequenzen im Begriff radikaler Philosophie im Sinne des kritischen Idealismus. Radikale Philosophie im Anschluss an Hegel versteht unter „Logik“ eine Praxis und eine Methode mit dem Ziel der Selbsttranszendenz der Subjektivität. Es geht uns also um die Vermittlung der Reflexion als Teil der Conditio humana mit ihren politischen Voraussetzungen. Dieses Ziel lässt sich gut von Kant her perspektivieren: Indem die Sinnlichkeit in der Anschauung dem Geist „Erscheinungen“ gibt, wird zugleich eine Sicht auf etwas gegeben, das

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nicht sinnlich erscheint. Dieses Etwas ist sozusagen das Sein als solches, das kantische Ding an sich. Das ist Gegenstand der Metaphysik – einer Disziplin, die das behandelt, was jenseits der sinnlichunmittelbaren Wirklichkeit liegt. Dem Geist erscheint das Nichterscheinende in den Erscheinungen unter anderem dadurch, dass er sich der Logik bedient. Durch die Logik wird das Nichterscheinende zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Reflexion, die ihre ontologischen Voraussetzungen analysiert und so kommunizierbar macht, was sinnlich nicht unmittelbar mitteilbar ist. In dieser Fähigkeit – Nichterscheinendes zur Erscheinung zu bringen – sind Kunst, Religion und philosophische Wissenschaft nach Hegel inhaltsgleich. Sie sind drei irreduzible Sprachen der Artikulation dessen, was sich unmittelbarer, idiosynkratischer Anschauung entzieht. Kunst, Spiritualität und Wissenschaft bilden, um die These bündig zu formulieren, drei praktische Erfahrungsräume der Selbsttranszendenz. Anders gesagt, „Logik“ meint im spekulativen Sinne eine Praxis „intellektueller Anschauung“.5 Es geht uns im Folgenden um die Idee, intellektuelle Anschauung als Kritische Theorie zu fassen.

5

Wir fassen mit Förster die Entwicklung von Kant zu Hegel als Weg der kantischen scientia discursiva zur von Spinoza und Goethes Morphologie inspirierten scientia intuitiva Hegels auf. Förster, Die 25 Jahre der Philosophie, S. 365.

7. Dialethismus und dialektische Methode Um Hegels Logik in ihrer systematischen Radikalität gerecht zu werden, muss ihr Dialethismus verständlich werden. Dialethismus meint bei Hegel die These, dass der Widerspruch eine intelligible, logische Struktur hat, die der Komplexität einer organologisch aufgefassten Welt begrifflich angemessen ist. Der Dialethismus ist für ein tieferes Verständnis dessen, was Hegel Geist nennt, essentiell: „Die geistreiche Reflexion“ so Hegel, „besteht […] im Auffassen und Aussprechen des Widerspruchs“ (GW 11, S. 288). Der Dialethismus lässt sich durch drei logische Merkmale charakterisieren, die der klassischen Logik widersprechen.1 Dialethismus versteht Wahrheit erstens nicht propositional. Wahrheit ist also keine Eigenschaft mentaler, urteilsförmiger Zustände. Den propositionalen Wahrheitsbegriff können wir der Deutlichkeit halber mit Hegel als Gewissheit bezeichnen. Dialethische Wahrheit versteht Wahrheit so, dass sie Heideggers alethischer Konzeption der Wahrheit ähnlich ist und ein „Wahrheitsgeschehen“ meint.2 In diesem Sinne ist ein Mensch eine wahre Freundin, ein Gegenstand ein wahres Kunstwerk, eine Verfassung Bedingung eines wahren Staates. Zweitens weist Dialethismus das Gesetz der Identität zurück, das Identität als Gleichheit mit sich selbst, als A=A, definiert. Klassische Logik geht vom Gesetz der Identität als einem Denkgesetz aus. Das Identitätsprinzip des A=A wird oft Gottfried Wilhelm Leibniz zugeschrieben und daher auch als Leibniz-Gesetz bezeichnet.3 Aus 1 2 3

Vgl. hierzu: Priest, „Kant’s Excessive Tenderness for Things in the World, and Hegel’s Dialetheism“, S. 56. Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“, S. 45–66. Die Untiefe des einfachen Satzes der Identität illustriert Hegel ironisch mit der Anekdote von Leibniz, der den Satz, es gebe keine Dinge, die einander gleich sind, an einem königlichen Hofe dadurch dargelegt habe, dass er seine Hörer*innen bat, zwei gleiche Baumblätter zu suchen.

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Hegels spekulativer Perspektive ist dessen „positive[r] Ausdrucke A = A, […] zunächst nichts weiter, als der Ausdruck einer leeren Tautologie.“ Eine Tautologie kann ihren Inhalt nur im Sinne einer „unbewegten Identität festhalten.“ Identität ist aber in „Wahrheit nur in der Einheit von Identität und Verschiedenheit vollständig“ (GW 11, S. 262). Hegels Revision des Leibniz-Gesetzes hat eine dritte Folge für die spekulative Logik. Der positive Ausdruck abstrakter Identität ist das A=A und bildet die Kehrseite des negativen Ausdrucks, das heißt des Widerspruchsverbotes. Wenn A=A gelten soll, kann A nicht zugleich A und Nicht-A sein. Da aber beide Sätze feststellen, was in Bewegung ist, bleiben sie im Abstrakten stehen. Leibniz’ abstraktes Gesetz der Identität und das Verbot des Widerspruchs bilden nach Hegel aber „kein Denkgesetz, sondern vielmehr das Gegenteil davon“ (ebd., S. 265). Hegels Programm lässt sich pointiert so fassen: Sichselbstgleichheit ist in ihrer konstitutiven Bezogenheit auf Differenz zu begreifen. Wir werden diesen Gedanken kommunikationstheoretisch reformulieren: Wer an den Denkgeboten von Sichselbstgleichheit und Widerspruchsfreiheit festhält, abstrahiert von den wesentlichen Reproduktionsbedingungen freier Identität und „geistreicher Reflexion“. Identität wird so gewissermaßen verdinglicht. Spekulative Identität meint keine Sichselbstgleichheit, sondern einen kommunikativen Prozess, ein Bei-sich-Sein-imAnderern. Theunissen zufolge zielt die gesamte Logik darauf ab zu begründen, „daß alles, was ist, nur in der Beziehung und letztlich nur als die Beziehung auf sein Anderes es selbst sein könne.“ Daraus entwickelt Theunissen das „normative Ideal“ kommunikativer Freiheit als Gegenstand der Logik.4

4

Dazu bemerkt Hegel süffisant: „Glückliche Zeiten für die Metaphysik, wo man sich am Hofe mit ihr beschäftigte, und wo es keiner anderen Anstrengung bedurfte, ihre Sätze zu prüfen, als Baumblätter zu vergleichen!“ GW 11, S. 271. Wir verstehen unsere Überlegungen hier im Anschluss an Theunissen, Sein und Schein, 29. Wir betonen aber erstens den Dialethismus als normativen Bestandteil kommunikativer Freiheit und sehen zweitens einen

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Um den hegelschen Dialethismus zu beschreiben, können wir ihn auch kontrastiv zur klassischen Logik beschreiben. Unter der klassischen Logik verstehen wir hier das Gebiet der modernen Logik, das sich durch die folgenden Prinzipien kennzeichnen lässt: Klassische Logik folgt dem „Zweiwertigkeitsprinzip“. Eine Aussage hat einen der beiden Wahrheitswerte wahr oder falsch, ist folglich nie wahr und falsch zugleich. Das meint der Satz vom ausgeschlossen Widerspruch. Neben Wahrheit und Falschheit gibt es keinen anderen Wahrheitswert. Das ist der Satz vom ausgeschlossen Dritten. Zweitens folgt klassische Logik dem „Extensionalitätsprinzip“, nach dem die Bedeutung eines Ausdrucks einer künstlichen oder natürlichen Sprache dadurch bestimmt ist, welche (physischen oder abstrakten) Gegenstände dieser Ausdruck benennt.5 Es gibt damit vier Axiome, die die klassische Logik im Sinne einer „Scientia generalis“ (Leibniz) charakterisieren. Diese vier Axiome begründen im klassischen Schema wissenschaftlicher Sprache vier ontotheologische Folgerungen. Das Identitätsprinzip der Sichselbstgleichheit gründet in der Vorstellung Gottes als realer göttlicher Identität und Unveränderlichkeit. Das Nichtwiderspruchsprinzip gründet in der Annahme, das Absolute widerspräche sich nicht. Das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten begründet sich durch die Annahme, alle Entweder-Oder gründeten in einem Gott. Das Prinzip des zureichenden Grundes hängt schließlich an der Annahme, Gott sei der zureichende Grund selbst, sei unendliche Intelligenz und Inbegriff aller Realität. Hegel weist in der Wesenslogik jedes dieser Axiome zurück. Ihre ontotheologischen Implikationen sind nicht spekulativer, sondern rein apologetischer Natur. Sie sind mit den Standards

5

systematischen Ertrag bereits in der Seins- und Wesenslogik, wenn auch in abstrakter Form, geleistet. Dieses Prinzip fasst Bedeutung auch nach dem Kompositionalitätsprinzip auf, nach dem die Extension eines zusammengesetzten Ausdrucks einer Sprache eindeutig durch die Extensionen seiner Teilausdrücke und die Art ihrer Zusammensetzung bestimmt ist. Vgl. zu Zweiwertigkeit und Extensionalität klassischer Logik: Stelzer, „Logik“, S. 324.

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philosophischer Subjektivität nach Hegels Verständnis von Philosophie nicht kompatibel, verendlichen sie doch das Absolute. Der Unterschied von klassischer und dialektischer Logik lässt sich auch über den je investierten Begriff des Begriffs fassen: Klassische Logik versteht den Begriff des Begriffs apprehensiv im Sinne Kants. Die logischen Strukturen sind der Sache selbst äußerlich und bilden nur die symbolische Ordnung seiner Repräsentation. Diese Ordnung ist zwar für die menschliche Perspektive konstitutiv, aber nicht für die Dinge an sich. Hegels Begriff des Begriffs ist vielmehr komprehensiv. Die logischen Strukturen sind die Strukturen der Welt. Die These der Verwandtschaft von Denken und Sein wird uns zur Idee ihrer Pluralität führen. Die pluralistische Aktualisierung des hegelschen Begriffs des Begriffs wird diese Verwandtschaft in der Idee artikulieren, dass sich Begriff und Welt nur durch eine offene Form von Normativität charakterisieren lassen. Die Verwandtschaft von Begriff und Welt ist auf Basis des komprehensiven Begriffs des Begriffs nicht mehr durch apriorische Formen zu sichern. Anstatt die „Verhältnißbegriffe und synthetischen Grundsätze selbst, von der formalen Logik als gegeben“ aufzunehmen (GW 12, S. 205), wie Kant es aus Hegels Perspektive tut, entwickelt Hegel die begrifflichen Bestimmungen in ihrer problematischen, offenen Beziehung auf die Welt. In Kants eigener spekulativer Philosophie taucht diese Idee als die Vorstellung des inneren Zwecks auf, an die Hegel kritisch anschließen und die er fortführen wird: Der innere Zweck der Substanz ist die Pluralisierung ihrer Formen. Die Frage nach den Strukturen einer non-binären Logik führt zum locus classicus der Verteidigung des Widerspruchsverbots. Das ist Aristoteles Metaphysik Γ4. Dem Axiom des Widerspruchsverbots zufolge kann nichts sowohl wahr als auch falsch sein, denn es ist das „sicherste unter allen Prinzipien, daß dasselbe demselben und in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann.“6 Aristoteles argumentiert, dass die Unterscheidung von Substanz und Akzidenz implodieren würde, würde das 6

Aristoteles, Metaphysik, 1005 b.

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Widerspruchsverbot verletzt. Folglich wäre alles eins und alles mit allem identisch. Das Argument für das Widerspruchsverbot lässt sich als Axiom klassischer Logik formalisieren: α, ¬α |= β.7 Damit ist eine wichtige Bedingung formuliert: Wer das Widerspruchsverbot zurückweist, muss Kriterien gültiger Implikationsbeziehungen entwickeln, und das heißt, Bedingungen von Ausschluss und Negation angeben zu können. In den Begriffen einer dialethischen, symbolischen Theorie gesagt: Es braucht ein Verständnis des Unterschieds zwischen dem Widerspruchsprinzip und der „Explosion“ inferentieller Beziehungen.8 Hegels dialektische Methode als Dialethismus zu verstehen, impliziert die Aufgabe, den Widerspruch so zu erläutern, dass daraus nicht Beliebiges folgt. Hegels spekulative Logik transformiert zu diesem Zwecke zwei Axiome der klassisch-aristotelischen Logik. Im aristotelischen Paradigma sind Tautologien notwendig wahr, Widersprüche hingegen notwendig falsch. Spekulation geht umgekehrt davon aus, dass Tautologien als Nichtvermittlung notwendig falsch sind. Sie sind formal ungeeignet, Wahrheit zu vermitteln. Widersprüche hingegen sind genau dann wahr, wenn sie die konstitutive Spannung der Sache artikulieren, die Gegenstand des Schlusses ist, der die entsprechende Sache selbst auf den Begriff bringen soll. Das Kriterium des Unterschieds von Beliebigkeit und Widersprüchen wird material begründet, nicht symbolisch oder formal. Was ist mit einer materialen Begründung logischer Strukturen gemeint? Dazu hilft der kontrastive Blick auf Kant. Während die klassische Logik das Denken des Denkens als Reflexion allein seiner symbolischen Form und insofern apprehensiv begreift, denkt spekulative Logik das Logische aus der Wechselwirkung von Form und Inhalt, von Subjektivität und Substanz: „Mit dieser Einführung des Inhalts“, wie Hegel dies programmatisch formuliert „in die logische Betrachtung, sind es nicht die Dinge, sondern die Sache, der Begriff 7 8

Lies „α, ¬α |= β“ als: Aus Alpha und Nicht-Alpha folgt Beta; ex contradictione quodlibet. priest_whats_2004.

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der Dinge, welcher Gegenstand wird“ (GW 21, S. 17). Es geht um das, was Hegel die „Sache selbst“ nennt: „[K]eine Darstellungen [können] für wissenschaftlich gelten […], welche nicht den Gang der [dialektischen] Methode gehen und ihrem einfachen Rythmus gemäß sind, denn es ist der Gang der Sache selbst“ (ebd., S. 38). Mit dem Anspruch auf Sachlichkeit geht bei Hegel ein Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik einher. Damit nimmt Hegel ein Ziel in den Blick, das wir von Kant her formulieren können. Kants wie Hegels gemeinsamer Anspruch ist es nämlich, die Metaphysik als moderne Wissenschaft zu begründen. Unter „Metaphysik“ oder einer philosophischen Logik im Anschluss an Kant können wir eine Theorie der Wirklichkeit verstehen, die die Elemente der Wirklichkeit nicht summarisch listet, sondern auf ihren Inbegriff bringt. Eine Wissenschaft der Metaphysik ist nur möglich, wenn sie als Logik den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ nimmt.9 Die Selbstbegründung der Philosophie als vormaliger Metaphysik und nunmehriger Logik geschieht im Rahmen einer Einheit von „Kritik“ und „Darstellung“ der vormaligen Metaphysik.10 Die Grenzen, die Reichweite und die Voraussetzungen der Erkenntnis der Welt werden kritisch reflektiert und die Erkenntnis derart in ihrer Geltung begründet. Kant begründet nun die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik, indem er in der KrV zeigt, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Welt ihrerseits selbst Gegenstand synthetischer Urteile a priori sind. Kant argumentiert, dass ohne die Differenzierung der subjektiven „Sukzession“ der Vorstellungen von der objektiven Sukzession keine Einheit der Apperzeption möglich ist. Die „transzendentale Einheit der Apperzeption“ im Sinne der zeitlichen Sukzession der Erfahrung impliziert, so Kants transzendentale Deduktion,11 die objektive Gültigkeit der Kategorien der Erfahrung für die Welt der Erscheinungen. Insofern stellt transzendentale Logik dar und 9 10 11

Kant, KrV, B VII. Die Begriffe „Darstellung“ und „Kritik“ zur Charakterisierung wissenschaftlicher Metaphysik stammen aus: Theunissen, Sein und Schein, S. 13. Kant, KrV, B 155 ff.

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macht explizit, was als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung selber notwendige, erfahrungsunabhängige Gültigkeit hat. Die kritische Darstellung begründet so die Objektivität der Erfahrung. Transzendentale Kritik macht mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung etwas begreifbar, was sich der anschaulichen Bezugnahme selbst entzieht. Wir können die transzendentale Frage nach den Bedingungen im Sinne einer Erhellung der Präsuppositionen des Denkens fassen. Die transzendentale Präsuppositionsanalyse folgt der Idee, dass Selbstkritik eine notwendige Voraussetzung von Erfahrung ist. Zeitgenössische Lesarten der transzendentalen Methode im Sinne einer kritischen Präsuppositionsanalyse fassen ihren Anspruch de-theologisiert und reformulieren ihn sprachanalytisch. Eine wirkmächtige Lesart des Verhältnisses von Kant und Hegel liegt in einer systematisch ausgearbeiteten Form bei Pippin vor12 und ist von Pippin selbst, Pinkard, Brandom und vielen anderen weiterentwickelt worden.13 Pippin argumentiert, dass unsere Interpretation der Logik daran orientiert sein solle, dass „the basic position of [Hegel’s] entire philosophy should be understood as a direct variation on a crucial Kantian theme, the ‚transcendental unity of apperception‘.“14 Um die These zu stützen, dass für Hegel die Einheit der Apperzeption zentral für die Fortentwicklung der kritischen Philosophie sei, führt Pippin eine Passage aus der Logik an, nach der „die ursprüngliche Synthesis der Apperception […] eines der tiefsten Prinzipien für die spekulative Entwicklung“ sei (GW 12, S. 22). Aus Pippins Sicht ist Hegels Logik eine Variation transzendentaler Präsuppositionsanalyse, die aber einen stärker sozial-gemeinschaftlichen und damit historischen Begriff der selbstbewussten Praxis des Unterscheidens und Urteilens, des „giving and asking for reasons“, verfolgt, als Kant ihn entwickelt. Pippin verfolgt mit der Strategie des detheologisierenden Zugriffs auf Hegels Logik einen apperzeptions12 13 14

Pippin, Hegel’s Idealism. Vgl. zu den jüngeren Arbeiten: Zambrana, Hegel’s Theory of Intelligibility, und Kreines, Reason in the World. Pippin, Hegel’s Idealism, S. 6.

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theoretischen Zugang, dessen Stärke darin besteht, die Rolle der Selbstkritik in der Analyse der Voraussetzungen in sprachanalytischer Hinsicht betonen zu können.15 Der von Kant wie Hegel verteidigte wissenschaftliche Anspruch kritischer Metaphysik führt uns zur Frage nach dem Rhythmus der dialektischen Methode. Das dialektische Formgesetz wird von Pippin im kantischen Schema der These, Antithese, Synthese gefasst. Es hat aber nichts so sehr zum Missverständnis hegelscher Dialektik geführt wie die unhinterfragte Rückübertragung spekulativer Dialektik in das kantische Verstandesschema. Dabei ist es nicht nur so, dass Hegel dieses Schema nicht anwendet, sondern er weist den Begriff der Synthesis sogar explizit zurück und kritisiert ihn als mangelhaft: „Synthesis leitet leicht wieder zur Vorstellung einer äußerlichen Einheit, und blossen Verbindung von solchen, die an und für sich getrennt sind“ (GW 12, S. 22). Um die innerliche Einheit von Gegensätzen zu denken, müssen wir uns vom Verstandesschematismus der Dialektik von These, Antithese und Synthese unbedingt lösen. Das Moment der Synthesis markiert bei Hegel nur den zweiten Schritt dialektischer Bewegung, ist also selbst eine Art Durchgangsstadium. Der Widerspruch bildet hingegen bei Hegel kein Durchgangsstadium, dessen Wahrheit allein retrospektiv als Anlass zur Transformation zu rechtfertigen wäre. Der Widerspruch ist mehr als ein ursprünglicher Antrieb oder „Anstoß“ im Sinne Fichtes. Ich halte es für hilfreich, Pippins Vorschlag aufzunehmen und Hegels Logik als eine Präsuppositionsanalyse zu lesen, die die epistemologischen und ontologischen, damit zusammen die systematischen Voraussetzungen der Erkenntnis der Welt explizit macht. Es geht dabei nicht darum, die Welt unmittelbar explizit zu machen, sondern den Prozess des Explizitmachens explizit zu machen.16 Hegel schließt an Kants Projekt begründender Kritik und Darstellung der Metaphysik an und führt es fort. Hegels systematischer Vor15 16

Vgl. zu dieser Interpretation auch: Tolley, „The Subject in Hegel’s Absolute Idea“, S. 145. Vgl. hierzu: Brandom, „Sketch of a Program for a Critical Reading of Hegel“, S. 155.

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schlag, wie Kants Kritizismus zu realisieren sei, folgt methodisch der Idee der Selbstkritik, geht es doch darum, die Voraussetzungen und Prämissen des wissenschaftlichen Erkennens systematisch zu reflektieren und zu explizieren.17 Pippins „transzendentalisierende“ Lesart der Logik entwickelt so einen praktischen Begriff des Widerspruchs, der die Transformationen im Selbstverständnis der Vernunft erzwinge. Widersprüche treten zwischen Anspruch und Wirklichkeit rationaler Praxis auf und geben durch ihr Auftreten Anlass zur Transformation entweder der Praxis oder ihrer Selbstkonzeptualisierung. Damit ist der Widerspruch als transitorisch bestimmt. Er gibt Anlass zur Transformation im Sinne einer reflexiven Veränderung mit dem Ziel konsistenter, emanzipierter Praxis.18 Pippin erläutert diese Teleologie der Emanzipation im Rekurs auf die kantische Unterscheidung von innerer und äußerer Zweckmäßigkeit. Der Unterschied von innerer und äußerer Zweckmäßigkeit ist in der Tat eine wichtige Unterscheidung, auf die wir unten zurückkommen, sie aber anders als Kant und Pippin deuten werden. Die Emanzipation des Geistes besteht nicht darin, sich vom Widerspruch zu befreien, sondern den Widerspruch als konstitutives Moment seiner Freiheit anzuerkennen und die Ambivalenzen der Pluralität des Lebens auszuhalten und zu gestalten.

7.1 Erklärungsziele Hegels Kantkritik systematisch ernst zu nehmen, impliziert die Aufgabe, die Differenz von transzendentaler und spekulativer Logik zu artikulieren. Kants Dialektik ist aus Hegels Sicht zu unterkomplex, um ihr Ziel, die regulative Idee der Freiheit, zu erreichen. Da es auch Hegels erklärtes Ziel ist, Freiheit als den Begriff des Geistes verständlich zu machen, braucht es aus seiner Sicht eine spekulative Lehre der Reflexion, die den Widerspruch als integra17 18

Vgl. in diese Richtung: Houlgate, „Is Hegel’s Phenomenology of Spirit an Essay in Transcendental Argument?“, S. 193. Pippin, Realm of Shadows, S. 269.

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len Bestandteil der Freiheit begrifflich reflektieren kann. Zentrale Elemente dieser spekulativen Doktrin entwickelt Hegel in der Wesenslogik. Die Lehre der Oppositionen als Lehre des Wesens liefert einen wichtigen Grundstein, denn sie entwickelt die Voraussetzungen einer relationalen Prozessontologie.19 Diese Entwicklungen schließen zwar an die Überlegungen der Seinslogik an, wir werden ihren Gedankengang hier aber nicht rekonstruieren, sondern die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Reflexion systematisch motivieren. Wir können den Startpunkt der folgenden Überlegungen fassen, indem wir ein Desiderat formulieren: Hegels Ontologie und Epistemologie bricht mit einer natürlichen Ontologie und Epistemologie. Eine natürliche Ontologie im Sinne einer Ontologie des Common Sense geht davon aus, dass es Einzeldinge gibt. Die Annahme der natürlichen Ontologie lässt sich vom dialektischspekulativen Standpunkt aber nicht halten. Dinglichkeit ist das Resultat analytischer Tätigkeit, mithin also eine Negationsleistung des Verstandes und als solche eine abgeleitete ontologische Größe. Primär sind es Prozesse, aus denen die Welt besteht. Bereits Kant bricht mit der natürlichen Ontologie, indem er die ontologische Möglichkeit der Gegenstände aus den epistemologischen Bedingungen ihrer Erkenntnis gewinnt. Hegel radikalisiert diesen Bruch, indem er die Vorstellung eines Dings an sich verabschiedet.20 Was folgt aus der spekulativen Absage an die Vorstellung einer natürlichen Ontologie? Was muss ersichtlich werden, damit Hegels Bruch mit der natürlichen Vorstellung einer Welt aus Dingen nicht bloß als ihre abstrakte Negation, sondern als transformierende Rehabilitation ihrer wahren Elemente verständlich wird? Das bringt uns zur Epistemologie der Dialektik zurück. Oben wurde gesagt, 19

20

Horstmann diskutiert diesen Punkt unter dem Stichwort der „ontologischen Ambivalenz von Relationen“ bei Hegel. Horstmann, Ontologie und Relationen, S. 37–105. Vgl. zu einer Position, die die Kontinuität und Diskontinuität von Kant und Hegel mit Blick auf ihre ontologischen Voraussetzungen und die Radikalisierung des Bruchs mit der natürlichen Ontologie rekonstruiert: Emundts, Erfahren und Erkennen, S. 350 f.

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dass das Schema von These, Antithese und Synthese ein irreleitendes Schema ist, wenn es um ein Verständnis der hegelschen Dialektik geht. Aber was heißt das positiv? Ein Vorverständnis und damit ein Erklärungsziel können wir aus der Schlusspassage der Logik im Abschnitt zur absoluten Idee ableiten: „Die Methode der Wahrheit aber, die den Gegenstand begreift, ist zwar, wie gezeigt selbst analytisch, da sie schlechthin im Begriffe bleibt, aber sie ist ebensosehr synthetisch, denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als Anderer bestimmt“ (GW 12, S. 246).

Um die Methode der Dialektik zu begreifen, müssen also ihre analytischen und synthetischen Momente begriffen werden. Der analytisch verfahrende Verstand bringt Schematismen hervor, die vom Gegebenen und Unmittelbaren ausgehen und es analytisch isolieren. Der Gegenstand des Denkens erscheint somit als Ding mit Eigenschaften. Hegel folgt hier Kants theoretischer Philosophie und begreift diese Konstruktion des Gegenstands als Leistung der Apperzeption. Das Moment der Analyse nutzt dabei die Verstandesgesetze des ausgeschlossenen Widerspruchs und des leibnizschen Gesetzes der Identität, um die objektive Sukzession des empirischen Materials entlang des Prinzips der subjektiven Sukzession zu strukturieren. Die Verstandesgesetze dienen der Abstraktion, Strukturierung und Vereinheitlichung der empirischen Mannigfaltigkeit. Analysis betrachtet Dinge, um mit Hegel zu sprechen, in ihrem Fürsichsein, indem es die Struktur der Sache ohne Rekurs auf ihre wesentlichen Differenzen fasst. Der Verstand sieht also ab von der wesentlichen Relationalität der Sache selbst und konstruiert ein sich selbst gleiches Ding. Das erste Moment des begreifenden Denkens artikuliert also die Prämisse der Identität des Objekts der Erfahrung mit seinen Eigenschaften. Analysis liefert damit eine „unmittelbare Identität“ oder, um den kantischen Begriff zu nutzen, den „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ einer Sache.21 Das ist 21

Kant, KrV, A 137 ff.

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die erste Negation, die das Denken vollzieht: die Absehung von Relation und Kontext einer Sache zwecks ihrer Schematisierung. Die Analysis, das verständige Denken im Unterschied zur synthetischen Vernunft und zum dialektischen Geist, liefert dem Erkennen einen zentralen, wenn auch problematischen Ausgangspunkt – den Schematismus dessen, was gedacht wird. Sagen wir beispielsweise „dieser Tisch“, dann ist ein allgemeines „Bild“ in unserem Geiste gegenwärtig und wir können sehen, dass dieses Hier ein Tisch ist, der seine Merkmale mit vielen anderen solchen Dingen gemeinsam hat, obwohl er selbst eine besondere Verkörperung des Allgemeinen ist. Für die Rede vom inneren Bild können wir mit Kant den präziseren Begriff des Schemas einführen: „Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume.“22

Da ein Schema nur in Gedanken existiert und ihm kein Einzelding entspricht, liefert es nur eine Art „Bild“. Es ist aber weder reines Gedankenprodukt, noch ist es allein der Sinnlichkeit gegeben. Es ist, wie Arendt in ihrer Aneignung der kantischen Urteilskraft feststellt, auch kein Produkt der Abstraktion von sinnlich gegeben Daten. Vielmehr steht das Schema „zwischen Denken und Sinnlichkeit“.23 Es ist intellektuell, weil es nach Außen unsichtbar ist; es ist sensuell, insofern es so etwas ist wie ein Bild. Aufgrund dieser Zwischenstellung bezeichnet Kant in der A-Auflage der KrV die Einbildungskraft neben Sinnlichkeit und der transzendentalen Apperzeption sogar als eine der „drei ursprüngliche[n] Quellen aller Er22 23

Kant, KrV, B 180. Arendt, Urteilen, S. 126.

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fahrung“ und erklärt sie für irreduzibel, da sie „aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden kann.“24 Der Verstand negiert die Unmittelbarkeit des Gegebenen, indem er die Mannigfaltigkeit des Gegebenen schematisiert und die Dinge isoliert. Das Begreifen bleibt aber im Spiel der drei Vermögen nicht in der schematischen „Ansehung reiner Gestalten“ stehen. Die Negation dieser Negation erfolgt in der zweiten Prämisse inferentiellen Denkens. Das passiert in der Synthesis. Hier wird der Schematismus mit der Empirie auf sein intrinsisch Anderes bezogen. Die Synthesis erlaubt so eine Ordnung der Beziehungen und Differenzen. Sie stellt Lehrsätze, Definition und Beweise auf. Sie gewinnt durch die Beziehung von Identität und Differenz Allgemeinheiten, die sich auf notwendige Relationen stützen. Das Problem der Synthesis ist dabei das falsche Schema von Notwendigkeit, das sie verfolgt. Während nämlich das „Prinzip der Philosophie“ der „unendliche freye Begriff “ ist, bringen es die „Synthese und Vermittlung dieser Methode, des Beweisens, [… zu] nichts weiter als zu einer der Freyheit gegenüberstehenden Nothwendigkeit“ (GW 12, S. 246). Weil die Synthese mit der Analyse noch die Axiome leibnizscher Identität und aristotelischer Logik teilt, bleibt sie der Sache selbst damit äußerlich. Um Reflexion im Sinne Hegels als Wechselwirkung und reziproke Teilnahme von Subjektivität und Objektivität zu verstehen, muss sich das Denken selbstkritisch fragen, ob es in der Ausübung seiner konstruktiv-strukturierenden Vermögen nicht einem falschem Schema folgt. Die Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität, Begriffsschema und empirischen Material, lässt sich nämlich philosophisch nur begründen, wenn sie als wechselseitige Fortbestimmung gedacht werden. Die Synthese ist keine mechanische Operation, einen gegebenen Inhalt in eine fixe Form zu pressen, sondern appliziert eine Konstruktionsregel auf das zu begreifende Material. Das Schema muss sich durch diese Applikation verändern, soll es mehr als ein fixes Schema sein. Es ist, so können wir den Fluchtpunkt der folgenden Rekonstruktion der hegelschen 24

Kant, KrV, A 95.

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Lehre des Begriffs fassen, ein falsches, da unspekulatives Verständnis von Logik, sie als mechanische Operation fixer Formen auf einen ihnen äußerlichen Inhalt zu denken. Dieses Verständnis nennen wir „apperzeptiv“ im Sinne Kants. Empirische oder psychologische Apperzeption meint bei Kant die Tätigkeit des Verstandes, klare Vorstellungen – Schematismen – aus der sinnlichen Wahrnehmung zu bilden und die empirische Mannigfaltigkeit durch die Tätigkeit des inneren Sinns in ihrer zeitlichen Erstreckung zu Gegenständen zu vereinheitlichen. Reine Apperzeption ist das Vermögen der Einheit von Verstand und Vernunft, aus der Reflexion der Struktur dieser Einheit allgemeingültige Formen zu gewinnen.25 Komprehension können wir als Gegenbegriff zu Apperzeption im Sinne Hegels als das Vermögen des Geistes bezeichnen, durch Negation an sich selbst die Objektivität fortzubestimmen. Hegel nimmt also nicht nur Abschied von der Vorstellung, die Einheit von Begriff und Wirklichkeit sei aus einer apriorischen Form des Denkens transzendental zu deduzieren. Er affirmiert die Konsequenz dieses Abschieds vom rationalistischen Traum einer inhaltsverbürgenden Form des Denkens: Auch die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen lässt sich aus Hegels Perspektive nicht stabilisieren. Wirkliche Allgemeingültigkeit hat niemals die feste Form, sondern Allgemeinheit im Sinne konkreter Allgemeinheit gewinnt nur, was sich durch Negation an sich selbst bewegt. Das gilt für Hegel auch für die vermeintlich kristallharten Strukturen der Logik. Anders gesagt, Hegel gesteht Kant durchaus zu, mit der transzendentalen Ästhetik und Logik die Strukturen der Apperzeption adäquat beschrieben zu haben. Kant zieht nur aus der transzendentalen Dialektik den falschen Schluss und will das Verflüssigen der trockenen Begriffsschemata sozusagen vom Eigenen des Denkens fernhalten. Er fasst den Begriff daher apperzeptiv und übersieht darin die Dimension der Teilhabe des Denkens an der Sache selbst. Das begreifende Denken ist aber nicht in dem Sinne autonom, dass es aus sich heraus die Welt konstituiert. Das spekulative 25

Kant, KrV, A 107 und näher bestimmt bei: B 131 ff.

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Denken nimmt an der Fortbestimmung der Welt teil, indem es sich selbst in seiner fixen Subjektivität negiert und ein neues Begreifen dessen, was bekannt schien, sucht. Denken hat sozusagen nur Substanz, wenn es ein Weiterdenken ist. Denken ist immer Andersdenken, denn „durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als Anderer bestimmt“ (GW 12, S. 246). Die abstrakte Figur der Negation an sich selbst versteht Negativität als Bedingung der Teilnahme an der Veränderung der Welt. Wir haben sie konkreter bereits in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit genutzt, um Hegels Metaphysik zu aktualisieren. Die Partizipation des Denkens an der Objektivität lässt sich nämlich auch von der Seite der Sinnlichkeit her fassen. Kunst fasst Hegel über die These der Vergeistigung des Materials, das meint aber keine abstrakte Negation von Sinnlichkeit überhaupt. Kunst bricht die Macht des Sinnlichen im Medium des Sinnlichen. Analog dazu bricht die Logik die Macht des Denkens im Medium des Denkens. Gegen die falschen Fixierungen und die Verdinglichungen des Denkens von Verstand und Vernunft bleibt es eine abstrakte Negation, sie durch Rekurs auf etwas Ganzanderes zu brechen. Gegen die falschen Fixierungen des Denkens anzudenken, bleibt Denken, wird dialektisches Denken. Wie die Kunst also bei aller Vergeistigung materialgebunden bleiben muss, um konkret zu sein, muss das Denken Denken bleiben, um sich zu konkretisieren. Die Veränderung des Denkens erfolgt so durch Negation an sich selbst, als Selbstkritik am Schematismus seiner Formen. Logik aktualisiert eine Struktur, wie wir sie auch schon aus der zurückliegenden Analyse des religiösen Bewusstseins kennen. Die Partizipation des Geistes über die ontotheologische Differenz hinweg erfolgt in der Form der Negation. Indem der subjektive Geist sich selbst negiert – im Rahmen karitativer, kasteiender oder opfernder Praxis –, ist er Bedingung der Erscheinung des absoluten Geistes. Umgekehrt stirbt der christliche Gott einen menschlichen Tod und partizipiert so an der Fortbestimmung der sittlichen Substanz ebenfalls in Form einer Selbstnegation. Die Struktur der Selbstnegation als Teilhabe denkt die Leistung der Subjektivität an der Fortbestimmung der Objektivi-

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tät also gerade nicht als freie, ungebundene Setzung, gerade nicht als „autonome Negation“.26 Die wechselseitige Teilhabe von Objektivität und Subjektivität im dialektischen Denken bedarf vielmehr einer Theorie der offenen Form als Form der Beziehung von Begriff und Wirklichkeit. Wir werden unten dazu die Normativität des Begriffs im Sinne von Inferenzregeln beschreiben, mit der Hegels die logische Bewegung der Negation des Denkens an sich selbst beschreibt. Das dritte Moment des Begreifens, das Analysis und Synthesis in sich aufhebt, ist die Offenheit begrifflicher und materialer Notwendigkeit. In der Offenheit des Materials erkennt sich das Denken in seinem Anderen selbst. Denken und Sache sind beide von offener Normativität geprägt. Dadurch wird ihre Wechselwirkung begreifbar. Eine Selbstveränderung des Denkens erlaubt so eine Veränderung der Objektivität. In der Selbstveränderung des Denkens – der Verflüssigung fixer Schematismen – kommt die Bewegung des Denkens zu sich und erreicht die Identität der Identität und Differenz. Die dialektische Methode enthält also die identifizierende Analyse und die differenzierende Synthese und hebt Analysis und Synthesis dreifach auf. Verstand wie Vernunft werden erstens in ihrem Alleinvertretungsanspruch negiert und als einseitiges Denken zurückgewiesen. Sie werden zweitens erhöht und veredelt, denn Wissenschaft bedarf zwar analytisch scharfer Begriffe und genauer Differenzierung im Rahmen einer transparenten Methode. Zugleich betont Hegel, dass Begriffe an sich unscharfe Ränder haben. Ihr adäquater Gebrauch resultiert vielmehr aus gelebten Denkformen, die dialektische Urteilskraft verlangen. So bleiben Analyse und Synthese drittens als Teilvermögen des Geistes erhalten und im Spiel. Dieser Vorgriff auf die Bewegung der Spekulation nimmt bereits Rekurs auf die Struktur der absoluten Idee. Diesen Vorgriff auf die Methode der Dialektik werden wir nun sukzessive konkretisieren und dabei begründen, warum es die Idee offener Normativität 26

Vgl. als wirkmächtige Interpretation: Henrich, „Anfang und Methode der Logik“.

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ist, die das Prinzip philosophisch-wissenschaftlichen Denkens aktualisiert, das Hegel mit der Rede vom unendlichen, freien Begriff adressiert. Wir müssen Hegels (und Kants) Bruch mit der natürlichen Ontologie und Epistemologie, dem Common Sense, so auslegen, dass ersichtlich wird, warum die kantische Idee der „inneren Zweckmäßigkeit“ der Welt die Pluralität der Formen des Lebendigen zu fassen erlaubt. Der theoretische Pluralismus bietet auf Basis dieser Überlegung einen Erläuterungsvorschlag dazu an, was Hegel mit „konkreter Allgemeinheit“ meint und welche ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen und Implikationen damit verbunden sind. Diesen Gedanken werden wir nun weiterverfolgen, indem wir den zugrundeliegenden Begriff der Reflexion analysieren. 7.1.1 Der Begriff der Reflexion Es ist für ein Verständnis der hegelschen Dialektik wichtig, den ihn dabei leitenden Begriff der „Reflexion“ vor Augen zu haben. Reflexion ist ein Begriff, den Hegel zwar von Kant hernimmt, ihn aber zugleich weiterentwickelt. Hegel nutzt den Begriff der Reflexion, um das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität zu modellieren. Reflexion steht inmitten der „Lehre vom Seyn und der vom Begriff“ und bildet eine „Sphäre der Vermittlung“ (GW 11, S. 46). Die Reflexion hat aufgrund dieser Vermittlungsstellung eine objektive und eine subjektive Dimension. „Reflexion“ meint objektive Geschehnisse und ist nicht reserviert für mentale, gar selbstbewusste Ereignisse. Wir haben also einen intuitiven und einen spezifisch hegelschen, kontraintuitiven Begriff der Reflexion zu unterscheiden. Wir beginnen die Erläuterung mit dem intuitiven Verständnis, das Reflexion in „gewöhnlicher Weise in subjectivem Sinne“ versteht (ebd., S. 254). Da der spezifisch hegelsche Reflexionsbegriff Reflexion auch als objektiven Prozess begreift, haben wir diesen Sinn von Reflexion im zweiten Schritt zu fassen. Reflexion als subjektiver Prozess ist, kantisch gesprochen, die Wirkung der Ausübung von Urteilskraft und meint hier das Vermö-

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gen der regelgeleiteten Distanzierung, Kontextualisierung und Einordnung von Dingen der inneren wie äußeren Welt der Erscheinung. Kant zeichnet in der KrV die Urteilskraft als ein Vermögen aus, „unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.“27 In der KU führt Kant den Unterschied zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft ein.28 Die KU expliziert den Unterschied von reflektierenden Urteilen zu nur bestimmenden Urteilen wie folgt: Bestimmende Urteile subsumieren das Besondere unter einer allgemeinen Regel; reflektierende „gewinnen“ demgegenüber die Regel aus dem Besonderen. Während die bestimmende Urteilskraft feste Kriterien der Anwendung von Begriffen auf Wahrnehmungsinhalte besitzt, zeichnet sich die reflektierende Urteilskraft dadurch aus, dass sie über keine fixen Kriterien verfügt, anhand derer sie entscheiden könnte, ob eine Regel einem Gegenstand zukommt oder nicht. Die reflektierende Urteilskraft beschreibt Kant daher als das Vermögen, zu dem Besonderen die allgemeine Regel, den Begriff oder das Gesetz allererst zu finden.29 Bestimmende Urteilskraft ist so bei Kant mit einer schematischen Anwendung einer Regel auf etwas Gegebenes vergleichbar. Im schematischen Urteil wird so etwas „Universales“ am Einzelnen „wahrgenommen“. Man sieht das Schema „Tisch“, indem man den einzelnen Tisch als Tisch erkennt. Reflektierende Urteilskraft ist hingegen dann wirksam, wenn outside the box gedacht wird, es also kein Schema gibt, das eine eindeutige Identifikation eines Einzelnen mit dem Allgemeinen erlaube. Reflektierende Urteilskraft verfährt 27 28

29

Kant, KrV, B 172. Diese Einführung wird mit Blick auf ihre Kontinuität und Diskontinuität in der Kant-Forschung sehr unterschiedlich bewertet. Longuenesse etwa argumentiert, dass die reflektierende Urteilskraft schon für Kants Urteilslehre in der ersten Kritik systematisch einschlägig sei, wenn auch nur implizit: Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, S. 163–167 und S. 195–210. Kant, KU, B XXVI.

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hingegen sozusagen induktiv.30 Zentrale Akte reflexiver Urteilskraft bilden für Kant Urteile über das Schöne und Zweckmäßige. Urteilskraft betrifft immer das Besondere, nicht das Einzelne als solches. Von einem Einzelnen zu urteilen, es sei schön beziehungsweise zweckmäßig, bestimmt das einzelne Schöne als individuelle Besonderung des Schönen überhaupt. Die Urteilskraft hat es konstitutiv mit Besonderem zu tun und zeitigt daher ästhetischen Geschmack und Gespür für teleologische Zusammenhänge, die sich einer einfachen, mechanischen Schematisierung entziehen. Dementsprechend tritt bei Kant die Urteilskraft als „ein besonderes Talent“ hervor, „welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“.31 Das einzelne Schöne steht exemplarisch für die Schönheit, die aber niemals als solche anschaulich wird. Als beispielhafte Verkörperung ist das schöne Einzelne immer eine Besonderung des Schönen. Auf Kants Überlegungen aufbauend differenziert Hegel die Tätigkeit subjektiver Reflexion in drei Hinsichten, die aber von Kants Terminologie abweichen. Hegel unterscheidet „setzende“, „äußere“ und „bestimmende“ Reflexion (GW 11, S. 249–257). Der Startpunkt, die setzende Reflexion, fängt gewissermaßen „vom Nichts an“, das heißt, sie fasst einen Gegenstand als Objekt einer logischen Bestimmung. Hier ist etwas mit einer bestimmten Qualität. Setzende Reflexion kontextualisiert die Qualität des Einzelnen nicht näher, sondern gibt nur an, dass ein Einzelnes mit einer bestimmten Qualität vorliegt. Insofern geht die Reflexion mit dieser Setzung eine „Voraussetzung“ ein (ebd., S. 251). Die setzende Reflexion verfährt also analytisch und identifiziert in der Mannigfaltigkeit ein bestimmtes Etwas, indem sie es als Fall eines Allgemeinen setzt. Die äußere Reflexion geht einen Schritt in diese Richtung und bestimmt das Einzelne mit seinen spezifischen Qualitäten als Besonderung eines Allgemeinen. Sie geht über das Einzelne hinaus, indem sie es auf seine konstitutive Differenz bezieht: „Das Unmittelbare wird theils erst durch diese Beziehung desselben auf sein All30 31

Vgl.: Arendt, Urteilen, S. 109. Kant, KU, B 172.

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gemeines bestimmt als Besonderes; für sich ist es nur ein Einzelnes oder ein unmittelbares Seyendes. Theils aber ist das, worauf es bezogen wird, sein Allgemeines, seine Regel, Prinzip, Gesetz“ (GW 11, S. 254). Die äußere Reflexion bestimmt die bloße Qualität des Einzelnen, indem es als Fall einer regelmäßigen Form verstanden wird. Die äußere Reflexion leistet also ein synthetisches Erkennen. Mit „äußerer Reflexion“ bezeichnet Hegel das, was Kant reflexive Urteilskraft nennt. „Jene Reflexion, der Kant das Aufsuchen des Allgemeinen zum gegebenen Besondern zuschreibt, ist […] nur äussere Reflexion, die sich auf das Unmittelbare als auf ein gegebenes bezieht“ (ebd., S. 254). Die Terminologie ist äußerst erläuterungsbedürftig, da Kant das reflexive Urteil ja nicht als schematische Anwendung der Inhärenz, sondern als komplexes Urteil des Einzelnen als Besonderung des Allgemeinen denkt. Der Grund, warum Hegel auch Kants reflexive Urteilskraft als äußerliche Reflexion versteht, besteht darin, dass Kant den Bezug auf das begrifflich Allgemeine als dem Einzelnen nicht wesentlich auffasst, nicht „als dessen eigentliches Seyn“ begreift (ebd., S. 254). Die begriffliche Hinsicht, in der das Einzelne als Besonderung in den Blick genommen wird, verbleibt bei Kant dem Subjekt des Urteils selbst äußerlich, der subjektive Beitrag der Apperzeption. Es begreift nicht, dass die Reflexion auf das jeweilige Allgemeine eine praktische Veränderung sowohl des Einzelnen als auch des Allgemeinen ist. Es begreift zwar seine apprehensive Tätigkeit als Konstruktion, mithin als Synthese. Dieses Denken versteht sich aber so, dass es sich durch die Konstruktionsleistung von der Welt trennt – es gelangt sozusagen nur zur Welt der Erscheinungen und bleibt dem Ding an sich äußerlich. Hegelsch gesprochen, ist die Partizipation des Denkens an der Objektivität der reflexiven Urteilskraft Kants noch nicht zum Fürsich geworden. Sie hat kein Selbstverständnis von sich als Teilhabe an der Bestimmung der Objektivität. Dieses Denken begreift seine eigene transformative Wirkung nicht und bleibt in diesem Sinne der Sache selbst äußerlich, als „subjektiv“. Die transformative Wirkung der Reflexion beginnt die im hegelschen Sinne „bestimmende“ Reflexion zu explizieren. Damit be-

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tritt die dialektische Urteilskraft die Bühne. Kantisch meint bestimmende Reflexion eine Urteilsbildung, die unter ein gegebenes Allgemeines ein Besonderes subsumiert. Hegel verwendet diese Bestimmung anders: Das Gesetztseyn von Etwas meint die „Negation“ seiner Qualität, seiner Bestimmtheit. Das können wir wie folgt verstehen: Das Einzelne ist einerseits das, was es als Fall seiner Regel ist. In diesem Sinne bestimmt die subjektive Reflexion sein Wesen, indem sie es unter die Regeln subsumiert, die es bestimmen. Gleichzeitig verändert das Einzelne als seine Besonderung das jeweilige Wesen, die Regel, das Allgemeine. Es negiert, wie Hegel es sagt, seine Qualität, es bestimmt sie fort. „Aus diesem Grund ist die bestimmende Reflexion die ausser sich gekommene Reflexion; die Gleichheit des Wesens mit sich selbst ist in die Negation verlohren, die das Herrschende ist“ (ebd., S. 257). Die bestimmende Reflexion ist für Hegel die „absolute Betrachtungsweise“ (ebd., S. 255), weil in ihr die setzende und die reflexive Urteilskraft zusammenkommen. Wir können hier nochmals an Gadamers Begriff der Applikation einer Regel zurückdenken. Eine Begriffsapplikation bringt das Einzelne als eine Besonderung unter ein Allgemeines und negiert dadurch die Unmittelbarkeit des Allgemeinen, weil das Allgemeine sich durch die Inhärenznahme selbst verändert. Der paradigmatische Fall für Kant sind Urteile des Schönen. Diese wenden nicht ein fixes Schema auf ein Einzelnes an, sondern durch das Urteil ändert sich der Begriff des Schönen. Hegels spekulative Logik verallgemeinert diese kantische Einsicht auf begriffliche Aktivität schlechthin. Für eine Selbstkonzeptualisierung dialektischer Praxis ist es erforderlich, den kantischen Rahmen zu transzendieren, um auch die subjektive Reflexion als Teilnahme der Fortbestimmung der Sache selbst zu begreifen. Dialektik im vollen – hier noch nicht rekursiv eingeholten und daher abstrakten – Sinne meint den Erkenntnisprozess, in dem sich die Objektivität dadurch ändert, dass die Subjektivität an sich eine Negation vornimmt. Die Veränderung der Selbstkonzeption erkennender Tätigkeit ermöglicht eine Veränderung des Objektes. In der Veränderung des Selbstverständnisses eröffnet die Subjektivität einen

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epistemischen Raum, in dem sie dialektische Erfahrungen machen kann. Hegels PhG fasst diese Erfahrung als „dialektische Bewegung, welche das Bewußtseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt [. Sie] ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird“ (GW 9, S. 60).

Von hier aus können wir den kontraintuitven, spezifisch hegelschen Sinn von Reflexion deuten, der nicht die äußerliche, subjektive Reflexion meint, sondern auch objektive Prozesse fasst: Alles ist bei sich im Anderen, nichts ist für sich, sondern kommt im Anderen zu sich. Es ist dem Wesen wesentlich zu erscheinen. Alles hat in seinem Anderen sein Daseyn. Alles ist in seinem Anderen reflektiert. Alles ist Reflexion-in-sich. Anders gesagt: Hegel entwickelt eine Ontologie der Relationalität, nach der es nichts gibt, was nicht durch die Relation auf sein Anderes existiert.32 Der Bezug auf Anderes ist keine ontologisch sekundäre Qualität der Dinge, sondern begründet die Sachen primär. In diesem Sinne meint Reflexion nicht allein die subjektive Tätigkeit des Urteilens, sondern eine grundständige ontologische Bestimmung von allem, was ist. Mit Theunissen können wir auch von der allgemeinen Kommunikationstheorie Hegels sprechen, die von diskursiver Intersubjektivität, also spezieller Kommunikation, zu unterscheiden sein wird: Hegels Logik deckt Strukturen auf, „die das Ganze der Wirklichkeit, nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen unter die Forderung absoluter Relationalität stellen“.33 Theunissens Interpretament der Kommunikativität als Inbegriff der Sache im Rahmen von Hegels universaler Kommunikationstheorie können wir durch einen kurzen, entwicklungsgeschichtlichen Seitenblick auf das Verhältnis von Hölderlin und Hegel kontextualisieren. Henrich schlägt vor, Hegel stark von Hölderlins Version ei32 33

Mit Iber können wir auch von der „relationale[n] Grundstruktur aller Kategorien“ sprechen. Vgl.: Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, S. 17. Theunissen, Sein und Schein, S. 46 ff.

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ner „Vereinigungsphilosophie“ her zu interpretieren, deren treibendes Motiv der Trieb zu Verschmelzung, die poetische Schöpferkraft im Themenfeld von Liebe und Freundschaft sei.34 Ausgangspunkt von Hölderlins philosophischer Metapoetik ist die Lehre von „Urteil und Sein“, so der posthum gegebene Titel eines Textfragmentes von Hölderlin. Dort heißt es vom Urteil, es sei „im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur=Theilung.“35 Für Hölderlin gilt, so Henrich: „Urteil ist Trennung, Sein Verbindung von Subjekt und Objekt. Dieser Ansatz erlaubt es, den Sinn des Wortes ‚Urteil‘ als ‚Ursprüngliche Teilung‘ in die Momente Subjekt und Objekt zu verstehen.“36 Hölderlin versteht subjektive Reflexion, gebildet am Paradigma des Urteils, als Ur-Teilung des an sich ungeteilten Seins. Reflexion ist ein Akt der Ur-Teilung ursprünglich undifferenzierten Seins. Diesen Seins- und damit Reflexions-Begriff teilt der späte Hegel nicht, ist Sein für Hegel selbst ursprünglich „Mittheilung“ (GW 12, S. 137). Selbst das Verhältnis unbelebter Objekte ist ein Mitteilungsprozess: Ursache wie Wirkung sind die beiden Extreme eines bestimmten Verhältnisses. Die Objektivität selbst hat Mitteilungscharakter und steht damit im Raum der Relationen. Kausalität fasst Hegel so als einen „realen mechanischen Prozess“, der ein Gemeinsames von Ursache und Wirkung setzt. Für Hegel hat dieser Prozess „objektive Allgemeinheit. Die Allgemeinheit zeigt sich zuerst im Verhältnisse der Mittheilung, als eine nur durchs Setzen vorhandene; als objektive aber ist das durchdringende, immanente Wesen der Objekte“ (ebd., S. 143). Objekt zu sein, heißt Gegenstand von Kommunikation zu sein. Subjekt zu sein heißt, an der Setzung der Kommunikation teilzuhaben, deren Objekt das Subjekt ist. Anders als für Hölderlin ist für Hegel Reflexion so nicht Teilung des ursprünglichen Seins in Subjekt und Objekt, sondern Sein 34 35 36

Vgl. hierzu besonders: Henrich, „Hölderlin und Hegel“. Hölderlin, „Urtheil und Seyn“, S. 216. Henrich, „Hölderlin über Urteil und Sein.“, S. 79.

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ist selbst ursprünglich „Mittheilung”, ist Kommunikation. Darin ist beides zugleich: Trennung und Verbindung, denn kommunizieren kann nur Nichtidentisches, zugleich sind beide Seiten der Relation nur in dieser Relation wirklich. Die Wirkung ist nur durch die Ursache und die Ursache ist nur Ursache, wenn sie eine Wirkung zeitigt. Wenn Sein also wesentlich Werden durch Kommunikation ist, dann verbleibt jede Wesensschau solange im Abstrakten und Ungefähren, wie sie die Relationalität als sekundäre Eigenschaft der Dinge missdeutet. In diesem Sinne reformuliert Hegel den klassischen Begriff des Wesens in seiner Wesenslogik als Reflexion, das heißt, als Kommunikation. Dieser Grundsatz etabliert den höheren Reflexionsgrad der Wesens- im Vergleich zur Seinslogik. Reflexion ist eine Weise, Dinge zu bewegen, weshalb eine atomistische Metaphysik, eine natürliche Ontologie aus Hegels Perspektive nicht zur Objektivität gelangt. Die These der Kommunikativität aller Sachen werden wir, Hegel weiter durch die Logik folgend, nun differenzieren. Die Frage lautet schlicht: Wenn alles Kommunikation ist – also alles durch Reflexion ist –, welches sind dann die wesentlichen Relationen der Sachen? Welche sind die Relationen, die sie zu dem machen, was sie sind, und worin sie gleichzeitig fortbestimmen, was sie sind?

7.2 Die unwesentlichen Relationen Der allgemeine, nichtdiskursive Sinn der Reflexion stellt einen Fachbegriff hegelscher Philosophie dar, den er im Kontext seiner Zeit systematisch entwickelt. Der Begriff der Reflexion ist ontologisch maximal weit gefasst, denn alles, was ist, reflektiert sich in seinem Anderen. Damit dieser maximal weite Begriff der Reflexion nicht leer geht, muss er differenziert werden. „Reflexion“ meint in diesem weiten Sinne Relation von Relata. Die Binnenstruktur dieser Relation kann nun in logischer Einsicht unabhängig von den Relata bestimmt werden, indem wir Relata und Relation analytisch trennen. Diese Struktur der Relation beschreibt Hegel durch Rekurs auf drei verschieden Formen von „Wesenheiten“ (GW 11,

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S. 258). Das werden wir als die Modi davon interpretieren, wie sich etwas in seinem anderen reflektiert. Hegel unterscheidet nun drei Grundtypen von Relationalität respektive von Wesenheit: erstens „einfache Beziehung auf sich; reine Identität.“ Dies stellt sich aber in der Konsequenz als eine leere Bestimmung von Wesen heraus, nach der sie „vielmehr Bestimmungslosigkeit ist“ (ebd., S. 258). Konkreter wird das Wesen einer Sache erst in der Beziehung auf Anderes. Die konkreteren Bestimmungen sind somit zweitens Verschiedenheit und Gegensatz. Die Abstraktion, die hier nicht aufgehoben wird, betrifft die unklare Position des Standpunkts der Reflexion. Volle Konkretion erreicht die Reflexion erst in der Bestimmung von drittens Widerspruch und Grund. Erst im Widerspruch kommen in Hegels Modell die subjektive und die objektive Funktion der Reflexion zusammen: „Die Hauptsache, die zu bemerken ist, ist, daß nicht nur in den vier besondern [von Kant] aus der Kosmologie genommenen Gegenständen die Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Diß zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische Moment des Logischen bestimmt“ (GW 20, § 48 A).

