Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. 3518284495, 9783518284490

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Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze.
 3518284495, 9783518284490

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AxelHoimeth LWUICUI -

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Sozialen phische Aufsätze

Erweiterte Neuausgäbe suhrkamp taschenbuch Wissenschaft

Die in diesem Band enthaltenen theorie­ geschichtlichen - zumeist in Form von Autorenportraits angelegten - Studien versuchen, einen Überblick über die sozialphilosophischen Schwierigkeiten zu gewinnen, mit denen heute der Entwurf einer kritischen Gesellschafts­ theorie systematisch konfrontiert ist.

ISBN 3-518-28449-5

DM 22.80

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suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 849 I

Bei den in diesem Band enthaltenen Aufsätzen handelt es sich um kritische Auseinandersetzungen mit bedeutsamen Ansätzen innerhalb der neueren Sozialphilosophie. Den Ausgangspunkt der theoriegeschichtlichen Stu­ dien bildet eine theoretische Rückbesinnung auf jene Tradition des roman­ tischen Antikapitalismus, von der in unserem Jahrhundert das Projekt einer Kritischen Theorie der Gesellschaft seinen Ausgang nahm. In seinem Frühwerk hatte Georg Lukäcs unter dem romantischen Obertitel der »Zerrissenheit« genau die sozialen Entfremdungs- und Konfliktphäno­ mene diagnostiziert, auf die seither die unterschiedlichsten Ansätze einer kritischen Gesellschaftstheorie stets in irgendeiner Weise bezogen geblie­ ben sind. Jeweils eine dieser Zerrissenheitserfahrungen steht daher auch im Mittelpunkt der theoretischen Ansätze, die in diesen Studien untersucht werden. Von Lukacs’ frühen, noch vormarxistischen Schriften führt der Weg der Auseinandersetzung über die Kritische Theorie und die Anthro­ pologie von Claude Levi-Strauss bis in die zeitgenössische Situation der französischen Gesellschaftstheorie hinein (Merleau-Ponty, Sartre, Castoriadis, Bourdieu). Gegenüber der ersten Ausgabe, die inzwischen vergrif­ fen ist, sind in diese Neuausgabe zusätzlich Studien zu Walter Benjamin, Elias Canetti, Charles Taylor und Avishai Margalit aufgenommen worden. Axel Honneth ist Professor für Philosophie an der Johann-WolfgangGoethe-Universität Frankfurt. Im Suhrkamp Verlag hat er u. a. veröffent­ licht: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschafts­ theorie (stw 738); Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (stw 1129).

Axel Honneth Die zerrissene Welt des Sozialen Sozialphilosophische Aufsätze

Erweiterte Neuausgabe

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Suhrkamp

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Honneth, Axel: Die zerrissene Welt des Sozialen : sozialphilosophische Aufsätze / Axel Honncth. 2. Aufl, erw. Ncuausg. - Frankfun am Main : Suhrkamp, 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 849) ISBN 3-518-28449-5 suhrkamp taschcnbuch Wissenschaft 849 Erste Auflage 1990 ©Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990, 1999 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Printed in Gcrmany Umschlag nach Entwürfen von Willy Flcckhaus und Rolf Staudt

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2 3 4 5 6 7 ” °4 °3 02 OI 00 99

Inhalt Vorbemerkung

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Eine Welt der Zerrissenheit. Zur untergründigen Aktualität von Lukäcs’ Frühwerk

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Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition

25

Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne

73 l/

Kommunikative Erschließung der Vergangenheit. Zum Zusammenhang von Anthropologie und Geschichts­ philosophie bei Walter Benjamin

93

Ein strukturalistischer Rousseau. Zur Anthropologie von Claude Levi-Strauss

114

Leibgebundene Vernunft. Zur Wiederentdeckung Merleau-Pontys

134

Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesell­ schaftstheorie von Cornelius Castoriadis

144

Kampf um Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Inter­ subjektivität

165

Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus

i77

Die unendliche Perpetuierung des Naturzustandes. Zum theoretischen Erkenntnisgehalt von Canettis Masse und 203 Macht............. Horizont konfligierendcr Werte. Zur v'/j/Z N-*-2'// Das Subjekt im \/ philosophischen Anthropologie von Charles Taylor

Eine Gesellschaft ohne Demütigung? Zu Avishai Margalits Entwurf einer »Politik der Würde« Nachweise Register

248 278 2S0

Vorbemerkung Die in diesem Band versammelten Aufsätze stellen kritische Aus­ einandersetzungen mit bedeutsamen Ansätzen innerhalb der neue­ ren Gesellschaftstheorie dar. Ihr gemeinsames Ziel ist zunächst von nur vorbereitendem Charakter: es handelt sich um theorie­ geschichtliche, zumeist in Form von Autorcnportraits angelegte Studien, in denen ich einen Überblick über die sozialphilosophi­ schen Schwierigkeiten zu gewinnen versucht habe, mit denen heute der Entwurf einer kritischen Gescllschaftsthcorie systema­ tisch konfrontiert ist. Dabei soll sich ein neuer und erhellender Gesichtspunkt daraus ergeben, daß vor allem Traditionselemente der französischen Sozialphilosophic in den Gang der Auseinander­ setzung miteinbezogen werden; mehr als ein nur sehr indirekter, eher problcmsichtendcr als antwortsuchender Beitrag zur Lage der kritischen Gesellschaftstheorie ist aber mit den hier vereinigten Studien nicht beabsichtigt. Den Ausgangspunkt der verschiedenen Aufsätze bildet eine theo­ retische Rückbesinnung auf jene Tradition des romantischen Anti­ kapitalismus, von der in unserem Jahrhundert das Projekt einer Kritischen Theorie der Gesellschaft in gewisser Weise seinen Aus­ gang nahm: in seinem Frühwerk hatte Georg Lukäcs unter dem romantischen Obertitel der »Zerrissenheit« die sozialen Entfremdungs- und Konfliktphänomenc diagnostiziert, auf die seither die unterschiedlichsten Ansätze einer kritischen Gescllschaftstheorie stets in irgendeiner Form bezogen geblieben sind. Es ist daher jeweils auch eine dieser Erfahrungen sozialer Zerrissenheit, die im Mittelpunkt der theoretischen Ansätze stehen, welche in den fol­ genden Studien untersucht werden: von Lukacs’ frühen, noch vormarxistischen Schriften führt ein Weg der Auseinandersetzung über die Kritische Theorie der »Frankfurter Schule« und die struk­ turale Anthropologie von Claude Levi-Strauss bis in die zeitge­ nössische Situation der französischen Gesellschaftstheorie hinein. Gegenüber der ersten Ausgabe dieses Bandes, die inzwischen vergriffen ist, sind in diese Neuausgabe zusätzlich Studien zu Walter Benjamin, Elias Canetti, Avishai Margalit und Charles 'Taylor aufgenommen worden, in denen ich die zuvor umrissene iDenkbcwegung fortgesetzt habe. Demgegenüber habe ich den 7

einzigen Aufsatz der ursprünglichen Ausgabe, der nicht den Cha­ rakter eines theoriegeschichtlichen Porträts besitzt (»Moralbe­ wußtsein und soziale Klassenherrschaft«), nicht mehr in diesen Band aufgenommen; er soll in einem eher systematischen Aufsatz­ band mit Studien zur Moral- und Sozialphilosophie wiederer­ scheinen, den ich in nicht allzu langer Zeit veröffentlichen möchte. Frankfurt am Main, Oktober 1997

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Axel Honneth

Eine Welt der Zerrissenheit Zur untergründigen Aktualität von Lukäcs’ Frühwerk

Das philosophische Frühwerk von Georg Lukäcs ist nur in einem indirekten Sinn aktuell: nicht die theoretischen Argumente und Antworten, die es bercithält, sondern allein die sachlichen Pro­ bleme, auf die es aufmerksam macht, sind von Interesse für die heutige Diskussion. Lukäcs hat sich in jenen frühen Schriften, die er bis zu seiner Wendung zum Marxismus verfaßt hat, gegenüber den philosophischen Strömungen seiner Zeit gleichsam experi­ mentell verhalten; er hat sich die unterschiedlichen Ansätze, die in der geistigen Auseinandersetzung der Jahrhundertwende von Bedeutung waren, jeweils ein Stück weit zu eigen gemacht, um ermessen zu können, was sie zur Lösung des ihn existentiell ei­ gentlich beschäftigenden Problems beizutragen vermochten. Sind die philosophischen Dcnkmittcl, die er auf diesem Weg zur An­ wendung brachte, heute auch veraltet, so ist die Fragestellung, die er mit ihrer Hilfe zu lösen versuchte, doch von untergründiger Aktualität. Es ist die Frage nach den kulturellen Bedingungen einer unverzerrten und gelingenden Vergesellschaftung, die Lu­ käcs seit seiner Jugend bewegt; er nimmt die gesellschaftliche Situation seiner Zeit als einen Zustand der sozialen Entfremdung wahr und führt deren Entstehung auf eine Krise der Kultur zu­ rück.1 Was seine frühen Schriften bis heute auszeichnet, ist die i Es ist die These von György Markus, daß die »Krise der Kultur» das Schlüsselthema des Lukäcsschen Werkes insgesamt darstellt; für die Frühschriften hat er das in zwei Aufsätzen glänzend zu belegen ver­ mocht: vgl. G. Markus, Die Seele und das Leben. Der junge Lukäcs und das Problem der * Kultur*, in: Agnes Heller u.a., Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukäcs, Frankfurt/Main 1977, S. 99 ff.; G. Markus, Lukäcs’ -erste* Ästhetik: Zur Entwicklungsgeschichte der Philosophie des jungen Lukäcs, ebenda, S. 192 ff. Informative Über­ blicke über den theoretischen Entwicklungsgang des jungen Lukäcs bieten ferner: Michael Löwy, Georg Lukäcs - From Romantiasm to Bolchevism, London 1979, Kap. n; Andrew Arato, Paul Breincs, The Young Lukäcs and the Origins of Western Marxism, New York 1979, Erster Teil; eine knappe, aber präzise Zusammenfassung hat zuletzt

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Radikalität und Tiefenschärfe, mit denen er die Ursachen dieser kulturellen Krise zu bestimmen versucht; die normativen Intui­ tionen, die ihm dazu verhelfen, stammen aus den theoretischen Quellen jenes romantischen Antikapitalismus, dem er sich in sei­ nen frühen Jahren noch unbekümmert überläßt. Ich will im fol­ genden zeigen, daß es gerade dieser romantische Antikapitalismus ist, der dem Frühwerk von Lukäcs heute eine implizite Aktualität zu verleihen vermag; denn mit seiner Hilfe läßt sich die theoreti­ sche Aufmerksamkeit für Störungen der kulturellen Integration erhöhen und der Blick für soziale Pathologien schärfen. Ich will so verfahren, daß ich zunächst kurz die Grunderfahrungen und die Lcitidccn des romantischen Antikapitalismus umreißc (1), um dann die besondere Interpretation erläutern zu können, die diese intellektuelle Denktradition in den frühen Schriften von Lukäcs angenommen hat (n). Anschließend soll schließlich die problem­ erhellende Funktion dargestcllt werden, die sein Ansatz heute im Bereich der Gesellschaftstheoricn zu übernehmen vermag (ni).

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Lukäcs selbst hat die Schriften seiner Jugend insgesamt, vor allem aber die Theorie des Romans, im selbstkritischen Rückblick als das Produkt eines »romantischen Antikapitalismus» bezeichnet2; . mit diesem Begriff hat er die geistige Orientierung zu charakteri­ sieren versucht, die sein Frühwerk mit den Schriften anderer Zeit­ genossen teilt. Nicht eine einheitliche Denktradition, sondern eher eine intellektuelle Stimmung und Erfahrungslage sind damit gemeint; als solcher zehrt der romantische Antikapitalismus zwar von Theorien und Motiven der Romantik, macht sic sich aber auf eine situationsspezifische Weise zu eigen. Mit der Romantik teilt der romantische Antikapitalismus die Grunderfahrung der be­ sonderen Zerrissenheit moderner, industrialisierter Lebensfor­ men; mit ihr teilt er auch die normative Orientierung an Lebens­ weisen und Handlungsformcn, die noch in organischer Einheit belassen haben, was die Prozesse der gesellschaftlichen Differen­ zierung entzweit haben. Insofern ist das topographische BewußtMartin Jay vorgelegt: ders., Marxism andTotality, Oxford 1984, Kap. 2. 2 Georg Lukäcs, Vorwon (1962) zu: Theorie des Romans, Darmstadt und Neuwied 1971, S. 13. 10

sein des romantischen Antikapitalismus durch die Begriffe der »Zerrissenheit« einerseits, der »organischen Einheit« andererseits geprägt? Unter den verschiedenen Denkbewegungen, die die Ro­ mantik hervorgebracht hat, ist der romantische Antikapitalismus nun diejenige, die die Ursache für die erfahrene Zerrissenheit in den Prozessen der kapitalistischen Modernisierung ausmacht und sich zugleich die Bedingungen einer Überwindung dieser Zerris­ senheit als eine praktische Aufgabe der Zukunft vorstcllt. Das Spektrum dieses romantischen Antikapitalismus reicht, wie die Forschungen Michael Löwys einleuchtend zeigen4, von einer ja­ kobinisch-demokratischen Romantik über populistische und an­ archistische Unterströmungen bis hin zu einer marxistischen Ro­ mantik. Für alle diese Positionen lassen sich, wie ich glaube, drei Dimensionen unterscheiden, in denen jeweils die spezifisch kapi­ talistische Organisation des sozialen Lebens als zerrissen erlebt und auf die hin das Ideal einer zurückzugewinnenden Einheit sozialer Lebensvollzüge entworfen wurde. Diese drei Ebenen ei­ ner Erfahrung sozialer Zerrissenheit lassen sich in den Dimensio­ nen des (a) individuellen Selbstbezuges, (b) des Sozialbczugcs, des gesellschaftlichen Zusammenlebens also, und schließlich (c) des Naturbezuges, der Beziehung des Menschen zur ihn umgebenden Natur, unterscheiden: (a) Im Hinblick auf den Selbstbczug des Menschen wird die ka­ pitalistische Organisationsform der Gesellschaft als ein Zustand 3 VgL dazu auch die erst jetzt aus dem Nachlaß publizierte Schrift von Ernst Fischer, Ursprung und Wesen der Romantik, Frankfurt/Main 19S6, S. 245 ff.; ebenso aus der Vielzahl neuerer Untersuchungen über die Romantik: Johannes Weiß, Wiederverzauberung der Welt? Bemer­ kungen zur Wiederkehr der Romantik in der gegenwärtigen Kulturkri­ tik, in: Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27/1986, S. 286 ff., bes. S. 290. 4 Michael Löwy hat äußerst verdienstvolle Untersuchungen zur Differen­ zierung der Romantik und besonders zur Denktradition des »revolutio­ nären Romantizismus« oder »romantischen Antikapitalismus« vorge­ legt; diesen unterscheidet er von einem »rückwärtsgerichteten Romanti­ zismus«, einem »konservativen Romantizismus« und schließlich einem »ernüchterten oder entzauberten Romantizismus«. Aus der Vielzahl der Arbeiten von Michael Löwy zum romantischen Antikapitalismus nenne ich hier nur den gemeinsam mit Robert Sayre verfaßten Aufsatz: Figures du romantisme anti-capitaliste, in: L'homme et la Societe, H. 69/70 (1983), S. 99 ff. 11

der Zerrissenheit erfahren, weil sie die Möglichkeit einer Aneig­ nung der eigenen Vermögen und Fähigkeiten auf dem Weg ihrer schrittweisen Vergegenständlichung sozial einschränkt und ten­ denziell auslöscht; zerrissen ist die Selbstbeziehung des Men­ schen, weil er sich seiner Möglichkeiten nicht mehr auf dem Weg der ganzheitlichen Veräußerung in der Arbeit innewerden kann. Den philosophischen Hintergrund dieser Erfahrung stellt der Expressivismus dar, von dem seit Herder der deutsche Idealismus mitgeprägt ist; darin wird als das eigentliche Vermögen des Men­ schen seine Fähigkeit zum gestaltenden Ausdruck seiner eigenen Bedürfnisse und Empfindungen angesehen.5 In Marxens Arbeits­ begriff wird das expressivistische Ursprungsmotiv, wie schon in wenigen Ansätzen der Frühromantik,6 zu einem ästhetischen Produktionsideal fortcntwickelt, das in der künstlerischen Arbeit das Vorbild für die Gestaltung aller Tätigkeitsweisen sieht.7 In England schließlich wird jenes expressivistische Motiv in den Schriften von John Ruskin und William Morris noch einmal radi­ kalisiert, indem es zur Grundlage eines utopischen Sozialmodells gemacht wird; die in sich geschlossene, vom Arbeitenden selbst­ tätig überblickbare Arbeitshandlung wird hier zur elementaren Keimzelle einer gesellschaftlichen Organisation, die sich insge­ samt nach dem Vorbild einer handwerklichen Produktionsstätte aufbaut.8 Am Ende werden die Bedingungen einer gelingenden Vergesellschaftung so radikal von der Voraussetzung einer ästhe­ tisch geglückten Produktion abhängig gemacht, daß das sozialkri­ tische Motiv zu einer rein ästhetischen Utopie zu verblassen droht.’ (b) Im Hinblick auf die Sozialbcziehungen der Menschen wird

5 Vgl. Charles Taylor, Hegel, Frankfurt/Main 1978, i.Teil, Kap.i (S. 1380).

6 Vgl. dazu Petra Röder, Von der Frühromantik zum jungen Marx. Rück­ wärts gewandte Prophetie eines qualitativen Naturbegriffs, in: Gisela Dischner/Richard Faber (Hrsg.), Romantische Utopie - utopische Ro­ mantik, Hildesheim 1979, S. 149 ff. 7 Zum romantischen Gehalt des Marxschen Arbeitsbegriffs vgl. Agnes Heller, Habermas and Marxism, in: J. B.Thompson/D. Held (Hrsg.), Habermas — Critical Debates, London 1982, S. 21 ff. 8 Vgl. insgesamt Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsge­ schichte. Studien zur historischen Semantik von •Kultur^, München 1972, Teil 1, Kap. vn, S. 166 ff. 9 Vgl. die scharfsinnige Deutung von Karl-Heinz Bohrer, Die Ästhetik 12

*■'■!*16 Vgl. dazu zusammenfassend G. Lukäcs, Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, a.a.O., S. 91 ff.

störten Beziehung des Menschen zu der ihn umgebenden Natur, bleibt dem jungen Lukäcs eher fremd. Nun hat der junge Lukäcs die ihn prägenden Erfahrungen nicht nur einfach soziologisch registriert, sondern zugleich in einer phi­ losophischen Konstruktion zu verarbeiten versucht. Das experi­ mentelle Verhältnis, das er zur Philosophie seiner Zeit einnahm, hat zwar die Entwicklung eines einheitlichen Ansatzes, nicht aber die Ausarbeitung einer elementaren Rahmenkonzeption verhin­ dert. Diese Konzeption, die all seinen Schriften aus jener Zeit bei aller Differenz zugrunde liegt, ist lebensphilosophischer Her­ kunft; an einer Steile der Theorie des Romans findet sie sich in einem einzigen großartigen Gedankengang zusammengefaßt. Lu­ käcs spricht dort, seine spätere Entwicklung vorwegnehmend, von der gesellschaftlichen Realität der kapitalistischen Moderne als einer zur zweiten Natur erstarrten Wirklichkeit: »Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste; sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr er­ weckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten ... Solange die von den Menschen für den Men­ schen gebauten Gebilde ihm wahrhaft angemessen sind, sind sie seine notwendige und ungeborenc Heimat; keine Sehnsucht kann in ihm entstehen, die sich, als Gegenstand des Suchens und des Findens, die Natur setzt und lebt... Wenn das Seelische der Ge­ bilde nicht mehr unmittelbar zur Sache werden kann, wenn die Gebilde nicht mehr nur wie Ballung und Stauung von Innerlich­ keiten erscheinen, die jeden Augenblick in Seele rückverwandclt werden können, müssen sie eine die Menschen walihllos, blind und ausnahmslos beherrschende Macht erlangen, um bestehen zu können.«17 Zeitdiagnose und utopische Vision finden sich hier vereint; ihren gemeinsamen Hintergrund stellt, wie sich an den gewählten Kate­ gorien und der besonderen Metaphorik zeigt, ein weniger an He­ gel als an Georg Simmel orientiertes Entäußerungsmodell dar.18 In diesem lebensphilosophisch geprägten Modell, das den theore-

17 G. Lukäcs, Die Theorie des Romans, a.a.O., S. 55. 18 In seiner Dissertation weist Rüdiger Dannemann überzeugend nach, daß die Philosophie Hegels insgesamt nur von sehr geringer Bedeu­ tung für das Lukäcssche Frühwerk war: R. Dannemann, Prinzip Ver­ dinglichung. Studie zur Philosophie von Georg Lukäcs, Frankfurt/M. 1987, Teil B, Kap. 1. 16

tischen Bezugspunkt aller Schriften des jungen Lukäcs bildet, wird die gelungene Entwicklung der individuellen Persönlichkeit nach demselben Muster vorgcstcllt wie die gelungene Verwirkli­ chung einer sozialen Gemeinschaft: sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft können sich nur auf dem Wege einer Ent­ äußerung seelischer Antriebe und Motive in kulturelle Erzeug­ nisse, also in Institutionen und Lebensformen entwickeln, die so motivnah und transparent bleiben müssen, daß sich das Indivi­ duum und die Gemeinschaft jederzeit in ihnen wiedererkennen und somit zu sich zurückkehren können. Der Weg einer steten Verkörperung und Rücknahme individueller und kollektiver Empfindungen in kulturelle Ausdrucksformen bildet den Prozeß, in dem Individuum oder Gemeinschaft idealerweise zu einem authentischen Leben gelangen können. Nicht in all seinen frühen Schriften geht Lukäcs davon aus, daß dieser Weg einer authentischen Persönlichkeits- oder Gemein­ schaftsbildung überhaupt eine existentielle Möglichkeit des Men­ schen darstellt; häufig genug überwiegt eine tragische Weitsicht, in der es zur anthropologischen Situation des Menschen zu gehö­ ren scheint, zu einer Verwirklichung seiner seelischen Antriebe und Empfindungen gerade nicht fähig zu sein.19 In jedem Fall aber gibt jenes lebensphilosophische Entäußerungsmodell den Hintergrund für die philosophische Interpretation der soziolo­ gisch registrierten Zerrissenheiten der modernen Welt ab. Zerris­ sen ist das Individuum danach im industriellen Kapitalismus des­ wegen, weil die industrialisierten Arbeitsformen ihm nicht mehr die Möglichkeit zu einer individuellen Selbstverwirklichung ge­ währen, in welcher es Subjekt der Entfaltung all seiner Fähigkei19 Zu dieser »tragischen« Tendenz in den Lukäcsschen Frühschriften vgl. G.Markus, Die Seele und das Leben, a.a.O., bes. S. 107ff.; ebenso auch: G. Markus, Lukäcs’ > erste* Ästhetik: Zur Entwicklungsge­ schichte der Philosophie des jungen Lukäcs, a.a.O., S. zoSf.; Lukäcs orientiert sich in den ncgativistischen Partien seines Frühwerks, in denen er von einer strukturellen Unversöhnbarkeit von Leben und Form, von menschlichem Empfindungslcbcn und gestaltgcbender Objektivation ausgeht, an Georg Simmels Tragödie der Kultur (vgl. dazu G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders.. Das individuelle Gesetz, Frankfurt/Main 1968, S. 116 ff.). Zum Einfluß Simmels auf den frühen Lukäcs vgl. die zusammenfassende Interpreta­ tion von Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur Philosophie von Georg Lukäcs, a.a.O., Teil A, Kap.ui.

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tcn wäre; und zerrissen ist danach die Gesellschaft im modernen Kapitalismus deswegen, weil mit der zunehmenden Arbeitstei­ lung und der Zerstörung einheitlicher Weltbilder die gesellschaft­ lichen Institutionen nicht mehr ein Ausdruck gemeinschaftlich empfundener Überzeugungen und Werte sein können. Dem Zu­ stand dieser sozialen Zerrissenheiten stellt der junge Lukäcs nun überall dort, wo er seine tragische Weitsicht zu durchbrechen vermag, das Ideal einer ästhetischen Kultur gegenüber; es findet sich verschlüsselt in der Beschreibung des deutschen Handwer­ kerkünstlers in demjenigen Essay in Die Seele und die Formen, das dem Werk Theodor Storms und Gottfried Kellers gewidmet ist, offener und zugespitzter jedoch in den nur skizzierten Vorar­ beiten zum Dostojewskij-Buch, in denen die russische Dorfge­ meinde zum sozialen Vorbild einer gelingenden Sozialintegration wird.20 Das Besondere dieser positiven Hinweise ergibt sich daraus, daß Lukäcs die Bedingungen einer glückenden Selbstverwirklichung des Individuums mit der Möglichkeit einer gelingenden Gemein­ schaftsbildung verknüpft sieht: nur das Individuum ist mit sich versöhnt, das in einer sozialen Gemeinschaft seine Fähigkeiten kulturell zum Ausdruck zu bringen vermag, wie umgekehrt nur die soziale Gemeinschaft mit sich versöhnt ist, in deren Institutio­ nen sich die Individuen motivational wiederzufinden vermögen. Persönliche Selbstverwirklichung und soziale Gcmeinschaftsbildung sind in den sozial-utopischen Modellen, die Lukäcs skiz­ ziert, nicht nur jeweils Ziele in sich selbst, sondern als Ziele noch einmal notwendig ineinander verschränkt. Der Zusammenhang, den er damit zwischen zwei getrennten Ideenkomplexen der so­ zialromantischen Tradition herstellt, ergibt sich aus einem Grundgedanken, der vor allem in dem Essay zum Handwerker­ künstler klar zum Ausdruck gelangt: die Chance der individuel­ len Selbstverwirklichung besteht nämlich überhaupt nur in dem Maße, in dem es gemeinschaftlich geteilte Ausdrucksmittel gibt,

20 G. Lukäcs, Bürgerlichkeit und Tart pour Tart: Theodor Storm, in: ders., Die Seele und die Formen, a.a.O., S. 82 ff. VgL dazu die Interpre­ tation von Bernhard Schubert. Der Künstler als Handwerker. Zur Literaturgeschichte einer romantischen Utopie, a.a.O., 4. Kap., 1 (S. 133 ff.). Zu den Dostojewskij-Vorarbeiten vgl. auch Ernst Keller, Der junge Lukäcs. Antibürger und wesentliches Leben, Frankfurt/ Main 19S4, IV. Kap.

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die dem Individuum als Medium einer expressiven und veran­ schaulichenden Objcktivation seiner Antriebe dienen können; die Möglichkeit einer gelungenen Gcmeinschaftsbildung entsteht umgekehrt nur in dem Maße, in dem öffentliche und gemein­ schaftliche Institutionen sich herausbildcn, in denen die Subjekte sich wiederfinden und also verwirklichen können. Persönliche Selbstverwirklichung und soziale Gcmeinschaftsbildung sind da­ her als Ziele miteinander verschränkt.21 Als das vermittelnde Medium einer solchen gelingenden Sozialin­ tegration sieht der junge Lukäcs nun, auch hier von romantischen Motiven geleitet, den kollektiven Gebrauch ästhetischer Symbole an; nur daraus wird überhaupt verständlich, warum er als die notwendige Voraussetzung einer unverzerrten Vergesellschaf­ tung die Existenz einer »ästhetischen Kultur« annimmt. Aus dem kommunikativ geteilten Gebrauch künstlerischer Symbole ergibt sich ein Ausdrucksmittel, das cm Medium zugleich der individu­ ellen Selbstverwirklichung und der kollektiven Identitätsfindung ist; insofern stellt die ästhetische Kultur eine konkrete Totalität im Sinne der geglückten Vermittlung von Einzelnem und Allge­ meinheit dar.22 Lukäcs zögert nicht, für diesen Typ einer ästhe­ tisch mit sich versöhnten Gesellschaft ebenso wie Ernst Bloch, mit dem ihn zu jener Zeit eine Freundschaft verband, den Begriff der »Heimat« zu verwenden.23 Lukäcs erweitert mit seiner Idee einer ästhetischen Kultur den Begriff der öffentlichen Freiheit um eine expressive Dimension. Wird dies schon an den utopischen Vorgriffen deutlich, die seine Frühschriften an einigen Stellen enthalten, so erst recht an jenem Aufsatz überzl/te und Neue Kultur, den er 1920, nach dem Sturz der ungarischen Rate-Republik, verfaßt hat.24 Hier nimmt er die

21 So hat auch Bernhard Schubert die Eigenart der Lukacsschen Idee des Handwerkcrkünstlertums zu interpretieren versucht: ders., Der Künstler als Handwerker. Z«r Literaturgeschichte einer romantischen Utopie, a.a.O., S. 157 ff. 22 VgL dazu G. Markus, Lukäcs’ -erste* Ästhetik: Zur Entwicklungsge­ schichte der Philosophie des jungen Lukäcs, a.a.O., bes. S. 209. 23 Zum Verhältnis von Bloch und Lukäcs vgl. Sandor Radnoti, Bloch und Lukäcs: Zwei radikale Kritiker in der -gottverlassenen Welt-, in: Ag­ nes Heller u.a., Die Seele und das Leben, a.a.O., S. 177 ff. 24 G. Lukäcs, Alte und neue Kultur, in: Georg Lukäcs. Goetheprets 1970, Neuwied und Berlin 1970, S. 44 ff.

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normative Lcitidee einer ästhetischen Kultur wieder auf und in­ terpretiert sie erneut im Rahmen eines Entäußerungsmodclls, das nun aber stärker vom Marxschcn Produktionsparadigma als vom Simmelschen Lebensbegriff geprägt ist. »Aus dem Gesichts­ punkte«, so heißt es in dem Aufsatz, »des Verhältnisses zwischen dem Produkt und seinem Erzeuger ist Kultur nur dann möglich, wenn die Entstehung eines jeden Produktes aus dem Standpunkt seines Schöpfers ein einheitlicher und abgeschlossener Prozeß ist. Und zwar ein solcher Prozeß, dessen Bindungen von den menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Schöpfers ab­ hängen. Das charakteristische Beispiel eines solchen Prozesses ist das Kunstwerk, wobei die ganze Entstehung des Werkes aus­ schließlich das Resultat der Arbeit des Künstlers ist und eine jede Einzelheit des entstandenen Werkes durch die individuellen Qua­ litäten des Künstlers bedingt ist.«25 Dieses produktionsästheti­ sche Ideal gibt die normative Konzeption einer gelingenden Ver­ gesellschaftung vor, in der »die Produkte der Kultur sich aus dem Boden des gesellschaftlichen Seins organisch entwickeln« kön­ nen.26 Lukäcs glaubt nun, daß der Kapitalismus, weil er die Pro­ duktion um des Profitzweckes willen revolutioniert, eine »Herr­ schaft der Wirtschaft über die Gesamtheit des Lebens« errichtet; damit zerreißt die kapitalistische Wirtschaftsweise jenes organi­ sche Band, das zwischen den produktiven Lebensäußerungen der Subjekte und den kulturellen Erzeugnissen einst, nämlich in Griechenland und während der Renaissance, bestanden hatte. Daher kann erst eine sozialistische Revolution, die den Produk­ tionsprozeß erneut dem Rahmen des öffentlichen Lebens unter­ ordnet, auch die Bedingungen einer »organischen« Kultur wie­ derherstellen: unter kommunistischen Voraussetzungen würde, da prinzipiell allen Subjekten die Möglichkeit einer freien Selbst­ betätigung zukommt, die öffentliche Kultur den Charakter eines ästhetisch-expressiven Mediums annchmen, in dem die soziale Gemeinschaft ihrer eigenen Freiheit ansichtig wird. Grundgedanke und Terminologie des Aufsatzes zeigen, wie stark Lukäcs selbst im Jahre 1920 noch von der sozialromantischen Vorstellungswelt seiner frühen Schriften geprägt war; im Zen­ trum der Idee von Kommunismus, die er damals entwickelt, steht auch jetzt noch der Gedanke einer ästhetischen Kultur, in der 25 Ebd., S. 48. 26 Ebd., S. $2. 20

individuelle Selbstvcrwirklichung und kollektive Identitätsbil­ dung miteinander verschränkt sind. Was aber haben diese Ideen des jungen Lukäcs, seine Diagnose einer in sich zerrissenen Welt und die Therapie einer ästhetischen Wiedergewinnung kollektiver Identität, heute noch zu sagen?

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Die philosophischen Dcnkmittel, die der junge Lukäcs verwen­ det, sind inzwischen theoretisch veraltet; das lebensphilosophisch orientierte Entäußcrungsmodcll, das er seiner Diagnose der mo­ dernen Welt des Kapitalismus als einen konzeptionellen Rahmen zugrunde legt, hat alle Überzeugungskraft cingebüßt.27 Weder der Prozeß der Persönlichkeitsbildung noch die Entstehung und Entwicklung von Gesellschaften lassen sich heute noch als Vor­ gänge plausibel machen, die nach dem Muster der steten Entäuße­ rung und Rücknahme seelischer Antriebe stattfinden. Der Bil­ dungsprozeß des Subjekts geht nicht,' wie im Entäußerungsmo­ dell suggeriert, als ein einsamer Vorgang der schrittweisen Vergegenständlichung motivationaler Antriebe vor sich, sondern voll­ zieht sich als ein Prozeß der intersubjektiven Sozialisation, in dem das Subjekt auf dem Wege schrittweiser Abgrenzungen seine einzigartigen Bedürfnisse und Empfindungen erst zu behaupten lernt; ebensowenig läßt sich die gesellschaftliche Entwicklung als ein Entäußerungsvorgang im großen, nämlich als eine Vergegenständlichung kollektiver Empfindungszustände und Wertvorstel­ lungen verstehen, wie es aus lebensphilosophischcr Perspektive erscheint; auch der Konstitutionsprozeß von Gesellschaften läßt sich nur als ein kommunikativer Vorgang analysieren, in dem soziale Gruppen auf dem konflikthaften Weg der Interaktion so­ ziale Institutionen schaffen und reproduzieren.28 Darüber hinaus wirkt das Gemeinschaftsideal, das der junge Lukäcs als eine Lö27 Einen sehr guten Einblick über die neueren, auch das Frühwerk cinbeziehenden Arbeiten zu Lukäcs liefert Georg Lohmann, Authentisches und verdinglichtes Leben. Neuere Literatur zu Georg Lukäcs' ‘Ge­ schichte und Klassenbewußtseinr, in: Philosophische Rundschau, 3O.Jg./i983, H. 3/4, S. 253 ff. 28 Vgl. insgesamt J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981, Bd. 1, Kap. iv. 21

sung für den Zerrissenheitszustand der kapitalistischen Moderne ins Auge faßt, heute hoffnungslos veraltet; die Ausdifferenzie­ rung zwischen den sozialen und kulturellen Sphären, die zur Ab­ trennung von Wirtschaft, Staat und Familie einerseits, zur Aus­ sonderung von Kunst, Wissenschaft und Recht andererseits ge­ führt hat, ist bis zu einem Grad fortgeschritten, der einen kriti­ schen Vergleich mit vormodem-agrarischen oder frühbürgerli­ chen Gemeinschaftsformen nicht mehr ohne weiteres zuläßt. Im gcsellschaftstheoretischcn Ansatz selbst kann die Aktualität des Lukäcsschen Frühwerkes, diese Einwände und Bedenken zu­ sammengenommen, nicht liegen. Seine untergründige Aktualität zeigt sich hingegen, wenn es nicht länger als der paradigmatische Kern, sondern als das seismographische Hilfsmittel einer kriti­ schen Gesellschaftstheorie genommen wird; dann stellt sich her­ aus, daß Lukäcs’ romantischer Antikapitalismus die Kraft eines Sensoriums entfalten kann, das Störungen der kulturellen Inte­ gration zeitdiagnostisch aufzuzcichnen vermag. Der junge Lukäcs ist in der auf Marx zurückgehenden Tradition derjenige, der sich in seiner Diagnose der kapitalistischen Welt am stärksten und ungeschütztesten von sozialromantischen Moti­ ven hat leiten lassen; er hat jene bis zu der Konsequenz eines unlösbaren Zusammenhangs von individueller Selbstverwirkli­ chung und sozialer Gemcinschaftsbildung zu Ende gedacht und damit die Idee des Fortschritts über den Begriff der sozialen Ge­ rechtigkeit und der allgemeinen Freiheit hinaus um die Vorstel­ lung von einer geglückten Vergesellschaftung erweitert. Von die­ ser Idee aus fällt ein Licht auf den Prozeß der kapitalistischen Modernisierung, das grell genug ist, um Folgelastcn und Leidens­ erfahrungen an ihm hervortreten zu lassen, die ohne solche Licht­ quellen gar nicht zu erkennen wären. Soziale Differenzierungs­ prozesse nämlich, die gesellschaftliche Lebensvollzüge auseinan­ derreißen und zu isolierten Handlungssphären verselbständigen, vollziehen sich lautlos und anonym; um das soziale Leid und den individuellen Schmerz, die sie verursachen, theoretisch überhaupt erfahrbar machen zu können, bedarf es normativer Vorgriffe auf Muster unverzerrter und gelingender Vergesellschaftung. Nur im Licht solcher »starken Wertungen«, wie Charles Taylor die theo­ retisch unhintergehbaren Visionen geglückten Lebens nennt29,

29 Zum Konzept der »Strong evaluations« vgl. etwa Charles Taylor, Der 22

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tritt soziales Leid als Leid hervor; die Schriften, die Georg Lukäcs in seiner Jugend verfaßt hat, sind Platzhalter für Wertungen sol­ cher Art. Sic sind in der Idee einer ästhetischen Kultur zusam­ mengefaßt; diese erinnert an kulturelle Voraussetzungen einer unverzerrten Vergesellschaftung, deren Verletzung den gesell­ schaftlichen Fortschritt um die Dimension des Glücks berauben würde. Verletzungen und Zerstörungen, die mit der kapitalisti­ schen Modernisierung einhergehen, treten dadurch in den Blick, für die viele der zeitgenössischen Gesellschaftstheoricn häufig ge­ nug das Sensorium schon verloren haben: sind die Bedingungen der individuellen Selbstvcrwirklichung vielleicht tatsächlich an die Voraussetzung einer cigcntätigen Verkörperung von persönli­ chen Fähigkeiten geknüpft, so daß die hochgradige Zerstörung sinnvoller Arbeitstätigkeiten immer auch die sozialen Chancen einer erfüllten Selbstvcrwirklichung zerstört? Sind die Bedingun­ gen der Gesellschaftsbildung nicht tatsächlich auch an die Vor­ aussetzung einer affektiv erlebbaren und sozial veranschaulichten Kollcktividcntität gebunden, so daß eine vom motivationalen Er­ leben der Subjekte abgekoppeke Institutionsbildung immer auch die Möglichkeit einer gelingenden Vergesellschaftung aus­ schließt? Ist schließlich eine demokratisierte Kultur nicht an die Voraussetzung einer gleichberechtigten Teilnahme aller Gesell­ schaftsmitglieder an der ästhetischen Bildung gebunden, so daß die extreme Expertisierung und soziale Ausschließung der Kunst heute die symbolischen Ausdrucksmittel der Gesellschaft folgen­ reich verarmen läßt? Freilich, solchen Diagnosen sozialer Pathologien, für die wir nicht letzte Gründe, sondern nur intuitive Wertungen in An­ spruch nehmen können, muß etwas in der gesellschaftlichen Rea­ lität entgegenkommen, damit sie nicht fiktive Szenarien entstehen lassen. Nur wenn sich in einer durch zeitdiagnostische Interpreta­ tionen angeleiteten Untersuchung auch empirisch zeigen läßt, daß die kapitalistische Verletzung jener theoretisch behaupteten Vor­ aussetzungen einer unverzerrten Vergesellschaftung tatsächlich zu sozialen Störungen und individuellem Leid führt, verlieren diese Wertungen und Interpretationen ihren bloß subjektiven Charakter; allein an negatorischen Entwicklungsprozessen des

Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/Main 1988, S. 118 ff.