Wir werden dies so auslegen, dass ein Gegenstand in seiner widersprüchlichen Struktur zu ergründen ist, soll er auf seinen philosophischen Begriff gebracht und begründet werden. Die Reflexion wird also erst vollends konkret, wenn sie eine integrale Theorie ihres Gegenstandes entwickelt, also dessen „konkrete Einheit entgegengesetzter Bestimmungen“ reflektiert und einen Standpunkt entwickelt, der Schlüsse aus der integralen Theorie der Sache zieht. 7.2.1 Abstrakte Identität Der abstrakte, reflexionslose Begriff der Identität stellt Identität respektive das Wesen als Sichselbstgleichheit vor und versteht so

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Identität im Sinne einer differenzlosen „unbewegten Identität“ (GW 11, S. 262). Der urteilstheoretische Ausdruck unbewegter Identität ist das „A=A“, das „Ich=Ich“. Hegel schließt hier erkennbar an Fichte an, zeigt Fichte doch den konstitutiven Zusammenhang des A=A mit dem Nicht-A im Akt des Setzens als den Akt der Identität. Das Setzen des Ich=Ich ist „ursprüngliche Tathandlung“ des Subjekts, um sich so für den „Gegenstoss“ des Objektes zu öffnen.37 Schon bei Fichte ist die unbewegte Identität des A=A nur ein Moment einer analytischen Trennung, der ontisch nichts entspricht.38 Die Bestimmung der Identität als unbewegter Sichselbstgleichheit ist aus Hegels Perspektive, Fichtes Gedanken radikalisierend, nichts „als der Ausdruck der leeren Tautologie“ (ebd., S. 262). Hegels Revision der Axiome transzendentaler Logik ist so mit der starken, ontologischen These verbunden, dass es im Rahmen dialektischer Philosophie keine Washeit, verstanden als fixe qualia der Dinge, gibt. Washeit erscheint nur aus der Perspektive des Verstandes als das Wesen der Dinge. Aber tatsächlich ist nichts durch sich sound-so beschaffen, alles ist erst durch Bezug auf Differenz das, was es ist. Wer denkt, die Welt bestehe aus Dingen mit Eigenschaften, denen der Bezug auf Anderes sekundär wäre, bleibt der Oberfläche der Dinge verhaftet. Dinge als mit sich selbst identisch und von ihren Anderen getrennt aufzufassen, artikuliert nur „das Nichts, das durch das identische Sprechen gesagt wird“ (ebd., S. 265). Nichts ist so leer wie der Gedanke einer Identität, die sich aus sich selbst heraus bestimmt. Solche Identität existiert nicht und bereitet den Nährboden für eine gefährliche, da subkutan wirkende Ideologie der Autochthonie. Identität ohne Unterschied ist eine Schimäre und Ausdruck mystischer Logik. Das artikuliert Hegel in aller Deutlichkeit, wenn er das Axiom der sichselbstgleichen Identität in der Anmerkung 2 zur Reflexi37 38

Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, S. 468. Vgl. die Interpretation reflexiver Intelligibilität im systematischen Vergleich von Kant, Fichte und Hegel: Zambrana, Hegel’s Theory of Intelligibility.

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onsbestimmung der Identität diskutiert, „das als das erste Denkgesetz angeführt zu werden pflegt“ (ebd., S. 262–265). Unter Rekurs auf die Erfahrungen wirklicher inferentieller Praxis weist Hegel dieses Axiom zurück. Denken verhält sich nicht so, wie das Gesetz der Identität suggeriert. Folglich macht es keine konstitutive Größe des Denkens aus, sondern stellt eine formale Verkürzung der epistemischen Reichweite des Denkens dar. Die inferentielle Praxis verhält sich anders, als ihre Theorie sie konzeptualisiert und schematisiert. Hegel legt sich also darauf fest, „daß erstens der Satz der Identität oder des Widerspruchs, wie er nur die abstracte Identität im Gegensatz gegen den Unterschied, als Wahres ausdrücken soll, kein Denkgesetz, sondern vielmehr das Gegentheil davon ist; zweytens, daß diese Sätze mehr, als mit ihnen gemeynt wird, nemlich dieses Gegentheil, den absoluten Unterschied selbst, enthalten“ (ebd., S. 265)

Es ist Ausdruck einer wissenschaftlich zutiefst problematischen Ontologie zu denken, Dinge seien sich selbst gleiche Substrate mit eindeutig attribuierbaren Eigenschaften. Vom logisch-spekulativen Standpunkt aus besteht die Welt aus Relationen, aus Beziehungen von Identität und Differenz. Ihre Dinghaftigkeit erscheint durch den subjektiven Beitrag des schematisierenden Verstandes im Rahmen der Apperzeption der empirischen Mannigfaltigkeit. „Der Unterschied ist das Ganze und sein eignes Moment; wie die Identität eben so sehr ihr Ganzes und ihr Moment ist. Diß ist als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Thätigkeit und Selbstbewegung zu betrachten. – Unterschied wie die Identität machen sich zum Gesetztseyn, weil sie als Reflexion die negative Beziehung auf sich selbst sind“ (ebd., S. 266).

Um zum Wesen der Sachen zu kommen, müssen wir also die Vielfalt der Beziehungen von Identität und Unterschied sehen lernen. Identität und Differenz beziehen sich dabei je als das Ganze ihrer selbst und als Teil des Ganzen aufeinander. Wie systematisiert Hegel nun die verschieden Modi der Reflexion? Um diese Vielfalt systematisch zu ordnen, ist begriffliche Sorgfalt nötig, spricht Hegel doch sowohl

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von „Unterschied“ als auch von „Verschiedenheit“ und meint damit nicht dasselbe. Die Beziehung von Identität und Unterschied ist die grundständige Relation, in der sich beide bestimmen. Wir nennen dies die Differenzbeziehung. Die Differenzbeziehung liefert ein erstes Schema konkreter Identität, nicht mehr. A ist wesentlich A, indem es sich auf Nicht-A bezieht. Hegel bezeichnet mit dem „absoluten Unterschied“ also die grundständige Differenz, die zu jeder Identität schematisch dazugehört. „Unterschied“ meint so das Allgemeine von Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch und Grund. Wenn Identität nur im Zusammenwirken mit ihrer Differenz wirklich ist, ist durch dieses Schema eben noch nicht bestimmt, wie diese Beziehung näher gestaltet ist und was ihre Dynamik ist. Diese Bestimmung ergibt die Typologie von Differenzbeziehungen, die Hegel entlang des kantischen Aufbaus der Reflexionsformen entwickelt. Mit „Typologie“ ist an dieser Stelle gemeint, dass Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch keine Formen sind, die unabhängig von ihrem Inhalt gegeben wären und nebeneinander gestellt werden könnten. Ein Typus ist ein bestimmter Modus der Verzahnung von Inhalt und Form. Es geht also um die Dynamik von Form und Inhalt, mithin um einen dynamisch gedachten Formbegriff. Konkrete Identität meint bei Hegel keine Gleichheit mit sich selbst, gegen deren Herrschaft Nichtidentität und Nonkonformismus mit Blick auf ihre „kleinsten innerweltlichen Züge“ Relevanz hätten.39 Vielmehr differenziert Hegels Typologie der „Reflexionsbestimmungen“ Modi von Differenzbeziehungen. Die Allgemeinheit von Identität und Differenz ist nicht einfach gegebene und stabile Allgemeinheit, sondern zeigt selbst eine plurale und dynamische Struktur. Es gibt Modi der Kommunikation zwischen Identität und Differenz: A und Nicht-A können in einem Verhältnis der Verschiedenheit, des Gegensatzes oder des Widerspruchs und Grundes stehen. Während der unvermittelte Unterschied von A und NichtA nur ihr abstraktes Nebeneinander im Sinne der setzende Reflexion behauptet, ist die Feststellung ihrer Verschiedenheit ein Akt 39

Vgl.: Adorno, Negative Dialektik, S. 395 ff.

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der äußeren Reflexion und etabliert damit einen ersten Konkretionsschritt. Die Dialektik von Unterschied und Gegensatz wird aber erst auf Basis eines Verständnisses des Widerspruchs fasslich. Im Widerspruch „reflectirt sich der Gegensatz in sich selbst und geht in den Grund zurück“ (GW 11, S. 258). In der Widerspruchsbeziehung wird das Getrennt- und Unterschiedensein von A und Nicht-A so überwunden, dass ihre Differenz zum Formmoment ihrer Einheit wird. In einem Verhältnis des Gegensatzes ist das Moment der Differenz von A und Nicht-A noch bloß gesetzt. Damit bleibt das Moment ihrer Identität bloß vorausgesetzt, denn der Gegensatz ist, so werden wir sehen, eine Beziehung von Relata, die einander zwar wechselseitig voraussetzen. Im Sinne dieser Wechselseitigkeit sind A und Nicht-A identisch. Ihre Identität bleibt in der Reflexion ihres Gegensatzes aber eine uneingelöste, implizite Voraussetzung. Im Widerspruch wird hingegen die lebendige Sache begründet, da er die konstitutive Spannung von Identität und Differenz in formaler Hinsicht ausmacht und die im Gegensatz bloß implizite Identität explizit zu machen erlauben. Dadurch wird die Form der Beziehung von Identität und Differenz zum Objekt gemeinsamer Formanstrengung. Mit dem Widerspruch kommen wir sozusagen an das Ende der Reflexion, weil die subjektive Reflexion sich als Bewegung der objektiven Dinge zu verstehen beginnt. „Die denkende Vernunft […] spitzt, so zu sagen, den abgestumpften Unterschied des Verschiedenen, die blosse Mannichfaltigkeit der Vorstellung, zum wesentlichen Unterschiede, zum Gegensatze, zu. Die Mannichfaltigen werden erst, auf die Spitze des Widerspruchs getrieben, regsam und lebendig gegen einander, und erhalten in ihm die Negativität, welche die inwohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist“ (ebd., S. 288).

Wir werden die enigmatische Rede Hegels als Perspektivwechsel der Reflexion übersetzen: Während setzende und äußere Reflexion bloß beobachtend auf ihren Gegenstand Bezug nehmen, nimmt bestimmende Reflexion am Wahrheitsgeschehen teil, indem sie die Denkbestimmungen appliziert. Dieser shift in perspective markiert

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den Schritt zur spekulativen Erkenntnis, wie wir ihn mit Hegel rekonstruieren werden: Geistige Spekulation begreift Reflexion als Teilnahme an der Sache selbst, nimmt also Teil an der Bestimmung der Differenzbeziehung. Erst der begreifende Zugriff setzt Identität und Differenz nicht mehr als äußerliche, bloß subjektiv herangetragene Hinsichten, sondern denkt sie in ihrer wechselseitigen Beziehung und kommunikativen Interdependenz. 7.2.2 Verschiedenheit Der erste Typ von Differenzrelationen ist die Verschiedenheit. Hegel analysiert sie als „gleichgültige“ Beziehung von Identität und Differenz. Nicht „den Unterschied gar nicht zu haben, sondern sich als mit sich identisch gegen ihn zu verhalten […,] ist die Verschiedenheit“ (GW 11, S. 268). In bloßer Verschiedenheit aufeinander bezogen bleiben A und Nicht-A einander indifferent und stehen in keiner wesentlichen Beziehung zueinander. Deshalb ist die Vergleichung von A und Nicht-A zwar ein reflexiver Akt, der zwecks ihrer Vergleichung eine Hinsicht setzt, in der sie zwar verglichen werden können. Aber „die Identität oder Nichtidentität als Gleichheit und Ungleichheit ist die Rücksicht eines Dritten, das ausser ihnen fällt“ (ebd., S. 268). Die Hinsicht, unter der sie verglichen werden, ist von außen gesetzt. Der der Verschiedenheit korrespondierende Reflexionstyp ist so die „äussere Reflexion, [die] das Verschiedene auf die Gleichheit und Ungleichheit [bezieht]. Diese Beziehung, das Vergleichen, geht von der Gleichheit zur Ungleichheit, und von dieser zu jener herüber und hinüber“ (ebd., S. 268). Gegenstände, die bloß verschieden sind, stehen in einem äußerlichen Verhältnis zu einander. Da jedes endliche Dasein mit jedem anderen verglichen werden kann, fördert diese erste Form der Reflexion auf ihre Beziehung keine wesentliche Eigenschaft hervor. Bloße Verschiedenheit dringt sozusagen nicht zu ihrem Wesen vor und verharrt auf der Oberfläche der Dinge. Die subjektive Reflexion der Verschiedenheit erfolgt aus der Beobachterperspektive heraus, indem sie irgendwelche Hinsichten an die Relation heranträgt, unter der sie identisch und nicht-

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identisch sind. Es gibt aber unendlich viele solcher Hinsichten zu jeder möglichen Konstellation von A und Nicht-A. Die Hinsichten, unter denen A und Nicht-A verglichen werden, sind einander „gleichgültig“. Anders gesagt, Reflexion im Modus der Verschiedenheit listet nur die Eigenschaften auf, in denen Entitäten gleich und different sind. Das ist Reflexion im unsystematischen Modus des Und-danns willkürlicher Vergleichung. Der Vergleich zeigt eine nur relativ-subjektive Beziehung des Verschiedenen auf und bleibt somit im Register des Verstandes. Mit einem Vergleich von A und Nicht-A wird nicht der gesamte Raum der realen Möglichkeit ihrer Ausgestaltung durchschritten. Für die logische Bestimmung von Verschiedenheit und Gegensatz können wir in systematischer Hinsicht auf die Begriffe konträr und kontradiktorisch zurückgreifen, die Hegel an sie heranträgt: „Den conträren und contradictorischen Begriffen […] liegt die Reflexionsbestimmung der Verschiedenheit und Entgegensetzung zugrunde.“ Hegel weist hier darauf hin, die Bestimmungen nicht „als fest für sich und gleichgültig gegen den anderen [zu fassen], ohne allen Gedanken der Dialektik und der innern Nichtigkeit dieser Unterschiede; als ob das, was conträr ist, nicht eben so sehr als contradictorisch bestimmt werden müßte“ (GW 12, S. 46). Mit Blick auf die logische Struktur der Verschiedenheit heißt das, die Differenzbeziehung der Verschiedenheit als konträre Negation zu schematisieren. A und Nicht-A bleiben in dieser Beziehung indifferent, das heißt, sie sind nicht aufeinander in dem Sinne bezogen, dass sie einander benötigen oder wechselseitig voraussetzen würden. Zweitens gilt, dass der logische Raum des Verschiedenen kein geschlossener Raum ist. Das heißt, es ist ein Drittes möglich. Wenn A und NichtA verschieden sind, kann ein B, das weder A noch Nicht-A ist, der Fall sein oder ein C oder D. Zwar schließen sich A und Nicht-A als Verschiedene aus und können nicht gleichzeitig der Fall sein, aber sie müssen nicht der Fall sein. Der Schluss von Nicht-A auf nicht A ist gültig, nicht aber der Schluss von nicht Nicht-A auf A. Paradigmatisch für Verschiedenheit sind unterschiedliche Farben. Von Nichtschwarz dürfen wir schließen, dass das betreffende Et-

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was nicht schwarz ist. Die Bestimmung von Nichtschwarz gibt aber keinen positiven Eindruck dessen, was das ist, könnte es doch jede andere, nichtschwarze Farbe sein. Ein Drittes ist immer denkbar, da der Vergleich nur in äußerlicher Hinsicht reflektiert. Ein Vergleich kann keinen Anspruch auf die Vollständigkeit seines Reflexionsraums erheben. Es kann immer ein Weder-A-noch-nicht-A geben, das die Urteilskraft nicht als Möglichkeit in Betracht zieht. Hegel geht in den Anmerkungen zu den Reflexionsbestimmungen den axiomatischen Setzungen der klassischen Logik nach und diskutiert deren Validität. Am Ende der Diskussion der Reflexionsbestimmung der Verschiedenheit zieht Hegel ein Resümee, indem er neben dem bereits zitierten Satz der Identität auf ein weiteres Prinzip rationalistischer Logik zu sprechen kommt, nach dem gilt: „Es gibt nicht zwey Dinge, die einander gleich sind.“ In der Interpretation, dass alle Dinge numerisch verschieden sind, ist dieser Satz trivial, denn „numerische Vielheit ist nur die Einerleyheit“ der Dinge. Was der Satz tatsächlich für eine wissenschaftliche Subjektivität und Methode impliziert, ist, dass alle Sachen „durch eine Bestimmung verschieden“ sind (GW 11, S. 270 f.). Um Vielheit also von „Einerleyheit“ unterscheiden zu können, braucht es eine materiale Bestimmung der realen Verschiedenheit, keine formale und numerische Feststellung. 7.2.3 Gegensatz Der Gegensatz stellt für Hegel nun die „immanente Beziehung der Verschiedenen“ dar (GW 12, S. 37). Damit kommt es zum nächsten Konkretionsschritt. Die bestimmende Reflexion und ihr reflexionslogisches Produkt, die Entgegensetzung, artikulieren das Gegensätzliche von A und Nicht-A. Zugleich fördern sie das wesentliche Aufeinanderbezogensein von A und Nicht-A zu Tage, wenn auch nur in impliziter Form. Hegel entwickelt die Struktur dieser Relation zentral am Modell des mathematisch Positiven und des Negativen. Das Paradigma des Gegensatzes ist das arithmetische Verhältnis. In ihm ist der Bezug der Extreme aufeinander insofern we-

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sentlich, weil das Eine nur ist, weil das Andere ebenfalls ist. A setzt also Nicht-A voraus und umgekehrt. A und Nicht-A sind gegensätzlich, wenn sie sich implizieren, diese Implikation aber zugleich als Ausschluss gedacht werden muss. Das Negative setzt das Positive sachlich voraus, dennoch ist nichts sowohl negativ als auch positiv. Gegensatzverhältnisse sind damit in ihrer logischen Struktur komplexer als Unterschiedsverhältnisse, bilden sie doch einen gemeinsamen logischen Raum und bedingen einander. Da die Reflexion des Gegensatzes diesen Raum von Außen, beobachtend strukturiert, ordnet Hegel diesen Reflexionstyp der bestimmenden Reflexion und den ihr korrespondierenden Verhältnissen realer Oppositionen zu. Bestimmende Reflexion bestimmt das, was ihr Gegenstand ist, durch seinen Bezug auf sein konstitutiv Anderes. Dieser Bezug wird von einem Dritten her gedacht, unter das A und Nicht-A als besondere Fälle gebracht werden können. Beispiele realer Oppositionen sind mathematisierbare Beziehungen, etwa der Mechanik, die unter allgemeine Gesetze gebracht werden, die das Verhalten von A und Nicht-A zu spezifizieren erlauben. Bestimmende Reflexion ist damit Reflexion nach Maßgabe der Vernunft, denn sie expliziert die Beziehung zwischen Nichtgleichem und leistet eine Synthese des Verschiedenen zum Gegensätzlichen. Sie blickt dabei unter die Oberfläche der Dinge und erkennt strukturelle Zusammenhänge, die der bloßen Betrachtung von Gleichheit und Ungleichheit im Sinne der verstandesmäßigen Auflistung von gleichen und ungleichen Momenten entzogen bleiben. Es ist für das Verständnis dieses Reflexionstyps zentral, dass sie die eigene Perspektive der Beobachtung weiterhin nicht mitreflektiert. Die Vernunft weiß so zwar um ihre Aufgabe, die Beziehungen zu interpretieren, in denen Gegenstände stehen, aber sie verortet sich selbst nicht innerhalb des Beziehungsgeflechtes, das sie interpretiert. Die Position der Reflexion ist selber nicht Teil der gegensätzlichen Beziehung von A und Nicht-A. In der PhG taucht dieser Reflexionstyp als beobachtende Vernunft auf und bildet das Auftaktkapitel zur Vernunft (GW 9, S. 132–193). Die Vernunft schaut gewissermaßen von außen auf ihre Welt und bestimmt sie

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mittels Rekurse auf Gesetze. Sie beobachtet bloß und macht empirische Untersuchungen der sie umgebenden Welt und ihrer Gesetze. Ihre Gegenstandskonzeption ist damit letztlich monologisch. Der Gegenstand spricht bei der Interpretation der Hinsicht, in der er interpretiert wird, nicht mit. Die Mitrede des Gegenstandes kommt gewissermaßen erst im Rahmen geistiger Reflexion zur Sprache. Hegel fasst das in der Logik so: Die vernünftig-dialektische Einheit von A und Nicht-A zeigt zwar, dass je „eines nur durchs andere bestimmt, somit nur Momente [sind]; aber sie sind eben so sehr bestimmt an ihnen selbst, gleichgültig gegeneinander und sich gegenseitig ausschließend; die selbstständigen Reflexionsbestimmungen“ (GW 11, S. 279). Die Beobachterperspektive der Vernunft, der ausschließend-bestimmenden Reflexion, hebt die Selbständigkeit der Reflexionsbestimmungen noch nicht auf, verflüssigt sie nicht. Die Vernunft bleibt abstrakt, da sie die binäre Logik des Verstandes nicht reflektiert. So bleibt im Gegensatz die Identität von A und Nicht-A eine unerläuterte Voraussetzung. Was ist die logische Feinstruktur des Gegensatzes? Arithmetische Gegensätze wie Verhältnisse von Gravitation und Repulsion heben einander in dem Sinne auf, „daß das Resultat Null ist“ (ebd., S. 276). Ihre „negative Einheit“, ihr konstitutiver Bezug aufeinander, kennt eine stabile, präzise bestimmbare Mitte beziehungsweise neutrale Ruhe: die Stagnation der Körper im Raum respektive die Null der arithmetischen Operation. In arithmethischen und mechanischen Prozessen werden die gegenläufigen Größen im Falle gleicher Stärke aufgehoben. „Die Entgegengesetzten heben sich in ihrer Verbindung auf. Eine Stunde Weges nach Osten gemacht, und eben so viel zurück nach Westen hebt den erst gemachten Weg auf“ (ebd., S. 276). Die Differenzbeziehung des Gegensatzes lässt sich urteilslogisch als kontradiktorische Negation darstellen. Gegensätze bilden eine logische Totalität, sind also vollständig, das heißt, es gibt kein Drittes. Entweder ist ein Wert positiv oder negativ oder er ist Null, also ein Nichtwert. Zwar wirken Gegensätze antagonal und nivellieren sich, gleichzeitig bilden sie ein Gemeinsames. Der Weg nach Osten

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und der Weg nach Westen ergeben gemeinsam ihre Gesamtstrecke. Gegensätze konstituieren so einen geschlossenen, logischen Raum. Im Falle der arithmetischen Gegensätze heißt das, dass -A + A = 0 ebenso gilt wie -A + A = 2A. „So sind in -8 + 3 überhaupt elf Einheiten vorhanden“ (ebd., S. 277). Als aufeinander bezogene Gegensätze bilden sie einen logischen Raum, in dem die Extreme ihre Indifferenz verlieren. Im Begriff positiver Größen sind negative Größen enthalten und umgekehrt. Als kontradiktorische Negation erlauben sie Inferenzen, die in der konträren Differenzbeziehung der Verschiedenheit paralogisch wären. Wir können in Gegensatzbeziehungen nämlich von der Negation des Einen auf die Position des Anderen schließen, weil entweder A oder Nicht-A der Fall sein muss: Entweder ist eine Größe ungleich 0 positiv oder nicht, ein Drittes gibt es nicht. Die logische Feinstruktur des Gegensatzes als kontradiktorischer Negationsbeziehung macht verständlich, warum Hegel die „Bestimmung der Entgegensetzung“ mit „dem sogenannten Satze des ausgeschlossenen Dritten“ verbinden und damit den dritten Satz klassischer Logik in seiner axiomatischen Stellung zurückweisen kann (ebd., S. 285). Es ist ein wesentliches Postulat spekulativer Methode, dass sich durch Reflexion die Sachen in Bewegung setzen. Die Veränderung der Relata durch Bewusstmachung ihrer Relationen verändert beide, folglich ist ein Drittes immer möglich: „Indem die entgegengesetzten Bestimmungen, im Etwas eben so sehr gesetzt als in diesem Setzen aufgehobene sind, so ist das Dritte, das hier [im Verstandesdenken] die Gestalt eines todten Etwas hat, tiefer genommen, die Einheit der Reflexion, in welche, als in den Grund die Entgegensetzung zurückgeht“ (ebd., S. 286).

Das Entweder-Oder des Verstandes, das in der Vernunfttätigkeit der äußeren Reflexion nachwirkt, ist daher eine abstrakte Form, die Welt in ihrer Dynamik zu begreifen, greift sie doch den „Grund der Entgegensetzung“ falsch. Der Grund der Objektivität ist keine Positivität, kein „todtes Etwas“, sondern der wahre Grund aller Sachen liegt in der dem Leben eigentümlichen Negativität. Objektivität ist,

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was sie ist, weil sie sich als Setzung und Negation von Bestimmung aktualisiert. Fassen wir damit das Bisherige zusammen. Unter der Perspektive des Verstandes, der „setzenden Reflexion“, erscheinen die Differenzbeziehungen der Sache selbst als gleichgültige Unterschiede, als ein unvermitteltes Nebeneinander von Identität und Differenz. Der Verstand ist sozusagen der Vorstellung der abstrakten Identität, der Anschauung, noch zu nahe, um Relationalität als Inbegriff der Sache selbst begreiflich zu machen. Die Vernunft, die „äußere Reflexion“, hingegen integriert zwar, dass die Tätigkeit der Reflexion der Interpretation des Gegenstandes im Lichte der Gesetze, Strukturen, kurz der Allgemeinheiten bedarf. Sie muss also auf Differenz rekurrieren, will sie das Gegebene fassen. Die Vernunft verfährt dabei synthetisch, bleibt aber wie der Verstand der Sache selbst insofern äußerlich, weil sie ihre Allgemeinheit bloß auf Beobachtung gründet und so keine konkrete Allgemeinheit etabliert. Sie läuft damit Gefahr, sich gegen den Einspruch der Sache zu immunisieren, denn der Widerspruch des Gegenstandes gegen ihren Schematismus ist nicht Teil ihres Selbstkonzeptes. Die gegensätzlichen Beziehungen sind zwar wesentliche Beziehungen, aber die subjektive Reflexion bestimmt sie von einer theoretisch-kontemplativen Position heraus, die selber nicht Teil der Beziehung ist.40 Das macht diesen Reflexionstyp und sein Produkt, die Synthesis, nicht falsch. Es gibt arithmetische und mechanische Relationen. Falsch wäre es 40

Lukács versteht die transzendentale Trennung von Ding an sich und Erscheinung bereits als Reaktion der bürgerlichen Philosophie auf die arbeitsteilige Form der gesellschaftlichen Reproduktion entlang der Eigentumsdifferenz von Kapital und Arbeit. Für Lukács ist Hegels Methode der Weg zur Überwindung des kontemplativen Verständnisses der Vernunft durch das Denken des Widerspruchs. Lukács’ geschichtsphilosophischen Überlegungen lassen sich mit unserer Interpretation der Logik gut zusammenbringen, auch wenn wir sie hier systematisch entwickeln. Vgl. zu einer historischen Analyse transzendentaler Vernunft als „kontemplativ“: Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewusstseins des Proletariats“.

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nur, diesen Typ von Relation zum einzigen Typ realer Opposition und damit von Gegenständlichkeit überhaupt zu hypostasieren. Dieser Typ beschreibt nichtgeistige Kommunikation wie etwa Kausalität und Mechanik hinreichend präzise, wird aber der Komplexität geistiger, begrifflich vermittelter Kommunikation nicht gerecht. Erst der Geist weiß sich als epistemisch-emanzipative Praxis in dem Sinne, dass die eigenen Schemata und Kategorien im Prozess der Interpretation fluide werden und so das Problem des „Erfahrungsverlustes“ monologisch-identifizierender Reflexion anerkannt wird.41 Erst der Geist kann im Rahmen philosophischer Praxis Offenheit für dialektische Erfahrung gewinnen.

7.3 Die wesentlichen Relationen Die Dialektik des Wesens berechtigt bis hierher erst zu einer negativen Konsequenz. Die Beziehung des reinen, tautologischen Selbstbezugs in der Setzung des A=A verbleibt ohne konstitutive Differenz leer, da unbezogen. Die erste Differenz, die der Verschiedenheit, gibt zwar Relationalität und damit logische Bestimmtheit vor. Sie bleibt aber im Modus unwesentlicher Relationalität stehen, da die setzende Reflexion bloß Verschiedenes in beliebiger Hinsicht vergleicht. Die bestimmende Reflexion der Vernunft fasst zwar die intrinsische Relationalität der Sachen auf, begreift ihre Reflexion aber nicht als Teilhabe an der Sache selbst und bleibt ihr in diesem Sinne äußerlich. Verstand und Vernunft sind so Modi äußerer Reflexion. Die wesentliche Relation der Sache selbst macht hingegen erst ihr konstitutiver Widerspruch aus. Die wesentlichen Merkmale der Objektivität sind die sie konstituierenden Widersprüche. Das gilt es nun zu zeigen und als Kriterium epistemischer Normativität dialektischer Philosophie zu formulieren: Die Sache selbst wird erst begriffen, wenn und indem ihr Widerspruch auf den Begriff 41

Vgl. zum Begriff des Erfahrungsverlustes als Resultat monologischer Vernunftstätigkeit mit Blick auf Benjamin und Adorno: Bertram, „Gesellschaftskritik als Sprachkritik?“

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gebracht ist. Mit dieser Bestimmung des Widerspruchs geht die Reflexion über sich hinaus und erlaubt es, Konsequenzen aus der Reflexion zu ziehen. 7.3.1 Widerspruch Kaum ein Vorurteil in Bezug auf spekulative Logik beweist eine derartige Hartnäckigkeit wie die Doktrin, Hegel hätte keinen dialethischen Begriff der Wahrheit, verstünde also den Widerspruch als etwas bloß Aufzuhebendes und von der Sache selbst Fernzuhaltendes. Es finden sich in den exoterischen, also primär didaktischen Schriften nun in der Tat Darstellungen des Gangs der dortigen Sache selbst, die die Bewegung ihres Inhalts als Prozess des Überwindens des Widerspruchs darstellen.42 Die Reflexionshöhe der Logik zeigt, dass es sich hierbei um eine vereinfachende Darstellungsweise handelt, die den methodischen Kern spekulativer Dialektik nicht trifft. Dort heißt es in aller Klarheit in der dritten Anmerkung zum Widerspruch: „Es ist aber eines der Grundvorurtheile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei, als die Identität; ja wenn von Rangordnung die Rede, und beyde Bestimmungen als getrennte fernzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des todten Seyns; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Thätigkeit“ (GW 11, S. 286). 42

Vor allem in den durch Dritte editierten Vorlesungsmitschriften kommt diese simplifizierende Darstellung zum Einsatz, siehe Hothos Version der Ästhetik oder Hoffmeisters Ausgabe zur Religion. Einen Sonderfall bildet die Enzyklopädie. Obzwar eine legitime Quelle, weist sie nur die Reflexionsbestimmungen der Verschiedenheit, des Gegensatzes und des Grundes auf. Hegel hält es wohl im Rahmen einer didaktischen Schrift für zu anspruchsvoll, den Widerspruch zu analysieren, und behält dessen Analyse der einschlägigen Monografie vor, eben der Logik.

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Hegel bestimmt damit den Widerspruch als wesentliches Moment konkreter, lebendiger Allgemeinheit, denn er ist konstitutives Moment des logischen Begriffs des Lebens. Mit dem Widerspruch kommt die Wesenslogik zu einem ersten substantiellen Resultat: Der Widerspruch bildet die komplexeste Relation von Identität und Differenz, eine, die dem „reflectierenden Denken“ des Geistes entspricht. Der Geist gibt die Vorstellung der Vernunft auf, das Wahre sei theoretisch und final von einem äußeren Standpunkt zu erreichen. Im Widerspruch löst sich nämlich der fixe Unterschied von konträrer und kontradiktorische Negation auf und wird konkrete, also bestimmte Negation. Der Widerspruch hat also eine intelligible Struktur, für die wir im Rekurs auf die Passage zur Reflexionsbestimmung des Widerspruchs ein erstes Schema entwickeln können. Wie in der Kontradiktion des Gegensatzes setzen im Widerspruch die Relata einander wechselseitig voraus, bilden also einen gemeinsamen Raum epistemischer Normativität, ein Allgemeines. Anders als im bloßen Gegensatz aber gibt es im Widerspruch keine neutrale Mitte, „das Resultat des Widerspruchs ist nicht Null“ (ebd., S. 287). In widersprüchlichen Relationen gibt es keine klare Verteilung von Identität und Differenz mehr, die saubere Zuordnungen erlauben würde. Widersprüche sind aus diesem Grund nicht mathematisierbar. In Widersprüchen wird ein Allgemeines konstituiert, das sich in der Spannung seiner Oppositionen erhält, nicht in deren mathematisch exakter Auflösung und Distribution. Der Widerspruch teilt mit der konträren Negation die Eigenschaft, dass in ihnen ein Drittes möglich ist. Das Schema des Widerspruchs ergibt sich so als das Dritte von konträrer und kontradiktorischer Negation. Die Relata einer widersprüchlichen Relation setzen einander wie der Gegensatz voraus, gleichzeitig widersetzen sie sich im Zuge ihrer wechselseitigen Voraussetzung einer einfachen Distribution ihrer wesentlichen Momente, weil sie einander nicht mehr indifferent sind. Die Grenze zwischen Identität und Nichtidentität löst sich auf. Das Paradigma des Gegensatzes bilden, wie oben ausgeführt, die arithmetischen, mechanischen Verhältnisse. Das Paradigma des

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Widerspruchs sind hingegen die Kommunikationsbeziehungen des Geistes. Der Widerspruch ist aufgrund seiner unmathematischen Natur der Gegenstand der Reflexion des Geistes. Die Widerspruchsrelation bestimmt die Relata nämlich nicht mehr von Außen, von einem kontemplativen Standpunkt aus. Der Geist nimmt vielmehr die Teilnahmeperspektive ein, sind doch die beiden Momente der Widerspruchsrelation nicht mehr nur an sich, wie noch im mathematischen Gegensatz, durch wechselseitigen Bezug aufeinander bezogen, sondern die Relata begreifen einander auch so. Sie begreifen sich als Relata einer Relation, ihre Wechselseitigkeit ist ihnen zum Fürsich geworden. Durch die reflexive Aneignung der eigenen Identität-in-Differenz ändert sich die Struktur ihrer Beziehung. Das Allgemeine, das sie verbindet, ist keine äußere Hinsicht mehr, unter der sie verglichen werden können, sondern ihr Drittes ist selbstgesetzt. Die gemeinsame Selbstbestimmung der Relata erfolgt nicht mehr im Modus einfacher Setzung, sondern im simultanen Modus von Selbstsetzung und Selbstnegation. Hegel resümiert die Reflexionsbestimmung des Widerspruchs durch Rekurs auf das zentrale Postulat rationalistischer Logik, der Widerspruchsfreiheit. „Wenn nun die ersten Reflexionsbestimmungen, die Identität, die Verschiedenheit und die Entgegensetzung, in einem Satze aufgestellt worden, so sollte noch vielmehr diejenige, in welche sie als in ihre Wahrheit übergehen, nemlich der Widerspruch, in einen Satz gefaßt und gesagt werden: Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke“ (GW 11, S. 286).

Die kommunikationstheoretische Lesart der Reflexionsbestimmungen hebt an ihnen ihr praktisches Moment hervor. Mit dem Widerspruch verlässt die Reflexion den kontemplativen Standpunkt und versteht sich partizipativ. Das Widersprüchliche ist für Hegel weder das theoretisch Undenkbare noch das praktisch Unmögliche oder gar Pathologische. Gegen das dialethische Verständnis des Wahr-

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heitsbegriffs mag eingewandt werden, dass Hegel nach der Analyse des Widerspruchs in der Analyse des Grundes davon spricht, dass „der Widerspruch zu Grunde“ gehe. Das scheint auf den ersten Blick der verbreiteten Lesart in die Karten zu spielen, nach der der Widerspruch bei Hegel nur einen Ausgangspunkt meint, der aber im Laufe der dialektischen Bewegung überwunden würde. Das Resultat einer dialektischen Verbindung sei selbst aber konsistent, sei Synthese.43 Diese Lesart erweist sich aber angesichts der schlagenden textuellen Evidenz als haltlos. Es ist vor allem die dritte Anmerkung zum Grund, die kantianisierende, sich also an der Vorstellung der Synthesis orientierende Lesarten Hegels nicht erschließen können. 7.3.2 Grund Im Gegensatz sind Identität und Differenz so vermittelt, dass sie einander zwar voraussetzen und insofern nicht indifferent sind wie noch bloß Verschiedenes, aber zugleich schließen sie einander aus. Ihre Identität ist so vorausgesetzt und nicht kommunikativer Teil ihrer Beziehung. Im Gegensatz werden Identität und Differenz so schematisiert, dass die Selbständigkeit der Identität in Opposition zur Selbständigkeit des Differenten erscheint. Dieser falsche Schein des Gegensatzes ist es nun, „was in Wahrheit im Widerspruch zu Grunde geht“ (ebd., S. 281). Die Opposition von Identität und Differenz wird negiert und die „ausschließende Reflexion“ von Verstand und Vernunft, ihr Entweder-Oder, begreift sich als Vermittlung, als Sowohl-Als-Auch: So erst werden Identität und Differenz, in Hegels Worten, „zu fürsichseyenden Selbständigen, zu solchen, die nicht nur an sich, sondern durch ihre negative Beziehung auf ihr anderes selbständig sind; ihre Selbständigkeit ist auf diese Weise auch gesetzt. Aber ferner machen sie sich durch diß ihr Setzen zu einem Gesetzseyn. Sie richten sich zu Grunde, 43

Vgl. als kanonischen Fall einer stark an der Synthese ausgerichteten Hegellektüre: Fulda, „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise“.

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indem sie sich bestimmen als das mit sich identische, aber darin vielmehr als das Negative, als ein mit sich identisches, das Beziehung auf anderes ist“ (GW 11, S. 281).

Die intelligible Struktur des Widerspruchs hat epistemologische Konsequenzen. Die „negative Beziehung auf Anderes“ aller Sachen stellt ihre intrinsische Relationalität ins Zentrum einer Theorie des Grundes und damit einer Theorie epistemischer Normativität. Die wesentliche Relation einer Sache ist ihr zufolge erst in ihrem konstitutiven Widerspruch der Sache gefasst. Im Widerspruch verschwindet der Schein der Oppositionalität. Das heißt, Oppositionalität zeigt sich als eine Vermittlung, mithin Verbindung. Dies markiert den entscheidenden Schritt zu dem, was Hegel philosophisches Denken oder eben Geist nennt (ebd., S. 285). Wir könnten auch von dialektischer Urteilskraft sprechen. Die Dialektik des Geistes bricht also mit der Vorstellung der Vernunft, dass Logik als das Denken des Denkens binär zu verfahren habe. Die starre Gegensätzlichkeit verschwindet im Grund und die Gegensätze gehen ineinander über. Das heißt keineswegs, dass alles eins wird und Nichtidentität und Differenz in reine Identität aufgelöst würden; als ob, wenn die Gegensätze nicht mehr fix wären, sich alles in Verwirrung und Haltlosigkeit auflöste. Die Affirmation des Widerspruchs trägt damals wie heute den Vorwurf der Verwirrung und Beliebigkeit ein. Die äußere Reflexion ist „der Meynung, diese Verwirrung sey etwas unrechtes, das nicht geschehen soll oder schreibt sie subjectiven Fehlern zu. Dieses Uebergehen bleibt in der That auch blosse Verwirrung, insofern das Bewußtseyn über die Nothwendigkeit der Verwandlung nicht vorhanden ist“ (ebd., S. 283). Die Auflösung fixer Gegensätze im Rahmen ihrer dialektischen Betrachtung lässt nicht alle Katzen grau werden, sondern löst den Schein des Gegensatzes und des Getrenntseins der Entgegensetzungen auf. In diesem Zugriff hinter den Schein der Dinge leistet spekulative Logik eine Entmythologisierung des Widerspruchs: „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine

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Bestimmungen nur in andere oder in Nichts auflösen läßt“ (ebd., S. 287). Während in der klassischen Logik der Widerspruch als Inbegriff des Undenkbaren und Schlechten gilt und sie sich derart weiterhin von der Macht der Paradoxie beherrschen lässt, begreift spekulative Logik Widersprüche als komplexe Formen der Verbindung von Identität und Differenz, mithin als Grund der Lebendigkeit der Sache selbst. Widersprüche sind weder pathologische Fälle, weder „Krankheitsparoxysmus“ einer Praxis, noch schlechthin unverständlich. Die Spekulation weiß, „daß es für sich noch, so zu sagen, kein Schaden, Mangel oder Fehler einer Sache ist, wenn an ihr ein Widerspruch aufgezeigt werden kann“ (ebd., S. 289). Wir müssen vielmehr in der logischen Struktur des Widerspruchs das Kriterium epistemischer Objektivität fassen: Etwas in seiner Objektivität, seiner, hegelsch gesprochen, „konkreten Allgemeinheit“, auf den Begriff zu bringen, heißt, den konstitutiven Widerspruch der Sache selbst als ihre Spannung zu artikulieren. Der Widerspruch ist der Grund der Sache selbst, ihr Wesen. Eine philosophische Methode, die den Widerspruch scheut, bleibt also notwendig der Sache selbst äußerlich. Der entmythologisierte Widerspruch ist somit das Wahrheitskriterium dialektischer Philosophie. Etwas philosophisch zu begründen heißt demnach, seinen konstitutiven Widerspruch darzustellen. Widersprüchliche Beziehungen bilden die materiale Struktur philosophischer Begründung. „Der gewöhnliche Horror, den das vorstellende, nicht spekulative Denken […] von dem Widerspruche hat, verwirft diese Consequenz; denn es bleibt bey der einseitigen Betrachtung der Auflösung des Widerspruchs in Nichts stehen, und erkennt die positive Seite desselben nicht, nach welcher er absolute Thätigkeit, und absoluter Grund wird“ (ebd., S. 289).

In der Rede vom „absoluten Grund“ spricht Hegel unmittelbar die ontotheologischen Aspekte seines dialethischen Wahrheitsverständnisses an und artikuliert die Implikationen seines Widerspruchsbegriffs. Diese Explikation bildet den Abschluss der Reflexion auf die logische Struktur des Widerspruchs. Für Hegel besteht

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die Wahrheit von Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes „in der Wesentlichkeit der Reflexion in sich gegen das blosse Seyn“ (GW 11, S. 293). Das spekulative Denken hat keine Angst vor der Leere des Himmels, sondern weiß, dass die Parusie des Absoluten eine durch die reziproken Anerkennungs- und Liebesbeziehungen zu gewinnende Größe ist. Der klassische ontologische Gottesbeweis schließt hingegen von dem Begriff der ultimativen Realität Gottes auf die Existenz Gottes, da der Inbegriff aller Realität ohne Gottes Existenz nicht widerspruchsfrei denkbar sei. Wenn der Widerspruch nun umgekehrt Aufweis der Wahrheit und Lebendigkeit der Sache selbst ist, dann ist dieser Schluss nicht mehr zwingend. Das heißt für Hegel, dass der ontologische Gottesbeweis den Widerspruch des Absoluten zu seiner Grundlage nehmen muss. Hegel fasst die widersprüchliche Struktur des Absoluten als die zwei Prämissen des ontotheologischen Schlusses: „Das Seyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten“ und „Das Nichtseyn des Endlichen ist das Seyn des Absoluten“ (ebd., S. 289). Das Absolute ist nur wirklich als Prozess und Werden, als Negation des Seins, als Vergehen; und als Negation des Nichts, als Entstehen. Das Absolute ist der Teil des Ganzen, der das Ganze aller Teile ist. Hegels spekulatives Schema des Absoluten denkt Gott daher nicht mehr im Sinne einer unwandelbaren Substanz, sondern als Geist. Der „Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist“ (GW 20, § 564). Wer das Absolute in seiner expressiven Struktur, also spekulativ durchdenkt, kann die ontotheologische These vom Absoluten als einer Positivität nicht mehr rechtfertigen. Das Absolute ist Negativität und nur als Bewegung und „Thätigkeit“ der wahre Grund der Objektivität. Das Schema des Absoluten ist das Bei-sich-Sein-im-Anderen. Gott ist so keine Positivität, kein sicher Gegebenes, sondern Negativität. Das Absolute existiert also nur in der „negativen Einheit“ mit dem Anderen. In der Sprache der religiösen Vorstellung des Christentums kommt die Antinomizität des Absoluten im Bild des trinitarischen Gottes, der zugleich Vater, Sohn und heiliger Geist ist, zum Ausdruck. Hier symbolisiert die religiöse Vorstellung die logische

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Struktur des Absoluten als Bild vom Ganzen als Teil, vom Teil als Ganzen. Die Sprache der Philosophie kann diesen bildlichsymbolischen Ausdruck ihrerseits in wissenschaftlicher Prosa reflektieren und als Widerspruch auf den Begriff bringen. Die Kraft der Philosophie, jenseits der Poesie der religiösen Vorstellung das Absolute in seiner Historizität und Abhängigkeit vom Endlichen zu reflektieren, macht die explikative Vorrangstellung der Philosophie vor der Religion aus. Den religionsphilosophischen Implikationen dieses Begriffs des Absoluten sind wir im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Die uns hier leitende logische Perspektive auf das Absolute hat methodologische Konsequenzen für einen Begriff immanenter Kritik im Sinne spekulativen Denkens. Immanente Kritik nach Hegel kann nämlich die Prämisse zurückweisen, das Absolute sei als eine transzendente, unwandelbare Größe jenseits des menschlichen Zusammenhangs anzunehmen, um an das Projekt immanenter Kritik und Emanzipation zu glauben. Es gibt nachhegelianische, neo-kantische Methoden immanenter Kritik, die diese Konsequenz nicht teilen und stattdessen die Hoffnung auf das Rettende in einem Glauben an ein inkommensurabel Ganzanderes suchen werden.44 Für Hegel hingegen gründet der Glaube an die Emanzipation des Geistes im Wissen, dass der Geist zur kommunikativen Selbstbegründung fähig ist, weil er die Kraft hat, die Ambivalenzen der Sachen auszuhalten, und sich in der Offenheit der Sachen selbst wiedererkennt. Hegel kommt so ohne jede Transzendenzvorstellung des Absoluten aus, wird es doch wesentlich relational gedacht: „Diese Beziehung, das Ganze als wesentliche Einheit, liegt nur im Begriffe, im Zwecke“ (GW 11, S. 293). Im Sinne der Emanzipation des Geistes 44

So schreibt Adorno: „Der ontologische Gottesbeweis ist, trotz der Kantischen Kritik gleichsam diese noch in sich hineinsaugend, in der Hegelschen Dialektik auferstanden. Jedoch vergeblich. Indem Hegel, folge recht, das Nichtidentische in die reine Identität auflöst, wird der Begriff Garant des nicht Begrifflichen, Transzendenz von der Immanenz des Geistes eingefangen und zu seiner Totalität so wohl wie abgeschafft.“ Adorno, Negative Dialektik, S. 392.

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ist der innere Zweck der Objektivität zu gewinnen, der in der systematischen Verbindung von Leben und der Pluralität seiner Formen besteht. Die Komplexität und den Differenzierungsgrad, die erst die Pluralität des Lebens sichtbar macht, sind Prozess und Resultat begrifflicher und theoretischer Arbeit. Die bloßen Unterschiede und die starren Gegensätze werden durch den Widerspruch in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Damit wird das Telos, der Zweck der Verbindung, zum Gegenstand der Reflexion. Erst in der inneren Zweckmäßigkeit als der durch den Widerspruch systematisch verbundenen Pluralität des Lebendigen sind Realität und Begriff prozessual vereint. Die dialektische Reflexion bringt so das immanente Organisationsprinzip des Lebendigen zur Erscheinung. Anders gesagt, die Totalität der Substanz muss als gegliedertes, in sich prozessuales Individuum begriffen werden, mithin als Subjekt. Damit wird ein Gedanke der Ästhetik auf die theoretischen Grundlagen einer begrifflichen Erfassung der Totalität übertragen: „Die Realität ist durch den Begriff bestimmt, der Begriff ist diese Einheit, die Realität ist die Auslegung, Explikation des Begriffs, seiner Momente. Dieß widerspricht sich, die Einheit und das Aussereinander, in dem Aussereinander erscheint jedes selbständig, scheint eine Einheit für sich auszumachen, dieß ist insofern ein Widerspruch, aber wenn nichts existiren könnte, was einen Widerspruch in sich hat, so könnte nichts Lebendiges existiren, das Lebendige ist dieser Widerspruch der Einheit der Seele und des Aussereinander der Bestimmungen, denn das Leben ist diese Kraft und die Kraft des Geistes ist noch größer den Widerspruch zu ertragen, das Leben erträgt ihn und löst ihn immer auf, dieß ist der Prozeß des Lebens, nicht sowohl Kampf als Prozeß“ (GW 28.2, S. 571).

Eine Logik, die ohne das Axiom der Analyzität auskommt, muss deshalb eine Theorie inferentieller Beziehungen entwickeln, um dem Leben gerecht zu werden. Dies impliziert die Aufgabe, zu erläutern, wie wahre Widersprüche die materialen Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten der Objektivität reflektieren. Widersprüche sind genau dann wahr, wenn sie die innere Vielfalt dessen reflektieren, was sie gleichzeitig als Einheit fassen. Der Logik des

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Verstandes nach setzt Inferentialität Analytizität voraus. Diese Voraussetzung durch eine Alternative zu entkräften, ist das Ziel der subjektiven Logik, der Begriffslogik. Es geht im Folgenden also erstens um eine Beweistheorie, die Hegel darin folgt, dass die vier Sätze der klassischen Logik als Verstandessätze nur eine Heuristik für die Bildung von Schematismen liefern, keine ultimativen Denkgesetze. Zweitens sind die ontologischen Implikationen einer dialethischen Begriffsauffassung zu artikulieren. Eine zentrale Hürde für eine dialethische Logik besteht dabei darin, dass wir die verstandesmäßige Vorstellung von Allgemeinheit hinter uns lassen müssen, nach der Allgemeinheit eine geteilte Eigenschaft und Identität dessen wäre, das sie umfasst. „Konkrete Allgemeinheit“, oder unserem Interpretament gemäß, Pluralität, ist aber wesentlich als Tätigkeit geistig-partizipativer Reflexion zu begreifen. Die spekulative Syllogistik wird diese Voraussetzung von konkreter Allgemeinheit als lebendiger Tätigkeit explizit machen.

8. Spekulative Ontologie Wir verstehen, so ließe sich ein Zwischenfazit ziehen, mit Kant und Hegel unter Logik so etwas wie die methodisch transparente Praxis der Reflexion der Beziehung von Subjektivität und Objektivität. Mit Blick auf Hegel haben wir das Strukturprinzip seiner Logik in der Doppelbewegung von Darstellung und Kritik der philosophischen Tradition gefasst. Hegel spricht in diesem Sinne davon, das „verknöcherte […] Material“ der Logik in Bewegung zu versetzen (GW 12, S. 5). Die Darstellung von Logik und Metaphysik ist immer mit der Kritik ihrer Voraussetzungen verbunden. Die erste Metaphysik leistete schon, paradox gesagt, eine Kritik der Metaphysik. Hegels Innovation besteht der hier verfolgten Interpretation zufolge darin, die wechselseitige Teilhabe von Subjektivität und Objektivität in der logischen Struktur des Widerspruchs zu fassen, der die „Wurzel aller Bewegung“ ist. Hegels Auffassung des Widerspruchs im Sinne einer zentralen logischen Kategorie ist ungewöhnlich und wird im Rahmen postkantischer Lesarten allzu oft heruntergespielt. Das Skandalon der hegelschen Logik ist indes, den Widerspruch nicht der Synthese unterzuordnen und so zu einer bloß verständigen Auffassung von Identität und Widerspruch zurückzukehren, sondern den Widerspruch als Strukturmoment von Wahrheit zu integrieren.1 Die Integration des Widerspruchs bedeutet indessen nicht, dass er depotenziert oder relativiert würde. Das „Wesen und Wirken des Widerspruchs“, so können wir mit Heidegger sagen, „ist das Kernstück der Metaphysik Hegels.“2 Dem Widerspruch wird allerdings sein existentialistischer Zahn gezogen. Er ist weder Inbegriff des Üblen und Bösen, noch kon1

2

Wie Iber argumentiert, ist das Skandalöse der spekulativen Theorie des Widerspruchs, dass er bei Hegel sozusagen „systembildende Funktion erhält.“ Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, S. 447. Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 38.

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stitutive Grenze menschlicher Erkenntnis. Ist der Widerspruch zwar objektiv, so ist sein logischer Ort doch notwendig erst in der Wechselwirkung von Reflexion und Objektivität beschrieben und kommt als Formmoment dieser Wechselwirkung zum Tragen.3 Die These der Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität wirft die Frage nach dem Standpunkt der Subjektivität in dieser Beziehung auf. Ein freier, geistiger Standpunkt, so die zu begründende These, meint einen Standpunkt, von dem aus sich der Geist in der Widersprüchlichkeit der Objektivität wieder- und anerkennen kann. Durch die Arbeit an sich selbst, mithin durch Selbstnegation, werden Widersprüche ein produktives Moment des geistigen Lebens. Die Arbeit des Geistes besteht darin, den Schematismus des Verstandes in einer integralen Perspektive aufzuheben, die die widersprechenden Momente zwischen Begriffsschema und empirischem Material und damit die Ambivalenzen subjektiver und objektiver Prozesse4 anzuerkennen weiß. Die Integration des Widerspruchs ist das zentrale Motiv der spekulativen Begriffstheorie Hegels, wie etwa das folgende Zitat aus der kleinen Logik belegen mag, das dieses Motiv im Kontrast zu Kants theoretischer Philosophie anspricht. „Hier kommt es zur Sprache, daß der Inhalt selbst, nämlich die Kategorien für sich, es sind, welche den Widerspruch herbeiführen. Dieser Gedanke, daß der Widerspruch, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und nothwendig ist, ist für einen der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten. So tief dieser Gesichtspunkt ist, so trivial ist die Auflösung; sie besteht nur in einer Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge. Das weltliche Wesen soll es nicht seyn, welches den Makel des Widerspruchs an ihm habe, sondern 3

4

Die Notwendigkeit der Stellung des Widerspruchs zwischen Subjektivität und Objektivität betont auch: Karimi, Identität - Differenz - Widerspruch, S. 165. „Subjektiv“ und „objektiv“ meinen hier nicht den Gegensatz von mental und nichtmental, sondern selbstbezügliche, eben „subjektive“ Prozessualität und fremdbezügliche, eben „objektive“ Prozessualität.

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derselbe nur der denkenden Vernunft, dem Wesen des Geistes, zukommen.“ (GW 20, § 48 A)

Das können wir so verstehen, dass das Prinzip der Widerspruchslosigkeit als abstraktes Verstandesprinzip durch das Prinzip des materialen Widerspruchs der Sache selbst zu ersetzen sein wird. Wir müssen, um im Bild zu bleiben, unsere „Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge“ aufgeben. Die Welt ist ambivalent. Das verständige Denken folgt hingegen der Vorstellung abstrakter Identität, verstößt aber ständig gegen seinen eigenen Grundsatz. Jeder Versuch, den Widerspruch von der Sache selbst fernzuhalten, wird sich nämlich immer wieder in ihn verwickeln, weil das Denken selbst diese Dialektik ist. Weil Denken selbst Dialektik ist, kann es der Wirklichkeit in ihrer materialen Struktur nicht vollständig fremd sein. Gleichzeitig ist die Beziehung von Denken und Wirklichkeit nicht durch apriorische Formen der transzendentalen Einheit der Apperzeption gesichert. Kant nimmt an, dass sich die Widersprüche der transzendentalen Vernunft auflösen, wenn sie als dialektischer Schein entlarvt werden. Kants Transzendentalphilosophie bleibt darin Verstandesdenken, dass sie der Idee der Ambivalenz von Vernunft und Welt keinen Raum geben kann. Es ist aber genau dieser Raum, in dem der Geist als das dritte der denkenden Vermögen auftritt. Anstatt den Widerspruch abstrakt zu negieren und zur Denkunmöglichkeit zu mystifizieren, macht Hegel ihn vielmehr zum Ausgangspunkt seiner Begriffstheorie. Das haben wir oben als Hegels Dialethismus bezeichnet. Dialethismus ist die These, dass es wahre Widersprüche gibt, dass sie also zum ontologischen Gefüge der Welt gehören. Mit der These des Dialethismus gehen wir ontologische Festlegungen ein, die es im Zuge der Rekonstruktion der Lehre des Begriffs einzuholen gilt. Der Dialethismus steht, wie wir im folgenden Abschnitt nun rekonstruieren werden, in systematischer Verbindung mit der ontologischen Kategorie des Lebens. Die Kategorie des Lebens liefert den vermittelnden Begriff der Integration der Opposition von Subjektivität und Objektivität. Leben hat, so deutet es

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Marcuse, keine Wirklichkeit ohne das „Lebenselement der Opposition“. In der Widerspruchsstruktur entwickelt das Leben überhaupt Selbstbewusstsein.5 Diesen Gedanken Hegels gilt es im Folgenden im Sinne des Pluralismus zu aktualisieren: Erst im Wechselspiel von Mechanik und Leben, von Verstand, Vernunft und Geist, kommt das Leben in der Teilnahme des Subjekts am Objekt zum Bewusstsein seiner selbst. Das Leben ist erst geistig begriffen, wenn die Pluralität seiner Form als konstitutives Moment des Lebens selbst aufgezeigt ist. Es soll gezeigt werden, dass das geistige Leben sich erst selbst begreift, wenn die Pluralität seiner Form als konstitutive Größe anerkannt ist. Die Vielfalt des Lebens ist, um diesen fundamentalen Punkt zu fassen, Voraussetzung und Resultat des Lebens. Wir werden diese Relevanz darin fassen, dass wir Kants Einsicht in die innere Zweckmäßigkeit des Lebens so auslegen, dass er die Verbindung von innerem Zweck und Vielfalt antizipiert.