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sozialen Lebens selbst läßt sich demonstrieren, daß den intuitiven Visionen einer geglückten Vergesellschaftung überhaupt eine rea­ litätserschließende Kraft zukommt. Insofern verweist auch Lukäcs’ Frühwerk, als das seismographische Organ einer kritischen Gesellschaftstheorie genommen, auf eine Fortsetzung durch die empirische Sozialforschung.

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Kritische Theorie Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition1

Vor nunmehr einem halben Jahrhundert entstand, unter der auto­ ritativen Leitung eines einzelnen Mannes und als Werk eines Kreises von Intellektuellen, die kritische Theorie; aber erst mit der Studentenbewegung, die sich in einem Prozeß der Orientie­ rungssuche auf die Schriften des »Instituts für Sozialforschung« zurückbesann, ist sie als ein einheitliches Theorieprojekt in das öffentliche Bewußtsein getreten. Seither bewegt die kritische Theorie die Geister: die historische Forschung hat die Geschichte zurückverfolgt, die den Kreis um Horkheimer von Frankfurt über Frankreich in die USA verschlagen hat (Bottomore 1984; Brandt 1981; Dubiel 1978; Geyer 1982; Gmünder 1985; Held 1980; Jay 1976; Kilminster 1979; Slater 1977; Tar 1977; Wiggers­ haus 1986); angehalten durch die desillusionierenden Berichte der Zeitgenossen, haben philologische Untersuchungen die internen Unstimmigkeiten, ja die ganze Disparatheit des Kreises herausge­ arbeitet; jüngere Autoren vor allem vermochten, motiviert durch die Wandlungen des Zeitgeistes, immer neue, bislang unbemerkt gebliebene Denkmotive in den alten Schriften zu entdecken (Dews 1984; Hörisch 1980); schließlich aber hat die kritische Diskussion, die die Rezeption der »Frankfurter Schule« seit zwanzig Jahren begleitet, auch sachliche Mängel und theoretische Aporien in dem ursprünglichen Theorieprojekt ans Licht ge­ bracht (Benhabib 1982; Habermas 1981, Bd. 1, Kap. iv, S. 2; Held 1980 Part 3; Honncth 1983 1. Teil; Wellmer 1969). Bis zum direk­ ten Eingeständnis eines Scheiterns der kritischen Theorie ist die­ ser Prozeß in einigen Fällen inzwischen vorgedrungen (Brandt 1986).2 Bei allem ungebrochenen, ja steigenden Interesse, das die kriti1 Rolf Wiggershaus bin ich für kritische Hinweise und weiterführende Ratschläge dankbar. 2 Berichte von Institutsmitglicdern über ihre Institutserfahrungen liegen v. a. in Interviewform vor (Löwenthal 19S0; Marcuse 1981). Erste syste­ matische Untersuchungen der Differenzen im Institutskreis liegen vor mit Brandt 1981, Breuer 1985, Habermas 1981b und 1986b, Jay 1982. *5

sehe Theorie seit Jahren international auf sich zieht (Sammel­ bände Bonß und Honncth 1982; Honneth und Wellmer 1986b), herrscht heute daher doch eher ein ernüchtertes Bewußtsein über ihre theoretischen Leistungen vor. Jede neue Rezcptionswellc hat mit ihren Forschungsbemühungen dem alten Projekt ein Stück seines anfänglichen Faszinosums genommen und es so allmählich auf das realistische Maß eines überprüfbaren Theorieansatzes ge­ bracht; von den kritischen Befunden, die dieser Prozeß zutage förderte, hat jeder aktuelle Versuch einer systematischen Rekon­ struktion der kritischen Theorie auszugehen. Nur im Bewußtsein all ihrer Mängel läßt sich heute noch produktiv an die von Horkheimer ins Leben gerufene Theorietradition anknüpfen. Den Ver­ such einer solchen systematischen Rekonstruktion der kritischen Theorie will ich im folgenden unternehmen, indem ich die bereits vorliegenden Ergebnisse um eine weitere These ergänze: allein in den Arbeiten derjenigen Autoren, die im »Institut für Sozialfor­ schung« eine eher randständige Position innehatten, also der »Pe­ ripherie« angehörten, hätten sich die gesellschaftstheoretischen Mittel finden lassen, mit denen die von Horkheimer formulierten Intentionen erfolgversprechend hätten umgesetzt werden kön­ nen. Zwar haben Horkheimer, später auch Adorno und Marcuse, die Idee einer zugleich philosophisch orientierten und empirisch fundierten Gesellschaftstheoric überhaupt erst im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaften begründet; diesen bis heute vor­ bildhaften Anspruch aber haben sic in ihren eigenen Arbeiten selbst nicht zu realisieren vermocht, weil ihnen ein angemessenes Konzept für die Analyse gesellschaftlicher Vorgänge fehlte. Hin­ gegen enthielten die materialen Untersuchungen Benjamins und Neumanns, Kirchheimers und später auch Fromms soziologische Einsichten und Anregungen, die zusammengenommen Hinweise auf ein solches Gesellschaftskonzept hätten geben können; wären die Arbeiten dieser Autoren in ihrer gcsellschaftsthcoretischen Substanz ernster genommen worden, so hätten sich die philoso­ phisch formulierten Ziele der kritischen Theorie soziologisch fruchtbarer umsetzen lassen.

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l. Zielsetzungen

Unter den Versuchen, die in der Zeit zwischen den beiden Welt­ kriegen unternommen wurden, um den Marxismus auf produk­ tive Weise fortzuentwickcln, nimmt derjenige der kritischen Theorie eine herausragende Stellung ein. Es waren nicht so sehr ihre theoretischen Grundsätze, sondern vor allem ihre methodi­ schen Zielsetzungen, die diese Theorie gegenüber vergleichbaren Ansätzen auszcichnctcn; sie ergaben sich aus einer rückhaltlosen und programmatischen Anerkennung der Einzelwissenschaften. Die systematische Einbeziehung aller sozialwisscnschaftlichen Forschungsdisziplinen in das Projekt einer materialistischen Ge­ sellschaftstheorie stand der kritischen Theorie als wesentliches Ziel vor Augen; damit überwand sic den theoretischen Purismus, in dem der historische Materialismus lange Zeit verharrt hatte, und gab der Möglichkeit einer fruchtbaren Ergänzung von akade­ mischer Sozialwisscnschaft und marxistischer Theorie Raum. Ih­ ren fähigsten Vertreter fand diese methodische Zielvorstcllung in Max Horkheimer; in ihm, der in seinen Anfängen »positivistisch« genug war, um den Wert der Einzelwissenschaften anerkennen zu können, war in den zwanziger Jahren der Plan zu einem interdis­ ziplinär erweiterten Marxismus herangcreift (Korthals 1985; Kü­ sters 1980; Rotors 1988; Schmidt 1976). Zur Realisierung des weitgefaßten Zieles bedurfte es freilich auch eines intellektuellen Klimas, das Wissenschaftler unterschiedli­ cher Disziplinen, aber gleicher Orientierung an einem einzigen Ort versammelte, sowie zusätzlich der institutionellen Möglich­ keiten, jene Wissenschaftler unter einem Dach kooperieren zu lassen. Im Frankfurt der zwanziger Jahre hatte ein solches intel­ lektuelles Klima sich herausgebildet; unterstützt von einem ver­ mögenden und aufgeschlossenen Bürgertum, waren hier mit der neugegründeten Universität, mit einer liberalen Zeitung, einem experimentierfreudigen Rundfunk und schließlich dem Freien Jü­ dischen Lchrhaus Stätten eines kulturellen Lebens entstanden, die zu einer ungewöhnlichen Konzentration geistiger Energien ge­ führt hatten (Schivelbusch 1982). Mit dem »Institut für Sozialfor­ schung« war derselben Stadt überdies eine Forschungseinrich­ tung zugewachsen, die finanzielle und organisatorische Mittel zur Durchführung sozialwissenschaftlicher Projekte bereithielt; 1924 auf das Betreiben von Felix Weil hin gegründet und der Universi27

tat angegliedert, waren hier in den ersten Jahren unter der Leitung von Carl Grünberg Forschungen zur Geschichte des Sozialismus durchgeführt worden (Klukc 1972, bcs.4-Buch, 2. Kap.; Migdal 1981). Als Max Horkheimer im Jahre 1930 als Nachfolger Grün­ bergs zum Direktor dieses Instituts berufen wurde, bedurfte es daher keiner großen Anstrengung mehr, um aus dem vorgefaßten Plan einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie eine organisato­ rische Realität werden zu lassen. Seine Antrittsrede nahm Hork­ heimer zum Anlaß, das Programm einer kritischen Theorie der Gesellschaft zum ersten Mal öffentlich vorzustellen (Horkheimer 1972). In der »Zeitschrift für Sozialforschung«, die 1932 gegrün­ det wurde und bis 1941 das geistige Zentrum der Institutsarbeit bildete, hat er diesen Ansatz in den folgenden Jahren gemeinsam mit Herbert Marcuse auszuarbeiten versucht? Den Hintergrund der eher programmatischen Aufsätze, in denen das Projekt der kritischen Theorie methodisch allmählich Gestalt annimmt (Horkheimer 1937 und 1972; Marcuse 1937), bildet die zeitgenös­ sische Lage der Wissenschaften. Horkheimer sieht die geistesgeschichtliche Situation, in die das Bemühen um eine Theorie der Gesellschaft versetzt ist, durch ein folgenreiches Auseinandertreten von empirischer Forschung und philosophischem Denken gekennzeichnet. Die Hegelsche Ge­ schichtsphilosophie repräsentiert für ihn die letzte Gestalt einer theoretischen Tradition, in der beide Zweige der Erkenntnis so zu einer einzigen Reflexionsform verschmolzen sind, daß die empiri­ sche Analyse der Wirklichkeit mit der philosophischen Bestim­ mung der Vernunft zusammenfällt. Gemeinsam mit den idealisti­ schen Prämissen, von denen diese geschichtsphilosophische Kon­ zeption der Vernunft getragen ist, löst sich im Laufe des 19. Jahr­ hunderts jedoch auch das vereinigende Band auf, das empirische Forschung und philosophische Reflexion bis dahin zusammen­ hielt; als ein Resultat stehen sich im neueren Positivismus und in der zeitgenössischen Metaphysik die beiden auseinandergebro­ chenen Teile der Geschichtsphilosophie einander unvermittelt ge­ genüber. Im Positivismus ist die empirische Wirklichkeitser­ kenntnis, weil sie von aller philosophischen Selbstvergewisserung abgetrennt ist, zur bloßen Tatsachenforschung herabgesetzt; in

3 Zur Geschichte dieser Zeitschrift v. a. das äußerst informative Vorwort Schmidt 1980; auch Habermas 198td.

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der Metaphysik der Gegenwart, in den philosophischen Entwür­ fen Max Scheiers und Nicolai Hartmanns ist die Vcrnunftreflexion, weil sic von jedem theoretischen Bezug auf die historisch­ empirische Wirklichkeit abgeschnitten ist, zur bloßen Wesens­ spekulation verkümmert (Horkheimcr 1968a und 1972). Horkheimer begreift als das eigentliche Problem dieser geistes­ geschichtlichen Situation nun die Tatsache, daß mit ihr die Mög­ lichkeit geschichtsphilosophischen Denkens überhaupt zum Ver­ schwinden gekommen ist; denn in der abstrakten Arbeitsteilung zwischen Szientismus und Metaphysik, zu der die nachhegelsche Entwicklung des Denkens geführt hat, findet jene Idee einer hi­ storisch verkörperten Vernunft keinen Raum mehr, von der die klassische Geschichtsphilosophie von Anbeginn an zehrte. Mit dem geschichtsphilosophischen Element aber ist jeder Theorie der Gesellschaft die Möglichkeit einer transzendierenden Kritik genommen; kein gedankliches Mittel steht ihr mehr zur Verfü­ gung, um die gegebenen Verhältnisse einer Gesellschaft an einer übergreifenden Idee der Vernunft zu messen. Daher setzt die Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie zunächst die Überwindung jener gcistesgeschichtlichen Spaltung zwischen Tatsachenforschung und Philosophie voraus. In dieser Aufgabe haben die Aufsätze Horkheimers und Marcuses ihr eigentliches Ziel; erkenntnistheoretisch sind sie auf eine systematische Kritik des Positivismus gerichtet, methodologisch zielen sie auf ein Konzept interdisziplinärer Forschung. Für die Positivismuskritik des »Instituts« stellt die materialisti­ sche Erkenntnistheorie des frühen Marx den Schlüssel dar. Hork­ heimer nimmt diesen Ansatz, der in den Marxschen Schriften nur erst angelegt ist, in einer an Lukäcs orientierten Version auf (Jay 1984), Marcusc macht ihn sich auf eine durch Heidegger beein­ flußte Weise zu eigen (Breuer 1977; Schmidt 1968). Gemeinsam gehen beide von der Voraussetzung aus, daß die empirischen Wissenschaften bis in die Methodologie hinein von den Erforder­ nissen der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt sind; die Gewin­ nung theoretischer Aussagen untersteht hier demselben Interesse an einer Beherrschung der physischen Natur, von der vorwissen­ schaftlich schon die Tätigkeit der Arbeit geleitet ist. Sobald dieser praktische Konstitutionszusammenhang der Wissenschaften er­ kenntnistheoretisch durchschaut ist, zeigt sich aber, in welches Mißverständnis der Positivismus zwangsläufig führen muß: in29

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dem er die Wissenschaften nur noch methodologisch rechtfertigt, schneidet er ihnen zugleich mit dem Bewußtsein ihrer eigenen gesellschaftlichen Wurzeln auch das Wissen um ihre praktischen Zielsetzungen ab. In der Verleugnung des lebenspraktischen Rah­ mens wissenschaftlicher Theorien erblicken Horkheimer und Marcuse freilich nicht nur den Fehler des zeitgenössischen Positi­ vismus, sondern zugleich auch den Mangel des neuzeitlichen Theorieverständnisses überhaupt; bis auf Descartes verfolgt Horkheimer die Wurzeln jenes positivistischen Bewußtseins zu­ rück, das die Wissenschaften als ein reines, von praktischen Inter­ essen vollkommen losgelöstes Unternehmen erscheinen läßt. Der Name, den er dieser die gesamte Neuzeit überspannenden Tradi­ tion des Szientismus gibt, ist »traditionelle Theorie«; ihr setzt er nun gemeinsam mit Marcuse die »kritische Theorie« als eine Form der Wissenschaft gegenüber, die sich sowohl ihren sozialen Entstehungskontext als auch ihren praktischen Verwendungszu­ sammenhang ständig bewußt hält. Allerdings kann die kritische Theorie die ihr damit zugemutete Aufgabe nur lösen, wenn sie zugleich über eine Theorie der Ge­ schichte verfügt, die sie über ihre eigene Stellung und Rolle im historischen Prozeß auch tatsächlich aufzuklären vermag; daher verlangt die Grundlegung einer kritischen Gcsellschaftstheorie schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nach einer ge­ schichtsphilosophischen Reflexion von der Form, für die in der zeitgenössischen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Wis­ senschaften ein legitimer Ort nicht vorgesehen ist. Der Ansatz zu einer solchen Geschichtstheorie ist implizit bereits in der materia­ listischen Erkenntnistheorie angelegt, auf die Horkheimer und Marcuse sich in ihrer Kritik des Positivismus stützen konnten; zu einem allgemeinen Interpretationsrahmen vervollständigen sie diesen Ansatz nun, indem sie ihn um Grundannahmen des histo­ rischen Materialismus erweitern. Noch in den dreißiger Jahren vertreten Horkheimer und Marcuse ungebrochen die klassische Version der marxistischen Ge­ schichtstheorie: danach wird als der zentrale Mechanismus des gesellschaftlichen Fortschritts ein Prozeß der Produktivkraftent­ wicklung angenommen, der mit jeder erweiterten Stufe des tech­ nischen Systems der Naturbeherrschung auch eine neue Stufe der sozialen Produktionsverhältnisse erzwingt (Horkheimer 1932). In dieses historische Geschehen soll nun die kritische Theorie



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nicht einfach, wie die empirischen Wissenschaften, als eine kogni­ tive Instanz des Arbeitsprozesses, sondern als eine kritische In­ stanz der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis einbezogen sein: in ihr gelangen, wie Marcuse im Anschluß an Horkheimer sagt, »die Möglichkeiten« zu Bewußtsein, »zu denen die geschichtliche Si­ tuation selbst herangereift ist« (Marcuse 1937, S. 647). Die soziale Stellung und die praktische Funktion der kritischen Theorie be­ messen sich daran, bis zu welchem Maße das in den Produktiv­ kräften angelegte Vernunftpotential bereits in neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation entbunden ist; wie ehemals die Hegelsche Geschichtsphilosophie unter idealistischen Vorausset­ zungen, so macht es sich daher nun die kritische Theorie unter materialistischen Prämissen zur Aufgabe, den empirischen Gang der Geschichte kritisch auf die in ihr verkörperten Vernunftmög­ lichkeiten hin zu untersuchen. Bewegen sich diese erkenntnistheoretischen Vorüberlegungcn noch in den allgemeinen Bahnen einer produktivistischen Ge­ schichtsphilosophie, wie sic zur gleichen Zeit in ähnlicher Weise auch von Lukäcs und Korsch vertreten wurde (Cerutti 1970), so formulieren Horkheimer und Marcuse Neues erst mit der metho­ dologischen Wendung, die sie der Idee der kritischen Theorie im nächsten Schritt geben; mit ihm begründen sie das, was heute rückblickend »interdisziplinärer Materialismus« genannt wird (Bonß und Schindler 1982b). Beide gehen sie davon aus, daß zu der geschichtsphilosophischen Diagnose, mit der die kritische Theorie anhebt, als ein zweiter Reflexionsschritt eine empirische Sozialforschung hinzutreten muß, für die die Kooperation unter­ schiedlicher Disziplinen konstitutiv ist. Weder für Horkheimer noch für Marcuse kann es allein noch die Aufgabe der politischen Ökonomie sein, den geschichtsphilosophisch diagnostizierten Zustand der Gesellschaft empirisch zu untersuchen; eine kritische Gesellschaftstheorie muß sich vielmehr der ganzen Breite der so­ zialwissenschaftlichen Disziplinen bedienen, um in der Lage sein zu können, den Konflikt zwischen Produktivkräften und Pro­ duktionsverhältnissen für die Gegenwart angemessen zu erfor­ schen. Für das methodische Verhältnis, in das Geschichtsphiloso­ phie und interdisziplinäre Forschung dabei treten sollen, entwirft Horkheimer das allgemeine Modell; es sieht eine »dialektische« Verschränkung der beiden Erkenntnisformen vor, die so beschaf­ fen ist, daß »die Philosophie als aufs Allgemeine, >Wesentliche< 31

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gerichtete theoretische Intention den besonderen Forschungen beseelende Impulse zu geben vermag und zugleich wcltoffcn ge­ nug ist, um sich selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen« (Horkheimer 1972, S. 41). Horkheimer ist es auch, der diesem methodischen Aufriß der kritischen Gesellschaftsthcorie inhaltlich Gestalt gibt und damit das Forschungsprogramm des »Instituts« für die dreißiger Jahre festlegt. Das empirische Problem, auf das sich die Kooperation der Einzelwissenschaften konzentrieren soll, ergibt sich für ihn aus einer Anwendung der materialistischen Geschichtsphiloso­ phie auf die zeitgenössische Situation: Wenn sich der historische Prozeß im allgemeinen dadurch fortbewegen soll, daß das in den Produktivkräften angelegte Vernunftpotential immer wieder in sozialen Konflikten freigesetzt wird, dann stellt sich unter den besonderen Bedingungen der Gegenwart die Frage, welche Me­ chanismen den Ausbruch solcher Konflikte gerade verhindern; denn als die markanteste Entwicklungstendenz seiner Zeit nimmt der junge Horkheimer, wie viele andere Marxisten seiner Genera­ tion auch, den Prozeß einer zunehmenden Integration der Arbei­ terklasse in das spätkapitalistische Gesellschaftssystem wahr (Mahnkopf 1985, bes. Kap. 6). Auf diese Integrationsleistung des Spätkapitalismus ist der Blick Horkheimers so einseitig konzen­ triert, daß er sie zum Bezugspunkt der gesamten Forschungsar­ beit des Instituts macht; während der dreißiger Jahre gelten die interdisziplinären Untersuchungen insgesamt der Frage, »wie die psychischen Mechanismen Zustandekommen, durch die es mög­ lich ist, daß Spannungen zwischen den sozialen Klassen, die auf Grund der ökonomischen Lage zu Konflikten drängen, latent bleiben können?« (Horkheimer 1932, S. 136). Schon die Formulierung der Fragestellung zeigt an, wie Horkhei­ mer sich den Aufbau der interdisziplinären Gesellschaftsanalyse im einzelnen vorstellt. Das disziplinäre Zentrum der Forschungs­ arbeit bildet weiterhin die politische Ökonomie; sie allein vermag sachlich zwischen der Geschichtsphilosophie und den Einzelwis­ senschaften zu vermitteln, weil sic unter empirischen Gesichts­ punkten denselben Prozeß der kapitalistischen Produktion unter­ sucht, der unter geschichtsphilosophischer Perspektive als eine Stufe in der Realisierung von Vernunft erscheint. Stellt die politi­ sche Ökonomie daher das theoretische Rückgrat einer materiali-

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stischen Sozialwissenschaft dar, so muß ihr unter den gewandel­ ten Bedingungen freilich eine zweite Disziplin beiseite treten; da sich nämlich das in den kapitalistischen Produktivkräften angcsammelte Vernunftpotential nicht mehr, wie noch in der marxi­ stischen Revolutionstheorie unterstellt, im Klasscnhandcln des Proletariats niederschlägt, bedarf cs zusätzlich einer Untersu­ chung der »irrationalen« Bindungskräfte, die jene Klasse an der Wahrnehmung ihrer eigentlichen Interessen hindern; für Horkheimer steht es außer Frage, daß diese Aufgabe nur durch eine von Freud belehrte Psychologie bewältigt werden kann. Zwi­ schen die Ökonomie und die Psychologie schließlich muß, weil die sozialen Anpassungsforderungen nicht unvermittelt, sondern nur kulturell gebrochen auf die individuelle Psyche auftreffen, noch eine dritte Disziplin treten; als ein abschließendes Element des von ihm skizzierten Forschungsprojektes faßt Horkheimer eine Theorie der Kultur ins Auge, die die kulturellen Rahmenbe­ dingungen zu untersuchen hat, unter denen die individuelle So­ zialisation im Spätkapitalismus stattfindet. Aus dem Zusammen­ hang dieser drei Disziplinen ergeben sich die Aufgaben, die Horkheimer der kritischen Theorie in ihrer ersten Phase stellt; sie umfassen a) die ökonomische Analyse der postliberalen Phase des Kapitalismus, b) die sozialpsychologische Untersu­ chung der sozialisatorischen Integration der Individuen und c) die kulturtheoretische Analyse der Wirkungsweise der Massen­ kultur. Eine theoretische Einheit vermag Horkheimer nun aller­ dings in das Themenspektrum seines Programms nur dadurch zu bringen, daß er sich gemeinsam mit seinen Mitarbeitern eines marxistischen Funktionalismus bedient, der zwischen den ein­ zelnen Untersuchungsdimensionen eine geradlinige Abhängig­ keit herstellt: a) Die zentrale Aufgabe der politischen Ökonomie erblickt Horkheimer darin, den tiefgreifenden Wandlungsprozeß zu un­ tersuchen, der den Kapitalismus seit dem Ende seiner liberalen Phase erfaßt hatte; es ist vor allem die Herausbildung des Natio­ nalsozialismus, die die Frage aufwirft, ob sich nicht in den plan­ wirtschaftlichen Zügen der neuen Wirtschaftsordnung ein gewan­ deltes Organisationsprinzip des Kapitalismus abzuzeichnen be­ ginnt. Mit der Bearbeitung dieses Problems wird im Institut Friedrich Pollock, ein eher »linksbürgerlicher« Wirtschaftswis­ senschaftler, der gemeinsam mit Max Horkheimer großgeworden

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war, betraut (Dubiel 1975); er unternimmt während der dreißiger Jahre Untersuchungen zu den Ansätzen einer planwirtschaftlichcn Wirtschaftsordnung, deren Ergebnisse der »innere Kreis« der Institutsmitglicder übernimmt. Im Begriff des »Staatskapita­ lismus« ist Pollocks Überzeugung auf einen einzigen Nenner ge­ bracht (Pollock 1975b und 1975c); ihr zufolge hat sich sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit dem Sowjetregime eine planwirtschaftlichc Organisationsform des Kapitalismus heraus­ gebildet, in der das Stcuerungsmedium des Marktes durch büro­ kratische Planungsorgane verdrängt worden ist; darin ist das Ma­ nagement der kapitalistischen Konzerne so nahtlos mit den politi­ schen Machteliten zusammengewachsen, daß sich nunmehr die gesellschaftliche Integration insgesamt in Form einer zentralisier­ ten Verwaltungsherrschaft vollziehen kann. Ursprünglich nur mit fachwissenschaftlicher Absicht unternommen, wurde diese Ana­ lyse von Horkheimer bald zum Ansatzpunkt einer globalen Theorie des postliberalen Kapitalismus gemacht (Horkheimer OS?)! s'c g‘bt den allgemeinen Rahmen ab, in dem die psycholo­ gischen und kulturtheoretischen Untersuchungen Platz finden sollen. b) Mit der Theorie des Staatskapitalismus läßt sich zwar die neue Organisationsform der kapitalistischen Produktion erklären, nicht aber die Frage beantworten, warum sich die Individuen dem zentralistisch verwalteten Herrschaftssystem scheinbar wider­ standslos unterwerfen. Das zu untersuchen ist Aufgabe der so­ zialpsychologischen Forschungen, deren Durchführung Hork­ heimer seinem Freund Erich Fromm überträgt; mit ihm gelangt ein entscheidender Verfechter jener intellektuellen Bewegung der Weimarer Republik ins Institut, die sich um eine Integration von historischem Materialismus und Psychoanalyse bemüht hatte (Dahmer 1973; Bonß 1982a). Erich Fromm, der seit 1926 als Analytiker tätig war und dem Freien Jüdischen Lehrhaus nahe­ stand, ist in seinen frühen Studien noch vollkommen der »Freud­ sehen Linken« verpflichtet (Funk 1980); wie Siegfried Bernfeld oder Wilhelm Reich geht er davon aus, daß sich die Integration der Individuen in das kapitalistische Herrschaftssystem auf dem Weg der sozialisatorischen Prägung ihrer psychosexuellen Cha­ rakterzüge vollzieht. Dieses allgemeine Erklärungsmodell, in dem Einsichten der Psychoanalyse mit solchen einer marxistischen So­ ziologie verknüpft sind, bringt Fromm in seinen Untersuchungen 34

am Institut zur Anwendung (Fromm 1932a und 1932b).4 Aus­ gangspunkt ist dabei die Beobachtung, daß die Herausbildung der staatskapitalistischcn Ordnung einen Strukturwandel der bürger­ lichen Kleinfamilic nach sich zieht: zugleich mit der ökonomi­ schen Entscheidungskompetenz, die ihm unter liberalkapitalisti­ schen Bedingungen noch gewährt war, verliert der Mann auch innerhalb der Familie die unbefragte Autorität, die er als Vater zuvor besaß; dadurch aber wird dem Kind die autoritative In­ stanz genommen, an der es bislang sein Ich zu entwickeln und zu stärken vermochte; der Strukturwandel der Familie geht daher mit einer Ich-Schwächung des Heranwachsenden einher, in deren Folge ein autoritätsgebundener, leicht manipulierbarer Persön­ lichkeitstyp entsteht. Wiederum ist es Horkhcimer, der den dis­ paraten, häufig auch spekulativen Überlegungen Fromms eine allgemeine Form gibt; die Theorie der »autoritären Persönlich­ keit«, in der er die sozialpsychologischen Untersuchungen des Instituts zusammenfaßt (Horkheimer 1968b), wird bald von allen Mitgliedern des »inneren Kreises« übernommen. c) Der ökonomische und der sozialpsychologischc Erklärungs­ ansatz des Instituts verhalten sich komplementär zueinander: sie sind durch funktionalistische Annahmen so aufeinander bezogen, daß sie zusammengenommen das Bild einer in sich geschlossenen Integration der Gesellschaft ergeben. Die ökonomische Struktur­ analyse erschließt die Entwicklungstendenzen, die den Kapitalis­ mus auf eine planwirtschaftliche Herrschaftsordnung zusteuern lassen; an den Veränderungen, die dieser Wandlungsprozeß in der familialcn Sozialisation hervorruft, arbeitet die sozialpsycho­ logischc Analyse dann die Mechanismen heraus, durch die die Individuen reibungslos an die neuen Verhaltensanfordcrungen angepaßt werden. An der Theorie der Kultur, dem dritten Teil­ stück des von Horkheimer ins Auge gefaßten Forschungsprojek­ tes, wäre es nun gewesen, den geschlossenen Funktionalismus einer solchen Gcsellschaftsanalyse aufzusprengen; spätestens hier hätte sich zeigen können, daß die vergesellschafteten Subjekte nicht einfach passiv einem anonymen Steuerungsgeschehen un-

4 Für das Institut hat Fromm den sozialpsychölogischen Teil der großan­ gelegten Untersuchung »Autorität und Familie« verfaßt (Fromm 1936). Die Vorstudien zu diesem Projekt, die Fromm im Rahmen einer empiri­ schen Untersuchung über die »German Works 1929« unternommen hat, sind von W. Bonß herausgegeben worden (Fromm 1980). 35

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terworfen sind, sondern mit ihren eigenen Interpretationsleistun­ gen aktiv an dem komplexen Prozeß der sozialen Integration teilnehmcn. Tatsächlich hatte Horkheimer der Kulturanalyse im Anfang noch eine Aufgabe gestellt, die dieser Einsicht theoretisch entgegenkam: wie die Subkulturforschung heute, so sollte sie jene »Sitten« und »Lebensstile« empirisch untersuchen, in denen die kommunikative Alltagspraxis der sozialen Gruppen gestalthaft zum Ausdruck gelangt.5 Wäre Horkheimer der soziologischen Vorstellung, die damit umrissen ist, konsequenter gefolgt, dann hätte sich ihm an der Kultur exemplarisch jene eigensinnige Di­ mension sozialer Handlungsorientierungen und Wertmuster auf­ tun können, die gerade nicht als ein bloßes Funktionselement in der Reproduktion von Herrschaft anzusehen ist; statt dessen aber hat er, noch bevor er sich die handlungstheoretische Logik seiner anfänglichen Bestimmungen bewußt zu machen vermochte, auch die Kulturanalyse wieder in das funktionalistische Bezugssystem zurückgeführt, in das er zuvor bereits die Ökonomie und die Sozialpsychologie integriert hatte.6 In diesem veränderten Zu­ sammenhang versteht Horkheimer unter »Kultur« überall dort, wo nicht von Kunstwerken die Rede ist, nur noch jene Gesamt­ heit von kulturellen Einrichtungen und »Apparaten«, die die ge­ sellschaftlichen Verhaltensanfordcrungen von außen an die mani­ pulierbar gewordene Psyche des einzelnen wcitervermitteln; vor allem die Untersuchungen, die Theodor W. Adorno über die Ent­ stehung und Wirkung der Kulturindustrie vorlegt, bewegen sich im Horizont eines solchen institutionentheoretisch eingeschränk­ ten Kulturbegriffs (Adorno 1938; auch Löwenthal 1932). Im In­ stitut setzt sich damit ein Typ von Kulturforschung durch, in deren Rahmen die Kultur, nicht anders als in der marxistischen Basis-Überbau-Lehre, allein als ein Funktionsbestandteil der Herrschaftssicherung in Erscheinung tritt. Die Gründe, die Horkheimer auch hier wieder zu einem funktionalistischen Be-

5 So vor allem in Horkheimer 1972, bes. S. 43; der Kulturbegriff, den Horkheimer hier verwendet, erinnert stark an die englische Kulturge­ schichtsschreibung und Untcrschichtensoziologic, die durch die For­ schungen E. P.Thompsons angeregt worden sind. 6 Programmatisch etwa in Horkheimer 1986b; die kategoriale Umbil­ dung des Horkheimerschen Kulturbegriffs von einem handlungstheoretischen zu einem institutionentheoretischen Konzept habe ich verfolgt in Honneth 1985, Kap. 1. 3*

Zugssystem Zuflucht nehmen lassen, weisen auf die geschichts­ philosophischen Grundannahmen zurück, die seinem interdiszi­ plinären Forschungsprojekt im ganzen zugrunde lagen; an ihnen läßt sich klarmachen, welche theoretischen Prämissen die kriti­ sche Theorie in ihrer ersten Phase zum Scheitern bringen mußten.

ii. Umsetzungen: der innere Kreis

Wenn die verschiedenen Untersuchungen, die die Mitglieder des inneren Kreises des Instituts im Laufe der dreißiger Jahre angefer­ tigt haben, zu einem theoretischen Ganzen zusammengefügt wer­ den, dann entsteht das Bild einer total integrierten Gesellschaft; wie in totalitarismustheoretischen Visionen scheint darin das so­ ziale Leben sich in einem geschlossenen Kreislauf von zentrali­ sierter Herrschaftsausübung, kultureller Kontrolle und individu­ eller Anpassung zu erschöpfen. Mag dieses Bild auch in den ge­ sellschaftlichen Umständen, mit denen die Institutsmitglieder an­ gesichts von Faschismus und Stalinismus konfrontiert waren, ein gewisses Maß an historischer Rechtfertigung finden, so erweist es sich unter systematischen Gesichtspunkten jedoch als das Ergeb­ nis einer theoretisch fehlerhaften Konstruktion. In dem gesell­ schaftstheoretischen Bezugssystem, das Horkheimer seinem Pro­ gramm zugrunde legt, ist von Anfang an jene Dimension des sozialen Handelns, in der moralische Überzeugung und norma­ tive Orientierungen sich eigenständig bilden, systematisch ausge­ spart; cs ist so angelegt, daß darin nur solche sozialen Prozesse Platz finden können, die Funktionen in der Reproduktion und Erweiterung der gesellschaftlichen Arbeit zu übernehmen vermö­ gen. Dieser funktionalistische Reduktionismus hat in den ge­ schichtsphilosophischen Prämissen, von denen die Überlegungen Horkheimers, aber auch Marcuses und Adornos durchgängig ge­ tragen werden, seine Ursachen. Den philosophischen Arbeiten aller drei Autoren ist zu jener Zeit eines gemeinsam: wenn sich ihr Denken im ganzen auch auf den Versuch einer radikalen Erneuerung der Sozialphilosophie rich­ tet, so wurzeln die geschichtsphilosophischcn Grundüberzeu­ gungen, die sie dabei zur Geltung bringen, doch zutiefst in der Tradition des Marxismus; selbst dort, wo sie sich jedes dogmati­ schen Restes entschieden zu entledigen versuchen, geschieht dies 37

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noch aus der unverändert bcibehaltcnen Perspektive der marxisti­ schen Geschichtsphilosophic. Weder die bahnbrechenden Lei­ stungen Dürkheims und seiner Schüler noch auch die theoreti­ schen Neuerungen des Pragmatismus konnten hier je auf frucht­ baren Boden fallen; gegenüber allen Versuchen, den geschichtli­ chen Verlauf anders als unter dem Gesichtspunkt der Entwick­ lung der gesellschaftlichen Arbeit zu betrachten, blieb der engere Kreis des Instituts stets verschlossen. Es sind zwei theoretische Prämissen, die den geschichtsphilosophischcn Denkrahmen be­ stimmen, in dem die Arbeiten von Horkhcimer, Marcuse und Adorno sich bei aller Differenz im einzelnen gemeinsam bewe­ gen: alle drei gehen erstens davon aus, daß sich die Vernunft oder die Rationalität des Menschen primär als das intellektuelle Ver­ mögen der instrumentalen Verfügung über Naturgegenstände be­ greifen können lassen muß; insofern bleiben sie gemeinsam der bewußtseinsphilosophischen Denktradition verhaftet, die die menschliche Rationalität nach dem Modell der kognitiven Bezie­ hung eines Subjekts auf ein Objekt konstruiert (Habermas 1981a, Bd.i, S. 489 ff.). Zweitens stimmen alle drei in der Konsequenz überein, die sich aus jener bewußtseinsphilosophischen Prämisse für eine Theorie der Geschichte ziehen läßt: daß sich nämlich die geschichtliche Entwicklung vor allem als ein Prozeß der Entfal­ tung genau des Rationalitätspotcntials vollzieht, das in der instru­ mentalen Verfügung des Menschen über Naturgegenstände ange­ legt ist; insofern bleiben sic gemeinsam der schon bei Marx vor­ herrschenden Tendenz verhaftet, die menschliche Geschichte instrumentalisch oder produktivistisch auf einen Entwicklungspro­ zeß der gesellschaftlichen Naturbearbeitung zu verkürzen (Flonneth 1985, Erster Teil, S. 9ff.). Wie auch immer im einzelnen durch primäre Orientierungen an Lukäcs und Korsch (Jay 1984), an Dilthey und Heidegger (Schmidt 1968) oder schließlich an Benjamin (Buck-Morss 1977) geprägt, ist es diese reduktionistische Geschichtsphilosophie, die der Forschungsarbeit des Instituts im ersten Jahrzehnt als allge­ meines Bezugssystem dient; darin sind nicht nur die theoreti­ schen Mängel begründet, die inzwischen für die normativen Grundlagen der frühen kritischen Theorie nachgewiesen worden sind (Habermas 1981a, Bd.i., Kap.iv, 2; Benhabib 1986), son­ dern auch die Probleme angelegt, die wir an Horkheimers Kon­ struktion einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie verfolgt 3«

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haben.7 Der funktionalistische Zuschnitt, den die Theorie der Gesellschaft in Horkhcimers Programm enthält, ist die methodi­ sche Konsequenz aus dem Reduktionismus, von dem sein geschichtsphilosophischcs Bezugsmodcll durchdrungen ist (Honneth 1985, Erster Teil, S. 9 ff.). Weil darin neben der gesellschaft­ lichen Arbeit ein anderer Typus des sozialen Handelns nicht zu­ gelassen ist, kann Horkheimer auch auf der Ebene seiner Gcsellschaftsthcorie nur den instrumentellen Formen der gesellschaftli­ chen Praxis systematisch Rechnung tragen; dadurch aber muß er auch jene Dimension der Ailtagspraxis aus den Augen verlieren, in der die vergesellschafteten Subjekte auf kommunikativem Wege gemeinsame Handlungsorientierungen erzeugen und krea­ tiv fortbilden. Erst mit der Berücksichtigung dieser kommunika­ tiven Sphäre der sozialen Alltagspraxis hätte Horkheimer entdekken können, daß die gesellschaftliche Reproduktion sich nicht in Form einer blinden Erfüllung von Funktionsimperativen, son­ dern immer nur auf dem Weg einer Integration von gruppenspe­ zifischen Handlungsnormen vollziehen kann; so aber muß in sei­ nem gescllschaftstheoretischen Denken die Vorstellung zum Durchbruch gelangen, daß sich Gesellschaften im Prinzip unab­ hängig vom kommunikativ gewonnenen Sclbstverständnis ihrer Mitglieder reproduzieren, indem sie die ökonomisch erforderli­ chen Verhaltensanforderungen mit Hilfe von systemischen Steue­ rungsprozessen direkt in der individuellen Bedürfnisnatur veran­ kern. In der Konsequenz eines solchen Denkmodells kann schließlich der geschlossene Funktionalismus entstehen, in dessen Gestalt sich Horkheimers Programm eines »interdisziplinären Materialismus« am Ende präsentiert. Nun ist die Idee einer interdisziplinären Sozialforschung im Insti­ tut selbst nur bis zum Beginn der vicrzigerjahre von lebendiger, gestaltgebender Wirksamkeit gewesen. Bereits in den Aufsätzen, die Horkheimer zum letzten Jahrgang der 1941 eingestellten »Zeitschrift für Sozialforschung« beisteuert (Horkheimer 1941a und 1941b), kündigt sich ein allgemeiner Orientierungswandcl an, der nicht nur die geschichtsphilosophischen Prämissen der kritischen Theorie in Mitleidenschaft zieht, sondern auch die Stellung der Einzelwissenschaften in ihr. Horkheimer gibt in die­ sen Aufsätzen mehr und mehr einem geschichtsphilosophischen 7 Eine interessante »Rettung« der Moralphilosophie Horkheimers unter­ nimmt Schnädelbach 1986. i

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Pessimismus nach, dessen Wurzeln so weit in die Frühphasen seiner eigenen Bildungsgeschichte zurückreichen, daß sich seine Schriften aus den dreißiger Jahren im Rückblick nur noch wie ein theoretisches Zwischenspiel ausnehmen (Korthals 1985). Wie in den Zeiten seiner ersten Schopenhauer-Lektüre wird das beherr­ schende Thema für Horkheimer jetzt wieder das destruktive Po­ tential der menschlichen Vernunft. Zwar bildet das kategoriale Fundament auch dieser neuen geschichtsphilosophischen Kon­ zeption noch immer der Begriff der Arbeit; statt auf die emanzi­ patorischen Möglichkeiten, die in dem Prozeß der gesellschaftli­ chen Naturbeherrschung angelegt sind, richtet sich der Blick nun aber auf die zerstörerischen Folgen, die die in der menschlichen Arbeitspraxis vorausgesetzten Denkleistungen nach sich ziehen. Es ist der Wechsel von einem positiven zu einem negativistischen Konzept der gesellschaftlichen Arbeit, der eine neue Phase in der Geschichte der kritischen Theorie einleitet; darin tritt an die Stelle, die bislang die produktivistische Fortschrittskonzeption eingenommen hatte, eine fortschrittsskeptische Vernunftkritik, die so radikal ist, daß sie auch den Erkenntniswert der Einzelwis­ senschaften noch in Zweifel stellen muß. Nicht Max Horkheimer freilich, sondern Theodor W. Adorno ist der herausragende Vertreter dieser neuen Konzeption der kriti­ schen Theorie. Sein Denken ist wie kaum ein anderes seiner Zeit von der geschichtlichen Erfahrung des Faschismus als ein zivilisa­ torisches Verhängnis geprägt (Klein und Kippenberg 1975); das hat ihn von Anbeginn an dem, was an historisch-materialistischen Fortschrittsideen in das ursprüngliche Programm des Instituts eingegangen war, skeptisch gegenüberstehen lassen. Zudem hatte sich seine intellektuelle Entwicklung so sehr unter der Vorherr­ schaft künstlerischer Interessen vollzogen, daß er dem verengten Rationalismus der marxistischen Theorietradition ganz selbstver­ ständliche Zweifel entgegenbringen mußte; unter dem Einfluß Walter Benjamins hat dieser Vorbehalt ihn schon bald die ersten Versuche unternehmen lassen, ästhetische Interpretationsmetho­ den für die materialistische Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen (Buck-Morss 1977, bes. Kap. 6). Beide Denkmotive, die Fortschrittsskepsis und die methodische Auszeichnung ästheti­ scher Erfahrungsgehalte, kommen allerdings auch in Adornos Philosophie nur im Rahmen jener bewußtseinsphilosophischen Prämissen zur Geltung, die schon für Horkheimers Theorieent-

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wurf bestimmend gewesen waren. In der »Dialektik der Aufklä­ rung«, die beide gemeinsam zu Beginn der vierzigerjahre verfas­ sen und die der neuen Konzeption der kritischen Theorie nach­ träglich den Namen gegeben hat, finden diese verschiedenen Mo­ tive und Tendenzen in einem einzigen Buch zusammen. Über den Horizont des frühen Institutsprogramms erhebt dieses Werk sich schon im geschichtsphilosophischcn Ansatz: nicht mehr aus dem Konflikt von Produktivkräften und Produktions­ verhältnissen, sondern aus der Dynamik der menschlichen Be­ wußtseinsbildung soll der totalitäre Zustand erklärt werden, in den die Welt mit der Heraufkunft faschistischer Herrschaftssy­ steme geraten ist. Horkheimer und Adorno verlassen den kapita­ lismustheoretischen Rahmen, in dem die Sozialforschung des In­ stituts sich bis dahin bewegte, und setzen als Bezugssystem ihrer Argumentation nun den Zivilisationsprozeß im ganzen voraus; darin erscheint der Faschismus als die geschichtliche Endstufe einer »Logik des Zerfalls«, die in der ursprünglichen Existenz­ form der Gattung selbst angelegt ist. Die Erklärung der Mecha­ nismen, die den zivilisatorischen Prozeß von allem Anfang an in diese Logik des Zerfalls getrieben haben, macht die eigentliche Aufgabe der »Dialektik der Aufklärung« aus; ihr primäres Mate­ rial bilden literarische und philosophische Werke der europäi­ schen Geistesgeschichte, ihr Argumentationsstil ist eher der des aphoristisch zugespitzten Essays als jener einer empirisch ange­ legten Untersuchung. Die einzige Brücke zum ursprünglichen Ansatz der kritischen Theorie stellt der Begriff der gesellschaftli­ chen Naturbeherrschung dar; er ist auch für den neuen Ansatz so zentral, wie er es schon für das geschichtsphilosophische Bezugs­ system des empirischen Forschungsprogramms war. Derselbe Be­ griff aber erhält nun eine gewandelte Bedeutung (Honneth 1980): mit der »gesellschaftlichen Arbeit« ist in der »Dialektik der Auf­ klärung« nicht mehr eine Form der emanzipatorischen Praxis, son­ dern die Keimzelle des objektivierenden Denkens bezeichnet. Für diese Form eines verdinglichten Denkens, das zugleich mit der menschlichen Bearbeitung der Natur entsteht, verwenden Hork­ heimer und Adorno den Begriff der »instrumentellen Rationali­ tät«; ihm kommt die zentrale Funktion zu, Ursprung und Dyna­ mik des gattungsgeschichtlichen Zerfallsprozesses zu erklären. Der neue Begriff der »instrumentellen Rationalität«, der von nun an ein Schlüsselmotiv der kritischen Theorie kennzeichnen wird,

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verdankt sich einer Wendung des Lukäcsschcn Verdinglichungs­ begriffs ins Anthropologische. Horkheinier und Adorno begrei­ fen die verdinglichenden Denkformen, die Lukäcs aus den Ab­ straktionszwängen des kapitalistischen Warentausches herleitct (Lukäcs 1968), als einen immanenten Bestandteil der instrumen­ talen Verfügung des Menschen über die Natur; auch die Anre­ gungen, die von Alfred Sohn-Rethels Analyse der Tauschabstrak­ tion auf Adorno ausgingen, finden an der zentralen Prämisse der ».•Dialektik der Aufklärung« ihre Grenze, daß bereits mit dem ersten Akt der Naturbeherrschung der Zwang zu instrumentellen Denkleistungen unweigerlich gesetzt ist (Müller 1977; Schmucker 1977; Karger 1988). Erklärt sich für Horkheinier und Adorno somit die Entstehung der instrumentellen Rationalität aus den elementaren Strukturen der menschlichen Arbeit, so leiten sie deren geschichtliche Dynamik aus der eigensinnigen Tendenz ab, mit der sich ihre Wirkungen in das psychische und soziale Leben der menschlichen Gattung hinein verlängern: die urgeschichtli­ chen Anstrengungen des instrumentalen Denkens, mit denen der Mensch sich gegenüber der Natur zu behaupten lernt, pflanzen sich schrittweise in der Disziplinierung seines Trieblcbcns, in der Verarmung seiner sinnlichen Fähigkeiten und in der Ausbildung sozialer Herrschaftsverhältnisse fort. In dieser These, die sich untergründig auf eine Reihe von anthropologischen und ethnolo­ gischen Argumenten stützt, auf die erst neuere Textinterpretatio­ nen ein Licht werfen (Cochctti 1985; Früchtl 1986), kommen die unterschiedlichen Teile der »Dialektik der Aufklärung« zu einem gemeinsamen Ergebnis überein; es besagt nicht weniger, als daß der gesamte Zivilisationsprozeß des Menschen von einer Logik der schrittweisen Verdinglichung bestimmt ist, die durch die er­ sten Akte der Naturbeherrschung in Bewegung gesetzt und im Faschismus zu ihrer konsequenten Vollendung gebracht wird. Zu verstehen ist diese geschichtsphilosophische These allerdings erst vollständig, wenn als ihr normativer Bezugspunkt ein ästheti­ sches Persönlichkeitsmodell hinzugedacht wird, in dem die Frei­ heit des Menschen als eine Fähigkeit zu unverzerrter Hingabe an die Natur bestimmt ist; nur weil Horkhcimer und Adorno die menschliche Emanzipation an die Voraussetzung einer Versöh­ nung mit der Natur geknüpft sehen, müssen sie in jedem Akt der Naturbeherrschung bereits auch einen Schritt zur Selbstentfrem­ dung der Gattung erblicken. Die Argumente, mit denen sie das 42

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Fortwirken jener anfänglichen Verdinglichung in das psychische und soziale Leben hinein begründen, entstammen demselben phi­ losophischen Denkhorizont, in dem auch das ästhetische Persön­ lichkeitsmodell beheimatet ist; er ist durch die deutsche Frühro­ mantik auf der einen Seite, durch die Lebensphilosophie auf der anderen Seite begrenzt. Dieser Traditionsstrom bildet einen theo­ riegeschichtlichen Hintergrund, auf den die »Dialektik der Auf­ klärung« nur an wenigen Stellen den Ausblick freigibt (Honneth 1984; Habermas 1985); als erster hat auf ihn in kritischer Absicht Galvana della Volpe verwiesen, der in dem Buch nichts anderes als ein Produkt der »Spätromantik« sehen konnte (della Volpe 1973). Aber nicht die romantischen und lebensphilosophischen Denkmotive als solche machen, wie della Volpe vorauszusetzen scheint, die theoretische Fragwürdigkeit der »Dialektik der Auf­ klärung« aus, sondern erst der geschichtsphilosophische Rahmen, innerhalb dessen sie hier zum Tragen kommen. Nicht anders als das interdisziplinäre Forschungsprogramm der dreißiger Jahre ist auch das theoretische Werk Horkhcimcrs und Adornos in den vierziger Jahren von einer Geschichtsphilosophie bestimmt, die den historischen Prozeß auf die eine Dimension der Naturbcarbeitung hin verkürzt. Zwar treten die bewußtseinsphi­ losophischen Prämissen, die einem solchen theoretischen Reduktionismus zugrunde liegen, nun in ncgativistischer Gestalt auf; diese normative Umwertung aber läßt die kategorialen Denk­ zwänge, die von jenen Prämissen ausgehen, im Prinzip unangeta­ stet. Daher sind Horkhcimer und Adorno auch in der »Dialektik der Aufklärung« dazu genötigt, alle sozialen Handlungen und Vorgänge nach demselben Muster der instrumentalen Verfügung eines Subjekts über ein Objekt denken zu müssen; das allein, und nicht schon die romantischen Traditionsqucllen, aus denen sie schöpfen,, verschafft ihnen die Möglichkeit, für die drei Dimen­ sionen der gesellschaftlichen Arbeit, der individuellen Sozialisa­ tion und schließlich der sozialen Herrschaft die Wirksamkeit ein und derselben »Logik der Verdinglichung« zu behaupten. Nur weil Horkheimer und Adorno, wie im einzelnen sich zeigen ließe, sowohl den Vorgang der individuellen Bedürfnisbildung als auch den Prozeß der sozialen Herrschaftsausübung bereits vorweg nach dem Modell von instrumentellen Verfügungshandlungen konzipiert haben, können sie im nachhinein so mühelos den Zivi­ lisationsprozeß im ganzen von derselben instrumentellen Ratio-

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nalität beherrscht sehen, die dem Akt der Naturbeherrschung tatsächlich zugrunde liegt.8 Diesem geschichtsphilosophischen Reduktionismus fallen, wie das nicht überraschen kann, alle kreativen Eigenleistungen der interagierenden Subjekte und Gruppen zum Opfer; aus der Be­ trachtung des Zivilisationsprozesses bleibt die gesamte Sphäre der kommunikativen Alltagspraxis so entschieden ausgespart, daß die sozialen Fortschritte, die darin sich zugetragen haben, nicht in den Blick geraten können. Die Leugnung einer anderen Dimen­ sion des zivilisatorischen Fortschritts, die nicht in einer Steige­ rung der Produktivkräfte, sondern in einer Erweiterung rechtli­ cher Freiheiten und individueller Handlungsspielräume zum Ausdruck gelangt, ist die eine Konsequenz, zu der die »Dialektik der Aufklärung« nötigt (Habermas 1985, Kap.v); eine zweite Konsequenz ist methodologischer Art und von nicht geringerem Gewicht für die Fortentwicklung der kritischen Theorie. Horkheimer und Adorno setzen die geschichtsphilosophische Kritik der Naturbeherrschung nun so allgemein an, daß sie jede Form wissenschaftlicher Erkenntnis, also auch die sozialwissenschaftli­ che Forschung, als ein Element in den Prozeß der zivilisatori­ schen Verdinglichung einbezogen wissen müssen; daher sind sie gezwungen, die kritische Gesellschaftstheorie wieder aus der Umklammerung der empirischen Sozialwissenschaften zu lösen und in die alleinige Verantwortung der Philosophie zurückzuge­ ben. Mit der »Dialektik der Aufklärung« kehrt die kritische Theorie in die Sphäre einer philosophisch selbstgenügsamen Theorie zurück, aus der sie sich ursprünglich mit dem methodo­ logischen Vorstoß in die interdisziplinäre Sozialforschung gerade hatte lösen wollen; von nun an klafft, auch in der Nachkriegszeit, zwischen der philosophischen und der sozialwissenschaftlichen Arbeit am Institut wieder ein systematisch unüberbrückbarer Graben. Er wird durch die philosophischen Untersuchungen, in denen Adorno und Horkheimer ihr gemeinsames Unternehmen auf eigenständige Weise fortsetzen, die »Negative Dialektik« und die »Kritik der instrumentellen Vernunft«, später noch einmal weiter vertieft (Dubiel 1978; für die Nachkriegszeit Adorno 1966; Horkheimer 1967).

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8 Hierzu Honneth 1985, Kap. 2. Eine höchst interessante Gegeninterpre­ tation findet sich bei Arnason 1986a.

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in. Alternativen: der äußere Kreis

Hinter der überragenden Bedeutung, die den Schriften Horkheimers, Adornos und Marcuses für das öffentliche Bild der kriti­ schen Theorie zukommt, treten bis heute die wissenschaftlichen Arbeiten derer zurück, die dem Institut nur kurzzeitig oder indi­ rekt, in jedem Fall aber lockerer verbunden waren.9 Läßt sich schon jene Gruppe von festen Institutsmitgliedern nur schwerlich als ein einheitlicher Forschungszirkel charakterisieren, so erst recht dieser Kreis von drei, vier Autoren, die zwar alle gewichtige Untersuchungen in den Forschungszusammenhang des Instituts einbrachten, aber in ihrer wissenschaftlichen Identität nie mit dessen Programm und Tradition zusammenwuchsen. Es ist daher vorweg nur ihre gemeinsame Randstellung, die Franz Neumann und Otto Kirchheimer, Walter Benjamin und auch Erich Fromm im Rückblick zu einer Gruppe zusammenkommen läßt; sie als einen »äußeren Kreis« einem aus Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal und Pollock gebildeten »inneren Kreis« des Instituts gegenüberzustellcn, entbehrt zunächst jeder interpretatorischen Grundlage. In soziologischer, gar in sozialphilosophischer Hin­ sicht ist den vier Autoren auf den ersten Blick nichts gemeinsam: Neumann und Kirchheimer, beide als Rechtswissenschaftlcr aus­ gebildet und politisch in der deutschen Sozialdemokratie großge­ worden, tragen im New Yorker Exil mit rechts- und staatstheore­ tischen Untersuchungen zur Institutsarbeit bei (Luthardt 1976; Söllner 1978, 1979, S. 86 ff.); Benjamin, ein eigenständiger Den­ ker, wie wenige sich finden in unserem Jahrhundert, wird vom Institut bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1940 unregelmäßig mit Studien beauftragt, die literatur- und kulturtheoretische Frage­ stellungen zum Thema haben (Wolin 1985; Witte 1985); Fromm schließlich, zunächst ja ein enger Mitarbeiter Horkheimers und dem Institutsprogramm voll und ganz verpflichtet, schlägt im New Yorker Exil neue Wege in der Interpretation der Psycho­ analyse ein, die im Jahre 1939 sogar den Bruch mit dem Institut zur Folge haben (Bonß 1982a). Nicht also in der theoretischen 9 Im folgenden gehe ich von einer Unterscheidung aus, die Habermas in seiner Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie eingeführt hat (Habermas 19812, Bd. II, S. 558); dieser eher lockeren Differenzierung zwischen einem »engeren« und einem »äußeren« Kreis des Instituts versuche ich eine systematische Wendung zu geben. 45

Orientierung oder in der thematischen Ausrichtung korrespon­ dieren diese unterschiedlichen Arbeiten miteinander; was sie untergründig gleichwohl verbindet, sind die Denkmotive, die sie gemeinsam über das funktionalistische Bezugssystem des ur­ sprünglichen Institutsprogramms hinausgehen lassen. Am marxi­ stischen Funktionalismus entzündet sich der Widerspruchsgeist aller vier Autoren; gegen ihn bringen sie unabhängig voneinander Überlegungen zur Geltung, die in einer Aufwertung der kommu­ nikativen Eigenleistungen von Individuen und Gruppen konver­ gieren. Dieser gemeinsame Denkimpuls, in dem alles auf eine Überwindung des geschichtsphilosophischen Reduktionismus drängt, der in den kategorialen Prämissen des Marxismus angelegt ist, kommt zwar in keiner der Arbeiten ausdrücklich zu Wort; er tritt aber überall dort in Erscheinung, wo sich theoretische Aus­ einandersetzungen zwischen Vertretern der beiden Gruppen in­ nerhalb des Instituts abzuzeichnen beginnen. Nicht zufällige Di­ vergenzen in der Gegenstandsauffassung, sondern systematische Differenzen im gesellschaftstheoretischen Ansatz sind es, die in solchen Fällen den inneren von dem äußeren Kreis trennen. Die rechts- und staatswissenschaftlichen Kenntnisse Neumanns und Kirchheimcrs sind in verschiedenen Untersuchungen zur politischen Integrationsform spätkapitalistischer Gesellschaften fruchtbar geworden. Ihre wissenschaftliche Herkunft hat beide von Anfang an mit der Tatsache vertraut sein lassen, daß das Recht ein zentrales Steuerungsmedium der bürgerlichen Gesell­ schaft ist; in rechtsstaatlichen Regelungen erkennen sie die sozial verallgemeinerten Inhalte eines politischen Kompromisses an, auf den sich unter privatkapitalistischen Bedingungen die mit unter­ schiedlicher Macht ausgestatteten Klassen jeweils geeinigt haben. Diese gesellschaftsthcoretische Prämisse stellt den Hintergrund für die Analysen dar, in denen Neumann ebenso wie Kirchheimer die rcchtsstaatlichen Formveränderungen untersucht, die mit dem ökonomischen Strukturwandel des Kapitalismus cinhergehen (Kirchheimer 1976; Neumann 1978a). Das Thema, über das sie gemeinsam schließlich mit der Instituts­ leitung in Konflikt geraten, ergibt sich aus der Frage, welche Organisationsprinzipien es sind, die der neuen Herrschaftsord­ nung des Nationalsozialismus zugrunde liegen. Neumann und Kirchheimer setzen der Staatskapitalismus-These, in der Horkheimer und Pollock eine Antwort auf diese Frage gefunden zu

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haben glauben, empirisch begründete Zweifel entgegen; die so­ zialwissenschaftlichen Untersuchungen, die sic aus dem amerika­ nischen Exil heraus über die Verhältnisse in Deutschland durch­ führen (Kirchheimer 1976b und 1976c; Neumann 1978b), wie aber auch die praktisch-politischen Erfahrungen, die sie am Ende der Weimarer Republik haben sammeln können, lassen sie von einem ungebrochenen Primat der privatkapitalistischen Verwer­ tungsimperative gegenüber den staatlichen Steuerungsleistungen überzeugt sein. Die These Pollocks, derzufolge im Nationalsozia­ lismus die gesamtwirtschaftliche Steuerung vom Markt auf eine zentralisierte Verwaltungsbürokratie übergegangen sei, können sich Neumann und Kirchheimer daher nicht zu eigen machen; sie vertreten vielmehr die Auffassung, daß auch der Faschismus nicht die Funktionsgesetzc des kapitalistischen Marktes als solche au­ ßer Kraft gesetzt, sondern nur unter die zusätzliche Kontrolle von politisch-totalitären Zwangsmaßnahmen genommen hat. Im Begriff der »totalitären Monopolwirtschaft«, den Neumann in seiner Untersuchung »Behemoth« dem Begriff des Staatskapita­ lismus programmatisch entgegensetzt (Neumann 1977; Wilson 1982; Erd 1984), ist diese These mit der Lehre vom politischen Kompromiß in einer einzigen Formel zusammengebracht; sic soll besagen, daß sich die nationalsozialistische Herrschaft in Form einer sozial eingeschränkten, von rechtsstaatlichen Bindungen freigesetzten Kompromißbildung vollzieht, in der sich die Par­ tei-, Wirtschafts- und Verwaltungseliten jeweils auf politische Maßnahmen einigen, die letztlich eine Verbesserung der mono­ polistischen Profitchancen zum Ziel haben. Nicht nur die empirischen Erkenntnisse allein sind es freilich, die Neumann und Kirchheimer den Weg dieser inzwischen weitge­ hend bestätigten Faschismusanalyse einschlagen lassen; was zur Überlegenheit ihrer Auffassung gegenüber der Staatskapitalis­ mus-These ebenso beiträgt, sind die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen, die in ihre Untersuchungen stillschweigend ein­ fließen.10 Neumann und Kirchheimer nehmen die gesellschaftli­ che Ordnung von vornherein aus einer anderen Perspektive als derjenigen wahr, die im engeren Kreis um Horkheimer vor­ herrscht; die soziale Integration stellt für sic einen Prozeß dar, 10 Die Überlegenheit der Faschismusanalyse Neumanns und Kirchheimers gegenüber der Staatskapitalismus-Theorie arbeiten v.a. Schäfer 1977 und Wilson 1982 heraus.

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der sich nicht einfach über die bewußtlos bleibende Erfüllung gesellschaftlicher Funktionsimperative, sondern auf dem Weg ei­ ner politischen Kommunikation zwischen den sozialen Gruppen vollzieht. Die Befassung mit Fragen des Rechtsstaates hatte Neu­ mann und Kirchhcimer zunächst mit dem Phänomen der politi­ schen Legitimität konfrontiert; daraus erwächst die Einsicht, daß die Verfassungsordnung einer Gesellschaft stets der Ausdruck eines verallgcmeinerbaren Kompromisses oder Konsenses zwi­ schen den politischen Kräften ist. Die aktive Teilnahme an den Klassenauseinandersetzungen, die die Weimarer Republik prä­ gen, führt zur realistischen Einschätzung des »Kräfteverhältnisses der sozialen Interessen« (Kirchhcimer i9/6d); nicht hoch genug ist das Machtpotential zu veranschlagen, das aus der privatkapita­ listischen Verfügung über die Produktionsmittel erwächst. Die Beschäftigung mit dem Austromarxismus schließlich eröffnet bei­ den den Kompromißcharakter einer gesellschaftlichen Ordnung im ganzen; die institutionellen Gebilde einer Gesellschaft sind gar nicht anders denn als momentane Fixierungen der sozialen Ver­ einbarungen zu verstehen, auf die sich die verschiedenen Interes­ sengruppen entsprechend ihrem jeweiligen Machtpotential ein­ lassen.11 Das alles formt im Denken Neumanns und Kirchheimers ein Konzept der Gesellschaft, in dessen Zentrum der übergreifende Prozeß einer Kommunikation zwischen den sozialen Gruppen steht; es verhindert nicht nur die unkritische Übernahme von Vorstellungen, die alle gesellschaftlichen Gruppen restlos in die soziale Ordnung integriert sehen (Neumann 1977), sondern setzt vor allem jenem marxistischen Funktionalismus Barrieren entge­ gen, zu dem Horkheimer und seine Mitarbeiter neigten. Ihren Ausgang nehmen die empirischen Analysen von Neumann und Kirchhcimer stets bei den Interessen und Orientierungen, die die sozialen Gruppen auf der Basis ihrer Klassenlage von sich aus in die gesellschaftliche Reproduktion einbringen; aus dem kommu­ nikativen Prozeß, in dem die verschiedenen Gruppen unter Aus­ nutzung ihres jeweiligen Machtpotentials diese Interessen unter11 Vgl. die Hinweise in Söllner 1979, S. 101 ff.; der Einfluß des Austro­ marxismus auf die sozialistische Staats- und Rechtstheorie der Weima­ rer Republik ist nicht gut untersucht; einen ersten Ansatz, allerdings unter Aussparung von Neumann und Kirchheimer, bieten Storm und Walter 1984.

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einander aushandcln, geht dann der brüchige Kompromiß hervor, der in der institutionellen Verfassung einer Gesellschaft zum Ausdruck gelangt. Weil sowohl Neumann als auch Kirchhcimer so denken, können beide nicht annehmen, daß sich die gesell­ schaftliche Integration auf dem Weg eines Steuerungsprozcsscs vollzieht, der durch die symbolisch vermittelten Interessen und Orientierungen der sozialen Gruppen einfach hindurchgreift. Für sie beide sind es die gruppenspezifischen Handlungsperspcktiven, und nicht die systemisch erzeugten Triebmotive, die das soziale Element bilden, aus dem der Integrationsprozeß einer Gesell­ schaft sich formt. Weder also der marxistische Funktionalismus noch auch die Annahme eines total gewordenen Verblcndungszusammenhangs konnten die Sache Neumanns und Kirchheimers sein. Aber auch den Tendenzen zu einem machttheoretischen Zentralismus schließlich, die sich bei Horkheimer und seinen Mitarbeitern finden, weil sie den totalitären Staat als ein homoge­ nes Machtzentrum betrachten, müssen Neumann und Kirchheimer schon aus gesellschaftsthcoretischen Gründen widerstehen; ihnen ist die Annahme selbstverständlich, daß die staatliche Herr­ schaft immer aus einer Verflechtung der Machtpotentiale unter­ schiedlicher Interessengruppen hervorwächst (v. a. Marramao 1982; zur Fortentwicklung der »Verflechtungstheorie« in der Nachkriegszeit: Buchstein und Schlöer 1983). Die Überlegenheit des gesellschaftstheoretischen Ansatzes, der sich bei Neumann und Kirchhcimer eher implizit als ausgearbeitet findet, hat sich im empirischen Reichtum und der sachlichen Differenziertheit ihrer Faschismusanalysen bezahlt gemacht; gerade darin, daß sie auch die totalitäre Herrschaft aus einem Zusammenspiel rivalisierender Interessengruppen erklären, sind sie bis heute von Wert. Nur in einem einzigen Punkt berührt sich der Denkweg Benja­ mins mit den gesellschaftstheorctischen Auffassungen Neumanns und Kirchheimers; auch ihm ist die Auseinandersetzung der so­ zialen Klassen sowohl eine stets lebendige Erfahrung wie zugleich eine theoretische Prämisse jeder Kultur- und Gesellschaftsana­ lyse. Benjamins Interesse ist freilich weniger auf eine soziologi­ sche Untersuchung der Gesellschaft als auf eine geschichtsphilo­ sophische Diagnose der Gegenwart gerichtet; das treibende Mo­ tiv dieser Geschichtsphilosophie stellt die Idee einer Erlösung des Menschen von der Schuld der sozialen Unterdrückung und Herr­ schaft dar, ihre zentralen Einsichten schöpft sie aus der Tradition 49

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des jüdischen Messianismus, ihr gesellschaftstheoretischer Blick schließlich ist durch die Erkenntnisse des historischen Materialis­ mus geformt.12 Als ein Denker, der in seinen Arbeiten die unter­ schiedlichsten Theorietraditionen zusammenführt, steht Benja­ min der kritischen Theorie so nah oder so fern wie zur gleichen Zeit der jüdischen Hermeneutik Gershom Scholems und der ma­ terialistischen Literaturtheorie Bert Brechts; mit Adorno verbin­ det ihn allerdings von Anbeginn an das Interesse an der Kunst als einer theoretischen Erkenntnisquclle (Buck-Morss 1977), mit Siegfried Kracauer die Vorliebe für eine mikrologische Analyse der Alltagskultur (Zohlen 1980). Zur Auseinandersetzung mit den leitenden Mitarbeitern des In­ stituts kommt es in der Frage, welche sozialen und kulturellen Wirkungen von den neuen Medien der modernen Massenkultur ausgehen. Wie Adorno und Horkheimer, so nimmt auch Benja­ min die Entstehung der Kulturindustrie zunächst als einen Pro­ zeß der Zerstörung des autonomen Kunstwerks wahr: dadurch, daß die Produkte künstlerischer Arbeit in zunehmendem Maße technisch reproduzierbar geworden sind, verlieren sie jene kulti­ sche Aura, die sie zuvor wie ein Heiligtum aus der profanen Alltagswelt des Betrachters heraushob (Benjamin 1974; zur De­ batte Adorno-Benjamin: Buck-Morss 1977, Kap. 9 und 10). Die technischen Medien des Films, des Hörfunks und der Photogra­ phie reißen die auratische Umfriedung des Kunstproduktes ein und setzen es einer distanzlosen Betrachtung durch das Publikum aus; die kontemplative Form des einsamen Kunstgenusses wird durch öffentliche Weisen des kollektiven Kunsterlebnisses ver­ drängt. Nicht an der Feststellung dieser kulturellen Entwick­ lungstendenzen selbst also, sondern an der Einschätzung des durch sie bewirkten Rezeptionsverhaltens entzünden sich nun die Meinungsverschiedenheiten im Institut. Adorno erblickt in der Zerstörung der ästhetischen Aura einen Prozeß, der dem Betrach­ ter das Perzeptionsmuster eines passiv-reflexionslosen Konsu­ menten aufzwingt und damit ästhetische Erfahrungen als solche verunmöglicht; die mit den neuen Reproduktionstechniken ent­ standene Massenkunst stellt für ihn nichts anderes als eine »Ent12 Es gibt wenige Untersuchungen über Benjamin, denen es gelingt, die Einheit seines vielschichtigen Denkens herauszuarbeiten; von großer Bedeutung ist hier Habermas 1981c; vgl. auch Tiedemann 1973.



kunstung der Kunst« dar (Adorno 1938).13 Benjamin hingegen sieht in der technisierten Massenkunst vor allem die Möglichkeit von neuen Formen der kollektiven Wahrnehmung angelegt; er setzt seine ganze Hoffnung darauf, daß im distanzlosen Kunst­ erlebnis des Kollektivs jene Erleuchtungen und Erfahrungen auf profane Weise vollzogen werden, die bislang nur im esoterischen Prozeß des einsamen Kunstgenusses sich einzustellen vermochten. Wie schon in der Debatte um die Staatskapitalismus-These, so sind es auch im Falle dieser Kontroverse weniger die empirischen Behauptungen im einzelnen, die heute noch Interesse verdienen; die tatsächlich eingetretene Entwicklung, aber auch der interna­ tionale Forschungsstand haben sie inzwischen weitgehend veral­ ten lassen (Kellner 1982). Instruktiv aber sind die gesellschafts­ theoretischen Überzeugungen, die sich hinter den konkurrieren­ den Positionen jeweils verbergen; an ihnen zeigt sich nämlich, daß Benjamin und Adorno zu einer unterschiedlichen Einschät­ zung der technisierten Massenkultur nur gelangen, weil sie impli­ zit von verschiedenen Konzepten der sozialen Integration ausge­ hen. Nicht nur ein unbeirrbares Beharren auf dem Erkenntnis­ wert allein des esoterischen Kunstwerks, sondern auch die Vor­ aussetzung eines geschlossenen Funktionalismus haben Adorno zu einer strikten Ablehnung der neuen Kunstformen kommen lassen; er ist dermaßen von der Vorstellung eines systemischen, durch alle kulturellen Lebenszusammenhänge hindurchgreifen­ den Steuerungsprozesses der Gesellschaft präokkupiert, daß er den sozialen Gruppen gar nicht die kreativen Leistungen zu­ trauen kann, die nötig wären, um an den technisierten Künsten spontan neue Formen der Welterschließung zu erlernen (Honneth 1985, Kap. 3). Adornos Theorie der zeitgenössischen Gesell­ schaft nimmt ihren Ausgang, wie wir sehen konnten, von der Behauptung einer total gewordenen Systemintegration; daher kann er die Medien der Kulturindustrie im ganzen nur als ein Mittel der Herrschaftssteuerung betrachten und muß die populä­ ren Formen des Kunstgenusses als psychische Regressionser­ scheinungen bewerten. Mit den Prämissen dieser Deutung aber kann Benjamin nicht einverstanden sein; denn er läßt sich, wenn nicht direkt von einem alternativen Modell der Sozialintegration, ij

Unter diesem Stichwort betrachtet Adorno später auch die Kultur­ industrie in seiner »Ästhetischen Theorie« (Adorno 1972b). 51

so doch von anderen Vorstellungen über die Zusammensetzung der sozialen Erfahrungen leiten. Danach kommt den sozialen Gruppen und Klassen eine Fähigkeit zur kollektiven Imagination zu, die sich in gemeinsamen Wahrnehmungserlebnissen und Er­ fahrungsgehalten Ausdruck verschafft; in diese kollektiven Wahrnehmungswelten sind stets phantasiegeladene Bilder mit eingesprengt, die schockartige Einsichten über den Schuld- und Erlösungszusammenhang der menschlichen Geschichte enthal­ ten. Benjamin gelangt zu dieser Vorstellung einer bildnerischen Phantasie der sozialen Gruppen auf dem Weg einer eigensinnigen Rezeption der anthropologischen Theorie von Ludwig Klages auf der einen Seite, der Mythoskonzeption von Georges Sorel auf der anderen Seite; freilich bringt er beide theoretischen Elemente zu­ sätzlich mit Erkenntnissen zusammen, die die Bedeutung der so­ zialen Interaktionsformen für die Konstitution kollektiver Erfah­ rungen hervorheben.H Als Kulturtheoretiker ist Benjamin daher primär an den Veränderungen interessiert, die der Prozeß der kapitalistischen Modernisierung an den Strukturen der sozialen Interaktion, an den narrativen Formen des Erfahrungsaustau­ sches und den räumlichen Bedingungen der Kommunikation her­ vorgerufen hat; denn sie legen die sozialen Bedingungen fest, unter denen die historische Vergangenheit in die bildnerische Phantasie der Massen tritt und dort aktuelle Bedeutung erlangt. Aus einer solchen Perspektive, die nicht nur für einzelne Ab­ handlungen Benjamins, sondern auch für eine Reihe seiner Re­ zensionen bestimmend ist, ergeben sich nun zwangsläufig die Bruchstücke eines anderen Bildes der sozialen Integration: die Erfahrungswelten der verschiedenen Gruppen und Kollektive stellen darin weniger ein bloßes Material von Herrschaft als viel­ mehr die eigensinnigen Kräfte selbst dar, aus denen die Bewegung des sozialen Lebens hervorgeht.15

14 Benjamin hat sich auf die anthropologische Lehre von Ludwig Klages, vor allem die Konzeption der bildnerischen Phantasie und des Traum­ bewußtseins, immer wieder zurückbezogen (Benjamin 1985a). Zum Gesamtkomplex als eine erste, noch unzureichende Analyse: Fuld 1981. Zur Rezeption Sorcls v.a. Benjamin 1977a. 1$ Zu Ansätzen einer Geschichte der Kommunikationsformen vgl. etwa Benjamin 1977b; Benjamins Interesse für klassenspezifische Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen läßt sich bis in seine Rezensionen hinein verfolgen (Benjamin 1972 und 1985b).