8.1 On what there is – Subjektivität Wir fassen unter dem Stichwort des Dialethismus das Prinzip dialektischer Philosophie als Denken in Relationen, Differenzen und Widersprüchen auf und haben oben die systematischen Voraussetzungen dieser Methode beschrieben: Die Artikulation wahrer Widersprüche muss sich material als strukturelle Spannung der Sache selbst ausweisen. Die Frage, ob Hegels dialektische Methode diese Voraussetzungen wirklich einlöst, wird kontrovers diskutiert. Der frühe Marx etwa widerspricht der hier vorliegenden Deutung fundamental. Für Marx ist der „logische, pantheistische Mystizismus“ Hegels Ausdruck dessen, dass er „sein Denken nicht aus dem Gegenstand [entwickelt], sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken.“6 5 6

Vgl.: Marcuse, Hegels Ontologie, S. 342. Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, S. 213.

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Um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit dialektischer Methode und ihrer Offenheit für die Welt diskutieren zu können, sind wir gut beraten, die Maßstäbe für eine solche Diskussion offen zu legen: Jede Wissenschaft hat erstens darüber Auskunft zu geben, wie sie die Elemente ihres Geltungsbereichs miteinander verknüpft, was sie also als gültige Verbindung zulässt. Es braucht eine Beweistheorie, eine Metatheorie theoretischer Gültigkeit, die Auskunft darüber gibt, was sie als valide Begründung anerkennt. Die hegelsche Beweistheorie versteht nun Begründungspraxis als rekursive epistemische Praxis. Eine Theorie setzt bestimmte Annahmen voraus, muss diese aber im Vollzug ihrer eigenen Entwicklung wieder einholen. Rekursive Begründung unterscheidet sich von einer bloß versichernden, redundanten Rückversicherung darin, dass sie die Voraussetzungen durch den Akt ihrer rekursiven Begründung verändert. Die rekursive Begründung versteht ihre Annahmen so, dass sie der Begründung nicht äußerlich sind. Im Rückgriff auf die Hermeneutik können wir die rekursive Rekonstruktion der eigenen Voraussetzungen durch die Idee einer „Offenheit für die Meinung des anderen“ im Prozess des „hermeneutischen Zirkels“ kennzeichnen.7 Rekursive Rekonstruktion führt zur Änderung und Weiterentwicklung der ursprünglichen „Vor-Urteile“, und baut dabei auf der Bereitschaft zur Revision der eigenen Vorurteile und Präsuppositionen auf. Hegel fasst dies, wie wir unten noch mit Blick auf Spinoza sehen werden, so: „Der Begriff hat daher die Substanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er als manifestirtes ist“ (GW 12, S. 11). Der Begriff arbeitet also mit der substantiellen Objektivität seine Voraussetzungen durch und ist in dieser Arbeit bei sich. Der Begriff manifestiert sich als freier, unendlicher Begriff, indem er sich in der Fortbestimmung von Begriffsschemata und empirischem Inhalt expliziert. In diesem Sinne eignet sich der Begriff sein Anderes an. Der empirische Inhalt des Begriffs ist ihm kein fremdes Material, sondern in seiner prozessualen Struktur dem Begriff analog. 7

Gadamer, „Die Aktualität des Schönen“, S. 270 ff.

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Das führt zur ontologischen Frage zurück. Wissenschaftliche Subjektivität muss zweitens darüber Rechenschaft geben, was für Gegenstände es ihr zufolge gibt, will sie epistemische Legitimation beanspruchen. Jede Theorie muss ihren Gegenstandsbereich artikulieren können, muss sagen können, was es gibt und was sie als ihre elementaren Einheiten definiert. Jede Theorie muss zur Frage Position beziehen, um es mit Quine zu sagen, „on what there is.“8 So ist es gerade im Streitfalle produktiv, sich auf ontologischer Ebene zu artikulieren, um die unterschiedlichen Vorannahmen zu explizieren und so die eigene Begriffsbildung transparent zu machen. „Disagreement in ontology,“ so fasst Quine diesen Punkt, „involves basic disagreement in conceptual schemes.“ In solchen Fällen ist es klärend, den eigenen ontologischen Katalog zu explizieren, um die Differenzen genauer zu lokalisieren. Als Kriterium für den Streit um die sachlich angemessenere Ontologie empfiehlt Quine das Kriterium der „simplicity“.9 Ontologien und Methoden sind umso schwächer, je mehr Annahmen sie machen, die sie nicht selber einholen und so voraussetzen müssen. Die rekursive Begründung ihrer Voraussetzungen impliziert die Aufgabe, ihre Präsuppositionen explizit zu machen und als sinnvolle Annahmen zu begründen. Es schwächt wissenschaftliche Theorien, wenn sie Annahmen machen, die mit ihren übrigen Annahmen keine Paradigmata teilen. Wenn eine Theorie T1 etwa davon ausgeht, dass alle Dinge wesentlich als Relation wirklich sind, dann verfolgt sie ein dynamisches ontologisches Paradigma. Es schwächt diese Position dementsprechend, wenn sie Elemente, die in einem statischen Paradigma sinnvoll sind, integriert, das heißt etwa, Dinge als Substrate von Eigenschaften auffasst, die sekundär erst in Beziehung zu Anderem stehen. Eine konkurrierende Theorie T2 hingegen kann eine solche Dingontologie vertreten. Die Standards epistemischer Transparenz von Metatheorie und ontologischen Festlegungen müssen wir an Hegels Dialektik in be8 9

Vgl.: Quine, „On What There Is“. Ebd., S. 16 f.

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sonderem Maße richten, soll sie nicht als „pantheistischer Mystizismus“ (Marx) reproduziert werden. Hegels idealistische Philosophie scheint mit Blick auf ihre theoretische Sparsamkeit in besondere Erklärungsnöte zu geraten, da ihr Gegenstandsbereich die Totalität der Prozesse sowohl des Anschaulichen und als auch dessen, was jenseits anschaulicher Erfahrung passiert, enthält. Zweitens verpflichtet sie ihr Idealismus auf die These, dass die ontologisch schräg anmutende Entität des Geistes nicht nur wirklich ist, sondern dass Geist sogar die Grundkategorie dafür liefert, diese Totalität zu begreifen. Es steht zu vermuten, dass Hegel deshalb in eher analytisch geprägten Wissenskulturen in seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht ernst genommen wird.10 Gleichwohl sind hier Veränderungen zu konstatieren, die eng mit der sprachanalytischen Aneignung der Philosophie Kants zusammenhängen. Die sprachanalytische Deutung von Kants theoretischer Philosophie, die Bennett, C.I. Lewis und Strawson vorgelegt haben, begreift die Struktur der Erfahrung nicht länger über die transzendentale Spontaneität, sondern über die Sprache.11 Diese semantisch-pragmatistische Wendung hat mit Blick auf die sogenannte klassische deutsche Philosophie dazu geführt, dass auch Fichte und Hegel einer sprachanalytischen Deutung zugänglich wurden. Sellars ist dabei eine zentrale Figur der analytischen Aneignung Hegels.12 Die sprachananlytische Tradition ist hilfreich, um die spekulative Ontologie Hegels auszubuchstabieren. Sie kann helfen, eine der Hauptschwierigkeiten für das Verständnis der Logik anzugehen, die in ihrer äußerst komplexen Architektonik und systematischen Überdeterminiertheit liegt. Der Rückgriff auf die sprachanalytische Tradition erlaubt es uns, den hermetischen Charakter der Logik des Begriffs zu öffnen. Im Sinne des öffnenden 10

11 12

Vgl. als einen frühen Versuch, eine Brücke zwischen analytischer und spekulativer Methode zu schlagen: Koppelberg, „Ende oder Wende der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie?“ Besonders wirkmächtig ist die Interpretation von Strawson geworden, die 1965 erschien. Vgl. Strawson, Bounds of Sense. Vgl.: Brandom, „Sketch of a Program for a Critical Reading of Hegel“.

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Zugriffs werden wir als Vorgriff auf die hier verfolgte systematische Linie den Grundgedanken ein Stück weit unabhängig von Hegel artikulieren, um im Anschluss textnäher zu interpretieren. Wir sollten dabei mit einer Frage starten, die nur eine scheinbare Äußerlichkeit berührt und nach den Namen und Bezeichnungen fragt, mit denen Hegel seine Logik organisiert. Warum bezeichnet Hegel die Lehre des Begriffs eigentlich als „subjektive Logik“ und stellt sie so der „objektiven Logik“ gegenüber? Das ist in der Tat keine naheliegende terminologische Festlegung, legt sie doch den Gedanken nahe, die Logik des Begriffs charakterisiere nur die Dinge der subjektiven Erfahrung und nicht die Sache selbst. Die Bezeichnung der Logik des Begriffs als subjektiver Logik läuft damit auf den ersten Blick konträr zum Anspruch der Logik, die Strukturen der Wechselwirkung von Geist und Wirklichkeit in ihrer objektiven Gültigkeit zu begründen, nicht bloß für die Welt der Erscheinungen. Hegel sucht über Kants transzendentalen Idealismus hinauszugehen, den er als „subjektiven Idealismus“ bezeichnet (GW 21, S. 180). Die Position des subjektiven Idealismus können wir mit Pippin auch als Kants „Impositionalismus“ fassen.13 Hegel fasst sie als „psychologischen Idealismus“ (GW 12, S. 22), der die Kategorien der Erfahrung nur als subjektive Bedingung der Objekte der Erfahrung denkt. Hegels Begriffstheorie ist aber dezidiert antipsychologistisch und denkt begriffliche Strukturen als objektive Strukturen. Unter einem konzeptuellen Psychologismus ist die These gemeint, nach der der Begriff des Begriffs apprehensiv ist, also eine Zusammenfassung von sinnlich-anschaulichen Vorstellungen unter einem Begriff beschreibt. Hegels Begriff des Begriffs ist hingegen komprehensiv, beschreibt also objektive Prozesse als begrifflich vermittelt. Wenn Hegels komprehensive Begriffstheorie die begrifflichen Strukturen nicht als subjektive Impositionen auf eine an sich begriffslose Welt fassen will, wieso wählt Hegel dann ausgerechnet die Terminologie der Subjektivität, um seine Begriffslogik zu rahmen? 13

Pippin, Realm of Shadows, S. 200.

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Eine Antwort kann mit Blick auf die Rolle von Spinoza umrissen werden. In der Einleitung der subjektiven Logik rekapituliert Hegel den Gang der objektiven Logik als „genetische Exposition“ des Begriffs, der sich aus der Seins- und Wesenslogik entwickelt hat und beide als Momente in sich enthält. „Die objective Logik, welche das Seyn und das Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffs aus. Näher ist die Substanz schon das reale Wesen, oder das Wesen, in so fern es mit dem Seyn vereinigt und in Wirklichkeit getreten ist. Der Begriff hat daher die Substanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er als manifestirtes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Causalität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis des Begriffs.“ (ebd., S. 11)

Die rekursive Begründung des eigenen Standpunkts, die „Genesis des Begriffs“, erfolgt durch die Aneignung seiner unmittelbaren Voraussetzungen. Ein Aspekt der rekursiven Begründung ist mit Blick auf die Frage nach der Terminologie unbedingt festzuhalten: Die mit Spinoza assoziierte Auffassung der Welt als Substanz begreift die Einheit der Welt, der Objektivität an sich, als Sphäre der Notwendigkeit, als „Reich der Notwendigkeit“. Die Substanz der Welt ist der Substanz der Freiheit gegenübergestellt. Gegenstand der objektiven Logik ist einerseits die Darstellung der Wechselwirkungsverhältnisse der Welt, verstanden als blinde, „bloß innerliche“ Wechselwirkung von Ursachen und Wirkungen. Die hegelsche Darstellung kritisiert die spinozistische Philosophie, nach der die Welt bloß die Totalität mechanischer Notwendigkeit sei, für ihren Determinismus. Ihre Darstellung innerhalb der vorangegangenen objektiven Logik hat, so Hegels zitiertes Resümee, gezeigt, wie unzureichend sie ist. Die Dialektik der Substanzmetaphysik selbst hat Hegel zum Begriff des Begriffs gebracht. Wenn der Begriff die Substanz also zu seiner Voraussetzung hat, dann ist die Substanz das an sich, was der Begriff als „Manifestation“, als Explikation, als Fürsichsein ist. Diese Explikation transformiert das Reich der Notwendigkeit und eröffnet so das „Reich der Freyheit“ (ebd., S. 15).

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Es kommt deshalb, so formuliert diesen Punkt die programmatische Vorrede der PhG, alles darauf an, „das Wahre nicht [nur] als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (GW 9, S. 17). Die philosophische Manifestation einer Voraussetzung besteht so in der Doppelbewegung ihrer rekursiven Rekonstruktion und ihrer Transformation. Die Terminologie von der Subjektivität der Logik schließt an diesen Grundsatz des spekulativen Idealismus an. Substanz und Subjekt haben mit der Totalität zwar denselben Inhalt, geben ihn aber in gegensätzlicher Weise an. Die Differenz von Subjektivität und Substanz ergibt sich aus der Differenz ihrer Formen, denn die „innerste Wahrheit [der Substanz] macht nicht der Begriff aus“ (GW 12, S. 40). Die Versöhnung von Freiheit und Determination ist somit als das zentrale Thema der Logik insgesamt bestimmt, es wird aber erst in der subjektiven Logik explizit. Wahrheit wird von Hegel nicht als Substanz verständlich, sondern geschieht in der Vermittlung von Substantialität und Subjektivität. Die Strukturen dieser Vermittlung die, klassisch gesagt, Kategorien, bilden das Thema der Lehre vom Begriff. Der Gegenbegriff zu Subjektivität im Sinne der Selbstbezeichnung der Lehre des Begriff ist also nicht Objektivität, sondern Substantialität. Nun muss Hegel eine Weise finden, um das programmatische Versprechen der PhG zu operationalisieren. Das tut er, indem er eine analytische Trennung einführt: Objektivität ist das an sich, was Subjektivität für sich ist. Subjektivität ist Fürsich-, Objektivität ist Ansichsein. Wenn wir etwas in seiner Subjektivität beschreiben, dann heißt das, dass wir von seiner Relationalität, seinem Bezug auf Anderes absehen. Alles ist konstitutiv auf Anderes bezogen; alles ist an sich bezogen auf Anderes. Wir können aber analytisch von diesem Bezug abstrahieren und etwas in seiner Innerlichkeit, eben seiner Subjektivität, beschreiben. Wenn wir Denken in diesem Sinne abstrakt betrachten, dann sehen wir sowohl von der phänomenologischen Ebene der Verkörperung als vom bestimmten Inhalt eines Gedankens ab. Wir betrachten Denken allein subjektiv. Denken wird subjektiv betrachtet, wenn es als Fürsichsein untersucht wird,

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also vor und unabhängig von den Relationen auf sein Anderes. Subjektive Strukturen meinen so innerliche Strukturen und beschreiben die selbstbezüglichen Verweisungszusammenhänge der Sache selbst. Objektive Strukturen bilden analog die fremdbezüglichen Strukturen der Sache. Deshalb ist es irreführend, die hegelsche Rede von der Subjektivität im Sinne der subjektiven Logik als Bewusstsein zu verstehen.14 Etwas in seiner Subjektivität zu betrachten, heißt, von seinen konstitutiven, externen Relationen abzusehen und nur die konstitutiven, internen Relationen in den Blick zu nehmen. Das ist eine analytische Trennung, die nicht als ontologische These verstanden werden sollte. Es existiert im naiven, natürlich-ontologischen Sinne von Existenz keine Subjektivität. Sie „ist“ nur als Moment einer Relation. Für sich betrachtet, also unabhängig von ihrem Anderen und unabhängig von ihrem Kontext der epistemischen Praxis, untersucht Hegel die Idee intern, das meint hinsichtlich ihrer inferentiellen Struktur. Die inferentiellen Normen ergeben sich aus der Analyse der absoluten Idee in ihrem Fürsichsein, ihrer Subjektivität. Führen wir den programmatischen und operativen Sinn der Rede von der Subjektivität zusammen, dann ergibt sich für den Aufbau der Logik folgendes Bild: Die subjektive Logik steht im Gegensatz zur objektiven Logik so wie Subjektivität und Substanz, Freiheit und Determination, im Gegensatz stehen. Die Logik des Begriffs muss daher diesen unvermittelten Gegensatz, will sie ihn wirklich vermitteln und nicht äußerlich reflektieren, als Moment ihrer eigenen Form in sich reflektieren. Die Beziehung auf das Andere muss als Moment der Form der negativen Einheit des Begriffs selbst gefasst werden. Der Bezug auf Anderes wird sich als eine binnenlogische Differenz des Begriffs aufweisen müssen. Diese Differenz wird in der subjektiven Logik im Kapitel zur Subjektivität 14

Diese Lesart entwickelt Hösle und wendet gegen den mentalen Begriff der Subjektivität ein, dass Hegel die Intersubjektivität außen vor lasse. Hösle nimmt aber Hegels Religionsphilosophie von dieser These aus. Hösle, Hegels System, S. 588–651.

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in der Differenz von Urteil und Schluss entwickelt. Das Kapitel zur Objektivität artikuliert das Andere des Begriffs dann nach dessen materialer Seite hin. Die absolute Idee schließlich, die substantielle Subjektivität, die subjektive Substantialität, begründet die dialektische Beziehung von Wirklichkeit und Begriff durch eine Theorie epistemischer Praxis. Die dialektische Beziehung von Subjektivität und Objektivität bezeichnet Hegel metaphorisch als die „Verwandtschaft von Denken und Ding“, sodass „das Denken in seinen immanenten Bestimmungen, und die wahrhafte Natur der Dinge, ein und derselbe Inhalt sey“ (GW 11, S. 17). Wir werden sehen, dass diese Verwandtschaft nicht im Sinne der klassischen Rede der Korrespondenz gedeutet werden sollte, da „Korrespondenz“ eine zu konkretistische Deutung der Verwandtschaft von Ding und Denken nahelegen kann. Folglich versucht Hegel nicht, die Korrespondenz von Denken und Ding transzendental, also unter Rekurs auf die Apriorizität der subjektiven Formen des Denkens zu sichern. Wenn Hegel sagt, dass alle Dinge ein Schluss sind, meint er damit nicht, dass alle Dinge ein aus „drey Sätzen bestehende[s] Ganzes“ wären (GW 12, S. 95). Die Verwandtschaft von Objektivität und Subjektivität liegt auf einer höheren, metastufigen Ebene, nicht auf der Objektebene. Die Strukturgleichheit von Subjektivität und Objektivität werden wir in diesem Sinne in ihrer pluralistischen Form angeben. Subjektivität und Objektivität sind beide durch eine offenen Normativität strukturiert. In der Idee der offenen Normativität werden wir einen Faden weiterspinnen, den Kant mit der Idee der inneren Zweckmäßigkeit in der KU entwickelt. Offene Normativität bildet sozusagen das tertium der strukturellen Identität von Subjektivität und Objektivität. Was passiert nun in den einzelnen Teilen? Die internen Relationen der Idee – den Begriff in seiner Subjektivität – beschreibt die syllogistische Logik. Die interne Relationalität der Idee werden wir mittels eines pragmatistisch-funktionalistischen Modells der inferentiellen Spielzüge rekonstruieren, die die epistemische Praxis prä-

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gen.15 Syllogistik meint nach Hegel die Lehre von den epistemischen Normen des Denkens, des richtigen Schließens. Anders gesagt, das Kapitel zur Subjektivität der subjektiven Logik untersucht die epistemischen Normen wissenschaftlichen Denkens, so wie sie sich ohne Bezug auf ihr Anderes, der Objektivität, zueinander verhalten. Sie sind erst wirklich in und durch den Bezug auf die Objektivität. Das ist der Ort der hegelschen Metatheorie. Zu denken, dass die Subjekt-Prädikat-Struktur propositionaler Rede eine solche epistemische Normativität etablieren würde, setzt voraus, von einer universalen Form des Urteils auszugehen. Eine solche Voraussetzung ist nicht haltbar, verdinglicht sie doch die tatsächliche Vielfalt logischer Formen.16 Dass jedes Urteil eine Gestalt aktualisiert, heißt eben nicht, dass es eine Gestalt gibt, die alle Urteile aktualisieren. Was im Rekurs auf Hegels Syllogistik zu zeigen sein wird, ist die Pluralität als generische Form des Begrifflichen. Logische Strukturen differenzieren sich dadurch, dass sie ihren Gehalt in unterschiedlicher Weise angeben. Der Abschnitt zur Objektivität mit Mechanismus, Chemismus und Teleologie nimmt dann die Beziehung der epistemischen Normen mit den materialen Inkompatibilitäten und Abhängigkeiten in den Blick. Das ist der systematische Ort der Explikation der ontologischen Festlegungen des spekulativen Idealismus. Dabei ist die als Dialethismus zusammengefasste Voraussetzung in Erinnerung zu behalten, die die explanatorische Aufgabe stellt, die hegelsche Ab15 16

Vgl. als praxeologische Theorie begrifflicher Normativität im Anschluss an Hegel: Brandom, A Spirit of Trust. Der späte Wittgenstein wendet selbstkritisch ein: „‚Die allgemeine Form des Satzes: Es verhält sich so und so.‘ – Das ist ein Satz von jener Art, die man sich unzählige Male wiederholt. Man glaubt, wieder und wieder die Natur nachzufahren, und fährt nur die Form entlang, durch die wir sie betrachten.“ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 114. Den Unterschied des frühen und späten Wittgenstein können wir dahingehend fassen, dass der frühe Wittgenstein die Vielfalt logischer Formen auf die einfache, wahrheitswertfähige Operation der Prädikation reduziert, während der späte die Irreduzibilität der Vielfalt logischer Formen begreift.

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sage an das Gebot der Analyzität und formaler Konsistenz mit einer Theorie inferentieller Praxis zu verbinden. Es muss klar werden, wie wahre Widersprüche die materialen Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten der Objektivität reflektieren. Widersprüche sind genau dann wahr, wenn sie die innere Vielfalt dessen reflektieren, was sie gleichzeitig als Einheit fassen. Darin liegt die Überwindung der Schematik des Denkens. Um diesen Gedanken zu konkretisieren, stellen wir die spekulative Konzeption einer als lebendig gedachten Objektivität vor, wie sie Hegel entwickelt.17 Diese Darstellung wird mit einer Kritik an Hegels post-aristotelischem, prädarwinistischem Essentialismus und Formalismus bezüglich der natürlichen Arten zu verbinden sein. Ein systematisches Hindernis in der hegelschen Erläuterung der Einheit von Subjektivität und Objektivität besteht nämlich in seinem letztlich essentialistischen Verständnis natürlicher Arten. Der idealistische Pluralismus verfolgt mit Blick auf die Differenz von Geist und Natur ein dynamischevolutionäres Verständnis natürlicher Arten und weicht darin von Hegel ab. Die immanente Kritik seiner Position werden wir im Abschnitt zur Objektivität der subjektiven Logik darlegen. Auf Basis einer spekulativen Beweistheorie und Ontologie werden wir im letzten Kapitel eine dialektische Konzeption von Subjektivität und Objektivität entwerfen. Anundfürsich sind epistemische Normen wie die materiale Struktur der Objektivität nämlich erst in der Praxis des absoluten Wissens begriffen. Wissenschaftliche Praxis lässt sich mit Hegel als kontroverse Pluralität epistemischer Normen und wissenschaftlicher Standards beschreiben. Erst ihr produktives Mit- und Gegeneinander etabliert eine hinreichend komplexe Form, von der aus sich die Wechselwirkung von Begriff und Wirklichkeit begreifen lässt. Die Wirklichkeit der epistemischen Normen ist erst im Sinne einer epistemischen Praxis gegeben, 17

Vgl. zu einer Lesart der PhG, die dort das Lebendige als „paradigmatischen Gegenstand“ fasst: Emundts, Erfahren und Erkennen, . Emundts argumentiert, dass es die Eigenschaft der Selbstbezüglichkeit von Organismen ist, die sie zum Paradigma von Gegenständlichkeit überhaupt macht. S. 354.

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deren Geistigkeit und Idealität in der Aushandlung der Methode im Rahmen eines Methodenpluralismus besteht. Die absolute Idee besteht im Wissen von der Dialektik als Methode des philosophischen Denkens überhaupt. Wir können die systematischen Überlegungen zur Frage, warum Hegel die Beziehung der logischen Strukturen mit den objektiven Strukturen der Welt in einer Lehre mit dem Titel der subjektiven Logik aufzeigt, als Zielpunkt der folgenden Interpretation reformulieren: Ihr Zielpunkt ist ein Verständnis des hegelschen Begriffs des Begriffs, das Bewegung und Offenheit als die konstitutiven Merkmale seiner Normativität einzuholen erlaubt. In der Darstellung des Arguments fokussieren wir auf den systematischen Zusammenhang von dem, was Hegel konkrete Allgemeinheit nennt und was hier als Pluralität bezeichnet wird. Wir werden die These entwickeln, das beide dasselbe meinen. „Pluralität“ ist ein neuer Name für ein altes Konzept. Mit der Darstellung der Begriffslogik Hegels wird zwingend Kritik verbunden sein, diese Kritik entwickelt sich aber auf geteiltem Grund. Der Begriff der Allgemeinheit ist für Hegel zentraler Begriff der Freiheit des Denkens, denn Allgemeinheit ist kein Unmittelbares, kein einfach anschaulich Gegebenes. Allgemeinheit ist das Resultat geistiger Tätigkeit. Geistige Tätigkeit meint die bestimmende Transformation eines Unmittelbaren, bloß Einzelnen, zu einem Moment einer Beziehung, einem Vermittelten, dem Besonderen eines Allgemeinen. Denken ist ein Verknüpfen und In-Beziehung-Setzen. Eine Sache zu denken, bedeutet nicht, sie in ein fertiges Schema zu pressen und sie bloß als Fall einer allgemeinen Regel zu subsumieren. Denken ist die Verallgemeinerung, die es erlaubt, die Sache selbst mit ihren Spezifika zu fassen und sie darin frei zur Geltung kommen zu lassen. Denken ist nicht einfach ein Urteilen über das, was ist und sein soll, sondern ein Begreifen dessen, was existiert im Lichte seines Begriffs. Denken ist keine Produktion von Sätzen und Urteilen, sondern das In-Beziehung-Setzen von Aussagen. Es negiert dabei den Schein der Unmittelbarkeit des Einzelnen der Anschauung. Denken ist so wesentlich ein Schließen, ein Urteilen im Kontext. Jede Theorie ver-

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allgemeinert Einzelerscheinungen auf Basis ihrer methodisch explizierten Schlüsse. Logisch-spekulatives Denken meint damit keineswegs eine Begriffsanwendung im Sinne der Instanziierung einer fixen Allgemeinheit auf ein gegebenes Einzelnes, sondern, um Gadamers Begriff in Erinnerung zu halten, deren Applikation. Der Gehalt eines Begriffs ergibt sich aus seiner Fortbestimmung. Begrifflicher Gehalt ist nicht der Inhalt fixer und geschlossener logischer Räume, sondern erst in offenen und dynamischen Strukturen konkret. Inferentielle Praxis als Fortbestimmung und Aktualismus zu rekonstruieren, widerspricht der Idee eines semantischen Formalismus, der die Form hypostasiert.18 Dialektik als Wissenschaft hält somit an der Inferenz als Zielpunkt aller Reflexion fest, gibt aber die Vorstellung auf, dass die Gültigkeit der Inferenz aus ihrer fixen Form zu gewinnen sei. Dialektik ist sozusagen die Methode, die fixe Form zu negieren, ohne dabei in formloser Leere zu enden. Die Offenheit des logischen Raumes ist im Rahmen einer Konzeption von begrifflicher Bestimmtheit zu entwickeln, in der begriffliche Bestimmtheit nicht dessen Abgeschlossenheit meint. Diese Beweislast trägt der Begriff der Fortbestimmung. Die Idee der Fortbestimmung ist der zentrale Baustein einer dialektischen Theorie begrifflichen Gehalts. Kein Einzelnes instantiiert ein Allgemeines, sondern trägt zu dessen Fortbestimmung bei. Fortbestimmung lässt sich analytisch so verstehen, dass die Institutionalisierung einer begrifflichen Norm kein von der Anwendung dieser begrifflichen Norm zu trennender Akt ist. Normen werden nicht erst institutionalisiert und dann nur noch angewendet. Vielmehr ist je18

Brandom stellt deshalb die hegelsche Begriffstheorie in Opposition zur fregeanischen Vorstellung begrifflicher Bestimmtheit: Eine fregeanische Auffassung begrifflicher Bestimmtheit begreift sie als „matter of sharp, complete boundaries. For Frege, each concept must be determinate in the sense that it must be semantically settled for every object, definitively and in advance of applying the concept epistemically, whether the object does or does not fall under the concept. No objects either both do and do not, or neither do nor do not, fall under it.“ Brandom, „A Hegelian Model of Legal Concept Determination“, S. 34.

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de Anwendung ein Fortschreiben an der Institutionalisierung. Begriffsverwendung ist, kantisch gesagt, immer reflexiv und bestimmend zugleich. Sie bestimmt also fort, was die Allgemeinheit eines Begriffs ist, indem sie ihn für einen neuen Fall in Anschlag bringt. Wie lassen sich nun aber die so umrissene Offenheit des Begriffs und die Forderung der methodischen Absicherung dieser Offenheit in einen Zusammenhang bringen? Wie kann die Form des Begriffs gleichermaßen offen und dynamisch wie normativ sein? Auf welche ontologischen Implikationen verpflichtet uns der hegelsche Begriff des Begriffs? Wer den Begriff in seiner Negativität und Offenheit denkt, hat sich zur Frage zu positionieren, wie sich die Negativität des Begriffs zur Notwendigkeit seiner Positivierung verhält? Wenn der Begriff tatsächlich dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich durch jede Anwendung verändert, wie ist dann die Stabilität begrifflicher Strukturen zu erläutern? Wie kann Hegel eine Theorie logischer Notwendigkeit und Gültigkeit vertreten, wenn er doch auf ihre Sicherung durch apriorische Prinzipien verzichtet? Wenn Denken der regelgeleitete Prozess der Verallgemeinerung ist, dann folgt daraus, dass so etwas wie „epistemische Normen“ der Verallgemeinerung identifiziert werden müssen. In Bezug auf die Problematik der Ontologie epistemischer Normen können wir grob zwei Position unterscheiden: Begreift man die Normen des Denkens als gefunden, dann bezeichnet dies einen epistemischen Realismus. Begreift man sie hingegen als sozial und historisch vermittelt und damit gewissermaßen bloß erfunden, dann entspricht dies einem epistemischen Konstruktivismus. Das Interessante an Hegels Begriffslogik ist nun, dass sie diesen Gegensatz unterminiert und eine Postion entwickelt, die wir mit Redding als „epistemischen Aktualismus“ bezeichnen können.19 Begriffliche Normen sind sowohl vorgefunden als auch gemacht. Es gibt also realistische und konstruktivistische Momente. Epistemische Normen sind nicht bloße Konstruktionen intersubjektiver Praxis und folglich kontingent, sondern sie beziehen sich auf die Welt und richten sich 19

Redding, „An Hegelian Actualist Alternative to Naturalism“, S. 131 f.

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nach ihr. Sie sind aber auch nicht gegebene, äußere Normen, nach denen sich das Denken bloß als äußerliche Prinzipien zu richten hätte. Wir können diese These so angeben: Normen sind wirklich, indem sie ins Werk gesetzt werden, das heißt begründet werden. Normen bilden derart keine synthetisch apriorischen Formen des Denkens. Epistemische Normen sind so nicht einfach „Seyn“ im Sinne bloßer Existenz, sondern sind wirklich, indem sie als Normen richtigen Schließens fortentwickelt werden und so bindende Kraft entfalten. Epistemische Normen sind nur bindend, indem sie angeeignet und kritisiert werden. So sind sie weder äußere Restriktionen, denen das Denken sich zu unterwerfen hätte, noch arbiträre Konventionen. Sie sind historisch gewachsen und bieten mit Blick auf ihre künftige Aktualisierung „Plastizität“20 , gleichzeitig sind sie einer von ihr verschiedenen Substanz verpflichtet und finden in der Objektivität ihre Bezugsgröße. Deren Normativität muss sich dementsprechend aus der Struktur der Offenheit selbst erschließen lassen. Das Beweisziel ist damit, die Struktur des Logischen als Struktur epistemischer Offenheit zur Welt zu begreifen. Was das Denken also sichert, sind Gesetze, deren Status als höchstens ein historisches Apriori gefasst werden könnte – mehr nicht. Dieses Beweisziel lässt sich als Konzeptualismus fassen. Der Konzeptualismus besteht in der These, dass die Objektivität eine wesentlich begriffliche Struktur aktualisiert. Wir können sie Hegel mit Blick auf Passagen wie diese umstandslos zuschreiben: „Der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder auch ein Nahmen; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen er ist, was er ist“ (GW 12, S. 244).

Hegels Konzeptualismus interpretieren wir, indem wir eine ihrer Implikationen explizit machen: Die Sache selbst kann nur Einspruch gegen die schematischen Verkürzungen des Verstandes erheben, weil die Objektivität selbst dialektisch, das heißt begrifflich verfasst ist. Es ist genau dieser Sinn, der durch das rezeptions20

Malabou, The Future of Hegel, Vgl.:

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geschichtlich wirkmächtige Interpretament, das Henrich mit der „autonomen Negation“ entwickelt,21 nicht gefasst werden kann. Die Freiheit des Begriffs besteht – analog der Freiheit der Kunst – nicht in einer als Autonomie gedachten Selbstbezüglichkeit. Frei sind Wissenschaft und Kunst, weil sie ihre Gegenstände in freier Weise behandeln, sie bleiben aber immer an ihr Äußeres gebunden. Frei ist der Begriff nicht, weil er autonom wäre, sondern weil begriffliche Reflexion das Objekt der Reflexion befreit, „denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als Anderer bestimmt“ (ebd., S. 249). Es soll in der folgenden Rekonstruktion der Klärung dienen und die abstrakte Flughöhe spekulativer Begriffstheorie erden, sie hinsichtlich ihrer Pragmatik zu charakterisieren. Neben der architektonischen Überdetermination der Logik ist m. E. eine zweite ihrer Hauptschwierigkeiten, dass sie keine Pragmatik logischer Bewegung entwickelt. Sie leistet nur eine Erhellung der Semantik logischer Bewegung. Mit Semantik ist gemeint, dass die inferentielle Praxis eine symbolische Ordnung aufweist. Diese Ordnung ist Gegenstand semantischer Analyse. Inferentielle Praxis ist daneben auch als Komplex von Sprechakten beschreibbar, deren Elemente in den „Spielzügen“ im Sinne von Brandom bestehen, die sich in ihrem Rahmen vollziehen. Wir werden deshalb in der Rekonstruktion diese Pragmatik beizubringen haben. Wir gehen dabei davon aus, dass Begriffe in sozialen und praktischen Kontexten zu untersuchen sind. Der Rekurs auf Brandom erlaubt es, zwei Funktionen inferentieller Praxis zu unterscheiden: Berechtigung und Verpflichtung.22 Einen Begriff zu verwenden heißt demnach, sich zu dieser Verwendung zu berechtigen. Über Begriffe zu verfügen, setzt die Kompetenz voraus, frei in der Anwendung zu sein. Sprecher*innen realisieren damit eine Autorität darin, welche Begriffe sie wie verwenden. Autorität meint, kantisch gesagt, die Spontaneität ihrer Urteilskraft. Es ist dabei zentral, den konstitutiven Widerspruch der Spontanei21 22

Henrich, „Hegels Grundoperation“. Vgl.: Brandom, A Spirit of Trust, S. 35–62.

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tät ebenfalls sprachpragmatisch zu fassen: Sprecher*innen müssen ihre Berechtigung und Autorität begründen können, denn jede Berechtigung bedarf der Begründung, schafft doch unbegründete Berechtigung letztlich nur die Herrschaft des Unwissens. Die Freiheit begrifflicher Spontaneität geht mit der Pflicht einher, die Wahl der Begriffe sachlich zu begründen. Auf der pragmatischen Ebene greift Brandom auf sein anhand einer systematischen Lektüre der PhG entwickeltes Anerkennungsmodell begrifflichen Gehalts zurück.23 Die Berechtigungen einer Sprecherin können von der Gemeinschaft der Sprecher*innen als unzureichend, willkürlich, oder als unscharfe Verwendung negiert werden. In diesem Konflikt um begrifflichen Gehalt wird dieser fortbestimmt und ist im eigentlichen Sinne erst wirklich und aktual. Diese Überlegungen verstehen sich als ein Vorgriff. Um den so systematisch umrissenen epistemischen Aktualismus Hegels weiter zu charakterisieren, nehmen wir nun die spekulative Syllogistik der subjektiven Logik in den exegetischen Fokus, um die Idee der Struktur des Begriffs als Struktur der Offenheit des Geistes textnah zu entwickeln. Dabei ist es erneut ein Unterschied zu Kants theoretischer Philosophie, der uns als Ausgangspunkt dient. Für Kant sind generelle Logik und transzendentale Logik im Besonderen insofern normativ, als sie Regeln der Beurteilung von Erkenntnissen sind. Diesen Gebrauch der epistemischen Normen bezeichnet Kant als „Kanon“. Der Kanon dient aber lediglich zur Beurteilung der bloß 23

Brandoms anspruchsvolle Idee ist es, normative Status wie semantische Autorität auf die normativen Einstellungen von Anerkennung und Verweigerung so zurückzuführen, dass die Praxis der Begründung in ihrem objektiven Anspruch verständlich bleibt. Die zentrale These ist, dass semantische Autorität ohne Begründungspflicht metaphysisch inkohärent ist. Das Problem scheint dabei in erster Linie darin zu liegen, dass Brandom Anerkennung und Verweigerung zu dichotomisch denkt. Es bleibt in seinem Modell letztlich offen, ob Kritik an Begründungen und Sprechweisen einen Bruch oder eine Kontinuität mit der Sprachpraxis darstellen. Vgl. zur Feinstruktur des Anerkennungsmodelles: Brandom, A Spirit of Trust, S. 262–360.

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formalen Richtigkeit von Erkenntnissen, für den positiven Erwerb materialer Erkenntnis ist er untauglich. Insofern ist der Kanon „der wenigstens negative Probirstein der Wahrheit“.24 Wenn dieser negative Probierstein zur Genese materialer Erkenntnis genutzt wird, bezeichnet das Kant als „Organon“ und rückt diesen Gebrauch in die Nähe von sophistischer Rede und logischem Schein.25 Bündig sagt er es so: „Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik.“ Gegen die Sophistik, der „scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben“, hilft nur der kritische Gebrauch logischer Regeln als Kanon der Überprüfung.26 Sie sind, in kantischer Terminologie, regulativen, nicht konstitutiven Gebrauchs. Dieses Verständnis der Normativität der Logik lehnt Hegel als Verarmung des Reichtums des Begriffs ab, denn es gründet auf einem allzu einseitigen Begriff des Begriffs.27 Logik allein als trockenes Instrument der Prüfung von Erkenntnis zu verstehen, befeuert die „Misologie“, die Abneigung gegenüber dem Logischen auf der Basis eines intuitiven Wissens, eines „unmittelbaren Wissens“ 24 25

26 27

Kant, KrV, B 84. Es gibt reichlich textuelle Evidenz dafür, den Begriff des Organon, so wie Kant ihn etwa in diesen Passagen der Einleitung der KrV verwendet, der traditionellen, vorkritischen Metaphysik zuzuordnen, während er für die Benennung seiner eigenen Transzendentalphilosophie auf die ursprünglich aristotelischen Termini von Kritik und Kanon zurückgreift. Vgl.: Carboncini und Finster, „Das Begriffspaar Kanon-Organon“, S. 40. Kant, KrV, B 85. So schreibt Hegel: „Es wird für einen Mißbrauch erklärt, daß die Logik, die bloß ein Canon der Beurtheilung seyn solle, als ein Organon zur Hervorbringung objectiver Einsichten angesehen werde. Die Vernunftbegriffe, in denen man eine höhere Kraft und tiefen Inhalt ahnden mußte, haben nichts constitutives mehr, wie noch die Kategorieen [sic]; sie sind blosse Ideen; es soll ganz wohl erlaubt seyn, sie zu gebrauchen, aber mit diesen intelligibeln Wesen, in denen sich alle Wahrheit ganz aufschliessen sollte, soll weiter nichts gemeynt seyn, als Hypothesen, denen eine Wahrheit an und für sich zuzuschreiben, eine völlige Willkühr und Tollkühnheit seyn würde, da sie – in keiner Erfahrung vorkommen können“ (GW 12, S. 23).

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(GW 20, § 11 A). Bereits Platon verweist im Phaidon darauf, dass das Problem der Ablehnung von vernünftig-logischem Denken Resultat rechthaberischer Argumente und logischer Täuschungen sein kann, die die Getäuschten am Ende an der Vernunft zweifeln lassen. Nun ist das Befeuern von Misologie keineswegs Kants Absicht, im Gegenteil. Kant versteht unter Misologie einen philosophischen Standpunkt, der sich zwar auf Weisheit und Glückseligkeit beruft, aber Wissenschaft und begriffliche Form ablehnt. Misologie ist der Wille zum „Genuß des Lebens und der Glückseligkeit“ bei gleichzeitiger Verachtung der Mühseligkeit logischen Denkens.28 Kant empfiehlt dagegen die Disziplin des regulativen Gebrauchs der Logik, um der Misologie Einhalt zu gebieten. Damit gesteht Kant der Misologie aus spekulativer Perspektive bereits zu viel zu. Die epistemischen Normen der Schlusslehre stehen für Hegel nämlich nicht in Opposition zu den vermeintlich intuitiven, vermeintlich unvermittelten Formen des Geistes – „Gefühl“, „Anschauung“, „Phantasie“, „Wille“. Logische Prinzipien sind die Normen der „Hervorbringung objektiver Einsichten“ (GW 12, S. 23) im Zusammenspiel mit den sinnlichen Vermögen des subjektiven Geistes. Hegels epistemischer Aktualismus bricht deshalb, wie wir im Detail sehen werden, einerseits mit dem deduktiven Paradigma logischer Normativität, das unter Logik nur die Kriterien der formellen Richtigkeit der äußeren Form des Denkens versteht und das gegen die intuitiven Formen des Wissens und Fühlens ausgespielt werden kann. Die Inferenzen, die Hegel als Organon im Sinne von Begründungsstrategien für Berechtigung begreift, sind, technisch gesagt, non-monoton und probativ. Non-Monotonie bedeutet, dass sie falsch werden können, wenn neue Prämissen hinzutreten. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Im Bereich medizinischer Syllogistik markiert das hohe Fieber eines Patienten als solches einen guten Grund, eine bakterielle Infektion zu vermuten. Mit der zusätzlichen Information, dass ihm kurz zuvor das Anästhetikum Halothan verabreicht wurde, das Hyperthermie auslösen kann, 28

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 13 f.

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wird dieser Schluss aber problematisch. Schlüsse, die durch neue Prämissen problematisch werden können, bilden nicht-monotone Inferenzen. Zweitens sind begriffliche Normen probativ, sie können also auf Basis besserer Evidenz zurückgewiesen werden.29 Eine nichtmonotone, probative Auffassung logischer Gültigkeit steht jenseits des deduktiven Paradigmas. Die paradigmatischen Fälle für die nicht-monotonen, probativen Inferenzen, die Hegels Syllogistik diskutiert, sind Induktionen und Analogien. Hegels Theorie des Begriffs anerkennt solche Begründungsstrategien als gültige Züge epistemischer Praxis. Logik erschließt dem Denken neues Wissen, indem begriffliche Reflexion den Erfahrungsraum menschlicher Erkenntnis vertieft und erweitert. Der dialektische Begriff steht so in keinem Gegensatz zur Sinnlichkeit mehr. Epistemische Normen strukturieren das Zusammenspiel der Vermögen des Geistes, das es überhaupt erst erlaubt, die Welt in ihrer Objektivität zu erkennen. Hegel argumentiert, dass vermeintlich intuitive Formen des Wissens und Weltbezugs ihrerseits begrifflich vermittelt sind. Das Begriffliche ist, in McDowells Worten, „unbegrenzt“.30 Was den Geist also für die Welt öffnet, ist begriffliche Praxis. Das ist der Kern des hegelschen Konzeptualismus. Es geht dabei nicht um die Autonomie begrifflicher Strukturen, sondern um deren Plastizität. Hegel fasst diese Bewegung so: „Die Identität des Begriffs, die eben das innre oder subjective Wesen [der Objektivität] ist, setzt sie in dialektische Bewegung, durch welche sie ihre Vereinzelung und damit die Trennung des Begriffs von der Sache aufhebt und als ihre Wahrheit der Totalität hervorgeht, welche der objektive Begriff ist“ (ebd., S. 30).

Mit ihren gegensätzlichen Aufassungen von Logik – Kanon oder Organon – schließen Kant und Hegel an Aristoteles an und sind sich in dessen hohen Stellenwert einig. Beide sehen das Problem, dass 29 30

Vgl.: Brandom, „A Hegelian Model of Legal Concept Determination“, S. 21. Vgl.: McDowell, Mind and World, zweite Vorlesung.

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Aristoteles „kein Prinzipium“ hatte, um eine adäquate Begriffstheorie zu entwickeln.31 Kant sucht dieses Prinzip in der transzendentalen Deduktion der Kategorien. Die Geltung und Vollständigkeit der epistemischen Normen leitet Kant also her, indem er in der apperzeptiven Subjektivität das Prinzip ihrer Einheit identifiziert und es als ihr eigenes Prinzip beweist.32 So zeigt Kant die Geltung der Kategorien begrifflicher Praxis transzendental auf, indem er sie als notwendige Bedingung und Voraussetzungen des Denkens interpretiert. Dabei ist zu beachten, dass Kant keineswegs mit „Deduction“ einen Beweis im Sinne eines syllogistischen Beweises der formalen Logik meint, sondern vielmehr den Deduktionsbegriff aus der Rechtspraxis seiner Zeit übernimmt.33 Es sind die Tatsachen einer Streitsache festzustellen, indem der Frage quid facti nachgegangen wird. Daneben ist es entscheidend, eine Deduktion der Rechtmäßigkeit eines Anspruchs vorzunehmen, also die Frage quid iuris zu klären, das heißt, zu klären, ob der Anspruch rechtmäßig ist. Das wird geklärt, indem der Anspruch auf seinen Ursprung zurückgeführt wird.34 Diese Rückführung begründet eine „allgemeinverbindliche“ Antwort auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Anspruches.35 Diese Rückführung führt Kant aber mit der Einheit der Apperzeption zu einer dem Begriff äußerlichen Größe, nämlich der Einheit des Bewusstseins. Kant investiert dabei die Prämisse, dass der logische und der mentale Raum eins sei. Seine transzendentale Deduktion eignet sich aber diese Voraussetzung nicht an, nimmt sie als gegebene Größe an und ist folglich problematisch. Kants Frage ist, in pragmatistischer Reformulierung, wie die Welt 31 32

33 34 35

Kant, KrV, B 107. Vgl. als Rekonstruktion der Deduktion, die die Vollständigkeit und Korrektheit der kantischen Urteils- und Kategorientafel aufzuzeigen versucht: Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Vgl.: Henrich, „Kant’s Notion of a Deduction“, S. 24–26. Kant, KrV, A 84–85. Förster, Die 25 Jahre der Philosophie, S. 37.

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beschaffen sein muss, damit wir Sinn daraus machen können, dass wir Sinn aus ihr machen können.36 An den kantischen Gedanken, dass die Gültigkeit epistemischer Normen durch eine rekursive Begründung ihrer Voraussetzungen zu geben ist, schließt Hegel in der Tat an. Wie Kant hält auch Hegel es für richtig, dass das Prinzip der Einheit der Begriffsbestimmungen das innere Prinzip der Beweisführung der Objektivität des Begriffs sein muss. Die Gültigkeit epistemischer Normen aus der Form des Bewusstseins abzuleiten, läuft für Hegel auf einen „psychologischen Idealismus“ hinaus (GW 12, S. 22). Hegel begründet hingegen die Geltung der epistemischen Normen in den drei Bestimmungen des Begriffs selbst: Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit. Hegel bezeichnet seine Beweisführung dementsprechend konsequent als „immanente Deduction“ (ebd., S. 16). Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ergeben das Prinzip der immanenten Deduktion epistemischer Normen. Der reine Begriff ist Gegenstand des Kapitels zum Begriff als Begriff (ebd., S. 32–52). Diesen Teil thematisieren wir im folgenden Abschnitt. Der Begriff in seiner Besonderheit, seiner Differenz, wird dann thematisch im Abschnitt zum Urteil, das die „nächste Realisierung des Begriffs“ darstellt (ebd., S. 53). Schließlich aktualisiert der Begriff als Identität der Identität und Differenz seine konkrete Allgemeinheit in der Struktur des Schlusses. Hier erst ist begriffliche Allgemeinheit konkret und objektiv geworden. Die Objektivität ist der Schluss des Begriffs und Gegenstand des letzten Abschnitts zur Subjektivität. 8.1.1 Der Begriff als reiner Begriff Der Begriff in seiner reinen, das ist abstrakten Identität mit sich selbst, ist Gegenstand des ersten Kapitels der subjektiven Logik. Hier muss Hegel demonstrieren, dass Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit als die tatsächlichen Begriffsbestimmungen der immanenten Deduktion den richtigen Maßstab für den Aufweis der 36

Pippin, Realm of Shadows, S. 62.

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Einheit des Begriffs liefern, dass sie also die „Form seiner Identität mit sich“ sind (GW 12, S. 32). Die Allgemeinheit des Begrifflichen besteht darin, so Hegels These, dass sich der Begriff in der empirisch gegebenen Vielfalt auf sein Anderes beziehen kann und sich darin nur zu sich selbst verhält. Das Allgemeine ist in der empirischen Vielfalt seiner Besonderungen wirklich und verhält sich zur Vielfalt seiner Erscheinungen in diesem Anderen zu sich selbst. Das Allgemeine „ist insofern auch die Substanz seiner Bestimmungen; aber so, daß das, was für die Substanz als solche ein zufälliges war, die eigne Vermittlung des Begriffs mit sich selbst, seine eigene immanente Reflexion ist“ (ebd., S. 34 f.). Den Konkretionen, in denen es sich immanent reflektiert, steht das so bestimmte Allgemeine nicht fix gegenüber, sondern erhält sich in ihnen selbst. Hegel spricht vom Allgemeinen in dieser Hinsicht auch bar jeder Ironie von der „freyen Liebe“ (ebd., S. 35). Die Besonderungen des Begriffs verkörpern das Allgemeine des Begriffs. Das Allgemeine ist die „Sphäre“ und die „Natur“ der Besonderungen. Allgemeinheit und Besonderheit sind daher nur wechselseitig und in Relation zueinander zu verstehen. Das Allgemeine ist in seinen Besonderungen bestimmt und beide bilden die, metaphorisch gesagt, semantischen Netze begrifflicher Strukturen. Die spekulative Idee einer Allgemeinheit, die konkret dadurch wird, dass sie sich zur Pluralität ihrer Besonderungen reflexiv verhält, ist voraussetzungsreich. Diese Voraussetzungen werden nicht allein im Abschnitt zum reinen Begriff rekursiv eingeholt. Um den Begründungsschritt zu verstehen, müssen wir aber zuvor ein Verständnis von Einzelheit erarbeiten. Von Allgemeinheit und Besonderheit unterscheidet sich die Einzelheit als drittes Moment der formalen Struktur des Begriffs in zentraler Hinsicht: „Das Einzelne ist als sich auf sich beziehende Negativität, unmittelbare Identität des Negativen mit sich“ (ebd., S. 51). Das Einzelne ist, so gesagt, eine Abstraktion aus dem relationalen Netz des Begrifflichen, als dass es den Schein der Unmittelbarkeit trägt. Dieser Schein der Unmittelbarkeit ist dem Einzelnen notwendig, da das Einzelne die „unmittelbare Identität des Nega-

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tiven mit sich“ setzt. Als diese Setzung von Unmittelbarkeit ist das Einzelne nicht wirklich, erscheint aber notwendig als Vereinzeltes. Will sagen, Einzelnes erscheint als Einzelnes, indem es in Anschauung und Verstand von seiner relationalen Struktur isoliert wird. Das ist keine Illusion, kein falscher Schein, aber eine Abstraktionsleistung des Verstandes. Falsch und illusorisch wird dieser Schein erst, wenn er fixiert wird und so seine Herkunft aus der Abstraktion vergessen wird. Dem Einzelnen kommt zwar Sein zu, aber als Produkt einer Abstraktion ist es Ergebnis einer „Trennung des Concreten, und eine Vereinzelung seiner Bestimmungen“ (ebd., S. 50). Das Einzelne ist kein selbständiges Ding sondern eigentlich relationale Sache. Das hat Konsequenzen für die Epistemologie des Einzelnen: Im Einzelnen reflektiert sich die analytische Leistung des Denkens. In der Schematisierung von etwas als eines Einzelnen durch Absehung von seinen externen Verweisungen leistet der Verstand seinen konstruktiven Beitrag zum Begreifen. Hegel fasst diese Leistung nun als erste Negation begrifflicher Bewegung. Der Verstand sieht von der Relationalität der Sache ab und konstituiert derart das Ding der Wahrnehmung. Das Einzelne ist missverstanden, wenn es als primordiales und präreflexives Ding vorgestellt wird. Eine reifizierende Rede vom Einzelnen als einem fixen Ding der Anschauung ist keine begriffsreflexive Verwendung dieser Terminologie und unkritische Metaphysik.37 Mit der epistemologisch problematischen Auffassung des Einzelnen als präreflexiver Positivität korrespondiert eine dingontologische Auffassung von Allgemeinheit: „Wenn unter dem Allgemeinen das verstanden wird, was mehreren Einzelnen gemeinschaftlich ist, so wird von dem gleichgültigen Bestehen derselben ausgegangen, und in die Begriffsbestimmung die Unmittelbarkeit des Seyns eingemischt. Die niedrigste Vorstellung, welche man vom Allgemeinen haben kann, wie es in der Beziehung auf das Einzelne ist, ist diß äusserliche Verhältniß desselben, als eines bloß Gemeinschaftlichen“ (ebd., S. 51). 37

Metaphysikkritik ist somit immer auch Sprachkritik an falschen Reflexionsformen. Vgl.: Stekeler-Weithofer, „Metaphysik“, S. 358.