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Benjamin denkt, wenn diese wenigen Hinweise zutreffen, nicht funktionalistisch. Zwar ist er kein Gescllschaftstheoretiker im strikten Sinn; an einer Erklärung der Mechanismen der Vergesell­ schaftung ist er kaum interessiert. Aber in seine Kulturanalysen sind immerhin genügend gesellschaftstheoretische Elemente ein­ gelassen, die zu erkennen geben, inwiefern seine Vorstellungen über den funktionalistischen Denkhorizont des Instituts hinaus­ weisen. Für Benjamin können die sozioökonomischen Bedingun­ gen einer Gesellschaft, die Formen des Warentausches und der Produktion, nur das Material darstellen, an dem die bildnerischen Phantasien der sozialen Gruppen sich entzünden; die gesell­ schaftlichen Erfahrungen sind gerade nicht bloß die triebdyna­ misch gespeisten Abbildungen sozialer Funktionsimperative, sondern die selbständigen Ausdrucksformen einer Fähigkeit zur kollektiven Imagination. Daher ist auch die soziale Integration nicht einfach als ein Prozeß zu begreifen, der sich auf dem Weg einer administrativen Steuerung von individuellen Einstellungen und Orientierungen vollzieht; vielmehr repräsentieren die indivi­ duellen Orientierungshorizonte immer auch Ausschnitte aus je­ nen gruppenspezifischen Erfahrungswelten, die sich in Prozessen des kommunikativen Verkehrs eigensinnig bilden und von den Kräften einer bildnerischen Phantasie leben. Diese kollektiven Erfahrungswelten stehen untereinander in einem Verhältnis des Konfliktes, dessen jeweilige historische Gestalt den Verlauf der gesellschaftlichen Reproduktion mitbestimmt; ja, Benjamin läßt keinen Zweifel daran, daß es der kulturelle Kampf der sozialen Klassen selbst ist, der über die Integrationsfähigkeit der Gesell­ schaft entscheidet. Das schließlich gibt auch das Motiv ab, das Benjamin zu einer anderen Bewertung der modernen Massen­ kunst kommen läßt als Adorno: weil er, anders als dieser, auch den unterdrückten Gruppen eine Fähigkeit zur schöpferischen Wahrnehmung noch zutraut, kann er alle Hoffnung darauf set­ zen, daß die technisierten Kunstformen ungeahnte Potentiale der kollektiven Phantasie entfesseln und damit zu einer Politisierung der Ästhetik führen (vgl. Wellmer 1985, bes.S.41 ff.). Wie Neumann und Kirchheimer von der politiktheoretischen Seite aus, so entwickelt Benjamin von der kulturthcoretischen Seite aus Vorstellungen und Überlegungen, die den funktionali­ stischen Bczugsrahmen der kritischen Theorie sprengen; in bei­ den Fällen führt der Weg, auf dem dies geschieht, nicht nur zu 53

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einer differenzierten Einschätzung der Integrationsformen des Kapitalismus, sondern auch schon zu ersten Einblicken in die kommunikative Infrastruktur von Gesellschaften. Die Tatsache, daß gesellschaftliche Lebenszusammenhänge sich über Prozesse der sozialen Interaktion integrieren, bleibt weder Neumann und Kirchheimer noch Benjamin länger verborgen; in der Lehre vom politischen Kompromiß, die die beiden Rechtstheorctiker ausar­ beiten, wie in dem kultursoziologischen Begriff der sozialen Er­ fahrung, den Benjamin entfaltet, sind kommunikationsthcoretische Einsichten dieser Art vorweggenommen. Keiner von ihnen jedoch macht sie zur Grundlage einer eigenständigen Theorie der Gesellschaft. Daher auch können die antifunktionalistischen Ele­ mente, die sich in ihren materialen Arbeiten finden, nicht bis zu jenem Allgemeinheitsniveau heranreifen, auf dem sie in eine expli­ zite Kritik des marxistischen Funktionalismus hätten umgesetzt werden können; so verbleiben die soziologisch produktivsten Ein­ sichten, die im Rahmen des »Instituts für Sozialforschung« ge­ wonnen wurden, im Schatten jenes philosophisch anspruchsvol­ len, sozialwissenschaftlich aber unfruchtbaren Denkmodells, das die Mitglieder des »inneren Kreises« erarbeitet hatten. Im Denken Erich Fromms schließlich bahnen sich kommunikationstheoretischc Einsichten nicht im makrosoziologischcn, son­ dern im mikrosoziologischen Bereich an; er gelangt zu einer Überwindung des funktionalistischen Denkhorizonts, in dem er sich am Institut ursprünglich ja selbst bewegt hatte, auf dem Weg einer Uminterpretation der Psychoanalyse. Den Anstoß dazu er­ hält er im amerikanischen Exil, in das ihn 1934 der Faschismus verschlagen hatte; dort lernt er, zunächst noch dem nach New York umgesiedeltcn Institut verbunden, die Schriften jener Auto­ ren kennen, die sich um eine interaktionistische Revision der psy­ choanalytischen Grundannahmen bemühten. Fromm nimmt die Anregungen, die von dieser um Karen Horney und Harry StuckSullivan versammelten Denkströmung ausgehen (Fagcs 1981), be­ reitwillig und schnell auf, um mit ihrer Hilfe seinen sozialpsycho­ logischen Ansatz theoretisch zu differenzieren; als Ergebnis sei­ ner Umarbeitungen entsteht das 1941 publizierte Buch »Escape from Freedom«, in dem die Herausbildung bürgerlicher Charak­ terzüge im Rahmen einer nun grundsätzlich veränderten Konzep­ tion der Psychoanalyse untersucht wird. Den Kern der neuen Auffassung stellt eine Revision der psychoanalytischen Trieb54

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theoric dar. Fromm setzt an die Stelle, die in der Freudschen Lehre die Hypothese einer fixen, libidinös zentrierten Trieb­ struktur eingenommen hatte, die Annahme einer plastischen An­ triebnatur des Menschen; zu den Triebregungen, die das mensch­ liche Bediirfnislebcn ausmachen, rechnet er neben den »Sclbsterhaltungsbestrebungen« auch die »Sozialtriebe« (Fromm 1983, Kap. 1). Diese beiden Grundtricbe bilden ein Antriebspotential, das als natürliches Substrat in jeden Prozeß der gesellschaftlichen Sozialisation cingeht; im Medium sozialer Interaktionen vollzieht sich hier die Formung der inneren Natur zu historisch einzigarti­ gen Charakterzügen (Fromm 1983, Kap. 2). Mit diesen grundsätzlichen Überlegungen hat Fromm sich von dem geschlossenen Funktionalismus getrennt, der seinen ur­ sprünglichen Ansatz innerhalb der Sozialpsychologie geprägt hatte; er räumt der gesellschaftlichen Interaktion nun nicht nur einen eigensinnigen Stellenwert im Sozialisationsprozeß ein, son­ dern mißt ihr überdies noch, wenn auch in der unglücklichen Form einer Triebthcorie, die Rolle einer konstitutiven Antriebs­ kraft der sozialen Entwicklung zu. Zwar behält Fromm die »milieuthcoretische« Grundorientierung seiner früheren Untersu­ chungen bei; weiterhin nämlich betrachtet er die Charakterent­ wicklung primär als eine »dynamische Anpassung« des individu­ ellen Antriebspotentials an die Verhaltensimperative, die in den soziokulturellen Milieus der verschiedenen Klassen eingelassen sind (Bonß 1982a). Weil er jetzt aber den Sozialisierungsvorgang insgesamt als einen Prozeß der kommunikativen Individuierung begreift, kann er nicht länger annehmen, daß sich jene sozialen Einflüsse und Erwartungen vollkommen ungebrochen in der in­ dividuellen Charakterstruktur niedcrschlagen; die Verhaltensan­ forderungen der Gesellschaft wirken vielmehr nur durch ein Me­ dium hindurch, das seiner ganzen Struktur nach auf die Autono­ mie des Subjekts angelegt ist (Fromm 1983, Kap. 2). Die IchEntwicklung vollzieht sich daher prinzipiell in der Verschrän­ kung von zunehmender Individuierung und wachsender Verge­ sellschaftung. Auf den theoretischen Neuansatz Fromms haben im Institut vor allem Adorno und Marcuse reagiert; freilich entwickeln sie ihre Kritik erst, nachdem jener das Institut schon aus eher persönli­ chen Motiven verlassen hat (Jay 1976, S. t3off.; Bonß 1982a). Es sind weniger die interaktionistischen Elemente in der neuen

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Theorie Fromms als ihre triebtheoretischen Revisionen, die im engeren Kreis der Institutsmitglicder auf Widerspruch stoßen. Die Preisgabe der Freudschen Libidotheorie nehmen Adorno und Marcuse als den gemeinsamen Grundzug und den verräteri­ schen Kern des neoanalytischen Revisionismus wahr, darin er­ blicken sie eine theoretische Anpassung der Psychoanalyse an die Zwecke einer konformistischen Therapie (Adorno 1972c; Marcusc 1979, bes. S. 203 ff.; Jacoby 1978). Dieser Tendenz gegen­ über machen beide den orthodoxen Gehalt der Freudschen Trieb­ theorie geltend; während Adorno sich dabei jedoch primär auf den Freudschen Dualismus von Sexual- und Todestrieb bezieht, knüpft Marcuse in seiner Deutung der Psychoanalyse an die äs­ thetisch-revolutionären Potentiale der Libidothcrapie an (Bonß 1982a). Für das Verhältnis von Psychoanalyse und kritischer Theorie ist damit die Auseinandersetzung um den Stellenwert und den Gehalt der Freudschen Triebtheorie von zentraler Be­ deutung geworden; hinter sie trat der sozialisationstheoretische Neuansatz Fromms, der den eigentlich fruchtbaren Kern seiner Revision der Psychoanalyse ausmacht, von Anfang an zurück. Den Interaktionismus, der als eine gemeinsame Orientierung dem neoanalytischen Revisionismus zugrunde liegt, haben weder Adorno noch Marcuse je als eine theoretische Herausforderung emstgenommen; die sozialisationsthcoretischen Prämissen ihrer eigenen Psychoanalysedeutungen konnten daher lange Zeit ver­ borgen bleiben und treten erst heute in ihren problematischen Zügen ans Licht (J.Benjamin 1977 und 1988; Honneth 1985,

S. 99 ff.).

iv. Konsequenzen: Überwindung des marxistischen Funktionalismus

Auf die Fortentwicklung der kritischen Theorie sind die For­ schungsarbeiten des »äußeren Kreises«, die allesamt zu einer Überwindung des marxistischen Funktionalismus hätten beitra­ gen können, ohne Einfluß geblieben; nach dem n. Weltkrieg aber ist der institutionelle Arbeitszusammenhang mit den drei Überle­ benden jenes Kreises, mit Neumann, Kirchheimer und Fromm, endgültig zerrissen. Allerdings haben sich Adorno und Horkhei-

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mer damals nicht nur von einigen ihrer produktivsten Mitarbeiter längst getrennt, sondern in gewisser Weise auch von ihrer eigenen Vorgeschichte: als das »Institut für Sozialforschung« im Jahre 1950 in Frankfurt wiedereröffnet wird, nimmt es seine For­ schungstätigkeit ohne direkten Anschluß an das sozialphilosophi­ sche Selbstverständnis der dreißiger und vierziger Jahre wieder auf. Zwischen den empirischen Studien, die fortan am Institut erarbeitet werden, und den philosophisch-kulturkritischen For­ schungen, in denen Horkheimer, Adorno und der in den USA gebliebene Marcuse ihre ursprünglichen Bemühungen fortsetzen, besteht kein innerer Zusammenhang mehr. Als ein einheitlicher, philosophisch integrierter Schulzusammcnhang ist die kritische Theorie von nun an zerfallen. Während sich für die empirischen Forschungsprojekte des Pro­ jektes kaum noch ein gemeinsamer Nenner ausmachen läßt, stellte die Idee einer »total verwalteten Welt« einen solchen ein­ heitlichen Bezugspunkt zunächst noch für die sozialphilosophischcn Arbeiten dar.16 Wie ein Leitmotiv durchzieht diese Idee die kulturkritischen Studien von Horkheimer, Adorno und Marcuse (Horkheimer 1985, Bd. 7 und 8; Adorno 1972a, Bd.8; Marcuse 1963); darin ist die zentrale Prämisse der StaatskapitalismusTheorie zum allgemeinen Bezugsrahmen einer Analyse des Nach­ kriegskapitalismus geworden. Die totalitarismustheoretische Per­ spektive, die schon das Gesellschaftsbild der »Dialektik der Auf­ klärung« geprägt hatte, bestimmt mithin auch jetzt die zeitdia­ gnostischen Untersuchungen: das gesellschaftliche Leben scheint, weil administrative Sozialkontrolle und individuelle Anpassungs­ bereitschaft nahtlos ineinandergreifen, in ein stabiles, unangreif­ bar gewordenes Zwangssystem integriert. Freilich ziehen die drei Autoren aus ihren weitgehend übereinstimmenden Gegenwarts­ diagnosen die unterschiedlichsten Konsequenzen für das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie: Im Denken Horkheimers vertieft sich ein von Schopenhauer abstammender Pessimismus, der ihn von Anbeginn an begleitet hatte, bis an den Punkt des Umschlags in eine negative Theologie (Schmid Noerr 1985; Ha-

16 Schon damals zeichnet sich eine Schwerpunktbildung in der Industrie­ soziologie ab (Institut für Sozialforschung (Hrsg.) 1955 ff., 1956a, 1956b), die in den siebziger Jahren dann zu einer beinahe vollständigen Konzentration auf industriesoziologische Projekte - unter Bezug auf die Theorien Alfred Sohn-Rethels - führt (Brandt 1981). 57

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bcrmas 1986b). Adorno treibt eine Selbstkritik des begrifflichen Denkens voran, deren normativer Fixpunkt die Idee einer mime­ tischen Rationalität bleibt, die stellvertretend im Kunstwerk auf­ bewahrt ist (Baumeister und Kulenkampff 1973; Honneth 1985, Kap. 3). Einzig Marcuse reagiert auf die pessimistische Zeitdia­ gnose mit einem Impuls der Rettung der vcrlorengegangcnen Re­ volutionsidee, indem er die Vernunft unter die Schwelle des So­ zialen rückt und in die libidinöse Bedürfnisnatur des Menschen verlagert (Marcuse 1979; auch Habermas 1981 f.). Den drei Ansätzen bleibt bei aller Differenz in den Zielsetzungen der Hintergrund einer Geschichtsphilosophie gemeinsam, in der die historische Entwicklung als ein Prozeß der technischen Ratio­ nalisierung gedeutet wird, der sich im geschlossenen Herrschafts­ system der zeitgenössischen Gesellschaft vollendet. Von den phi­ losophischen Prämissen dieser Zeitdiagnose nimmt erst eine Theorie Abschied, die sich zunächst kaum als ein Neuansatz in­ nerhalb der kritischen Theorie zu erkennen gibt. Jürgen Haber­ mas geht zwar als Assistent Adornos aus dem »Institut für Sozial­ forschung« hervor, hat aber seiner theoretischen Herkunft und Orientierung nach zu Beginn mit der philosophischen Tradition der kritischen Theorie nur wenig gemeinsam; in seiner wissen­ schaftlichen Entwicklung kommen vielmehr mit der philosophi­ schen Anthropologie, der Hermeneutik, dem Pragmatismus und schließlich der Sprachanalyse Thcorieströmungen zur Geltung, denen die ältere Generation um Adorno und Horkheimcr stets fremd, ja feindlich gegenüberstand. Gleichwohl formt sich aus den Habcrmasschen Arbeiten allmählich eine Theorie heraus, die so deutlich von den ursprünglichen Zielsetzungen der kritischen Theorie motiviert ist, daß sie heute als der einzig ernstzuneh­ mende Neuansatz dieser Tradition gelten darf; in ihr gelangt das, was sich an antifunktionalistischcn Impulsen im Denken der randständigen Mitglieder des Instituts angekündigt hatte, zu theoretischem Selbstbewußtsein und wird zum Bezugsrahmen einer anderen Konzeption von Gesellschaft. Das Fundament dieser Konzeption bildet die Einsicht in die sprachliche Intersubjektivität sozialen Handelns. Habermas fin­ det zu der zentralen Prämisse seiner Theorie auf dem Weg einer Beschäftigung mit der hermeneutischen Philosophie und der Sprachanalyse Wittgensteins; aus ihnen lernt er, daß die mensch­ lichen Subjekte vorgängig immer schon durch das Medium der



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sprachlichen Verständigung miteinander verbunden sind. Die Le­ bensform des Menschen zeichnet sich durch eine in den Struktu­ ren der Sprache verankerte Intersubjektivität aus; für die Repro­ duktion des sozialen Lebens stellt daher die sprachliche Verstän­ digung zwischen Subjekten eine fundamentale, ja unhintergeh­ bare Voraussetzung dar. Dieser These verleiht Habermas in sei­ nem Denken gesellschaftstheoretisches Gewicht, indem er sie zum Ansatzpunkt einer Auseinandersetzung mit der sozialphilo­ sophischen und soziologischen Tradition macht: so kritisiert er an der neuzeitlichen Sozialphilosophie die Tendenz einer allmäh­ lichen Reduktion aller intersubjektiv-praktischen Belange auf Fragen der technisch angemessenen Entscheidung (Habermas 1971); so macht er gegenüber dem sozialwissenschaftlichen Funktionalismus die Tatsache geltend, daß die Reproduktions­ aufgaben einer Gesellschaft stets durch das normative Selbstver­ ständnis der kommunikativ vergesellschafteten Subjekte festge­ legt sind und somit lebensnotwendige Funktionen als solche in menschlichen Lebenszusammenhängen gar nicht anzutreffen sind (Habermas 1982a). Und auf diesem Weg wird er schließlich auch zu einer Kritik des Marxismus geleitet, deren Ergebnis eine hand­ lungstheoretisch erweiterte Konzeption von Geschichte ist: wenn die Lebensform des Menschen sich durch das Medium der sprachlichen Verständigung auszcichnet, dann läßt sich die gesell­ schaftliche Reproduktion nicht so auf die eine Dimension der Arbeit reduzieren, wie Marx dies in seinen theoretischen Schriften getan hatte; neben der Tätigkeit der Naturbearbeitung muß vielmehr die Praxis der sprachlich vermittelten Interaktion als eine ebenso fundamentale Dimension der geschichtlichen Ent­ wicklung angesehen werden (Habermas 1973, Kap. 1, 2 und 3). Schon mit dieser Überlegung trennt Habermas sich implizit von den geschichtsphilosophischen Grundannahmen, die für die Tra­ dition der kritischen Theorie bislang bestimmend waren.17 Denn die Eigenart der menschlichen Vergesellschaftung erblickt er nun nicht mehr, wie noch Adorno, Horkhcimer und Marcuse, in dem Vorgang einer sich stetig erweiternden Naturbcarbeitung, son­ dern darin, daß die kollektive Sicherung der materiellen Existenz von der gleichzeitigen Aufrechterhaltung eines kommunikativen 17 Zur kommunikationstheoretischen Wende der kritischen Theorie, als die sich der Habermassche Ncuansatz im ganzen begreifen läßt, beson­ ders Wcllmer 1977, McCarthy 1980, Honneth 1982, Brunkhorst 19S3.

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Einverständnisses von Anbeginn an abhängig ist. Weil der Mensch seiner Natur nach eine persönliche Identität überhaupt nur auszubilden vermag, solange er in die intersubjektiv tradierte Welt einer sozialen Gruppe hineinwachsen und sich darin bewe­ gen kann, würde die Unterbrechung des kommunikativen Verständigungsprozesses eine Voraussetzung des menschlichen Überlebens verletzen, die ebenso fundamental ist wie die der kol­ lektiven Naturaneignung; die sprachliche Kommunikation ist das Medium, in dem die Individuen sich jener Gemeinsamkeit ihrer Handlungsorientierungen und Wertvorstellungen versichern können, die nötig ist, damit die Aufgabe der materiellen Repro­ duktion gesellschaftlich gemeistert werden kann. Von dieser Di­ mension sozialer Interaktion aber abstrahiert die Geschichtsphi­ losophie, die der kritischen Theorie als theoretisches Bezugssy­ stem diente; nur daher konnte sie auf die Illusion eines marxisti­ schen Funktionalismus verfallen, in dem alle gesellschaftlichen Phänomene auf die Funktionen hin betrachtet werden, die sie in der menschlichen Bearbeitung der Natur übernehmen. Der entscheidende Schritt allerdings, den Habermas in Richtung auf eine eigene Theorie der Gesellschaft und damit zu einer Neu­ fassung der kritischen Theorie übernimmt, ergibt sich erst durch eine Aufladung der beiden Handlungsbegriffc der »Arbeit« und der »Interaktion« mit unterschiedlichen Rationalisierungskategoricn. Dieser folgenreiche Schritt verdankt sich dem Interesse, die neugewonnene Unterscheidung von zwei Handlungstypen für eine Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung fruchtbar zu machen. Den unmittelbaren Anlaß dazu gibt eine Auseinander­ setzung mit der Technikkritik Marcuses ab; den theoretischen Rahmen aber stellt das Rationalitätskonzept Max Webers dar (Habermas 1968a). Habermas faßt die beiden Handlungsformen, die er in seiner Marxkritik unterschieden hatte, nicht nur als die Muster von spe­ zifischen Tätigkeitsweisen, sondern auch als Rahmen für beson­ dere Erkenntnisleistungen auf; insofern müssen sich die beiden fundamentalen Dimensionen der gesellschaftlichen Reproduk­ tion, also »Arbeit« und »Interaktion«, auch durch eine jeweils eigene Form der Wissenserzeugung und dementsprechend eine eigene Form der »Rationalität« unterscheiden lassen. Dann aber erweist sich Webers Konzept der Rationalisierung als zu eng: denn ebenso, wie sich für die instrumentellen Tätigkeiten und das 6o

technische Wissen spezifische Formen der Rationalisierung be­ haupten lassen, müssen sich auch für die kommunikative Praxis und das in ihr eingclagerte Wissen Möglichkeiten der Rationali­ sierung aufzeigen lassen. Habermas faßt schon früh die allge­ meine These, die sich aus dieser Kritik an Weber ergibt, in einer der Systemtheorie entlehnten Begrifflichkcit zusammen: während sich in den Subsystemen zweckrationalcn Handelns, in denen die Aufgaben der gesellschaftlichen Arbeit und politischen Verwal­ tung organisiert sind, die Gattung über die Akkumulation techni­ schen und strategischen Wissens fortentwickelt, bildet sie sich innerhalb des institutionellen Rahmens, in dem die sozial inte­ grierenden Normen reproduziert werden, über die Befreiung von kommunikationshemmenden Zwängen fort (Habermas 1968a, bcs. S. 6} ff.). Auf der Linie dieses Gesellschaftskonzepts, in dem zweckrational organisierte Handlungssysteme von einer Sphäre der kommuni­ kativen Alltagspraxis unterschieden und für beide sozialen Berei­ che gesonderte Formen der Rationalisierung behauptet werden, liegen all die Erweiterungen, die Habermas im Laufe der siebziger Jahre an seiner Theorie vornimmt: eine Universalpragmatik dient der weiteren Aufhellung der sprachlichen Infrastruktur des kom­ munikativen Handelns (Habermas 1976b); eine Theorie der so­ zialen Evolution soll die Logik der Entwicklung gesellschaftli­ chen Wissens und damit den Prozeß der zweibahnigen Rationali­ sierung klären helfen (Habermas 1976a); mit der weiteren Auf­ nahme systemtheoretischer Konzeptionen schließlich ist eine Be­ stimmung der Mechanismen beabsichtigt, durch die sich soziale Handlungsbereiche zu zweckrational organisierten Systemen ver­ selbständigen (Habermas 1982b). Greifen diese theoretischen Be­ mühungen auch in die unterschiedlichsten Wissensgebiete aus, so sind sie alle doch auf dasselbe Ziel der kommunikationstheoreti­ schen Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie gerich­ tet; mit ihrer Hilfe will Habermas die Rationalität des kommuni­ kativen Handelns als eine so fundamentale Bedingung der gesell­ schaftlichen Entwicklung erweisen, daß sich die von Adorno und Horkheimer diagnostizierten Tendenzen einer instrumentellen Verdinglichung als einseitige, nämlich allein zweckrational ausge­ richtete Formen der gesellschaftlichen Rationalisierung kritisie­ ren lassen. In der »Theorie des kommunikativen Handelns«, die Habermas 1981 in zwei Bänden veröffentlicht, nimmt dieses Pro6i

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gramm zum ersten Mal systematische Gestalt an (Habermas 1981a; dazu Bernstein 1985; Honneth 1985, bes. Kap.9); die Er­ träge der verschiedenen Forschungsarbeiten sind hier zu einer einzigen Theorie zusammengebracht, in der die Rationalität des kommunikativen Handelns im Rahmen einer Sprechakttheorie rekonstruiert, im Durchgang durch die Geschichte der soziologi­ schen Theorien von Weber bis Parsons zur Grundlage einer Ge­ sellschaftstheorie fortentwickelt und schließlich zum Bezugspunkt einer kritischen Zeitdiagnose gemacht wird. Der Begriff der kommunikativen Rationalität nimmt in der Habcrmasschen Theorie nun dieselbe Schlüsselstellung ein, die in der »Dialektik der Aufklärung« der Begriff der instrumentellen Rationalität innehatte. Wie Adorno und Horkheimer aus der Ra­ tionalitätsform der Naturbeherrschung, so entwickelt Habermas aus dem Rationalitätspotential des kommunikativen Handelns die Entwicklungsdynamik eines Geschichtsprozesses, der bis in die als Krise begriffene Gegenwart führt. Der Grundgedanke seiner Konstruktion ist der, daß in den kommunikativen Sprechakten, durch die individuelle Handlungen koordiniert werden, kulturin­ variante Geltungsansprüche aufbewahrt sind, die im Zuge eines kognitiven Rationalisierungsprozesses historisch allmählich aus­ differenziert werden; auf diesem Weg einer Dezentrierung des lebensweltlichen Wissens, das wie ein Horizont alles kommuni­ kative Handeln umfängt, sondert sich als ein Aspekt schließlich auch eine kognitive Einstellung aus, in der Subjekte allein unter Erfolgsgesichtspunkten auf ihre Umwelt Bezug nehmen können. Es ist eine solche historisch entstandene Fähigkeit zum strategi­ schen Handeln, in der Habermas die soziale Bedingung zur Ent­ stehung systemisch organisierter Handlungsbereiche angelegt sieht; denn dadurch, daß die Subjekte lernen, rein erfolgsorien­ tiert zu handeln, erwächst die Möglichkeit, die sozialen Handlun­ gen anstatt durch Verständigungsprozessc nun durch sprachlose Medien wie das Geld oder die Macht zu koordinieren (Habermas 1981a, hier: Bd.z, S. 229 ff.). Die beiden Handlungssphären, die infolge der Institutionalisierung dieser Steuerungsmedien aus der kommunikativen Lebenswelt herausgelöst werden, sind die Be­ reiche der ökonomischen Produktion und der politischen Ver­ waltung. Das Wirtschaftssystem und die Sphäre staatlichen Han­ delns werden von nun an ohne Rückgriff auf den Prozeß einer kommunikativen Verständigung integriert; sie stehen in moder61

nen Gesellschaften als normfrei regulierte Systeme jenen weiter­ hin kommunikativ organisierten Handlungssphärcn gegenüber, in denen die symbolische Reproduktion des sozialen Lebens vonstatten geht. An der historischen Entkoppelung von »System« und »Lebens­ welt« rechtfertigt Habermas die Einführung des zweistufigen Ge­ sellschaftskonzeptes, in das seine Konstruktion mündet; darin wird als der fundamentale Reproduktionsmechanismus auch von modernen Gesellschaften zwar der Prozeß der kommunikativen Verständigung angesehen, zugleich aber als ein historisches Pro­ dukt die Existenz von solchen normfreien Handlungssphärcn un­ terstellt, die allein einer systemtheorctischcn Analyse zugänglich sind. Als das Wesentliche einer soziologischen Theorie der Mo­ derne erweist sich somit die Verschränkung von Kommunika­ tionstheorie und Systemkonzept: jede Analyse der Verständi­ gungsprozesse, durch die sich heute Gesellschaften in ihrer le­ bensweltlichen Basis reproduzieren, verlangt nach einer Ergän­ zung durch die Systemanalyse, mit deren Hilfe die systemischen Formen der materiellen Reproduktion untersucht werden. Aus dieser dualistischen Konstruktion gewinnt Habermas schließlich auch den Rahmen, in dem er seine Zeitdiagnose zu entwickeln versucht; ihr zentrales Motiv ergibt sich aus der Absicht, den Prozeß der »Dialektik der Aufklärung« so auszulegen, daß die resignativen Konsequenzen vermeidbar werden, zu denen Adorno und Horkheimer sich getrieben sahen. Dazu stellt die entwickelte Gesellschaftstheorie die argumentativen Mittel be­ reit: denn in ihrem Licht erweisen sich nun die systemisch ver­ selbständigten Organisationskomplexc, in denen Adorno und Horkheimer nur noch die Endstufe einer Logik der Naturbchcrrschung zu erblicken vermochten, ihrerseits als die sozialen Pro­ dukte einer Rationalisierung der sozialen Lebenswelt. Als eine krisenhafte Tendenz der Gegenwart erscheint dann aber nicht die Existenz von zweckrationalcn Organisationsformen des sozialen Lebens als solche, sondern erst ihr Eindringen in jene Binnenbe­ reiche der Gesellschaft, die auf Prozesse der kommunikativen Verständigung konstitutiv angewiesen sind: an diesem Phänomen einer »Kolonialisierung der sozialen Lebcnswelt« macht Haber­ mas daher seine eigene Diagnose einer Pathologie der Moderne fest: »Die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Stei­ gerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die 63



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losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebens­ welt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen« (Habermas 1981a, Bd. 2, S. 232 ff.). Es ist nicht schwer zu sehen, daß diese zeitdiagnostischen Schluß­ folgerungen in allem von dem zweistufigen Gesellschaftsmodell abhängig sind, zu dem Habermas seinen kommunikationstheore­ tischen Ansatz fortentwickelt hat; nur weil er moderne Gesell­ schaften in System und Lebenswclt, in zweckrational organisierte Funktionszusammenhänge und kommunikativ verfaßte Hand­ lungssphären zerfallen sieht, kann er als die bestimmende Patho­ logie unserer Zeit das Eindringen systemischer Steuerungsformen in die bislang unversehrten Bezirke einer kommunikativen All­ tagspraxis annehmen. Gerade die Unterscheidung von System und Lebenswelt aber ist in jüngster Zeit auf Widerspruch gestoßen; mit ihr läuft Haber­ mas Gefahr, den »Versuchungen der Systemtheorie« zu verfallen und das eigentliche Potential seines kommunikationstheoreti­ schen Ansatzes wieder preiszugeben (Honneth 1985, v.a. Kap. 9; Arnason 1986a; Berger 1986; Joas 1986; Habermas 1986a; Bruckmeier 1988). Der Ausgang der Diskussion, die sich an diesem Problem entzündet hat, wird über die Zukunft der kritischen Theorie entscheiden; sie wird über die Frage zu befinden haben, wie die kommunikationstheoretische Wende, durch die Haber­ mas die instrumentalistischen Engpässe der Tradition der kriti­ schen Theorie mit Erfolg überwunden hat, in einer angemessenen Theorie der Gesellschaft fortzuentwickeln ist. Es mag sein, daß im Fortgang dieser Diskussion jene soziologischen Einsichten Neumanns, Kirchhcimers und Benjamins, die zu ihrer Zeit im Rahmen der kritischen Theorie ungenutzt geblieben waren, über­ haupt erst vollständig zur Geltung gelangen; denn zu vermuten ist, daß die Lehre vom politischen Kompromiß ebenso wie Benja­ mins Konzept der kollektiven Erfahrung in dem Augenblick, in dem sie zu Bestandteilen einer Kommunikationstheorie der Ge­ sellschaft werden, eine systematische Bedeutung erhalten, die dem Dualismus von System und Lebenswelt entgegensteht. Dann aber würde in der Zukunft der kritischen Theorie, die durch die kommunikationstheoretische Wende eröffnet wurde, ein Stück ihrer verdrängten Vergangenheit wiederauferstehen.

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Foucault und Adorno Zwei Formen einer Kritik der Moderne

Schwerlich findet sich neben der Dialektik der Aufklärung, dem geschichtsphilosophischen Hauptwerk der kritischen Theorie, ein radikalerer Versuch zur Demaskierung der europäischen Auf­ klärung als das machttheoretische Werk Michel Foucaults. Weder in der Entschiedenheit des Urteils noch im Pathos des Negativis­ mus steht dieses Werk der Schrift von Adorno und Horkheimer nach. Wie die Dialektik der Aufklärung, so hat auch Foucaults Kritik der Moderne die Erfahrung eines unerhörten Anwachsens von Macht und Gewalt zum Mittelpunkt; in den Strom eines einzigen Prozesses der Ausweitung von Herrschaft sicht es die Geschichte der menschlichen Emanzipation, den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, hin­ eingerissen. Hier wie dort wird dem Zivilisationsprozeß der Schleier, den Fortschrittsglaube und Aufklärungsoptimismus über ihn gelegt haben, entrissen, indem illusionslos das »Schicksal des Körpers« benannt wird: die geräuschlosen Akte der Verskla­ vung und Verstümmelung des menschlichen Leibes, in denen Adorno und Horkheimer die »unterirdische Geschichte Euro­ pas« erblicken, hat Foucault in den alltäglichen Disziplinierungen des Körpers, in seiner perfekten Dressur, wiedererkannt; auch ihm scheint sich das wahre Gesicht der menschlichen Geschichte weit eher in der zu Stein gewordenen Gewalt der Gefängniszelle, dem rituellen Drill der Kasernenhöfe und den stummen Gewalt­ samkeiten des Schulalltages zu entblößen als in den moralischen Bekundungen der Verfassungsaktc und den beredten Zeugnissen der Philosophiegeschichte. Rationalisierung der Gesellschaft heißt, für Adorno wie für Foucault, dem menschlichen Körper Gewalt antun - in dieser bündigen These liegt, so scheint es, der Konvergenzpunkt jener Kritik der Moderne, an der die beiden Autoren zeit ihres Lebens gearbeitet haben. Die Gemeinsamkeit im Ergebnis jedoch täuscht. Der schroffe Urteilsspruch, den Adorno und Foucault über die Moderne ver­ hängen, läßt die Unterschiede verkennen, die zwischen den bei­ den Ansätzen einer Kritik der Moderne bestehen. Wer aber Stär­ ken und Schwächen, Chancen und Irrwege einer vernunftkriti73

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sehen Theorie der Moderne prüfen will, sollte zunächst diesen Divergenzen nachgehen. Das will ich im folgenden versuchen, indem ich zunächst an der Theorie Michel Foucaults anknüpfe. Deren Entwicklung will ich in einem ersten Schritt bis zu dem Punkt in groben Zügen rekonstruieren, an dem ihre thematische Nähe zur Geschichtsphilosophie Adornos hervortritt (i). In ei­ nem zweiten Schritt will ich die sich abzeichnenden Übereinstim­ mungen wiederum bis zu dem Punkt skizzieren, an dem die Di­ vergenzen zwischen beiden philosophischen Ansätzen deutlich zu werden beginnen (n). In einem letzten Schritt schließlich will ich diese Unterschiede so vorstellen, daß sich daraus die Gesichts­ punkte einer immanenten Kritik an Foucault ergeben (m). I.

Foucault gelangt zu der Gegenwartsdiagnose, die ihn in so über­ raschende Nähe zur Dialektik der Aufklärung bringt, auf ganz anderen Wegen als Adorno. Er wächst, wie die gesamte Genera­ tion der französischen Strukturalisten, im Klima der französi­ schen Nachkriegsphilosophie auf, der Phänomenologie MerleauPontys und dem Existentialismus Sartres. Es mag sein, daß ihm die Lehre Merleau-Pontys das Interesse an der leiblichen Verfas­ sung des Menschen mit auf den Weg gegeben hat; aber die Ab­ kehr von der phänomenologischen Philosophie vollzieht er ebenso entschlossen und rabiat wie seine strukturalistischen Zeit­ genossen. Ihnen schien das soziale Geschehen nicht derart aus den Sinnleistungen der menschlichen Subjekte zusammengesetzt, wie es aus der philosophischen Perspektive der Phänomenologie oder gar des Existentialismus scheinen mochte; der Mensch sollte sich vielmehr, wenn alle narzißtischen Vorurteile des Anthropo­ zentrismus aus dem Weg geräumt waren, als der Gefangene einer ihm sinnhaft gar nicht einholbaren Ereigniskette erweisen, die durch die anonymen Regeln einer sozialen oder sprachlichen Ordnung gestiftet war. Diese ursprüngliche Erfahrung eines das menschliche Subjekt prinzipiell übersteigenden Ereignisgesche­ hens läßt in den späten fünfziger Jahren die Denkbewegung des Strukturalismus auf den Plan treten1; die intellektuelle Stimmung, i Vgl. V. Descombes, Das Selbe und das Andere, Frankfurt am Main 1981, Kap. 3; E. Kurzweil, The Age of Structuralism, New York 1980.

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die darin zum Ausdruck kommt, findet in den Romanen der literarischen Avantgarde Frankreichs ästhetisch Widerhall. Auf diesen literarischen Erfahrungsgchalt ist Foucault immer wieder, wie um sich über die eigene Herkunft klarzuwerdcn, zu sprechen gekommen; ihm hat er die berühmtesten seiner literari­ schen Studien gewidmet. Mit der Formel vom »Denken des Au­ ßen« hat Foucault bezeichnet, was sich an Rcalitätswahrnchmung in den Texten der literarischen Avantgarde niedergeschlagen hat: »Dieses Denken hält sich außerhalb jeder Subjektivität, um ihre Grenzen wie von außen hervortreten zu lassen, um ihr Ende zu verkünden, ihre Zerstreuung aufsprühen zu lassen und ihre endgültige Abwesenheit fest­ zustellen.«2

Foucault hat Schriftsteller wie Antoine Artaud, Pierre Klossowski oder Maurice Blanchot vor Augen, wenn er von einem »Verschwinden des Subjekts« in der französischen Literatur sei­ ner Zeit spricht; ihrer ästhetisch verfremdeten Darstellung einer Welt, in der das menschliche Subjekt dem sexuellen Automatis­ mus seines Körpers, den lautlosen Gesetzen seiner Sprache oder der anonymen Ereignisabfolge eines Tages unterworfen ist, ent­ spricht im artifiziellen Positivismus des »nouveau roman« das Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen sich wie empfin­ dungslose Wesen begegnen.3 Beide literarischen Tendenzen hat Foucault als Zeugnisse einer ästhetischen Verfremdung zu deuten versucht, in der das Handlungsgeschehen aus dem Sinnhorizont der Subjekte heraus in die Objektivität einer sinnenthobenen Er­ eignisabfolge verlagert wird. Jeder Abschnitt eines sozialen Ak­ tionszusammenhangs tritt wie ein hermeneutisch nicht weiter auslcgbarer Sachverhalt in den Blick - und damit also wie aus der Perspektive eines mit einem vorgefundenen Bedcutungszusammenhang unvertrauten Beobachters. Diese Perspektive des »Fremden«, die der Literatur der nachsurrcalistischen Avantgarde eine eigentümliche Kälte verleiht, ist es nun auch, die den wissenschaftshistorischen Untersuchungen des

1 M. Foucault, »Das Denken des Außen«, in: ders., Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. $4 ff., hier S. $7. 3 Auf den »nouveau roman« bezieht sich Foucault in: »Le langage de l’espace«, in: Critiqne 203, Paris 1964; zum artifiziellen Positivismus dieser literarischen Strömung vgl. L. Goldmann, Soziologie des Romans, Neuwied und Berlin 1970, S. 199 ff.

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frühen Foucault zugrunde liegt; mit ihnen bereits verschafft er sich einen theoretischen Ruf über die Grenzen seines Heimatlan­ des hinaus. Foucault analysiert die Denkmuster, die unsere Ge­ schichte prägen, mit dem Blick desjenigen, dem die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge der eigenen Kultur fremd geworden sind.4 Diese Absicht einer artifiziellen Verfremdung der eigenen Kultur ist es, die Foucault in einem Gespräch mit Paolo Caruso seinen wissenschaftshistorischen Untersuchungen den Titel einer »Ethnologie« verleihen läßt: .QtxtxlMx

»Man könnte sie als eine Analyse der Zivilisationstatsachen, die unsere Kultur charakterisieren, definieren, und insofern würde es sich um etwas t" wie eine Ethnologie der Kultur, der wir angeboren, handeln. Ich versuche I tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, um ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik zu bewerkstelligen; aber nicht, um ihre Werke herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind. Indem ich die Bedingun­ gen unserer Rationalität analysiere, stelle ich auch unsere Sprache, stelle ich meine Sprache, deren Entstehen ich analysiere, in Frage.«5

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Wenn Foucault es in solcher Weise als die Eigentümlichkeit sei­ ner historischen Forschungsarbeit ansieht, die elementaren Be­ standteile seiner eigenen, westeuropäischen Kultur gleichsam »von außen« zu analysieren, so wird der disziplinäre Titel, den er für sein Unternehmen wählt, plausibel. Die Ethnologie ist dieje­ nige Disziplin unter den Sozialwissenschaften, der ihrer theoreti­ schen Herkunft gemäß die Aufgabe gestellt ist, aus dem einge­ spielten Verständnishorizont ihrer jeweiligen Wissenschaftskul­ tur heraus die ihr fremde Kultur einer archaischen Zivilisation zu untersuchen. Die methodologischen Schwierigkeiten, die an eine wissenschaftliche Leistung dieser Art geknüpft sind, weil sic die Unterschiede in den kulturspezifischen Wirklichkeitsauffassun­ gen überbrücken können muß, um den unbekannten Lebenszu­ sammenhang überhaupt analysieren zu können, begleiten von Be­ ginn an die Geschichte der Ethnologie. Foucault nun benutzt den Aufriß der besonderen Konstellation, in die die Ethnologie als Wissenschaft gestellt ist, zur Explikation 4 Vgl. meine eigene Interpretation: A. Honneth, Kritik der Macht. Refle­ xionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1985, Kap. 4. 5 Paolo Caruso, »Gespräch mit Michel Foucault«, in: M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, a.a.O., S. 7 ff., hier S. 13.

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des eigentümlichen Anspruchs, mit dem seine eigene Theorie der Gesellschaft auftritt: daß sie nämlich die »Zivilisationstatsachen« der europäischen Kultur von ebenderselben »äußerlichen« Posi­ tion aus betrachtet, von der aus auch die Ethnologie zwangsläufig die Kultur einer ihr bislang unbekannten Zivilisation untersucht. Unter »Zivilisationstatsachen« versteht Foucault, der seiner theo­ retischen Herkunft nach ja Wissenschaftstheorctiker ist, zunächst die die Kultur einer Gesellschaft bestimmenden Wissenssysteme; diejenigen Systeme kulturellen Wissens, die das Gesicht der euro­ päischen Moderne prägen, begreift er historisch als Produkte der Wende zum 19. Jahrhundert. So tritt die Geschichte der Psychiatrisierung des Irren, die Entstehung der medizinischen Wissen­ schaft und die Herausbildung des anthropozentrischen Weltbil­ des als ein kognitives Geschehen auf, das sich mit anonymer Ge­ walt durch den Wahrnehmungshorizont der Individuen hin­ durcharbeitet und die Kultur der Neuzeit schafft. Freilich ist Foucaults Interesse an diesem Wissensprozeß nicht bloß doku­ mentarischer Art; zwar hat er sich gerne, in Anspielung auf Nietzsche, einen »fröhlichen Positivisten« genannt, damit aber den innersten Antrieb seiner Kulturtheorie verschwiegen. Denn die »diagnostische Aktivität«, von der er seine Wissenschaftsge­ schichtsschreibung getrieben sah, war auf die zivilisatorischen Schäden gerichtet, die das wissenschaftliche Wissen an den Sub­ jekten anrichtet, da es sie mit der schwer durchschaubaren Ge­ walt eines Denksystems in den Dualismus von »Wahnsinn« und »Vernunft«, von pathologischen Verhaltensweisen und rationa­ lem Denken zwingt. Nur die gesteigerte Sensibilität für jene For­ men des Leidens, die aus der kulturell erzwungenen Abspaltung überschießender Trieb- und Phantasieimpulsc stammen, macht die schwer konstruierbare Synthese verständlich, die die wissen­ schaftshistorischen Werke Foucaults darbieten: die ungewöhnli­ che Verschränkung des Wissens des Gelehrten, der Kunst des Erzählers, der Befangenheit des Monomanen und der Empfind­ lichkeit des Verletzten - eine Synthese, die in der Physiognomie Foucaults ja als Mischung von analytischer Kälte und mitleiden­ der Empfindsamkeit sich spiegelte. Foucault hat allerdings seine wissenschaftshistorischen Studien, die sich zu einer »Archäologie der europäischen Moderne« ver­ einigen sollten, nur bis zu dem Punkt fortentwickelt, an dem die immanenten Schwierigkeiten des von ihm gewählten Ansatzes

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allzu deutlich geworden waren. Weil er die Entstehung von Denksystemen in der verfremdenden Perspektive des Struktura­ lismus als ein anonymes Geschehen der Wissensformation, als ein subjektloses Hervortreten und Vergehen von wissenschaftlichen Diskursen beschreiben wollte, hat er cs ungeklärt lassen müssen, ob die Herausbildung neuer Wissensgehalte und Denkformen auf die zufälligen Anstöße einer blinden Ereignisgeschichte oder die besonderen Konstellationen einer historischen Situation zurück­ führbar sind - für beide Antworten finden sich in den wissen­ schaftshistorischen Schriften genügend Anhaltspunkte. Aus den Schwierigkeiten, die sich mit solchen Unklarheiten stellten, hat Foucault mit seinem wissenschaftstheoretischen Buch über die Archäologie des Wissens, seinem sprödesten, unzugänglichsten Text, herausführen wollen; erst nachdem dieser Versuch, der sich in den Fallstricken einer auf die pure Faktizität des Sprachgeschchens beschränkten Wissensanalyse verfängt,6 gescheitert war, wendet Foucault sich dem Projekt einer durch Nietzsche inspi­ rierten Machtanalyse zu. Ist also die Wende zur Machttheorie innertheoretisch durch die Schwierigkeiten einer strukturalisti­ schen Wissensanalyse motiviert, so politisch-biographisch durch das Scheitern der 6Ser-Revolte in Frankreich: Es ist die schockar­ tige Erfahrung der strategisch perfekten Reaktionen einer poli­ tisch unerschütterlichen Machtordnung, die Foucault persönlich zur Entwicklung einer Machttheorie bewegt. Diese Wendung läßt ihn nunmehr Gesellschaftssysteme insgesamt als soziale Machtgcfügc begreifen, in denen Wissensgebilde die besondere Funktion der Machtsteigerung übernehmen; Diskurse sind dann soziale Wissenssystemc, die ihre Entstehung ebenso den strategi­ schen Erfordernissen einer etablierten Machtordnung verdanken, wie sie ihrerseits auf diese gegebene Machtordnung positiv zurückwirkcn. Rückblickend hat Foucault dann auch selber den Mangel seiner früheren Schriften dadurch zu kennzeichnen versucht, daß sie den mit dem Machtbegriff eröffneten Funktionsaspekten von so­ zialen Wissenssystemen nicht gerecht zu werden vermochten: -Was jedoch meiner Arbeit fehlte, war die Frage nach der .diskursiven

6 Vgl. dazu H. L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik Frankfurt/M. .987, Kap.i. 4; A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., Kap. 4.

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Ordnung«, der sich aus dem Spiel der Aussagen ergebenden spezifischen Machtwirkungen. Ich verwechselte sie zu sehr mit der Methodik, der theoretischen Form einer Sache wie dem Paradigma. Dort, wo Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge Zusammentreffen, befand sich unter zwei sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten dieses zentrale Problem der Macht, das ich noch ziemlich schlecht hcrausgeschält hatte.«7 Erst mit dieser Wendung zur Machtthcorie verläßt Foucaults Werk den Rahmen der Wissenschaftsgeschichte und wird zur Gesellschaftsanalysc: an die Stelle der kulturell bestimmenden Wissensformen treten nun institutionelle und kognitive Strate­ gien der Sozialintcgration. Die Wissensthcorie wird zur Theorie der Herrschaft; damit bewegt sich Foucault auf dem Terrain, in dem auch die Tradition der Frankfurter Schule und in ihr Ador­ nos Theorie beheimatet ist. In Foucaults Machttheorie setzt sich der innerste Impuls seines Schaffens, die Empfindlichkeit für die ausgeschlossenen Regun­ gen des Körpers und der Phantasie, in Gestalt einer Konzeption der Körperdisziplinierung durch. Die Grundzüge dieser Konzep­ tion entwickelt Foucault in Form einer Auseinandersetzung mit zwei konkurrierenden Theorietraditionen. Es ist seine Überzeu­ gung, daß die klassische Politikwissenschaft wie auch die marxi­ stische Sozialtheorie die Aufgabe verfehlen, die in den entwickel ten Gesellschaften herrschenden Mechanismen sozialer Machtbi düng adäquat zu erfassen, weil sie gleichermaßen an die thcorcti sehen Vorurteile einer auf vormoderne Herrschaftsformen zugeschnittenen Machtkonzeption gebunden sind; dieser zufolge stellt Macht einen vertraglich geregelten oder gewaltsam angeeig­ neten Besitz dar, der den politischen Souverän dazu berechtigt oder ermächtigt, mittels zentral gelenkter Institutionen repressive Herrschaft auszuüben. In beiden Fällen wird mit einem machtbcsitzenden Aktor gerechnet, der geeignet erscheinende Mittel an­ wendet, um diejenigen Verbote und Anweisungen durchzuset­ zen, die es erlauben, Herrschaftszwecke zu realisieren; die klassisehe Politikwissenschaft denkt sich den Besitz der Macht nach einem juristischen Vertragsmodell als eine Übertragung von Rechten, die marxistische Herrschaftstheorie begreift den Besitz der Macht nach einem etatistischen Denkmodell als eine Aneig7 M. Foucault, »Wahrheit und Macht«, Interview von Allessandro Fon­ tana und Pasquale Pasquino, in: ders., Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 21 ff., hier S. 26 f.

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nung des Staatsapparates. Beiden Theorietraditionen setzt Foucault nun sein Konzept der Körpcrdisziplinierung entgegen; dieses ist freilich selbst in sich ambivalent, ja widersprüchlich.8 Fou­ cault will einerseits die Entstehung von sozialer Macht auf die elementaren Situationen zurückführen, in denen Subjekte mit un­ terschiedlichen Interessen in den Hallen einer Fabrik, den Räu­ men einer Schule oder den Zimmern einer Wohnung einander gegenüberstehen; hier, in den strategischen Episoden des Alltags, müssen ununterbrochen die Machtpotentiale erzeugt werden, die sich in den Herrschaftsinstitutionen wie zu einem Netz zusatnmcngeschlossen haben. So heißt es bei Foucault: »Die Macht kommt von unten, d. h. sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte ein­ ander entgegengesetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt. Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kraftverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weit­ reichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltun­ gen dienen.«’ Diesem handlungstheoretischen Ansatz, den Foucault in dem Projekt einer »Mikrophysik der Macht« formuliert und entschie­ den der staatstheoretisch verengten Herrschaftskonzeption des Marxismus entgegengesetzt hat, widerstreitet freilich die andere Tendenz seiner Machttheorie: die einer Systemtheorie, die von einem überindividuellen Prozeß der stetigen Perfektionierung von Machttechniken ausgeht. Macht wird jetzt nicht länger als ein »von unten« her entstehendes, in alltäglichen Konflikten sich bil­ dendes Potential betrachtet, sondern als ein immer schon verselb­ ständigter, institutionell organisierter Komplex von Techniken begriffen, der sich über die Bedürfnisse und Intentionen der Sub­ jekte hinweg entwickelt. Es ist dieser systemtheoretische Ansatz, der in den historischen Studien Foucaults, der Untersuchung über Die Geburt des Gefängnisses und dem ersten Band von Se­ xualität und Wahrheit, schließlich die Oberhand gewonnen hat: während die erste Studie an der institutionellen Etablierung der Gefängnisstrafe exemplarisch die Vorgeschichte jener administra8 A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., Kap. 5. 9 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. 115.

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tiven Strategien der Körperdisziplinierung verfolgt, die sich in den entwickelten Gesellschaften zu der festgefügten Ordnung der Disziplinarmacht verknüpfen, erforscht die Untersuchung über die Sexualität die Geschichte der »biopolitischen« Techniken, der Verwaltung des menschlichen Sexuallebens durch die wissen­ schaftliche Organisation aller leiblichen Äußerungen. In beiden Untersuchungen werden somit jene historischen Vorgänge, die wir gewöhnlich als entscheidende Leistungen der Aufklärung und der Humanisierung betrachten, nämlich die Strafrechtsreformen und die sexuelle Liberalisierung, als untergründige Prozesse der Herrschaftssichcrung, der Vermachtung des sozialen Lebens, be­ schrieben; auf diesem Weg entsteht in den machttheorctischen Schriften Foucaults ein Bild der europäischen Moderne, das dem der Dialektik der Aufklärung auf frappierende Weise entgegen­ kommt. Wie um die Konvergenz mit dieser Schrift Adornos und Horkheimers noch zu betonen, heißt es dort, wo Foucault die Ergebnisse seiner Studie Überwachen und Strafen zusammenge­ faßt hat:

»Der historische Prozeß, durch den die Bourgeoisie im Laufe des 18. Jahr­ hunderts zur politisch dominierenden Klasse wurde, hat sich hinter der Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären Rahmens verstellt und ist als Organisation eines parlamentarischen und repräsentativen Regimes aufgetreten. Die Entwicklung und Verallgemei­ nerung der Disziplinaraniagen bildeten jedoch die dunkle Kehrseite dieser Prozesse. Die allgemeine Rechtsform, die ein Prinzip gleicher Rechte garantierte, ruhte auf jenen unscheinbaren, alltäglichen und physischen Mechanismen, auf wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systemen einer Mikromacht - den Disziplinen [...] Die wirklichen und körperli­ chen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoß zu den formel­ len und rechtlichen Freiheiten. Mochte auch der Vertrag als ideale Grund­ lage des Rechts und der politischen Macht erdacht werden: der Panoptismus stellt das allgemein verbreitete technische Zwangsverfahren dar. Und er hat nicht aufgehört, an den Rcchtsstrukturen der Gesellschaft von unten her zu arbeiten, um die wirklichen Machtmechanismen im Gegen­ satz zu ihrem formellen Rahmen wirken zu lassen. Die »Aufklärung«, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.«10

io M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 284 ff. 81

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L’esprit et son objet« - Parentes anthropologiques cntre la >dialectique de la raisom et la critique de la civilisation dans la philosophie de la vie«, in: G. Raulet (Hg.), Weimar 011 l’explosion de la modemite, Paris 1984, S. 97 ff. 9o

tcrprctation des Zivilisationsprozesses: weil Adorno sich von ei­ nem Begriff der leibhaftigen Freiheit leiten läßt, kann er in dem psychischen Leiden des Neurotikers oder Schizophrenen eine sprachlose Bekundung des menschlichen Impulses zur Versöh­ nung mit sich selbst, zur Reintegration der zivilisatorisch abgespaltenen Triebanteile sehen. Daher hat Adorno den Maßstab, den er mit dem ästhetischen Begriff der Ich-Identität seiner Kritik der Moderne zugrunde legt, stets auszuweisen versucht an dem Leiden des psychisch Kranken, in dem sich zwar nicht ein Mo­ ment der Versöhnung innergescllschaftlich bekundet, aber doch die Erinnerung an ihre Unterdrückung. Auch Foucault hätte seine Kritik der Moderne, die ja von dersel­ ben mitleidenden Aufmerksamkeit auf die Verletzungen des menschlichen Körpers motiviert scheint, in dieser Weise verste­ hen können: Er hätte das psychische Leiden der Individuen als einen sozialen Ausdruck für die Disziplinierungen und Unter­ drückungen betrachten können, von denen der Theoretiker den menschlichen Körper betroffen sieht. Aber ein interpretierender Ansatz dieser Art findet sich in Foucaults Schriften an keiner Stelle; das psychische Leiden der Subjekte als einen individuellen Restimpuls zur Versöhnung mit sich selber zu verstehen, mußte ihm fernlicgen. Daran nämlich hat ihn seine Kritik des Subjekts ebenso gehindert, wie diejenige Adornos dazu geradezu auffor­ derte. Den Rahmen der Subjektkritik, die in Foucaults Konzep­ tion der Moderne cingeht, bildet eine sprachphilosophisch be­ gründete Destruktion des sinnkonstitutiven Subjekts;27 ihr zu­ folge ist das neuzeitliche Subjekt letztlich nichts anderes als die fiktive Einheit, die durch anonyme Diskursregeln erzeugt oder durch gewaltvolle Übermächtigungsstrategien produziert wird. Wenn aber dem Individuum jede intentionale Regung überhaupt abgesprochen wird, dann kann auch das psychische Leiden des Subjekts nicht mehr als der stumme Ausdruck einer Vergewalti­ gung des menschlichen Körpers interpretiert werden; und umge­ kehrt kann der menschliche Leib nun seinerseits nicht als Reso­ nanzboden psychischer Erlebnisse gedeutet werden.28 Daher muß

27 Vgl. Manfred Frank, Was heißt Neostrukturalismus?, Frankfurt am Main 1984, 9./10. Vorlesung. 28 Zur Problematik des Körperbegriffs in der Theorie Foucaults vgl. H. L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalis­ mus und Hermeneutik, a.a.O., v. a. S. 140 ff. 91

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Foucault in Konsequenz seiner strukturalistischen Kritik des Subjekts den menschlichen Körper als eine gesichtslose, unend­ lich konditionierbare Energiemasse einfiihren. Das theoretische Dilemma aber, in das er mit diesem quasi-behavioristischen Be­ griff des Körpers gerät, liegt auf der Hand: Obwohl alles an seiner Kritik der Moderne auf das Leiden des menschlichen Lei­ bes unter den disziplinierenden Akten der modernen Machtappa­ rate konzentriert scheint, findet sich in seiner Theorie nichts, was dieses Leiden als Leiden artikulieren könnte. So muß seine Theo­ rie der Moderne am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern: Mit dem positivistischen Gleichmut eines Niklas Luhmann muß er als ei­ nen objektiven Vorgang der Machtsteigerung betrachten, was Adorno noch mit den Mitteln einer sicherlich problematischen Geschichtsphilosophie zu attackieren vermochte.29

29 Zur Fragwürdigkeit der Geschichtsphilosophie Adornos vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., Kap. z. 9*

Kommunikative Erschließung der Vergangenheit Zum Zusammenhang von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Walter Benjamin

Nur in einem vordergründigen Sinn scheint Walter Benjamin heute noch aktuell zu sein: An der Deutung von Lebensgeschichte und Werk beteiligt sich zwar ein stetig wachsender Kreis von Wissenschaftlern, aber für den Fortgang der philosophischen oder soziologischen Forschung ist seine Theorie ohne jede er­ kennbare Wirkung. Die theoretischen Fronten, die sich in der Aneignung seiner Schriften ursprünglich gegenüberstanden, haben sich mit jedem Jahrzehnt um neue Theoriepositionen erweitert: So streiten heute um ein angemessenes Verständnis nicht mehr nur die Anwälte der kritischen Theorie, des Marxismus und der jüdischen Mystik, sondern auch die Verfechter des Dekonstruktivismus und der Postmoderne nicht weniger als die Anhänger einer konserva­ tiven Politiktheorie. Kaum ein anderer Denker dieses Jahrhun­ derts hat binnen so kurzer Zeit so viele Rezeptionswellen aus­ zulösen vermocht, kaum ein zweiter scheint dasselbe Anregungs­ potential für immer wieder neue Interpretationsbemühungen zu besitzen wie Benjamin. Dem Maß an Aufmerksamkeit, das seine Schriften als Gegenstand der gelehrten Deutung finden, entspricht jedoch in nichts das Gewicht, das ihnen in der aktuellen Forschung zukommt: Für die systematischen Fragen, die heute in der Philo­ sophie, der Kulturtheorie oder der Sozialforschung eine Rolle spielen, sind die Bestandteile seines Werkes so gut wie ohne Be­ deutung geblieben. Diese Kluft zwischen interpretatorischem Aufwand und theoretischem Ertrag ist in der Eigenart der Theorie Benjamins selber vorgezcichnet: Ihre verstreuten, häufig auch disparaten Gedankengänge sind in sich von überraschender Strin­ genz, ja verführerischer Brillanz, ohne daß sie sich aber jemals zu größeren Ideenkomplexen zusammenschließen, die konkurrie­ rend in den philosophischen Diskurs eintreten könnten. Seine Arbeiten versagen sich ihrer Anlage nach so strikt jeder Form der Theoriebildung, daß sie wie ein literarischer Text zwar ständig nach neuen Deutungen verlangen, das Feld der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aber nicht eigentlich zu betreten vermögen. 93

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Wer sich für den systematischen Ertrag Benjamins interessiert, ist daher stets noch dazu gezwungen gewesen, zwischen den dispa­ raten Gedankengängen erst konstruktiv die Einheit zu stiften, an der es ihnen mit Absicht mangelt. Einen Schritt in die damit umrissene Richtung möchte ich im folgenden unternehmen, indem ich zwischen dem anthropologisch angelegten Erfahrungsbegriff und der Geschichtsphilosophie Benjamins eine systematische Ver­ bindung herstelle. Ich knüpfe an einen seiner frühesten Texte an, um von hier aus die These zu entwickeln: daß Benjamin dem historischen Prozeß des Erfahrungsverlustes die Möglichkeit einer unverkürzten Erfahrung nur entgegenzusetzen versucht, um ein moralisches Problem zu lösen, mit dem ihn seine geschichtsphi­ losophischen Überlegungen konfrontieren.1 Der systematische Ertrag seines Werkes wird sich daher daran bemessen, ob es ihm gelungen ist, die moralische Funktion einer unverkürzten Weise der menschlichen Erfahrung hinreichend plausibel zu machen. f

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Schon in dem »Programm einer kommenden Philosophie«2, das Benjamin noch als Student verfaßt hat, steht im Zentrum der Überlegungen eine Kritik an reduzierten Modellen der mensch­ lichen Erfahrung. Benjamin verfolgt damals das anspruchsvolle Ziel, die kantische Kritik der reinen Vernunft zum Vorbild einer Erkenntnistheorie zu nehmen, nach der sich auch noch die religi­ ös-metaphysische Erkenntnis als allgemein und notwendig erwei­ sen lassen soll; zu diesem Zweck trennt er an der kantischcn Theorie das erkenntniskritische Verfahren von dem wissenschaft­ lichen Material ab, an dem es ursprünglich entwickelt worden war, um es gewissermaßen auf das Feld eines überlegenen Wissens­ bereiches zu übertragen. Benjamin steht mit seiner Polemik gegen den eingeschränkten Begriff von wissenschaftlicher Erfahrung, an dem Kant seine Erkenntnistheorie ausgerichtet hat, in seiner Zeit 1 Im folgenden zitiere ich nach: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften (GS), unter Mitwirkung von Th. W. Adorno und G. Schölern heraus­ gegeben von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Bd. i-vn, Frank­ furt 1974-1989. 2 GS, 11, 1, I57-171-

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nicht alleine da; wie viele andere Autoren sieht er die entschei­ dende Schwäche der Kritik der reinen Vernunft darin, daß sie die »Gewißheit und Wahrheit« der Erkenntnis an einem Wirklich­ keitsbereich zu ergründen versucht, der »niederen, vielleicht nie­ dersten Rang(es)« ist? Kant läßt sich nämlich von einem Begriff der Erfahrung leiten, in dem die »Weltanschauung« der Epoche der Aufklärung insofern prägend eingegangen ist, als er am Modell des mechanischen Eingriffs eines Subjekts in den Objektbereich der Natur orientiert ist; mit der Ausrichtung an diesem einfachen, auf »ein Minimum von Bedeutung reduzierten« Begriff von »Erfah­ rung«4 fließt aber auch ein Stück undurchschauter Metaphysik untergründig in die kantische Erkenntnistheorie ein, weil sie zwangsläufig auf die polare Entgegensetzung eines Erkenntnis­ subjekts und eines entsprechenden Objekts fixiert bleiben muß. Demgegenüber will Benjamin nun das kritische Verfahren Kants auf andere, eben anspruchsvollere Formen menschlicher Erfah­ rung zur Anwendung bringen, um, wie es selbstbewußt heißt, die »Sphäre der Erkenntnis jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung autonom zu begründen«? Ist dieser erste Schritt noch grob mit dem zu parallelisieren, den Dilthey in seiner erkenntniskritischen Begründung der historisch­ hermeneutischen Wissenschaften zu unternehmen versucht hat6, so trennt sich Benjamin davon aber entschieden im zweiten Schritt der Skizzierung seines eigenen Programms. Darin sucht er den Leitfaden für die Bestimmung eines komplexeren Begriffs der Erfahrung nämlich nicht an Formen des kommunikativen Wis­ sens, sondern an Weisen der magischen Welterschließung zu ge­ winnen; es ist nicht die hermeneutische Erfahrung des Verstehens eines fremden Sinnzusammenhanges, sondern die Erfahrung einer Beseeltheit aller Wirklichkeit, die er zum leitenden Bezugspunkt seiner Analyse macht. Auch mit der Wahl dieses Erfahrungstyps steht Benjamin in seiner Zeit noch nicht alleine; schon um die Jahrhundertwende war sowohl im amerikanischen Pragmatismus als auch in der französischen Lebensphilosophie der Versuch un3 4 5 6

Ebd., 158. Ebd., 159. Ebd., 167. Vgl. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1973, 178 ff. 95

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ternommen worden, nicht-instrumentelle Formen der Erfahrung auf dem Weg einer Analyse jener religiösen und ästhetischen Er­ fahrungen freizulegen, in denen sich unser Verhältnis zur Wirk­ lichkeit in eigentümlicher Weise kommunikativ verflüssigt.7 Um solche Grenzerfahrungen zu belegen, in denen die Wirklichkeit im ganzen als Feld subjektiver Kräfte erlebt wird, zieht Benjamin empirische Beispiele heran, zu deren Kenntnis er weitgehend in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Forschung gelangt war: Offenbar im Anschluß an die damals außerordentlich ein­ flußreichen Untersuchungen von Levy-Bruhl nennt er die »Na­ turvölker«, welche sich »mit heiligen Tieren und Pflanzen identifi­ zieren«8, spricht von »Wahnsinnigen« und »Kranken«, bei denen es in der Wahrnehmung zu einer Auflösung der Ichgrenzen kommt, und verweist schließlich gar auf »Hellseher, welche we­ nigstens behaupten, die Wahrnehmungen anderer als ihre eigenen empfangen zu können«’. Auf alle diese Beispiele wird Benjamin an verschiedenen Stellen seines Werkes später wieder zurückkom­ men, an ihnen wird er in einem veränderten Kontext stets wieder zu belegen versuchen, daß eine wirkliche Erfahrung zu machen nur heißen kann, die Welt plötzlich als ein soziales Feld von Analogien und Entsprechungen zu erleben: jedes der vier Beispiele steht stellvertretend für die Wahrnehmungsveränderung ein, die wir erleben, wenn wir zwischen der Sphäre des Objektivierten und dem Bereich des Intersubjektiven keine Trennung mehr aufrecht­ zuerhalten vermögen. Allerdings verfolgt Benjamin im Kontext des früheren Programmentwurfs mit seiner Aufzählung vor allem das Ziel, empirische Hinweise auf die Möglichkeit einer Form der menschlichen Erfahrung zu geben, die er abwechselnd als »reli­ giös« oder als »metaphysisch« bezeichnet: weil damit ein Wirk­ lichkeitsbezug gemeint sein soll, der sich am Punkt »totaler Neu­ tralität in bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt« befindet10, kann er als Ausgangspunkt für eine an Kant anschließende, aber ihn transzendierende Grundlegung wahrer Erkenntnis dienen, die 7 Zu John Dewey vgl. etwa: Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, 204 ff.; zu Bergson vgl.: Konstantin Romanos, Heimkehr-Henri Bergsons lebensphilosophische Ansätze zur Heilung vom erstarrten Leben, Frankfurt/M. 1988. 8 GS, 11, 1, 162. 9 Ebd. 10 Ebd., 163. i ■

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sich ja in einem Jenseits der »Subjekt-Objekt-Terminologic« bcfinden soll. Was Benjamin in seinen früheren Jahren als Idee einer kommenden Philosophie vorgeschwebt hat, ist damit bei aller metaphysischen Zuspitzung durchaus rational nachzuvollzichen: Wenn sich unter unseren alltäglichen, allgemein zugänglichen Erfahrungen auch solche befinden, in denen die Wirklichkeit ihren bloß objektiven Charakter verliert und zur Bezugsfläche intersubjektiver Erleb­ nisse wird, dann läßt sich in ihnen das empirische Material einer Erkenntniskritik finden, der es um die Bedingungen der Möglich­ keit metaphysischer Erkenntnis geht. Freilich fehlt es von hier bis zur kritischen Rechtfertigung religiöser Erkenntnis noch an dem zusätzlichen Beweisschritt, daß es sich bei jenen magischen Er­ fahrungen auch um einen allgemeinen und notwendigen Zugang zur Erkenntnis eines Gottes handelt; ein Argument für diese These versucht Benjamin zu gewinnen, indem er Gott nicht als das Objekt einer möglichen Erfahrung, sondern als den Inbegriff all dessen auslegt, was die Philosophie kategorial hinzuzudenken hat, wenn sie eine Erfahrung jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung zu erfassen unternimmt. Aber eine solche indirekte Beweisführung ist wohl zu vage und zu leichtfertig gewesen, als daß sie im Werk Benjamins lange eine entscheidende Rolle hätte spielen können; alsbald nach der Niederschrift seines frühen Programms wendet er sich vielmehr von der Idee der Errichtung einer Metaphysik auf dem Boden der Kantischen Erkenntnistheorie ab, ja, läßt den Plan einer crkenntnisthcoretischen Begründung religiöser Erkenntnis überhaupt fallen. Von seinen ursprünglichen Entwürfen jedoch überlebt der eigentliche Kerngedanke, die Idee einer bedeutungs­ reicheren, unverstümmelten Erfahrung, auch die materialistische Ernüchterung der folgenden Jahre: Auf dem Weg zugleich einer Anthropologisierung und einer Historisierung macht Benjamin einen emphatischen Begriff der Erfahrung zum Leitfaden der Fortentwicklung seiner Theorie.

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Es muß vor allem die Auseinandersetzung mit den lebensphiloso­ phischen Schriften Bergsons, aber auch mit der Theorie von Lud­ wig Klages gewesen sein, die Benjamin schon bald in die Lage versetzt hat, seinen Vorstellungen über eine nicht-mechanische, 97

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bedeutungsreichere Erfahrung klarere Konturen zu geben.11 War die Möglichkeit einer solchen Form von Erfahrung im ursprüng­ lichen Kontext nur an der Sonderstellung archaischer Völker und physisch oder psychisch Erkrankter ausgewiesen worden, so ge­ winnt sie nun in Folge der lebensphilosophischen Lektionen zu­ nehmend ein anthropologisches Gewicht: Der Weg zu einer Er­ fahrung, in der die Wirklichkeit als ein Bezugsfeld intersubjektiver Erlebnisse erscheint, soll nun nicht mehr nur spezifischen Sonder­ gruppen, sondern im Prinzip jedem menschlichen Wesen offen­ stehen, weil er an eine humanspezifische Fähigkeit zurückgebun­ den ist. Wie Bergson erschließt Benjamin die Struktur einer der­ artigen Erfahrung zunächst aus der Gegenüberstellung zu jenem zweckgebundenen Bewußtsein, mit dem wir im Alltag unser prak­ tisches Leben vollziehen; dabei wird nur das für den Menschen zu einer Erfahrung, was an den Gegenständen zur Bewältigung von routinemäßig zu erledigenden Aufgaben dient12. Im Normalvollzug des Alltags erschließen wir die Welt allein gemäß der Signale, über die wir im instrumentellen Umgang gelernt haben, daß sie uns die Möglichkeiten eines erfolgreichen Handelns anzeigen; zur Erfahrung gelangt in solchen Fällen von den Dingen daher nur jene schmale Schicht, die als ein Feld instrumenteller Verweisun­ gen fungieren kann. Insofern aber muß die Wirklichkeit überall dort reicher und komplexer in die Erfahrung des Menschen ein­ treten, wo sie nicht mehr unter der Regie eines zweckgebundenen Handelns erschlossen wird; das ist in all denjenigen Situationen der Fall, wo die instrumentelle Aufmerksamkeit zurücktritt, um ei­ nem Zustand geringerer Konzentrationen oder halbwacher Be­ wußtseinszustände zu weichen. Aus vielen Schriften Benjamins wissen wir, welche menschlichen 11 Weder Benjamins Verhältnis zur Lebensphilosophie Bergsons noch sein vielfach dokumentiertes Interesse an Klages ist bislang hinreichend untersucht worden. Einen philologisch bleibenden Überblick über die Beziehung zu Klages gibt: Werner Fuld, »Walter Benjamins Beziehung zu Ludwig Klages«, in: Akzente, 28, 1981, 274ff.; interessante Hin­ weise zu Bergson finden sich in einer neuen, äußerst materialreichen und klaren Arbeit zum Passagenwerk: Heiner Weidemann, Flanerie, Sammlung, Spiel, München 1992. 12 Vgl. Henri Bergson, »Materie und Gedächtnis«, in: ders., Materie und Gedächtnis (und andere Schriften), Frankfurt/M. 1964, 43 ff-, bes. Kap. 11 (102 ff.). 98

Zustände es sein sollen, mit denen ein solcher Schwund der zweck­ gerichteten Aufmerksamkeit einherzugehen scheint: Vor allem sind cs, anders als beim Traum selber, die Augenblicke des Erwa­ chens, in denen die Empfindungsreize der Umwelt noch nicht gemäß der Alltagsroutine instrumentell zuzuordnen sind; immer wieder bezieht sich Benjamin auch auf den psychischen Zustand von Kindern, denen die mangelnde Fähigkeit zur zwcckgerichteten Umwcltkontrolle erlaubt, die Wirklichkeit als ein Netz von beseelten Kräften zu erleben; dann sind cs Situationen der herab­ gesetzten Aufmerksamkeit, wie sie das zerstreute Flanieren, die Versunkenheit beim Lesen oder Musikhören, aber auch der Rausch mit sich führen; und schließlich gibt für Benjamin natür­ lich das künstlerische Produzieren selber ein Beispiel für einen menschlichen Zustand ab, bei dem an die Stelle routinisierter Konzentration eine selbstvergessene Versunkenheit in das entspre­ chende Material tritt. Was alle diese Erfahrungssituationen auf Seiten des Subjekts beweisen, ist ein Umstand, den Benjamin schon in seiner frühen Programmschrift hervorgehoben hatte: Zugleich mit der zweckgerichteten Aufmerksamkeit schwindet in solchen Augenblicken oder Zuständen auch das begleitende Bewußtsein, von der sinnlichen Umwelt als ein Mittelpunkt bewußten Agie­ rens, also als Handlungssubjekt, abgehoben zu sein. Situationen geringerer Konzentration oder der Halbwachheit bringen es mit sich, daß wir uns nicht mehr einer verfügbaren Welt von Tatsachen entgegengesetzt erleben, sondern tendenziell mit jenem Strom von Sinneseindrücken verschwimmen, der ohne die übliche Kon­ trolle der Intelligenz auf uns eindringt. Schwieriger aber ist die Frage zu beantworten, wie Benjamin die Folge eines solchen Bewußtseinszustandes verminderter Aufmerksamkeit für das be­ schreibt, was wir an der Wirklichkeit, also am Objekt, wahrzu­ nehmen vermögen. Nicht wenige Stellen lassen vermuten, daß er sich hier die starke These zugetraut hat, derzufolge wir bei Min­ derung unserer zweckgerichteten Konzentration dazu neigen, die Wirklichkeit als ein Feld von überraschenden Korrespondenzen und Analogien zu erleben: so heißt es von Proust, daß ihn seine künstlich hergestellten Erinnerungsschübc in eine Welt zurück­ begleiten, »in der das wahre surrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt«13; und dem Flaneur, der sich in einem

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13 Walter Benjamin, »Zum Bilde Prousts«, GS, 11, 1, 310 ff. (hier 314).

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Zustand der halbwachen Zerstreuung befindet, ist die Großstadt nicht als instrumentell zu bewältigendes Handlungsfeld gegeben, sondern als ein magischer Ort ungeahnter Entsprechungen und Analogien.14 So findet in Situationen eines Verlustes unserer in­ strumentellen Aufmerksamkeit nicht nur, wie es im SurrealismusAufsatz heißt, eine »Lockerung des Ichs« statt15, also eine Dezen­ trierung des Handlungssubjekts, sondern komplementär dazu ge­ winnt auf der Objektseite auch die Wirklichkeit die Eigenschaften einer beseelten Welt hinzu; in einer solchen Erfahrung gelangen wir mithin zu einem Wirklichkeitsbezug, in dem die alltäglichroutinisierte Entgegensetzung von uns als Subjekten gegenüber einem bloßen Objekt aufgelöst ist, weil alles in einen Bereich des Intersubjektiven einbezogen wird. Es ist anzunehmen, daß hier bei Benjamin jene weitmaschigen Spekulationen zum Zuge kommen, die er in bezug auf das mimetische Vermögen des Menschen an­ gestellt hat.16 Damit ist für die Frühgeschichte zunächst eine Fä­ higkeit gemeint, die menschliche Wesen in der Angst vor Natur­ gefahren ausgebildet haben, um sich durch Anähnelung an das bedrohliche Objekt in die Sicherheit der Unsichtbarkeit zu brin­ gen, von ihr aber ist nach Benjamins Überzeugung im Laufe der geschichtlichen Entwicklung nur der subjektivistische Rest geblie­ ben, der uns in die Lage versetzt, zwischen Gegenständen unserer sinnlichen Umwelt spontan Ähnlichkeitsbeziehungen herzustcllen. Je geringer nun, so scheint Benjamin zu denken, im alltägli­ chen Daseinsvollzug die zweckgebundene Aufmerksamkeit ist, desto eher wird diese uns mitgegebene Fähigkeit freigesetzt, sinn­ liche wie aber auch unsinnliche Korrespondenzen wahrzuneh­ men. Nun hat Benjamin seiner Theorie der Erfahrung mit der Auf­ nahme anthropologischer Motive zugleich aber auch eine stärkere Wendung ins Historische gegeben; die Lektüre von soziologisch orientierten Zeitdiagnosen, wie sie in den Schriften von Ferdinand Tönnies und Georg Simmel angelegt waren, hat ihm schon früh Auskunft darüber verschafft, wie sehr die anthropologisch veran­ kerten Erfahrungspotentiale des Menschen selber geschichtlichen

14 Vgl. u.a. Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, GS, 1, 2, 509 ff. (etwa 572, 627f.). 15 Walter Benjamin, Der Surrealismus, GS, II, 1, 295 ff. (hier 279). 16 Walter Benjamin, Über das mimetische Vermögen, GS, II, 1, aroff. IOO

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Veränderungen unterworfen sein können. Aus der Einbettung seines lebensphilosophisch beeinflußten Erfahrungsbegriffes in den Horizont einer Kultur- und Sozialgeschichte ergibt sich für Benjamin die These von einem spezifischen Verlust an Erfahrun­ gen; dieses Konzept bildet, so weit ich sehe, den zeitdiagnostischen Kern seiner Theorie.

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III.

Zur Annahme eines historisch voranschreitenden »Erfahrungsver­ lustes« ist Benjamin dadurch gelangt, daß er aus den verschieden­ sten Untersuchungen zum sozialen Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften die Rückschlüsse gezogen hat, die sich daraus für jenes anthropologisch angelegte Potential der Erfah­ rungssteigerung durch Äufmerksamkeitsminderung ergeben: Mit den Umwälzungen in den sozialen Lebensformen, die die Heraufkunft der kapitalistischen Industrieproduktion erzwingt, wer­ den die Chancen zur legitimen Herabsetzung instrumenteller Aufmerksamkeit so sehr gemindert, daß am Ende die Möglich­ keiten solcher qualitativen Erfahrungssituationen überhaupt zu verschwinden drohen. Es sind vor allem Forschungen über die historischen Transformationen der Arbeits- und Kommunika­ tionssphäre, die Benjamin zusammenträgt, um seiner historischen These einigermaßen klare Konturen zu geben. Ziehen wir die verschiedenen Schriften zusammen, in denen er dem Prozeß des Erfahrungsverlustes nachgegangen ist, so lassen sich drei Ebenen von Veränderungen unterscheiden, die Benjamin als soziale Vor­ aussetzungen eines Strukturwandels der Erfahrung festhält: Mit Blick auf die Arbeitsformen ergibt sich, wie der Aufsatz über den »Erzähler«, aber auch die Baudelaire-Studien zeigen17, ein Über­ gang von handwerklichen Formen der Tätigkeit zur Produktion am Fließband, die ein »reflexhaftes Reagieren« verlangen; war dort eine selbstvergessene Versunkenheit in den Arbeitsgegenstand noch möglich, weil die technische Kontrolle dem Kommunika. tionsfluß der kooperativ Tätigen überlassen war, so erfordert die

17 Walter Benjamin, Der Erzähler, GS, II, 2, 438 ff. (bes. S. 447 f.); ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalis­ mus, a. a. O., etwa 632. IOI

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Fließbandproduktion ein Höchstmaß an instrumenteller Auf­ merksamkeit, die jede Art von Erfahrung im Modus der Halb­ wachheit unmöglich macht. Im Hinblick auf die Interaktionsverhältnissc rechnet Benjamin bekanntlich mit einer Umstellung von narrativen Austauschformen zur einseitigen Kommunikations­ form der »Information«: In vormodernen Zeiten, so unterstellt sein leicht nostalgisch, offenbar an Tönnies orientiertes Bild18, geschah die Integration des sozialen Gemeinwesens noch auf dem Weg einer Tradierung von Erzählungen, in denen lebensgcschichtlich prägende Erfahrungen in verschlüsselter Form von Generation zu Generation weitergegeben wurden; unter den Be­ dingungen der wachsenden Industrialisierung tritt an die Stelle i solcher narrativen Sozialisationsprozesse die einseitig, über Me­ dien verbreitete Information, die Mitteilung also über bloß noch . als »Sensationen« registrierte Vorkommnisse19. Entscheidend ist : für Benjamin auch hier wieder der Umstand, daß mit der Um- j Stellung in den Mitteilungsformen auch eine Verschiebung der ■ psychischen Rezeptionsbedingungen auf Kosten der Möglichkei- f' ten geminderter Aufmerksamkeit einhergeht: Das Floren von mündlich übermittelten Erzählungen erlaubt noch die allmähliche Hcrabsenkung der gerichteten Konzentration, während die Ver­ mittlung von Informationen ständig mit der schnellen, konzen­ trierten Aufmerksamkeit des Rezipienten zu rechnen hat. Am schwierigsten ist schließlich jener Komplex von historischen Ver­ änderungen zu verstehen, den Benjamin unter dem Titel des »Au­ raverlustes« zusammengefaßt hat:20 Gemeint sind damit zunächst die Wahrnehmungsverschiebungen, die sich gegenüber dem

18 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1979; über die Korrespondenzen zwischen Tönnies und Benjamin an diesem Punkt vgl. die sehr aufschlußreiche Arbeit: Jörg Pfuhl, Zum Erfab- 1 rungsbegriff Walter Benjamins. »Echte historische Erfahrung» im Spät­ werk, MA-Arbeit, FU Berlin 1990, Kap. n, 1. 19 Vgl. Benjamin, Der Erzähler, a. a. O., 443 f.; ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, a. a. O., 610 f. 20 Zentral sind für diesen Komplex: Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im ZeitalterdesHochkapitahsmus, a. a. O., 644 ff.; ders., Das Kunstwerk im Zeitalterseiner technischen Reproduzierbarkeit, GS, 1,2, 432 ff.; sehr hilfreich ist hier die Interpretation von Jürgen Haber- ; mas, »Bewußtmachende oder rettende Kritik«, in: ders., Philoso­ phisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1981 (3. Aufl.), 336 ff102

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Kunstwerk dadurch ergeben, daß es aus der kultischen Distanz der sakralen Sphäre herausgelöst und in die unmittelbare Nähe des Betrachters gerückt wird; im weiteren soll mit diesem Prozeß jedoch zugleich eine Veränderung in der Form der sozialen Inte­ gration bezeichnet sein, weil mit der Auflösung ritueller Kulte zugleich jenes Medium zu schwinden beginnt, in dessen Horizont die individuellen Lebensgeschichten noch kollektiv auf die Ge­ schichte eines einzigen Gemeinwesens bezogen werden konnten. Insofern mit der kultischen Wahrnehmungsweise freilich auch ein Element der Erschütterung des Ich verknüpft ist, also ein Moment der Depotenzierung seiner zweckdienlichen Reaktionsfähigkeit, geht mit ihr wiederum ein Sektor der geminderten Aufmerksam­ keit verloren: Der Verlust der Aura bedeutet auch, daß dem Sub­ jekt solche institutionalisierten Situationskontexte entzogen wer­ den, in denen cs zu einer selbstvergessenen Versunkenheit in einem Fremden geradezu gezwungen war. Aus diesen drei Veränderungs­ prozessen zusammengenommen glaubt Benjamin nun auf einen Erfahrungsverlust schließen zu können, der für die industrialisier­ ten Gesellschaften der Moderne im ganzen typisch sein soll: An die Stelle von Erfahrungen, wie sie vor allem im Modus halbwacher Bewußtseinszustände möglich sind, tritt zunehmend die Verar­ beitungsform des »Erlebnisses«21, in der Vorkommnisse und Be­ gebenheiten nur noch auf ihren instrumentellen Informationswert hin registriert werden. Es sind zwei Formen eines solchen Erfahrungsverlustes, die Ben­ jamin voneinander zu unterscheiden versucht: in bezug auf die Erfahrung von Vergangenheit spricht er von der Ersetzung einer qualitativ dichten, zumal häufig kollektiv gesicherten Erinnerung durch ein unter der »Botmäßigkeit der Intelligenz«22 stehendes Gedächtnis; diese Unterscheidung verdankt sich einer Historisierung der Differenzierung, die Bergson zwischen der »memoire pure« und den zweckdienlichen, körperlich habitualisierten Ge­ wohnheiten vorgenommen hat23. Mit Blick auf das Verhältnis des 21 Zum Gegensatz von »Erfahrung« und »Erlebnis« vgl. u.a.: Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitahsmus, a. a. O., 612 ff.; hier auch die Interpretation von Heiner Weidemann, Flanerie, Sammlung, Spiel, a. a. O., 67 f. 22 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, a.a.O., 609. 23 Vgl. insgesamt ebd., 609 ff. io}

Subjekts zu seiner Gegenwart unterscheidet Benjamin eben zwi­ schen jenem Erfahrungsmodus, der Züge einer magischen Welt­ erschließung trägt, und der Verarbeitungsform des »Erlebnisses«, das von der Umwelt nur noch deren zweckdienliche Seite ins Bewußtsein treten läßt. Insgesamt vollzieht sich daher der Struk­ turwandel der Erfahrung, den Benjamin als ein soziokulturelles Resultat der Herausbildung der modernen Industrie begreift, als eine Veränderung unserer Wahrnehmung sowohl der Vergangen­ heit als auch der Gegenwart. Diese Gedankenreihe, die das Sub­ strat von Benjamins Theorie der Erfahrung enthält, weist an mehr als einer Stelle Berührungspunkte mit den Überlegungen Ernst Jüngers auf.24 Auch Jünger ist ein Rationalist, der an dem sozia­ len Strukturwandel der Moderne unter dem Gesichtspunkt inter­ essiert ist, welche Ncgativfolgen sich daraus für das Wahrneh­ mungspotential magischer Erfahrungen ergeben; führen derartige Überlegungen bei ihm aber zur Konsequenz einer elitären Wie­ derverzauberung der Welt, so besitzt Benjamin eine Geschichts­ philosophie, die jenem Erfahrungspotential erkenntnistheoretisch eine vollkommen andere, nämlich emanzipatorische Aufgabe ge­ ben soll.