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Das Allgemeine wird in einer verstandesmäßigen verdinglichenden Form vorgestellt, wenn es als konforme Form, als „Gemeinschaftlichkeit“ und einfache Identität konzeptualisiert wird. Das Allgemeine ist hingegen erst in seiner Konkretion begriffen, wenn es als die offene Form des Einzelnen aufgefasst wird, in der das Einzelne gleichwohl seine Substanz hat. Damit ist am Einzelnen ein auf sein Allgemeines nicht reduzierbares Moment. Hegel spricht, wie zitiert, von der „sich auf sich beziehenden Negativität“ des Einzelnen. Wir könnten auch sagen, dem Einzelnen kommt als Einzelnem eine Art von Spontaneität zu. Das Einzelne ist niemals vollständig durch die ihm gegebene Substanz determiniert. Das Einzelne ist eine Verkörperung des Allgemeinen, durch das es bestimmt und unbestimmt zugleich ist. Die These von der Spontaneität des Einzelnen setzt eine organlogische Auffassung der Objektivität voraus, denn es ist das lebendige Einzelne, das bestimmt und unbestimmt zugleich ist. Das Lebendige geht nicht mechanisch aus seinen substantiellen Bestimmungen hervor – ist keine differenzlose Instanziierung –, sondern aktualisiert seine Substanz. Darin ist es frei und unfrei. Die abstrakten Strukturen von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit lassen sich konkretisieren, wenn wir die damit einhergehenden ontologischen Festlegungen explizit machen: Allgemeinheit und Besonderheit sind offenkundig relational, während das Einzelne subkutan relational ist. Die drei Begriffsbestimmungen sind also nur in der Beziehung aufeinander wirklich und nur in dieser begriffsreflexiven Weise begriffen. Der Verstand fixiert diese Bestimmungen, wenn er sie als unabhängig von einander setzt und diese Vereinzelungen ohne Relationalität vorstellt. Dialektische Urteilskraft hingegen begreift die Bestimmungen des Begriffs als „lebendige Bewegungen; die unterschiedene Bestimmtheit der einen Seite ist unmittelbar auch der andern innerlich“ (GW 12, S. 47). Das Einzelne hat ebenfalls eine relationale Ontologie, die insofern komplexer als die von Allgemeinheit und Besonderheit ist, als dass das Einzelne gesetzte, „vermittelte Unmittelbarkeit“ ist. Das Einzelne ist das, was den Schein seiner Selbständigkeit, seines Getrenntseins an sich trägt. Das Einzelne ist keine Singularität, die das Ganzandere

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von Allgemeinheit und Besonderheit wäre. Denn das Einzelne ist die „Abstraction welche den Begriff nach seinem ideellen Momente des Seyns, als ein unmittelbares bestimmt“. Dem Einzelnen ist so „die Unmittelbarkeit des Seyns eingemischt“ (ebd., S. 51). Begriffliche Bestimmungen berechtigen als solche nicht zu Existenzaussagen, da in der Existenz des Einzelnen Negativität oder Spontaneität in einer Form ins Spiel kommt, die dem Begriff fremd ist, als die Kontingenz und Zufälligkeit des unmittelbaren Lebens. Ein Einzelnes fasst ein Dieses, das aus seiner allgemeinen Struktur nicht deduktiv ableitbar ist, dennoch an dessen Fortbestimmung Anteil hat. Es ist wichtig, die Strukturmerkmale des reinen Begriffs so zu verstehen, dass klar wird, dass und warum ihnen keine Dinge entsprechen. Kein Ding ist als solches ein Allgemeines, Besonderes oder Einzelnes. Die Welt besteht nicht aus Dingen mit Eigenschaften, sondern aus Relationen, die sich als Objekte manifestieren, indem sie ein Fürsichsein in diesen Relationen ausbilden. Den abstrakten Strukturmerkmalen des Begriffs von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit entspricht so ontisch nichts. Das Einzelne als Einzelnes trägt den „Schein der Erscheinung als des Identischen“ (ebd., S. 35). Das Einzelne als begrifflich strukturiert zu denken, vermittelt den Schein der Erscheinung und erlaubt es, falschen Schein und wahren Anschein zu differenzieren. Zwecks dieser Differenzierung reflektiert das begreifende Denken die Dinge der Anschauung durch die Bestimmungen des Begriffs. Das heißt, alle Dinge können als Einzelnes, Besonderes und Allgemeines untersucht werden. Diese Hinsichten berechtigen zu je anderen Konsequenzen und gehen als solche Berechtigungszüge je andere Begründunsgpflichten ein. Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit sind analytische Hinsichten, die aber der Sache selbst nicht äußerlich sind. Die Unterscheidung von analytischen Hinsichten am Modell von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit erlaubt die positive Erläuterung des hegelschen Einzelnen. Das Einzelne ist keine konsistente und gegebene Größe, sondern reflektiert die Spannung des Allgemeinen: „Das Einzelne nun ist […] das aus der Vermittlung hergestellte Unmittelbare; es hat sie [die Vermittlung] aber nicht ausser

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ihm, es ist selbst repellirende Abscheidung, die gesetzte Abstraction, aber in seiner Abscheidung selbst positive Beziehung“. Die Einzelheit setzt sich so „nicht in einem äußerlichen, sondern im Begriffsunterschiede; sie schließt also Allgemeines von sich aus, aber da dieses Moment ihrer selbst ist, so bezieht [es] sich eben so wesentlich auf sie“ (GW 12, S. 52). Das Einzelne realisiert sich also als Verkörperung des (konkreten) Allgemeinen und hat in ihm seine Substanz. Aber es geht in dieser Realisierung nicht vollständig auf und bleibt dem Allgemeinen ein rebellierendes Anderes, dem es widerspricht, wenn das Allgemeine es in freier Liebe einzuschließen oder es als Gewalt aus sich auszuschließen sucht. Die Begriffsbestimmungen stiften so keinen harmonischen, konsistenten Zusammenhang, denn sie gehen nicht restlos ineinander auf. Es gibt zwischen ihnen keine neutrale Null. Einerseits geht das Einzelne nicht im Allgemeinen auf, vermag es doch, sich der gewaltsamen Zurichtung des Verstandes zu entziehen und auf Basis seiner Lebendigkeit Einspruch gegen dessen schematische Generalisierungen zu erheben. Es bleibt eine „repellirende Abscheidung“. Das Einzelne repelliert aber nicht, weil es eine präreflexive Instanz wäre, sondern weil es ein irreduzibles Moment des Zufalls enthält, weshalb die gesetzte Unmittelbarkeit nicht deduktiv aus dem Begriff gewonnen werden kann. Das wäre eine unstatthafte Reifizierung begrifflicher Strukturen.38 Anderseits aber – und das ist nicht minder wichtig – geht das Allgemeine konstitutiv in keinem Einzelnen auf. Zwar findet sich konkrete Allgemeinheit in seinen Einzelnen je partikularisiert und so fortbestimmt, aber keine seiner Einzelheiten drückt das Allgemeine vollständig und selbstverständlich aus. Das Allgemeine kann Einspruch erheben gegen die beliebige Verflüssigung seiner Substanz. Nicht jede gesetzte Unmittelbarkeit bestimmt das Allgemeine fort. Die Spannung des Allgemeinen wiederum ist, dass es als sich gleich bleibende Substanz ebenfalls ein38

Hegel verletzt dieses Gebot zuweilen selbst, wenn er etwa in der Ästhetik aus dem Begriff der klassischen Kunst die Monochromie der Statuen der Klassik ableitet (GW 28.1, S. 461).

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seitig und verstandesmäßig gefasst ist. Das Allgemeine hat keine in sich ruhende Selbständigkeit, sondern hat vielmehr eine Plastizität, die Beharrlichkeit und Fluidität kennt. Folglich ist das Allgemeine abhängig von seiner Fortbestimmung durch Besonderung und Vereinzelung. Der Konflikt von Allgemeinheit und Besonderheit wird ausgetragen als Kampf um Deutung und Anerkennung des Einzelnen. Stellt ein Einzelnes eine spezifische Verkörperung und somit Fortbestimmung seines Allgemeinen dar? Dann ist es als solches gegen die Fixierungen des Verstandes und seinem Festhalten am starren Schema anzuerkennen. Hier spricht die Liebe des Geistes gegen die analytische Kälte des Verstandes, der Gleiches ungleich behandelt. Oder aber ein Einzelnes ist gerade nicht sachlich gefasst als Fortbestimmung seines Allgemeinen. Es als eine weitere Spezifikation des Allgemeinen anzuerkennen, hieße, die begriffliche Bestimmtheit des Allgemeinen aufzulösen und Ungleiches gleich zu machen. Hier widerspricht der kühle Verstand einer Liebe, die in systematische Gleichgültigkeit umschlägt. Die Arbeit am Begriff verläuft entlang solcher Konfliktlinien. Für diese Konflikte um begriffliche Bestimmtheit invariante formalistische Lösungen zu suchen, wäre ein Akt hilfloser Reflexion. In diesem Streit eine Position zu beziehen, setzt vielmehr voraus, die Differenz von Sinn und Bedeutung explizit machen zu können. Dabei hilft in der Tat die Reflexion auf die logische Form. Auf Basis der so rekonstruierten Überlegungen rechtfertigen wir es, mit Hegel Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit als die strukturierenden Formprinzipien des Begriffs zu fassen. Der Begriff ist dasjenige, was sich innerhalb dieser Struktur manifestiert: „Der Begriff in seine abstrakten Momente dirimiert, hat die Einzelheit und Allgemeinheit zu seinen Extremen, und er selbst erscheint als die zwischen ihnen stehende Besonderheit“ (ebd., S. 92). Die Begriffsbestimmungen von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind aber bisher nur die „abstrakten Momente“ des Begriffs. Warum das so ist, wird klarer durch die Erinnerung an die Dialektik der Reflexion der Wesenslogik. Die Begriffsbestimmungen bilden nach unserem

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Interpretationsvorschlag die kategorialen Strukturen, mittels derer Gedanken auf die Welt referieren. Es ist aber noch eine Präsupposition, dass die Begriffsbestimmungen tatsächlich objektive Bestimmungen sind. Ihre Differenz wie Vermitteltheit muss als durch das Denken selbst hervorgebracht verständlich werden. Die setzende, rein begriffliche Reflexion muss sich rekursiv begründen. Diese Begründung gibt Hegel durch die Analyse des Urteils, in der äußere und bestimmende Reflexion ihren praktischen Kontext finden. „Das Urtheil kann daher als die nächste Realisierung des Begriffs genannt werden, insofern die Realität das Treten ins Daseyn als bestimmtes Seyn, überhaupt bezeichnet“ (GW 12, S. 53). Wir können dabei Taylor darin folgen, dass das Urteil nicht allein als „Setzen“ einer positiven Bestimmung gefasst werden kann, sondern wesentlich in der „Bewegung der Diremtion oder Entzweiung [besteht], die allem zugrunde liegt und der später durch eine Rückkehr zur Einheit entsprochen wird“.39 Die Reflexion verliert in der Urteils-Setzung ihren innerlichen, prä-propositionalen Charakter und wird Moment expressiver Praxis. Im Urteilen geht es wesentlich darum, die Differenz von Denken und Welt hervorzubringen. „Das Urteil ist“, in den Worten von Theunissen, so „nicht nur der Ort der Wahrheit, den die Tradition in ihm gesucht hat, sondern die Wahrheit selber, aber als Geschehen.“ Wahrheit ist, dialethisch verstanden, ein Geschehen, eine Praxis. Wahrheit ist eine Praxis, „in der Wahrheit durch die Auflösung von Schein zum Vor-Schein kommt“.40 Die Auflösung von Schein, heißt, die fixen Gegensätze und Schemata des analytischen Verstandes zu verflüssigen. Im Urteil öffnet sich der Geist so zur Welt, indem er Begriff und Welt differenziert. Das Ziel der Urteilslehre ist das „absolute Urtheil über alle Wirklichkeit“ (ebd., S. 88), das für Hegel die Trennung von Sein und Sollen begründen wird. 39 40

Taylor, Hegel, S. 403. Theunissen, Sein und Schein, S. 427.

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8.1.2 Der Begriff als Urteil Die Lehre des Urteils ist der zweite Teil der Begriffslogik und konkretisiert die Bewegung des Begriffs, indem sie die Grundformen typologisiert, in denen der Begriff im Rahmen von Urteilspraktiken realisiert wird. Die verschiedenen Typen von Urteilen lassen sich mit Rückgriff auf die kantische Kategorientafel hinsichtlich ihrer Qualität, Quantität, Relationalität und Modalität unterscheiden.41 Kant schließt hier explizit an Aristoteles an und auch Hegel übernimmt im Wesentlichen diese propositionale Kategorientafel, wenn auch mit starken Modifikation in ihrer Herleitung: Qualität wird bei Hegel zum „Urteil des Daseyns“, Quantität zum „Urteil der Reflexion“, die Relationalität zum „Urteil der Notwendigkeit“. Schließlich konzeptualisiert Hegel die Modalität in der Struktur des „Urteils des Begriffs“. Diese vier Grundtypen enthalten je drei Urteilsarten. Das sind die zwölf Grundtypen, die Hegel aus der kantischen Urteilstafel immanent rekonstruiert. Sie weisen dabei einen modalen Charakter auf, lassen sich also rekombinieren. Das positive und das negative Urteil etwa sind so nicht auf die Urteile des Daseyns zu reduzieren, sondern präfigurieren auch in den komplexeren Urteilstypen. Methodisch ist die Urteilslehre stark an Kant orientiert. Auch Kants transzendentale Reflexion diskursiver Praktiken geht den Weg, über die Analyse der Formen der Urteile die Urteile über die Welt zu rechtfertigen. In pragmatischen Begriffen reformuliert lautet die kantische Frage, wie die Objektivität beschaffen sein muss, damit wir Sinn daraus machen können, dass wir Sinn aus ihr machen können.42 Das lässt sich auch gut als Hegels Frage verstehen. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied von transzendentaler und spekulativer Urteilslehre. Transzendentale Urteilslehre will das Unproblematische, Eindeutige und Sichere an der Struktur diskursiver Praxis aufzeigen und so der Sorge vor der Trennung von Subjekt 41 42

Vgl. zum Folgenden: Kant, KrV, B 106 f. Vgl.: Pippin, Realm of Shadows, S. 62.

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und Objekt, Geist und Welt ihren Grund nehmen.43 Spekulative Urteilslehre will im Gegenteil die Negativität und Offenheit der Sache selbst aus der Reflexion der Struktur des Urteils gewinnen. Die Offenheit in normativer Hinsicht wird der Inhalt des absoluten Urteils über alle Wirklichkeit sein. Die Wahrheit der Beziehung von Geist und Welt ist ihre Problematizität. Hegels Typologie der Urteile des Begriffs entlarvt jede philosophische Vorstellung der Relation von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Begriff, Welt und Geist als undialektisch und unwahr, die diese Beziehung als gesichert, geschlossen, gar konfliktfrei und widerspruchslos artikulieren will. Die Form der Relation von Denken und Welt hat Hegel mit der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs beschrieben. Die materiale Seite dieser Relation wird im vollen Sinne erst mit der Idee des Lebens zu fassen sein. Offene Normativität und Vielfalt ist der „innere Zweck“ des Lebens. Die Implikationen und Präsuppositionen der Idee der Vielfalt als innerem Zweck des Lebens bilden den systematischen Kern der hegelschen Begriffslehre. Einen zentralen Baustein für diesen Gedanken entwickelt Hegel in der Urteilslehre. Wir können den Unterschied zur transzendentalen Urteilslehre auch so fassen: Transzendentale Urteilslehre fasst die Differenz von Denken und Welt als gegeben auf und sucht nach philosophischen Mitteln, diese Differenz zu überwinden. Hegel hingegen begreift diese Differenz als etwas Hervorzubringendes. Das Urteil realisiert das Moment der Differenz von Denken und Welt. Das Urteil ist das Moment epistemischer Praxis, das die Differenz von Objekt und Beurteilung hervorbringt. In Urteilspraktiken beginnt die Subjektivität – die Idee in ihrem Fürsichsein – sich in ein Verhältnis zu ihrem Anderen, der Objektivität, zu setzen. Die Differenz von Begriff und Realität ist aber kein Gegebenes wie bei Kant, sondern selbst ein Resultat begrifflicher Praxis. Die prädikative Struktur des Begriffs erlaubt es, die Differenz von Geist und Welt zu gewinnen, 43

Vgl. zu diesem Programm eines zeitgenössischen Queitismus: McDowell, Mind and World, S. 93.

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die für die Freiheit des Denkens notwendig ist. Hegels Begriff des Begriffs wird nicht bei dieser Differenz bleiben, sondern mit der logischen Struktur des Schlusses die „Rückkehr des Begriffs aus seinem Anderen“ erläutern. Für eine Theorie der konkreten Identität von Begriff und Welt braucht es aber das Moment der Differenz, das das Urteil realisiert. Es bedarf, um den reinen Begriff zu bestimmen, der Dimension der Differenz. Die Beziehungen von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ist solange abstrakt, wie sie nicht als eine Verbindung von Subjekt und Prädikat durch eine Copula gesetzt wird, also durch eine Differenz verbunden wird. Diese Betonung der systematischen Differenz von Denken und Welt unterscheidet die folgende Lesart von Lesarten, die die Differenz zu Aristoteles und Kant anders gewichten.44 Auch Theunissen fasst im Rahmen seiner Überlegungen die Urteilslehre in ihrem logisch-ontologischen Vorrang vor dem reinen Begriff und räumt der Urteilslehre sogar eine „Schlüsselstellung“ vor dem Schluss ein.45 Diese Lesarten betonen die Kontinuität der hegelschen Syllogistik mit ihren traditionellen Vorläufern. Die These der Kontinuität ist in exegetischer Hinsicht allerdings problematisch, fasst doch Hegel sehr unmissverständlich erst den Schluss als „vollständig gesetzte[n] Begriff“ auf. „Alles Vernünftige ist ein Schluß“ (GW 12, S. 90) – kein Urteil. Erst im Schluss realisiert die Bewegung des subjektiven Begriffs die Offenheit des Geistes für die Sache selbst. Offenheit im vollen Sinne ist in Hegels Logik erst da erreicht, wo sie am reichsten entwickelt ist, im Schluss der absoluten Idee. Um das Verständnis von konkreter Allgemeinheit – des Schlusses, der das Vernünftige ist – als vermittelter Pluralität zu gewinnen, fokussieren wir an der Urteilslehre von Hegel auf die systematischen Aspekte konkreter Allgemeinheit. Das Folgende versteht sich als eine Rekonstruktion, die den Fokus auf die Logik der Pluralität des Geistes legt. Wir stellen daher die Urteile etwas anders dar als Hegel, der sehr großen Wert darauf legt, die Urteile nicht äußerlich aufzu44 45

Wir gewichten die Differenz viel stärker als etwa Pippin. Vgl.: Pippin, Realm of Shadows, S. 63. Theunissen, Sein und Schein, S. 422.

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listen, sondern systematisch zu verbinden. Der „weitere Fortgang des Urtheils in die Verschiedenheit der Urtheile ist die Fortbestimmung des Begriffs“ (GW 12, S. 53). Der Nachteil seiner Darstellung liegt in der Suggestion, dass es sich um eine teleogische Genese handeln würde, in der die Vorläufer von ihren Nachfolgern absorbiert würden. Es geht aber um eine Typologie der Vielfalt propositionaler Praxis. Beginnen wir elementar. Was ist überhaupt ein Urteil? Das Urteil ist, so die These, eine zentrale Struktur epistemischer Praxis. Es ist sozusagen die kleinste Einheit im Wahrheitsgeschehen, ein Zug im Sprachspiel epistemischer Praxis. Das Urteil lässt sich als die kleinste Einheit bezeichnen, für die jemand, Brandoms „recognitive model“ folgend, epistemische Verantwortung tragen kann.46 Mit Urteilen gehen wir Festlegungen ein und werben diskursiv um die Anerkennung ihrer deontischen Berechtigung seitens der Sprachgemeinschaft.47 Ein Urteil artikuliert eine materiale Implikation, also die Voraussetzungs- respektive Implikationsbeziehung der Sachverhalte, auf die es sich bezieht. Die Pragmatik des Urteils besteht darin, sich im Kontext diskursiver Praxis auf die Voraussetzungen festzulegen, die der Inhalt der Urteile fordert, die jemand vertritt. Die basale Einheit von epistemischer Praxis ist der prädikative Akt einer Verbindung von Subjekt und Prädikat, einer in der Struktur der Sache selbst zu begründenden Synthese. Diese Verbindung von einem Subjekt S und einem Prädikat P bezeichnet der Terminus der Copula. Er beschreibt die Form ihrer Verbindung. Jedes Urteil ist formal darstellbar als „S ist P“, wobei „ist“ die Verbindung von S und P ausdrückt. Eine Copula stellt nur eine Identitätsfunktion dar, die S und P miteinander in Beziehung setzt. Die Identitätsfunktion kann reformuliert werden als: „P wird S zugesprochen“ oder „P kommt S zu“. Die Form des Urteils besteht in der Funktion der Copula, S und P zu verbinden. Diese Funkti46 47

Brandom, „A Hegelian Model of Legal Concept Determination“, S. 29. Vgl. zur Grammatik von „commitments“ und „entitlements“ im Rahmen einer an Hegel orientierten, normativen Sprachpragmatik: Brandom, Making it Explicit, S. 141–197.

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on des „ist“ muss vom Existenzquantor differenziert werden.48 Das „ist“ der Copula ist so nicht synonym mit „existiert“ und verpflichtet nicht zu einer Existenzaussage. Die Grammatik des Urteils besteht in der Zuweisung von P an S. In pragmatischer Hinsicht heißt das, dass sich eine Sprecher*in auf diesen Inhalt, diese Zuweisung im Urteil festlegt, wenn sie das Urteil affirmiert. „S ist P“ ist nur die abstrakte Form des Urteils, zeigt sie doch verschiedene Strukturen, die zusammen die „dialektische Bewegung des Urteils“ ausmachen (ebd., S. 31). Die Dialektik des Urteils zeigt sich darin, dass die Copula sowohl die Identität von S und P ausdrückt als auch deren Differenz. Das „Ziel der Bewegung des Urteils“ ist ein Verständnis des propositionalen Zusammenhangs von Identität und Differenz (ebd., S. 59). S und P sind identisch, weil sie erst in einer Beziehung aufeinander wirklich sind. Ein Subjekt ohne Prädikat ist ein leeres Unbestimmtes, ein Prädikat ohne Subjekt eine leere Menge: „Gott, Geist, Natur oder was es sey, ist daher als das Subjekt eines Urtheils nur erst der Nahme; was ein solches Subject ist, dem Begriffe nach, ist erst im Prädikat vorhanden.“ Hegel assoziiert hier den unbestimmten Namen mit dem kantischen Ding-an-sich, dem Ding ohne Eigenschaften (ebd., S. 54 f.). Mit der Unterscheidung von Name und Begriff können wir in pragmatischer Hinsicht mittels einer Analogie näher bestimmen, was das Subjekt eines Urteils ist: Namen verhalten sich zu Subjekten wie Sätze zu Urteilen. Hegel gibt folgendes, fast schon wittgensteinianisches Beispiel für den pragmatischen Unterschied von Satz und Urteil: „So ist die Nachricht: mein Freund N. ist gestorben, ein Satz; und wäre nur dann ein Urtheil, wenn die Frage wäre, ob er wirklich todt, oder nur scheintodt wäre.“ Dieselbe Wortfolge kann also sowohl Satz als auch Urteil sein, hängt es doch davon ab, in welchem Kontext sie vertreten wird. In Urteilen legen wir uns auf Inhalte fest, die „in Zweiffel gestellt“ sind (ebd., S. 56). Urteile haben in Kontroversen ihren jeweiligen Kontext, ihr Sprachspiel. Sätze sind 48

Wenn wir beispielsweise aussagen: „S ist unmöglich“, dann weisen wir dem S eine Modaleigenschaft zu, die negiert, dass S existieren kann.

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unkontroverse Beschreibungen von Sachverhalten, Urteile drücken hingegen Festlegungen aus, die kontrovers sind. Urteile bestimmen das Zugrundeliegende, das subjectum, indem sie dessen Inhalt explizieren und einen Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Das tun sie dadurch, dass sie eine Folgerung aus dem Inhalt ableiten. Urteile verallgemeinern S, indem sie aus der Natur des S folgern, dass S P ist. „S ist P“ heißt also, S impliziert P material beziehungsweise S setzt P voraus. Die affirmierten Implikations- und Präsuppositionsbeziehung eines Urteils legen daraus fest, dass die Relation von S und P eine Beziehung tatsächlich, also material, begründet. Anders als ein Satz setzt ein Urteil ein Subjekt in eine Relation mit dem Prädikat, die eine Folgerung erlaubt, da an der Subjektstelle eine Teilmenge der Menge steht, die das Prädikat umfasst. Urteile gehen so über den Einzelfall hinaus und erheben Anspruch auf Allgemeinheit. Urteile bedürfen damit des Anspruchs, mehr zu sagen als ein bloßer Satz. Aufgrund der Bewegung der Verallgemeinerung sind Urteile genuin problematisch. Die strukturellen Merkmale der materialen Beziehung von S und P differenziert Hegel anhand der drei Begriffsbestimmungen von Einzelheit (E), Besonderheit (B) und Allgemeinheit (A). In Urteilen konfigurieren E, B und A unterschiedlich. Urteile weisen einem Einzelnen erstens eine allgemeine Eigenschaft zu: „Sokrates ist sterblich.“ Zweitens kann einem Besonderen eine allgemeine Eigenschaft zugeschrieben werden: „Menschliches ist Sterbliches.“ Drittens wird von einem Einzelnen ein besonderes Prädikat abgeleitet: „Sokrates ist menschlich.“ 49 Für die Begründung in der Sache, dass S und P in materialer Beziehung stehen, P also S zugeschrieben werden kann, ist es, wofür wir in epistemischen Sprachspielen und Kontroversen „kognitive Verantwortung“ tragen. Die Implikation, die ein Urteil 49

Frege wird die Implikationsbeziehung mengentheoretisch darstellen und die Ansicht vertreten, das logische Vokabular der Syllogistik sei ohne Bedeutungsänderung ersetzbar durch wahrheitsfunktionale und quantorenlogische Ausdrücke. Vgl. als detaillierte Zurückweisung dieser These im Sinne der Eigenständigkeit der Syllogistik: Wolff, Abhandlung über die Prinzipien der Logik.

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zum Inhalt hat, leitet aus S ein P ab, da S die Eigenschaft P hat: „S ist P.“ S und P bilden eine Identität, da P entweder die Beschaffenheit des S spezifiziert oder S den Umfang von P angibt. Nun besteht aber die Feinstruktur des Urteils nicht nur aus der Identität von Subjekt und Prädikat: Ihre Differenz ist Teil ihrer Beziehung. S ist auch nicht P. Sokrates ist zwar menschlich, aber Sokrates hat auch andere Eigenschaften als menschlich zu sein, „Sokrates ist Philosoph.“ Urteile, die von einem S eine seiner Eigenschaften prädizieren, artikulieren eine Inhärenzbeziehung. P ist dem S inhärent, innewohnend, aber S hat noch andere Eigenschaften wie P‘. Da P und P‘ dem S inhärent ist, sind S und P nicht identisch. Urteile der Inhärenz machen die Beschaffenheit des S explizit, auf die sich das Erkenntnissubjekt festlegt. Hegel fasst diese Urteile als Urteile des Daseins. Urteile hingegen, die zu einem Prädikat angeben, auf welche Subjekte sie zutreffen, subsumieren S unter P. S‘ kann ebenfalls ein Fall von P sein. Da P hier S und S‘ enthält, sind S und P ebensowenig identisch. Urteile der Subsumption explizieren den Umfang eines Prädikats. Das sind die hegelschen Urteile der Reflexion. Die Unterscheidung von Umfang und Beschaffenheit lässt sich systematisch auch so fassen, dass Urteile des Daseins die Implikationen eines Begriffs explizieren, während Urteile der Reflexion dessen Präsuppositionen ausführen. Nehmen wir als Beispiel das Urteil: „Spekulative Logik ist dialethische Logik.“ Dieses Urteil hat darin einen Umfang, dass es zu weiteren Urteilen berechtigt. Wenn es nämlich gilt, dann gilt auch: „Transzendentale Lesarten Hegels sind einseitige Lesarten.“ Die Implikationen eines Urteils bestehen, sprachpragmatisch gesagt, in den weiteren Spielzügen, zu denen es berechtigt, sofern dessen Allgemeinheit anerkannt ist. In Implikationsbeziehungen fungiert das erste Urteil als Prämisse weiteren Nachdenkens. Die Anerkennung des implizierten Umfangs ist von hier aus gut als konfliktuöse Praxis zu fassen. Ob der Dialethismus tatsächlich zum Schluss berechtigt, dass Hegels Logik auf transzendentale Weise nicht adäquat zu fassen ist, könnte etwa durch eine spekulative Lesart Kants bestritten werden, die auf die Spannung zwischen transzendentaler und spekulativer Reflexion aufmerksam macht. In

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Streitfällen kann es also sehr hilfreich sein, geteilte Urteile zu identifizieren, um zu lokalisieren, wo der Dissens liegt. Wir können Prämissen teilen, ohne daraus dieselben Implikationen berechtigt zu sehen. Umgekehrt können wir Schlüsse teilen, auch wenn wir sie auf Basis unterschiedlicher Urteile und Voraussetzungen begründen. Die Implikationen eines Urteils verstehen wir als die damit erworbenen Berechtigungen. Die Präsuppositonen sind hingegen die Voraussetzungen eines Urteils, nicht sein Umfang. Wir blicken sozusagen in die umgekehrte Richtung: Was also muss als wahr behauptet werden, damit ein Urteil begründet wird? Auch hier ist Allgemeinheit in einer kontroversen Weise im Spiel, denn die Präsupposition bedarf einer methodisch transparenten Aufleitung. Es geht hier also um Begründungsstrategien. Was sind denn gute Gründe, ein bestimmtes Urteil anzuerkennen? So ließe sich im Sinne des Beispielurteils vom Dialethismus anführen, dass Lesarten umso überzeugender sind, je mehr textuelle Evidenz sie aufweisen. Das mag nun sowohl auf der Objektebene als auch auf der Metaebene bestritten werden. Es können also sowohl gegenläufige Textstellen angeführt als auch die Idee kritisiert werden, die Überzeugungskraft einer Position ergebe sich aus ihrer Nähe zur ursprünglichen Intention. Den ersten Grundtyp der spekulativen Urteilslehre nun bilden die Urteile der Inhärenzbeziehung, die von Hegel sogenannten „Urteile des Daseyns“. Das Subjekt des Urteils wird hier nicht als ein Einzelnes gefasst, sondern als das Allgemeine seiner Eigenschaften, die ihm inhärieren. Wir können das Urteil des Daseins und den zweiten Grundtyp anhand der Unterscheidung der Modalität von de dicto und de re spezifizieren. In Urteilen des Daseins und der Reflexion wird das Subjekt de re interpretiert, es ist also das Allgemeine seiner Eigenschaften, die ihm innewohnen. In der hegelschen Darstellung bleibt offen, ob die Prädikate dem Subjekt notwendig oder bloß zufällig zukommen.50 Um Notwendigkeit oder Zufälligkeit der 50

Quine vertritt die Auffassung, dass logische Notwendigkeit allein in der Sprache begründet ist und es keinen Sinn hat, Dingen als solchen not-

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Prädikate, die S innewohnen, zu bestimmen, braucht es aus Hegels Perspektive komplexere logische Beziehungen, als sie die Urteile des Daseins und der Reflexion zu artikulieren erlauben. Die Urteile der Inhärenz enthalten als Arten positive, negative oder unendliche Formen. 1) Positive Urteile der Inhärenz affirmieren P als in S enthalten. Ein Beispiel ist schnell zur Hand: „Dieses Buch ist rot.“ Dem S inhäriert das Prädikat einer bestimmten Farbe. 2) Negative Urteile verneinen ein solches Innewohnen, wie in: „Sokrates ist nicht persisch.“ Negative Urteile negieren die Inhärenz des P in S, aber P kann unter anderen Bedingungen S zukommen. Zwar schließen sich P und P‘ aus, aber sie sind zugleich hinreichend ähnlich und bilden die „allgemeine Sphäre“ der möglichen Prädikate von S (GW 12, S. 68). Weiterhin gilt: P und P‘ können kontradiktorisch sein, dann muss aufgrund des ausgeschlossenen Dritten entweder P oder P‘ dem S innewohne. „Sokrates ist Grieche“ oder „Sokrates ist Nichtgrieche“, ein Drittes gibt es nicht. Oder P und P‘ sind konträr, dann können beide Prädikate S auch nicht zukommen. „Sokrates ist Amerikaner“ oder „Sokrates ist Perser“. 3) Genau diese gemeinsame Sphäre wird im unendlichen Urteil negiert. Im negativ-unendlichen Urteil kommt einem S ein P nicht zu, das ihm nicht zukommen kann, im positiv-unendlichen eines, das ihm per definitionem zukommen muss. Hegel gibt eine Beispielliste negativ-unendlicher Urteile. „Der Geist ist nicht roth, gelb u.s.f., nicht sauer, nicht kalisch u.s.f., die Rose kein Elephant, der Verstand kein Tisch“ (ebd., S. 70). Ihr Inhalt mag wahr sein – da diese Verknüpfungen keine Implikation aus S ziehen, bilden sie eigentlich nur Sätze, keine Urteile. Alles kann mit allem verglichen werden kann, um dann auf Basis dieses Vergleichs die Nichtidentität festzustellen. Ein Vergleich thematisiert aber eine unwesentliche, subjektiv-beliebige Relation. Negativ-unendliche Urteile sind Urwendige Eigenschaften zuzuschreiben. Sprachliche Ausdrücke de re zu interpretieren ist nach Quine unzulässig, weil inferentielle Notwendigkeit eine allein binnenlogische, analytische Kategorie sei. Vgl.: Quine, Word and Object, § 41.

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teile, deren Negationen einen Kategorienfehler darstellen. So kann ihre Gewissheit nicht vernünftig bestritten werden. Deshalb sind negativ-unendliche Urteile sinnlos und widersinnig. Für die positiv-unendlichen Urteile gilt ebenfalls, dass sie nicht sinnvoll bestritten werden können. Sie drücken bloße Tautologien aus. Es gibt unendlich viele Tautologien, da nur von einem S gesagt werden muss, dass ihm die Eigenschaft P innewohnt und P wesentlich S meint. So ist zwar der Satz „Tische sind Tische.“ gewiss, aber er bildet kein Urteil, da seine Negation „Tisch sind nicht Tische“ widersinnig wäre. Im spekulativen Sinne sind Tautologien triviale Sätze, keine Urteile. Als Urteile sind sie notwendig, das heißt aufgrund ihrer Form unwahr. Dieses Resultat ist explizit festzuhalten, bedeutet es doch eine Absage an die klassische Logik. Klassische Logiken begreifen den Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs als Axiom und definieren Tautologien als logische Wahrheit. Hegels spekulative und dialethische Logik folgt einer gegensätzlichen Axiomatik, aus der folgt, dass Tautologien konstitutiv unwahr sind. Tautologien und Kategorienfehler sind zu unbestimmt, um begriffliche Wahrheit zu artikulieren. Sie erlauben es nicht, materiale Aussagen zu artikulieren und zu Inferenzen zu berechtigen. Begrifflicher Gehalt bedarf um seiner Bestimmtheit willen der Bewegung seiner Fortbestimmung. Aufschlussreich ist nun ein „reelleres Beyspiel des unendlichen Urteils“, das Hegel für den Unterschied von negativen und unendlich-negativen Urteilen angibt. Ein negatives Urteil entspricht dem „bürgerlichen Rechtsstreit“, bei dem zwar das Eigentum einer Konfliktpartei negiert wird, zugleich aber eingeräumt wird, „es sollte das ihrige seyn, wenn sie das Recht dazu hätte“ (GW 12, S. 70). Das bestimmte Recht an diesen Gegenstand wird negiert, aber nicht das Recht als Recht. Dem Verbrechen entspricht ein unendlich-negatives Urteil, da hier das Recht als Recht negiert wird. Reell negative Urteile und reell negativ-unendliche Urteile verhalten sich, um es mit Begriffen des objektiven Geistes zu sagen, wie Konflikt und Kollision zueinander (vgl.: GW 14.1, § 85).

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Das unendliche Urteil ist insgesamt ein Urteil, dass nur noch der Form nach propositional ist, aber keinen Inhalt mehr hat, der in Frage gestellt werden könnte. Da bei Kategorienfehlern und Tautologien keine Bewegung zwischen Form und Inhalt geschieht, bilden sie keine Urteile im Sinne der Doppelbewegung von Identität und Differenz, von Subjekt und Prädikat. So kommen sie zu keiner wechselseitigen Fortbestimmung und sie bleiben unvermittelte Selbständige. Deshalb bezeichnet Hegel diesen Grundtyp auch als Urteil der Unmittelbarkeit. Der zweite Grundtyp entspricht der Kategorie der Quantität. Ihn bezeichnet Hegel als „Urteil der Reflexion“. Diese Terminologie entwickelt Hegel von der kantischen Lehre der Urteilskraft her. Es ist vor allem der Gedanke Kants leitend, nach dem reflexive Urteilskraft nicht in der schematischen Anwendung einer Regel besteht, sondern darin, die allgemeine Regel aus dem Besonderen zu gewinnen. An diesen Gedanken schließt Hegel an und deutet hier die Differenz von Subjekt und Prädikat so, dass das Subjekt eine Fortbestimmung des Prädikats darstellt. Reflexionsurteile können als „Urtheile der Subsumtion“ (GW 12, S. 72) gefasst werden, aber nicht im schematischen Sinne bloßer Anwendung, bloßer Instanziierung, sondern als Festlegung auf die Überzeugungskraft gewählter Begründungsstrategien. So kann im basalen Fall entweder auf Basis von bestimmten Einzelnen („Dieses eine”), unbestimmten Einzelnen („Diese einige“) oder unbestimmter Allgemeinheit („Diese alle“) eine Regel gewonnen werden. Es ergeben sich das singuläre, das partikulare und das universelle Urteil. 1) Im singulären Urteil wird von einem Einzelnen eine allgemeine Regel gewonnen. Ein Beispiel Hegels ist das Urteil „Diß Ding ist nützlich.“ Dieses Urteil über das Ding präsupponiert eine allgemeine Regel und geht eine Existenzannahme ein, nämlich, dass dieses „Dieses“ existiert. Die materiale Festlegung besteht darin, dass es eine solche allgemeine Regel gibt, nach der gilt, dass Dinge dieser Art nützlich sind. Es gilt aber auch das negativ-singuläre Urteil: „Nicht Dieses ist ein Nützliches.“ Dieses Urteil gilt, da andere Dinge, die nicht dieser Art sind, ebenfalls nützlich sind. Insofern erlaubt das

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singuläre Urteil ein gleichgültiges Bestehen seines positiven wie seines negativen Ausdrucks. Die vom singulären Urteil präsupponierte Allgemeinheit ist, dass so-und-so geartete Dinge nützlich sind. Die Negation ist damit aber kompatibel. Singuläre Urteile bringen als epistemische Verantwortung mit sich, material auf die Existenz einer Regel für die Ableitung des Prädikats festgelegt zu sein. Gleichwohl ist die empirische Basis für einen solchen Anspruch auf Allgemeinheit zu gering, wenn sie allein auf Basis eines Einzelfalls gewonnen wird. Die Präsupposition wird so nicht eingeholt. 2) Im partikularen Urteil werden der positive und der negative Ausdruck des singulären Urteils in einem Akt „äusserer Reflexion“ synthetisiert: „Wenn einige Dinge nützlich sind, so sind eben deßwegen einige Dinge nicht nützlich. Das positive und das negative Urtheil fallen nicht mehr auseinander, sondern das particulare enthält umittelbar beyde zugleich, eben weil es ein Reflexionsurtheil ist“ (GW 12, S. 73). Aufgrund dieser unmittelbaren, äußerlichen Synthese bleibt das partikulare Urteil aber unbestimmt. Dieser Mangel an Bestimmtheit ergibt sich nach Hegels Analyse daraus, dass die äußere Reflexion eine begriffslose Vorstellung von Allgemeinheit verfolgt, „äußere Reflexions-Allgemeinheit, Allheit“ (ebd., S. 74). Diese Allgemeinheit ergibt sich aus dem Zusammenfassen der Einzelnen und gewinnt eine „Gemeinschaftlichkeit, welche ihnen nur in der Vergleichung zukommt“ (ebd., S. 74). Äußere Reflexions-Allgemeinheit ist Verstandesallgemeinheit oder abstrakte Allgemeinheit. Dieser begriffslosen Allheit als Vorstellung von Allgemeinheit ist die Idee unbegreiflich, dass Differenz Teil der Allgemeinheit sein muss, damit sie wirkliche Allgemeinheit ist. Differenzlose Allgemeinheit ist von der „schlechten Unendlichkeit“ bloßer Wiederholung des Immergleichen nicht zu unterscheiden. 3) Die präsupponierte Allgemeinheit im partikularen Urteil führt zum universellen Urteil der Reflexion. Es gilt, einen Begriff von Allgemeinheit zu finden, der die wirkliche Allgemeinheit des Begriffs zu fassen erlaubt. Das Verbindende seiner Einzelnen ist keine unendliche Reihe von Gemeinschaftlichkeiten, sonst bliebe Allgemeinheit nur eine ins Unendliche fortlaufende Partikulari-

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tät. Die Allgemeinheit des Begriffs muss selbst als eine Einzelheit synthetisiert werden, als eine Totalität, die ihre inneren Differenzierungen als Momente, als Besonderungen, integrieren kann. So erst wird begriffliche Allgemeinheit als Struktur der Sache eingeholt. Die begriffliche Allgemeinheit als Struktur der Sache selbst liefert der Gattungsbegriff: „Was Allen Einzelnen einer Gattung zukommt, kommt durch ihre Natur, der Gattung zu“ (ebd., S. 77). Die bestimmende Reflexion stellt Allgemeinheit nicht mehr als eine differenzlose Allheit der unbestimmten Vielen, sondern als den inneren Zusammenhang ihrer Vielfalt vor. In diesem Begriff der Vielzahl als einer lebendigen Totalität erreicht das begriffliche Denken „objective Allgemeinheit“ (ebd., S. 77). Der Gattungsbegriff setzt dabei eine generellere Konzeption des Lebens, eine, um mit Thompson zu sprechen, reale „Grammatik der Repräsentation des Lebens“ voraus.51 Eine solche Grammatik muss es leisten, die Differenz der Formen des geistigen Lebens und des Lebens als solchem so zu erläutern, dass das Gemeinsame des Lebens in der Vielfalt seiner Formen begreifbar wird. Fassen wir zusammen: Der Gattungsbegriff erlaubt es, ein Einzelnes in seiner objektiven Allgemeinheit zu fassen. Ein Urteil über den Gegenstand zu vertreten, bedeutet Anspruch darauf zu erheben, etwas Substantielles über das Objekt des Urteils zu behaupten. Diese Urteile artikulieren also Notwendigkeit im Sinne der de re Interpretation. Damit präsupponieren sie material-begriffliche, objektive Zusammenhänge, die Hegel mit dem Gattungsbegriff fasst. Wir können den hegelschen Gattungsbegriff konturieren, indem wir ihn von dem Begriff der Substanz von Spinoza abgrenzen. Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen der spekulativen Logik der Gattung und der der spinozistischen Substanz. Das zeigt sich anhand des unterschiedlichen Verhältnisses der Gattung zu ihrem Anderen und der Substanz zu ihrem Anderen. Während „der Unterschied [der Gattung] immanent ist, [hat] die Substanz den ihrigen nur in ihren Accidenzen, nicht aber als Princip in 51

Thompson, „Forms of Nature“, S. 718.

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sich selbst“ (GW 12, S. 77). Die Arten einer Gattung sind der Gattung, anders als die Akzidenzien der Substanz, wesentlich. Mit der material-begrifflichen Basis im Gattungsbegriff steht das Urteil der Reflexion vor einem Begründungsproblem, denn mit dem Art-Gattungs-Verhältnis präsupponiert es material-begriffliche Strukturen, die es selbst nicht systematisieren kann. Das in der Verwandtschaft von Substanz-Akzidenz und Gattung-Art von Hegel selbst aufgeworfene Problem betrifft die Frage, wie diese Voraussetzung einzuholen sein wird. Wir werden das weiter unten zu problematisieren haben. Hegels Gattungsbegriff folgt nämlich einem problematischen Essentialismus der Lebensformen. Hegels Konzeptualismus bejaht die These der Existenz natürlicher Arten. Der damit investierte begriffliche Realismus fasst die natürlichen Arten aber als statisch und gegeben auf. Um an Hegels Begriffsaktualismus festhalten zu können, müssen wir also den Schematismus der natürlichen Arten dynamisieren. Im dritten Grundtyp des Urteils wird die Thematik der materialbegrifflichen Basis eines Urteils im Gattungsbegriff explizit. Hegel bezeichnet sie als „Urteile der Notwendigkeit“. Diese Terminologie orientiert sich auch an den Bestimmungen der Reflexion aus der Wesenslogik. Dort differenziert er Reflexion in „setzende“, „äußere“ und „bestimmende“ Reflexion (GW 11, S. 249–257). Die setzende Reflexion entspricht dem Urteil der Inhärenz und die äußere Reflexion dem Urteil der Subsumtion. Die bestimmende Reflexion baut auf diesen beiden Urteilen auf, da sie einen Gattungsbegriff voraussetzt und artikuliert, der die Vielheit der Einzelnen als Einheit, als Totalität, in sich differenziert. Insofern subsumieren Urteile der Notwendigkeit Einzelnes als Besonderes unter ein Allgemeines und drücken gleichzeitig die Inhärenz des Allgemeinen im Einzelnen aus. Die bestimmende Reflexion artikuliert Urteile mit Notwendigkeit. Ihre Prädikation begründet diese Notwendigkeit de dicto. Als Subjekt des Urteils stellt es eine Besonderung, eine Art einer Gattung, dar. Deswegen ist das Subjekt so-und-so bestimmt. Die Notwendigkeit dieser Urteilstypen gründet also im Gattungsbegriff. Die drei Untertypen artikulieren die Binnenstruktur der Gattung.

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1) Das kategorische Urteil artikuliert die Binnenstruktur einer Gattung, indem sie dessen Arten spezifiziert. Etwas ist nur Gattung, insofern es „Arten unter sich begreift; die Art ist Art nur, insofern sie einerseits in Einzelnen existirt, andererseits in der Gattung eine höhere Allgemeinheit hat“ (GW 12, S. 77 f.). Im Art-GattungsVerhältnis hat die objektive Allgemeinheit ihre „erste Particularisation“ im Oberbegriff und artspezifischen Begriffsmerkmal. Im Falle von Lebensformen artikuliert ein kategorisches Urteil die Natur des Subjekts, indem sie dessen spezifische Merkmale im Rekurs auf die Bestimmungen der jeweiligen Gattung artikuliert. Das kategorische Urteil artikuliert damit die wesentlichen Merkmale einer Art im koordinierten Verhältnis zur Gattung. Mit Blick auf das kategorische Urteil ist dessen Unterschied zum Urteil des Daseins auszumachen, das die Implikate eines Urteils explizit macht. Wie die Urteile der Inhärenz prädizieren kategorische Urteile von Subjekten eine bestimmte Eigenschaft. Das ist der Genus proximum, ihre nächste Allgemeinheit. Ihre differentia specifica, ihr eigentümlicher Unterschied, liegt darin, dass die Inhärenzurteile das Enthaltensein von P in S als unmittelbar, also mit Anspruch auf Notwendigkeit oder Zufälligkeit der Prädikation, vorstellen, während kategorische Urteile sie vermittelt mit der Totalität der Gattung in ihrer systematischen Notwendigkeit erfassen. So artikuliert ein kategorisches Urteil ein begriffliches, also ein systematisches Verhältnis. Der Gegenstand einer Prädikation wird de dicto bestimmt. Er ist bestimmt als Einzelnes einer Allgemeinheit. 2) Den nächsten Subtyp der Artikulation systematischer Notwendigkeit stellt das hypothetische Urteil dar, das ebenfalls koordinierende systematische Zusammenhänge artikuliert. Kategorische wie hypothetische Urteile machen Reflexionsverhältnisse der objektiven Welt explizit. Indem sie die Präsuppositionen eines Urteils des Daseins artikulieren, berechtigen sie dazu, es zu vertreten. Die differentia specifica von kategorischen und hypothetischen Urteilen ergibt sich aus dem Unterschied der artikulierten Relation. Kategorische Urteile artikulieren substantielle Verhältnisse, hypothetische Urteile dynamische Verhältnisse, wie Grund und Folge, Ur-

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sache und Wirkung, Bedingung und Bedingtes (GW 12, S. 79). Damit drücken diese Urteile eine systematische Notwendigkeit aus, die die ontologische Stumpfheit des Satzes der Identität zurückverweist, der für Hegel bereits durch jedes hypothetische Urteil widerlegt wird, auch wenn der Verstand diese Widerlegung laufend vergisst. Die ontologische Stumpfheit des Satzes der Identität von Leibniz fasst Identität als Sich-selbst-Gleichheit, als Selbstäquivalenz, „im hypothetischen Urtheil ist dagegen das Seyn der endlichen Dinge nach ihrer formellen Wahrheit durch den Begriff gesetzt, daß nemlich das Endliche sein eigenes Seyn, aber eben so sehr nicht das seinige, sondern das Seyn eines Anderen ist. […] Der Begriff ist diß, daß diese Identität gesetzt ist, und daß das Seyende nicht die abstrakte Identität mit sich, sondern die concrete ist, und unmittelbar an ihm selbst, das Seyn eines anderen“ (ebd., S. 79).

Als Artikulation der grundständigen Relationalität der Objektivität – „Sein ist immer das je seinige Sein und das Sein eines anderen“ – drückt das hypothetische Urteil systematische Notwendigkeit aus. Die Bezogenheit, die in diesem Urteil explizit gemacht wird, artikuliert materiale Festlegungen. Das Vorliegen eines S ist derart, dass es für S‘ hinreichend respektive notwendig ist. Ähnlich wie singuläre und partikulare Urteile machen hypothetische Urteile Präsuppositionen von der Existenz ihrer Gegenstände, geben aber in der Allgemeinheit und Regelhaftigkeit der Folgerelation einen Grund des Übergangs von S auf S‘. 3) Im disjunktiven Urteil kommt eine Weise zur Sprache, objektive Relationen systematisch zu begründen. Disjunktive Ureile artikulieren weitere Relationen der zugrundeliegenden Gattung und führen so auf den Gattungsbegriff, der im kategorischen Urteil bereits thematisch war, zurück. Kategorische und disjunktive Urteile sind darin gleich, dass sie Substanzrelationen artikulieren, und unterscheiden sich darin, wie sie es tun. Während kategorische Urteile koordinieren, also eine Gattung in ihre Arten spezifizieren, ordinieren disjunktive Urteil die Arten zu einander. Arten einer Gattung G sind entweder A, A’ oder A”. Die Arten einer Gattung verhalten sich entweder konträr zueinander, dann sind sie bloß verschieden.

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Ein Einzelnes aus G kann in diesem Fall A, A’ oder A” sein, muss es aber nicht, da bloß verschiedene Arten keinen vollständigen logischen Raum bilden. Sind die Arten hingegen kontradiktorisch, muss das Einzelne ein A, A’ oder A” sein oder es ist Nicht-G. Ein Drittes gibt es nicht. Das disjunktive Urteil drückt insofern Notwendigkeit aus, als dass das Entweder-Oder von A, A’ oder A” die Totalität von G konstituiert. Die objektive Allgemeinheit von G ist also darin begründet, dass sie erstens Arten in sich enthält, die zweitens einander ausschließen und sich negieren. Der Gedanke der Disjunktivität der Arten verweist in Hegels Grammatik des Lebens auf das Problem des Essentialismus und des statistischen Begriffsrealismus. Hegel bleibt, wie wir mit Blick auf die inferentielle Struktur des Lebens unten näher zeigen, eine überzeugende Antwort dafür schuldig, warum das Entweder-Oder der Disjunktion hier das systematisch letzte Wort bleiben sollte. Hegel fehlen die konzeptuellen Mittel, um die Substantialität des Art-Gattungs-Verhältnisses ihrerseits dynamisch zu denken. Seiner Grammatik nach sind die Relationen von Arten und Gattung stabil und unwandelbar. Mit Blick auf die natürlichen Arten vertritt Hegel eine essentialistische Position (vgl.: Ebd., S. 39). Warum aber ausgerechnet Arten und Gattungen von seiner These ausgenommen sind, dass alles in und durch Wandel ist, bildet eine Unmittelbarkeit, eine nicht reflektierte Präsupposition, seiner Logik. Die Dynamik als immanentes Prinzip des Lebendigen zu begreifen, lässt sich im Sinne des spekulativen Ansatzes der Logik als deren Aktualisierung begründen. Es gilt also, die These von der Substantialität des Lebens dialektisch zu verflüssigen. Anders gesagt, weil Hegel Wandel und Dynamik in substantiellen Relationen nur als „Zufall“ (ebd., S. 81) vorstellen kann, bleibt sein Schematismus der Relation von Arten und Gatttungen disjunkt. Deshalb sind Exemplare, die sich dem Schema von A, A’ oder A” nicht fügen, „empirische Vermischung und Unreinheit“ (ebd., S. 83). Der Essentialismus von Hegels Grammatik des Lebens kann somit die Vielfalt und Wandelbarkeit nicht als immanentes Prinzip des Lebens selbst denken und verbleibt in einer schematischen Gegenüberstellung

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von Geist und Natur. Das Problem dieser Grammatik ist ihr substantielles Verständnis von Arten und Gattung. Dieses Verständnis zu dynamisieren, entspricht keiner externen Kritik, da Hegels Dialektik hierdurch fortbestimmt, nicht abstrakt negiert wird. Diese Kritik wird uns die Analyse der inferentiellen Struktur des Schlusses der Notwendigkeit erlauben. Diese Kritik ist so immanent, weil die Vielfalt des Lebens als der innere Zweck des Lebens im systematischen Zentrum von Hegels Begriffslogik steht. Der vierte Grundtyp ist die Kategorie des Begriffsurteils. Hier geschieht der Übergang zum Schluss, indem die Problematik der Notwendigkeit durch systematisch-begriffliche Begründung thematisiert wird. Hegel argumentiert hier, dass inferentielle Notwendigkeit nicht auf analytische Wahrheit reduziert werden kann. Wahrheit ist material zu begründen, nie formal. Wie verhalten sich aber die materiale und die formale Seite des Urteils zueinander? Diese Frage diskutieren die Urteile des Begriffs. Hier ist erneut ein wichtiger Unterschied zwischen Kants und Hegels Urteilstafel zu bezeichnen: Kant fasst diese vierte Kategorie als Modalität und differenziert sie hinsichtlich ihrer epistemischen Gegebenheit. Urteile sind bei Kant genau dann apodiktisch, wenn sie „mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden“ werden.52 Hegel rekonstruiert Kants Herangehensweise so: „Das problematische Urtheil bestehe hiernach darin, wenn man das Bejahen oder Verneinen als beliebig oder als möglich; – das assertorische, wenn man es als wahr, d.h. wirklich, und das apodiktische, wenn man es als nothwendig annehme“ (GW 12, S. 84). Wir können hier von einem doxastischen, auf die Prämissenökonomie des Erkenntnissubjektes perspektivierenden Prinzip sprechen. Hegel gibt der Modalität des Urteils hingegen eine objektperspektivische Einteilung und klassifiziert die drei Urteilstypen nicht hinsichtlich ihres epistemischen Status, das heißt subjektiv, sondern hinsichtlich des normativen Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit. Von einem normativen Verhältnis kann man deshalb sprechen, weil Begriffsurteile die Beziehung von Begriff und Wirk52

Kant, KrV, B 41.

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lichkeit, von Sollen und Sein, artikulieren. Anders als die anderen Urteile artikulieren Begriffsurteile Normativität, ein „Sollen, dem die Realität angemessen seyn kann oder auch nicht. – Solches Urtheil enthält daher erst eine wahrhafte Beurteilung“ (ebd., S. 84). Im Urteil des Begriffs ist das Zugrundeliegende nicht mehr das Subjekt, sondern das Prädikat wird selbst Gegenstand der Prädikation.53 1) Das assertorische Urteil bezeichnet Hegel als das unmittelbare Begriffsurteil. Hier ist das Sollen, die Normativität des Begriffs, nur eine „subjective Versicherung“ (ebd., S. 85). Die hegelschen Beispiele sind: „Dieses Haus ist gut.“ oder „Diese Handlung ist recht.“ Das Problem der bloßen Behauptung ihrer Richtigkeit liegt dabei auf der Hand: Der Maßstab, an dem das Einzelne gemessen wird, ist ihm selbst äußerlich, das heißt hier, von subjektiver Seite an es herangetragen. Die unmittelbare Folge ist die Gleichgültigkeit des Urteils und seiner Negation, sei sie konträr („Dieses Haus ist schlecht.“) oder kontradiktorisch („Dieses Haus ist nichtgut.“). „Die Versicherung des assertorischen Urtheils steht daher eben mit dem Rechte die entgegengesetzte gegenüber.“ Der Grund ist, dass das Subjekt des assertorischen Urteils zwar ein Einzelnes als Allgemeines fasst (dieses Haus als Summe seiner Eigenschaften). Sein Bezug auf sein Prädikat aber, die wirkliche Allgemeinheit seiner Gattung, ist in diesem Urteil nicht thematisch. Das normative Urteil über Einzelnes als ein Allgemeines für sich hat „in dieser Abstraction noch die Bestimmtheit nicht an ihm gesetzt, […] es ist so noch ein zufälliges, eben sowohl dem Begriffe zu entsprechen, oder auch nicht. Das Urtheil ist daher wesentlich problematisch“ (ebd., S. 86). 2) Zu jedem normativen Urteil „S ist P“, wobei P, P‘ und NichtP evaluative Eigenschaften bezeichnen, lassen sich jeweils gültige positive und negative Urteile bilden. Ein Urteil ist also genau dann problematisch, wenn es in seinem positiven wie in seinem negativen Ausdruck Gültigkeit hat. Hegel versteht das problematische Urteil so, dass es eine Struktur explizit macht, die in anderen Urteilen nur implizit thematisch war. Wir müssen also problematische Urteile im 53

Vgl.: Theunissen, Sein und Schein, S. 433.

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engeren und im weiteren Sinne unterscheiden. So ist das partikulare Urteil ebenfalls problematisch, da sein Inhalt lautet, dass einige S P sind, während einige S P‘ beziehungsweise Nicht-P sind. Hier bleiben das positive wie das negative Urteil gleichgültig. Im hypothetischen Urteil ist „das Seyn des Subjects und Prädicats problematisch“ (GW 12, S. 86), da sie einander wechselseitig voraussetzen und somit identisch sind, ohne identisch zu sein. Urteile sind als Verallgemeinerungen insofern immer problematisch, weil sie den Standpunkt der Sprecher*in transzendieren und Allgemeinheit reklamieren. Die allgemeine Problematizität des Urteils liegt so im Unterschied zum Satz begründet. In problematischen Urteilen im engeren Sinne wird nun diese Struktur der Wechselseitigkeit selbst Gegenstand der Prädikation. Das problematische Urteil macht normative Präsuppositionen transparent, die sonst nur implizit sind: „Der Inhalt des Prädicats [ist] die Beziehung des Subjects auf den Begriff “ (ebd., S. 86). Es kann nun so scheinen, als sei der Mangel des problematischen Urteils sein Mangel an der Determination. Wenn „S ist P“ und „S ist P‘“ beziehungsweise „S ist Nicht-P“ gegeneinander stehen, dann scheint mindestens eines dieser Urteile falsch zu sein. Es scheint also ein Fehler aufseiten der urteilenden Subjekte vorzuliegen, die dieselbe Sache ungleich beurteilen. Hegel widerspricht dieser Deutung der Problematik aller Urteile, da es den Widerspruch von P, P‘ und Nicht-P von der Sache selbst fern hält und in die epistemische Praxis verlegt, also subjektiv verortet. Das ist die falsche „Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge“. Stattdessen ist das Subjekt des Urteils selbst problematisch, denn „eine Sache ist auch wesentlich zufällig, und hat eine äußerliche Beschaffenheit“ (ebd., S. 87). Jedes Subjekt eines Urteils und damit Objekt epistemischer Praxis entspricht einerseits seinem Begriff, sonst wäre zu unbestimmt, was es realisieren soll und woran es gemessen werden kann. Gleichzeitig entspricht keine Sache ihrem Begriff, da Objektivität Zufälligkeit und somit das Andere des Systematischen und Notwendigen enthält. Wir können aufgrund dieser konstitutiven Problematizität und Offenheit der Welt nicht sagen „S ist gut.“, sondern eigentlich nur „S ist gut, je

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nach dem, wie es beschaffen ist.“ Da die Sache selbst sich in Sein und Sollen, in zufällige Beschaffenheit und systematisches Prinzip differenziert, sind damit einfache, unproblematische Urteile im Modus des Entweder-Oder des Verstandes für die Evaluation der Welt sachlich unangemessen. Die Welt sachlich zu beurteilen, heißt, sie als normativ mehrdeutig zu begreifen. „Das Problematische, so als problematisches der Sache, die Sache mit ihrer Beschaffenheit, gesetzt, so ist das Urtheil selbst nicht problematisch, sondern apodiktisch“ (ebd., S. 87). Das problematische Urteil im engeren Sinne reagiert auf die offene Beziehung von Prädikat und Subjekt, indem es seine Urteilsstruktur selbst problematisiert und so den Gegensatz von Subjekt und Prädikat überwindet. Die Offenheit der Welt wird so als ontologische Größe, als Struktur der Sache selbst, artikuliert. 3) Das dritte Urteil des Begriffs ist das apodiktische Urteil. Es reagiert auf die Problematizität der Welt, indem es sie als konstitutive Bedingung epistemischer Praxis integriert. Das apodiktische Urteil artikuliert damit eine Beschaffenheit aller Dinge, es ist das ultimative Urteil über alle Wirklichkeit. Das scheint prima facie eine unfassbare Anmaßung zu sein, wird hier doch von einem partikularen Standpunkt aus ein Urteil mit maximaler Geltung gefällt. Ein Urteil über alle Wirklichkeit transzendiert jeden partikularen Standpunkt. Was aber ist die Prädikation, auf die wir uns festlegen, wenn wir dieses Urteil affirmieren? Hegel fasst es so: „Es ist aber die Wahrheit [der Sache selbst], daß sie in sich gebrochen ist in ihr Sollen und ihr Seyn; diß ist das absolute Urtheil über alle Wirklichkeit. – Daß diese ursprüngliche Theilung, welche die Allmacht des Begriffs ist, eben so sehr Rückkehr in seine Einheit und absolute Beziehung des Sollens und Seyns aufeinander ist, macht das Wirkliche zu einer Sache, ihre innere Beziehung, diese concrete Identität, macht die Seele der Sache aus“ (ebd., S. 88).