IV.

Wie Benjamin, so ist auch Ernst Jünger von der Lebensphilosophic des Jahrhundertbeginns so stark beeinflußt, daß er sich von ihr die Grundbegriffe seiner Kulturkritik vorgeben läßt. Die Tagebuch­ eintragungen, die in der Schrift »Das abenteuerliche Herz«25 ver­ sammelt sind, stellen die soziale Welt der Moderne als ein entzau­ bertes Reich mechanisch-routinisierter Handlungsabläufe dar, das nur noch in wenigen, privilegierten Augenblicken die Perspektive auf einen Horizont magischer Erscheinungen freigibt. Auf solche t

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24 Darauf hat früh schon Karl Heinz Bohrer aufmerksam gemacht: ders., Die Ästhetik des Schreckens, München 1978, vgl. auch Martin Meyer, Emst Jünger, München 1990, 154 ff. 2$ Ich orientiere mich an der 1. Fassung dieses Textes: Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz, in: ders., Sämtliche Werke, Bd.9, Stuttgart 1979, 31 ff.; zum Kontext äußerst informativ: Martin Meyer, Emst Jünger, a.a. O„ Kap. II; Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg 1962. 104

außerordentlichen Zustände, die nicht anders als bei Benjamin mit Hilfe oberflächlich rezipierter Kategorien Bergsons Umrissen wer­ den, ist der anthropologische Materialismus Jüngers in seiner Grundschicht fixiert: In Situationen der Bedrohungen, wie sie sich für das Kind aus seiner natürlichen Hilflosigkeit, für den Krieger aus der Konfrontation mit der Todesgefahr und für den Berauschten aus dem Sog des Ichverlustes ergeben, eröffnen sich in der magischen Perspektive eine Reihe von selbstverständlichen Werten oder, wie es ebenfalls heißt, »Maßstäben des Herzens«26. Weil der Mensch darin noch eine werthafte Sicherheit finden kann, besitzen diese Augenblicke der magischen Entrückung für ihn einen privilegierten Status: Nicht nur erschließen sie ihm die Welt in einem synästhetischen Bedcutungsreichtum, wie er dem mechanischen Handeln nicht zugänglich ist, sondern geben ihm auch die sittlichen Orientierungsmaßstäbe vor, die sich im Prozeß der Entzauberung in einen Pluralismus von modischen Beliebig­ keiten aufgelöst haben. Jünger läßt daher seine tagebuchartigen Notizen immer wieder in die Schilderung entsprechender Situa­ tionen der magischen Entrückung münden: Der Rausch, der Schlaf, die Todesdrohung sind ihm ebensovielc Schlüssel zu jener einen Erfahrung, die in einzigartiger Weise eine Korrespondenz von Seele und Welt zustande bringt, weil sic nicht von einer Ein­ stellung der instrumentellen Erfolgskontrolle geprägt ist27. In eine Kulturkritik verwandelt Jünger diesen anthropologischen Aus­ gangspunkt aber nun erst dadurch, daß er die soziokulturellen Entwicklungen des modernen Lebens als eine besondere Bedro­ hung für die Möglichkeiten jener magischen Zustände beschreibt: In den Großstädten herrscht in einem solchen Maße das Diktat des instrumentellen Reagierens vor, daß sich überall eine »erstarrte, automatische und gleichsam narkotisierte Haltung«28 breitmacht; durch die Entwicklung der Militärtechnik wird der Gefahr im Krieg ihre bedrohliche Anschaulichkeit genommen, so daß sie nicht mehr in den entrückenden Taumel des Kampfes als »inneres Erlebnis« führen kann. Insgesamt droht, so heißt cs bei Jünger, die leere Mechanik von routinisierten Handlungsabläufen den wert-

26 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz, a. a. O., 55. 27 Vgl. etwa ebd., 62, 72. 28 Ebd., 80. 105

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gebenden Schöpfungsreichtum magischer Erfahrungen zu erdrükken. Es ist diese Situation einer alles beherrschenden Mechanik der Zeit, für die Jünger nun den Fluchtweg einer Wiedergewinnung magi­ scher Einstellungen empfiehlt: Gegen die Entleerung unserer Wahrnehmungswelt ist ein Widerstand nur zu errichten, wenn jene letzten Bastionen gegen die instrumentelle Vernunft verteidigt und ausgebaut werden, die in der sensiblen Aufmerksamkeit auf die Zustände des Rausches, des Traumes und der Todesbedrohung angelegt sind. Diese Empfehlung aber ergeht nicht an alle, die unter dem Diktat der Zweckrationalität leiden, sondern nur noch an die wenigen, die nicht zur narkotisierten Masse gehören. Jünger ist von Anbeginn an zu sehr von dem elitistischcn Gesell­ schaftsbild der konservativen Kulturkritik geprägt, als daß er seine zeitdiagnostischen Analysen nicht nur an eine kleine Minderheit von Zeitgenossen adressieren könnte; sein Programm ist das einer elitären Wiederverzauberung der Welt, die keine anderen Zielset­ zungen hat als eben die, einem Kreis von entschlossenen Auser­ wählten mit der Chance zur magischen Entrückung auch die Si­ cherheit traditionaler Werte wiederzugeben. Spätestens hier aber weicht die Theorie Benjamins um ein Ganzes von den zeitdiagno­ stischen Betrachtungen Jüngers ab. Zwar teilt Benjamin, wie wir heute sehen können, mit Jünger die These, daß die soziokulturellen Umbrüche der industriellen Welt zu einer Verkümmerung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten, zu einem Verlust an magischer Erfah­ rung führen; und mit Jünger stimmt Benjamin auch noch in der Vorstellung überein, daß gegenüber dem fortschreitenden Prozeß des Erfahrungsverlustes methodische Wege gefunden werden müs­ sen, um für unsere Gegenwart Weisen einer solchen komplexeren Wahrnehmung zurückzugewinnen. Aber diese Idee übernimmt im Werke Benjamins eine ganz andere Funktion, als ihr im anthropo­ logischen Materialismus Jüngers zugekommen war: Die Wieder­ gewinnung verschütteter Erfahrungsweisen dient nicht der Resti­ tution einer traditionalen Sittlichkeit, sondern dem Versuch einer moralischen Begleichung der Schuld, die wir einer erlösungsbe­ dürftigen Vergangenheit gegenüber besitzen. Den Kem von Ben­ jamins Theorie stellt die Überzeugung dar, daß nur die magischen Erfahrungsformen das methodische Vorbild für eine Einstellung abgeben können, in der wir die Vergangenheit so erschließen, daß das in ihr begangene Unrecht von der Gegenwart aus nachträglich io6

gesühnt werden kann29. Den damit angedeuteten Zusammenhang zwischen Erfahrungsbegriff und moralischer Intention erklärt Benjamins eigenwillige Konzeption von Geschichte. V.

Benjamin hat zeitlebens an einer Konzeption der Geschichte fest­ gehalten, für die zwischen dem Unrecht der Vergangenheit und den Emanzipationschancen der Gegenwart eine unauflösliche Ver­ bindung besteht30. Die Thesen Über den Begriff der Geschichte fassen nur in metaphorischer Zuspitzung zusammen, was er von Anfang an in der Tradition des jüdischen Messianismus als einen moralischen Schuldzusammcnhang des historischen Prozesses an­ gesehen hat: »uns ist«, so heißt es in den Thesen, »wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat«31. Mit 29 Allerdings zeichnet sich an dieser Stelle auch eine Alternative innerhalb des Bcnjaminschen Werkes ab, die von der Vorstellung geprägt ist, auf den historischen Prozeß des Erfahrungsverlustes nicht durch Versuche der Wiedergewinnung, sondern durch entschlossene Preisgabe jeder Art von intakter, vollständiger oder quasimagischer Erfahrung zu rea­ gieren: an die Steile eines aus sozialen und geschichtlichen Gründen veralteten Erfahrungsmodells hat dann das neue Muster einer erfah­ rungsarmen, dafür aber sachlich genauen und unterkühlten Wahrneh­ mung zu treten. An verschiedenen Stellen hat Benjamin diese Alterna­ tivkonzeption zum Kern eines ästhetischen Programms gemacht: W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu­ zierbarkeit, GS, 1, z, 431 ff.; ders., Erfahrung und Armut, GS, n, i, 213 ff. Vgl. zu diesen programmatischen Alternativen innerhalb des Bcnjaminschen Werkes: Rainer Rochlitz, Le desenchantcment de l’art. La philosophie de Walter Benjamin, Paris 1992; Jörg Pfuhl, Zum Erfahrungsbegriff Walter Benjamins, a. a. O. 30 Zur Geschichtsphilosophie Benjamins vgl. Jürgen Habermas, »Bewußtmachende oder rettende Kritik«, a. a. O.; Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1973, 128 ff. Zum jüdischen Hintergrund der geschichtsphilosophischen Überzeugungen Benjamins vgl. Susan A. Handelman, Fragments of Redemption, Jewish Thought and Literary Theory in Benjamin, Schölern and Levinas, Bloomington and Indianapolis 1991, Part One. 31 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS, 1, 2, 69 t ff. (hier 694).

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»Anspruch« ist hier eine Art von moralischem Recht gemeint, das den vergangenen Generationen den jeweils Lebenden gegenüber zukommt, weil diese stets aus den Leiden und Mühen einen Vorteil ziehen, die jene ungesühnt haben auf sich nehmen müssen; jede Gegenwart ist nämlich um die materiellen und symbolischen Gü­ ter reicher, die in »namenloser Fron«32 die ihr vorausgegangenen Geschlechter geschaffen haben, ohne für ihre Opfer und Entbeh­ rungen jemals entgolten worden zu sein. So durchzieht den histo­ rischen Prozeß eine Kette moralischer Verstrickungen, in der jedes ungesühnte Leid der Vergangenheit die objektive Schuld der ge­ genwärtigen Generation noch erhöht. Von dieser anwachsenden Schuld sich zu befreien aber hält Benjamin für eine Voraussetzung, an die das Gelingen der menschlichen Emanzipation im ganzen geknüpft ist; denn ohne eine angemessene Entsühnung all der Verbrechen, die jeder Gegenwart vorausliegen, wird keine Genera­ tion sich in dem Sinn »frei« wissen können, den wir mit dem Begriff verbinden, wenn wir darunter auch die Freiheit eines zwanglos mit sich selber Übereinstimmens verstehen. Jeder Ver­ such, die unabgeschlossenen Kämpfe der Vergangenheit fortzu­ setzen, setzt daher in der Gegenwart erneut die Anstrengung voraus, dem moralischen Anspruch der vergangenen Generatio­ nen zu Erfüllung zu verhelfen. Nun ist freilich mit dieser Inter­ pretation bislang nur geklärt, was cs heißen kann, daß die Vergan­ genheit einen objektiven Anspruch gegenüber der jeweils gegen­ wärtigen Generation besitzt; offen geblieben ist jedoch, wie jene moralische Schuld jemals soll abgegolten werden können, wenn doch die zu sühnenden Opfer unwiederbringlich dem Reich der Toten angehören. In der Deutung dessen, was Benjamin sich unter einer solchen Errettung der Vergangenheit vorgcstellt haben mag, stehen uns heute zwei alternative Wege offen: Am Zielpunkt des ersten Weges liegt die religiöse Idee eines jüngsten Gerichts, auf deren Konsequenz bereits Horkheimer in einem Brief an Benja­ min kritisch hingewiesen hat; mit den Prämissen einer materiali­ stischen Theorie ist dieser Gedanke unvereinbar, weil er nicht ohne Bezugnahme auf eine transzendente Gottheit auszukommen ver­ mag.33 Der zweite Weg hingegen führt zu dem Versuch, den Ge-

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32 Ebd., 696. 33 Siehe Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS, v, 1, 588 f.; vgl. zum Kontext auch Thomas McCarthy', »Philosopical Foundations of io8

danken einer »messianischen Kraft« so zu verstehen, daß er mit den Voraussetzungen nachreligiösen Denkens vereinbar bleibt; hier muß die Idee der nachträglichen Begleichung einer Schuld, die wir gegenüber den Opfern vergangener Verbrechen haben, den Charakter einer symbolischen Restitution ihrer moralischen In­ tegrität annehmen34. Eine solche Deutung verlangt, den morali­ schen Zusammenhang klarzumachcn, der zwischen dem Leiden vergangener Generationen und der Erinnerung von Geschichte bestehen kann. Mit jedem Verbrechen von der Art, wie Benjamin es vor Augen hat, wenn er von der »Barbarei«35 der menschlichen Geschichte spricht, wird eine Gruppe von Personen aus der mo­ ralischen Gemeinschaft aller Menschenwesen ausgeschlossen; daß nämlich die Hilferufe dieser Opfer, ihr stilles Aufbegehren oder ihr lauter Protest, bei den Zeitgenossen kein Gehör gefunden haben, daß sie also zu namenlosen Verlierern der Geschichte wurden, heißt andererseits nur, daß sie zu ihrer Zeit in ihren moralischen Ansprüchen keine Anerkennung haben erfahren können. Bleibt ein Akt des Verbrechens zu Lebzeiten der Opfer ungesühnt, so sterben sie mithin als anonyme Wesen, denen die moralische Gemeinschaft der Menschen die Aufnahme verweigert hat. Weil jede neue Generation naturwüchsig zu einem Teil dieser morali­ schen Gemeinschaft wird, sie also von Epoche zu Epoche erwei­ tert, übernimmt sie auch deren in der Vergangenheit liegende Ausgrenzungen, solange sie sie nicht von sich aus willentlich der Korrektur unterwirft; mit den ungesühnten Opfern der Ge­ schichte ist daher die Gegenwart erneut durch ein moralisches Band verknüpft, das in der stummen Aufforderung besteht, ihnen nachträglich die persönliche Integrität dadurch zurückzuerstatten, daß sie in die moralische Gemeinschaft der Menschen aufgenom­ men werden. Wenn es das ist, was Benjamin mit dem »Anspruch« der Vergangenheit gemeint hat, dann kann der Akt seiner Ein­ lösung freilich nur symbolischen Charakter tragen: Die »messia-

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Political Theology: Kant, Peukert and the Frankfurt School«,in: L.S.Rouner (Hg.), Civil Religion and Political Theology, Notre Dame 1986, 23 ff. 34 Hier orientiere ich mich an dem ausgezeichneten Aufsatz von Lutz Wingert, »Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Generationen? Moralischer Universalismus und erinnernde Solidari­ tät», in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, 9 (1991), 78 ff. 35 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a. a.O., 696. 109

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nische Kraft«, die jeder Gegenwart stets wieder zufällt, bedeutet das nie versiegende Vermögen, die Opfer der Geschichte retro­ spektiv zu Mitgliedern einer sich ständig erweiternden Moralgemcinschaft zu machen. Es ist nun meine These, daß Benjamin dieses Vermögen als die Leistung einer Geschichtsschreibung hat begreifen wollen, die die Vergangenheit so zu erschließen vermag, daß die toten Opfer erneut die Gestalt von beseelten Wesen annehmen: Eine »messianische Kraft« kommt uns heute in dem Maße zu, indem wir den historischen Prozeß in einer Weise vergegenwärtigen, daß dessen Verlierer noch einmal als Interak­ tionspartner unserer gegenwärtigen Erfahrungen erscheinen und damit also zu Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft werden. Allerdings ist eine solche Art der vergegenwärtigenden Ge­ schichtserfassung überhaupt nur möglich, wenn wir uns metho­ disch an die Richtlinien jener Form von Erfahrung halten, die gegenwärtig gerade zerstört zu werden droht.

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VI.

Aus seinem nie abreißenden Studium des Romanwerkes von Mar­ cel Proust mag Benjamin den ersten Anstoß zu der Idee erhalten haben, daß es der methodischen Perspektive einer Art von »un­ willkürlicher Erinnerung« bedarf, um die Vergangenheit in all ihrer Präsenz zur Darstellung bringen zu können.36 Auch Proust ist, wie sehr auch immer durch selbständige Gedankenarbeit ge­ brochen, ein Schüler von Henri Bcrgson gewesen: Sich die eigene Lebensgeschichte vergegenwärtigen heißt für ihn, sie literarisch aus der Einstellung heraus zu schildern, die wir in Augenblicken geminderter Aufmerksamkeit, also des Erwachens oder Tagträu­ mens cinnehmen; denn nur in solchen Zuständen verlieren die habitualisicrten Gedächtnisschemata so sehr an handlungssteuern­ der Kraft, daß Erinnerungsbilder zu Bewußtsein gelangen können, in denen eine Spur der ursprünglichen Erlebnisfülle bewahrt ist.37 g: '■

36 Zum Verhältnis Benjamins zu Proust vgl. u.a.: Heiner Weidemann, Flanerie, Sammlung, Spiel, a. a. O., 5 5 ff.; Peter Szondi, »Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin«, in: ders., Satz und Gegensatz, Frankfurt/M. 1964, 79 ff. 37 Vgl. A. E. Pilkington, Bergson and His Influence. A Reassessment, Cambridge 1976, Chap.4 (146ff.). HO

Es ist diese Indienstnahme der »unwillkürlichen Erinnerung« für eine Vergegenwärtigung der eigenen Kindheit, an der Benjamin sich methodisch orientiert, um das Verfahren einer dem Historis­ mus entgegengesetzten Geschichtsschreibung zu bestimmen. Das Ziel, das er damit verfolgt, ergibt sich aus der moralischen Funk­ tion, die die Erschließung der Geschichte bei ihm erfüllen muß: Weil sie wie bei Proust von der Vergangenheit Bilder zu erzeugen hat, die mit den Erfahrungen der Gegenwart in ein kommunika­ tives Verhältnis treten können, unternimmt Benjamin den schwie­ rigen, ja kühnen Versuch, dessen Erzähltechniken auf die Dar­ stellung der Geschichte im ganzen zu übertragen. Die Orientie­ rung an der Erinnerungskonzeption Prousts soll dafür Sorge tragen, daß die Geschichtsschreibung die Form einer nach rück­ wärts gewandten Wckerschließung annimmt, durch die die ehe­ maligen Opfer zu den symbolisch repräsentierten Partnern eines wiederaufgenommenen Verständigungsprozesses werden. »Verge­ genwärtigung« der Geschichte muß für Benjamin daher heißen, von einer vergangenen Epoche Bilder zu entwerfen, die mit den Proustschen Erinnerungsbildern die Eigenschaft teilen, so erfahrungsgcladen und direkt zu sein, daß wir mit ihnen gleichsam in Kommunikation treten können. Nun ist sich Benjamin natürlich über die vielen Schwierigkeiten im klaren gewesen, die ein solches Unterfangen zwangsläufig bereiten muß; all die methodischen Bemühungen, die er im Um­ feld des Passagen-Werkes unternommen hat, lassen sich als Ver­ suche interpretieren, exakt die Sichtweise zu umreißen, die inner­ halb der Geschichtsschreibung der Erzählperspektive Prousts ent­ sprechen würde.38 Die Darstellung ganzer Geschichtsepochen kann ja nur in einem übertragenen Sinn aus der Einstellung heraus erfolgen, die wir unwillkürlich einnehmen, wenn wir uns bei reduzierter Aufmerksamkeit unserer eigenen Kindheit erinnern; an die Stelle des erinnernden Subjekts muß hier, im Fall der Ge­ schichtsschreibung, eine imaginierte Gruppe oder eine ganze Ge­ neration treten; und das, was erinnert wird, ist nicht direkt zu­ gänglich, sondern muß erst im mühsamen Quellenstudium als historisches Material freigelegt werden. Darüber hinaus ist die

38 Im Hinblick auf die methodische Anlage des Passagen-Werkes hat das am deutlichsten Heiner Weidemann gesehen: vgl. ders., Flancrie, Sammlung, Spiel, a. a. O., j 5 ff. m

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Unwillkürlichkcit der Erinnerungsbilder, also ihre das Subjekt überwältigende Erscheinungsweise, im Rahmen der Geschichts­ schreibung gewissermaßen nur artifiziell nachzubilden; cs bedarf besonderer Techniken der Materialpräsentation, etwa der assozia­ tiven Kollagc von Zitaten, um ungefähr denselben Eindruck zu erzeugen, den die »magischen Ähnlichkeiten« zwischen Gegen­ wart und Vergangenheit in einem Text von Proust erwecken. Die unzähligen Versuche, die Benjamin in seinen Arbeiten unternom­ men hat, um die Struktureigentümlichkeiten von Zuständen des Erwachens oder des Choks zu beschreiben, haben so am Ende nur das eine Ziel: sich über die Form einer Erfahrung Klarheit zu ver­ schaffen, deren Wahrnehmungsperspektive die Geschichtsschrei­ bung in konstruktivistischer Weise nachzubilden hat, wenn sie die Vergangenheit als einen zur Gegenwart hin geöffneten Kommu­ nikationsraum erschließen soll. Benjamin will den historischen Prozeß des Erfahrungsverlustes nicht, so wird daran deutlich, Chancen der Wiederverzauberung der Welt entgegensetzen; der moralische Impuls seiner Geschichtsphilosophie zwingt ihn viel­ mehr dazu, die magischen Erfahrungen als das methodische Vor­ bild einer Geschichtsschreibung zu behandeln, von der wir eine Begleichung unserer Schuld gegenüber der vergangenen Genera­ tion erwarten dürfen. Wenn sich in dieser Schlußfolgerung die systematische Idee ange­ messen zusammengefaßt findet, der Benjamin Zeit seines Lebens als ein einheitstiftendes Motiv gefolgt ist, dann sind heute natürlich erhebliche Zweifel an deren theoretischer Durchführbarkeit an­ gebracht. Das Programm verlangt eine Form der Geschichts­ schreibung, die das Muster der magischen Erfahrung methodisch so nachzubilden in der Lage ist, daß sich die von ihr erschlossenen Epochen schlagartig als Kommunikationsräume öffnen, innerhalb deren wir mit dem Ziel der moralischen Rehabilitierung in Inter­ aktion mit den vergessenen Opfern treten können. Schon diese knappe Formulierung macht unmißverständlich die verschiedenen Probleme deutlich, vor die uns eine Wiederaufnahme der Grund­ absichten Benjamins heute stellen würde. Zum ersten bleibt es bei aller Ernsthaftigkeit des Gedankens unklar, wie eine Geschichts­ schreibung methodisch beschaffen sein soll, die ihren Gegenstand in jener Einstellung zu erfassen hat, die wir unwillkürlich in Zuständen reduzierter Aufmerksamkeit einnehmen; zwar sind die neueren Mittel der Kollagctechnik und des MultiperspektivisI 12

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mus dazu angetan, die historischen Ereignisse retrospektiv als ein vielstimmiges Handlungsgeschehen zu verlebendigen, so daß auch die Sichtweisen bislang ausgeschlossener Gruppen und Schichten in den Blick geraten können; aber selbst eine noch so radikal betriebene Dezentrierung der Erzählperspektive führt nicht zu einer Geschichtsschreibung, die das vergangene Geschehen so synästhetisch und bildreich in Erfahrung brächte, wie es uns in raren Augenblicken der Halbwachheit und des Erwachens gelingt. Selbst wenn jedoch eine solche methodische Nachbildung der quasimagischen Erfahrung in der Geschichtsschreibung möglich wäre, bliebe es zweitens unklar, inwiefern dann sinnvoll von einer kommunikativen Beziehung zu Personen oder gar Personengrup­ pen die Rede sein soll, die dem Reich der Toten angchören; zwar mag eine historische Vergegenwärtigung der Vergangenheit mit Hilfe neuartiger Darstellungstechniken einen so intensiven Cha­ rakter annehmen, daß die Stimmen der mißhandelten und ge­ schundenen Opfer gewissermaßen symbolisch wieder zu Gehör gebracht werden können; aber von einer irgendwie gearteten Kommunikation ist auch in einem solchen Fall schon deswegen nur in einem übertragenen Sinne zu sprechen, weil die artifiziell wiedcrbelebten Subjekte ihrerseits nicht die Chance zur sprach­ lichen Widerrede besitzen. Wenn jedoch auch die Redeweise von der »Kommunikation« noch als ein legitimer Sprachgebrauch zu betrachten wäre, bliebe schließlich als ein drittes Problem noch offen, ob eine solche kommunikative Erschließung der Vergangen­ heit tatsächlich zu einer symbolischen Restitution der moralischen Integrität der Opfer führen könnte. Wie immer die Antwort auf diese Frage ausfallen wird, so hat Benjamin uns mit ihr vor eine Aufgabe gestellt, der nachzukommen sich der historischen Erin­ nerung auch dann aufzwingen muß, wenn wir die metaphysischen Prämissen seines Projektes nicht mehr teilen.39

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39 Vgl. etwa Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991.

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Ein strukturalistischer Rousseau Zur Anthropologie von Claude Levi-Strauss r

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Es gibt wissenschaftliche Theorien, die ihren innersten Impuls wie ein Geheimnis zu hüten scheinen; den philosophischen Grundgedanken, aus dem sie ihre ganze Kraft schöpfen, haben sie so unauffällig in Spezialuntersuchungen einwandem lassen, daß er von außen kaum mehr zu erkennen ist. Wird der theoretische Fortschritt in den Sozialwissenschaften auch weitgehend von Theorien dieser Art vorangetrieben, so sind gerade sie doch in ihrer Zeit häufig genug der Gefahr eines gründlichen Mißver­ ständnisses ausgesetzt; weil ihr bestimmender Grundgedanke nie ausdrücklich in Erscheinung tritt, werden sie leicht im ganzen mit dem wissenschaftlichen Beitrag verwechselt, den sie zur Lösung eines speziellen Problems ihrer Disziplin erbringen; und erst die Rezeptionsgeschichte legt dann nachträglich, wie die Beispiele Max Webers und Dürkheims zeigen, Schritt für Schritt die philo­ sophische Leitidee frei, von der her sie allein sich angemessen verstehen lassen. Den Fall einer solchen Theorie stellt heute die Anthropologie von Claude Levi-Strauss dar. So verbreitet wie sein Name in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, so verbreitet ist auch ein folgenreiches Mißverständnis: als habe der Autor sein ganzes Werk dem Aufbau einer anthropologischen Wissenschaft gewidmet, die in der nüchternen Analyse der Strukturen von Mythen und Verwandtschaftsformen ihr einziges Ziel hat. Von Levi-Strauss gilt, daß er die Methoden der strukturalistischen Sprachwissenschaft nur deswegen in die ethnologische Forschung eingeführt hat, weil er ihr auf diesem Weg den Charakter einer objektiven Wissenschaft hat geben wollen; als die zentrale Ab­ sicht seiner Theorie wird mithin der Versuch angesehen, das Stu­ dium der archaischen Kulturen über den bereits erreichten Grad hin weiter zu verwissenschaftlichen. Kaum eine Deutung aber ist falscher. Alles andere als ein szientistisches Vertrauen in die Wissenschaft, ist es zunächst ein romantischer Impuls, der das Werk von LeviStrauss im Innersten bewegt; nicht nur die Begründung seines ethnologischen Ansatzes im ganzen, sondern selbst noch ihre 114



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wissenschaftliche Durchführung im einzelnen sind von der ro­ mantischen Überzeugung geprägt, daß in der Moderne der orga­ nische Zusammenhang des Menschen mit der Natur schmerzhaft zerstört ist. Levi-Strauss setzt die gewaltigen Anstrengungen sei­ ner ethnologischen Untersuchungen nur in Gang, um auf der Spitze einer naturvergessenen Modernität noch einmal Zugang zur kosmologischen Weitsicht archaischer Völker zu gewinnen; weil eine solche Rückkehr heute aber nicht mehr unvermittelt zu vollziehen ist, soll mit den Mitteln einer zeitgenössischen Wissen­ schaft vorgeführt werden, daß der Mensch als ein Lebewesen unter anderen solidarisch in den einen Kreislauf der Natur einge­ bunden ist; die Wissenschaft, die das zu leisten imstande sein soll, stellt für Levi-Strauss der Strukturalismus dar. So vollzieht sich in seinem Werk die Geburt des sozialwissenschaftlichen Struktura­ lismus aus dem Geist einer von Rousseau geprägten Romantik; . nur von diesem innersten Motiv her lassen sich seine Schriften verstehen, nur an ihm lassen sie sich sinnvoll überprüfen. l

Levi-Strauss hatte seine erste große Untersuchung bereits vorge­ legt, als er 1955 mit dem Reisebericht über die Traurigen Tropen' eine Art von intellektueller Rechtfertigung seines ethnologischen Ansatzes liefert; auch unter den vielen kleineren Studien, die ihm vorangingen, war kaum eine einzige, die sich mit der Frage nach der kulturellen Rolle der Ethnologie als solcher beschäftigt hätte. Der Verfasser dieses Reiseberichts war von Haus aus kein Ethno­ loge. Seine Ausbildung hatte er als Philosophiestudent in demsel­ ben geistigen Klima der zwanziger und dreißiger Jahre erfahren, über das auch Piaget, selbst im Rückblick, nur in zorniger Erre­ gung zu berichten wußte:2 geprägt durch den Vitalismus Bergsons und die Phänomenologie Husserls, war eine Philosophie im Frankreich jener Tage zur Vorherrschaft gelangt, die sich vom empirischen Fortgang der Wissenschaften losgesagt hatte und selbstbezüglich in sich verharrte; statt in der lebendigen Ausein­ andersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung hatte sie sich zum Ziel gesetzt, allein auf dem Weg einer reinen Deskription von Bewußtseinsakten sachhaltige Aussagen über den Menschen 1 Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978. 2 Jean Piaget, Weisheit und Illusion der Philosophie, Frankfurt/M. 1974. 115

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zu gewinnen. Für Piaget wie für Levi-Strauss stellt diese Erfah­ rung den Anfang einer nie wieder gutzumachenden Enttäuschung dar: »Die Philosophie war nicht«, so sollte Levi-Strauss noch nach dreißig Jahren nicht ohne Empörung in den Traurigen Tro­ pen schreiben, »Magd und Gehilfin der wissenschaftlichen For­ schung, sondern eine Art ästhetische Kontemplation des Bewußt­ seins über sich selbst«? Die unproduktive, ja sterile Selbstgenüg­ samkeit der Philosophie fordert die beiden jungen Wissenschaft­ ler zur Beschäftigung mit der empirischen Forschung heraus; den einen treibt sie in die Biologie und Psychologie, den anderen läßt sie nach der »Rettungsplanke der Ethnographie«4 greifen. LeviStrauss kommt bei seiner Wahl der Zufall zu Hilfe, daß ihm 1934 durch die Vermittlung Celestin Bougles die Stelle eines Professors für Soziologie in Säo Paulo angeboten wird; ohne Zögern nimmt er das Angebot an, gibt die Stelle eines Gymnasiallehrers auf, die er wie so viele französische Philosophen zunächst innehatte, und begibt sich damit auf den wissenschaftlichen Weg, den er von nun an nicht mehr verlassen sollte. Kaum in Brasilien als Hochschullehrer niedergelassen, macht sich Levi-Strauss an die ersten ethnographischen Exkursionen in das Innere des Landes. Was er in den wenigen Monaten, die er dort insgesamt wohl nur verbracht hat, an Erfahrungen und Eindrükken sammelt, bildet den emotionalen Bodensatz all seines zu­ künftigen Denkens. Die indianischen Kulturen des Mato Grosso, zu denen seine Erkundungen ihn führen, befinden sich in einem Zustand inneren Zerfalls; die westliche Zivilisation ist mit lautlo­ ser Gewalt in die überlebenden Stämme der Eingeborenen vorge­ drungen, hat sie der Zeugnisse ihres kulturellen Lebens beraubt und nur wenige der überkommenen Denkgewohnheiten unzer­ stört gelassen. Nicht schwer vorzustellen ist das ganze Ausmaß der psychischen Verwirrung, die den gerade zur Ethnologie über­ gewechselten Wissenschaftler überfallen haben muß, als er sich der hoffnungslosen Lage jener Eingeborenenkulturcn bewußt wird, die zu untersuchen er sich vorgenommen hatte. Nahezu zwanzig Jahre hat es gebraucht, bis Levi-Strauss den Gefühlen der Scham und der Verzweiflung, der Schuld und der Trauer literarisch Ausdruck geben konnte, die ihn bei seinen ersten Ex­ kursionen begleitet haben. Das Ergebnis dieser geradezu poeti3 C. Levi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S. 44 ff. 4 Ebd., S.45. 116

sehen Kraftanstrengung stellt das Buch über die Traurigen Tro­ pen dar; cs gilt schon jetzt ohne Übertreiben als eines der größten Zeugnisse ethnologischen Denkens in unserem Jahrhundert. Nicht zufällig erinnert das Buch in Aufbau und Stil an jene philo­ sophische Reiseliteratur, die das Zeitalter der Aufklärung hervor­ gebracht hat. Wie Montesquieu in Frankreich, wie Forster in Deutschland, so verknüpft auch Levi-Strauss die dctailnahe Be­ schreibung der einzelnen Stationen seiner Exkursionen mit wis­ senschaftlichen Betrachtungen zur Lebensweise der besuchten Stämme; dieselbe liebevolle Akribie im Erfassen kultureller Ei­ genheiten, dieselbe umsichtige Sorgfalt bei der Schilderung per­ sönlicher Begegnungen, die bei den Klassikern der Reiselitcratur herrschten, legt auch der Autor der Traurigen Tropen an den Tag. Bei ihm freilich hat nun der enorme Detailreichtum der Beschrei­ bungen, haben exakte Beobachtung und wissenschaftliche Um­ sicht vor allem die Aufgabe, jenem Problem deutlichen Ausdruck zu verleihen, auf das er durch die zermürbenden Erfahrungen seiner ersten Exkursionen so nachhaltig aufmerksam gemacht worden war. Hatte die politische Unbekümmertheit einer ganzen Epoche seinen Vorgängern noch die Frage ersparen können, wel­ che Rolle der ethnologischen Forschung angesichts der voran­ schreitenden Zerstörung archaischer Kulturen zuzukommen ver­ mag, so ist sie es gerade, die das eigentliche Zentrum des Buches von Levi-Strauss ausmacht; in der Antwort, die er auf diese Frage schließlich in immer wieder neu ansetzenden Reflexionen gefun­ den hat, haben sich die wirren und bestürzenden Gefühle seiner ethnographischen Anfänge in das Pathos des Romantikers ver­ wandelt. Es ist allerdings alles andere als eine romantisch genannte Natur­ sehnsucht, von der Levi-Strauss sich bei seiner Aufgabenbestim­ mung der Ethnologie leiten läßt; ihm steht die naive Auffassung derjenigen fern, die in den Resten archaischer Kulturen nach ei­ nem natürlichen Zustand menschlichen Zusammenlebens suchen. Mit derselben Entschiedenheit verurteilt er umgekehrt auch alle evolutionistischen Denkweisen, die der ethnologischen For­ schung die Aufgabe zumuten wollen, die Lebensform archaischer Gesellschaften direkt in ein Stufenschema der gesellschaftlichen Fortentwicklung einzutragen. Beide Auffassungen machen sich ungeprüfter Idealisierungen schuldig: die erste idealisiert naiv »den Wilden«, die zweite, nicht minder kritiklos, die »mechani-

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sehe Zivilisation« der Gegenwart. Überdies glaubt Levi-Strauss, daß Auffassungen solcher Art der grundsätzlichen Schuld nicht gerecht werden können, die die Ethnologie selbst an der unauf­ haltsamen Zerstörung der archaischen Kulturen trägt; da die ethnographische Forschung stets auch den Interessen von Kolo­ nialherren diente, muß sie heute als ein »Symbol der Sühne« wirken, um die von ihr mitverursachten Verbrechen wiedergut­ zumachen. Wenn das jene beiden genannten Positionen aber nicht zu leisten vermögen, weil sie in ihren jeweiligen Idealisie­ rungen nur die komplementär sich ergänzenden Vorurteile der europäischen Zivilisation einfließen lassen, ergibt sich das Pro­ blem, wie ein entsprechendes Verständnis der Ethnologie be­ schaffen sein muß. Für Levi-Strauss stellt eine Überlegung Rousseaus den Ausweg aus dieser Schwierigkeit dar. Die Bedeutung, die dessen Denken für seine Theorie im ganzen besitzt, ist heute wohl kaum mehr zu überschätzen; nicht nur hat er Rousseau immer wieder als den »ethnographischsten unter allen Philosophen«5 bezeichnet, ihn stets emphatisch seinen »Lehrer«, ja »Bruder« genannt, sondern von ihm auch auf allen wichtigen Stationen seines theoretischen Weges die entscheidenden Denkanstöße bezogen.6 In den Trauri­ gen Tropen ist es die methodologische Fassung der Konzeption des »Naturzustandes«, die er Rousseaus Schriften entnimmt; gleich zweimal zitiert er dessen bedeutsame Aufforderung, »das Ursprüngliche vom Künstlichen in der heutigen Natur des Men­ schen zu scheiden und einen Zustand zu erfassen, der nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich auch nie existieren wird, und von dem wir dennoch richtige Vorstellungen haben müssen, um unseren gegenwärtigen Zustand beurteilen zu können«.7 Levi-Strauss macht sich diesen Satz zur methodologi-

5 Ebd., S. 385. 6 Vgl. Hanns Henning Ritter, »Claude Levi-Strauss als Lehrer Rousscaus«, in: Wolf Lepenies/Hanns Henning Ritter (Hrsg.), Orte des Wil­ den Denkens, Frankfurt/M. 1970, S. 113 f.; auch ein äußerst instrukti­ ver, aber meinen eigenen Schlußfolgerungen entgegcnlaufender Aufsatz von Hinrich Fink-Eitel (»Nihilismus und Solidarität. Claude LeviStrauss’ philosophische Begründung des Strukturalismus«, Ms. 1979) war im Hinblick auf die Beziehung von Levi-Strauss zur Philosophie Rousseaus für mich von Bedeutung. 7 C. Levi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S. 387. 118

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sehen Richtschnur: der ethnographischen Forschung kommt demgemäß zunächst die Aufgabe zu, unsere Kenntnis der »Prin­ zipien des sozialen Lebens« zu erhöhen, um auf solchem Weg zu einer nur methodisch gemeinten Vorstellung des »Naturzustan­ des« gelangen zu können; die Untersuchung archaischer Gesell­ schaften erlaubt es nämlich, andere Lösungsmittel für dieselben Aufgaben der Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens zu studieren, so daß im Maße eines Zugewinns an empirischen Informationen das ungefähre Bild einer »natürlichen Sozialität« konstruiert werden kann; und erst eine solche methodische Kon­ struktion des »Naturzustandes« würde uns die Möglichkeit ver­ schaffen, »unsere eigenen Sitten und nicht die fremder Gesell­ schaften zu reformieren«.8 Allerdings fließt in diesen Gedankengang nun eine zweite Prä­ misse ein, die überhaupt erst deutlich macht, wie eine derart ver­ standene Ethnologie zugleich auch noch die moralische Kraft der Sühne entfalten soll. In das wahrhaft romantische Motiv, das in der zweiten Voraussetzung sich findet, eröffnet Levi-Strauss frei­ lich nur an den wenigsten Stellen seines Buches einen Blick; erst sie aber geben den methodischen Erwägungen ihren vollständigen Sinn, erst sie verleihen seiner Ethnologie eine moralische Bedeu­ tung, und auch sic verdanken sich dem Denken Rousseaus. Denn in die Aufmerksamkeit, die Levi-Strauss den Kulturen überleben­ der Eingeborenenstämmc entgegenbringt, geht mehr als ein bloß methodisches Interesse ein; sie ist durch eine Ehrfurcht gegen­ über den Anfängen der menschlichen Vergesellschaftung moti­ viert, die von der tief romantischen Überzeugung getragen ist, daß in den archaischen Kulturen sich zwar nicht selbst ein Stück unmittelbarer Natur, aber doch eine spezifische Fähigkeit zur intimen Eingliederung in den übergreifenden Lebenszusammen­ hang der Natur zeigt: So spricht er nicht selten von der »Weis­ heit« und »geistigen Harmonie« der wilden Völker, so beschwört er ein »Zeitalter, in dem die Welt der Lebewesen noch nicht gespalten war«, weil »zärtliche Vertrautheit zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen« herrschte. Als Gegenstück gehört zu die­ sem Bild einer naturvertrauten Vergangenheit eine Zeitdiagnose, die als den charakteristischen Hauptzug der modernen Zivilisa­ tion die gewaltsame Hcrauslösung aus dem Kreislauf natürlichen 8 Ebd., S. 388. 119

Lebens ansieht. An kaum einer anderen Stelle hat Levi-Strauss die Grundannahmen seiner Diagnose der Gegenwart deutlicher zum Ausdruck gebracht als in seinem berühmten Vortrag über Rous­ seau: »Es hat damit begonnen, daß der Mensch von der Natur abgeschnitten wurde und daß man ihm einen eigenen Herr­ schaftsbereich zuwies; dann glaubte man, seinen eindeutigen We­ senszug auslöschen zu können: daß er nämlich ein lebendes We­ sen ist. Blind gegen diese allgemeine Eigenschaft hat man jegli­ chem Mißbrauch freie Bahn gegeben. Der abendländische Mensch kann an keiner Zeit besser als an den letzten vier Jahr­ hunderten seiner eigenen Geschichte ablesen, daß er mit der An­ maßung des Rechtes, die Menschheit radikal von den übrigen Lebewesen zu trennen, einen verderblichen Kreislauf eröffnet hat, indem er jener zusprach, was er diesen entzog; dieselbe Grenze, fortwährend enger gezogen, diente ebenso dazu, Men­ schen von anderen zu trennen und zugunsten immer weiter ein­ geschränkter Minderheiten das Privileg eines Humanismus zu be­ anspruchen, der von Anfang an korrumpiert war, da er sein Prin­ zip und seinen Begriff von der Eigenliebe herleiten sollte.«9



Erst mit dieser zeitdiagnostischen Betrachtung rundet das Bild sich ab, das Levi-Strauss im Rückblick auf seine ersten Exkursio­ nen von den Aufgaben der Ethnologie zu entwerfen versucht. Begründet ist sie als eine empirische Wissenschaft archaischer Kulturen in der Erfahrung der Naturvergessenheit moderner Ge­ sellschaften; für die Beschreibung des damit gemeinten Zustands der Moderne hält Levi-Strauss die typisch romantischen Begriffe der »Disharmonie«, der »Unausgewogenheit« und der »Inau­ thentizität« bereit. Unter der leitenden Hypothese, daß die über­ lebenden Kulturen archaischer Völker noch Beispiele für natur­ vertraute Formen des sozialen Lebens darstellen, begibt die eth­ nologische Forschung sich dann an die Aufgabe, aus der Masse ihrer empirischen Informationen theoretische Modelle solcher »harmonischen« Gesellschaften zu rekonstruieren; sie können ei­ ner zerrissenen Gegenwart dann als ein Spiegel dienen, in dem sie ihre eigenen Fehler zu erkennen vermag. Kurz, die Aufgabe der

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9 C. Levi-Strauss, »Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaf­ ten vom Menschen« in: ders., Strukturale Anthropologie, Bd. n, Frankfurt/M. 1975, S. 45 ff., hier: S. 53 f. 120

Sozialanthropologie »bestünde darin, vor allem in düsteren Zei­ ten« über »eine dauernde Chance des Menschen« zu wachen, die in den Denk- und Lebensformen archaischer Gesellschaften an­ gelegt ist,10 darin auch kommt sie der Aufgabe nach, die das Bewußtsein der eigenen Schuld ihr moralisch stellt. Nun gibt allerdings Claude Levi-Strauss dieser Aufgabenbestim­ mung der Ethnologie noch eine zusätzliche Wendung, die erst die Eigenart seiner eigenen Theorie bestimmt: sic besteht in der pro­ grammatischen Idee, daß die ethnologischen Konstruktionen ih­ rerseits bereits jenen übergreifenden Naturalismus zu verkörpern haben, von dem die Denkformen der arachaischen Kulturen ge­ prägt sind. Die Ethnologie muß sich gewissermaßen durch die Wahl ihrer theoretischen Mittel selbst wieder zu einem Element jener naturalistischen Weitsicht machen, deren voranschreitende Zerstörung die moderne Gesellschaft gerade in den Zustand einer schmerzhaften Zerrissenheit geführt hat; nicht also nur das, was die ethnologische Forschung untersucht, sondern auch die me­ thodische Form, in der sie es untersucht, soll durch eine stete, solidarische Aufmerksamkeit auf den übergreifenden Zusammen­ hang des natürlichen Lebens geprägt sein. Dieser kühne Gedanke durchzieht das Werk von Levi-Strauss in seiner ganzen Breite; er bestimmt die ersten großen Untersuchungen zu den Regeln ar­ chaischer Verwandtschaftsbeziehungen, er geht in die Erfor­ schung des Totemismus und schließlich auch in das Studium der Mythenwelt der indianischen Eingeborenen ein. All das sind die Bestandteile eines Programms, dem es um die paradox erschei­ nende Begründung eines erweiterten Humanismus durch den Strukturalismus geht.

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Die Anfänge des Theoretikers Levi-Strauss fallen in eine Epoche, in der die französische Sozialwissenschaft noch vollständig von den Lehren Dürkheims und seiner Schüler beherrscht ist; der Auseinandersetzung mit dieser Schule soziologischen Denkens ringt er die theoretischen Grundlagen seiner ersten großen Studie ab. Das Werk, das ihm schon früh zu Ruhm in der wissenschaft10 C. Levi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie«, in: ders., Strukturale Anthropologie, Bd. n, a.a.O., S. 11 ff., hier: S. 41 f. I2I

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liehen Fachöffentlichkeit verhilft, ist eine Untersuchung über die grundlegenden Regeln archaischer Verwandtschaftsbeziehun­ gen," entstanden in den vierziger Jahren, die Levi-Strauss nach seinem Abschied von Brasilien zunächst eine geraume Zeit in New York und schließlich, wieder zurückgekehrt, als Studienleiter für Ethnologie an der Ecole Pratique des Hautcs Etudes in Paris ver­ bringt. Eine Reihe von kleineren Aufsätzen zur sozialen Organisa­ tion von Eingeborencngcsellschaften geht der großen Untersu­ chung voraus; sie bereiten die Idee gedanklich vor, die in dem X949 publizierten Buch erst vollständig zur Entfaltung gelangt. Das anspruchsvolle Ziel, das Levi-Strauss sich mit seiner Studie setzt, spiegelt unauffällig die Aufgabe wider, die er im Rückgriff auf Rousseau der Ethnologie gestellt hatte: es soll die Vielzahl von Verwandtschaftsformen, die sich in archaischen Kulturen empirisch antreffen lassen, auf einige elementare Grundmuster zurückgeführt werden, so daß als ein Ergebnis das theoretische Modell einer »natürlichen« Sozialordnung entsteht. Für LeviStrauss ergibt sich das gedankliche Mittel, mit dem dieser weitge­ faßte Anspruch zu erfüllen ist, aus einer systematischen Verallge­ meinerung der Thesen, die Marcel Mauss über die vergesellschaf­ tende Funktion des Gabentausches entwickelt hatte. Bekanntlich war der Durkheim-Schüler Mauss in seiner bahnbrechenden Stu­ die über Die Gabe der Frage nachgegangen, welche Rolle archai­ sche Tauschrituale wie der indianische Potlatsch und der melane­ sische Kula im sozialen Leben ihrer Kultur jeweils übernehmen; seine Antwort bestand in der für alle weiteren Forschungen äu­ ßerst ergiebigen These, daß solche Institutionen des geregelten Gebens und Nehmens von Gaben der Aufrechterhaltung eines beständigen Kommunikationsflusses zwischen den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft dienen. Es ist diese Idee einer kom­ munikationsstiftenden Rolle des Tausches, die Levi-Strauss nun innerhalb der ethnologischen Verwandtschaftsforschung zur Gel­ tung bringt; er knüpft daran an, indem er die für archaische Kul­ turen typischen Heiratsregeln als Tauschverpflichtungen zu be­ greifen versucht, die sich statt auf die Zirkulation von Gütern auf den Austausch von Frauen beziehen. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt eine neuartige In

11 C. Levi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981. 122

terpretation des Inzesttabus dar. Die Tatsache, daß in so gut wie allen Kulturen sexuelle Beziehungen innerhalb des engen Fami­ lienkreises strikt tabuisiert sind, hat die sozialwissenschaftliche Forschung ja seit ihren Anfängen zu immer neuen Erklärungsver­ suchen herausgefordert; von Spencer über Dürkheim bis Freud reicht die Liste der Wissenschaftler, die dem Phänomen ihre Auf­ merksamkeit schenkten. Levi-Strauss läßt sein Buch mit einer Diskussion dieser verschiedenen Thcorieansätze beginnen. Ent­ gegen den heute vorherrschenden Deutungen, die sich weitge­ hend im psychoanalytischen Rahmen bewegen, führt er die Uni­ versalität des Inzesttabus auf die funktionale Bedeutung zurück, die es im Prozeß der gesellschaftlichen Integration zu überneh­ men hat; seine universale Geltung erklärt sich allein daraus, daß es die familialen Gruppen indirekt zur ständigen Interaktion an­ hält, indem es den Sexualverkehr innerhalb der Familien verhin­ dert. In der positiven Gestalt einer Vorschrift bildet das Inzest­ tabu nun für Levi-Strauss den grundlegenden Mechanismus aller Formen der Vcrwandtschaftsbildung; denn in Form der Exogamieregel schreibt es den Familien vor, die Frauen aus den eigenen Reihen jeweils anderen Gruppen zur Heirat zu überlassen, um im Gegenzug von ihnen auch Frauen zur Heirat zu erhalten. So erweist sich der wechselseitige Austausch von Frauen als der grundlegende Mechanismus, aus dem die Bildung von Verwandt­ schaftsverhältnissen erwächst; als der institutionelle Kern archai­ scher Gesellschaften sichert er in noch stärkerem Maße den wech­ selseitigen Kontakt der sozialen Gruppen, als cs der von Marcel Mauss untersuchte Gabenaustausch zu leisten vermag. Zwei For­ men eines solchen reziproken Austauschs von Frauen unterschei­ det Levi-Strauss, um den verschiedenen Wegen der Bildung von Verwandtschaftsverhältnissen gerecht zu werden: während im eingeschränkten Tausch die Frauen stets zwischen paarweisen Gruppen ausgetauscht werden, vollzieht sich der verallgemei­ nerte Tausch nur indirekt über mindestens drei beteiligte Grup­ pen; hier erhält die Familiengruppierung nicht von derselben Gruppe eine Frau im Austausch zurück, der sie ihrerseits eine Frau zur Heirat überlassen hatte. Nach Überzeugung von LeviStrauss also setzen sich die komplexen Verwandtschaftsorganisa­ tionen aus den Elementen dieser beiden Typen des Frauentau­ sches zusammen; aus ihnen versucht er daher, mit den Mitteln des Logikers eher als mit denen des Ethnographen, die empirische

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Vielfalt der archaischen Sozialorganisationen zu rekonstruieren. Obgleich unter den Ethnologen kaum einer die herausragende Bedeutung dieser Untersuchung nicht schon bald nach ihrer Ver­ öffentlichung anerkannt hätte, meldeten sie doch in ihrer Mehr­ zahl auch erhebliche Bedenken gegenüber den theoretischen Grundannahmen an, die ihr als Voraussetzung dienten.12 Die in­ direkte Gleichsetzung von Inzestverbot und Exogamieregel, auf die die Argumentation sich stützt, verfiel nicht weniger dem Zweifel als die empirische Hypothese einer kulturübergreifenden Vorherrschaft von unilinearen Abstammungssystemen; überdies hatte Levi-Strauss jede Beschäftigung mit Spekulationen über eine frühe Epoche des Matriarchats, deren wissenschaftlicher Wert bis heute umstritten ist, so bedenkenlos unterlassen, daß er auch darin Kritik auf sich zog. Bei all dem gerieten allerdings leicht die Absichten aus dem Blick, von denen Levi-Strauss sich ursprünglich hatte leiten lassen; hinter dem empirischen Aufbau seiner Studie verbarg sich das theoretische Ziel, mit den Mitteln einer konstruktiven Modellbildung Einblick in die »Prinzipien des sozialen Lebens« zu gewinnen. Nicht eine erschöpfende Er­ klärung aller empirischen Daten, sondern die idealisierende Kon­ struktion eines Modells anhand von empirischen Daten war der weitreichende Anspruch, den Levi-Strauss sich gesetzt hatte. Daran gemessen, war seiner Studie trotz aller berechtigten Kritik ein entscheidender Durchbruch gelungen; Levi-Strauss hatte ent­ deckt, daß sich die kommunikationsstiftende Kraft des Tausches über die ökonomische Sphäre hinaus auch in die Organisation von Verwandtschaftsverhältnissen hinein erstreckt. Insofern konnte der reziproke Austausch zwischen den sozialen Gruppen als eines der sozialbildenden Medien gelten, um deren systemati­ sche Untersuchung er sich in seiner Theorie bemühte. Die Fruchtbarkeit dieser Entdeckung mußte sich für Levi-Strauss aber noch als um so größer erweisen, als sie auch den romanti­ schen Impulsen seines Werkes einen ersten Anhalt bot; der Tausch enthielt nämlich im Prinzip der Reziprozität oder der Gegenseitigkeit eine soziale Kraft, die sich nicht nur als »Roh­ stoff« des gesellschaftlichen Lebens erwies, sondern darüber hin­ aus auch die affektive Basis einer alle Lebewesen solidarisch mit 12 Vgl. stellvertretend: Edmund Leach, Claude Levi-Strauss, München 1971, v. a. Kap. 6. 124

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i < einbeziehenden Weitsicht abzugeben vermochte. Die archaischen Gesellschaften sind, wie sich an den verschiedenen Formen des Austauschs gezeigt hatte, noch durchsichtig aus sozialen Rezi­ prozitätsbeziehungen aufgebaut; deswegen besitzen sie gegen­ über den modernen Zivilisationen, in denen das solidarisierende Prinzip der Gegenseitigkeit durch technische und bürokratische Vorgänge überwölbt ist, auch die größere Fähigkeit, sich von der Idee der Solidarität her selbst zu verstehen. Es ist dieser Gedanke allerdings nur erst keimhaft in der Untersuchung von LeviStrauss angelegt; von ihm aber wird er von nun an den Blick nicht mehr lassen und auf ihn mit jedem neuen Buch nur um so aus­ führlicher zurückkommen. War Levi-Strauss in seiner Studie bis zu dem theoretischen Punkt gelangt, an dem sich die im Tausch verkörperte Reziprozität als ein für alle Gesellschaften konstitutives Prinzip erwiesen hatte, so mußte sich ihm die Frage stellen, wodurch dieses Prinzip nun seinerseits verursacht ist; einer ersten Antwort auf das Problem, das damit aufgeworfen ist, dienen die abschließenden Betrachtun­ gen seines Buches. Von Dürkheim hatte Levi-Strauss genug ge­ lernt, um zu wissen, daß die funktionalistische Analyse eines Phä­ nomens seine kausale Erklärung nicht ersetzen kann; über Dürk­ heim aber führt ihn nun gerade der Versuch auch hinaus, das für die Gesellschaft im ganzen konstitutive Prinzip der Reziprozität kausal zu erklären. Zeit seines Lebens war Dürkheim der Frage nach den sozialen Konstitutionsbedingungen der Kategorien der menschlichen Erkenntnis gefolgt; dadurch hatte er der Erkennt­ nistheorie Kants, an der er sich stets orientierte, eine soziologi­ sche Wendung zu geben versucht. In seiner letzten Lebensphase, in die die Abfassung der großartigen Untersuchung über die Ele­ mentaren Formen des religiösen Lebens fällt, schien ihm schließ­ lich die Bezugnahme auf außcralltägliche Situationen des kollekti­ ven Erlebens die Lösung seines Problems zu ermöglichen: die fundamentalen Kategorien der menschlichen Erkenntnis sollten begriffliche Repräsentationen von Erfahrungen sein, die eine so­ ziale Gemeinschaft in den affektiven Zuständen einer kollektiven Verschmelzung oder »Efferveszenz« mit sich selber zu machen vermag.13 Mit dieser Antwort hatte Dürkheim freilich seinen Schülern ebenso viele Schwierigkeiten wie Anregungen mit auf 13 Emile Dürkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, v. a. Erstes Buch, 7. Kap. 125

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den Weg gegeben; an beidem hat auch das Werk von Marcel Mauss noch lebhaft Anteil, in dem der schwerwiegende Lösungs­ vorschlag Dürkheims bereits mit dem theoretischen Ansatz in Widerstreit gerät, den Levi-Strauss nur wenige Jahrzehnte später entwickeln wird.14 Schon in einem Bericht über die »Französische Soziologie«, der 1945 erscheint,15 macht Levi-Strauss gegenüber Dürkheim die Einwände geltend, die seiner eigenen Position fortan als Grundlage dienen. Für ihn stellen die theoretischen Schwierigkeiten, in die Dürkheim sich bringt, wenn er auf kollek­ tive Gefühlszustände als eine letzte Erklärungstatsache zurück­ greift, nur den Ausdruck einer falschen Problemauffassung dar; denn die symbolischen Leistungen, die jener soziologisch zu er­ klären versucht, lassen sich gerade auf soziale Tatbestände nicht weiter zurückführen, weil sie ihrerseits das Soziale überhaupt erst erzeugen. Levi-Strauss ist davon überzeugt, daß die Formen des symbolischen Denkens eine soziologisch nicht weiter erklärbare Gegebenheit darstellen; die intersubjektive Verbindlichkeit ge­ teilter Symbole, durch die eine gesellschaftliche Ordnung konsti­ tuiert wird, sieht er statt dessen in vorsozialen Tatbeständen an­ gelegt, zu denen nicht die Soziologie, sondern, wie es heißt, »die moderne Psychologie und Linguistik« einen theoretischen Zu­ gang verschaffen. Den vorsozialen Bereich, den er dabei vor Au­ gen hat, bestimmt er programmatisch als die »unbewußte Aktivi­ tät des menschlichen Geistes«; damit ist die begriffliche Formel gegeben, die von nun an das wissenschaftliche Werk von LeviStrauss wie ein Leitmotiv begleiten wird. Auch die theoretischen Betrachtungen, mit denen die Untersuchung über die Verwandt­ schaftsstrukturen schließt, finden eine vorläufige Antwort auf die aufgeworfene Frage in dieser theoretischen Formel: das für alle Verwandtschaftsformen konstitutive Prinzip der Gegenseitigkeit wird, so heißt es, durch die fundamentale Struktur des menschli­ chen Geistes hervorgebracht. Hier jedoch gibt Levi-Strauss mit ersten Hinweisen auf die strukturalistische Sprachwissenschaft auch schon das Instrumentarium preis, mit dem er in Zukunft jene unbewußte Tätigkeit des menschlichen Geistes glaubt analy­ sieren zu können.

14 Dazu sehr gut: Hanns Henning Ritter, »Die ethnologische Wende«, in: Neue Rundschau, Nr. 3, 1981. 15 C. Levi-Strauss, »French Sociology«, in: G. Gurvitch/W. E. Moore (Hrsg.), Twcntieth Century Sociology, New York 1945. 126

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Die programmatische Vorstellung, daß es die unbewußte Tätig­ keit des menschlichen Geistes ist, die die symbolische Ordnung der Gesellschaft erzeugt, besitzt für Levi-Strauss von Anfang an mehr als bloß sozialwisscnschaftlichc Implikationen. Aller substantialisierenden Redeweise zum Trotz ist damit zunächst nur gemeint, daß es eine Vielzahl geistiger Operationen gibt, die über kulturelle und zeitliche Abstände hinweg allen Menschen ge­ meinsam sind; insofern stellt die Struktur des menschlichen Gei­ stes, wie es im Rousseau-Aufsatz heißt, »eine ursprüngliche Ver­ bindung« zwischen »dem Ich und dem Anderen« dar.16 Zugleich erblickt Levi-Strauss in jenen Operationen des Geistes, weil sie auf unbewußte Weise wirksam sein sollen, auch ein Element der Natur im Menschen; mit ihnen ragen natürliche Prozesse, die jeder bewußten Kontrolle entzogen sind, in die menschliche Le­ bensweise hinein und lassen sic Teil eines übergreifenden Ganzen sein. Diese beiden Aspekte sind es, die den Begriff des menschli­ chen Geistes im Werk von Levi-Strauss untergründig mit einem pathetischen Zug versehen; mehr als nur das kategoriale Mittel einer Überwindung von Schwierigkeiten der Soziologie Dürk­ heims, soll er als begriffliche Grundlage eines erweiterten Huma­ nismus dienen, der jenen eingeschränkten der naturvergessenen Moderne ersetzen soll. Solche weitergehenden, philosophischen Absichten verknüpft freilich in jenen Tagen nicht nur LeviStrauss mit einem universalistischen Begriff des menschlichen Geistes; auch Jean Piaget hat damals ja den Ausweg aus der un­ fruchtbaren Lage, in der er die zeitgenössische Philosophie vor­ finden mußte, in dem Programm einer wissenschaftlichen Ana­ lyse von universalen Aufbaugesetzen der menschlichen Erkennt­ nis gesucht; und auch er hat dabei zunächst auf ein natürliches Substrat zurückzugreifen versucht, in dem die geistigen Opera­ tionen des Menschen verankert sein sollen. Es ist daher jeweils erst die weitere Bestimmung jener Formgesetze der menschlichen Geistestätigkeit, die den beiden im Ansatz durchaus noch ver­ gleichbaren Positionen ihren je besonderen Charakter verleiht.17 16 C. Levi-Strauss, »Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaf­ ten vom Menschen«, a.a.O., S. 52. 17 Vgl. Howard Gardner, The Quest for Mind. Piaget, Levi-Strauss and the Structurahst Movcment, Chicago 1981.

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Auf dem wissenschaftlichen Weg von Levi-Strauss sollte es die Entdeckung der strukturalistischen Sprachwissenschaft sein, die ihm die Mittel einer Präzisierung jener allgemeinen Modellvor­ stellung an die Hand gab und damit seinem Werk den unver­ wechselbaren Grundzug. Noch in die Jahre, die er als Hochschullehrer in New York ver­ bringt, fällt für Levi-Strauss die erste Begegnung mit der struk­ turalistischen Sprachwissenschaft. Hier lernt er in Roman Jacob­ sen ein exiliertes Mitglied des Prager Linguistenkreises kennen, der ihn mit den Grundzügen der Sprachwissenschaft Saussures sehr schnell vertraut macht.18 Vom ersten Augenblick an ist LeviStrauss fest davon überzeugt, daß die strukturale Linguistik ge­ nau die theoretischen Mittel bereithält, mit denen sich die Struk­ turgesetze der menschlichen Denktätigkeit weiter erhellen lassen können. Freilich sind es auch nur sehr vage Vorstellungen, die er sich aus dem Idecnschatz jener breitgefächerten Schule für seine eigenen Zwecke zurcchtlegt; zentral darin ist für ihn der Ge­ danke, daß allen sprachlichen Äußerungen ein System sprachli­ cher Zeichen zugrunde liegt, in dem die einzelnen Zeichenele­ mente ihre Bedeutung allein aus wechselseitigen Differenzbezie­ hungen erhalten. Diese strukturalistische Prämisse überträgt Levi-Strauss nun auf seinen universalistischen Begriff des menschlichen Geistes; daraus ergibt sich dann die Konsequenz, daß die unbewußten Denkoperationen des Menschen darin beste­ hen, beliebigen Elementen einer gegebenen Ordnung durch Op­ positionsbildung Bedeutung zu verleihen. Allerdings nimmt der dadurch gewonnene Grundgedanke im Werk von Levi-Strauss nur allmählich klare Konturen an. Die ersten Aufsätze, die die neue Idee innerhalb der Ethnologie fruchtbar zu machen versuchen, entstehen zwar schon im Über­ gang zu den fünfziger Jahren; sie bewegen sich aber alle noch in dem thematischen Rahmen, der mit den Studien zur Sozialorgani­ sation archaischer Gesellschaften eröffnet worden war.19 Inner­ halb dieser Fragestellung fällt es nicht leicht, einen direkten Ge18 Vgl. dazu jetzt auch das biographische Gespräch, das Levi-Strauss mit Didier Eribon geführt hat: Das Nahe und das Ferne, Frankfurt/M. 1989, bes. S. 6$ ff. 19 Vgl. die unter dem Titel »Sprache und Verwandtschaft« versammelten Eröffnungsaufsätze in: C. Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M. 1967, S. 41 ff.

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brauch von der Idee zu machen, daß die Bedeutung symbolischer Gebilde aus einer unbewußten Erzeugung von Zeichenoppositio­ nen hervorgeht. Für Levi-Strauss ergibt sich ein solcher Zusam­ menhang gleichwohl daraus, daß er die Rolle des Austauschs von Frauen in der Verwandtschaftsbildung mit derjenigen des Aus­ tauschs von Wörtern in der Kommunikation parallelisiert; auf die unplausiblen Annahmen, die ein solcher Vergleich voraussetzen muß, hat die Kritik jedoch bereits früh mit überzeugenden Argu­ menten hingewiesen.20 Und im Werk des Ethnologen verlieren diese ersten, noch unreifen Versuche in dem Maße ihren Stellen­ wert, in dem er sein Interesse von der Verwandtschaftsforschung auf das Studium der archaischen Denkformen verlagert. Denn all die sachlichen Hindernisse, die einer fruchtbaren An­ wendung der neuen Idee ursprünglich noch im Weg gestanden haben mögen, fallen in dem Augenblick weg, in dem Levi-Strauss die symbolischen Gebilde direkt zum Gegenstand seiner Unter­ suchungen macht; er selbst hat diesen Wandel seiner Interessen­ lage, der sich im Laufe der fünfziger Jahre vollzieht, als einen theoretischen Übergang von den »gelebten Ordnungen« zu den »gedachten Ordnungen« beschrieben, in denen die unbewußten Denkoperationen des Menschen offen zutage treten.21 Unter sol­ chen »gedachten Ordnungen« versteht Levi-Strauss alle Formen des mythischen und religiösen Denkens; den kognitiven Struktu­ ren, die derartigen Gebilden des sozialen Lebens zugrunde liegen, gilt von nun an das primäre Interesse seiner theoretischen Arbeit. Den Einstieg in das neue Forschungsfeld stellt die kritische Be­ schäftigung mit herkömmlichen Auffassungen des Totemismus dar;22 gegenüber den vorherrschenden Deutungen, die die tote­ mistischen Praktiken der Urvölker auf einen magischen Glauben an übernatürliche Kräfte zurückführen, versucht Levi-Strauss zu zeigen, daß darin nur eine für alle archaischen Kulturen typische Denkform zu einer besonderen Anwendung gelangt. Die spezifi20 Vgl. zusammenfassend: Simon Clarke, The Foundations of Structuralism. A Critique of Levi-Strauss and the Structuralist Movement, New York 1981. 21 Vgl. etwa C. Levi-Strauss, »Die Stellung der Anthropologie in den Sozialwissenschaften«, in: ders., Strukturale Anthropologie, a.a.O., S. 369 ff.; ders., »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie«, cbd., S. 43 ff. 22 C. Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt/M. 1965.

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sehen Umstände, durch die diese Anwendung bestimmt ist, er­ klärt er zunächst mit Hilfe von soziologischen Argumenten, die sich aus einer Erweiterung seiner Analyse der Verwandtschafts­ formen ergeben: weil durch den ständigen Austausch verschiede­ ner Güter sich die Kommunikationsbeziehungen innerhalb ar­ chaischer Gesellschaften immer wieder so zu verdichten drohen, daß die sozialen Gruppen in die Gefahr eines Verlustes ihrer Identität geraten, bedarf es stets auch der sozialen Gegenbewe­ gung einer symbolischen »Distinktion« zwischen den aufeinan­ der verwiesenen Gruppen; dazu geben nun die »totemistisch« genannten Praktiken insofern die Chance, als sie es den sozialen Gruppen erlauben, anschaulich gegebene Objekte ihrer natürlichen Umwelt als Zeichen ihrer jeweiligen Identität rituell zu ver­ wenden. Somit stellt die Aufrechterhaltung von gruppenspezifi­ schen Identitäten für Levi-Strauss den besonderen Zweck aller Praktiken des Totemismus dar; in dem kognitiven Mittel jedoch, das dabei zur Anwendung kommt, nämlich in der Korrespondcnzbildung zwischen natürlichen und sozialen Phänomenen, er­ blickt er die allgemeine Eigenschaft wieder, die die Denkformen archaischer Kulturen überhaupt von denen der modernen Zivili­ sation unterscheidet. Für diese schwerwiegende These hat nun die Untersuchung über das Wilde Denken, die im Jahre 1962 erscheint, den Beweis anzu­ treten.23 Wohl in kaum einem anderen seiner Bücher hat LeviStrauss freizügiger die ganze romantische Bewunderung cingestanden, die er den kulturellen Leistungen der archaischen Völker entgegenbringt; sie kommt hier schon in der grundlegenden Be­ hauptung zur Geltung, daß das archaische Denken nicht als eine bloße Vorstufe, sondern als eine alternative Form der wissen­ schaftlichen Weltauffassung zu begreifen ist. Um dafür den Nachweis zu erbringen, legt Levi-Strauss Schritt für Schritt die kognitiven Operationen frei, auf die schon der Sonderfall der totemistischen Klassifikationen ein erstes Licht geworfen hatte: das »wilde« Denken, wie es im Unterschied zu den »domestizier­ ten« Denkweisen der fortentwickelten Gesellschaften heißt, setzt konkretistisch an den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen an, ordnet sie durch Kontrast- und Analogiebildungen einander zu und erzeugt so schließlich ein umfassendes Netz von anschauli-

2j C. Lcvi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968. 130



chen Korrespondenzen. Levi-Strauss ist sich darüber im klaren, daß eine solche Form des analogisierenden Denkens im Hinblick auf den instrumentellen Ertrag den modernen Wissenschaften un­ terlegen ist; aber cs ist umgekehrt auch nicht etwa die hemmungs­ lose und überbordende Anwendung sinnlicher Vermögen, die ihn dieses klassifikatorische Denken als eine Alternative zu wissen­ schaftlichen Weltauffassungen begreifen läßt. Was ihn vor allem fasziniert, ist die solidarische, ja geradezu liebevolle Aufmerk­ samkeit auf die natürliche Umwelt, die in jene Formen des Wis­ sens als eine konstitutive Voraussetzung cinflicßt. Wiederum ist es Rousseau, mit dessen gedanklicher Hilfe Levi-Strauss diesen »Gefühlswert« des archaischen Denkens beschreibt: darin ist die Empfindung einer »ursprünglichen Übereinstimmung« am Werk, in der »Rousseau tiefblickend die solidarische Bedingung jeden Denkens und jeder Gesellschaft gesehen hat«.24 Und derselbe Zu­ sammenhang ist an einer Stelle des Rousseau-Aufsatzes noch deutlicher beschrieben, an der es heißt: »Rousseau wird nie müde zu wiederholen, daß dieses Vermögen das Mitleid ist, das sich an einer Identifikation mit einem Anderen ergibt, der nicht bloß ein Verwandter, ein Nächster, ein Mitbürger ist, sondern irgendein Mensch, sofern er nur Mensch ist, mehr noch: irgendein lebendi­ ges Wesen, sofern es nur lebt... Die globale Auffassung, worin die Identifikation besteht, geht dem Bewußtsein der Gegensätze zunächst zwischen allgemeinen Eigenschaften, sodann allein zwi­ schen Menschlichem und Nicht-Menschlichem voraus.«25 Es ist wohl nicht falsch, in diesem Befund das heimliche Zentrum, ja sogar das langgesuchte Resultat der wissenschaftlichen An­ strengungen von Levi-Strauss zu vermuten; als das tragende »Prinzip« allen sozialen Lebens wird damit, durchaus in innerer Verwandtschaft mit der Mimesis-Lehre Adornos,26 ein solidari­ sches Gefühl der ursprünglichen Übereinstimmung mit jedem natürlichen Lebewesen behauptet. Lassen sich solche Gefühle ei­ ner naturumfassenden Solidarität in den archaischen Kulturen deswegen empirisch noch finden, weil sie dort sowohl in den Regeln des sozialen Zusammenlebens als auch in den Formen des

24 Ebd., S. 53. 25 C. Levi-Strauss, »Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaf­ ten vom Menschen«, a.a.O., S. 52. 26 Vg). dazu Johann P. Arnason, Zwischen Natur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, bes. S. 66ff.



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klassifikatorischen Denkens unmittelbar und anschaulich enthal­ ten sind, so sind sie in den mechanischen Zivilisationen der Mo­ derne unter technischen Verfahrensregeln so gut wie verschüttet nur bei den »Zirkusleutcn und den Angestellten der zoologischen Gärten«,27 so heißt cs geradezu rührend im Wilden Denken, sind noch Reste solcher naturintimen Wissensformen aufzuspüren. Angesichts dieser zivilisatorischen Lage fällt der Ethnologie also die Aufgabe zu, an die natürliche Eingebundenheit allen sozialen Lebens durch empiriegelcitete Untersuchungen zu erinnern, um das wissenschaftliche Fundament für einen naturalistisch korri­ gierten Humanismus zu legen. So ist es auch nicht weiter überra­ schend, daß sich in den jüngeren Veröffentlichungen von LeviStrauss die Ansätze einer ökologischen Ethik antreffen lassen, ja daß er erste Vorschläge für einen um den Naturbezug erweiterten Begriff der menschlichen Freiheit entwickelt.28 Allerdings müssen sich in dem Maße, in dem dieser philosophi­ sche Kern des Werkes sich schrittweise enthüllt, in die wachsende Bewunderung für die innere Stringenz des romantischen Ent­ wurfs zunehmend auch theoretische Zweifel mischen, ob durch die einfache Übernahme strukturalistischer Konzepte der ganze Anspruch eines solchen Unternehmens überhaupt sinnvoll zu er­ füllen ist. Zwar gibt die strukturalistische Sprachwissenschaft Levi-Strauss ein methodisches Mittel an die Hand, archaische Mythen verschiedenster Herkunft auf dem Weg einer formalen Zergliederung in bedeutungstragende Komplexe auf überra­ schende Übereinstimmungen hin zu untersuchen; dadurch aber nimmt er nicht nur eine problematische Unterwanderung aller hermeneutischen Interpretationsprobleme in Kauf, sondern vor allem auch die Ausblendung von solchen Fragen der inneren Mo­ tiviertheit von mythischen Texten, auf die gerade seine romanti­ schen Erwartungen eine Antwort suchen müßten. Zwar erlaubt es ihm die strukturalistische Fassung seines Begriffs des menschli­ chen Geistes, die Klassifikationskünste archaischer Kulturen als einen noch freien, eben »wilden« Ausdruck der oppositionsset­ zenden Denktätigkeit des Menschen zu werten; durch die kognitivistische Ausdünnung der Soziologie Dürkheims aber begibt er sich zugleich auch aller Möglichkeiten, im Rahmen der eigenen

27 C. Levi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S. 52. 28 C. Levi-Strauss, »Reflexionen über die Freiheit«, in: ders., Der Blick aus der Ferne, München 1985, S. 401 ff. r32

Theorie jenen affektiven Grundlagen archaischen Denkens noch Rechnung zu tragen, auf die gerade die romantischen Interessen seine Aufmerksamkeit lenkten.29 Und schließlich hat auch auf die fruchtbarste Entdeckung seiner Verwandtschaftsstudie, nämlich die Einsicht in die ökonomieübergreifende Rolle des Austauschs, die strukturalistische Terminologie den Blick eher verstellt als erweitert. All das zusammengenommen, drängt sich der abschlie­ ßende Eindruck auf, daß das strukturalistische Inventar der Theorie dem großen Anliegen ihres Autors nicht gewachsen ist; die romantischen Impulse von Levi-Strauss, die sein Werk bis in die letzten Winkel durchziehen, finden in der theoretischen Spra­ che des Strukturalismus keinen angemessenen Ausdruck.30 Gleichwohl fällt, ist dieser kritische Punkt der Auseinanderset­ zung erreicht, noch ein letztes, ein hintergründiges Motiv in die Augen, das Levi-Strauss veranlaßt haben mag, gerade den Struk­ turalismus als das methodische Mittel seiner romantischen Anlie­ gen zu erwählen; es besteht in der Absicht, die strukturalistischen Interpretationsverfahren schrittweise ihres wissenschaftlichen Charakters zu entkleiden und sie selbst zu einer Form des analogisierenden Denkens zu machen. Nicht wenige der Hinweise, mit denen Levi-Strauss sein gigantisches Unternehmen einer vierbän­ digen Untersuchung über die indianischen Mythen kommentiert hat, weisen in eine solche Richtung: so, als habe der Autor schließlich doch auf den indirekten, wissenschaftlichen Aufweis der natürlichen Rahmung allen sozialen Lebens verzichtet und sich mit Hilfe von strukturalistischen Verfahren direkt in die Ab­ fassung eines neuen Mythos geflüchtet. Dann freilich hätte sich seine romantisch inspirierte Ethnologie am Ende jeden theoreti­ schen Anspruchs entledigt, um sich mit einem Schlag selbst in eine kosmologische Weitsicht zurückzuversetzen.