Die Problematizität der Sache selbst kommt im „absolute[n] Urtheil über alle Wirklichkeit“ zur Sprache. Wir können das apodiktische Urteil so verstehen, dass es die Trennung von Sein und Sollen ausdrückt. Für Hegel ist das ein zentrales Axiom philosophisch-

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wissenschaftlicher Weltdeutung. Das Subjekt des absoluten Urteils ist also kein von der Prädikation unabhängig gegebener Gegenstand mehr. Vielmehr ist nun die Prädikation im Sinne der material-begrifflichen Festlegung im Urteilsakt thematisch. Eine der wesentlichen Voraussetzung von wissenschaftlicher Reflexion und Urteilspraxis wird dadurch explizit und von Hegel ontologisch begründet. Der wissenschaftliche Standpunkt ist axiomatisch dadurch gekennzeichnet, dass Sein keine Normativität begründet. Normativität ist wesentlich eine begriffliche Größe. Dieses Urteil begründet Hegel ontologisch: Die Problematizität gehört zur Sache selbst, da nichts mit sich selbst gleich ist. Alles ist im Prozess, nichts steht fest. Die Trennung von „Seyn und Sollen“ macht somit jede naturrechtliche Begründung von Normen epistemisch unhaltbar. Damit wird das Begründen von Normen zu einer konstitutiv kontroversen Angelegenheit, denn die Ambivalenzen, Ambiguitäten und Mehrdeutigkeiten der Sache selbst gehören zum ontologischen Gefüge der Welt. Es gilt also, mit ihnen umzugehen und eine Toleranz ihnen gegenüber zu entwicklen. Ambiguitätstoleranz ist eine wichtige Größe epistemischer Praxis. Das ist insofern eine emanzipatorische Lektion, als dass die Nichteindeutigkeit der Welt nicht mehr als Grund für Selbstzweifel und die resultierende Unsicherheit gewertet werden sollte. Das spekulative absolute Urteil über alle Wirklichkeit erlaubt also eine gewisse Affirmation der epistemischen Kraft erkennender Subjektivität, weil der Geist Methoden für die Produktivität der Widersprüche und Ambiguitätstoleranz kennt. Kommen wir mit Blick auf die Urteilslehre zu einem Fazit und halten Folgendes fest. In Urteilspraktiken gewinnt die Subjektivität Distanz zur Welt, indem sie die Objektivität mit dem Begriff an etwas misst, das diese nicht unmittelbar ist. Diese Distanz von Begriff und Welt ist so kein Gegebenes, das durch die Reflexion auf die präpositionale Struktur zu überwinden wäre. Das wäre eine kantische Aufgabenstellung. Worin Hegel mit Kant übereinstimmt, ist, dass es eine der Voraussetzungen epistemischer Praxis ist, ein kritisches

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Verhältnis der Vernunft zu sich selbst zu gewinnen. Diese Präsupposition bedarf der Reflexion der eigenen Maßstäbe.54 Anders als im kantischen Denken besteht für Hegel eine wesentliche, geistige Weise an der Welt teilzunehmen in der Distanzierung von ihr. Das Gegebene ist so Ausgangspunkt und Resultat begrifflicher Bewegung. Die Grundform dieser Bewegung lässt sich entweder als Implikationsbeziehung fassen, wenn von diesem Gegebenen ausgegangen wird. Implikationen spezifizieren das Gegebene de re, verstehen es also als Allgemeines seiner Prädikate und machen seine Prädikate explizit. Oder ein Gegebenes wird als Resultat einer Bewegung gefasst. Hier geht es um die de dicto Analyse seiner Präsuppositionen. Präsuppositionen spezifizieren ein Gegebenes de dicto, verstehen es also als Einzelnes seines Allgemeinen und machen die gattungslogischen und gesetzmäßigen Zusammenhänge explizit. In beiden Fällen bringt sich die Subjektivität in ein distanziertes, reflexives Verhältnis zum Gegebenen. Die im Urteil gewonnene Distanz zur Welt ist die wesentliche Voraussetzung wissenschaftlicher Subjektivität, einer Subjektivität, die axiomatisch dadurch strukturiert ist, dass Sein kein Sollen impliziert. Auf Basis dieser kritischen Distanz können wir nun die inferentielle Struktur des Begrifflichen untersuchen – die „Rückkehr in seine Einheit“. Diese Rückkehr wird es erlauben, das Gemeinsame von Denken und Welt in ihrer Pluralität zu fassen. Die logische Struktur des Begriffs wird Verallgemeinerung und Spezifikation in der Kategorie des Lebens zusammenführen, die den Gedanken der Pluralität ontologisch vermittelt und Hegels Essentialismus immanent kritisiert. 54

Mit Blick auf Kants Theorie der Urteilskraft kommt Arendt zu einem vergleichbaren Resultat: „Erst in der Anwendung kritischer Maßstäbe auf sein eigenes Denken erlernt man die Kunst des kritischen Denkens.“ Arendt, Urteilen, S. 59.

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8.1.3 Der Begriff als Schluss Wir haben bisher mit dem Urteil die kleinste Einheit der Sprachspiele epistemischer Praxis untersucht, mit der wir uns festlegen. Für die Festlegung auf den Inhalt eines Urteils übernehmen wir epistemische Verantwortung. Die Dialektik des Urteils besteht darin, dass die Festlegung auf den Inhalt eines Urteils mit einer Distanzierung des Erkenntnissubjektes von der Welt einhergeht. Nun bildet die Distanz zur Welt nur ein Moment epistemischer Praxis. Diese besteht zweitens darin, Konsequenzen aus den Reflexionen und inhaltlichen Differenzierungen propositionaler Tätigkeit zu ziehen. Das geschieht in Form von Schlüssen. Erst eine syllogistische Beschreibung der epistemischen Funktion des Schlusses kann die These von der Inhaltsgleichheit von Begriff und Wirklichkeit begründen. Im Schluss stehen die einzelnen Festlegungen nicht mehr isoliert und für sich, sondern werden in Beziehung aufeinander gesetzt. Die Relationierung von zwei Festlegungen berechtigt dazu, eine dritte Festlegung zu erschließen. Die Festlegung auf zwei Punkte im Diskursuniversum erlaubt die Triangulation eines dritten. Dabei geht es nicht darum, die Punkte einander kommensurabel zu machen. Es ist vielmehr die Struktur der internen Bezogenheit von Differenten in inferentieller Praxis, die sie als ontologisches Prinzip mit der Objektivität teilt, denn auch die Wirklichkeit ist wesentlich Vermittlung. Den Schluss des Begriffs deuten wir hier als Theorie inferentieller Praxis. Der exegetische Grund ist, dass Hegel unter „Schluss“ keine mentale Repräsentation von Dingen versteht. Die Schlussform ist sozusagen eine Weltform: „der Schluß […] ist die Wahrheit des Urteils. – Alle Dinge sind der Schluß, ein Allgemeines, das durch die Besonderheit mit der Einzelheit zusammengeschlossen ist; aber freylich sind sie nicht aus drey Sätzen bestehende Ganze“ (GW 12, S. 95). Die Syllogistik versteht einen Schluss so, dass er aus drei Elementen besteht, deren propositionale Form wir bereits untersucht haben. Die Schlussform lässt sich durch eine Form-Inhalt-Unterscheidung entfalten: Ihrer materialen Seite nach

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bestehen Schlüsse aus drei Termini mit Eigenschaften, die die zugrundeliegenden Urteile spezifizieren. Ihre formale Dimension bildet die Schlussfolge, der scholastische Begriff ist Modus – heute würde man von einem Schlussschema sprechen.55 Das Schema des Schlusses bringt zwei Urteile in eine assertorische Ordnung und erlaubt so die Triangulation eines dritten Urteils. Die drei Urteile eines Schlusses weisen an ihrer Subjektstelle (S) und Prädikatstelle (P) Begriffe auf, die sie miteinander in Beziehung setzen. Hegel ordnet die Vielfalt der Schlüsse in das uns bereits bekannte Schema von Dasein, Reflexion und Notwendigkeit. Auffällig an seiner Schlusslehre im Vergleich zur Urteilslehre ist vor allem, dass es keine „Schlüsse des Begriffs“ gibt, also keinen assertorischen, problematischen oder apodiktischen Schluss. Den Schluss des Begriffs bildet sozusagen der folgende Abschnitt zur Objektivität. Es gibt damit analog der kantischen Urteilstafel bei Hegel vier propositionale, aber nur drei inferentielle Grundtypen. Die klassische Syllogistik bildet dabei nur die erste Kategorie, die „Schlüsse des Daseyns“. Für Hegel stellt der dort behandelte Formalismus des Schließens nur eine „begrifflose Beschäftigung“ dar. Seine Logik ist keine formale, das heißt kontext-invariante Logik, sondern eine Logik der Bewegung der Sache selbst, eine materiale Logik. Wir fokussieren in der folgenden Darstellung daher auf die Passagen zum Schluss der Reflexion und zum Schluss der Notwendigkeit, in denen Hegel die epistemischen Prinzipien seiner materialen Logik entwickelt. Ihr Grundgedanke ist es, die Formalität des Logischen nicht unabhängig von den materialen Strukturen zu denken. Im Sinne dieses Grundgedankens entwickelt Hegel ein nichtdeduktives Paradigma logischer Gültigkeit. Er nobilitiert, wie wir unten sehen werden, mit Induktion und Analogie materiale Beweisstrategien und lehnt die Deduktion als Verstandesform logischer Gültigkeit ab. Der erste Grundtyp ist der „Schluss des Daseyns“. Hier rekonstruiert Hegel die formalen Prinzipien der assertorischen Ordnung mittels der Begriffsbestimmungen von Allgemeinheit, Besonderheit 55

Vgl. zum Begriff des Schlussschemas: Quine, Grundzüge der Logik, § 5.

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und Einzelheit. Ein Schluss des Daseyns verbindet zwei Urteile im Mittelbegriff, im medius terminus. Je nach dem, ob die Prämissen singuläre, partikulare, universelle, negative oder positive Urteile sind, bilden ihre Konstellationen unterschiedliche Schlusstypen. Das logische Vokabular der klassischen Syllogistik dient nun der Rekonstruktion aller gültigen Regeln und Gesetze der Schlusstypen deduktiver Logik.56 Das erste Schema des Schlusses wird im Schluss der Allheit besonders gut sichtbar: 1 Alle Menschen (S) sind sterblich (P). 2 Alle Griechen (S) sind Menschen (P). ∴ Alle Griechen (S) sind sterblich (P). Die paradigmatische assertorische Inferenz vermittelt an ihren sechs Funktionsstellen drei Bestimmungen miteinander. Der allgemeinste Begriff eines Schlusses ist der Begriff mit dem größten Umfang, hier der der Sterblichkeit. Das ist der Oberbegriff des Syllogismus. Der Oberbegriff steht in den Urteilen, in denen er vorkommt, immer an der Prädikatstelle. Der Unterbegriff – hier das Griechischsein – ist der Begriff mit dem kleinsten Umfang und steht immer an der Subjektstelle. Der Mittelbegriff – hier Menschsein – umfasst Teilmengen des Sterblichen. Der Mittelbegriff „wandert“ von der Subjekstelle im Obersatz an die Prädikatstelle des Mittelsatzes und vermittelt die Begriffe mit dem kleinsten Umfang mit dem des größten Umfangs der insgesamt im Schluss verbundenen Begriffe. Dieses Schlussschema verortet die logische Notwendigkeit einer Inferenz darin, dass die Wahrheit der Ausgangsurteile vom Mittelbegriff vermittelt wird. Diese Vermittlung stellt eine Ableitung dar. Für diese Ableitung oder Deduktion stellt die klassische Syllogistik die formalen Regeln des Kalküls auf. Die 56

Vgl. für eine konzise Rekonstruktion und Diskussion der Postulate deduktiver Logik im Rekurs auf die syllogistische Semantik: Wolff, Abhandlung über die Prinzipien der Logik, § 72.

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klassische Syllogistik modelliert nach Hegels Auffassung die Praxis des Schließens anhand der formalen Struktur der Deduktion. Das deduktive Paradigma der Inferenz ist durch eine Reihe von Postulaten definiert, die wir hier nicht diskutieren können.57 Ein Postulat ist aus Hegels Sicht besonders problematisch: A,B → A. Das meint die Monotonie deduktiver Argumente: Die Hinzunahme neuer Prämissen verändert nicht die Wahrheit der ursprünglichen Prämissen. Entweder ein Urteil ist wahr oder nicht, ein Drittes gibt es nicht. Deduktive Logik verfolgt mit der Monotonie der Urteile eine Theorie der Logik als einer kontextinvarianten Metasprache, die die logischen Regeln der Triangulation von objektsprachlichen Urteilen entwickelt. Eine solche kontext-invariante Metasprache wäre, in Hegels Worten, eine „Schriftsprache, worin jeder Begriff dargestellt werde, wie er eine Beziehung aus andern ist, oder sich auf andere bezieht – als ob in der vernünftigen Verbindung, welche wesentlich dialektisch ist, ein Inhalt noch dieselbe Bestimmungen behielte, die er hat, wenn er für sich fixiert ist“ (GW 12, S. 109).

Mit der Idee eines allgemeinen Ordnungsschemas aller Begriffe ist für Hegel vor allem Leibniz verbunden, der eine solche Universalsprache oder Ordnungsschema aller Begriffe unter dem Ausdruck „characteristica universalis“ tatsächlich angestrebt hat.58 Hegel hat für ein solches Verständnis von Logik extrem wenig übrig: „Es hing hiemit ein Lieblingsgedanke Leibnitzens zusammen, den er in der Jugend gefaßt, und der Unreifheit und Seichtigkeit desselben unerachtet, auch späterhin nicht aufgab, von einer allgemeinen Charakteristik der Begriffe“ (ebd., S. 109). Es ist ein Ausdruck des von Hegel kritisierten deduktiven Paradigmas der Inferenz zu denken, dass logische Gültigkeit auf deduktive Gültigkeit zu reduzieren sei. Inferenzen stellen aus Hegels Perspektive viel komplexere Züge in Sprachspielen dar, als ihre deduk57 58

Wir folgen hier: Ebd., § 82. Vgl.: Leibniz, Die Grundlagen des logischen Kalküls.

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tivistische Rekonstruktion wiedergibt. Anstatt die materiale Struktur der Objektivität und epistemische Normativität zu verbinden, gibt die Universalsprache nur eine „Verstandesform des Schlusses […], nach welcher die Begriffsbestimmungen als abstracte formale Bestimmungen genommen werden“ (GW 12, S. 107). Das deduktive Paradigma inferentieller Praxis übersieht, dass sich ihr eigener Gegenstand nicht so verhält, wie sie ihn modelliert. Inferentielle Praxis ist keine mechanische Anwendung formaler Deduktionsregeln auf die Objektivität, dabei „fällt die dialektische Betrachtung des Schlusses ganz hinweg“ (ebd., S. 107). Hegels Logik beabsichtigt gerade nicht, aus formalen Regeln wie Widerspruchsfreiheit oder Identitätssätzen die Normen von Begründungsstrategien abzuleiten. Im Gegenteil, dialektische Epistemologie und Metalogik zeigt die Abstraktheit und irreführende Leere solcher Präsuppositionen. Epistemische Praxis baut auf der Fähigkeit des Geistes, Sinn aus den Fakten der relationalen Objektivität zu gewinnen, indem sie miteinander verbunden und interpretiert werden. Logik ist für Hegel ein Organon neuer Erkenntnis durch die Reflexion auf die Implikationen und Präsuppositionen von Begriffen. Hierfür leistet „der formale Schluß nicht viel“, folgt er doch der fixen Idee des Schlusses als einer „allgemeinen Charakteristik der Begriffe“ (ebd., S. 109). Die Deduktion kann die Bewegung, die der Begriff ist, nicht als Strukturmoment integrieren. Im zweiten Grundtyp der Schlüsse wird das fasslicher. Im Schluss der Reflexion artikuliert Hegel seine Kritik am deduktiven Paradigma epistemischer Praxis und damit die Absage an den rationalistischen Traum einer Universalsprache sehr deutlich. 1) Die erste Unterart der Schlüsse der Reflexion bildet der Schluss der Allheit, der deduktive Schluss. Zwar erklärt ihn Hegel nicht für ungültig, doch aber ist er „der Verstandesschluß in seiner Vollkommenheit, mehr aber noch nicht“ (ebd., S. 109). Das Problem des deduktiven Schließens arbeitet Hegel als eine Konzeption des Allgemeinen heraus, die Allgemeinheit nur als „Vollständigkeit“, nur als „Einheit der Gleichheit“ kennt. Aufgrund ihrer Form sind deduktive Schlüsse unwahr, abstrakt, weil jede Abweichung von

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der Einheit der Gleichheit im Einzelnen einen Bruch mit der Form des Allgemeinen bedeutet. Hier können Obersatz und Schlusssatz einander nicht widersprechen, da zwar „das Subject […] durch diesen Schlußsatz ein Prädicat, als eine Folge [erhält], der Obersatz aber enthält in sich schon diesen Schlußsatz“ (ebd., S. 112). Aufgrund der differenzlosen, als gleich vorausgesetzten Allgemeinheit spielen deduktive Schlüsse keine tragende Rolle in epistemischen Praktiken. Hegel bezeichnet sie daher gar als „blosses Blendwerk“. Die Analyse der deduktiven Schlussstruktur ergibt keine relevanten Normen epistemischer Praxis. Deduktive Schlüsse sind komplexe Tautologien, keine Vermittlung von Urteilen im Sinne der Triangulation eines Dritten. Hegel bringt die tatsächliche inferentielle Praxis gegen ihre falsche Konzeptualisierung im Rahmen ihrer theoretischen Reflexion ins Spiel. Das deduktive Paradigma verzerrt die theoretische Sicht auf die inferentielle Praxis. 2) Das Problem abstrakter Allgemeinheit beginnt mit der nächsten Unterart reflexiver Schlüsse, dem Schluss der Induktion, konkreter zu werden. Hegel nobilitiert die Induktion zum legitimen epistemischen Verfahren, indem er sie vom „Schluss der blossen Wahrnehmung oder des zufälligen Daseyns“ abgrenzt (ebd., S. 114) und zum Erfahrungsschluss erhebt. Die Allgemeinheit induktiver Verfahren bleibt damit komparativ. Der Schlusssatz einer induktiven Schlussfolgerung ist im engeren Sinne der obigen Urteilslehre immer problematisch. Hegels Verständnis der Induktion unterscheidet seine Logik von rationalistischen Logiken, nach denen, wie Kant es fasst, die Induktion kein Vernunftschluss, sondern nur eine logische Präsupposition oder ein empirischer Schluss sei. Man bekommt, so Kant, durch sie „wohl generale, aber nicht universale Sätze“, nur „empirische Gewißheit“.59 Da Induktionen unter dem Vorbehalt der Fallibilität ihrer Konklusionen vorgenommen werden müssen, bilden sie für Kant nur eine Art Notbehelf. Induktive Verallgemeinerungsschlüsse stellen aufgrund ihrer Nicht59

Kant, „Logik“, § 84.

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Monotonie keine Schlüsse aus Begriffen dar, sondern sind Wahrnehmungsurteile. Anders für Hegel: Nach seinem Verständnis sind induktive Beweisverfahren erst richtig beschrieben, wenn sie als Wechselwirkung von Sinnlichkeit und Reflexion aufgefasst werden. Aufgrund der Endlichkeit der Wahrnehmung sind Erfahrungsurteile problematisch, das heißt, sie präsupponieren, „daß sich keine Instanz gegen jene Erfahrung ergeben könnte, insofern daß diese an und für sich wahr sey“ (GW 12, S. 115). Induktive Verfahren listen keine Wahrnehmungsepisoden auf, sondern bilden auf Basis reflektierter Wahrnehmung, auf Basis von Erfahrung also, Hypothesen dazu, wie die Gattung beschaffen ist, deren Elemente wahrgenommen werden. Dabei unterstellen sie einen gattungsmäßigen Zusammenhang der wahrgenommenen Instanzen. Ihr Begriff von Allgemeinheit meint so nicht Gleichheit, sondern ergibt sich aus der ordinierten und koordinierten Struktur von Arten zu ihrer Gattung. In reflektierten Schlüssen der Induktion wird die Fallibilität in der Hypothesenbildung durch ceteribus-paribus-Klauseln explizit gemacht. Die Gültigkeit induktiver Schlüsse lässt sich diskutieren und abschätzen, niemals apodiktisch setzen. Die Prämissen einer Induktion sind nicht-monoton. Neue Instanzen von Erfahrungen können alte Erklärungsmodelle verändern und so neue Erkenntnisse und Hypothesen ermöglichen. Normativ gesagt, verpflichten induktive Schlüsse zu epistemischer Transparenz, weil sie dazu berechtigen, von der Wahrnehmung endlicher Einzelvorkommnisse auf die allgemeinere Struktur zu schließen, indem sie Hypothesen zur Natur der Gattung zu bilden erlauben. Die epistemische Verantwortung induktiver Beweisverfahren besteht erstens darin, die empirischen Grenzen der Wahrnehmung offen zu kommunizieren. Die per Induktionsschluss begründete Berechtigung kann so aufgrund geringer empirischer Basis zurückgewiesen werden. Zweitens verpflichten induktive Begründungsstrategien dazu, aktiv Gegeninstanzen zu suchen. 3) Im Schluss der Analogie wiederholt sich die spekulative Aufwertung nichtdeduktiver Beweisverfahren bei gleichzeitiger The-

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matisierung ihrer epistemischen Leistungsfähigkeit. Analogien sind epistemisch leistungsfähig, weil sie die prädikative Übertragung einer Eigenschaft rechtfertigen. Hegel nimmt Kants Beispiel der Existenz von Mondbewohnern auf. 1 Die Erde hat Bewohner. (S ist P) 2 Der Mond ist eine Erde. (S‘ ist analog S) ∴ Der Mond hat Bewohner. (S‘ ist P) Die Analogie hat eine „eigenthümliche Form“, die von der Form der formellen Schlüsse assertorischer Syllogistik abweicht, die mit Ober-, Mittel- und Unterbegriff drei Begriffe vermittelt. In der Analogie werden hingegen vier Bestimmungen vermittelt: Zwei Urteilssubjekte (Erde und Mond), ein geteiltes Prädikat (Erdesein) und ein übertragendes Prädikat (Bewohntsein). Die logische Struktur der Analogie modelliert Hegel als attributive Analogie, bei der eine Konstellation von drei Elementen (zwei Urteilssubjekte und ein ihnen gemeinsames, analoges Prädikat) die Übertragung eines zweiten Prädikates begründet. Analogien stellen in Hegels Rekonstruktion trotz ihrer Abweichung vom assertorischen Schema legitime Beweisverfahren dar, solange ihre strukturelle Problematik reflektiert wird. Analogien sind konstitutiv mit dem Problem verbunden, im geteilten Prädikat eine Identität zu präsupponieren, die sich bei kritischer Analyse der Termini als Scheinidentität herausstellen kann. Der Einwand gegen die epistemische Legitimation analoger Beweisführung ist daher, dass Analogien Fehlschlüsse durch Homonymie darstellen, weil das geteilte Prädikat in Obersatz und Untersatz nicht dieselbe Bedeutung hat. Kants Beispiel des bewohnten Mondes zeigt dieses Problem präzise an. In 1 meint „Erde“ einen bestimmten Himmelskörper, dessen Spezifikum sein Bewohntsein ist, während in 2 „Erde“ einen Himmelsköper überhaupt meint. Der Mittelbegriff ist unbestimmt und so bleibt es offen, ob das analogisierende Moment tatsächlich beiden Subjekten in derselben Hinsicht zukommt. In der Analogie ist

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„die Mitte als Einzelheit, aber unmittelbar auch als deren wahre Allgemeinheit gesetzt“ (GW 12, S. 114). Das Problem analogischer Beweisführung betrifft die Unmittelbarkeit der Übertragung. Kommt das analoge Moment von S und S‘ ihnen vermöge ihrer Natur und damit de dicto zu oder nur vermöge der zufälligen Beschaffenheit eines Einzelnen, damit de re zu? Das epistemische Prinzip der Analogie präsupponiert, dass nur gattungsmäßig gegründete Eigenschaften analoge Übertragungen wirklich begründen. Die epistemische Verantwortung von Analogieschlüssen besteht deshalb darin, die disanalogen Momente zu identifizieren. Wenn Art A und A’ analog sind, dann sind sie Arten einer Gattung G. A und A’ können G nur angehören, wenn sie auch disanaloge Momente enthalten, sonst wären sie identisch. Damit geht die epistemische Aufgabe einher, kritisch zu prüfen, ob in der Analogie die Verbindung von S und S‘ nur durch homonyme Begriffe suggeriert ist. Hegels Absage an die rationalistische Vorstellung einer Universalsprache geht damit einher, dass Logik eine Weise ist, die epistemische Endlichkeit des Erkenntnissubjektes zu reflektieren und Grenzen des Erkennens artikulieren zu können. Spekulativ betrachtet sind Prämissen nichtmonoton. Insgesamt können wir mit Blick auf die Schlüsse der Reflexion Folgendes festhalten: Induktion und Analogie erlauben nur Urteile von subjektiver Gültigkeit und stellen, kantisch gesagt, Schlüsse der reflexiven Urteilskraft dar. Das heißt für Hegel aber nicht, dass sie ungültige epistemische Züge darstellen. Sie erlauben Rückschlüsse auf die Objektivität, weil sie einzelne Wahrnehmungsurteile reflektieren und systematisieren. Sie bringen eine epistemische Verantwortung mit sich, die darin besteht, die subjektive Leistung an der Konstitution der Sache selbst zu reflektieren. Die beiden nichtdeduktiven Schlüsse der Reflexion leben deshalb von Voraussetzungen, die sie selber nicht einholen können, erlauben sie doch erst im Zusammenhang mit der Pluralität von Beweismethoden neue Erfahrungen und Verbindungen. Analogien und Induktionen können im Rahmen des logischen Methodenpluralismus auch zusammenwirken und so ihre Funktion der Hypothesenbildung erfüllen, die

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der Gewinnung von konkreter Allgemeinheit auf Grundlage endlicher empirischer Wahrnehmung dient. In diesem Sinne sind Induktionen und Analogien wesentliche Züge im epistemischen Sprachspiel. Der dritte Grundtyp enthält die „Schlüsse der Notwendigkeit“. Hier ist es keine subjektive Reflexion, die aus einer endlichen Menge an Beobachtungen auf die konkrete Allgemeinheit aufschließt, sondern hier sind die erschlossenen Urteile Resultat „bestimmender Reflexion“ im Sinne Kants. Das heißt, dass sie als kategorische und disjunktive Schlüsse die Objektivität in ihrer Substantialität zum Gegenstande haben, also die Grammatik des Lebendigen betreffen. Der hypothetische Schluss artikuliert die Objektivität nach der Seite ihrer Dynamik und Wechselwirkung. 1) Der kategorische Schluss bezieht sich auf die Grammatik des Lebens. Die Verbindung von Subjekt und Prädikat ist hier nicht mehr hypothetisch und subjektiv, nicht mehr von Außen an die Objektivität herangetragen, sondern bezieht sich auf die gattungsspezifische Substanz der Sache selbst. „Der kategorische Schluß ist daher nicht mehr subjectiv, in jener Identität fängt die Objectivität an; die Mitte ist die inhaltsvolle Identität ihrer Extreme, welche in denselben nach ihrer Selbstständigkeit enthalten sind, denn ihre Selbstständigkeit ist jene substantielle Allgemeinheit, die Gattung“ (ebd., S. 120).

Was den Individuen und Arten einer Gattung wesentlich ist, muss kategorische Syllogistik so als Moment ihrer Gattung fassen. Als Beispiel dient uns: 1 Kein Säugetier (S) atmet mit Kiemen (P). 2 Einige Wassertiere (S) sind Säugetiere (P). ∴ Einige Wassertiere (S) atmen nicht mit Kiemen (P) Der vermittelnde Begriff ist hier der des Säugetiers. Er taucht in 1 an der Subjektstelle, in 2 an der Prädikatstelle auf. Ein kategorischer Schluss betrifft die Eigenart, das Selbständige des Besonderen

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und macht es so thematisch, dass es als Selbständiges eine spezifische Weise ist, das Allgemeine zu verkörpern. Der kategorische Syllogismus bezieht sich nicht allein auf biologische Kontexte. Ein Beispiel, das der Physik entstammt, hält Kant bereit: Die Beobachtung der Himmelskörper berechtigt zur Annahme, dass diese sich sehr unterschiedlich bewegen. Fällen wir ein Urteil des Daseyns, das besagt, dass eine bestimmte Planetenbahn in einer Kreisform verläuft, und ein zweites Urteil, das ausdrückt, dass eine andere Planetenbahn eine Ellipse bildet, so bilden wir dadurch eine inferentielle Ordnung, indem wir alle Planetenbahnen unter eine Gattung bringen, die sie als Kegelschnitte klassifizieren.60 Diese Klassifizierung findet in der kategorischen Syllogistik statt. Wir schließen aus Urteilen über die unterschiedlichen Laufbahnen von Himmelskörpern auf eine mathematische Gattung dieser Verläufe. Unabhängig davon, ob sich kategorische Syllogistik auf biologischteleologische oder mathematisch-mechanische Verhältnisse bezieht, weist sie nach Hegels Analyse ein Problem auf. In der fixen Relation von Einzelnem beziehungsweise Besonderem und allgemeiner Substanz liegt die epistemische Schwachstelle des kategorischen Schlusses. „Daher ist die Identität des Begriffs noch inneres Band, somit als Beziehung noch Nothwendigkeit, die Allgemeinheit der Mitte ist gediegene, positive Identität, nicht eben so sehr als Negativität ihrer Extreme“ (GW 12, S. 120). Der Mangel kategorischer Schlüsse als Paradigma der Grammatik des Lebens besteht, so können wir dies interpretieren, darin, dass die Substanz das Einzelne und Besondere bestimmt, ohne durch deren Eigenart selbst verändert zu werden. Die substantielle Allgemeinheit ist zwar in der Vielfalt der Arten entwickelt und insofern „gediegene“ Allgemeinheit, aber sie bleibt positiv, ein Gegebenes. Sie verändert sich nicht durch die Transformation des Einzelnen, dessen Veränderungen somit der Gattung selbst äußerlich bleiben. Der kategorische Schluss hat eine Logik, die ersichtlich macht, warum er zur Repräsentation der Grammatik des Lebens zu abstrakt ist: Die Bestimmung des 60

Kant, KrV, B 691.

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Einzelnen und Besonderen durch die Allgemeinheit der Gattung ist zwar enthalten, aber es fehlt die umgekehrte, gewissermaßen induktive, Richtung der Bestimmung des Allgemeinen durch das Einzelne und Besondere. Die Bestimmungsrichtung ist nur unilateral. Das Einzelne und Besondere bilden Fälle des Allgemeinen, keine Fortbestimmung ihrer Gattung. Die substantiell-kategorische Grammatik versteht das Einzelne als eine letztlich zufällige Verkörperung der Gattung, da „unbestimmt viele Einzelne“ das Allgemeine verkörpern, ohne es zu transformieren. Der kategorische Schluss setzt so das Einzelne als eine zufällige, nur subjektive Wirklichkeit. Um das Einzelne hingegen als die objektive Wirklichkeit der Gattung begreifen zu können, müssen wir den Begriff der Fortbestimmung in die Grammatik des Lebens einführen. 2) Einen wichtigen Baustein entnehmen wir dazu dem nächsten Schluss der hypothetischen Syllogistik. Hier wird die Allgemeinheit nicht mehr substantiell, sondern als Tätigkeit begriffen. Der hypothetische Schluss schließt auf Relationen der Notwendigkeit. Der Begriff bezieht sich auf reale Verbindungen im Sinne objektiver Verknüpfungen. Hypothetische Syllogistik hat dabei nicht mehr substantielle, gattungsspezifische Relationen zum Inhalt, sondern dynamische Relationen: Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Bedingung und Bedingtes. 1 Wenn A, dann B. 2 Nun ist A. ∴ Es ist B. Dieses Schlussschema lässt drei Interpretationen zu: A ist erstens die hinreichende Bedingung von B. Das hypothetische Urteil ist genau dann wahr, wenn A und B beide der Fall sind; A und B beide nicht der Fall sind; oder B der Fall ist, aber nicht A. Falsch ist es allein, wenn A und Nicht-B der Fall sind. Das hypothetisch Schlussschema lässt sich zweitens kausal verstehen. Ein nahe liegendes Beispiel lautet: Wenn die Kraft der Gravitation die Zentrifugalkraft übersteigt, wird das Objekt in Richtung des Gravitationszentrums

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sinken. Schließlich kann das Schema auch einen Schluss auf die beste Erklärung darstellen. A ist der Fall und B ist die beste Erklärung für die Existenz des A. „Sophies Klavierspiel hat sich verbessert.“ Also „Sophie hat Klavierspiel geübt.“ Das Konditional drückt hier eine Erklärung aus, nach der Klavierspiel sich verbessert, wenn es geübt wird. Wir können also die begriffliche Relation der Ableitbarkeit, der Kausalität und der Begründung unterscheiden. Gleichwohl abstrahiert Hegels hypothetische Syllogistik von diesen Unterschieden und versteht ihre Allgemeinheit darin, dass A und B in einer wechselseitigen Relation gründen. Sie stehen in einer Relation, in der sie als selbständige erscheinen, obwohl sie an sich vermittelt, also unselbständig sind. „A ist nun das vermittelnde Seyn, insofern es erstens ein unmittelbares Seyn, eine gleichgültige Wirklichkeit, aber zweytens insofern es ebenesosehr als ein an sich selbst zufälliges, sich aufhebendes Seyn ist“ (GW 12, S. 123). A ist einerseits als Bedingung, Ursache oder Grund unabhängig von B und ist insofern eine abgeschlossene Entität. A erscheint als Selbständiges in der Beziehung auf B, die seine Wirklichkeit ist. Gleichzeitig ist A nur wesentlich A, indem es B bedingt: keine Ursache ohne Wirkung, keine hinreichende Bedingung ohne notwendige, kein Grund ohne Folge. Aus der Struktur des hypothetischen Syllogismus zieht Hegel ontologische Konsequenzen: Die gleichgültige Wirklichkeit des A, sein unmittelbares „Seyn“, stellt sich damit als notwendiger Schein dar, der sich als Moment seiner objektiven Wirklichkeit zeigt. Das Zugleichsein von Vermitteltsein und Unvermitteltsein ist der konstitutive Widerspruch der Objektivität. Die Relationalität aller Sachen und ihre konstitutive Problematizität bilden die ontologischen Voraussetzungen der Hypothesenbildung im Rahmen inferentieller Praxis. Die tiefgreifende ontologische Relationalität artikuliert in hypothetischer Syllogistik einen Begriff von Allgemeinheit, der über die gegebene, positive Allgemeinheit der Substanz hinaus geht. Das Allgemeine wird nicht mehr als Gleichheit oder subjektive Allgemeinheit gefasst, sondern als objektive Mitte von A und B begriffen. Die Allgemeinheit „bestimmt sich als Thätigkeit, da diese Mitte der Wi-

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derspruch der objectiven Allgemeinheit, oder der Totalität des identischen Inhalts, und der gleichgültigen Unmittelbarkeit ist.“ Und weiter: „Der Schlußsatz: Also ist B, drückt denselben Widerspruch aus, daß B ein unmittelbar seyendes, aber eben so durch ein anderes oder vermittelt ist“ (ebd., S. 122 f.). Der dynamische Begriff von Allgemeinheit im hypothetischen Schluss fasst Allgemeinheit als Tätigkeit. Erst mit diesem spekulativen Begriff der Allgemeinheit wird die Einheit von Differenzen als Prozess der „Formthätigkeit“ konzeptualisierbar: „[Die] Formthätigkeit des Uebersetzens der bedingenden Wirklichkeit in die bedingte ist an sich die Einheit, in welcher die vorher zum gleichgültigen Daseyn befreyten Bestimmtheiten des Gegensatzes aufgehoben sind, und der Unterschied des A und B ein leerer Nahmen ist“ (ebd., S. 123).

Konkrete Allgemeinheit ist die Formtätigkeit der Vermittlung von Identität und Differenz. Sie erst entwickelt die reflektierte, negative Einheit im Sinne der spekulativen Logik des Allgemeinen. Diese Einheit ist keine gegebene, unveränderbare Bestimmung, sondern in sich dynamisch. Die Dynamizität aller Dinge als Begriff ihrer sachlichen Struktur ist sozusagen der Schlusssatz über alle Wirklichkeit, zu dem die hypothetische Syllogistik berechtigt. 3) Der letzte der Reihe der Schlüsse der Notwendigkeit ist der disjunktive Schluss. Er schließt den Kreis der Schlüsse, indem er substantielle Verhältnisse von Arten einer Gattung ordiniert und damit in oft nur impliziter Verbindung mit den kategorischen Schlüssen der Notwendigkeit steht, die Arten einer Gattung zu koordinieren. Die „allgemeine Sphäre“ der Gattung wird im disjunktiven Schluss diversifiziert in die Differenzen ihrer Arten. Das Allgemeine einer Lebensform ist „die in Arten zerlegte Gattung“. Das Allgemeine A, die Gattung, ist sowohl B wie C als auch D. A bringt die Besonderheiten seiner Arten unter sich, gleichwohl bleibt die Besonderheit ausschließend, ein „Entweder Oder des B, C und D“ (ebd., S. 124). Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass Hegel disjunktive Syllogistik so rekonstruiert, dass die Arten einander ausschließen. Anders gesagt, die Differenz der

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Arten zueinander bildet einen Gegensatz, das heißt, sie stehen nach den hegelschen Reflexionsbestimmungen in keinem widersprüchlichen, sondern lediglich in einem gegensätzlichen Verhältnis, sind doch die Arten einer Gattung nicht bloß verschieden. Als bloß verschiedene würden sie nicht die allgemeine Sphäre ihrer Gattung ausmachen, sondern wären nur unbestimmt viele. Wir werden zu dieser Verhältnisbestimmung eine Alternative entwickeln müssen, denn Arten stehen nicht in einem gegensätzlichen, sondern einem dialektischen, das heißt widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Das führt zur Frage zurück, wie über Hegels statischem Begriffsrealismus der natürlichen Arten hinauszugehen ist, um das Leben der Natur von der Logik des Verstandes zu befreien, in der Hegel das Natürliche schematisiert. Gleichzeitig beginnt aber Hegel selbst, die Logik von Gattung und Art eigentlich dialektisch zu verstehen. Um das Problem der falschen Verhältnisbestimmung von Arten und Gattungen in Hegels Grammatik des Lebens genauer zu lokalisieren, ist es wichtig, sich erneut ihr Erklärungsziel vor Augen zu führen. So können wir die problematischen Existenzannahmen identifizieren, die sich unter dem Titel eines Essentialismus der Lebensformen bündeln lassen. Hegels Ziel ist die Begründung der These von der spekulativen Gleichheit der begrifflichen, subjektiven mit den nichtbegrifflichen, objektiven Strukturen. Sein prozessontologischer Ansatz, dessen expliziteste Artikulation uns bisher die hypothetische Syllogistik erlaubt, verpflichtet ihn darauf, die Beziehung von Denken und Welt nicht in einer gegebenen Positivität, einer einfachen Gleichheit, zu artikulieren, sondern im Bewegungsgesetz ihrer Formtätigkeit. Die subjektive Seite der Bewegung zeichnet Hegel mit der Totalität der syllogistischen Formen epistemischer Praxis. Diese sind kein Ganzanderes der objektiven Formen des Lebens. Zwischen Subjekt und Objekt steht kein unvermittelter Gegensatz, sondern ihre Differenz wird durch propositionale Praxis hervorgebracht und inferentiell vermittelt. Subjektivität im logischen Sinne meint die Pluralität der prädikativen und inferentiellen Beziehungen des Denkens. Auch die Objektivität ist aus Hegels Perspektive erst sachlich beschrieben,

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wenn die Pluralität ihrer Formen als wesentliches Moment ihrer Lebendigkeit begriffen ist. Die strukturelle Identität von Subjekt und Objekt besteht im Bewegungsgesetz der Genese von Pluralität. Hegels fasst es so: „Der Schluss ist Vermittlung“ (GW 12, S. 126). Das ist der Begriff der Sache, der Objektivität: Die Bewegung des Schlusses ist strukturanalog mit der der Objektivität, denn seine „Bewegung ist das Aufheben dieser Vermittlung, in welcher nichts an und für sich, sondern jedes nur vermittelst eines Anderen ist“ (ebd., S. 126). Der Schluss realisiert eine „vermittelte Unmittelbarkeit“, in der nichts gegeben, sondern alles gesetzt ist. Es muss im Folgenden gerade im Sinne dieses prozessualen Objektivitätsverständnisses spekulativer Logik und ihrer These der Inhaltsgleichheit von Denken und Welt bei ihrem gleichzeitigen Formunterschied darum gehen, den prä-evolutionären Essentialismus und Substantialismus Hegels immanent zu kritisieren, um in seinem Geiste eine pluralistische Alternative zu finden. Hegels Absage an eine apriorische Begründung der Beziehung von Subjektivität und Objektivität geht also damit einher, dass ihre Beziehung in ihren isomorphen und disanalogen Momenten zu beschreiben ist.

8.2 On what there is – Objektivität Der spekulative Begriff der Objektivität zielt darauf ab, sie als Prozess zu beschreiben. Das hat weitreichende, metaphysische Implikationen. So thematisiert Hegel im Übergang von der Subjektivität des Begriffs zur Objektivität der Welt den ontologischen Gottesbeweis. Dieser Übergang ist „seiner Bestimmung nach dasselbe […], was sonst in der Metaphysik als der Schluß vom Begriffe, nemlich vom Begriffe Gottes auf sein Daseyn, oder als der sogenannte ontologische Beweis vom Daseyn Gottes vorkam“ (ebd., S. 127). Der klassische ontologische Gottesbeweis stellt das Absolute als unwandelbar, ewig und tatenlos vor. Das Absolute ist aber, orthodox hegelsch gesprochen, keine Positivität, sondern Negativität: „Gott als lebendiger Gott, und noch mehr als absoluter Geist, wird nur in seinem Thun erkannt“ (ebd., S. 128). Die Bedingungen des Prozesshaften und Le-

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bendigen sind als zentrale Bestandteile des spekulativen Begriffs der Objektivität zu entwickeln. Es ist genau diese Prozessualität auch des Göttlichen, die der klassische ontologische Gottesbegriff nicht begreift: „Doch ist die Objectivität [des Absoluten] gerade um so viel reicher und höher als das Seyn oder Dasyen des ontologischen Beweises, als der reine Begriff reicher und höher ist, als jene metaphysische Leere des InBegriffs aller Realität“ (GW 12, S. 128 f.). Wir sind den theologischen Implikationen des prozessualen Begriffs des Absoluten im zweiten Teil dieser Arbeit nachgegangen und haben dabei Hegels Religionsphilosophie als Immanenztheologie gedeutet, die das Verhältnis des subjektiven zum absoluten Geist über die kommunikativen Prozesse der Aneignung und Teilnahme begreift. Hegel buchstabiert also tatsächlich den Gedanken der „Parusie des Absoluten“ aus.61 Hier im Übergang der Logik von der Subjektivität zum Abschnitt über die Objektivität fokussieren wir auf den Begriff einer prozessual gedachten Objektivität. Um diesen Begriff der Objektivität zu denken, muss es dem Prinzip des materialen Widerspruchs – dem Grundprinzip des Dialethismus – zufolge darum gehen, den konstitutiven Widerspruch der Sache und sie damit in ihrer wesentlichen Spannung zu greifen: Der konstitutive Widerspruch aller Objektivität besteht in der Spannung von Fremdbestimmung und Selbstorganisation, von Mechanik und Teleologie. Objektivität hat eine, wie Hegel sagt „gedoppelte Bedeutung“ (ebd., S. 87): Objektivität meint einerseits dasjenige, worauf sich Subjektivität bezieht. Ohne diesen Bezug blieben die inferentiellen Strukturen gleichsam leer. Objektivität und Subjektivität sind in diesem ersten Sinne aufeinander bezogen. Es ist der erste, relationale Sinne von Objektivität, dem „selbstständigen Begriffe gegenüber zu stehen“ (ebd., S. 131). Objektivität ist, kantisch gesprochen, der Umfang der Begriffe. Zweitens hat Objektivität auch einen nichtrelationalen Sinn, das heißt einen unmittelbaren Sinn. Hier meint 61

Vgl. zu einer Lesart Hegels, die die Absolutheit des Absoluten in seinem Bei-uns-sein sieht: Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“, S. 131 f.

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Objektivität das an und für sich Seiende, also dasjenige, „das ohne Beschränkung und Gegensatz ist“, „frey von Zuthat subjektiver Reflexion“ (ebd., S. 131). Es gilt also zu fragen, wie der relationale, vermittelte Begriff der Objektivität sich zu dem unmittelbaren Begriff der Objektivität verhält. Die Idee einer unmittelbarer Objektivität schematisiert Hegel mittels des Begriffs des Mechanismus. 8.2.1 Mechanismus Der Mechanismus ist etwas Objektives in dem zweiten, unmittelbaren Sinne, dass sich mechanische Prozesse anders verhalten als propositionale und inferentielle Prozesse. Im spekulativen Sinne ist Mechanik eine äußerliche Weise des Verbundenseins von Identität und Differenz. Den Charakter mechanischer Prozesse fasst Hegel darin, „daß welche Beziehung zwischen den Verbunden Statt findet, diese Beziehung ihnen eine fremde ist, welche ihre Natur nichts angeht, und wenn sie auch mit dem Schein des Eins verknüpft ist, nichts weiter als Zusammensetzung, Vermischung, Hauffen, u.s.f. bleibt. Wie der materielle Mechanismus, so besteht auch der geistige darin, daß die im Geist bezogenen sich aneinander und ihm selbst äußerlich bleiben. Eine mechanische Vorstellungsweise, ein mechanisches Gedächtniß, die Gewohnheit, eine mechanische Handlungsweise bedeuten, daß die eigenthümliche Durchdringung und Gegenwart des Geistes bey demjenigen fehlt, was er auffaßt oder thut“ (ebd., S. 133).

Wir können damit zwei Bedeutungen von „mechanisch“ unterscheiden, eine objektive und eine subjektive. Mechanismus meint einerseits eine Verbindung von Objekten, die nur in einer externen Beziehung zueinander stehen und einander nur äußerlich bewirken, eben „Zusammensetzung, Vermischung oder Haufen“. Andererseits beschreibt Mechanismus eine Auffassung objektiver Prozesse, als ob diese nur in äußerlicher Weise miteinander in Beziehung stünden. Die erste Bedeutung können wir als die ontologische Bedeutung bezeichnen. Sie impliziert, dass es mechanische Prozesse gibt, denn nicht jeder Prozess der Objektivität ist Resultat einer immanenten,

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selbstbezüglichen Beziehung von Identität und Differenz. Das Objekt mechanischer Prozesse modelliert Hegel entlang der Begrifflichkeit der Monaden als „in sich abgeschlossene Totalitäten“ (GW 12, S. 136). Die Beziehungen mechanischer Objekte ist ihnen ontologisch sekundär, es ist eine „vollkommene Gleichgültigkeit der Objecte gegen einander“ (ebd., S. 136). Mechanische Objekte sind im Rahmen dieser Konzeption selbständig und ursprünglich. In einer zweiten, eher subjektiv-reflexiven Bedeutung meint Mechanik die Betrachtungsweise objektiver Prozesse, die Hegel mit dem analytischen Verstand assoziiert. Sie ist eine äußerliche Weise der Reflexion. Was wir hinsichtlich der ontologischen Dimension nun zu zeigen haben, ist, dass die Mechanik von Voraussetzungen lebt, die sie selber nicht einholen, also setzen kann. Hegel will somit Mechanik als Teil des ontologischen Gefüges der Welt verstehen, ohne die Welt auf mechanische Prozesse zu reduzieren. Diesen Objektbegriff und sein Defizit konkretisiert Hegel, indem er darauf verweist, dass er einer zentralen Eigenschaft der Objektivität nicht Rechnung tragen kann: Die Objektivität ist kausal strukturiert. Es sind für Hegel also die Normen der hypothetischen Syllogistik, die begründenden Anlass zur Kritik an einseitig mechanischen Auffassungen der Welt geben. Kausalität ist nämlich mit der Vorstellung von Objekten als in sich geschlossenen, „monadischen“ Entitäten unvereinbar, denn was Ursache einer Wirkung ist, war selbst Wirkung einer anderen Ursache. Die kausale Geschlossenheit der Welt ist mit der Konzeption der Objekte als selbständigen Entitäten inkompatibel: „Im Mechanismus ist daher unmittelbar die Ursächlichkeit des Objects eine Nicht-Ursprünglichkeit“ (ebd., S. 137). Die konstitutive Spannung der Mechanik besteht darin, dass Objekte einerseits abgeschlossene Entitäten und Dinge mit Eigenschaften zu sein scheinen, gleichzeitig aber alle Objektivität konstitutiv unabgeschlossen ist. Eine mechanische Metaphysik im Sinne einer natürlichen Ontologie abstrahiert von diesem Widerspruch, wenn sie der Vorstellung verfällt, die Objektivität bestünde aus abgeschlossenen Dingen mit Eigenschaften statt aus Relationen.

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Hegels spekulative Ontologie zieht hingegen aus dem Widerspruch aller Objektivität den Schluss, dass kausal-mechanische Verhältnisse der Materie und geistige Verhältnisse unter einen Gattungsbegriff zu bringen sind, um so die je spezifische Weise artikulieren zu können, wie sie ihren Widerspruch manifestieren. Diesen Gattungsbegriff findet Hegel im Begriff der „Mittheilung“ (ebd., S. 137). Die Mitteilung fasst Dinglichkeit unter sich und ist ihr ontologisch vorgelagert. Dinglichkeit manifestiert sich nur als Moment von Mitteilungsprozessen und liegt ihnen nicht voraus. Dinglichkeit ist eine Weise, eine Modalität von Kommunikation, und ist, paradox gesagt, die Teilnahme an Kommunikation im Modus der Nichtkommunikation. Die hegelsche Rede vom Mitteilungscharakter der Objektivität rückt in gefährliche Nähe zu Anthropomorphisierung, als ob sich die Objekte der Welt miteinander unterhielten. Der Begriff der Dinglichkeit muss also eine Differenz zu geistiger Kommunikation aufweisen, die keine ad hoc Reaktion auf die problematische Nivellierung von materiellen und geistigen Mitteilungsverhältnissen darstellt. Daher muss ein signifikanter Unterschied, die differentia specifica von geistiger und materieller Kommunikation identifiziert werden, soll der Gattungsbegriff nicht auf die Nivellierung der Differenz von geistiger Mitteilung und der „Mittheilung zwischen materiellen Objecten“ hinauslaufen. Gemeint ist, dass physikalische Kräfte wie „Bewegung, Wärme, Magnetismus, Electricität und dergleichen“ nur in ihrer Wechselwirkung von „Action und Reaction“ begriffen werden können (ebd., S. 140). In Reaktion auf die Mitteilung einer Kraft behauptet das Objekt seine Äußerlichkeit und manifestiert sich so überhaupt erst als dinglicher Gegenstand. Objekt zu sein ist folglich, in antagonistischer Weise auf eine Mitteilung zu reagieren. Objekt im spekulativen Sinne ist also etwas, das „Widerstand“ leistet gegen die „Ueberwältigung des einen Objects durch das andere“. Widerstand heißt, „das mitgetheilte Allgemeine […] für sich zu specificieren“ (ebd., S. 141). Objektivität im kausalen Sinne heißt, der Mitteilung und Einwirkung einer Kraft eine Kraft entgegenzusetzen und sich in diesem

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Gegensatz zu manifestieren. Der Widerstand des Objekts gegen die Einwirkung kann überwältigt werden, wenn das Objekt nicht die „Capacität für das Mitgetheilte hat“ (GW 12, S. 141), die Kraft also nicht spezifieren, ihr nichts entgegenhalten kann. Kausalität teilt sich in diesem Falle dadurch mit, dass das Stärkere dem Schwächeren „Gewalt“ und „Macht“ antut. Mitteilung ist Macht, wenn sie durch das Reagierende, eben ihr Objekt, nicht spezifiziert werden kann und das Objekt in dieser Kommunikation sogar vergeht. Wir können den mechanischen Objektbegriff durch Rekurs auf seine logische Struktur beschreiben: Objektive mechanischer Prozesse, mithin Dinge, manifestieren sich in den logischen Relationen des Gegensatzes. Mechanische Verhältnisse sind so entweder konträr oder kontradiktorisch. Ist der Gegensatz kontradiktorisch, ordnet sich eine Kraft der anderen unter, die andere Seite bleibt bestehen. In konträren ordnet sich eine Kraft der anderen unter oder beide vergehen in ihrem Gegeneinander. In den Möglichkeiten, wie mitgeteilte Kraft spezifiziert werden kann, liegt nun die Differenz von geistiger Kommunikation und physikalischer Kommunikation. Mechanische Wechselwirkungen sind sozusagen blind. Mechanische Kommunikation kann nicht angeeignet werden, das heißt, dass die „objective Allgemeinheit [von physikalischer Mitteilung] vom Subject in seiner specifischen Eigenheit nicht erkannt wird“ (ebd., S. 141). Mechanische Kommunikation ist zwar regelhaft, durch Gesetze beschreibbar und insofern intelligibel, ergibt aber keinen objektiven Sinn. Mechanische Prozesse erfüllen keinen Zweck. „Als bloße Objecte haben die nur lebendigen Naturen wie die übrigen Dinge von niedriger Stuffe kein Schicksal; was ihnen widerfährt, ist eine Zufälligkeit“ (ebd., S. 141). Objekt mechanischer Kommunikation ist damit ein Dasein, das sich die Wechselwirkungen, in denen es entsteht, selbst nicht aneignen kann. Es ist sozusagen kein Schicksal, was dem Objekt geschieht, sondern nur das blinde Spiel der mechanischen Kräfte. Ein wirkliches Schicksal zu haben, setzt für ein beliebiges Etwas voraus, sich von den Relationen entfremden zu können, in denen

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dieses Etwas entsteht. Hegel fasst die Differenz von geistiger und physikalischer Kommunikation so: „Ein eigentliches Schicksal hat nur das Selbstbewußtsyn; weil es frey, in der Einzelnheit seines Ich daher schlechthin an und für sich ist, und seiner objectiven Allgemeinheit sich gegenüberstellen, und sich gegen sie entfremden kann. Aber durch diese Trennung selbst erregt es gegen sich das mechanische Verhältniß des Schicksals“ (ebd., S. 142).

Der Mechanismus konstituiert damit ein Verhältnis der Äußerlichkeit, in dem sich die bezogenen Entitäten zwar wechselseitig konstituieren, sich aber ihre Konstitutionslogik nicht aneignen können. Der Widerspruch der Mechanik ist somit, dass die mechanischen Objekte ihrem inneren Wesen nach durch etwas konstituiert sind, das ihnen selbst äußerlich ist und bleiben muss. Erst dasjenige, was sich von kommunikativen Wirkungen entfremden kann und sie durch seine Individualität spezifiziert, ist Subjekt. Das Objekt hingegen eignet sich die kommunikativen Strukturen weder an und noch entfremdet es sich von ihnen. Die mangelnden kommunikativen Möglichkeiten des Objektes implizieren nicht die These, dass es keine mechanischen Prozesse gäbe, gibt es doch Objekte, denen ihre Beziehung auf Anderes gleichgültig ist. Mechanik ist als Struktur kommunikativen Handels für den Geist aber eine unangemessene Weise der Mitteilung. Dingliche Objektivität ist das, was sich nicht selbstbewusst zu den Gegensätzen verhält, in denen es sich konstituiert. Ein Ding kommuniziert ohne Reflexion. Dinglichkeit ist unmittelbare Kommunikation. Geistige Subjektivität ist aufgrund ihrer expliziten, selbstbezüglichen Struktur potentiell in der Lage, sich von den kommunikativen Prozessen, in denen sie entsteht, durch Reflexion zu entfremden. Das Objekt hingegen ist ohne diese Selbstbezüglichkeit nur eine unmittelbare Weise, im Anderen zu sein. Diese Form der Unmittelbarkeit tritt entweder ein, wenn ein Objekt über keine Vermögen der begrifflichen Reflexion verfügt oder wenn Macht oder Gewohnheit die Ausübung seiner Vermögen unterbinden. Wenn geistige, aneignende Wesen in mechanischen Relationen zueinander stehen oder gebracht werden, ist das

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eine Art von Regression der kommunikativen Formen des Geistes. Mechanische Verhältnisse sind unfreie und problematische Verhältnisse. Sie leben als gegensätzlich-antagonale Prozesse von Voraussetzungen, die sie selber nicht reproduzieren können. 8.2.2 Chemismus Im chemischen Objekt wird der implizite Widerspruch des mechanischen Objektes explizit. Das mechanische Ding ist das, dem seine Relationalität sekundär ist, obwohl es als Objekt primär in materiellen Mitteilungsprozessen steht. Seine Relationalität und sein Bezug auf Anderes verhalten sich indifferent zu seiner monadischen, dinglichen Erscheinung. Diese Indifferenz beginnt das chemische Objekt aufzulösen. Es „unterscheidet sich von dem mechanischen dadurch, daß das Letztere eine Totalität ist, welche gegen die Bestimmtheit gleichgültig ist; bey dem chemischen dagegen gehört die Bestimmtheit, somit die Beziehung auf anderes, und die Art und Weise dieser Beziehung, seiner Natur an“ (GW 12, S. 148).

Der chemische Prozess ist deshalb „die erste Negation der gleichgültigen Objectivität, und der Aeusserlichkeit der Bestimmtheit; es ist also noch mit der unmittelbaren Selbstständigkeit des Objects und mit der Aeusserlichkeit behaftet“ (ebd., S. 152). Der Widerspruch der Mechanik – die Äußerlichkeit seines inneren Prinzips – wird durch den Schritt in den Chemismus partiell produktiv gemacht. Das chemische Objekt ist nämlich „der Widerspruch seines unmittelbares Gesetztseyns und seines immanenten individuellen Begriffs“ (ebd., S. 149). Das chemische Objekt strebt die Prozesse an, in denen es sich realisiert, während das mechanische Objekt sie nur erleidet. Der Chemismus stellt aber nur die erste Negation der objektiven Unmittelbarkeit dar. Das heißt, die Negation der Gleichgültigkeit ist unvollständig, da der Widerspruch des chemischen Objekts neutralisiert wird. Das chemische Objekt liefert so einen wichtigen Baustein, um die Wirklichkeit als Prozess zu verstehen, denn das chemische Ob-

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jekt ist in der Wechselwirkung mit anderen wesentlich bei sich. „Sonach ist ein chemisches Objekt nicht aus ihm selbst begreiflich, und das Seyn des Einen ist das Seyn des Andern“ (ebd., S. 149). Um ein chemisches Element zu begreifen, sind seine Eigenschaften zu beschreiben. Chemische Elemente sind wesentlich reaktiv und somit konkreter als die mechanischen Objekte, denen ihr Sein durch Anderes sekundär oder äußerlich scheint. Chemische Prozesse sind reaktive Prozesse, in denen eine energetische Differenz auf eine beschreibbare und gesetzmäßige Weise ausgeglichen wird. In chemischen Reaktionen lösen Identität und Differenz, das eine Object und das andere, ihren Gegensatz auf und verbinden sich in einer „negativen Einheit“. Ihr „Product ist ein neutrales“ (ebd., S. 150), das heißt, in ihrer Verbindung verlieren beide zwar ihren Gegensatz. Sie erhalten sich nicht als die besonderen Objekte, die sie vor der chemischen Synthese waren. Die negative Einheit des Chemismus ist damit eine differenzlose, spannungslose Einheit, weil der chemische Prozess ihren Gegensatz nur in eine neutrale Verbindung überführt. Man könnte auch sagen, dass die chemische Verbindung zwar die wesentliche Relationalität aller Dinge realisiert, dies aber nur im Sinne einer Synthese tut. In einer wirklichen, das heißt dialektischen Verbindung erhält sich der Widerspruch als das verbindende Moment. Er wird nicht neutralisiert. Der chemische Prozess lässt sich in diesem Sinne als eine erste Verflüssigung fester Gegensätze verstehen. Diese objektive Verflüssigung der Gegensätze im Chemismus liefert damit eine konzeptionelle Möglichkeit, um die Objektivität spekulativ zu verstehen, also um den Entwicklungscharakter der Wirklichkeit betonen zu können. Was ist aber das Problem des Chemismus? Der chemische Prozess setzt eine energetische Differenz voraus. Daher ist sein Resultat nur eine Synthese, eine neutrale Einheit von vormals Differentem. Im chemischen Prozess wird die Bewegung der Auflösung der logischen Struktur plastisch, die den Gegensatz des Mechanismus kennzeichnet. Die chemische Reaktion eröffnet die Möglichkeit, diesen abstrakten, dinglichen Gegensatz zu überwinden. Die Möglichkeit besteht darin, dass beide sich durch den ursprüngli-

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chen Prozess ihrer Verbindung verändern und so durch Verbindung zu dem werden, was sie an sich sind. Im chemischen Prozess ist die Konstitutionslogik insofern den Elementen innerlich, als dass sie in der Reaktion verschmelzen und sich transformieren. Dadurch verschwindet aber ihre Differenz. Konkret ist daher erst die Relation, in der sich beide Elemente sowohl transformieren als auch erhalten. Dieser Begriff des chemischen Objektes ist damit weiter als der einer theoretischen Chemie im engeren Sinne. Der chemische Prozess wird in der Logik in seiner logischen Struktur gefasst, das heißt als formales „Schema“, das wir auf andere Relationen übertragen können: „Im Lebendigen seht das Geschlechts-Verhältniß unter diesem Schema; so wie es auch für die geistigen Verhältnisse der Liebe, Freundschaft, u.s.f. die formale Grundlage ausmacht“ (GW 12, S. 149). Es ist zwar, wie man so sagt, für gelingende geistige Verhältnisse zentral, dass „die Chemie“ stimmt. Sensu stricto ist die hegelsche Übertragung des chemischen Schemas auf geistige Verhältnisse aber problematisch, da sie impliziert, dass sexuelle Differenz und geistige Kommunikation keine dialektische, sondern eine neutralisierbare Natur hätten. Damit wäre ihre Verbindung im erläuterten Sinne synthetisch, also ein Nivellieren vorausgesetzter Differenzen. 8.2.3 Teleologie und Freiheit Hegels Rekonstruktion der wesentlichen Prozesse der Objektivität kennt mit Mechanik und Chemismus zwei Prozesse, die sich als gesetzmäßige Prozesse beschreiben lassen. Umfassen nun aber die beiden Naturmechanismen tatsächlich alle objektiven Prozesse oder gibt es eine Gesetzlichkeit, die weder auf Mechanik noch Chemismus zu reduzieren ist? Die zentrale philosophische Frage, auf die das Kapitel zur Objektivität der Logik zuläuft, betrifft damit die kosmologische Frage nach der kausalen Geschlossenheit der Welt. Es geht also um die wissenschaftliche Interpretation der kosmologischen Dimension der Objektivität. Wenn alle objektiven Prozesse entweder mechanisch oder chemisch zu schematisieren wären, wäre ein teleologischer Schematismus objektiver Prozesse Ausdruck falscher

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Metaphysik. Die Selbstwahrnehmung des Geistes in seiner Freiheit, selbstgesetzte Zwecke zu verfolgen, setzt aber die Geltung teleologischer Beschreibungen voraus. Hegels teleologisch-organologische Konzeption der Wirklichkeit lässt sich auf dieser Basis gut als eine Art Anti-Mechanismus interpretieren.62 Es geht mit der Frage der Vollständigkeit mechanischer und chemischer Prozessualität keineswegs nur um naturphilosophische Fragen. Mit der Frage nach dem Selbstverständnis des Geistes und den Bedingungen ihrer Reflexion ist eine genuin ethische Frage angesprochen. Mit dieser Fragestellung schließt Hegel unübersehbar an die spekulativen Momente in Kant an. Kant wie Hegel adressieren mit der dritten Antinomie der transzendentalen Dialektik (Kant) beziehungsweise im Objektivitätsabschnitt der Logik (Hegel) die Freiheitsproblematik als zentrales Element des Selbstverständnisses der Vernunft, wie die folgende, längere Passage zu Kant deutlich macht. „Eines der grossen Verdienste Kants um die Philosophie besteht in der Unterscheidung, die er zwischen relativer oder äusserer und zwischen innerer Zweckmässigkeit aufgestellt hat; in letzterer hat er den Begriff des Lebens, der Idee, aufgeschlossen und damit die Philosophie, was die Kritik der Vernunft nur unvollkommen, in einer schieffen Wendung und nur negativ thut, positiv über die Reflexionsbestimmungen und die relative Welt der Metaphysik erhoben. Es ist erinnert worden, daß der Gegensatz der Teleologie und des Mechanismus zunächst der allgemeinere Gegensatz von Freyheit und Nothwendigkeit ist. Kant hat den Gegensatz dieser Form, unten den Antinomien der Vernunft und zwar als den dritten Widerstreit der transcendentalen Ideen aufgeführt“ (ebd., S. 157).

Der „Begriff des Lebens“ kennt mit Selbstorganisation, zweckmäßig eingerichteten Organismen und der Systematizität seiner Formen Momente, die sich, so die physikotheologische Annahme, nicht auf das Wirken von Kontingenz reduzieren lassen. Teleologie im Sinne äußerer Zweckmäßigkeit bedarf aber eines „bestimmenden Ver62

Vgl.: Horstmann, Ontologie und Relationen, S. 70 ff.

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stands“ (GW 12, S. 159). Die hegelsche Terminologie des Verstandes gibt bereits zu erkennen, dass für ihn die rational-theologische Interpretation des Prinzips der Zweckmäßigkeit keinen höheren spekulativen Sinn erfüllt. Der „formelle Nachtheil“ kosmologischer Teleologie besteht für Hegel darin, dass sie die selbstbezügliche Struktur der Objektivität nur nach dem Schema der „äussern Zweckmäßigkeit“ vorstellt (ebd., S. 156). Das ist philosophisch unbefriedigend. Es geht vielmehr darum, die Frage nach dem inneren Zweck der Welt als eine genuin philosophische Frage zu begreifen, die jenseits der „relativen“, also dogmatischen Welt der Metaphysik steht. Nun stehen teleologische Erklärungen unter einer schweren epistemischen Hypothek. Denn wenn die Objektivität nicht allein durch Naturkausalität strukturiert, sondern zweckmäßig eingerichtet ist, stellt sich sofort die Frage nach dem Urheber der teleologischen Einrichtung. Das teleologische Prinzip hängt „mit dem Begriffe eines ausserweltlichen Verstandes zusammen“ und ist so „von der wahren Naturforschung“ entfernt, die „die Eigenschaften der Natur nicht als fremdartige, sondern als immanente Bestimmtheiten erkennen will“ (ebd., S. 155). Naturerklärungen, die auf mechanische und chemische Gesetze rekurrieren, kommen ohne die wissenschaftlich problematische Existenzannahme eines außerweltlichen Verstandes aus und postulieren lediglich ein „Ganze[s] von gegenseitigen Ursachen“ (ebd., S. 155), eben die These der kausalen Geschlossenheit der Welt. Mit Kant können wir den inneren Zweck der Objektivität so deuten, dass wir Menschen ihn zwar in die Welt hineinlegen, ihn aber hineinlegen müssen, um uns in unserer freien Reflexivität gerecht zu werden. Im Postulat objektiver Zweckbeziehungen ist damit die Dimension des Selbstverständnisses der Vernunft angesprochen. Trotz der epistemischen Hypothek des teleologischen Prinzips hält auch Hegel es für das überlegende Prinzip. Er verweist hier zwar nicht explizit auf Aristoteles, artikuliert die Frage nach der Geltung des teleologischen Prinzips aber in dessen vererbter Terminologie und parallelisiert den Gegensatz von Mechanik und Teleologie als „Gegensatz von Causis efficientibus und Causis finalibus, bloß

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wirkenden und Endursachen“ (ebd., S. 154). In der Tradition des Aristoteles fasst Hegel denn die Teleologie so als das höhere Prinzip auf: „Die Zweckbeziehung hat sich aber als die Wahrheit des Mechanismus erwiesen.“ Hegel begründet diese Höherstellung des teleologischen Prinzips damit, dass mechanische Verhältnisse Verhältnisse des unfreien Bestimmtseins sind, die den Objekten mechanischer Wechselwirkung keine Aneignung und „Selbstbestimmung“ erlauben (ebd., S. 157). Eingedenk der epistemischen Hypothek teleologischer Naturerklärungen steht diese Positionierung Hegels unter dem Vorbehalt, einer naiven Rechtfertigung natürlicher Teleologie das Wort zu reden.63 Wie ließe sie sich also in ihrem wissenschaftlichen Anspruch rekonstruieren? Seiner These gibt Hegel eine spekulative Begründung und folgt darin Kant, der den Zweckbegriff in der KU einführt und damit die aristotelische Idee von den Endursachen fortbestimmt. Der Zweck ist bei Kant so „der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält“.64 Was meint der Begriff eines Objektes, der als Zweck dessen Wirklichkeit enthält? Was ist also eine Endursache? Kant unterscheidet nun innere und äußere Zweckmäßigkeit. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit wird somit nicht mehr darüber hergeleitet, dass alle Dinge in der Natur selbst Zweckprodukte im Sinne unmittelbarer Produkte äußerer Zwecksetzung wären, wie es die Tradition rationaler Theologie tut. Kants These ist vielmehr, dass sich die Systematik der Natur unseren Erkenntnisprinzipien gemäß spezifiziert. Wir können die Spezifikationsthese damit im ersten Schritt als subjektiv-formales Prinzip verstehen. In der Erfahrung des Schönen begreifen wir, dass sich die Natur unserer Erkenntnisvermögen gemäß spezifiziert.65 Diese Erfahrung berechtigt zur Analogisierung von subjektivem und objektivem Prinzip. Die Spezifikation der Natur ist zwar ein Prinzip 63 64 65

Vgl.: Bowman, Hegel and the Metaphysics of Absolute Negativity, S. 47. Kant, KU, BXXVII. Vgl.: Förster, Kant’s Final Synthesis und Haag, „Darstellungen der Zweckmäßigkeit in Kants Kritik der Urteilskraft“, S. 167 zur Nähe von Kants Naturbegriff zu seinem Freiheitsbegriff.

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der Urteilskraft und insofern subjektiven Ursprungs, hat aber als Prinzip der Erfahrung auch objektive Gültigkeit, die anzunehmen allen Vernunftsubjekten anzusinnen sei: „Hier entspringt nun der Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur und zwar als ein eigentümlicher Begriff der reflektierenden Urteilskraft, nicht der Vernunft; indem der Zweck gar nicht im Objekt, sondern lediglich im Subjekt und zwar dessen bloßem Vermögen zu reflektieren gesetzt wird. Denn zweckmäßig nennen wir dasjenige, dessen Dasein eine Vorstellung desselben Dings vorauszusetzen scheint; Naturgesetze aber, die so beschaffen und auf einander bezogen sind, als ob sie die Urteilskraft zu ihrem eigenen Bedarf entworfen hätte, haben Ähnlichkeit mit der Möglichkeit der Dinge, die eine Vorstellung dieser Dinge, als Grund derselben voraussetzt. Also denkt sich die Urteilskraft durch ihr Prinzip eine Zweckmäßigkeit der Natur, in der Spezifikation ihrer Formen durch empirische Gesetze.“66

In der reflektierenden Urteilskraft dient das Prinzip der Zweckmäßigkeit als selbst gesetzte heuristische Maxime und schafft keine objektiven Tatsachen.67 Diese Maxime ist trotzdem nicht bloß subjektiv und beliebig. Wir müssen das Prinzip der Systematik der Natur unterstellen, um Sinn daraus zu machen, dass wir Sinn aus der Natur machen. Die empirische Mannigfaltigkeit der Natur ist kein Grundsatz a priori, sondern Sache empirischer Erforschung, also von synthetischen Urteilen a posteriori. Die reflektierende Urteilskraft schreibt sich selbst dieses Prinzip vor, ohne dass es für die Natur unmittelbar und empirisch bestimmend wäre. Die Urteilskraft gibt damit nicht Fremdem dessen Gesetz, sondern sie ist nach einem kantischen Ausdruck „heautonom“.68 Die Urteilskraft verfährt dabei nicht schematisch, stiftet also Einheit nicht anhand der Nomothetik der Verstandesregeln, weil sich die empirische Vielfalt des Lebens nicht aus den Grundsätzen a priori ableiten lässt. Die Selbstgesetzgebung der Urteilskraft hat damit keine fixen Kriterien für die Richtigkeit des eigenen Prinzips und zeigt gerade in die66 67 68

Kant, KU, AA V 216. Ebd., AA V 180. Ebd., AA V 186.

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ser Offenheit ein wesentliches Strukturelement der Objektivität. Da sie sich ein freies Prinzip gibt, verhält sich diese Selbstbestimmung analog der empirischen Spezifikation. Die nichtschematische Gesetzmäßigkeit der reflektierenden Urteilskraft können wir, Ginsborg folgend, als „thin normativity“ bezeichnen.69 Wir können auch von offener Normativität sprechen. Während die Kausalität eine konstitutive Dimension der Objektivität in dem Sinne ist, dass alle Objektivität der Kausalität unterliegen muss, um überhaupt in ihrer Objektivität begriffen werden zu können, drücken die normativen Strukturen des Zwecks eine schwächere Art der Gesetzmäßigkeit aus. Sie ist keine den Gegenständen externe äußere Größe, keine bloß subjektive Projektion. Die Zweckmäßigkeit der Objektivität etabliert ein internes Kriterium für ihre Beurteilung; ein Kriterium, das im Prozess der Zweckrealisierung selbst liegt. Der Idee offener Normativität können wir uns anhand eines Beispiels nähern. Es geht um die Analogie von Urteilen über Zweckmäßigkeit mit Urteilen über das Schöne. In der Erfahrung des Schönen, etwa der Rezeption eines Jazzstücks, wird der dabei zugrundeliegende Standard durch seine Improvisation aktualisiert. Sowohl die rezeptive Beurteilungen der Improvisation als auch der Anschluss an sie verlaufen weder schematisch noch vollständig unbestimmt, sondern ergeben sich aus dem Prozess der Aktualisierung selbst. Die Normativität wird deshalb nicht unkontrovers, aber dennoch normativ sein. Die Analogie der nichtschematischen Systematik des freien Spiels der subjektiven Erkenntniskräfte und der inneren Zweckmäßigkeit der Welt ist aus Kants Perspektive gerechtfertigt, da beide von offener Normativität gekennzeichnet sind. Zulässig ist diese Übertragung der subjektiven Struktur der Erkenntnis auf die Objektivität im Sinne ihrer inneren Zweckmäßigkeit aber nur, solange die Grenzen der Analogie eingehalten werden: Die Analo69

Vgl. etwa: Ginsborg, „Thinking the Particular as contained under the Universal“ und Massimi und Breitenbach, „Why Must We Presuppose the Systematicity of Nature?“, S. 82.

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gie bezieht sich für Kant nur auf die Dinge der Erscheinung, nicht auf die Dinge an sich selbst. Grundsätzlich affirmiert Hegel diesen spekulativen Gedanken Kants, kritisiert aber die Konsequenz, dass die Zweckmäßigkeit der Objektivität aufgrund nicht reflektierter Präsuppositionen mit diesem Analogie-Argument zu einem unklaren „Als-ob“ werde. Der Gedanke der Heautonomie der reflektierenden Urteilskraft verunklare die offene Korrespondenz von Denken und Wirklichkeit. Anstatt nun Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip zu fassen, geht Hegel den Weg, das Prinzip der Zweckmäßigkeit mit einer prozessual gedachten Wirklichkeit zu verbinden. Er befragt die naturphilosophische Prämisse Kants, nach der die Natur ein Reich der Notwendigkeit sei. Das Analogie-Argument macht dessen Revision vielmehr logisch notwendig. Wenn die Analogie von innerem Zweck und empirischer Vielfalt durch das Tertium offener Normativität getragen sein soll, kann die Natur nicht als Reich reiner, mechanischer Notwendigkeit schematisiert werden. Kant begründet also die These der Systematizität der Welt damit, dass sie als freies, nicht nomothetisches Spiel der reflexiven Freiheit der Vernunft analog sein soll. Es schwächt aber sein Argument, dass er dabei bei einer abstrakten Naturkonzeption stehenbleibt. Hegel schließt an den Grundgedanken Kants an, indem er dessen Begriff des Naturprozesses kritisch fortführt. Die Objektivität spekulativ zu verstehen, setzt nämlich voraus, den Entwicklungscharakter der Natur mit ihrem Zweckcharakter zu verknüpfen. Wir werden unten sehen, dass Hegel diesen Gedanken zwar fasst, aber dabei noch die Arten und Gattungen im Sinne des statischen Begriffsrealismus als abgeschlossen und gegeben denkt.70 Es wird also aus Hegel heraus die These der natürlichen Ordnung zu problematisieren sein. Die Frage entbrennt an der Integration des Darwinismus in Hegels spekulative Prozessontologie. Diese Integration wird eine Modifikation einer der naturphilosophischen Prämissen Hegels nötig machen. Es wird so der Begriff der Pluralität der Naturformen 70

Zu dieser Einschätzung kommt auch: Pinkard, Hegel’s Naturalism, S. 57.

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zu gewinnen sein, um den spekulativen Grundgedanken von Kant und Hegel wirklich zu entfalten. Um Hegels Beitrag zum philosophischen Problem der Freiheit im pluralistischen Sinne zu aktualisieren, müssen wir zuvor noch genauer lokalisieren, bei welchen Prozessen sich Fragen nach der Freiheit überhaupt stellen. Mechanische und chemische Prozesse realisieren in unterschiedlicher Weise Wechselwirkungsrelationen von Objekten. Sie kennen aber keine Selbstbestimmung der Objekte, Objekte sind hier nur Objekte. Nur selbstbezügliche Strukturen sind in der Lage, sich selbst Ziele und Zwecke zu setzen. Damit ist die Existenzannahme verbunden, dass es solche selbstbestimmten, freien Strukturen tatsächlich gibt. Hegel begründet diese These mit der Existenz von Leben, denn Leben realisiert eine selbstbezügliche Struktur, ist im Prozess seiner Entwicklung bei sich. Leben ist Subjekt und Objekt zugleich. Leben erleidet und macht leiden. Nun realisiert nicht jede selbstbezügliche Struktur Freiheit. Es gibt, wie Hegel das nennt, „unorganische Natur“, bloß lebendiges Leben. Umgekehrt gilt, dass jedes Leben, das Freiheit verwirklicht, eine selbstbezügliche Struktur hat. Solche Strukturen nennt Hegel „geistiges Leben“. Erst das geistige Leben realisiert Freiheit im vollen Sinne der Verwirklichung seiner selbst im Anderen. Insofern ist das geistige Leben nur von anderer Art als bloß lebendiges Leben. Denn geistiges und lebendiges Leben sind als selbstbezügliche Strukturen nicht von anderer Gattung, nicht von einer anderen Substanz. Geist und Natur etablieren so keinen Substanzdualismus. Sie sind in ihrer Subjektivität, in ihrer Selbstbezüglichkeit, identisch. Geist und Natur gleichen sich also darin, selbstbezüglich zu sein, unterscheiden sich zugleich darin, wie sie ihren Selbstbezug im Anderen realisieren. Um den Grundbegriff des Lebens pluralistisch fortzubestimmen, müssen wir hier einen Schritt zurücktreten und an die Ergebnisse der obigen Diskussion des Abschnittes zur Subjektivität erinnern. Wir haben dabei mit der inferentiellen Struktur des Begriffs die Idee in ihrer Subjektivität rekonstruiert. Der Begriff ist keine starre, gegebene Struktur, die nur deduktive Ableitungen erlauben wür-

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de. Hegels spekulativer Begriff beschreibt vielmehr die Grammatik lebendiger epistemischer Praxis. Diese Grammatik ist aber solange nur formal und inhaltsleer beschrieben, wie mit der Objektivität ihr Anderes nicht in den Blick genommen wird. Die Objektivität ist für Hegel wesentlich prozessual konstituiert. Seine These der spekulativen Identität von Subjektivität und Objektivität beruht darauf, dass die objektiven Prozesse in Wechselwirkung mit den subjektiven stehen. Die spekulative These von der Wechselwirkung von Objektivität und Subjektivität gründet in der Idee der selbstbezüglichen Selbstbewegung von Begriff und Leben. Selbstbewegung ist die analytische Hinsicht, die es erlaubt, die spekulative Identität von Subjektivität und Objektivität zu fassen. Der Begriff ist als die subjektive Realität der Idee wesentlich die Bewegung der Vermittlung seiner logischen Formen. Die Welt als objektive Realität der Idee existiert ebenfalls als Prozess der Vermittlung ihrer Grundformen. Die Natur trägt also genauso einen Entwicklungscharakter wie der Begriff. Subjektivität und lebendige Objektivität sind als selbstbezügliche Strukturen auf dieser höheren Ebene strukturgleich. Wer die Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität begreifen will, muss beide als Leben verstehen. Es gibt kein Leben, das sich binär und schematisch fassen ließe: Leben leidet und macht leiden. In diesem grundlegenden Widerspruch von Subjektivität und Objektivität, Fürsichsein und Ansichsein, erst entwickelt das Leben Selbstbewusstsein. Auch geistiges Leben bleibt Leben und entsteht aus der Grundspannung allen Lebens von Mortalität und Natalität. Um nun aber mit Hegel die Identität von Subjektivität und Objektivität im Begriff des Lebens wirklich spekulativ zu fassen, wird es einer Korrektur seines Begriffs des Lebens bedürfen, die sich aus der nötigen Integration des darwinschen Paradigmas des Lebens ergibt. Die Grammatik des Lebens ist nicht als scala naturae zu fassen, sondern als die Pluralität der Lebensformen. Diese Korrektur versteht sich als kritische Fortführung von Hegels allgemein prozessontologischer und dialethischer Metaphysik, geht Hegels Naturbegriff

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doch über die Naturbegriffe von Aristoteles und Kant hinaus.71 Hegel fehlen aber die konzeptuellen Mittel, um die Logik der Wirklichkeit wirklich im Sinne des Entwicklungscharakters der Natur und der Pluralität des Lebens reflektieren zu können. Hegel steht gewissermaßen am Scheidepunkt einer traditionellen Naturkonzeption, die die Konstanz der Arten und Gattungen primär setzt, und einer modernen kybernetischen Naturkonzeption, die die Variation der Arten als das Primäre denkt. Um Hegels systematische Ambivalenz präzise zu zeichnen, müssen wir zuerst die hegelsche Lehre des natürlichen Lebens darstellen. Das Problem ist, dass für Hegel das natürliche Leben eine aufzuhebende Voraussetzung des Geistes ist. Es wäre aber, wie die dann folgende Kritik argumentieren wird, konsequenter, sie als die Biosphäre des Geistes zu begreifen. Um diesen Schritt zu gehen, werden wir auf Überlegungen der theoretischen Biologie des 20. Jahrhunderts zurückgreifen, die es erlauben, die Erde als selbstbezügliches System zu identifizieren, und die unter dem Titel der Gaia-Hypothese bekannt sind. Es geht mit Aufnahme dieser Hypothese darum zu zeigen, dass eine Aktualisierung der hegelschen Logik mit Blick auf ihre ontologischen Voraussetzungen unbedingt die ökologische Dimension des Geist-Natur-Verhältnisses zu reflektieren hat. Wer das als New-Age-Ideologie abtut, verpasst den wesentlichen Einsatzpunkt einer Aktualisierung spekulativer Naturphilosophie. 8.2.4 Natur als Voraussetzung des Geistes Das im Lebensbegriff aufgeworfene, exegetische wie systematische Problem ist, dass Hegel die Arten und Gattungen als abgeschlossen und gegeben denkt und damit ein post-aristotelisches, das meint hier prä-darwinistisches Paradigma des nur lebendigen, nichtgeistigen Lebens aktualisiert. Gleichzeitig antizipiert Hegels spekulative Grammatik des Lebens die systematischen Grenzen des orthodoxen Aristotelismus, fasst Hegel doch in seiner Naturphilosophie die 71

Winfield, Universal Biology after Aristotle, Kant, and Hegel, S. 9 f.

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Gattungsallgemeinheit des Lebens explizit als „Gattung-Process“ (GW 20, § 367) auf und reflektiert in diesem Begriff den Entwicklungscharakter der Natur. Es gibt damit in Hegels Naturphilosophie an der Schnittstelle zur Logik in der logischen Kategorie des Lebens einen tief gehenden Reflexionsmangel. Einerseits ist es die „Ohnmacht der Natur, die Strenge des Begriffs nicht festhalten und darstellen zu können, und in diese begriffslose blinde Mannichfaltigkeit [ihrer Arten und Gattungen] sich zu verlaufen“ (GW 12, S. 177). Andererseits denkt Hegel in seiner Naturphilosophie den prozessontologischen Ansatz seiner Logik fort. Hegel ist in seiner Behandlung des Lebensbegriffs sozusagen nicht Hegelianer genug: „Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sey, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz“ (ebd., S. 188). Das Leben ist aber nicht nur Schmerz und Leiden, es besteht auch aus Liebe und der Schönheit der Vielfalt seiner Formen. Leben ist Überschuss, Kraft und Ausdruck. Erst in der Spannung von Schmerz und Schönheit ist der Widerspruch des Lebens denkbar. Das Leben aktualisiert ein offenes Telos, kein substantiell gegebenes Ziel. Darstellung und Kritik von Hegels Metaphysik können dazu beitragen, einen Begriff der Natur als Biosphäre zu entwickeln, in der Leben entsteht und evolviert. Meines Erachtens stellt Hegels Metaphysik also durchaus eine dialektische Struktur bereit, die ein evolutionäres Weltbild integrieren kann.72 Eine dieser Integration entgegenstehende Annahme ist die der Stufenleiter der Natur, die die ausgestellte Position des Menschen im Zentrum des Universums definiert. Diese Idee der Stellung des Menschen hat religiöse Wurzeln, die auch oft bei denen noch wirksam sind, die sich einer säkularen, wissenschaftlichen Weltsicht verschreiben. Die immanente Kritik dieses Anthropozentrismus stützt sich aber darauf, keinen externen Maßstab an Hegels wissenschaftliche Metaphysik heranzutra72

Vgl. zu dieser Einschätzung auch: Harris, „How Final Is Hegel’s Rejection of Evolution?“, S. 197.

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gen, sondern sie in ihrem prozessontologischen Geiste zu aktualisieren. Zum Zwecke der Kritik muss zuerst der prozessontologische Charakter des spekulativen Naturbegriffs dargestellt werden. Den Naturprozess ordnet Hegel in drei Unterprozesse, die keine Stationen der Naturgeschichte markieren, sondern konstitutive Momente lebendiger Prozesse überhaupt darstellen. Diese drei Momente stehen unter der naturphilosophischen Beschränkung, nur Wiederholungen ihrer vergangenen Gestaltung zu sein. Die Darstellung der Prozesse wird es uns dann erlauben, sie im zweiten Schritt so zu korrigieren, dass die Pluralität des Lebens als sein gegenwärtiges Prädikat begriffen wird. Hegels Lehre der Natur kennt die drei folgenden Kreisläufe: Erstens bilden die Arten, wie Hegel betont, zusammengenommen eine „unorganische Natur“ (GW 20, § 371). Diese erste „Diremtion der Gattung in Arten und die Fortbestimmung derselben zum unmittelbaren ausschließenden Fürsichseyn der Einzelheit ist nur ein negatives und feindliches Verhalten gegen andere“ (ebd., § 369). Das heißt, die Arten kämpfen gegeneinander einen Kampf ums Überleben, Darwins struggle for life. Der logische Ausdruck dafür ist, die Arten im Sinne einer Relation des Gegensatzes zu fassen. Der Gegensatz ihres „ausschließenden Fürsichseyns“ ist konträr, wenn zwei Individuen einander das Leben streitig machen und das Leben des einen den Tod des anderen erzwingt. Denken wir zum Beispiel an Revier- und Reproduktionskämpfe zwischen Individuen einer Art. Ihr Gegensatz ist kontradiktorisch, wenn eine Seite über die andere herrscht, ein Alphatier etwa einen Artgenossen unterwirft. Das kontradiktorische Recht des Stärkeren zeichnet sich auch im Verhalten der Arten untereinander ab, etwa wenn größere Aasfresser kleinere von einem Kadaver vertreiben. Der Metabolismus des Lebens impliziert so einen steten Kampf um Ressourcen. Bilden die Lebensformen einander eine feindliche Umwelt, beziehen sie sich zweitens auch affirmativ aufeinander. Diese affirmative Beziehung geschieht in erster Linie in Form von sexueller Reproduktion. In Hegels protestantischer Prosa gesagt, entstammt die

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Reproduktion dem „Trieb, im Anderen seiner Gattung sein Selbstgefühl zu erlangen, sich durch die Einigung mit ihm zu integriren und durch diese Vermittlung die Gattung mit sich zusammenzuschließen und zu Existenz zu bringen, – die Begattung“ (GW 20, § 369). Die Dialektik der Begattung besteht darin, dass sie mit dem „Untergang der Individuen“ einher geht, „die im Processe der Begattung ihre Bestimmung erfüllt, und insofern sie keine höhere haben, damit dem Tode zugehen“ (ebd., § 370). Mit Blick auf Fortpflanzungsstrategien der Semelparität wird das plastisch. Semelparität meint einen Lebenszyklus, bei dem sich der betreffende Organismus nur einmal in seinem Leben fortpflanzt. In den meisten Fällen sterben semelpare Organismen kurz nach ihrer Fortpflanzung, die die Brutpflege mit einschließen kann, ab. Auch iteropare Organismen zeigen mit der Fürsorge eine Praxis, die als Hingabe, Opferung und Selbstaufgabe, als „sozialer“ Tod bezeichnet werden könnte. Die Dialektik von Reproduktion und Tod, Eros und Thanatos, ist somit keineswegs auf semelpare Organismen beschränkt, sondern beschreibt die Komplexität reproduktiven Handels auch iteroparer Organismen. Reproduktives Handeln wiederholt für Hegel aber differenzlos das Immergleiche: „Dieser Proceß der Fortpflanzung geht in die schlechte Unendlichkeit des Progresses aus“ (ebd., § 370). Der dritte Teilprozess des Lebens umfasst deshalb Tod und Krankheit. Die Krankheit ist für Hegel der dem Leben „angeborene Keim des Todes“ (ebd., § 375). Da das animalische Leben keine höhere Bestimmung hat als die Repetition seiner Lebensform, geht das Individuum zugrunde, sobald es diese Bestimmung erfüllt. Das animalische Leben erfüllt in diesem Sinne nur sein substantielles Telos, wird nicht Subjektivität. Gemessen am Begriff des geistigen Lebens, das mehr ist als nur differenzlose Reproduktion des Immergleichen, wird das nur lebendige Leben für Hegel seinem Begriff nicht gerecht. „Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken des Schicksals“ seines Todes (ebd., § 375). Das nur lebendige Leben realisiert zwar eine eigene Gestalt,

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„indem es der Allgemeinheit seine Einzelheit einbildet, aber hiermit insofern sie abstract und unmittelbar ist, nur eine abstracte Objectivität erreicht, worin seine Thätigkeit sich abgestumpft [hat], verknöchert, und das Leben zur processlosen Gewohnheit geworden ist, so daß es sich so aus sich selbst tödtet“ (ebd., § 375).

Gegen die verknöcherte animalische Natur erhebt sich dann der Geist in seiner Fähigkeit, sich im Anderen zu erhalten und in diesem Bezug auf sein Anderes sich selbst in Bewegung zu halten. Erst der Geist bildet „der Allgemeinheit seine Einzelheit“ konkret ein und bestimmt sie fort. Die Natur geht hingegen in ihrem Anderen zugrunde und entwickelt keine immanente Dynamik, keine Fortbestimmung der Allgemeinheit durch die Einbildung ihrer Einzelheit. Dass der hegelsche Prozessbegriff der Natur damit einem einseitigen, unspekulativen Naturbegriff folgt, zeigt sich darin, dass Natur und Geist bei Hegel in einen konträren Gegensatz gestellt sind. Die Bedingung des Lebens des Geistes ist der Tod der Natur. Hegels Naturalismus hebt dem Geistbegriff so von einem letztlich mechanischen, undialektischen Naturbegriff ab. Natur ist zwar lebendig und als solche nicht auf mechanische Prozesse zu reduzieren, aber Hegels Schematismus des Lebendigen gerät wiederum sehr mechanisch und mortalistisch. Es entspricht meines Erachtens dem Geist des hegelschen Geistbegriffs weit besser, Natur als selbstregulierende Biosphäre zu schematisieren, das heißt, als holistische, ökologische, natale Totalität zu greifen und nicht als unorganische Natur, als Reich bloßer Wiederholung der immergleichen Form. Schon Natur weist hohe Grade an Komplexität und Selbstorganisation auf und bildet folglich ihre subjektive Einzelheit in ihre substantielle Allgemeinheit ein und bestimmt sie so fort. 8.2.5 Natur als Biosphäre des Geistes Hegels These von der Inhaltsgleichheit von Subjekt und Objekt hat uns im Zuge der Rekonstruktion seiner spekulativen Syllogistik zum Prozessbegriff konkreter Allgemeinheit als der „Formthätig-

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keit“ der Genese von Vielfalt geführt. Damit korrespondiert eine entsprechende Ontologie: In ihrer pluralen Struktur sind Begriff und Wirklichkeit analog, unterscheiden sich aber in der Form ihrer Tätigkeit. Die Objektivität bildet damit kein kantisches „Reich der Notwendigkeit“ mehr, sondern hat die Struktur des Widerspruchs von Mechanik und Teleologie, von unbelebter und belebter Natur. Um diesen prozessualen Wirklichkeitsbegriff im spekulativen Sinne zu aktualisieren, müssen wir seine mortalistische Schlagseite angehen. Hegels Prozessbegriff der Natur enthält, wie oben dargestellt, die drei Kreisläufe des Kampfes ums Überleben, der Reproduktion und des Todes der Wiederholung, an die wir im Sinne ihrer immanenten Kritik anknüpfen. Den Zielpunkt dieser immanenten Kritik können wir mit Blick auf ein wissenschaftliches Verständnis der Erde angeben. Hegel fasst sie als „geologischen Organismus“, sie ist „als Subject und Proceß wesentlich sich mit sich vermittelnde Thätigkeit“ (GW 20, § 338). Darin, die geologische Natur organisch zu verstehen, entwickelt Hegel eine Idee, die unabhängig von ihm von der theoretischen Biologie des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort der Gaia-Hypothese entwickelt werden wird. Mittels der Gaia-Hypothese können wir den kybernetischen Grundansatz des spekulativen Naturbegriffs gut herauspräparieren.73 Dieser These zufolge werden Aspekte der geologischen Erde wie ihre Atmosphäre, Oberflächenstruktur und Wasserkreisläufe durch Wachstum, Tod und Metabolismus lebendiger Organismen reguliert. „Gaia“ ist der Name für die physiologisch regulierte Erde und versteht sie aus seriell interagierenden Ökosystemen bestehend, die zusammen das Ökosystem der Erdoberfläche ergeben.74 „Gaia“ ist der Name für das, wovon das terrestrische Leben einerseits abhängt, was es andererseits auch hervorbringt, eine, 73

74

Der epistemische Nachteil der Rede von Gaia ist, dass sie stark metaphorisch ist und in wissenschaftliche Prosa übersetzt werden muss. Der Name „Gaia“ geht auf den mythologischen Namen für Mutter Erde zurück, wie sie aus dem alten Griechenland überliefert ist. Vgl. zur Namensgebung: Lovelock, Gaia. Margulis, The Symbiotic Planet, S. 142.

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hegelsch gesprochen, „vermittelte Unmittelbarkeit“. Gaia stiftet den globalen, relativ stabilen Kontext der geschichtlichen Entwicklungen des Geistes und ist ihrerseits das Produkt einer Geschichte der Ko-Evolution seit dem ersten Mikroorganismus. Der Gaia-Theorie zufolge ist die Erde eine lebendige Totalität, insofern sie in globaler Größenordnung Funktionen repliziert, die auch ein einzelner Organismus ausübt. „Erde“ meint also nicht nur eine tote geologische Formation, sondern ist als Voraussetzung des Lebens dem Leben analog. Natur als Biosphäre enthält Ökosysteme, die in Wechselwirkung miteinander stehen. Die Biosphäre ist die Ermöglichungsbedingung von Leben, ist aber selbst kein Leben. Die Biosphäre ist sozusagen nur implizites Leben.75 Die Erde enthält Teile, die von einander abhängen, sich wechselseitig voraussetzen und so die Erde in den Stand versetzen, ihre Kreisläufe zu stabilisieren. Wie ein Organismus funktioniert die Erde als eine sich selbst erhaltende Totalität. Die Gaia-These behauptet nicht, dass die Erde sich in allen Punkten analog zu Organismen verhält. Weder reproduziert sie sich noch wächst sie. Die Erde ist aber darin organismus-analog, dass sie über Resilienzkräfte verfügt, die es ihr erlauben, Störungen ihrer Kreisläufe zu kompensieren. Es ist deswegen ausgesprochen naiv, Gaia als gute, umsorgende Mutter vorzustellen, deren Gesundheit zu schützen wäre. Nach heutigem Verständnis sind die Prozesse des Ökosystems der Erde weit weniger beschützend, umsorgend und versichernd, als es diese naive Vorstellung nahelegt. Die menschlichen Eingriffe in Gaia setzen eine Kaskade von Reaktionen in Gang, deren Zusammenhang wissenschaftlich zu verstehen gerade erst begonnen wird.76 Die enormen Resilienzkräfte der Erde sind der Grund, warum die Rede von der Rettung der Umwelt letztlich anthropozentrisch ist. Unsere Gaia wird uns Menschen in jedem Fall überleben. Die anthropogenen Störungen ihrer Kreisläufe werden aber Disruptionen zur Folge ha75

76

Die systematische Nähe von der Gaia-Hypothese und Hegels Ökologie betont auch: Winfield, Universal Biology after Aristotle, Kant, and Hegel, S. 8–17. Stengers und Goffey, In Catastrophic Times, S. 44 f.

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ben, die sie als Biosphäre menschlichen Lebens zerstören können. Wir Menschen überschätzen unsere Größe bei weitem, wenn wir denken, wir könnten Gaia zerstören. Wir können sie nur für uns unbewohnbar machen.77 Trotz seiner, modern gesprochen, ökologisch-ganzheitlichen Sicht auf die Erde als „vermittelnde Thätigkeit“ führt Hegel seinen prozessontologischen Grundsatz nicht konsequent zu Ende. Hegels natürliche Organik macht ein nur „äußerliches System aus, dessen Gebilde die Entfaltung einer zum Grunde liegenden Idee darstellen, dessen Bildungsproceß aber ein vergangener ist“ (GW 20, § 339). Ungeistige Natur besteht als nur „vergangene Vermittlung“ seither in der Repetition ihrer Gestalt; geistige Natur ist stete Vermittlung im Rahmen der Geschichte des Geistes, aber „die organische Natur hat keine Geschichte“ (GW 9, S. 165). Wir können die naturphilosophische Prämisse, dass gegenwärtige Natur nur die Wiederholung ihres vergangenen Bildungsprozesses sei, auch metaphysisch mit Blick auf den Zusammenhang von Leben und Tod perspektivieren. Hegel denkt die Dynamik des Naturprozesses nämlich allein als den „Tod des Lebendigen“, nicht als Dynamik seines Lebens. „In diesem Processe der Gattung geht das nur Lebendige nur unter, denn es tritt als solches nicht über die Natürlichkeit hinaus“ (GW 20, § 367). Die Dynamik des Lebens stellt sich so in Hegels „entzaubertem aristotelischem Naturalismus“ recht mechanisch dar.78 Hegels Vorstellung, Natur sei ein vergangener, bloß wiederholter Bildungsprozess, führt zu einer mortalistischen, keiner natalistischen Naturkonzeption. Gegen Hegel ist zu verteidigen, dass auch Natur nicht in der Repetition ihrer Gestalt aufgeht, sondern sich im Prozess ihrer Fortbestimmung erhält, auch hier also Aktualität und Pluralität einander voraussetzen. 77 78

Margulis, The Symbiotic Planet, S. 149. Mit Naturalismus ist hier die These gemeint, wie Natur zu begreifen ist, was also der Begriff der Natur ist. Pinkard, Hegel’s Naturalism, S. 19.

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Mit der Idee, Natur nicht als aufzuhebende Voraussetzung, sondern als Biosphäre des Geistes zu verstehen, nehmen wir den prozessualen und holistischen Ansatz Hegels auf, denken ihn aber weiter. Beginnen wir mit dem Kreislauf des Kampfes auf Leben und Tod. Die Gaia-Konzeption der Erde bricht dabei mit dem zentralen darwinistischen Paradigma des selbstbezüglichen Individualismus.79 Die Gaia-Konzeption der Erde versteht sie als eine symbiotische Welt. In der Natur gibt es Partnerschaft, deren Funktion wesentlich für die Erklärung biologischer Neuerung ist. Die empirischen Beispiele für kooperatives Verhalten zeigen die Relevanz von Ko-Evolution und Endosymbiose, bei denen neue Lebensformen entstehen, die Synergien herstellen und neue Überlebensstrategien entwickeln.80 Es geht bei der Betonung von symbiotischen Strategien nicht darum, den Kampf ums Überleben zu negieren und ein harmonistisches Naturbild zu zeichnen. Wir gewinnen aber nur ein integriertes Bild der Natur, wenn wir sie in ihrer Dialektik begreifen. Der Egoismus ist im weiteren Kontext kollaborativen Lebens zu sehen.81 Das „ausschließende Fürsichseyn“, der natürliche Egoismus, einander feindlicher Lebensformen ist genauso Teil des Lebens wie das einschließende Fürsichsein kooperativer Lebensweisen. Anders gesagt, Leben besteht in der Dialektik von Antagonismus und Kooperation. Leben bleibt einseitig bestimmt, wenn der offensichtliche Kampf ums Überleben negiert wird; einseitig ist Leben auch bestimmt, wenn es nur als Kampf gefasst ist, denn der Kampf hat mit dem Leben eine Voraussetzung, die er selbst nicht reproduzieren kann. Mit der Betonung von Kooperation und Symbiose schon im natürlichen Leben verlieren in der Tat Kollaboration und kooperatives Füranderesein ihre Stellung als Ausweis der anthropologischen 79

80 81

Einer der prominentesten Kritiker der Gaia-Hypothese ist Dawkins, der das orthodox darwinistische Paradigma des selbstbezogenen Individualismus vertritt. Dawkins, The Selfish Gene. Margulis, The Symbiotic Planet, S. 12. Dupré und O’Malley, „Varieties of Living Things“, S. 2.

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Differenz.82 Wenn kollaboratives Handeln kein Spezifikum des rationalen Tieres ist, sondern für die Gattung des Lebendigen insgesamt gilt, heißt das nicht, dass es keinen Unterschied zwischen Natur und Geist mehr gäbe. Er betrifft nur keinen kategorischen Unterschied mehr, nach dem Kollaboration und Kommunikation allein dem Geiste zukämen, sondern bezeichnet einen modalen Unterschied, betrifft also das Wie von Kommunikation und Kollaboration. Der Geist ist nämlich in seiner Dynamik von einem Problem betroffen, das sich der ersten Natur nicht stellt. Nur die zweite Natur des Geistes kann regredieren, mechanisch werden. Nur der Geist ist mit dem Problem des Vergessens als seinem ureigenen Problem konfrontiert. Anders als bloße Natur kann der Geist von seinem Füranderessein absehen. Diese Subjektivität des Geistes ist so einerseits Voraussetzung seiner Freiheit. Der Preis der Subjektivität des Geistes besteht andererseits darin, dass der Geist in dieser Abstraktion von den materiellen Grundlagen seiner Wirklichkeit der Illusion erliegen kann, selbst das Maß aller Dinge zu sein.83 Die Subjektivität des Geistes ist Voraussetzung wie Hindernis der Freiheit. Es ist so eine stets neu zu entwickelnde, eine zu aktualisierende Sicht auf uns selbst, dass wir keine abgeschlossenen Totalitäten, sondern im Kern Vermittlung sind. Der Unterschied von erster und zweiter Natur, von bloß lebendigem und geistigem Leben, besteht darin, dass die Natur in ihrer Verwiesenheit auf Andere und ihrer Relationalität besteht, ohne sich aber selbst Hindernis zu werden. Es ist sozusagen das Privileg des Geistes, seine eigene Verwiesenheit auf Andere zu übersehen und seinen Ursprung in der Relation zu vergessen. Was uns also vor der Natur auszeichnet, ist im Grunde die Möglichkeit, 82

83

„In fact, perhaps the most striking philosophical conclusion is that the cybernetic control of the Earth’s surface by unintelligent organisms calls into question the alleged uniqueness of human intelligent consciousness.“ Margulis und Sagan, „Gaia and Philosophy“, S. 147. Malabou interpretiert in vergleichbarer Stoßrichtung die hegelsche Lehre von subjektivem Geist im Sinne einer „Selbstkritik“. Malabou, The Future of Hegel, S. 31.

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uns zu verfehlen. Die Bedingung der Möglichkeit der strukturellen Selbstverfehlung des Geistes gründet in der Negativität des Geistes, also unserem Vermögen, alle gegebene Bestimmtheit zu reflektieren und zu negieren. Freiheit und Unfreiheit des subjektiven Geistes sind somit Ausdruck desselben Vermögens der Negation. Gerade mit Blick auf die dem Geist konstitutive Fähigkeit der Selbstverfehlung geht es bei dem Versuch, Hegels Idealismus mit einem nobilitierten Naturbegriff zu versöhnen, gerade darum, keinen normativen Biologismus zu entwickeln und den Lebensbegriff als Quelle normativer Begründung zu deuten. Wir entwickeln die spekulative Version der anthropologischen Differenz in diesem Sinne weiter, indem wir mit der Reproduktion auf den zweiten Teilprozess des Lebens kritisch eingehen, den wir oben mit Hegel identifiziert haben. Die Dialektik der Begattung begreift Hegel darin, dass Reproduktion für den Organismus strukturell den eigenen Tod bedeutet. Für semelpare Organismen ist die Verbindung von Sexualität und Tod manifest, aber auch iteropare Lebensformen kennen den Tod durch hingebende Fürsorge. Iteropare Lebensformen sterben in der Reproduktion einen sozialen Tod, geben ihre individuelle Expressivität hin, um ihren Nachkommen das Leben zu ermöglichen. Die Dialektik von Sexualität und Tod, von Eros und Thanatos, mithin die Komplexität reproduktiven Handelns, lässt sich von Hegel her gut begreifen. Seine Darstellung der Konsequenzen für den subjektiven Geist steht aber vor dem Problem eines unreflektierten Sexismus. Hegel lässt einen vollständig undialektischen Begriff der sexuellen Differenz erkennen, in dem die Differenz zu einer neutralen Einheit im Sinne des Chemismus verklärt wird. Die Heteronormativität seiner Auffassung der sexuellen Differenz ist von der Longue durée der misogynen, religiösen Vorstellungswelt geprägt, die im zweiten Teil dieser Arbeit unser Thema war. Mit Blick auf die logischen, das heißt methodischen Grundlagen eines wissenschaftlichen Begriffs des Lebens reicht es hier hin zu sagen, dass es präziser Terminologie bedarf, um den gewohnten Vorstellungswelten und den kulturell imprägnierten Instinkten einer natürlichen On-

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tologie zu widersprechen. Es gilt mitunter, kulturell lang tradierten Vorstellungen und Vagheiten mit Begriffen entgegenzutreten, die hart erlernter wissenschaftlicher Terminologie entspringen. Hegel hat mit Blick auf die sexuelle Differenz kein solches wissenschaftliches Vokabular zur Hand, das es ihm erlauben würde, hier angemessen zu differenzieren. Er verknüpft biologische Merkmale mit kulturellen, handlungsleitenden Normen, sind für ihn doch beide unmittelbar dasselbe. Diese Identifizierung verzerrt den internen Zusammenhang von Leben und Reproduktion, da sie eine naturrechtliche Begründung reproduktiven Handelns impliziert. Der Geist ist in der Lage, jede Bestimmung zu negieren, sich von seinem naturgegebenen Schicksal zu entfremden. Diese Negativität stellt auch reproduktives Handeln zur Disposition. Sich nicht zu reproduzieren, ist keine verantwortungslose, selbstverliebte Weigerung Einzelner, sondern Ausdruck des geistigen Vermögens der Distanzierung von und der Negation der natürlichen Bestimmtheit. Aufgrund des engen Zusammenhangs von Reproduktion und Tod hat der Geist das Recht, sich der Reproduktion zu entziehen. Die Ontologie des geistigen Lebens begründet das Recht auf reproduktive Freiheit. Hegel würde diesem Recht nicht beipflichten.84 Wir haben oben in der Rekonstruktion der Theorie der Inferentialität aber herausgestellt, dass Hegel die Trennung von Sein und Sollen als Inhalt des „Urteils über alle Wirklichkeit“ artikuliert. Vor diesem Hintergrund ist Hegels Verneinung reproduktiver Freiheit kein dem wissenschaftlichen Begriff äußerliches, akzidentelles Problem. Wenn Sein und Sollen zu differenzieren sind, dann muss die epistemische Konsequenz sein, dass Fragen der Reproduktion menschlichen Le84

So heißt es etwa in den Grundlinien: „Der Mann hat daher sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweyung die selbstständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjective Sittlichkeit er in der Familie hat, in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Gesinnung hat“ (GW 14.1, § 166).

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bens und der Geschlechter-Differenz in normativer Hinsicht nicht mehr in biologischen Kategorien, sondern in kulturellen Kategorien zu fassen sind. Wir müssen also Sex und Gender differenzieren, um wissenschaftlich über das Leben nachzudenken. Die Fragen nach Reproduktion und den Voraussetzungen des Lebens betreffen genuin soziale und politische, keine biologischen Fragen.85 Wenn wir Hegels Urteilslehre also systematisch ernst nehmen wollen, müssen wir die Natur aufwerten, ohne sie zur Quelle von Normativität zu erheben.86 Wir verstehen die Beziehung von Geist und Welt in einem anderen Sinne normativ als ein normativer Biologismus. Der kantische Gedanke des Erhabenen im Anblick des Naturschönen gibt zu verstehen, dass Natur als Überschuss lebendiger Formen eine Normativität konstituiert, die offen ist. Es geht nicht darum, sicher und final zu entscheiden, was das Gute, Schöne, Wahre ist. Offene Normativität denkt sich nicht von der vollständigen Determination des Einzelnen her, sondern davon, die Aneignung und Verflüssigung der Formen als konstitutives und ästhetisches Merkmal von Leben überhaupt zu verstehen. Das einzelne „spontane“ Leben ist nur möglich aufgrund der Vielfalt des Lebens überhaupt. Die Vielfalt des Lebens ist die Präsupposition des Geistes, die wir reflektieren, aber nicht selbst reproduzieren können. Den dritten Teilprozess des Lebens machen in Hegels Naturbegriff Tod und Krankheit aus. Hegels animalisches Leben kennt keine höhere Bestimmung als die Repetition seiner substantiell gegebenen Form. Gleichzeitig ist Leben für Hegel die „Formthätigkeit“ des Gattungsprozesses, in der das Einzelne der Allgemeinheit seine Einzelheit zwar einbildet. Diese Einbildung des Einzelnen in das Allgemeine seiner Gattung bleibt aber abstrakt und unmittelbar, 85

86

Vgl. zu einer Grammatik der wissenschaftlichen Terminologie unter Rekurs auf die iterierte sprachliche und körperliche Performanz von Sex und Gender: Butler, Gender Trouble. Korsgaard legt einen Versuch vor, wie aus den Bestimmungen der Gattungen Normen des richtigen und ethischen Verhalten abzuleiten sind. Vgl.: Korsgaard, The Sources of Normativity.

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weil das ungeistige Leben nach Hegels Vorstellung nur „processlose Gewohnheit“ ist, nur Wiederholung ihrer gegebenen Form. Abweichungen von der Form sind in Hegels aristotelischem Bild folglich nur Abartungen, Vermischungen und „Monströsitäten“ (GW 20, § 368 A). Was Hegels konzeptueller Haushalt damit nicht aufweist, wäre ein positiver Begriff der Variation. Die Abweichung von ihrer im Gattungsbegirff spezifizierten Voraussetzung erscheint in Hegels Naturphilosophie nur als Krankheit und Mangelhaftigkeit. Für Hegel sind Abweichungen von der Form keine Variationen und Adaptionen der Form, sondern konstituieren mangelhafte Fälle ihrer Verwirklichungen. Mit der Idee, die Fortbestimmung seiner Form als konstitutives Moment jeder Lebensform zu bestimmen, geht der Paradigmenwechsel von Aristoteles zu Darwin einher. Nicht die Konstanz der Arten und Gattungen ist das Erklärende, sodass die Variation zum Fakt wird, das zu erklären ist. Vielmehr ist Variation die Konstante, sodass die Konstanz der Arten und Gattungen die eigentliche Explikationsaufgabe darstellt. Darin ist der ontologische Unterschied von lebendigem und geistigem Leben adressiert. Nach Hegel sind Veränderung in der bloßen Natur keine selbsthervorgebrachte Leistung. Aber auch Natur ist Gegenstand spontaner Veränderungen, die die Natur als Variation und Adaption hervorbringt. Es gäbe keine konstanten Arten und Gattungen, wenn sie sich nicht stets verändern würden. Eine Lebensform ohne Variation ihrer Form ist keine Lebensform, sondern ein totes, verknöchertes Gebilde. Leben ist das Allgemeine, das sich in jedem Einzelnen als einer seiner Besonderungen fortbestimmt. Erst in ihrer Pluralität erhalten sich die Lebensformen durch die Veränderung ihrer Form. Jedes einzelne Lebewesen bestimmt so das Allgemeine fort, das es als sein Besonderes verkörpert. Die bloße Natur aber kann sich in dieser Dynamik nicht selbst verdinglichen – das Problem einer Abstraktion von der eigenen Verwiesenheit stellt sich nur dem geistigen Leben. Im Begriff der Fortbestimmung der offenen Normativität subjektiver und objektiver Prozesse geht die „Reflexion“ im hegelschen Sinne über sich hinaus. Das Einzelne ist weder bloße Subsumption

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unter ein Allgemeines, noch ist das Allgemeine ihm bloß inhärent. Das Allgemeine einer Lebensform ist nur wirklich in der Variation, die es durch die Besonderungen erfährt, die ihm die einzelnen Verkörperungen verleihen. Umgekehrt ist dem Einzelnen seine Gattung und Allgemeinheit keine fremde Macht, keine externe Größe, sondern bestimmt seine Wirklichkeit wesentlich, also nicht rein zufällig. Der innere Zweck des Lebens besteht in der Pluralität seiner Formen. Auf Basis eines solchen, eines wirklich dialektischen Naturbegriffs müsste Hegel dann auch nicht mehr von der „Schwäche des Begriffs in der Natur“ reden (ebd., § 368 A). Abweichungen von fixer Form und Fortbestimmung sind im dialektisch-holistischen Bild nicht mehr Privileg des Begriffs, sondern auch Prädikat der Objektivität, begriffen als lebendiger Natur. Begriff und Welt haben als Leben zwar denselben Inhalt, mit der Normativität aber eine andere Form.

9. Eine Metaphysik der Offenheit und Zukunft? Wir haben in der zurückliegenden Auseinandersetzung mit Hegels Lehre des absoluten Geistes zwei Kernthesen entwickelt. In systematischer Hinsicht verstehen wir erstens die Theorie des Absoluten als eine Theorie sozialen Wandels, die die Relevanz von Kultur und Zivilgesellschaft betont. Mit Kunst, Religion und Philosophie haben wir drei kulturelle Kernbereiche sozialer Dynamik in den Blick genommen, in deren Rahmen der Geist die Bilder, Vorstellungen und Konzepte seiner selbst hervorbringt, sie interpretiert und sich dadurch verändert. Die zweite, damit verbundene These ist interpretativer Art. Hegels Lehre des absoluten Geistes entwickelt Zugänglichkeit und Überzeugungskraft, wenn sie als eine Theorie der Pluralität des Geistes verstanden wird, die Auseinandersetzung und sachliche Kontroverse als Momente gelingender gesellschaftlicher Selbstthematisierung und Interpretation zu fassen erlaubt. Aus diesen Überlegungen werden wir nun ein Fazit ziehen. Das geschieht, indem wir fragen, was aus ihnen mit Blick auf die Abschlussfigur der absoluten Idee für ein modernes, hegelsches Philosophieverständnis folgt. Es wird wohl der häufigst artikulierte Vorwurf gegen Hegel sein, dass seine Philosophie im phänomenologischen Begriff des absoluten Wissens beziehungsweise im logischen Begriff der absoluten Idee ein Moment enthält, das die Hybris einer philosophischen Systematik anzeigt, die aus sich heraus die Totalität der Welt abzuleiten trachtet. Die Absolutheit der Idee, so die gängige Auffassung, konterkariere jeden Versuch, Hegels Philosophie als eine Philosophie der Offenheit und Dynamik der Idee zu verstehen. Um diesen Vorwurf zu prüfen, müssen wir ihn auf den Text beziehen. Was passiert nun im Schlussakkord der Logik, ebenjenem Abschnitt zur absoluten Idee? Die Logik kommt mit einer methodologischen Reflexion zu ihrem Ende, nach der die absolute Idee nichts anderes sei als die dialektische Methode selbst. „Was also hier

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noch zu betrachten kommt, ist somit nicht ein Inhalt als solcher, sondern das Allgemeine seiner Form, – das ist, die Methode“ (GW 12, S. 237). Die Philosophie kommt zu sich, so Hegels These, im Wissen von sich als dialektischer Methode. Mit der absoluten Idee kommt daher kein neuer Inhalt ins Spiel, es wird allein der Modus philosophischer Methode aus der Bewegung der Philosophie selbst erhellt. Die absolute Idee fundiert ein dialektisches Selbstverständnis der Philosophie: „Die Dialektik ist eine derjenigen alten Wissenschaften, welche in der Metaphysik der Modernen, und dann überhaupt durch die PopularPhilosophie sowohl der Alten als der Neuen, am meisten verkannt worden. Von Plato sagt Diogenes Laertius, daß wie Thales der Urheber der Naturphilosophie, Sokrates der Moralphilosophie, so sey Plato der Urheber der dritten zur Philosophie gehörigen Wissenschaft, der Dialektik gewesen; – ein Verdienst, das ihm vom Alterthume hiemit als das Höchste angerechnet worden, das aber von solchen oft gänzlich unbeachtet bleibt, die ihn am meisten im Munde führen. Man hat die Dialektik oft als eine Kunst betrachtet, als ob sie auf einem subjectiven Talente beruhe, und nicht der Objectivität des Begriffs angehöre. Welche Gestalt und welches Resultat sie in der Kantischen Philosophie erhalten, ist an den bestimmten Beyspielen ihrer Ansicht schon gezeigt worden. Es ist als ein unendlich wichtiger Schritt [durch Kant] anzusehen, daß die Dialektik wieder als der Vernunft nothwendig anerkannt worden, obgleich das entgegengesetzte Resultat gegen das, welches daraus hervorgegangen, gezogen werden muß.“ (ebd., S. 242)

„Ein Grundvorurtheil“, so Hegel weiter, „hiebey ist, daß die Dialektik nur ein negatives Resultat habe“. Dialektik wird in diesem Verständnis, insbesondere wenn sie „sittlich wichtige Gegenstände betrift, [als ein] Frevel [angesehen], der das wesentlich Feste wankend zu machen suche […]; insofern die Dialektik aber sittliche Bestimmungen aufhebt, [muss sie] zur Vernunft das Vertrauen haben, daß sie dieselben, aber in ihrer Wahrheit, und dem Bewußtseyn ihres Rechts aber auch ihrer Schranke, wieder herzustellen wissen werde“ (ebd., S. 243).

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Im Zuge der systematischen Artikulation dieser spekulativen, radikalen Konzeption der Dialektik erhebt Hegel nach meinem Verständnis nicht seine Philosophie selbst zum Standard, sondern begreift im dialektischen Moment ihren immanenten Standard. Dieser Standard ergibt sich nicht als eine neue Forderung, die zusätzlich zum bisherigen Gang der Logik noch zu begründen wäre. Die Dialektizität aller Philosophie ist vielmehr rekursiv zu begründen. Diesen Grundgedanken gilt es im Folgenden mit der Idee des konstitutiven Pluralismus der Philosophie zu verbinden: Wenn alle Philosophie an sich dialektisch ist, warum ist Vielfalt dann die Form der Philosophie? Im Sinne des hegelschen Philosophieverständnisses gilt es, den Gedanken der Dialektik so zu interpretieren, dass historische Vorläufer und synchrone methodische Alternativen nicht instrumentell zu abstrakten Vorformen einer ausgestalteten spekulativen Philosophie verkürzt werden sollten. Das können wir als die teleologische Interpretation der Idee der Dialektik als Standard der Philosophie bezeichnen. Die teleologische Auffassung der Entwicklung der Philosophie impliziert eine Art Vervollkommnung im Sinne einer vollständigen Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten.1 Die teleologische Interpretation setzt somit so etwas wie eine Essenz dessen voraus, was Philosophie im Zuge ihrer Entwicklung eigentlich erst werden soll. Wir können der systematischen Deutlichkeit halber der teleologischen Interpretation der Dialektik ihre rekognitive Interpretation entgegensetzen. Die Idee der wechselseitigen Teilhabe von Idee und Realität versteht ihre Wechselwirkung nicht als Relation reibungsloser Entfaltung der Idee in ihrer Realität. Vielmehr ist es eine Relation, in der sich die freie Subjektivität in der freien Objektivität hinsichtlich ihrer analogen und disanalogen Momente erkennt. Frei ist Subjektivität nur in einem freien Anderen. Es gilt also im Sinne der rekognitiven Wechselwirkung von Idee und ihrer Aktualität, die Getrenntheit von Idee und Wirklichkeit als Moment ihrer Identität; ihre Einheit als Moment ihrer Differenz zu denken. Für Hegel 1

Siep, „Die Lehre vom Begriff“, S. 661.

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stellt die philosophische Methode der Dialektik eine unverzichtbare Bedingung der Wirklichkeit dieser Wechselwirkung dar. Dialektik erlaubt es der Subjektivität, ihre eigenen Grenzen methodisch zu transzendieren. Spekulative Logik ist eine Weise der Selbsttranszendenz, weil sie das Subjekt für die Objektivität öffnet, indem sie die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung erkennbar und plastisch macht. „Die Methode ist daraus als der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl Subjective als Objective, zum Gegenstande habende Begriff, somit als das reine Entsprechen des Begriffs und seiner Realität, als eine Existenz die er selbst ist, hervorgegangen“ (GW 12, S. 238).

Von hier aus lässt sich die eingangs aufgerufene fundamentale Kritik an der Hybris von Hegels Systemanspruch artikulieren. Hängt Hegel damit nicht dem rationalistischen Traum von einer Methode an, deren Befolgung allein dafür hinreichen würde zu beanspruchen, die Welt objektiv und standpunktneutral zu erfassen? Spricht der rationalistische Traum nicht vielmehr im Lichte seiner genealogischen Kritik Bände davon, wie standpunktgebunden, partikular und von sozial gegebenen bias bedingt jede theoretische Bezugnahme auf die Welt ist? Nennen wir diesen Punkt mit Honneth den „genealogischen Vorbehalt“ gegenüber der immanenten, sich auf Hegel berufenden Kritik der Gesellschaft:2 Jede Theorie ist nur Ausdruck ihrer sozio-historischen Genese und kann so keinen Anspruch auf Universalität erheben. Wer mehr als partikulare Urteile in der eigenen Theoriebildung beansprucht, agiert entweder paternalistisch oder naiv.3 2 3

Vgl.: Honneth, „Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt“. Mit „genealogisch“ sind hier Positionen gemeint, wie sie Nietzsche vielleicht am wirkmächtigsten entwickelt hat. Sehr verkürzt gesagt, jeder Anspruch auf Objektivität ist nur Ausdruck des Willens zur Macht, Reflexion nur eine Form, den Kampf der Interessen zu kaschieren. Vgl.: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral.

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Wie ließen sich nun – und das ist das Ziel dieses letzten Kapitels – Hegels systematischer Anspruch und sein Ja zur Methode mit dem genealogischen Vorbehalt in ein kritisches Verhältnis bringen? Was sind Voraussetzungen dafür, an Hegels Grundidee, dass Logik eine Form der Selbsttranszendenz ist, festzuhalten? Im Folgenden wird es darum gehen, die absolute Idee weder teleologisch noch essentialistisch, sondern dynamisch und offen zu interpretieren. Ein dynamisches und offenes Selbstverständnis der Philosophie gibt ihr kein festes Ziel vor, sondern begreift ihr Ziel und Ende als Prozess. Zu einem Ende zu kommen, heißt dialektisch gedacht, sich für Neues und Transformation zu öffnen. Offenheit steht damit im Zentrum des spekulativen, dialektischen Begriffs der Philosophie. Diesen Begriff der Philosophie können wir in Analogie zum hegelschen Kunstverständnis weiter charakterisieren: Das Theorem vom Ende der Kunst entwickelt nach obiger Deutung keine Verfallsgeschichte der Kunst, sondern zeichnet die historisch-systematische Dialektik von souveräner Kunst und souveräner Kunstkritik. Von der Warte dieser Analogie aus gibt es kein Ende der Philosophie. Es gibt keine Philosophie nach dem Ende der Philosophie, weil es kein Ende der Philosophie gibt. Es gab nie einen Zustand, in der sie als souveräne Mutter aller Wissenschaften eine sichere und gegebene, substantielle Stellung in der sozialen Welt inne gehabt hätte. Anders als bei Kunst und Religion gibt es keinen Verlust ihres sicheren, festen Inhalts zu konstatieren. Folglich ist die Frage nicht wie bei Kunst und Religion, wie Philosophie den Verlust ihrer ursprünglichen Substanz als Emanzipation begreifen könne. Der freie Geist der philosophischen Subjektivität befragt jede Substanz und entfremdet sich derart von der sozialen Praxis. Die Lektion des Gleichnisses der Erkenntnissituation der Subjektivität zur Situation in der platonischen Höhle aus der Politeia ist, dass der freie, von der Oberwelt zurückgekehrte Geist „ausgelacht und bespöttelt [würde], er sei von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurückgekehrt; daher sei es nicht wert, den Aufstieg auch nur zu versuchen. Und wenn er sie [die Gefangenen der Höhle] dann lösen und

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hinaufführen wollte, würden sie ihn töten, wenn sie ihn in die Hände bekommen und töten könnten.“4

Blumenberg zeigt in seiner „Urgeschichte der Theorie“ auf, dass Philosophie seit dem Protophilosophen Thales immer in einer „exzentrischen Position“ zur Lebenswelt steht. Es gibt eine Unmenge an „Spannungen und Unverständnisse zwischen Lebenswelt und Theorie“.5 Die Rolle der Philosophie war aufgrund ihrer notwendigen Entfremdung vom Alltagsleben nie gesichert. Theorie erweckt den Hohn und die Komik der Lebenswelt aufgrund ihrer Weltfremdheit und -abgewandtheit. Die Relevanz philosophischer Reflexion in der Lebenswelt war nie ein Gegebenes. Aufgrund ihrer genuin „sokratischen“ Subjektivität befand sich Philosophie immer schon im Streit mit ihrem Gegenstand und ist seit ihrem Anbeginn mit der Frage ihrer Relevanz und Wirkungsmöglichkeit konfrontiert. Philosophie sucht im radikalen Sinne gerade nicht die Absicherung fixer Formen, sondern ist im Staunen über die Vielfalt der Welt des Geistes „von einem Verlust an Orientierungsfähigkeit begleitet.“6 Philosophie war immer unselbstverständlich, „denn die Philosophie ist jedesmal, wenn sie beginnt, in einer ungünstigen Lage. [… D]as Fehlen ihrer Zugänglichkeit vom Alltag her, bewirkt, daß die Philosophie immer etwas Verrücktes ist.“7 Die fehlende Zugänglichkeit vom Alltagsleben her und die verrückte, exzentrische Position der Philosophie spricht Hegel in der Einleitung der Logik darin aus, dass er das „System der Logik [als] das Reich der Schatten, die Welt der einfachen Wesenheiten, von aller sinnlichen Concretion befreyt“ bezeichnet (GW 11, S. 29). Er betont an der exzentrischen Position der Theorie nicht ihren arkanen, eso4 5 6

7

Plato, Politeia, 517a. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin, S. 11. Auch Arendt betont in ihrer Rekonstruktion sokratischer Subjektivität den Konflikt zwischen Philosophie und Alltagsleben und hebt das entfremdende Moment philosophischen Staunens als konstitutiv sokratisch hervor. Arendt, Sokrates, S. 70–85. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin, S. 148.

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terischen Charakter. Logik ist vielmehr durch „Bildung und Zucht des Bewußtseyns“ erlernbar. Das Ziel der Unterwerfung des Denkens unter die Logik und des „Aufenthalts“ im Reich der Schatten jenseits aller sinnlichen Gewissheit besteht für Hegel darin, im Denken Selbständigkeit zu gewinnen. Der Geist emanzipiert sich von seiner zerstreuten, in Unwesentlichkeit verlorenen „Vorstellungswelt“ und seiner endlos mäandernden, assoziativen Willkür, „diese oder die entgegengesetzten Gründe sich einfallen und gelten zu lassen“ (ebd., S. 29). Diese Emanzipation realisiert der Geist, indem er sich der Logik unterwirft. In der Submission unter die Logik macht sich der Geist souverän und komprehensiv, denn Logik schärft den Fokus des Geistes. Hegel verortet die exzentrische Position des freien, philosophischen Denkens darin, dass es im „Fortgehen durch Begriffe ohne sinnliche Substrate, einheimisch, und dadurch die unbewußte Kraft [geworden ist], die sonstige Mannichfaltigkeit der Kenntnisse und Wissenschaften in die vernünftige Form aufzunehmen“ (ebd., S. 29). Durch die logische Reflexion wird das Denken frei und entwickelt die „unbewuße Kraft“, die Sachen in einer Klarheit zu sehen, die sich den Sinnen nicht zeigt. Ohne Fokus auf das Wesentliche ist der Geist nicht bei sich, nicht souverän. Ohne logische Disziplinierung bleibt das Denken zerstreut. Denken muss sich bewusst zwingen, auf die Sache des Denkens zu fokussieren: „Ob nun das Logische zwar im Anfange des Studiums nicht in dieser bewußten Kraft für den Geist vorhanden ist, so empfängt er durch dasselbe darum nicht weniger die Kraft in sich, die ihn in alle Wahrheit leitet“ (ebd., S. 29). Das disziplinierende Studium der Logik versetzt das Denken dann in die Lage, sich ohne Anstrengung und insofern „unbewußt“ zu konzentrieren und sich auf die Sachen der Welt zu konzentrieren. Aus der Exzentrik der Philosophie und ihrer Heimat im Reich der Schatten leitet Hegel die Relevanz philosophischer Lehre ab. Es muss darum gehen, Anderen durch Lehre und Leitung im begrifflichen Fortgang Zugang zum Reich der Schatten zu ermöglichen. Ihr esoterisch-exzentrischer Charakter stellt für Hegel der Philosophie die Aufgabe, sich exoterisch zu erklären, so selbst komprehen-

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siv zu werden und ihre Methode zu lehren. Obzwar im Reich der Schatten beheimatet, dient das freie Denken so keinem Geheimzirkel nur Eingeweihter, sondern muss vielmehr ihre exzentrische Position Anderen zugänglich machen. Das meint nicht die Anbiederung der Philosophie an den Common Sense des Alltags. Im Gegenteil, die natürliche Ontologie ist aufzugeben, um sich von der Faktizität des Common Sense zu emanzipieren: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“ (GW 9, S. 26). Im Denken jenseits des Bekannten liegt für Hegel die zeitlose Modernität der Philosophie. Da Philosophie exzentrisch ist, ist sie nie selbstverständlich und in ihrer Relevanz faktisch gegeben. Damit ermöglicht sie seit ihrem historischen Anbeginn eine Erfahrung, die erst in der Moderne auch dem Common Sense deutlich wird: Die Offenheit jeder letzten Begründung heißt, dass keine Begründung letztgültig sein kann, da sich der Geist seine Voraussetzungen stets neu aneignen muss. Sich in metaphysischer Offenheit begründen zu können und im Fokus auf die Sache selbst bei sich zu bleiben, das ist das Resultat des Studiums der Logik. Dialektische Philosophie bestimmt sich vor dem Hintergrund ihrer exzentrischen Position zum Alltag in ihrer thematischen Grenzenlosigkeit und methodischen Unselbstverständlichkeit als radikale Philosophie. Wir verstehen Hegels systematischen Anspruch als Umsetzung ihres radikalen Anspruches. Es gibt für dialektische Philosophie keinen letzten Urgrund, der alles in sich hält und trägt, denn Sein ist wesentlich der Prozess seines Werdens. Aufgrund ihres holistischen, anti-fundamentalistischen Charakters gibt es für dialektische Philosophie keinen Gegenstand ohne philosophische Dignität. Alles ist potentieller Gegenstand radikaler Philosophie, da nichts ihr fester Urgrund ist, ist doch der Urgrund allen Seins dessen Relationalität. Offenheit für die Vielfalt der philosophischen Gegenstände ist aber, das hat die hinter uns liegende Analyse der logischen Struktur des Denkens gezeigt, eine zu gewinnende Größe, ein Resultat des begrifflich vermittelnden Denkens. Die Selbsttranszendenz im Denken erschließt sich nur, wenn das Denken mit der Disziplin der Selbstkritik verbunden wird.

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Was heißt das für die Frage nach einer pluralistischen Konzeption dialektischer Philosophie? Oft und speziell mit Blick auf Hegel wird philosophische Radikalität und Systematizität als unversöhnlich verstanden.8 Um disziplinierende Systematizität und Radikalität zusammen denken zu können, braucht es einen Begriff philosophischer Offenheit: Offenheit für die Vielfalt philosophischer Erfahrung und Methoden – das ist der Anspruch, dessen Gültigkeit rekursiv einzuholen ist. Dazu interpretieren wir im Folgenden den Abschnitt der Logik zur absoluten Idee, ohne dabei zu beanspruchen, einen textnahen Kommentar zu leisten. Es geht vielmehr darum, ihren Geist zu aktualisieren, indem ihr Begriffsverständnis als plural und fluide aufgezeigt wird. Radikal ist Hegels Dialektik, weil sie ohne jede apriorische Absicherung ihrer Relevanz und Geltung an der Aufgabe festhält, die Geltung bestimmter Prinzipien für philosophischwissenschaftliche Subjektivität zu begründen. Um den Pluralismus des Begriffs zu schärfen, werden wir ihn von der These des begrifflichen Monismus abheben. Dem begrifflichen Monismus zufolge sind die Prämissen von Inferenzen monoton, haben ihre Bedeutung also unabhängig von Situation und Kontext. Der Pluralismus betont hingegen die Situativität und Kontextsensitivität begrifflicher Praxis, mithin die Nicht-Monotonie der Prämissen des spekulativen Denkens. Zweitens vertritt der Monismus die These, dass der Begriff einem deduktiven Paradigma der Inferenz folgt. Hegels Pluralismus nobilitiert stattdessen induktive und analoge Beweisverfahren als Vernunftschlüsse. Drittens und schließlich versteht die monistische Interpretation den absoluten Begriff in seiner Autonomie und Unabhängigkeit von jedem außerbegrifflichen Inhalt. Die Intellektualität der absoluten Ideen wird im monistischen Bild gerade nicht als freie Kommunikation nach außen verstanden. Die Bewegung der konkreten Negation wird vielmehr als „autonome Negation“ beziehungsweise als Bedeutungsverschie8

Vgl. zum Kontrast von Radikalität und Systematizität bei Hegel: Heller, Theory of Modernity, S. 22.

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bung verzeichnet.9 Wir werden die Gegenthese verfolgen: So wie Begriffe ihren Gehalt in dialektischer Erfahrung aktualisieren und dabei konstitutiv rezeptiv sind,10 so hat die Objektivität ihre Struktur durch den Begriff. Die Objektivität ist begrifflich, aktualisiert also Formen von spontaner „Negativität“. Die lebendige Objektivität ist damit selbst spontan. Weil die Wirklichkeit begrifflich strukturiert ist, wird die logische Bewegung nicht als autonome, sondern nur als rekognitive Bewegung spontaner Objektivität komprehensiv. Der begriffliche Monismus ist zu unterkomplex, um den hegelschen Begriff des Begriffs adäquat zu fassen. Hierfür ist es wichtig, sich an die Unterscheidung von Substanz- und Subjektmetaphysik der Vorrede der PhG zu erinnern. Wir können und müssen ihr zufolge die Totalität der Welt sowohl als Substanz als auch als Subjekt denken. Hegel versucht – das ist eine geteilte Prämisse im Streit der Hegeldeutungen11 – die Traditionen der Metaphysik des Geistes, den nous des Aristoteles’ und des Platonismus, mit den Mitteln der Subjektphilosophie im Anschluss an Kant zu erneuern. Als Substanz ist die Welt monistisch, es gibt nur eine Welt und auch nur ein grundlegendes spekulatives Prinzip: Alles ist bei sich im Anderen; nichts existiert nur für sich. Aufgrund ihrer intrinsischen Relationalität bleibt die Substanzauffassung der Welt, der ontologische Monismus, solange einseitig gedacht, wie die Subjektivität der Welt nicht als sein widersprechendes Komplement gedacht wird. Als Subjekt verstanden, zeigt die Welt eine lebendige, das heißt selbstbezügliche und in sich plurale Struktur, die keinerlei Abschließbarkeit oder Geschlossenheit kennt. Der Einsatzpunkt der pluralistischen Aktualisierung besteht darin, das Verhältnis von Subjekt und Substanz kommunikativ und rekognitiv zu verstehen. Das bedeutet, die Beziehung von Subjektivität und Substanz hinsichtlich ihrer analogen und disanalogen 9 10 11

Henrich, „Hegels Theorie über den Zufall“, S. 136–157. Vgl.: Emundts, Erfahren und Erkennen, S. 157. Vgl. zu dieser Prämisse der konventionellen Hegeldeutung etwa: Siep, „Die Lehre vom Begriff“, S. 653.

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Momente zu reflektieren und darüber die Einsicht in die problematische Struktur ihrer Relation zu gewinnen und festzuhalten. „Der Begriff hat daher die Substanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er als manifestirtes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Causalität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis des Begriffs, durch welche sein Werden dargestellt wird“ (GW 12, S. 11).

Das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit, von Subjektivität und Substanz, ist das Verhältnis von Manifestation und ihrer Voraussetzung. Die „genetische Exposition“ der Logik, die Darstellung ihres Werdens, zeigt die Objektivität als Manifestation des Begriffs. Es ist für die hegelsche Begriffstheorie dabei elementar, den Begriff nicht in dem Sinne als Manifestation der Substanz zu deuten, dass er ihr widerspruchsloser, einfacher Ausdruck wäre, der durch seine Voraussetzung final determiniert wäre. Der Begriff ist die freie Manifestation seiner Voraussetzungen, mithin ihre Kritik und Begründung. Das Andere des Begriffs muss sich sowohl als Substanz als auch als Resultat der Genesis des Begriffs selbst auffassen lassen. Die Objektivität ist sowohl Voraussetzung des Begriffs als auch dessen Konsequenz. Die Doppelstellung der Objektivität als Voraussetzung wie Ergebnis der Arbeit des Begriffs muss im Sinne der Einsicht in die Genesis des Begriffs praxeologisch gefasst werden. Mit Praxeologie ist hier gemeint, Praxisformen von ihrer begrifflichen Grundlage her zu begreifen.12 Der Begriff ist keine Größe, dessen Entwicklung sich sozusagen hinter dem Rücken des subjektiven Geistes abspielte. Es sind die Praktiken des Geistes, die Movens der Bewegung des Begriffs sind. Die Praktiken werden durch die Reflexion auf ihre begrifflichen Grundlagen erschlossen. Weil die Welt als Substanz im Begriff zu vermittelnde Voraussetzung der Subjek12

In diesem Sinne etwa denkt Hegel, wie Theunissen argumentiert, „das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat nach dem Modell des Zusammenhangs von Reflexionslogik und Begriffslogik.“ Theunissen, Sein und Schein, S. 477.

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tivität ist, kann sie ihr nicht vollständig disanalog sein. Das analoge Moment von Begriff und Wirklichkeit, Subjektivität und Substanz, besteht in ihrer offenen Normativität, dem, mit Kant zu sprechen, inneren Zweck der Welt. Wie kommen wir nun aber von der damit immer noch gesetzten Opposition von Substanz und Subjekt, von Ansich und Fürsich, zu einer Position jenseits dieser Binarität, zum Anundfürsich? Dazu ist zu fragen: Worin manifestiert sich die Voraussetzung ihrer Trennung? Was ist das, technisch gesprochen, Substrat, dessen Momente Subjektivität und Objektivität ausmachen? Wir haben bisher gezeigt, dass Subjektivität und Objektivität formal als vermittelt gedacht werden, wenn ihre Pluralität als ihr tertium comparationis verstanden wird. Wie wäre diese Vermittlung aber materialiter zu denken? Dazu übersetzen wir das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Folgenden in das Verhältnis von Theorie und Praxis. Dieser Perspektivwechsel betrifft die grundlegende Begrifflichkeit von Subjektivität und Objektivität, mit der wir bisher Hegel folgend gearbeitet haben. Hegel drückt diesen Perspektivwechsel von der verstandesmäßigen Binarität von Subjektivität und Objektivität zu einer geistigen Auffassung ihrer Wechselwirkung so aus: „Die absolute Idee, wie sie sich ergeben hat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen, welche jede für sich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unerreichtes Ziel in sich hat; – jede daher eine Synthese des Strebens ist, die Idee sowohl in sich hat als auch nicht hat, von einem zum andern übergeht, aber beyde Gedanken nicht zusammenbringt, sondern in deren Widerspruche stehen bleibt. Die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht, ist um dieser Unmittelbarkeit seiner objectiven Identität willen einerseits die Rückkehr zum Leben; aber sie hat diese Form ihrer Unmittelbarkeit ebensosehr aufgehoben, und den höchsten Gegensatz in sich“ (GW 12, S. 236).

Die Subjektivität erfährt sich als transformativ und inhaltlich bestimmt, also substantiell mit der Objektivität verbunden, wenn sie

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durch Theorie an der Fortbestimmung der Substanz teilhat. Die Übertragung von Subjektivität und Objektivität in das Verhältnis von Theorie und Praxis findet ihre textuelle Evidenz in der metaphorischen Rede von der „Rückkehr der absoluten Idee zum Leben“. Die absolute Idee ist keine Synthese des Strebens, kein spannungsloses Nebeneinander von Gegensätzen, sondern hat den „höchsten Gegensatz“ in sich. Die absolute Idee zieht ihre methodische Kraft aus der Spannung von Theorie und Praxis. Was heißt diese poetisch-metaphorische Rede nun prosaisch und hinsichtlich von Theorie und Praxis dialektischer Philosophie im Zeichen der Emanzipation des Menschen? Wie sind nun theoretische und praktische Idee genauer zu verstehen? Sie entsprechen, so der Interpretationsvorschlag, zwei möglichen Passungsverhältnissen von Begriff und Wirklichkeit. Wird nach dem Passungsverhältnis des Begriffs zur Welt gefragt, ist dies die grundlegend theoretische Frage: Welcher Begriff des Begriffs passt zu einer offenen und prozessualen Praxis? Theoretische Wahrheit meint die Identität des Begriffs und der Realität. Theorie ist, wenn der Begriff sich nach einer als gegebenen, substantiell und prima facie unwandelbaren Objektivität zu richten hat. Die theoretische Frage fasst die Objektivität also so, als ob sie unvermittelt wäre. Sie fasst sie, wie Hegel es präzise fasst, als „vermittelte Unmittelbarkeit“. In der Theorie ist der Begriff heteronom und rezeptiv, denn er hat sich nach der Sache selbst zu richten. Theorie fragt nach dem Wahren, dem inneren Sinn und Zweck des substantiell Gegebenen. Die Idee der denkenden Teilnahme an der Welt in ihrer theoretischen Erscheinung bliebe solange abstrakt und „nicht vollendet“, wie die Realität nicht ihrerseits als Begriffsbestimmung aufgefasst und so die Wirklichkeit der Substanz noch im Gegensatz zum Denken vorgestellt wird. Die Objektivität wird so erst mit der praktischen Idee konkret, in „der praktischen Idee […] steht [der Begriff] als Wirkliches, dem Wirklichen gegenüber“ (ebd., S. 231). Lautet umgekehrt die Frage, welche Wirklichkeit zum dialektischen Begriff passt, ist dies die grundlegend praktische Frage. Praxis ist, wenn der

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Begriff frei ist und sich die Objektivität als wandelbare „Plastizität“ nach ihm richtet.13 Das Gute ist der Fluchtpunkt des Handelns und insofern real, weil es durch den Willen der Subjekte ins Werk gesetzt wird. Der Begriff ist als handlungsleitende Norm, als Vorstellung und Idee des Guten, wirklich. Aber auch die Idee des Guten muss als eine komplementäre Idee gefasst werden, die nicht für sich allein die Wirklichkeit der Idee herstellt. Das Gute und das Wahre bedingen einander: „Der Wille steht daher der Erreichung seines Ziels nur selbst im Wege dadurch, daß er sich von dem Erkennen trennt, und die äusserliche Wirklichkeit für ihn nicht die Form des Wahrhaft-Seyenden erhält; die Idee des Guten kann daher ihre Ergänzung allein in der Idee des Wahren finden“ (GW 12, S. 233).

Die Wirklichkeit der absoluten Idee ist also weder allein theoretisch noch allein praktisch auf den philosophischen Begriff gebracht. Wir müssen ihren „höchsten Gegensatz“ als die Spannung interpretieren, die ihre Einheit konstituiert. Erst in der Dialektik der Trennung und Einheit von Theorie und Praxis, von Erkennen und Wollen, aktualisiert sich die Idee. Das existierende Gute ist nämlich „nicht nur der Zerstörung durch äusserliche Zufälligkeit und durch das Böse unterworfen, sondern durch die Collision und den Widerstreit des Guten selbst“ (ebd., S. 232). Gegen die Zerstörung der guten Absicht durch den Weltlauf hilft kein Festhalten an Tugend und Schönheit der Seele. Aufgrund der Ambivalenzen im Guten selbst bedarf es der theoretischen Reflexion im Sinne eines Lernprozesses in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen aus Denken und Handeln. Der Beitrag der Theorie zur Praxis besteht in der Erinnerung daran, dass die soziale Praxis Ausdruck des Geistes ist. Der freie Wille kann vergessen, dass er „sich selbst im Wege steht“ und sich vom Erkennen trennen. Der Geist kann sich in einer Praxis ausdrücken, in der er sich selbst nicht mehr zu erkennen imstande ist. Die 13

Vgl. zu einer post-strukturalistischen Theorie der Plastizität im Anschluss an Hegel: Malabou, The Future of Hegel.

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Freiheit des Geistes ist sozusagen Lösung und Problem in einem. Freiheit ist einerseits das Ziel der theoretischen Reflexion und der praktischen Ausrichtung auf das Gute. Als freier Geist generiert der Geist sein eigenes Problem, kann er doch in der lernenden Reflexion die eigene Relationalität und Abhängigkeit vergessen. Ziehen wir, bevor es daran gehen wird, Theorie und Praxis näher zu bestimmen, ein Zwischenresümee und kehren zur eingangs formulierten These zurück, dass spekulative Logik eine Weise der Selbsttranszendenz des Geistes ist. Was heißt das nun für die Frage nach dialektischer Methode und dem genealogischen Vorbehalt? Die absolute Idee etabliert keine fixe Wahrheit als ihr Zentrum und ihren Anker, sondern nimmt den Gedanken ernst, dass es solche Wahrheit nicht gibt. Radikale Philosophie geht davon aus, dass alle „Dinge an sich selbst widersprüchlich sind“ (GW 11, S. 286). Die Widersprüchlichkeit der Welt impliziert die Aufgabe, die konstitutive Problematizität der Beziehung von Begriff und Wirklichkeit anzuerkennen. Aufgrund ihrer Problematizität lässt sich aus ihrem Sein kein Sollen ableiten. Die Trennung von Sein und Sollen, um diesen Gedanken aus der Begriffslogik in Erinnerung zu rufen, formuliert das „apodiktische Urtheil über alle Wirklichkeit.“ Alles ist problematisch, nichts fix oder selbstverständlich. Wie ist mit dieser grundständigen Problematik und Widersprüchlichkeit von Substanz und Subjekt aber produktiv umzugehen? Hier kommt Hegels Begriff der Methode und ihr Glaube an den durch ihre Disziplin eröffneten Fortschritt des Geistes ins Spiel. Hegels Gedanken können wir so fassen: Der konzeptuelle Vorteil, die Dichotomie von Subjektivität und Objektivität als Widerspruchsverhältnis von Theorie und Praxis zu denken, besteht darin, dass so keinem teleologischen Fortschrittsbegriff und keinem linearen Verständnis sozialen Wandels das Wort geredet werden muss.14 Fortschritt geschieht nicht hinter unserem Rücken, 14

Ein linearer Fortschrittsbegriff ist in der Tat systematisch unplausibel. Vgl. mit Blick auf einen durch Honneth aktualisierten, hegelschen Kontextualismus und einer scharfen Kritik am Fortschrittsdenken als genuin eurozentrisch: Allen, The End of Progress, dort: Kap. 3.

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sondern ist sozusagen die Sache aller und kennt keinen linearen Verlauf. Soziale Progressivität ist weder linear noch jenseits praktischer Einbettung zu verstehen. Fortschritt produziert als Sache aller immer neue Möglichkeiten seiner Verfehlung. Anders gesagt, sozialer Fortschritt meint die inklusive, durch Partizipationsrechte begründete Autorschaft über die normative Struktur gesellschaftlicher Ordnung. Das impliziert unter den Bedingungen des Werte-Pluralismus, dass Fortschritt notwendig kontrovers und kontextuell ist. Sozialer Fortschritt besteht darin, Konflikte als Formen kollektiver Autorschaft produktiv gestalten zu können, indem diskursive Ausschlüsse problematisiert und verändert werden. Damit ist gewissermaßen das normative Versprechen der Moderne reformuliert. Moderne meint die Begrenzung der Gewalt durch Etablierung des politischen Raums als eines inklusiven Raums politischer Teilhabe. Diese Inklusion macht die Autorschaft kontrovers. Ein dialektischer Fortschrittsbegriff verwechselt deshalb Sprechfähigkeit nicht mit Konsens, denn Streit ist vitales Moment der kollektiven Autorschaft sozialer Normen. Gewalt und Ausschluss sind in der diskursiven Moderne durchaus nicht überwunden, weder in ihrer materiellen noch in ihrer im engeren Sinne diskursiven Form. Anders gesagt, Fortschritt besteht darin, Pluralität als intrinsischen Wert zu verstehen und als Maßstab an der Kritik des Bestehenden zu benutzen. Die „genealogische Kritik“ von sozialen Mechanismen des Ausschlusses an der Teilhabe kann von hier aus als Komplement einer rekonstruktiven Fortschrittsund Gesellschaftstheorie agieren. Hegels Fortschrittsbegriff zeichnet ein komplexes Verhältnis von Theorie und Praxis, von spekulativer Intellektualität und Erfahrung. Genauso wenig, wie sich Wahrheit als Gegenstand allein von Logik und Erkenntnistheorie erschöpfend behandeln ließe, wären moralische und handlungstheoretische Fragen allein als Gegenstand praktischer Philosophie umfassend reflektiert. Ihr gemeinsamer Horizont besteht in der Suche nach einer Rationalität, die die Gestalt der Fortschrittsgeschichte von Wissenschaften, politischen Parti-

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zipationsrechten und kultureller Selbstbestimmung annimmt.15 Es geht also um die Aushandlung der Struktur weltlicher Vernunft, dessen also, was Hegel Weltgeist nennt.

9.1 Theorie dialektischer Philosophie Fragen wir zuerst und genauer nach der Theorie. Welcher Begriff des Begriffs entspricht einer Praxis der Emanzipation? Das führt uns zum Dialethismus zurück. Dialethismus und sein Verwandter, der Alethismus, bejahen die These, dass Wahrheit keine Eigenschaft mentaler Zustände, mithin alleiniger Gegenstand theoretischer Philosophie ist. Das ist Richtigkeit. Wahrheit meint ein Geschehen, ist also eine Eigenschaft von Praxis.16 Hegels Dialethismus besteht nun in der These, dass die Reflexionsbestimmung des Widerspruchs die Form des Wahrheitsgeschehens beschreibt. Mit dem hegelschen Begriff der Reflexionsbestimmung des Widerspruchs ist gemeint, dass Widersprüche die „Sphäre der Vermittlung“ von Subjektivität und Objektivität bilden (GW 11, S. 46). Sie sind weder einfach subjektiv noch einfach objektiv. Als Struktur der Sache selbst entziehen sie sich einfacher deiktisch-sensualer Bezugnahme. Kein Mensch hat je einen Widerspruch im wortwörtlichen Sinne gesehen. Wir „sehen“ Widersprüche nur, wenn wir denken und dabei Einzelnes so verallgemeinern, dass es durch Komparation und Kontextualisierung in seinen Spezifika zu Gesicht tritt. Dazu müssen wir das Einzelne mit Anderen vergleichen und die wesentlichen von den unwesentlichen Bezügen differenzieren. Auf die Art erweitert das kritische Denken unseren Erfahrungsraum. Das meint meines Erachtens der hegelsche Konzeptualismus: Der Begriff ermöglicht es dem freien Geist, „dialektische Erfahrungen“ zu machen (GW 9, S. 60), durch die das Bestehende negiert und transformiert wird. 15 16

Vgl.: Wesche, Wahrheit und Werturteil, S. 202. Kunst ist eine solche Praxis, ein „Wahrheitsgeschehen“. Vgl.: Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“, S. 37–44.

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Aus dem dialektischen Begriff folgt die methodische Norm dialektischer Philosophie, dass keine philosophische Theorie ihren Gegenstand trifft, solange sie nicht dessen konstitutiven Widerspruch auf den Begriff bringt. Es ist der Widerspruch, der Wesen und Grund der Sache selbst ausmacht. Sachen sind das, was sie sind, nur in der ihnen wesentlichen Spannung von Fürsichsein und Ansichsein, von Voraussetzung und Manifestation der Voraussetzungen. Dasjenige, das seinen Widerspruch weder ertragen noch gestalten kann, geht an ihm zugrunde. Folglich ist alles, was lebt, widersprüchlich. Hegel drückt dies im Abschnitt zur absoluten Idee so aus: „In der That aber ist das Denken des Widerspruchs, das wesentliche Moment des Begriffs“ (GW 12, S. 246). Wir sollten, so die leitende interpretative These, gerade im Sinne von Hegels Aktualität seinen Dialethismus ernst nehmen, statt ihn kantisch zu verkürzen. Der Widerspruch stellt kein zu überwindendes Merkmal schlechter Manifestation von Voraussetzung dar. Hegels Widerspruchsbegriff kennzeichnet kein Durchgangsstadium, sondern beschreibt ein zentrales Strukturelement objektiver Lebendigkeit selbst. „Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten. Wenn aber ein Existirendes nicht in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreiffen und eine in der andern festzuhalten, den Widerspruch nicht in ihm selbst zu haben vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund, sondern geht in dem Widerspruche zu Grunde“ (GW 11, S. 287).

Dass das Denken des Widerspruchs dem philosophischen Begriffe wesentlich ist, heißt nicht, dass es hinreichend sei, Widersprüche aufzustellen, um Wahrheit zu reklamieren. Nicht jede Anwendung des logischen Schemas des Widerspruchs konstituiert Wahrheit. Eine philosophische Theorie muss vielmehr materialiter zeigen, dass die von ihr behauptete Spannung ihres Gegenstandes tatsächlich

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die Spannung der Sache selbst ist.17 Hegels Dialethismus wird so als Bestandteil einer Begriffstheorie verständlich, die Disziplin der Logik nicht als formale Kalkulation und mathematisierbare Operation versteht. Den zentralen Baustein logischer Praxis bilden vielmehr Urteile und Schlüsse, die Züge im Wahrheitsgeschehen epistemischer Praxis. Diese beweisen für Hegel ihre Gültigkeit nicht anhand ihrer Form, sondern anhand der Bestimmungen der Sache selbst, die Subjekt des Urteils ist. Hegels Begriff des Begriffs ist somit erstens anti-formalistisch. So haben wir oben in der Analyse der Urteilslogik gesehen, dass es Urteile gibt, die zwar der Oberfläche nach ein Urteil bilden, da sie mit „S ist P“ das generische Schema einer Prädikation aufzeigen. Sie bringen dennoch nur einen begriffslosen Inhalt zum Ausdruck. Die Erfüllung einer bestimmten Form garantiert nicht, dass tatsächlich ein Urteil herausspringt. Markant ist dies bei Tautologien der Fall. Tautologien, in Hegels Terminologie sogenannte „positive unendliche Urteile“, manifestieren ihre Voraussetzungen nicht und bleiben bei ihrer leeren Form stehen. Der hegelsche Dialethismus kritisiert zweitens die klassische Logik, die Begriffe extensional und Urteile als zweiwertig, als entweder wahr oder falsch, auffasst. Die klassische Logik unterzieht aus Hegels Perspektive die Form des Urteils keiner hinreichenden Kritik. Die klassische Logik ist, so können wir Hegel gut rekonstruieren, eine Theorie inferentieller Praxis, die hinter ihrem Gegenstand zurückbleibt. Jenseits des logischen Formalismus hat kein Mensch je die Erfahrung gemacht, dass Tautologien notwendig wahr, Widersprüche notwendig unwahr seien. Hegel kritisiert die klassische Logik also im Namen tatsächlicher epistemischer Praxis und dekonstruiert ihren Formalismus: „Ein solches [das meint bloß formelles, tautologisches] Angeben von Gründen ist deswegen von derselben 17

Die damit angesprochene Opposition von Hegels philosophischer Logik und formaler Logik ist oft gesehen worden. Ihre nichtformale, das heißt philosophische Qualität ist aber mit ihrem Dialethismus zusammenzubringen. Vgl. als alethische Interpretation der Dialektik als Kommunikationstheorie: Theunissen, Sein und Schein.

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Leerheit begleitet, als das Reden nach dem Satze der Identität“ (GW 11, S. 304). Für die Leerheit formeller, tautologischer Rede kennt die inferentielle Praxis sogar die argumentative Figur der petitio principii: Ein Schluss wird nicht durch Aussagen begründet, welche den zu beweisende Schluss schon als wahr voraussetzen. In der Theorie ihrer selbst vergisst die Logik aber diese Erfahrung und hypostasiert Identität zur Sichselbstgleichheit. Im Hintergrund von Hegels Theorie des Begriffs stehen seine Überlegungen zum spekulativen Satz und der praktischen Vermittlung von Substanz und Subjekt, die er programmatisch in der Vorrede der PhG fasst und nach unserer Interpretation erst im Rahmen der Logik einlöst. Der in der Logik entwickelte, materiale Begriff der Reflexionsbestimmung des Wesens als Spannung der Sache selbst erlaubt es, zwei Aspekte spekulativer Begriffstheorie zusammenzuführen, die oft als gegenläufig verstanden werden. Hegel macht eindeutige Absagen an den Satz der Identität, dem A=A, und folglich nicht minder eindeutige Absagen an das Gebot des ausgeschlossenen Widerspruchs. In der Enzyklopädie nennt er diese angeblichen Denkgesetze gar „albern“ (GW 20, § 115). Identität wird nicht als Sichselbstgleichheit oder „präreflexive Subjektivität“ verständlich,18 sondern nur als Moment kommunikativer Beziehung. Wenn konkrete Identität die Identität der Identität und Differenz ist, müssen Widersprüche eine denkbare und begrifflich fassbare Beziehung bilden. Widersprüche sind als Reflexionsbestimmung nicht nur denkbar, sondern konstituieren die wesentlichen Beziehungen der Sache selbst. Widersprüche beschreiben die logische Form des Lebens. Hegel bejaht Widersprüche als Bestimmung der logischen Form des Lebens, gleichzeitig entwickelt er eine syllogistische Logik, das ist, eine Theorie inferentieller Praxis. Hegel kann sich also der von Aristoteles herrührenden philosophischen Mehrheitsmeinung 18

Vgl. im Sinne einer auf Schelling gründenden Hegelkritik, die das Präreflexive gegen den begrifflichen Zugriff zu retten versucht: Frank, Der unendliche Mangel an Sein.

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nicht anschließen, dass Inferentialität und Analytizität einander voraussetzen würden. Aus A und Nicht-A folgt nach Hegel nicht ipso facto Beliebiges. Der hegelsche Dialethismus revidiert die scheinbare Gültigkeit des ex contradictione sequitur quodlibet unter Rekurs auf die Wirklichkeit epistemischer Praxis. Zu denken, dass der Widerspruch nicht sein könne, weil er weder vorstellbar noch anschaulich sei, ist eine Voraussetzung, die sich in Anbetracht manifestierter epistemischer Praxis nicht halten lässt. Folglich implodiert der Inferenzbegriff nicht, wenn Widersprüche zugelassen werden.19 Das ist der Kern von Hegels Kritik am logischen Aristotelismus. Klassische Logik gibt ein falsches Bewusstsein von der tatsächlichen inferentiellen Praxis. Inferentielle Praxis ist sozusagen progressiver als ihre Theorie. Hegels Dekonstruktion der klassischen Denkgesetze baut auf einem Begriffsverständnis auf, das wir oben als anti-psychologisch gefasst haben. Wir können uns den Anti-Psychologismus über eine fundamentale Differenz zu Kant in Erinnerung rufen. Kants Begriffsverständnis ist synthetisch, da der kantische Begriff erstens Anschauungen und Vorstellungen unter sich zusammenfasst und es der subjektiven Vernunft erlaubt, durch die Verstandestätigkeiten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition Einheit in die empirische Vielfalt zu bringen. Zweitens ist der kantische Begriff in einem spezifischen Sinne diskursiv: Die theoretischen Vermögen der menschlichen Vernunft erlauben, so Kant, allein „eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv sondern diskursiv“.20 Diskursivität meint eine Erkenntnisform, die konstitutiv aus dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand heraus zu denken ist. Eine nicht-diskursive Erkenntnis wäre eine intellektuelle Anschauung, die nach Kant jenseits der Möglichkeiten der menschlichen Vernunft liegt. Für Kant stellt folglich eine intuitive Begriffsverwendung eine Manifestation der theoretischen Voraus19

20

Vgl. zu einem formalen Dialethismus, der ebenfalls negiert, dass Inferenzen durch Parakonsistenz unmöglich werden: Priest, „Thinking the Impossible“. Kant, KrV, B93.

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setzungen der Vernunft dar, die er für unhaltbar und dogmatisch hält. Die Bindung an die Grenzen der Sinnlichkeit begründet aus Kants Sicht die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik.21 Aus Sicht des reifen Hegel stellt der synthetisch-diskursive Begriff selbst eine Begriffskonzeption und damit Theorie epistemischer Praxis dar, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht hinreichend kritisch befragt und so im „psychologischen Idealismus“ stehen bleibt (GW 12, S. 22). Auch transzendentale Logik stiftet einen verzerrten Ausdruck der eigenen Praxis. Mit der Bindung aller Erkenntnis an die Sinnlichkeit markiert Kant eine Grenze, die er schon im Akt der Markierung selbst verletzt. Es ist nämlich ein Akt intellektueller Anschauung, das Ding an sich, von dem es keine sinnliche Anschauung oder Vorstellung gibt, für diskursiv unerkennbar zu erklären. Es ist nur kein besonders überzeugender Akt intellektueller Anschauung, da er seine eigenen Voraussetzungen nicht reflektiert. Den synthetisch-diskursiven Begriff des Begriffs zu vertreten, heißt letztlich, die Grenzen der eigenen Vorstellungsund Anschauungskraft für objektive Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung zu halten. Anders gesagt, Kants Bindung aller Erkenntnis an die Sinnlichkeit vergisst, dass sie einen Standpunkt jenseits der Sinnlichkeit einnehmen muss, um diese konstitutive Bedingung behaupten zu können.22 Die Grenzen der subjektiven Einbildungs und Vorstellungskraft für objektive Grenzen zu erklären, ist ein Urteil, dessen Voraussetzungen sich in Anbetracht der Vielfalt der lebendigen Objektivität nicht einholen lassen. Das Problem transzendentaler Argumente besteht aus spekulativer Perspektive darin, dass sie die Grenzen der Subjektivität 21

22

Diese Begründung der Wissenschaftlichkeit der Logik teilt Hegel nicht. Es ist der spekulative, nicht der transzendentale Kant, an den Hegel anschließen wird. So sind es die dritte Kritik überhaupt und die transzendentale Dialektik der ersten Kritik, die Hegel systematisch interessieren. Die dabei berührten Spannungen zwischen Kants erster und dritter Kritik arbeitet hervorragend heraus: Longuenesse, Kant on the Human Standpoint. Sedgwick, Hegel’s Critique of Kant, S. 72 f.

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für die Grenzen der Objektivität ausgeben. Das stellt einen, mit Kant gegen Kant gesagt, wirklichen transzendentalen Paralogismus dar. Wenn die Vernunft nur erkennen könnte, was sie selbst in die Welt legt, bliebe sie sich in ihrer Relationalität und ihrem konstitutiven Bezug auf die Substanz der Welt selbst ein Fremdes. Hegels systematische Zurückweisung des ex contradictione sequitur quodlibet steht hingegen auf dem Boden eines nicht-psychologistischen, das ist, eines komprehensiven Begriffs: Die Objektivität ist an sich begrifflich strukturiert, auch wenn sie sich ihre Konstitutionslogik nicht aneignen kann, also nicht für sich begrifflich ist. Darin gründet die Disanalogie von Subjektivität und Objektivität. Wie verhält sich nun Hegels komprehensiver Begriff des Begriffs zur oben in Anschlag gebrachten These von der Freiheit des Logischen bei dessen gleichzeitiger Rezeptivität? Was ist mit der Autonomie der begrifflichen Negation? In theoretischer Hinsicht ist der Begriff auf eine gegebene, substantielle Objektivität bezogen und insofern heteronom, richtet er sich doch nach der materialen Struktur der Sache selbst. Dennoch geht der Begriff nicht so in seiner Voraussetzung auf, dass er ihre rest- und bruchlose Manifestation wäre. „In [der] logischen Idee des Geistes, ist Ich daher sogleich, wie es aus dem Begriffe der Natur als deren Wahrheit sich gezeigt hat, der freye Begriff, der in seinem Urtheile sich selbst der Gegenstand ist, der Begriff als seine Idee“ (ebd., S. 198). Durch seine Heteronomie realisiert der Begriff einen freien Bezug auf das Gegebene, indem er sich selbst in diesem Bezug zum Gegenstand macht und sich so im Anderen reflektiert. Im Gegenstandsbezug ist der Begriff als eigenständiges Moment sozusagen mitgegeben, das heißt stets zu differenzieren. Wir haben oben deshalb das Moment der Selbstbezüglichkeit des Begriffs anhand der Begriffsbestimmungen von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit erläutert: In Urteilen kann ein Dasein entweder als Einzelnes beziehungsweise als Allgemeines oder als Besonderes aufgefasst werden und ist Gegenstand unterschiedlicher Typen von Prädikation. Hegels spekulative Logik verfolgt so den systematischen Anspruch, die Interdependenz des intensionalen Verständnisses der Prädikation im Sinne einer de-

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dicto-Prädikation und des extensionalen Verständnisses von de-rePrädikation und Konsequenz zu verbinden.23 Die unterschiedlichen propositionalen Relationen rechtfertigen unterschiedliche Schlüsse. Es macht einen gravierenden Unterschied, ein Dasein als Einzelnes und de re, das heißt, als ein Ganzes der Mannigfaltigkeit seiner Merkmale aufzufassen, die ihm inhärieren. Dasselbe Dasein kann auch als Exemplar einer generischen Form gefasst und de dicto spezifiziert werden. Die Differenz von generischer Form und Einzelfall markiert die Spannung, die den Begriff konstituiert. Begriffe haben hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und hinsichtlich ihrer Implikationen zwei Richtungen, in denen sie logische Notwendigkeit entwickeln. Voraussetzungen und Implikationen lassen sich aber nicht in eine einfache Deckung bringen. Der philosophische Begriff ist kein Schema, das sich unabhängig von der Sache beschreiben ließe, die er reflektiert. Indem der Begriff sich auf eine Sache bezieht, verändern sich beide – die Sache zeigt sich dem begrifflichen Zugriff in ihrer der sinnlichen Gewissheit entzogenen Ambivalenz, wird reichhaltiger und komplexer, wird konkreter. Auch der Begriff verändert sich, da vormalig getrennte Elemente verbunden werden: Was Einheit schien, wird differenziert; unterschiedliche Weisen der Definition desselben Begriffs werden plausibel. Der Begriff bewegt sich und erweitert dabei unsere Erfahrungsräume. Die fixen Arten der Anschauung einer Gattung werden zu Typen und Varietäten, die in ihrem Zusammenhang zu erkennen einer begrifflich-systematischen Perspektive bedarf. Eine zentrale Voraussetzung des philosophischen Begriffs ist ein deflationierter Begriff der Reflexion. Hegels Logik zeigt, dass die Unterscheidung von Subjekt und Objekt entlang der Unterscheidung von Reflexion und Mechanik sich nicht stabilisieren lässt. Die Subjektivität kann sich mechanisch entäußern und so die Struktur seiner Erfahrungsräume zu fixen Schematismen verhärten lassen. Die Objektivität ist nach Hegel keine rein mechanische Totalität, 23

Redding, „Subjective Logic and the Unity of Thought and Being“, S. 182.

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finden sich doch Selbstbezüglichkeit und Reflexion in ihr. Absoluter Idealismus besteht auf der These, dass die Welt eine lebendige Totalität, eine Totalität durch, wie Hegel es terminologisch fasst, „Reflexion-in-sich“ ist. Wir haben die naturphilosophischen Konsequenzen dieses Reflexionsbegriffs oben unter dem Stichwort der Natur als Biosphäre des Geistes diskutiert. Damit lassen sich Hegels Objektivitätsbegriff und seine Betonung objektiver Reflexion als hermeneutischer Idealismus apostrophieren:24 Die Wirklichkeit ist der „Mittheilung“ fähig, so wie eine Ursache sich in ihrer Wirkung mitteilt. Die Objektivität ist kein toter Zusammenhang, sondern ein selbstbezüglicher Prozess. Die These der Freiheit des Begriffs setzt voraus, die Objektivität als der Selbstbestimmung fähig zu denken. Frei ist der Begriff wie alles Freie nur in einem freien Anderen. Lebendige Objektivität ist protospontan, denn jedes Einzelne steht in einer negierenden Relation zu seiner Substanz. Das hat der logische Blick auf die Beziehung von Subjektivität und Objektivität ergeben. Der freie Bezug auf das Gegebene ist möglich, weil Begriffe, so das obige Argument, Kontexte bilden, in denen auf dasselbe unterschiedlich Bezug genommen werden kann. Hegel fasst die Freiheit des Begriffs darin, denselben Inhalt entweder als Voraussetzung oder als Folge und damit in widersprechender Weise zu artikulieren. Diese Freiheit des Begriffs beschreibt Hegel in der absoluten Idee anhand der Bewegung der Aneignung. Bereits die Verstandestätigkeit der Analyse ist für Hegel Aneignung und „Verwandlung des gegebenen Stoffs in Denkbestimmung“ (GW 12, S. 203). Die logische Analyse identifiziert mögliche Schritte der Konstruktion von Beweisen, indem sie Strukturen auffasst, von Unterschieden absieht und Gemeinsamkeiten in der Vielfalt wiederkennt. Bereits diese Verstandestätigkeit ist für Hegel Interpretation und nicht einfache „Wiederholung“ des Gegebenen (ebd., S. 204). Der Verstand im Sinne der analytischen Fähigkeiten des Geistes liefert durch die 24

Die damit gegebene Nähe von anerkennungsbasierter Ethik und spekulativer Logik entwickelt: Redding, Hegel’s Hermeneutics, Kap. 7.

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Negationsleistungen Schematismen der Objekte des Denkens, sozusagen Schablonen, mittels derer das Gegebene anvisiert und konkretisiert wird. Hier lässt sich ein Vorschlag zur Güte unterbreiten, wie sich Analytizität und Hegels Dialethismus vereinbaren ließen: Analytizität erfährt dabei eine doppelt beschränkte Gültigkeit. Sie ist keine konstitutive, nur eine regulative Größe und hat einen allein heuristischen Wert für die Identifikation konstruktiver Mittel in Beweisen und Argumenten. In diesem Sinne darf der Verstand von den Widersprüchen von Subjektivität und Objektivität analytisch absehen und seine Gegenstände zu einfachen, reflexionsfreien Dingen simplifizieren – zu Schematismen. Als Heuristik ist das Gebot der Widerspruchsfreiheit ein Gebot der Darstellung von Wahrheit, nicht von Wahrheit selbst. Zweitens gilt Analytizität nur für den Verstand, nicht für den theoretischen Geist überhaupt. Vernunft und Geist manifestieren sich, indem sie die Grenzen des Verstandes transzendieren. Das heißt, die synthetischen und dialektischen Vermögen bringen das feste Material der Schematismen, um es mit Hegels favorisierter Metaphorik zu sagen, in „Verflüssigung“. Anders gesagt, analytisches Denken ist kein Selbstzweck, sondern selbst Mittel im Prozess der Verflüssigung der Gegensätze. Philosophische Darstellung und begriffliche Interpretation leisten aus Hegels Perspektive eine Veränderung der Sache selbst. Spekulative Logik zielt dabei auf eine produktive Entfremdung von den Grenzen von Anschauung und Vorstellung. Theoretische Logik stellt ihre Gegenstände anders dar, als sie sinnlich gegeben sind. Philosophie war und ist immer Weltentfremdung und entfaltet ihre epistemische Kraft erst in der Rückkehr zum Leben. Sie geht im Leben aber nicht auf, wird nie selbstverständlicher Teil des Lebens. Philosophie ist intrinsisch motiviert und zielt auf das Begreifen des inneren Zwecks des Lebens. Die philosophische Frage zielt als intrinsische Fragestellung niemals auf die Verwertung ihrer Erkenntnisse. Deshalb erscheint sie vielen als zweck-, sinn-, gar wertlos. Philosophie ist eine brotlose Kunst, weil sie der natürlichen Ontologie widerstrebt.

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Die Logik der Sachen ist so gewissermaßen kontraintuitiv. Logik ist die Erkenntnismethode, die  „intellektuell“ im kantischen Sinne ist – sie verfährt ohne sinnliche Vorstellung und Anschauung. Darin liegt ihre Unzugänglichkeit begründet. Logik ist in diesem Sinne die Wissenschaft vom Übersinnlichen, dem „Reich der Schatten“. Sie zeigt die Struktur der Sache selbst jenseits der gewohnten Wahrnehmungs- und tradierten Reflexionsmuster. Hegels Verständnis des subjektiven Begriffs als interpretativ-hermeneutisches Verfahren der Weltaneignung geht über das diskursive Prinzip der bestimmenden Reflexion im Sinne Kants hinaus.25 Das Selbstmissverständnis der Synthesis ist, dass sie sich selbst nach dem Beobachterprinzip schematisiert und darin ihre eigene Freiheit vergisst. Synthetisches Erkennen verbleibt so in der „Endlichkeit“ des eigenen Standpunkts (GW 12, S. 209). Die These, dass Logik eine zentrale Weise der Selbsttranszendenz ist, setzt voraus, philosophische Begriffsbildung weder als Kontemplation noch als beobachtenden Nachvollzug zu verstehen, sondern als eine Praxis der Wechselwirkung von Begriff und Wirklichkeit, mithin der praktischen Aneignung der Welt. Diese Betonung des aneignenden, interpretativen Charakters des philosophischen Begriffs mag nun eine Rückfrage provozieren: Warum muss sich der Begriff überhaupt etwas aneignen, was der These der Wechselwirkung von Subjektivität und Objektivität nach dem Begriff eh nicht fremd ist? Hegel fasst diese Frage so: Warum muss 25

Förster beschreibt die 25jährige Entwicklung von Kant zum mittleren Hegel dementsprechend auch als Weg der kantischen scientia discursiva zu einer von Spinoza und Goethes Morphologie inspirierten scientia intuitiva. Wir stimmen zwar mit Förster darüber ein, dass Hegel einen Standpunkt entwickelt, „der über Subjekt und Objekt“ hinausgeht und eine wissenschaftlich stabile Position intellektueller Anschauung begründet. Leider unterlässt es Förster aber, die Frage nach Diskursivität und Intuitivität mit Blick auf den reifen Hegel zu stellen. Försters These, dass Hegels System nicht der „Zukunft grundsätzlich offen“ sei, wäre aber spätestens in Anbetracht der WL zu revidieren. Dann hätte das Buch nur die „35 Jahre der Philosophie“ heißen müssen. Förster, Die 25 Jahre der Philosophie, S. 365.

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sich die Idee mit der selbstbezüglichen Objektivität eine „Materiatur“ geben, an der sich die Idee dann selbst interpretativ-begrifflich abarbeiten muss (GW 12, S. 197)? Warum gibt sich die Idee mit der Objektivität eine ihr zwar strukturell identische, aber ihr dennoch opake Andersheit? Dazu müssen wir Hegels Dialethismus und seine Kritik am logischen Aristotelismus mit seiner aneignenden Interpretation einer platonischen Idee verbinden.

9.2 Praxis dialektischer Philosophie Um nun den Grundgedanken dialektischer Philosophie in praktischer Hinsicht zu konturieren, ist es sinnvoll, Hegels Spekulation neben der interpretativen Aneignung ihrer aristotelischen Vorraussetzungen noch mit einem zweiten locus classicus dialektischer Philosophie zu kontrastieren. Wir werden zu diesem Zwecke Hegels dialektische Methode mit Blick auf Platon beleuchten. Es ist dabei vor allem die Anamnesislehre Platons, die Lehre, nach der alles Lernen und Wissen Wiedererinnerung sei, an die Hegel anschließt. Hegel gibt ihr aber einen neuen, kritischen Sinn, indem er die Erinnerung als philosophische Praxis der Selbstkritik beschreibt. Erinnerung ist kritisch, wenn sie gegen falsche Formen der Entäußerung und Aneignung andenkt.26 Eine phänomenologische Instanz dessen, was kritische Erinnerung heißen kann, findet sich gegen Ende des Vernunft-Kapitels der PhG mit dem schönen, wenn auch enigmatischen Titel „Das geistige Thierreich und der Betrug, oder die Sache selbst“. Den Kerngedanken dieses Abschnittes können wir als eine Kritik am „abstrakten Individualismus“ der Vernunft interpretieren. Zur Idee der vernünftigen Selbstbestimmung, das heißt einer Individualität, „welche sich an und für sich selbst reell ist“ (GW 9, S. 214) gehört, dass Individuen an der Welt praktisch teilhaben und ihre individuellen Vorstellun26

Damit führt Hegel einen Gedanken Kants fort, versteht Kant doch transzendentale Begriffe wie etwa „Erscheinung“ als „kritische Erinnerung“ an die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis. Kant, KrV, B 45.

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gen des Guten, Schönen, Wahren realisieren und sich so selbst verwirklichen. Das „Aussprechen der Individualität ist ihm [dem Thun der Individualität] Zweck an und für sich selbst“ (ebd., S. 214 f.). Individuen stellen „Thaten“ in die Welt und eignen sich die Substanz der Welt an, indem sie etwas zu ihr beitragen. Zur Wirklichkeit dieses Beitrages gehört es, dass er mit den Taten der Anderen vermittelt ist. Im geistigen Tierreich wird nun eine expressive Praxis verfolgt, nach der genau diese Vermittlung als Betrug am Ding der eigenen Selbstverwirklichung verstanden wird. Das geistige Tier sieht in jeder Kooperation mit Anderen nur die Korruption an der eigenen Selbstverwirklichung, weshalb wir vom geistigen Tierreich gut als einem „Zusammenprall von Selbstverwirklichungsversuchen“ sprechen können.27 Das geistige Tier versteht seine Expressivität – reflexionslogisch gesprochen – allein als Ausdruck seiner unbedingten Spontaneität. Seine Handlungen seien folglich nur die Implikationen seiner Intentionen. Es ist die Ideologie voraussetzungsloser, unbedingter Spontaneität, das eigene Handeln jenseits aller Privilegien und sozialen Teilnahmebedingungen zu stellen.28 Das ist der titelgebende „Betrug“ des geistigen Tiers an seiner eigenen Ontologie. Diese Ideologie kollidiert mit der Realität der eigenen Praxis. In der reellen Selbstverwirklichung erfahren Individuen die Veränderung ihrer Werke durch die objektive, soziale Welt. Es kommt im Handeln immer zu Diskrepanz von Tat und Absicht aufgrund des geteilten Charakters der sozial vermittelten Welt. Die Teilnahme der Anderen am eigenen Handeln entzieht das Werk der alleinigen Deutungshoheit des Individuums. Akteur*innen haben kein Monopol 27 28

McDowell, „Zur Deutung von Hegels Handlungstheorie im Vernunftkapitel der ‚Phänomenologie des Geistes‘“, S. 384. Die genealogische Kritik praktischer Normativität formuliert den Appell zur reflexiven Selbstüberprüfung und zur Selbsttransformation. Die Denkbarkeit und Möglichkeit dieser Selbsttransformation wird vom genealogischen Text eröffnet. Er führt performativ vor, dass eine andere Subjektivität zumindest vorstellbar ist. Vgl. zur dieser Interpretation des Modells genealogischer Kritik: Saar, Genealogie als Kritik, S. 127–130.

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der Deutung der sozialen Bedeutung ihres Tuns. Jede Handlungsfähigkeit basiert auf sozialen Voraussetzungen und gegebenen Privilegien, die sie selbst nicht reproduzieren, aber vergessen und übersehen kann. Der Widerspruch Anderer zur eigenen Expressivität erscheint aus dieser verzerrten Perspektive wie eine bloße Äußerlichkeit und Zurückweisung der Leistung des handelnden Subjekts. Als würde der Verweis auf die Voraussetzungen spontaner Tätigkeit schon ihre Disqualifikation bedeuten. Die Teilnahme Anderer an der eigenen Selbstverwirklichung wirft auch für das geistige Tier die Frage auf, wie das Eigene sich gegen diese „Erfahrung von der Zufälligkeit des Thuns“ behaupten kann (GW 9, S. 223). Das geistige Tier antwortet darauf zwar mit der Versicherung der „Ehrlichkeit“ seiner Absichten, ist aber nicht bereit, die Kriterien seiner Ehrlichkeit zu kommunizieren. Nach dem Seinigen gefragt, antwortet das geistige Tier schlicht mit „meins“. Es scheut die Kontroverse um seine Aufrichtigkeit sowie um die Kriterien ihrer Begründung. Das geistige Tier verfolgt eine naturrechtliche Konzeption sozialer Ordnung und sieht sich mit Rechten versehen, die es aufgrund seiner Stellung in einer gottgewollten beziehungsweise naturgegeben Ordnung für sich beansprucht. Deshalb handelt es nach dem Recht des Stärkeren, versteht seine Handlungen nur als Ergebnis der eigenen Spontaneität und reflektiert die Voraussetzungen seiner Spontaneität nicht: der soziale Raum und die ihn strukturierenden Handlungsnormen und Privilegien. Wir können am geistigen Tierreich zwei Momente festhalten: Das geistige Tier legt ein besitzergreifendes Verständnis seiner Taten an den Tag und übersieht die geteilte soziale Praxis als Voraussetzung seiner expressiven Praxis. Zweitens verfährt es in der Reflexion auf die immer stattfindende Abweichung von Tat und Absicht monologisch. Monologischer Possessivismus verhindert, dass der Gegenstand der individuellen Selbstverwirklichung freier Gegenstand wird, weil er in der Struktur des Kampfes gegen die Veränderung verbleibt und nicht die Lehre aus der Dialektik der Herrschaft und Knechtschaft zieht, nach der die Wahrheit der Selbständigkeit die Inklusion von Unselbständigkeit ist. Das bedeutet für die

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Abhängigkeiten des Geistes: Wirkliche Souveränität gründet sich in Transparenz, Hingabe und der Ermöglichung von Partizipation der Anderen an der eigenen Selbstverwirklichung. Wer auf menschliche Weise Mensch sein will, entsagt dem possessiven Individualismus. Hegels Punkt lässt sich so reformulieren: Wer das eigene Handeln nur aus sich selber heraus zu berechtigen weiß und soziale Verpflichtung aus Privilegien nicht als Bedingungen eigener Freiheit anzuerkennen bereit ist, verfolgt eine geistlose, verdinglichende Idee von Vernunft. „Verdinglichung“ meint hier das Mechanischwerden und Verhärten sozialer Praxis. Verdinglichung im Sinne der Regression des geistigen Tieres meint, so können wir es in Worten von Honneth sagen, eine „Art von Denkgewohnheit, von habituell erstarrter Perspektive, […] durch deren Übernahme die Menschen ihre Fähigkeit zur interessierten Anteilnahme an Personen und Geschehnissen verlieren.“29 Regression auf der Ebene der Geistes beschreibt eine Weise der Totalisierung der eigenen Partikularität durch die naturrechtliche Auffassung der sozialen Position, Privilegien und Rollenerwartungen. Der Verdinglichung expressiver Subjektivität entspricht eine abstrakte Konzeption von Objektivität. „Das Ding der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens hat nun für das Selbstbewußtseyn allein seine Bedeutung durch es; hierauf beruht der Unterschied eines Dings und einer Sache“ (ebd., S. 223). Die Welt als Ding zu fassen, folgt dem Objektverständnis, nach dem ihre Relationalität ihnen äußerlich sei. Sachlich ist die gegebene Objektivität aber nur gefasst, wenn ihre Relationalität und Kommunikativität, ihr „Mittheilungscharakter“, begriffen ist. Die zitierte Differenz von Ding und Sache gibt zu verstehen auf, dass Objektivierung nicht per se Verdinglichung ist. Es kommt vielmehr auf ihren Modus an. Der konkrete Begriff der Sache selbst bezieht sich auf eine Form von Vergegenständlichung, die dialogisch und konsensuell verfährt: 29

Honneth aktualisiert so den Materialismus von Lukács im Rückgriff auf Heidegger und Dewey als „Anerkennungsvergessenheit“. Honneth, Verdinglichung, S. 63.

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Diesem Objektverständnis entspricht eine Konzeption von Individualität, die in der Relationalität und Kommunikativität ihrer expressiven Praxis ihre eigene Struktur zu erinnern vermag. Eine sachliche Weltsicht erkennt in Kooperation und Solidarität die Bedingungen der Verwirklichung der eigenen Freiheit. Hegels Differenzierung von Ding und Sache ist zentral für die Idee kritischer Anamnesis. Sie erlaubt es, das Verhältnis von Hegels Dialethismus und der an ihn anschließenden Tradition der kritischen Theorie näher zu bestimmen. Honneth verfolgt in der philosophischen Analyse sozialer Formationen die Idee, dort die Struktur „sozialer Pathologien“ offenzulegen.30 Unter sozialen Pathologien versteht Honneth Fehlentwicklungen und Störungen der sozialen Bedingungen individueller Selbstverwirklichung. Indem Honneths Sozialphilosophie in negativistischer Manier soziale Pathologien in den Blick nimmt, soll es möglich werden, auch unter Bedingungen des Pluralismus des Guten eine Gesellschaftskritik zu formulieren, die sich nicht in Gerechtigkeitsgrundsätzen erschöpft, sondern zumindest einen formalen, aber keinen substantiellen Begriff des Guten einbezieht. Die Grundbegriffe einer solchen kritischen Sozialdiagnose sind Begriffe wie Entfremdung, Verdinglichung oder Anomie. Indem sie sich an den zutage tretenden Störungen des sozialen Lebens orientiert, die die Selbstverwirklichung der Individuen beeinträchtigen, wird die Sozialphilosophie zur Statthalterin einer ethischen Perspektive, so Honneth. Der Widerspruch von Theorie und Praxis wird in dieser Perspektive nicht als Zeichen der Lebendigkeit, sondern der Störung sozialer Praxis verstanden. Damit wird die philosophische Tiefe des Widerspruchsbegriffs des reifen Hegel unterlaufen und ein fichteanisches Verständnis sozialer Relationen verfolgt. Der Widerspruch von Theorie und Praxis als Schema sozialer Pathologien gilt dabei, so Hegel, „sey es am Wirklichen oder in der denkenden Reflexion, für 30

Honneth prägt den Begriff in einem 1994 erschienenen Aufsatz in der für die gegenwärtigen Diskussion nach wie vor maßgeblichen Weise. Honneth, Pathologien des Sozialen.

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eine Zufälligkeit, gleichsam für eine Abnormität, und vorübergehenden Krankheitsparoxysmus“ (GW 11, S. 286 f.). Diesem Vorurteil widerspricht Hegels Dialektik mit aller Entschiedenheit. Ein dialethisch verstandener Widerspruch kann nicht in negativistischem Sinne Störungen des sozialen Lebens anzeigen. Wir sollten vielmehr in die Gegenrichtung denken: Es ist der Mangel an Widerspruch und Auseinandersetzung, der aus spekulativer Perspektive soziale Pathologien zeitigt. Die wesentliche Problematik eines Ethos, dessen Substanz die Vielfalt der Lebensformen sein soll, ist die Indifferenz der Individuen. Das heißt im Umkehrschluss nicht, Kampf und Antagonismus zum Selbstzweck des Politischen zu erklären.31 Mit dem Ethos der Pluralität muss aber ein Ja zu Konflikt und Kritik als genuinen Formen der Anerkennung einhergehen. Anerkennung hat Agnes Heller zufolge eine tiefere und komplexe Bedeutung. „Other people’s alternative ways of life are our concern even if we do not live them ourselves.‚Recognition‘ is therefore a positive category, an assertive one. It implies an active relation to the other without violating the other‘s negative freedom.“32 Indifferenz und Gleichgültigkeit bilden aber, wie Heller hervorhebt, falsche Formen von Toleranz für plurale Moderne. Hellers Konzept einer „radikalen Toleranz“ betont die aktive Seite der Toleranz; die Bemühung, Beachtung, Verständnis und Anerkennung für den Anderen zu entwickeln.33 Anerkennung als radikale Toleranz zu verstehen, heißt die Notwendigkeit zu bejahen, die Konflikte, die bei diesen Bemühungen entstehen, um des Anderen willen zu führen. Konflikte nicht zu führen, heißt den Anderen nicht in der Fähigkeit zur Negation des Gegebenen anzuerkennen. Aus denselben Voraussetzungen ziehen wir genauso andere Implikationen, wie wir von denselben Implikationen auf andere Voraussetzungen schließen. Neben der Differenzierung von Ding und Sache, die Anerkennung als Konflikt um Sachlichkeit versteht, ist für die Idee kriti31 32 33

Vgl. zur Idee des „Agonistic Pluralism“: Mouffe, The Return of the Political, S. 1–9. Heller, Postmodern Political Condition, S. 83. Vgl.: Ruffing, Agnes Heller. Pluralität und Moral, Kap. 2.2.4.

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scher Anamnesis noch eine zweite Hinsicht zentral. Kritische Anamnesis nimmt die Dialektik von Substanz und Subjekt als Dialektik von Natur und Geist in sich auf. Die Natur, das bloß lebendige Leben, entwickelt ihre Anlagen aus und entfaltet dabei seine Idee gewissermaßen störungsfrei. Die Pflanze, so Hegels Metapher, entwickelt sich aus dem Samen, sofern kein hemmender, störender Einfluss auf das Geschehen einwirkt und die Entwicklung unterbindet, da „im Samenkorn schon die ganze Pflanze gelegen“ hat (GW 27.1, S. 27). Anders verhält es sich in der Dialektik des Geistes, ist dieser sich doch selbst Hindernis, an dem er sich geschichtlich abzuarbeiten hat: „die Bildung des Geistes fällt in die Zeit, und er hat eine Geschichte darum, weil was der Geist ist, er nur durch seine Arbeit ist, durch Verarbeitung der unmittelbaren Form, wodurch er sich zu einem Bewußtsein über sich, also zu einem höhern Standpunkt erhebt“ (ebd., S. 33). Es ist dem Geiste eigentümlich, auf der Stufe des Geistes zu verbleiben und trotzdem regressieren zu können, wenn er, die Arbeit der Selbstkritik unterlassend, zu keiner „Verarbeitung der unmittelbaren Form“ anhebt. Die Dynamik der Natur unterliegt einer Störung, wenn sie an ihrer Entfaltung durch einen externen Faktor gehindert wird. Der Geist hingegen kann sich in seiner Entfaltung intern verhindern, wenn er sich gegen die eigene Störungsanfälligkeit immunisiert und Widersprüche seiner Theorie und Praxis aus seiner Selbstinterpretation schließt. Hegels Modell dialektischer Entwicklung entwirft damit eine anspruchsvolle Theorie des historischen Transformationsprozesses, der seine Rationalitätskriterien aus der Struktur der Bewegung des Geistes expliziert. Die kritische Anamnesis erinnert an die eigene Störanfälligkeit des Geistes. Störanfällig ist der Geist, weil er in seiner Entäußerung auch Immunisierungspraktiken realisiert. Gegen diese Immunisierung des Geistes vor seiner eigenen Ambivalenz eröffnet die kritische Anamnesis den intellektuellen Raum für die Wiedererfahrung der Offenheit und des Beziehungscharakters des Geistes gegen die „habituell erstarrten Denkgewohnheiten“ (Honneth) possessiver Individualität und Vernunft. In diesem Sinne lässt sich viel-

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leicht Platons Idee am besten verstehen, dass alle spekulative Erkenntnis Wiedererkenntnis sei. Erinnerndes Denken negiert, um mit Adorno zu sprechen, die Gewalt des identifizierenden Denkens der ersten Negation. So ist die „Negation der Negation […] eigentlich gar nichts anderes als Anamnesis jener Gewalt“, geht es dialektischem Denken doch schließlich um die „Korrektur der Gewalt in der Identifikation“.34 Die kritische Erinnerung im Sinne Hegels gedenkt dabei keiner historisch-sozialen Formation und appelliert nicht für die Rückkehr in diese Formation aus der „entfremdeten“ Gegenwart. Vielmehr erinnert sie der Geltungsansprüche der Vernunft selbst, die im Selbstverständnis des Geistes begründet liegen. Die Geltungsansprüche der Vernunft sind keine soziale Faktizität, sind umstritten, fragil und leicht zu übersehen. Nur durch ihre Aushandlung und kollektive Reflexion entfalten sie eine soziale Wirksamkeit. Der Geltungsanspruch der Vernunft muss gegen die latente Problematik jeder sozialen Praxis aktualisiert werden, sich blind zu machen für ihre eigenen Voraussetzungen und sich gegen ihre Spannungen zu immunisieren. Die objektive Vernunft muss also als Voraussetzung individueller Freiheit realisiert sein und muss als Implikation individuellen Handelns aktualisiert werden. Nach Hegels Verständnis ist objektive Rationalität sowohl Präsupposition als auch Resultat dialektischer Entwicklung des Geistes.35 Adornos negativistische Anamnesis versucht im Augenblick des Sturzes der Metaphysik etwas zu retten, was für Hegel kein Rettenswertes ist. Die Vorstellung eines begrifflich unvermittelten Ganzanderen der menschlichen Lebensform – das Schema hierfür liefert das kantische Ding an sich, sei es negativ theologisch oder erfahrungstheoretisch verstanden – stellt für Hegel keine Bezugsgröße kritischer Anamnesis dar. Diese Größe denkt Hegel strikt immanent als geschichtlichen Prozess der Selbstentfaltung des Geistes im Sinne seiner genuinen Pluralisierung. Aufgrund der Pluralität kommunikativer Praxis sind begriffliche Vermittlungen nicht mit 34 35

Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, S. 51. Vgl. zu dieser Interpretation von Hegels Fortschrittsbegriff: Jaeggi, Kritik von Lebensformen, S. 352–391.

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identifizierender Gewalt gleichzusetzen. Es geht dabei nicht darum, begriffliche Praxis als genuin unproblematisch herauszustellen. Die Problematik des Geistes besteht in seiner konstitutiven Bezogenheit auf die Schematismen des Verstandes. Die Korrektur der Gewalt des identifizierenden Denkens aber ist selbst Ergebnis der Arbeit begrifflicher Praxis. Die Kritik am falschen Begriff ist begriffliche Praxis. Hegels kritische Anamnesis denkt das Verhältnis von Fortschritt und Regression dabei in einem spekulativen Bildungs- und Geschichtsbegriff zusammen. Unter Fortschritt verstehen wir die Lernfähigkeit des Geistes im Sinne einer Anreicherung der Praxis der Lebensführung und Problemlösung. Der dabei investierte Fortschrittsbegriff reformuliert den hegelschen Fortschrittsgedanken auf pragmatistische Weise: Fortschritt meint die Verflüssigung und Negation von Lern- und Denkblockaden im Zeichen der Pluralität des gemeinsamen Denk- und Handlungsraumes. Der dabei in Anschlag gebrachte Fortschrittsbegriff gründet auf der Idee, dass der Pluralismus der Lebensformen einen intrinsischen Wert des freien Geistes bildet. Pluralität ist der implizite Geltungsanspruch der Vernunft. Es gibt aber nicht den einen Geltungsanspruch der Vernunft. Zwar können wir die Geltung der Vernunft in einem Schema fassen – die reziproken Anerkennungsbeziehungen einer pluralen Praxis. Wir können dieses Schema auch begründen – Kommunikation und Reziprozität bilden die ontologische Substanz der Subjektivität. Aber was reziproke Anerkennungsbeziehungen in einer sozialen Formation jeweils voraussetzen und implizieren, ist aus diesem Schema nicht abzuleiten. Die pluralen Praktiken des Geistes reflektieren ihre Struktur in je spezifischer, an ihr Material gebundener Weise. Wir haben in dieser Arbeit drei paradigmatische Praktiken untersucht: Kunst nutzt eine andere Sprache der Verlebendigung als die Philosophie. In ihrer verlebendigenden Kraft liegt die Relevanz von Kunst und Philosophie. Religion versteht Hegel so, dass sie eine Vorstellung davon gibt, was Verlebendigung ihrer ontologischen Struktur nach ist. Der Geist nimmt an der Fortbestimmung der Substanz im Modus einer Negation an sich selbst

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teil. Die Anerkennungs- und Liebesbeziehungen des subjektiven Geistes konstituieren für Hegel den absoluten, göttlichen Geist. Den Gedanken der Vernunft in der Religion überträgt Hegel auf sein Begriffsverständnis: Begriffliche Negation aktualisiert an sich selbst eine notwendige Voraussetzung wissenschaftlicher Praxis, indem sie Selbstkritik übt. Die Dialektik in der Geschichte lässt sich im spekulativen Begriff der Negativität fassen: Die Negativität des Geistes bezeichnet bei Hegel die Kraft zur Negation und Verflüssigung gegebener Gegensätze, die Lernfähigkeit des Geistes. Die Negativität des Geistes muss konsequenterweise dialektisch, das heißt in ihrer inneren Spannung gedacht werden. Die Auflösung von Lernblockaden geht mit der Entstehung neuer Blockaden und neuer Erfahrungsvergessenheit einher. Das phänomenologisch reflektierte, absolute Wissen weiß um diese seine ureigenste Dialektik.36 Aufgrund der Spannung, die in der Negativität des Geistes zum Tragen kommt, ist Negativität selbst zutiefst ambivalent. Einerseits aktualisiert Negativität das Potential des Geistes, durch Reflexion und Kritik – also Negationen an sich selbst – Veränderungen von Wahrnehmungs- und Denkschemata zu bewirken. Negativität ist somit wesentlich für die Befreiung des Geistes von der zweiten Natur habitueller Erstarrung. Mit dem Potential der Befreiung ist zugleich die Möglichkeit der Verfehlung vermittelt, da der Geist von seinem eingebetteten, relationalen Charakter abstrahieren kann. Auch das ist eine, wenn auch nur implizite, Negation an sich selbst, ein „Betrug“ an der eigenen Sozialontologie. Genauso wie der Geist von der Faktizität des Gegebenen seiner eigenen Unmittelbarkeit abstrahieren und sie so normativ transformieren kann, kann er seine konstitutive Mittelbarkeit und Kommunikativität vergessen. Problem wie Lösung ergeben sich aus demselben Vermögen des Geistes. Reflexivität und Negativität sind somit nicht die Lösung der Erstarrungen der zweiten Natur per se, sondern bleiben aufgrund ihrer dialektischen Ontologie 36

Vgl. in diesem Sinne: Menke, Autonomie und Befreiung, Kap. 6.

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selbst ambivalent und problematisch. Das hat eine unmittelbare sozialphilosophische Implikation: Die Krisen des Geistes sind aufgrund des Vermögens zur Selbstimmunisierung „hausgemacht“. Dieser Gedanke schließt an Jaeggis Analyse des selbst erzeugten Charakters der Krisen des Geistes an. Mit Hegel versteht Jaeggi, die „Lebensformprobleme als reflexiv wahrgenommene Probleme zweiter Ordnung“.37 Es kommt zu Krisen, wenn der Geltungsanspruch und die Realität sozialer Praxis kollidieren und die individuelle Aneignung und Teilhabe an sozialer Praxis unterminiert werden. Diese Krisen und Ausschlussmechaniken müssen kommuniziert und thematisiert werden, damit das soziale Problem virulent wird und Anlass zu seiner Transformation gibt. Das Problem sozialer Praxis ist die Latenz ihrer Krise. „Die Nichtaktualisierung latenter Krisen“, so können wir mit Jaeggi festhalten, „führt zu Ideologiebildung und Lernblockaden – zu spezifischen Formen von Irrationalität.“38 Das selbst Hervorgebrachte der Krise des Geistes impliziert, dass jede substantialistische, konfliktfreie Auffassung der Geltungsansprüche vernünftiger Praxis ad acta zu legen ist. Denn Freiheit spekulativ zu verstehen, bedeutet, den Gedanken zuzulassen, dass Andere dasselbe anders sehen und diese Sicht auch überzeugend begründen können. Wer Differenzen in der Lebenswelt nur als Angriff auf die eigenen Prinzipien der Selbstverwirklichung fassen kann, lebt im geistigen Tierreich. Lernen ist, anders gesagt, ein Projekt, das der Geist nicht suspendieren kann, ohne seine eigene Formtätigkeit zu verlieren. Das Vergessen ist gleichwohl konstitutiver Teil der Negativität des Geistes, folglich ist das kritische Erinnern immer nötig. Soziale Praxis übersieht ihre latente Krisenhaftigkeit, wenn sie Theorie aus sich ausschließt. Wir können den Begriff einer offenen Dynamik sozialen Fortschritts in Hegels notorisch unklarem Begriff des Weltgeistes reformulieren. Hegels Weltgeist kann keine gegebene Substanz meinen – auch wenn er selbst gelegentlich so spricht –, die „hinter unserem 37 38

Jaeggi, Kritik von Lebensformen, S. 386. Ebd., S. 391.

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Rücken“ wirkt. Wäre der Weltgeist Substanz, wäre er allein Voraussetzung historischer Bewegung. Der Weltgeist ist vielmehr Voraussetzung und Resultat der Entwicklung des Geistes. Fortschritt besteht darin, diese Ausgestaltung differenzierter sozialer Praxis samt der sie bedingenden Rechten und Pflichten der Teilhabe als konfliktuös anzuerkennen. Fortschritt im Anschluss an Hegel zu verstehen, meint daher nicht das Erreichen eines fixen Ziels, sondern die Pluralisierung der Medien und Methoden der Praxis der kritischen Erinnerung. Eine solche Kultur der Offenheit macht die Differenzen produktiv, die zur freien Expressivität des Geistes dazugehören. Eine solche Widerspruchs- und Konfliktkultur, die die Vielfalt der Expressivität des Geistes als intrinsischen Wert begreift, aufzubauen und zu entwickeln, das meint meines Erachtens sozialen Fortschritt im Anschluss an Hegel. Eine offene, sich der globalen Folgen ihres lokalen Handelns bewusste, normativ offene Gesellschaft ist Resultat und Voraussetzung des Weltgeistes. In ihr hat er seine Substanz; sie drückt ihn aus. Auf Basis einer Theorie philosophischer Praxis als kritischer Erinnerung an die logischen Voraussetzungen expressiver souveräner Subjektivität konstatiert Hegel der Moderne und deren Ingeltungssetzung der Subjektivität keine Form von Selbstentfremdung.39 Die Moderne ist für Hegel die Epoche, die Praktiken kennt, die die Konflikte von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit austragen und produktiv machen können. Die Pluralität der modernen Subjektivität gibt ihnen Raum für ihre Entwicklung. Dieser Entfaltungsraum ist von Grenzen umgeben und insofern nicht voraussetzungsfrei, aber diese „Grenzen sind elastisch“.40 Hegel begründet die Moderne in ihrem eigenen Prinzip, der Subjektivität. Das ist 39

40

Vgl. zur einer Theorie der Moderne, die die Problematik des modernen Prinzips der Subjektivität darin verortet, dass moderne Subjektivität „ohne Sorge für die Welt“ eine spezifische Form von „Weltentfremdung“ hervorbringt: Arendt, Vita activa, S. 325. Vgl. zu dieser Deutung der Moderne bei Hegel: Heller, Theory of Modernity, S. 23.

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das Prinzip der expressiven Aneignung ihrer Voraussetzungen als Begründung ihrer Implikationen. Hegels Begriff der Moderne führt uns zum Stellenwert der Logik zurück. Spekulative Logik meint eine Theorie des Begriffs im Sinne eines zentralen Mittels gegen Vergessen und erfahrungsabtötende Totalisierung der eigenen Partikularität. Philosophische Logik meint im Rahmen der hegelschen Lehre des Absoluten neben Kunst und Religion eine Praxis, mittels derer der subjektive Geist die eigene Partikularität transzendieren kann. Eine wesentliche Dimension der Selbsttranszendenz durch den Begriff besteht in der Vielfalt der Perspektiven, die an der epistemischen Selbsttranszendenz teilnehmen. Denken heißt spekulativ: mehr und anders denken, als man denken kann. Der wahre Gedanke ist keine bloße Setzung des Subjekts.41 Der wahre Gedanke verändert sich und seine Voraussetzung, seine Praxis und sein Objekt. Deshalb sind Inklusivität und Methodenpluralismus notwendige Bedingungen wahren Denkens und vitaler Philosophie, der lebendigen Arbeit am Begriff ihrer Zeit.

9.3 Einheit von Theorie und Praxis Wir haben das Verhältnis von Theorie und Praxis bisher durch Hegels Aneignung von Platons Lehre beleuchtet, dass das absolute Wissen wesentlich im Prozess kritischer Wiedererinnerung bestehe. Das Verhältnis von Theorie und Praxis können wir noch in einer zweiten Hinsicht auf Platon konturieren, um den pluralistischen Grundgedanken spekulativer Dialektik zu entfalten. Dieser Komplex betrifft mit dem Streit von Dialektik und Sophistik den platonischen Gegensatz von Philosophie und Kunst. Kunst ist orthodox platonisch aus den Bereichen epistemischer Praxis und politischer Selbstbestimmung zu verbannen, weil sie nur einen vom Kult gelösten Mythos verkünde und das Wahrheitsgeschehen verfälsche. Nur der Logos eröffne das Reich des Begriffs, verstan41

Menke, Autonomie und Befreiung, S. 195.

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den als reine Prosa und argumentative Rede ohne jede Rhetorik und ohne jede poetische Verfremdung.42 Ein solcher Platonismus, ja Anti-Ästhetizismus findet sich auch implizit in Hegels Konzeption der absoluten Idee. Diese artikuliert in platonischer Manier die Identität des Guten und Wahren. Das Gute entstammt dem praktischen „Trieb sich zu realisiren“. Mit Blick auf das Gute ist der Begriff das Substantielle und die Objektivität plastisch (GW 12, S. 231). Das Wahre entstammt dem theoretischen Trieb. Mit Blick auf das Wahre ist der Begriff plastisch und die Objektivität substantiell. Wo bleibt aber in der Dialektik des Guten und Wahren die Idee des Schönen? In der absoluten Idee der Logik findet das Schöne keine Erwähnung. Warum kommt die Idee des Schönen nicht als genu-in logische Kategorie der absoluten Idee zum Tragen? Die materiale Lehre des absoluten Geistes kennt mit der Kunst nach der hier ent-wickelten Interpretation eine lebendige Praxis der Selbstthemati-sierung und kritischen Erinnerung im Medium der sinnlichen An-schauung. Kunst bringt nach Hegels Poetik Weltphänomene auf ih-ren Bildbegriff. Es gibt also, wie wir es oben genannt haben, poe-tische Allgemeinheit. Wir müssen daher eine konzeptionelle Lücke zwischen der mit den Eigenarten von Kunst, Religion und Philo-sophie befassten medienspezifischen, materiellen Lehre des absolu-ten Geistes und ihrer theoretischkonzeptionellen Modellierung im Rahmen der absoluten Idee feststellen. Das theoretische Selbstbild, wie es in der absoluten Idee seinen Ausdruck findet, hinkt, anders gesagt, ihrer eigenen spekulativen Praxis hinterher.43 42 43

Plato, Politeia, 607 BC. Wir könnten hypothetisch überlegen, inwieweit Hegel in seiner Überarbeitung der Logik, die er nur für die objektive Logik zu leisten imstande war, die absolute Idee aus der Pluralität des Guten, Schönen, Wahren hätte bestehen lassen. Es ist dabei im werkgeschichtlichen Sinne relevant, dass die Logik 1816 in der ersten Auflage der Begriffslogik abgeschlossen ist, während Hegel seine eigenständige Vorlesungen zu Kunst und Religion erst im Anschluss daran entwickelt.

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Was hieße es aber, die Idee des Schönen auf der Ebene der absoluten Idee zu artikulieren? Die Idee des Schönen scheint im hegelschen Rahmen am besten als die Figur der Vermittlung von Theorie und Praxis platziert zu sein. Um dieses abstrakte Schema zu aktualisieren, hilft es meines Erachtens, in einer im Kern kantischen, durch Arendt aktualisierten Idee einen Ausgang zu nehmen. Arendt aktualisiert zentrale Elemente der theoretischen Philosophie Kants, indem sie sie auf der politisch-praktischen Ebene reformuliert. Sie liest Kants KU mit Blick auf die sozialen Voraussetzungen und politischen Implikationen der logischen Vermögen des Geistes. Sie zeigt dabei, dass sich Kants politische Philosophie so verstehen lässt, „daß unser logisches Vermögen, das Vermögen, das uns befähigt, Schlüsse aus Voraussetzungen zu ziehen, in der Tat ohne Kommunikation funktionieren könnte – nur daß dann […] dieses logisches Vermögen zu verrückten Ergebnissen führen würde, und zwar genau deshalb, weil es sich von der Erfahrung abgetrennt hat, die nur in Anwesenheit anderer gültig und für gültig erklärt werden kann.“44

Arendt zieht an der hier zitierten Stelle ein Fazit ihrer politischen Interpretation von Kants Begriff der Urteilskraft. Ihre Interpretation unterstreicht insgesamt, dass die Interdependenz menschlicher Praxis nicht allein auf die Befriedung sinnlicher Bedürfnisse, Begierden und Belange beschränkt sein kann, sondern auch die geistigen Tätigkeiten der Reflexion im Erfahrungsraum sozialer Praxis ihre Voraussetzungen haben müssen. In diesem Sinne lebt die Spontaneität der Vernunft von Voraussetzungen, die sie als individuelle Vernunft nicht reproduzieren kann. Das „Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“ machen für Arendt die Grundbedingungen menschlicher Existenz und geistiger Reflexion aus. Diese Bedingungen ermöglichen es, auf menschliche Weise Mensch zu sein, auch wenn Existenz und Lebensweise des einzelnen subjektiven Geistes sich aus ihnen nicht deduktiv ableiten lässt, „weil keine von ihnen absolut bedingt.“45 44 45

Arendt, Urteilen, S. 100. Arendt, Vita activa, S. 21.

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Aus den mannigfaltigen Überlegungen, die Arendt ihrem spekulativ gelesenen Kant abgewinnt – das „transzendentale Prinzip der Publizität“, eine Geschichts- und Revolutionstheorie, die Frage nach Einheit und Vielfalt des Common Sense – nutzen wir im Folgenden vor allem einen Aspekt, um die Idee des Schönen in der absoluten Idee zu platzieren. Kant entwickelt in der Analytik des Schönen der KU die Vorstellung des „interesselosen Wohlgefallens“46 als notwendige Bedingung eines ästhetischen Urteils. Es gilt im ästhetischen Urteil, kein privates Wohlgefallen an einem bestimmten Gegenstand zu artikulieren, vielmehr steht es an, das letztlich idiosynkratische Gefallen und Missfallen zu verallgemeinern. Eine zentrale Operation im Zuge dieser Verallgemeinerung leistet dabei die Einbildungskraft: Der Gegenstand des ästhetischen Urteils ist nicht der sinnlich wahrgenommene Gegenstand, sondern dessen Repräsentation. Es geht um den von der Einbildungskraft repräsentierten, also „schematisierten“ Gegenstand. Kant fasst diese Verallgemeinerung folglich als „Operation der Reflexion“.47 Die Reflexion des Schönen ist eine Praxis ohne Interesse an der Verwertung ihrer Resultate. Ästhetische Reflexion ist insofern interesselos, als sie intrinsisch motiviert ist. Sie zielt also, um mit Hegel zu sprechen, auf die „Sache selbst“, nicht auf das Ding der sinnlichen Gewissheit. Das ästhetische Urteil bezieht sich auf ein Einzelnes als einem je besonderen Fall des Schönen. Das ästhetische Urteil „Diese Rose ist schön.“ ergibt sich dabei nicht aus einer logischen Operation, bei der vom Begriff der Rose beziehungsweise des Schönen auf die Wahrheit des Urteils übergegangen würde. Vielmehr wirken im ästhetischen Urteil die reflexive, eine Regel suchende Urteilskraft und die bestimmende, eine Regel anwendende Urteilskraft in der Fortbestimmung des Schemas des Schönen zusammen. Arendt nennt diese Fortbestimmung des Schemas mit Kant „exemplarisch“. Ästheti46 47

Kant, KU, § 2. Ebd., § 40.

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Philosophie

sche Urteile artikulieren „exemplarische Gültigkeit“.48 Sie sind anders als bloße Idiosynkrasien kommunizierbar – Kant spricht vom „allgemeinen Ansinnen“49 –, wenn sie zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen erstens ihr Schema so exemplifizieren, dass dessen Form für viele solche, aber auch je besondere Dinge kennzeichnend ist. Zweitens muss sich das Schema im Gedächtnis anderer und verschiedener Menschen befinden, damit wir, „die wir viele sind, übereinstimmen, zusammenkommen [können] im Hinblick auf etwas, das ein und dasselbe für uns alle ist.“50 Es ist durch Abstraktion und Reflexion, dass wir im Zuge ästhetischer Urteilsbildung von der je eigenen Partikularität absehen und nicht die Idiosynkrasien der eigenen Partikularität zum Maßstab nehmen. Dazu muss auf geteilte Schematismen exemplarisch Bezug genommen werden. Ästhetische Urteilspraxis ist so für Arendts Kant eine Gestalt weltlichkommunikativer Vernunft. Das Resultat der ästhetischen Urteilskraft mit ihrem Fokus auf den exemplarischen Fällen eines allgemeinen Schemas artikuliert Kant, indem er die Idee des interesselosen Wohlgefallens entwickelt. Arendt übersetzt diesen Gedanken mit der „Unparteilichkeit des ästhetischen Standpunkts“. Die Voraussetzung von interesseloser Unparteilichkeit des ästhetischen Urteils verhält sich für Arendt analog der Voraussetzung der Beurteilung gesellschaftlicher und politisch-historischer Prozesse. Das Kunstschöne entstammt der schaffenden Arbeit des „Genies“ (Kant). Künstler*innen handeln, indem sie Werke herstellen und so ihr privates und idiosynkratisches Erleben durch Arbeit an den Schematismen des Geistes kommunikabel machen. Das ästhetische Urteil verhält sich dazu kontemplativ, also zuschauend und rein theoretisch: Die Kunstproduktion handelt, die Rezeption urteilt und kritisiert. Analog dazu nun sind politische Prozesse Ausdruck sozialer Praxis. Ihre Beurteilung erfolgt so vom kontemplativen, theoretischen 48 49 50

Kant, KU, B 67. Ebd., §8, 213–214. Arendt, Vita activa, S. 127.

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Standpunkt der Unparteilichkeit aus. Arendt argumentiert auf Basis der Analogie von Werken der Kunst, „daß die in politischen Angelegenheiten gängige Unterscheidung oder der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis bei Kant in der Unterscheidung zwischen Zuschauer und Akteur auftritt, und zu unserer Überraschung sahen wir, daß der Zuschauer Vorrang hat: Was an der Französischen Revolution zählte, was sie zu einem weltgeschichtlichen Ereignis, zu einem unvergeßlichen Phänomen machte, waren nicht die Taten oder Untaten der Akteure, sondern die Meinungen, der enthusiastische Beifall der Zuschauer – von Personen also, die selbst nicht beteiligt waren.“51

Das „Geschichtszeichen“ (Kant) der Revolution bekommt seine historische Bedeutung nicht durch die Intentionen der politischen Praxis, sondern erst durch ihre Beurteilung als exemplarisch. Sie erhält sozusagen durch ihre Theoretisierung erst ihren subjektiv allgemeinen Charakter. Das meint der „Vorrang“ der Theorie vor der Praxis, von dem Arendt spricht. Das stellt uns abschließend vor folgende Frage: Wie verhält sich dieser mit Arendt aktualisierte kantische Gedanke der Relevanz ästhetischer Urteilskraft für politische Urteilskraft zum hegelschen Pluralismus? Mit Hegel können wir den von Arendt bezogenen Standpunkt des Urteils befragen: Die Analogie von Theorie und Praxis zu Zuschauer und Akteur ist in einer entscheidenen, von Arendt nicht hinreichend reflektierten Hinsicht, disanalog. Sie übersieht, dass auch das scheinbar nicht beteiligte Zuschauen selbst ein Handeln ist. Theorie ist kein Ausstieg aus gesellschaftlicher Praxis und Resultat dessen, was Arendt mit der antiken Tradition die „vita contemplativa“ im Gegensatz zur „vita activa“ bezeichnet. Theorie meint vielmehr in spekulativer Sicht eine Teilnahme an der Praxis, die sich im Modus der Reflexion ihrer begrifflichen Grundlagen und latenten Widersprüche vollzieht. Begriffliche Reflexion erweitert dabei die Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, indem sie dasselbe noch einmal anders perspektiviert und so neue Aspekte dessen aufdeckt, was bekannt und gegeben zu sein scheint. Theorie macht den 51

Arendt, Urteilen, S. 102.

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Widerspruch produktiv, indem sie die latente Krise der Voraussetzungen und der Implikationen einer Praxis artikuliert. Es gibt dabei für den theoretischen Standpunkt kein letztgültig Gegebenes, da das Gegebene eine Voraussetzung des Denkens ist, die durch die Aneignung des Denkens transformiert und selbst Resultat wird. Wahre, radikale Philosophie akzeptiert die Bedingungen nicht, unter denen dem Menschen das Leben gegeben ist.52 Das bedeutet aber nicht, den Tod und das Getrenntsein von Leib und Geist willkommen zu heißen. Einen solchen Pessimismus teilt Hegel nicht. Der „endliche, das ist, der subjective Geist, [macht] sich die Voraussetzung einer objectiven Welt, wie das Leben eine solche Voraussetzung hat; aber seine Thätigkeit ist, diese Voraussetzung aufzuheben und sie zu einem Gesetzten zu machen. So ist seine Realität für ihn die objective Welt, oder umgekehrt, die objective Welt ist die Idealität, in der er sich selbst erkennt“ (GW 12, S. 178).

Der Begriff wird im Zuge dieser Arbeit „die Seele des Lebens selbst“ (ebd., S. 180). Sich begrifflich zum Leben zu verhalten, heißt sich lebendig zum Leben zu verhalten, ohne dass der Geist in „blossem Leben“ aufginge (ebd., S. 180). In diesem Sinne macht der Geist seine Voraussetzungen zu einem Gesetzten. Die absolute Idee ist so „einerseits die Rückkehr zum Leben“ (ebd., S. 236), hat aber dessen Unmittelbarkeit begrifflich aufgehoben: Leben konstituiert als solches kein Sollen. Die Trennung von Sein und Sollen ist der Inhalt des apodiktischen Urteils über alle Wirklichkeit. Das Faktische ist kein Kriterium des Rationalen oder Wesentlichen. Die Trennung von Sein und Sollen ist nach Hegel für den Standpunkt der Wissenschaft des Geistes konstitutiv. Theorie fragt, was aus der Faktizität in normativer Hinsicht mit Blick auf die Freiheit des Geistes zu schlussfolgern ist. 52

Vgl. zu den antiken Wurzeln radikaler Philosophie: Arendt, Urteilen, S. 37–45.

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Die theoretische Idee der Schönheit verfolgt nach Hegel also nicht, wer die aussteigende Kontemplation der objektiven Welt betreibt. Die Zeit auf den Begriff zu bringen, heißt an der Fortbestimmung der Zeit teilzunehmen. Die Schematismen des Denkens werden dadurch in Bewegung und Verflüssigung gebracht, dass der Geist sich seiner eigenen Vielfalt und der Vielfalt der Natur erinnert. In diesem progressiven Rückbezug wird die objektive Welt zur „Idealität, in der er sich selbst erkennt.“ In der Verflüssigung des Bestehenden liegt die Schönheit und Souveränität des Begriffs. Schön ist Denken, wenn es sich verändert und anscheinend Festes differenziert, anscheinend Zusammenhangsloses in Resonanz bringt. Schön ist Denken, wenn es ein Bewusstsein schafft von dem, was fehlt, ohne dem Bestehenden seine Berechtigung zu nehmen. Schön ist Denken, wenn es differenziert, was als Einheit und substantieller Block erscheint, und so Wege der Transformation eröffnet. Wir sind damit ans Ende unseres Weges durch die Metaphysik pluraler und offener Gesellschaft gelangt, wie wir sie Hegels Lehre des absoluten Geistes entnehmen können: Schön ist Denken, wenn es einen Erfahrungsraum eröffnet. Dazu muss das Denken einen Standpunkt beziehen. Theorie als Teilnahme an der Fortbestimmung der Substanz zu verstehen, impliziert, dass die Subjektivität nicht dadurch die Substanz fortbestimmt, dass sie eine neue Bestimmung einfach setzt und positiviert. Subjektivität nimmt an der Substanz teil, indem sie an sich selbst eine Negation vollzieht. Sie unternimmt Selbstkritik und öffnet so den Raum für die Vervielfältigung der Begriffe durch Aktualisierung des Wissens der Alten, durch neue Verknüpfungen jenseits schematisch gewordener Denkmuster und die Reflexion auf ihre intellektuellen Voraussetzungen. Damit ist Theorie notwendig kontrovers, denn die Differenzierungen des Denkens machen es nötig, dass das Denken sich die Hände schmutzig macht. Es ist Komplize des Bestehenden, weil es im Versuch, sich zu verändern, auf intellektuelle Kontinuität mit der Herkunft aus seiner historischen Substanz angewiesen ist. Es ist notorischer Gegner des Bestehenden, weil es der bestehenden Substanz als solche keine normative Kraft zuspricht.

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Kehren wir von hier aus zum Anfang zurück. Der Standpunkt der Kritik wirft nämlich die letzte und erste Frage einer intensiven Beschäftigung mit Hegel auf: Warum jetzt Hegel lesen? Warum jetzt einen hegelianischen Standpunkt beziehen? Eine Antwort auf diese Frage zu Ende und Anfang spekulativer Philosophie unternimmt Judith Butler: „Das Gefühl der zeitlichen Desorientierung, mit dem wir leben, ist sehr wirklich, und man kann wohl versucht sein, diese Angst, die uns permanent begleitet, durch eine bestimmte Überzeugung zu formen: Die Erde ist verloren, die Demokratie ist am Ende, die Zukunft ist verbaut.“53 Hegels Philosophie wirft unter den historischen Bedingungen einer zunehmend ihre Latenz verlierenden, ökologischen Krise eine drängende Frage auf, nämlich: „Welche Zeit haben wir?– What time is it?“ Hegels Dialektik ermöglicht es uns, so Butler, „die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu akzeptieren, ohne auf faschistische Vorstellungen gesellschaftlicher Einheit oder auf die klassisch liberalen Ideen eines radikalen Individualismus zu verfallen.“ In jedem Fall ist die Zeit des Festhaltens an falschen, schematischen Vorstellungen von Identität, sozialer Rolle und Einheit vorbei. Für Ausschluss von Differenz ist keine Zeit mehr. Warum also jetzt Hegel lesen? Weil die Zeit drängt. „Jenseits der Identität aber liegt die Chance der gegenseitigen Verwandlung – einer Verwandlung, die Feindseligkeit, die Aufgabe der Übersetzung und die Möglichkeit einer transformierenden und belebenden wechselseitigen Anerkennung akzeptiert. Die geschlossene Grenze definiert die Menschen innerhalb der Grenze durch die, die zurückgewiesen wurden. Nur durch den Kontakt mit dem, was unerwartet, furchteinflößend und verheißungsvoll ist, erkennen wir – hoffentlich nicht zu spät – die Bindungen, die uns, ohne dass wir es wüssten, fordern und wahrhaft lebendig sein lassen.“

53

Alle folgenden Zitate aus: Butler, „Warum jetzt Hegel lesen?“

Teil IV

Anhang

Bibliographie Die Primärliteratur wird in erster Linie nach der Edition der Gesammelten Werke (GW) zitiert. Nur wenn es rezeptionsgeschichtlich geboten ist, wird die Theorie Werkausgabe (TWA) heran gezogen. Die Bandnummern ergeben jeweils die Siglen. Für Hegels Hauptwerke wird auf die üblichen Siglen zurückgegriffen: Phänomenologie des Geistes (PhG), Wissenschaft der Logik (WdL) und Rechtsphilosophie (RPh). Daneben werden Kants Kritik der reinen Vernunft (KrV) und die Kritik der Urteilskraft (KU) abkürzend zitiert.

Primärliteratur nach Gesammelte Werke Die historisch-kritische Edition der GW wird von der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben. Sie erscheint im Meiner Verlag Hamburg und umfasst 31 Bände mit bis zu 6 Teilbänden. Zitiert werden mit vorangestelltem GW folgende Bände bzw. Teilbände: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Bd. 20. 1992. – Grundlinien der Philosophie des Rechts. Bd. 14.1. 2009. – Phänomenologie des Geistes. Bd. 9. 1968. – Systemprogramm. Bd. 2. 2014. – Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Nachschriften zu den Kollegien der 1819 und 1820/21. Bd. 30.1. 2016. – Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschriften zum Kolleg des Jahres 1823. Bd. 28.1. 2015. – Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschriften zum Kolleg des Jahres 1826. Bd. 28.2. 2018.

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nachschriften zu den Kollegien der Sommersemester 1821 und 1824. Bd. 29.1. 2017. – Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Nachschriften zu dem Kolleg des Wintersemester 1822/23. Bd. 27.1. 2015. – Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831). Bd. 18. 1995. – Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff. Bd. 12. 1981. – Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein. Bd. 21. 1984. – Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Bd. 11. 1978.

Primärliteratur nach Studienausgabe Da der Teilband 29.2 der GW mit den Nachschriften zu den Kollegien der Wintersemester 1823 und 1827 bei Drucklegung noch nicht vorliegt, wird auf die von Walter Jaeschke besorgte Studienausgabe der Kollegien zur Religionsphilosophie zurückgegriffen: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von Walter Jaeschke. Bd. 1: Der Begriff der Religion. Siglum: VR 1. Hamburg, 1993. – Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. von Walter Jaeschke. Bd. 3: Die vollendete Religion. Siglum: VR 3. Hamburg, 1995.

Primärliteratur nach Theorie Werkausgabe Auf der Grundlage der Ausgabe durch den Verein der Freunde des Verewigten, Berlin 1832-1845, haben Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel die Theorie Werkausgabe herausgegeben. Sie erscheint im Suhrkamp Verlag Berlin, ehemals Frankfurt a.M., und umfasst 20 Bände. Zitiert werden mit vorangestelltem TWA folgende Bände: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Hamanns Schriften. Bd. 11. 1986. – Vorlesungen über Ästhetik I. Bd. 13. 1986. – Vorlesungen über Ästhetik II. Bd. 14. 1986.

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