29 Vgl. die Diskussion mit Paul Ricoeur u. a. in: C. Levi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M. 1980, S. 71 ff.; außerdem: Alain Caille, »D’un ethnoccntrisme paradoxal«, in: MAUSS, Nr. 16, 1985, S.91 ff. 30 Vgl. Clifford Geertz, »The Cerebral Savage«, in: Encounter, Nr.4, 1967.

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Leibgebundene Vernunft Zur Wiederentdeckung Merleau-Pontys

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Nachdem der Strukturalismus im geistigen Leben Frankreichs die Vorherrschaft erlangt hatte, war es um das Werk Maurice Merleau-Pontys ruhig geworden; auf die schwierigen und eigenwilli­ gen Schriften sich einzulassen, gab es Anlaß um so weniger, als sie für all das einzustehen schienen, wovon die strukturalistische Be­ wegung sich zu lösen versuchte. Hatte das Denken Mcrleau-Pontys in Frankreich damit die Aufmerksamkeit eingebüßt, die ihm zwanzig Jahre zuvor in hohem Maße zuteil geworden war, so konnte es in der Bundesrepublik eine solche Aufmerksamkeit überhaupt nie erringen. Nur als politischer Philosoph und Mit­ streiter Sartres war Merleau-Ponty hier in den fünfziger und sechziger Jahren auf öffentliches Interesse gestoßen; seine phäno­ menologischen Schriften hingegen verblieben zunächst im Schat­ ten Heideggers und gerieten unter dem wachsenden Einfluß der Sprachanalyse dann beinahe vollends in Vergessenheit. Dieser Situation ein Ende zu bereiten, sind einige Tendenzen angetan, die in jüngster Zeit das geistige Kräftefeld innerhalb der Philosophie verändert haben. Die Auszehrung des französischen Strukturalismus ist die erste dieser Tendenzen: mit ihr schwinden heute jene intellektuellen Barrieren, die zumindest in Frankreich bislang einer Rückbesinnung auf Merleau-Ponty im Wege stan­ den. Die Auflösung des sprachanalytischen Dogmatismus ist die andere dieser Tendenzen: mit ihr geht eine Rückwendung auf jene pragmatistischen und phänomenologischen Theorietraditio­ nen einher, die noch unbefangen die Totalität der menschlichen Erfahrungsbezüge in den Blick zu nehmen versuchten. Beide Entwicklungen zusammengenommen, muß es nicht eigentlich überraschen, wenn nun gleich eine Reihe von Büchern in der Bundesrepublik erschienen ist, die zu einer Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty anregt. Da finden sich zunächst Wiederveröf­ fentlichungen und Ncuübersetzungen seiner späten Schriften; sie lassen nicht nur die innere Dynamik der intellektuellen Entwick­ lung Merleau-Pontys, sondern auch die ganze Breite seines philo­ sophischen Schaffens vor unsere Augen treten.1 Sodann liegt ein

1 M. Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1984; ders., /l«ge und

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Sammelband vor, der die »Spuren von Mcrleau-Pontys Denken« in der zeitgenössischen Philosophie zu dokumentieren versucht; dadurch gewinnen wir einen ersten Überblick über die geistigen Tiefenwirkungen, die sein Werk allen Hindernissen zum Trotz in den vergangenen Jahrzehnten ausgeubt hat.2 Und schließlich sind inzwischen auch Studien jüngerer Autoren erschienen, in denen der Versuch unternommen wird, die Schriften Mcrleau-Pontys für die Probleme einer kritischen Gesellschaftsthcorie fruchtbar zu machen? Von drei Seiten aus gewähren diese Bücher somit einen Einblick in das, was an untergründiger Aktualität dem Werk Merleau-Pontys innewohnt: in ihm entdecken wir einen philosophischen Autor, der zeit seines Lebens nach einem Aus­ weg aus der Bewußtseinsphilosophie gesucht hat, um sich am Ende schließlich in genau den theoretischen Schwierigkeiten und Problemen zu verfangen, die immer noch die unsrigen sind. Ohne daß Merleau-Ponty es geradezu mit dem Zeitgespür des Sartreschen Denkens aufnehmen könnte, besitzt doch auch seine Philosophie eine typisch existenzphilosophische Prägung: auch sein Weg läßt sich nur als eine philosophische Selbsterkundung der individuellen Existenzerfahrung verstehen und verläuft dem­ entsprechend über Stationen, die jeweils durch die Berücksichti­ gung einer neuen Erfahrungsdimension des Menschen gekenn­ zeichnet sind. Mit Sartre teilt er zunächst die Absicht einer exi­ stenzphilosophischen Weiterbildung der Phänomenologie Hus­ serls; die Anwendung der phänomenologischen Methode nicht allein auf das Bewußtseinsgeschehen, sondern auf die Totalität der individuellen Existenzerfahrung bot sich als eine Möglichkeit an, um den Fesseln der klassischen Bewußtseinsphilosophie zu entkommen. Freilich gibt Merleau-Ponty diesem existentialphänomcnologischen Programm, in dem sich damals ein ganzer Kreis von französischen Philosophen einig wußte,4 schon in seinen frü­ hen Werken eine Wendung ins Anthropologische; ihn interessiert

der Geist, Hamburg 1984; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. 2 Alexandre Mctraux/Bcrnhard Waldenfels (Hrsg.), Leibhaftige Ver­ nunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986. 3 Vgl. etwa Peter Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst. Perspektiven ei­ ner kritischen Theorie des sozialen Lebens, München 1986. 4 Vgl. die imposante Studie von Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, Kap. 1. Bernhard Waldenfels darf über135



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von Anfang an vor allem die Art und Weise, in der in jedem individuellen Existenzvollzug Leib und Bewußtsein untrennbar ineinandcrspielen. Die anthropologische Fragestellung ist es auch, die Merleau-Ponty gleich zu Beginn in einem zweiten Punkt über den Gedankenkreis der Existcntialphänomenologie hinausgehen läßt: weil er bei seinem Versuch, die existentielle Verschränkung von Körper und Geist offenzulegen, auf Phäno­ menbereiche ausgreifen muß, die die Einzelwissenschaften empi­ risch untersuchen, sieht er sich veranlaßt, deren Ergebnisse in den Gang seiner philosophischen Analyse gleichberechtigt miteinzu­ beziehen. Und das Interesse für die Einzelwissenschaftcn, das seiner Philosophie einen empirischen Charakter gibt, hat ihn dann auch später nicht mehr losgelassen; es hat ihn in seinen letzten Jahren auf die Ergebnisse der Psychoanalyse und der Eth­ nologie sich mit dem gleichen Enthusiasmus stürzen lassen, mit dem er sich in seinem Frühwerk die Gestalttheorie anzueignen vermocht hatte. Die Beschäftigung mit der Theorie der Gestaltwahmehmung fällt in die schriftstellerisch ergiebigste Phase Merleau-Pontys; aus ihr gehen zwei seiner entscheidenden Bücher hervor, die 1938 abge­ schlossene Untersuchung über die »Struktur des Verhaltens« und die sieben Jahre später veröffentlichte »Phänomenologie der Wahrnehmung«.5 Beide Schriften bewegen sich in einem theoreti­ schen Rahmen, der durch die Annahme bestimmt ist, daß der Wahrnehmung innerhalb der menschlichen Erfahrensweisen ein prinzipieller Vorrang zukommt: die Wahrnehmung bildet den Boden für alle anderen Lebensvollzüge, weil allein in ihr sich der Mensch existentiell einen Zugang zur Welt verschafft. Nur diese Prämisse erklärt überhaupt, warum Merleau-Ponty sich in seiner ersten Schaffensperiode beinahe ausschließlich mit dem Phäno­ men der Wahrnehmung auseinandersetzt; denn sie erlaubt es ihm, die Analyse des Wahrnehmungsgeschehens zugleich als den er­ sten und entscheidenden Schritt einer Phänomenologie des menschlichen In-dcr-Welt-Seins zu begreifen. Die Untersu­ chung, die das zu leisten hat, führt Merleau-Ponty in Form einer Kritik sowohl der empiristischen als auch der idealistischen haupt als der zentrale Vermittler des Denkens Merleau-Pontys in den deutschsprachigen Raum gelten. 5 M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin 1976; ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. ij6

Wahrnehmungskonzeptionen durch; dabei kommt ihm nun die Gestalttheorie, die er mit Begeisterung aufnimmt, zu Hilfe. Aus ihr entwickelt er die These, daß die menschliche Wahrnehmung weder sensualistisch als eine bloß passive Aufnahme von Sinncseindrücken noch idealistisch als eine aktive Konstitutionsleistung des Bewußtseins zu verstehen ist; vielmehr vollzieht sich die Wahrnehmung selbst als ein Prozeß der sinngebenden Erschlie­ ßung von Welt. Die Sinnentwürfe, die den Wahrnehmungsvor­ gang somit gleichsam von innen heraus eröffnen und bewegen, gehen ihrerseits auf die Handlungsintentionen eines leiblich täti­ gen Subjekts zurück; der Mensch erschließt sich in der Wahrneh­ mung die Welt als ein Oricntierungsfeld möglicher Eingriffe und virtueller Bezugnahmen seines leiblichen Verhaltens. Für die Verhältnisbestimmung von Körper und Geist, an der es Merleau-Ponty im Rahmen seiner phänomenologischen Untersu­ chung der menschlichen Existenzerfahrung ja zunächst vor allem gelegen ist, haben diese wahrnchmungstheorctischen Erwägun­ gen erhebliche Konsequenzen. Aus ihnen ergeben sich die Grundzüge einer Kritik an jenem ontologischen Dualismus, der in der cartesianischen Tradition zur philosophischen Selbstver­ ständlichkeit geworden ist: wenn der Wahrnehmungsvorgang nämlich als ein Prozeß aufgefaßt werden muß, in dem der Mensch aus seinem leiblichen Verhalten heraus die Welt sinngebend er­ schließt, dann sind auch Körper und Geist, Leib und Bewußtsein nicht länger als getrennte Entitäten zu behandeln, wie es im Car­ tesianismus geschieht; beide sind im Akt der Wahrnehmung zu einer einzigen Leistung verschmolzen und bilden gemeinsam ein unauflösliches Funktionselement im menschlichen Existenzvoll­ zug. Merleau-Ponty hat die Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben, in der These zusammengefaßt, daß der menschliche Leib selbst immer schon ein Medium von kognitiven Akten darstcllt: das Bewußtsein ist, so sagt er, »Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes«. Dieser zwar weitreichende, aber nicht allzu klare Gedankengang, den Alexandre Metraux in dem von ihm mither­ ausgegebenen Sammelband noch einmal umreißt, ist im angel­ sächsischen Sprachraum inzwischen auf fruchtbaren Boden gefal­ len; hier hat ein Kreis von phänomenologisch orientierten Philo­ sophen, zu dem Michael Polanyi, Hubert L. Dreyfus und Charles Taylor gehören, die These Mcrleau-Pontys aufgegriffen und zu einem erkenntnistheoretischen Konzept fortentwickelt. Über die

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Grundgedanken dieses »neophänomenologischen« Ansatzes un­ terrichtet vorzüglich ein Aufsatz Charles Taylors, der sich eben­ falls in jenem Sammclband abgedruckt findet; darin ist auf knap­ pem Raum zusammengefaßt, was sich heute als das produktive Potential der Wahmehmungslehre Merlcau-Pontys betrachten läßt.6 Den Ausgangspunkt stellt die Überlegung dar, in die MerleauPontys Durchgang durch die traditionellen Wahrnehmungskon­ zepte eingemündet war: als wahrnehmende Wesen bewegen wir uns immer schon im Horizont einer geradezu körperlichen Ver­ trautheit mit den uns umgebenden Dingen. Von erkenntnisthcoretischcr Bedeutung ist dann die Frage, welche Eigenarten jenem Wissen zukommen, das sich in der Umgangssicherheit und Ding­ vertrautheit des Menschen niederschlägt; es kann nicht, wie Tay­ lor zeigt, die reflexive Verfügung über Handlungsregeln, sondern muß ein gleichsam intuitives Beherrschen von Handlungsvollzü­ gen sein, was solche Art von Wissen auszeichnet. Unsere alltägli­ chen Verrichtungen werden durch ein Wissen ermöglicht, das so sehr ein leibhaftiges Können ist, daß es durch Regeln weder expli­ ziert noch angeeignet werden kann; es hat seinen Sitz vielmehr in den gekonnten Handlungsvollzügen selbst, die der Ausdruck ei­ ner direkten, ja mimetischen Vertrautheit mit den Dingen sind. In der Einsicht, daß es auch dieses leiblich-praktische Können ist, das selbst unserer theoretisch-begrifflichen Erkenntnis noch als eine vortheoretische Wissensquelle zugrunde liegt, kommen die verschiedenen Arbeiten der amerikanischen Neophänomenologen überein; ihr Leitbegriff ist der des »impliziten« oder »leibli­ chen« Wissens, ihre Absicht die einer Kritik an dem szientisti­ schen Selbstverständnis der zeitgenössischen Wissenschaft.7 Merleau-Ponty hätte solchen Implikationen und Problemen sei­ ner Wahmehmungslehre in der Fortentwicklung seiner Arbeiten auch selbst nachgehen können; unter den Fragen, die er sich dann hätte stellen müssen, wäre die dringlichste die nach den Bedin­ gungen der elementaren Intersubjektivität unserer Wahrneh­ mungserfahrungen gewesen. Daß er tatsächlich jedoch einer an-

6 Charles Taylor , »Leibliches Handeln«, in: A. Metraux/B. Waldenfcls (Hrsg.), Leibhaftige Vernunft, a. a. O., S. 194 ff. 7 Vgl. etwa Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt/M. 1985; Hu­ bert L. Dreyfus, Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Königstein/Ts. 1985.

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deren Richtung in seinen Forschungsbemühungen gefolgt ist, hat zur Ursache zunächst die politischen und wissenschaftlichen Umstände der Nachkriegszeit. Die beginnende Auseinanderset­ zung mit dem Stalinismus und das wachsende Interesse am Mar­ xismus treiben ihn in die Sphäre der politischen Philosophie und lassen ihn hier in den späten vierziger Jahren zum Ml — Mitstreiter Sartres werden. Die Fragestellungen, um die seine Forschungen nunmehr sich bewegen, sind weitgehend durch die Aufgabe einer geschichtsphilosophischen Bewältigung der Erfahrung des Stali­ nismus bestimmt; von einer Theorie der Geschichte, zu der ihm seine bereits in der Wahrnehmungslehre vorgestellten Überlegun­ gen zur Zeitlichkeit und Freiheit die ersten Voraussetzungen ver­ schaffen, erhofft er sich eine Antwort auf die Frage, welches Maß an Machbarkeit den historisch-sozialen Vorgängen zukommt. Den Ertrag dieser Arbeiten, die allesamt eine Auseinandersetzung mit der Theorie und der Praxis des Marxismus darstellen, bildet eine nur umrißhaft entwickelte Geschichtsphilosophie; von ihr hat eine ganze Generation von linken Intellektuellen den Anstoß und die Anregungen zu einer selbstkritischen Fortentwicklung des Marxismus erhalten. Allerdings nimmt diese Phase praktisch-politischer Forschungen in der Gesamtentwicklung Merleau-Pontys eher nur den Stellen­ wert einer Übergangsperiode ein. Was ihn seit dem Beginn der fünfziger Jahre wohl eigentlich interessiert und über den Rahmen seiner frühen Wahrnehmungslehre allmählich lünaustreibt, findet sich hingegen erstmals in der 1952 abgebrochenen und dann erst nach seinem Tode veröffentlichten Essaysammlung »Die Prosa der Welt«; darin unternimmt Merleau-Ponty in Form einer expe­ rimentellen Erprobung verschiedener Sprachtheorien den Ver­ such, die Funktionsweise der Sprache als ein welterschlicßendes Ausdrucksmittel des Menschen zu untersuchen. Der Weg, der von hier aus in das Spätwerk führt, ist nun alles andere als geradli­ nig und zielgerichtet; er vollzieht sich in einer Bewegung der tastenden Erkundung neuer Wissensgebiete und ist statt durch eine leitende Einsicht durch tiefgreifende Irritationen gesäumt. Die wichtigsten Stationen dieses Weges werden markiert zu­ nächst durch eine Reihe von Vorlesungen, die Merleau-Ponty von 1952 bis 1960 am College de France hält;8 sodann durch die 8 M. Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Berlin 1973.

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Aufsatzsammlung »Signes«, die 1960 erscheint und schon seit geraumer Zeit in einem Auswahlband auf deutsch vorliegt;9 und schließlich durch das unvollendet gebliebene, erst drei Jahre nach Merleau-Pontys Tod von Claude Lefort 1964 herausgegebene Buch »Le visible et l’invisible«, das nunmehr in einer vorzügli­ chen Ausgabe ebenfalls deutsch vorliegt. Von zwei großen Themen wird Merleau-Ponty im Fortgang, den sein Werk über diese Stationen nimmt, immer wieder angetrie­ ben. Zum einen ist cs die Sprache als ein Ausdrucksgeschehen, die den sachlichen Horizont seiner Arbeiten mehr und mehr be­ stimmt. Von seiner ursprünglichen Vorstellung, derzufolge sprachliche Äußerungen unter dem Primat der Wahrnehmung stehen und deswegen nur zweitrangige Formen des menschlichen Weltbezuges repräsentieren, löst er sich allmählich, um an ihre Stelle die Auffassung treten zu lassen, daß die Sprache ein originä­ res Feld der Ausdruckskreativität des Menschen bildet. In seinen sprachlichen Äußerungen erschließt der Mensch stets aufs neue vor seinen Mitmenschen bislang unbekannte und unerfahrene Aspekte der Welt; dazu ist er freilich nur imstande, weil die Sprache ihrerseits eine alle Subjekte übergreifende Symbolord­ nung darstellt, die ihrer Struktur nach offen für permanente Be­ deutungsverschiebungen und Sinnverweisungen ist. Mit dieser thematischen Konzentration auf die Sprache geht zweitens ein Wechsel in der Bestimmung des Charakters der In­ tentionalität einher. Merleau-Ponty gerät zunehmend in Zweifel darüber, ob sich die intentionalen Akte tatsächlich noch einem intendierenden Subjekt zuschreiben lassen können; einen Aus­ blick auf das Problem, das damit sich auftut, gewähren bereits einige Stellen in der »Phänomenologie der Wahrnehmung«, die wie strukturalistische Gedankensplitter in die Argumentations­ gänge dieses Werkes hineinragen: »Wollte ich...«, so heißt es etwa, »die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Aus­ druck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahmehme.« Von einer solchen Überlegung aus ist es dann nicht mehr weit zu der These einer prinzipiell anonymen Entstehung von Sinnhorizonten: das, was in der Wahrnehmung oder den Sprechakten jeweils als ein bedeutungsvoller Zusam-

9 Ursprünglich: M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 1967. 140

menhang hervorgebracht wird, geht nicht auf die Intentionen ei­ nes einzelnen Subjekts, sondern auf ein subjektübergreifendes und undurchschaubares Sinngeschchen zurück. In seinen letzten Lebensjahren scheint Merleau-Ponty sich tatsächlich, wie die spä­ ten Schriften jetzt zeigen, zu dieser Auffassung durchgerungen zu haben. Den Anstoß dazu mag er ursprünglich aus der phänome­ nologischen Beobachtung von nicht-intentionalen Vollzügen menschlichen Handelns und Erlebens gewonnen haben; aber erst die Auseinandersetzung mit den strukturalistischen Strömungen in der Sprachwissenschaft und der Ethnologie, die er während der fünfziger Jahre forciert in Angriff nimmt, wird aus solchen Beob­ achtungen wohl die Überzeugung geformt haben, daß die Bedeu­ tungsgehalte menschlicher Erfahrungen nicht nur unwillkürlich entstehen, sondern ihrerseits stets durch ein übersubjektives und unverfügbarcs Sinngeschehen erzeugt werden. Es wäre nicht ganz falsch, in diesem Denkmotiv die eigentliche Antriebskraft der späten Schriften Merleau-Pontys zu sehen; und wenn solche Motive auf den Bereich der Sprache übertragen wer­ den, scheint es auch zulässig, darin, wie Bernhard Waldenfels, eine Antizipation strukturalistischer Ideen zu vermuten.10 Dann freilich hätte Merleau-Ponty paradoxerweise genau diejenige Denkströmung in seinen letzten Arbeiten bereits theoretisch vor­ weggenommen, durch die sein eigenes Werk später in die Verges­ senheit geriet; daß dem nicht unbedingt so sein muß, geht aus einigen der Aufsätze hervor, die in dem von Metraux und Wai­ denfels herausgegebenen Sammelband abgedruckt sind. Es sind drei Interpretationsansätze des Spätwerks Merleau-Pontys, die sich dort dokumentiert finden; sie unterscheiden sich danach, wie sie die schwerverständlichen, ja häufig kryptischen Hinweise zu deuten versuchen, mit denen Merleau-Ponty jene anonyme Kraft der Sinngebung charakterisiert. Der erste dieser Ansätze ist durch den bereits erwähnten Versuch gekennzeichnet, die späten Schriften Merleau-Pontys als einen Vorgriff auf strukturalisti­ sches Gedankengut zu interpretieren; die anonyme Kraft der Sinnproduktion wäre dann in einem als autonom zu verstehenden Sprachgeschehen beheimatet. Ein Aufsatz von Marc R'ichir mag für den zweiten und zweifellos einflußreichsten Interpretationsansatz stehen; darin wird als die io B. Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich, a.a.O., Kap. in, io. I4I

zentrale Tendenz des Spätwerks die Hinwendung zu einer Art von Naturontologie angesehen.11 Richir versteht das letzte Buch Merlcau-Pontys, also das Fragment über »Das Sichtbare und das Unsichtbare«, als einen Versuch, in der methodischen Einstellung des Phänomenologen noch zu einer natürlich-sinnlichen Seins­ schicht vorzudringen, von deren »wilder« -, unkontrollierbarer Bewegung alle Wirklichkeit lebt; auf ein solches kosmisches Prin­ zip, das wie ein Urelement jedwedem Sein zugrunde liegt, soll der dunkle Begriff des »Fleisches« abzielen, von dem Merleau-Ponty in seinen letzten Lebensjahren immer häufiger Gebrauch macht. Allerdings ist die Wendung ins Naturphilosophische, die mit die­ sem Versuch einer Bestimmung der vitalen Grundenergien aller Lebensvollzüge cinherginge, schon deswegen schwer verständ­ lich, weil sie den Rahmen einer Phänomenologie des menschli­ chen In-der-Welt-Seins überhaupt sprengen würde; zwar lassen die verschiedenen Hinweise, die Waidenfels auf eine BcrgsonSchcllingsche Unterströmung im Denken Merlcau-Pontys gibt, solche naturspekulativen Tendenzen biographisch plausibel wer­ den, aber mit dem existentialphänomenologischen Grundansatz sind sie deswegen nicht schon vereinbar. Zudem gerät der Deu­ tungsansatz Richirs, soviele Textstellen er auch auf seiner Seite haben mag, in Konflikt mit der immer wieder geäußerten Absicht Merlcau-Pontys, auf dem Weg einer phänomenologischen Er­ schließung des menschlichen Leibes zu einem erweiterten Begriff der Rationalität vorzudringen; denn mit dem Übergang zu einer naturphilosophischen Kategorie des »Fleisches« wäre überhaupt die Ebene verlassen, auf der Vernunft noch als eine elementare Dimension des menschlichen Existenzvollzuges auszumachen wäre. Auf die Absicht einer erweiterten Rationalitätskonzeption ist hingegen der dritte Interpretationsansatz zugeschnitten, der in dem Sammelband durch einen Aufsatz von Gary B. Madison re­ präsentiert ist.12 Madison versetzt das Spätwerk Merlcau-Pontys in die Diskussionslandschaft, die heute durch die Kategorie der Postmoderne abgesteckt ist; er erkennt zwar auch die spekulati11 M. Richir, »Der Sinn der Phänomenologie in >Das Sichtbare und das Unsichtbare««, in: A. Metraux/B. Waldenfels (Hrsg.), Leibhaftige Ver­ nunft, a. a. O., S. 86 ff. iz G.B. Madison, »Merleau-Ponty und die Postmodernität« in« A.Me­ traux/B. Waidenfels (Hrsg.), Leibhaftige Vernunft, a.a.O., S. 162 ff. I42

ven Tendenzen, die im Spätwerk in Richtung einer Naturphiloso­ phie drängen, stellt aber als eine Art von Gcgcntcndenz die Be­ mühung um eine intersubjektivistische Theorie der Rationalität fest. Dabei kann er sich auf Textpassagen stützen, in denen Merleau-Ponty geradezu hermeneutisch als die fundamentale Bedin­ gung von Wahrheit die Aufrechterhaltung eines Dialogs unter den Menschen ansicht; dazu würde auch passen, daß McrleauPonty sich im Zuge seiner gedanklichen Entwicklung mit zuneh­ mender Konsequenz die intersubjektive Verfassung der menschli­ chen Existenz vor Augen geführt hat. Welcher dieser Deutungsansätze schließlich auch immer im Recht sein mag, sie alle führen in theoretische Positionen, die das philo­ sophische Bewußtsein unserer Tage entscheidend mitprägen; so gesehen, hat Merleau-Ponty in seinem Spätwerk bereits jene Pro­ bleme in Form eines inneren Dialogs behandelt, die heute zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion geworden sind.

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Eine ontologische Rettung der Revolution Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis

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Gegen den zeitgenössischen Trend einer Verkümmerung der Ge­ sellschaftskritik behaupten sich im Augenblick nur wenige Theo­ rien. Sic ragen wie einsame Inseln aus dem Meer der neokonser­ vativen Zeitdiagnosen und modischen Verfallsprognosen heraus. Unter den Theorien, die in diesem Sinn dem Zeitgeist sich wider­ setzen, stellt diejenige von Cornelius Castoriadis eine der imponierendsten Leistungen dar. Castoriadis ist ein aus Griechenland stammender, nunmehr aber seit vierzig Jahren in Paris lebender Philosoph und Psychoanalytiker. Sein Werk ist aus demselben Impuls geboren, aus dem die kritischen Gescllschaftstheorien in unserem Jahrhundert sich von Anfang an speisten: dem einer Rettung der praktisch-politischen Intentionen des Marxschen Werkes durch eine entschlossene Preisgabe seiner zentralen Grundannahmen. In dreieinhalb Jahrzehnten philosophisch-wis­ senschaftlicher Arbeit hat Castoriadis sich aus dem theoretischen Rahmen des Marxismus gelöst, nur um dessen praktischen Kern, die Idee einer revolutionären Umwälzung des Kapitalismus, für die Gegenwart retten zu können; seine ganze Lehre kreist daher, wie unter den zeitgenössischen Gesellschaftstheorien sonst wohl nur die von Herbert Marcuse, um das Problem der Revolution. Wo jener allerdings den Weg einer psychoanalytischen Bestim­ mung der menschlichen Triebnatur einschlug, um zur Revolution als einer theoretischen und praktischen Denkmöglichkeit zurück­ zufinden, bietet dieser ein zentrales Element der traditionellen Philosophie auf. Denn es ist eine Ontologie, durch die Castoria­ dis glaubt, die aus dem Bewußtsein unserer Zeit verdrängte Idee der Revolution zurückgewinnen zu können. Freilich ist die onto­ logische Lehre, die er zu diesem Zweck ausarbeitet, nun ihrerseits alles andere als traditionalistisch: statt von der kategorialen Be­ stimmbarkeit des Seins geht Castoriadis nämlich von der prinzi­ piellen Unbestimmtheit der sozialen und natürlichen Welt aus. Seine Theorie wurzelt in der Überzeugung, daß es der Prozeß 144

einer ständigen Hervorbringung neuer Seinsgestalten ist, der die eigentliche Seinsweise der Wirklichkeit ausmacht; in diesem on­ tologischen Grundgedanken, den er in Form einer Kritik der Identitätslogik zu entfalten versucht, sind wie in einem einzigen Punkt die weitgespannten Fäden seines Werkes zusammenge­ schnürt. Stellt somit das Gravitationszentrum der Theorie, die Castoriadis vorbringt, eine kühne, ja verwegen erscheinende Ontologie dar, so ist jedoch der Weg, auf dem er seinen ontologischen Ansatz zu begründen versucht, durch die gegenwärtige Problcmsituation in den Wissenschaften bestimmt. Es macht die theoretische Bedeu­ tung und den intellektuellen Reiz seines Werkes aus, daß Casto­ riadis das philosophische Konzept, auf das er seine Theorie grün­ det, als eine Antwort auf die Schwierigkeiten entwickelt, mit de­ nen heute vor allem die Sozialwissenschaftcn, dann aber auch die Naturwissenschaften konfrontiert sind; wie alle bedeutsamen Philosophen Frankreichs in diesem Jahrhundert, so gewinnt auch Castoriadis seine philosophischen Grundannahmen in steter Aus­ einandersetzung mit und unter ständigem Rückbezug auf die zeitgenössischen Wissenschaften. Daher läßt sich der Weg, der ihn zu seiner Ontologie geführt hat, als ein Prozeß rekonstru­ ieren, in dem er seinen politisch-praktischen Leitgedanken, die Idee der Revolution, durch die Wissenschaften hindurch zu ent­ wickeln versucht hat. I

Castoriadis’ Werk ist zunächst und vor allem eine Selbstkritik des Marxismus.1 In jener kritischen Unterströmung der marxisti­ schen Theorietradition, die von Karl Korsch über Maurice Merleau-Ponty bis zu E.P. Thompson reicht, nimmt er eine bedeu­ tende Stellung ein. Es sind nicht primär theoretisch-philosophi­ sche Überlegungen, die in ihm die ersten Zweifel an den traditio­ nellen Grundannahmen des Marxismus wecken, sondern die Er­ fahrungen der politischen Praxis. Castoriadis war, nachdem er zunächst die autoritäre und repressive Strategie der stalinistischen KP Griechenlands an eigenem Leib erfahren hatte, noch während

i Vgl. den Überblick von Dick Howard, The Marxian Legacy, New York 1977, Kap. to. ’45

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des 2. Weltkrieges der trotzkistischen iv. Internationale beigetre­ ten; alsbald jedoch, nun bereits als Philosophiestudent in Frank­ reich, gerät er in Konflikt mit der eigenen Organisation, mit der er weder in der Einschätzung der sowjetischen Gesellschaft noch in der Analyse des fortcntwickelten Kapitalismus übereinzustim­ men vermag. In Zusammenarbeit mit Claude Lefort, einem Schü­ ler Merleau-Pontys, gründet Castoriadis einen oppositionellen Zirkel, der nach dem gemeinsam vollzogenen Bruch mit der iv. Internationale zum intellektuellen Träger der Zeitschrift »Socialisme ou barbarie« wird. Diese Zeitschrift bildet von 1949 bis 1966 sowohl den organisatorischen Kern als auch das geistige Zentrum einer ungemein fruchtbaren Auseinandersetzung mit den theoretischen und praktischen Problemen des Marxismus.2 Erklärtes Ziel der Redaktionsarbeit sind die Grundsätze einer zeitgemäßen Revolutionstheorie. Die diktatorische Niederschla­ gung der Volksaufstände in der DDR, in Polen und Ungarn, der fortschreitende Bürokratisicrungsprozeß in beiden Gesellschafts­ systemen, der unerwartete Aufschwung der kapitalistischen Wirtschaft und der wachsende Einfluß der Kulturindustric - das sind die zeitgeschichtlichen Entwicklungsvorgänge, die das Be­ wußtsein der Gruppe für das Versagen und Veralten des traditio­ nellen Marxismus geschärft hatten; ihr Selbstverständnis ist von der Überzeugung geprägt, daß der Marxismus in seiner her­ kömmlichen Gestalt nicht mehr die adäquaten Mittel bcreitstcllt, um der Aufgabe einer Revolutionierung der fortentwickclten Ge­ sellschaften gerecht werden zu können; daher soll die gemein­ same Reflcxionsanstrengung, für die die Zeitschrift das Medium darstelk, die theoretischen Voraussetzungen für eine Reaktualisierung des Marxismus klären. Den normativen Kem dieses Kol­ lektivunternehmens bildet die Perspektive eines freiheitlichen, ra­ dikal-demokratischen Sozialismus, sein begriffliches Rüstzeug stammt aus der marxistischen Praxisphilosophie. In der Zeit­ schrift setzen die Mitarbeiter das kollektiv gesetzte Ziel um, in­ dem sie sich entweder auf empirische Fragen der Gesellschafts­ analyse oder auf philosophische Probleme der Marxismusinter­ pretation konzentrieren. Einzig Castoriadis aber gelingt cs, beide 2 Eine Sammlung von Artikeln, die Castoriadis zu diesem Zeitschriften­ projekt beigetragen hat, liegt inzwischen auf deutsch vor: C. Castoria­ dis, Sozialismus oder Barbarei, Berlin (W.), 1980.

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Gesichtspunkte in seinen Beiträgen so miteinander zu verschrän­ ken, daß sich die Grundzüge einer erneuerten Gesellschaftstheo­ rie bruchstückhaft abzuzeichnen beginnen; zudem führt seine Argumentation ihn alsbald schon nicht nur über die Grenzen des traditionellen Marxismus, sondern über die des historischen Ma­ terialismus überhaupt hinaus. Castoriadis geht von der Überlegung aus, daß die entstellte Form, die der Sozialismus in der Sowjetunion oder in China angenom­ men hat, retrospektiv auch Zweifel an der Marxschcn Theorie wecken muß. Ein Theorieprojekt, das wie das Marxsche auf prak­ tische Verwirklichung abziclt, kann dem Resultat seiner tatsächli­ chen Verwirklichung nicht einfach äußerlich sein: »Wenn der Marxismus wahr ist, dann befindet sich, nach seinen eigenen Kri­ terien, seine effektive historische Wahrheit in der effektiven hi­ storischen Praxis, die er prägte, das heißt letztlich in der russi­ schen und chinesischen Bürokratie. Weltgeschichte ist Weltge­ richt.«3 Castoriadis benutzt nun freilich dieses Argument nicht, wie heute die »Neuen Philosophen« in Frankreich, um den Mar­ xismus grob und einseitig des totalitären Denkens zu bezichtigen; er räumt vielmehr zugleich ein, daß sich in den historisch seltenen Augenblicken von rätedemokratisch organisierten Volkserhebun­ gen ein zweites, emanzipatorisches Potential der Marxschen Theorie politisch entzündet hat. Der »innere Zwiespalt« des Marxschcn Denkens ist daher schon in den fünfziger Jahren Ca­ storiadis’ eigentliches Thema. Den produktiven, revolutionären Kern der Theorie von Marx erblickt er in dem nur skizzenhaft entwickelten Konzept einer schöpferischen, gescllschaftsverändernden Praxis; darin wird die Geschichte als ein dauernder Pro­ zeß der Hervorbringung »neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens durch die Aktion der Massen« (96)"* interpretiert. In dem Modell des Klassenkampfes, das die Geschichte als einen offenen Prozeß der aktiven Auseinandersetzung zwischen den sozialen Klassen deutet, hat dieser praxeologische Ansatz im Marxschcn Werk seine deutlichsten Spuren hinterlassen; zudem war er ein­ hergegangen auch mit einer Verabschiedung des traditionellen Philosophieverständnisses, da jede philosophische Theorie nur noch als ein prinzipiell unabschließbarer und historisch verwur-

3 Ebd., S. 39. 4 Alle Seitenangaben im Text beziehen sich im folgenden auf: C. Casto­ riadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M. 1984.

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Zelter Entwurf zu verstehen war, wenn die Geschichte im ganzen als ein unabschließbarer Prozeß praktischer Schöpfungen aufge­ faßt werden sollte. Daher hat Marx in den besten Partien seiner Schriften mit der Einführung eines neuen Verständnisses des Ge­ sellschaftlichen zugleich auch den Rahmen der alten Geschichts­ theorien gesprengt, indem er seine eigene Theorie als einen imma­ nenten Bestandteil jener kreativen Praxis zu verstehen suchte, durch die er die Geschichte als solche bewegt glaubte. Diesen radikalen Neuansatz sieht Castoriadis jedoch im Mani­ schen Werk selbst durch ein zweites Theoriemodell in Frage ge­ stellt. Darin ist die Einsicht in den schöpferischen Charakter des sozialen Lebens der Behauptung einer mechanischen Logik der gesellschaftlichen Entwicklung geopfert: die kreative Leistungs­ fähigkeit des Menschen zu bloß technischer Innovationsgabe her­ abgestuft; die praxisfordernde Offenheit des Geschichtsprozesses auf die Mechanik der Produktivkraftentwicklung herunterge­ bracht; und der revolutionäre Entwurf schließlich zur positiven Wissenschaft depotenziert. Weil Marx, wie Castoriadis annimmt, dem positivistischen Geist und dem technischen Optimismus sei­ ner Zeit mehr Vertrauen schenkte als seinen eigenen Intuitionen, konnte dieser szientistische Ansatz in seinem Werk leicht die Vorherrschaft gewinnen; er hat die praxisphilosophischen Ein­ sichten, die die eigentliche Leistung Marxens ausmachen, nicht nur überwuchert, sondern schnell im Keime erstickt. Mit dem Sieg aber, den die objektivistische Geschichtsphilosophie über die ursprüngliche Praxisphilosophie somit davontrug, waren im Marxschen Werk selbst bereits die innertheoretischen Vorausset­ zungen geschaffen, die den Marxismus später zu einer bloßen »Ideologie der Bürokratie«, zu einer gewaltsamen Legitimations­ wissenschaft haben werden lassen; die politische Geschichte, die im Stalinismus kulminiert, setzt nur das an praktischen Konse­ quenzen in die Wirklichkeit um, was in einer Theorie schon ange­ legt ist, die den schöpferischen Lebensprozeß der Gesellschaft auf eine Logik der Produktivkraftenrwicklung hat zusammenschmel­ zen lassen. Schon der Überblick zeigt, von welch ungewöhnlicher Hellsich­ tigkeit die Marxismusdeutung ist, die Castoriadis sich in seinen Zeitschriftenbeiträgen Schritt für Schritt erarbeitet. Sie greift über zwei Jahrzehnte hinweg auf jene Kritik vor, die heute die philoso­ phische Diskussion um Marx und den Marxismus bestimmen. 148

Hat sich hier die Habermassche Einsicht in den »heimlichen Posi­ tivismus« der Marxschen Theorie weitgehend Geltung verschafft, so formuliert Castoriadis denselben Grundgedanken schon zwanzig Jahre früher: die Einengung eines zunächst weitgefaßten Praxisbegriffs auf den Aspekt des technischen Tuns sieht auch Castoriadis als die eigentliche Quelle des immanenten Ge­ schichtsobjektivismus der Marxschen Theorie an; schon für ihn ist es mithin ein produktivistisches Sclbstmißvcrständnis, das Marx an der Entfaltung seiner praxisphilosophischen Denkmo­ tive gehindert und ihn zu einer politisch verhängnisvollen Ent­ wicklungsmechanik hat Zuflucht nehmen lassen. Aber nicht der­ artige Übereinstimmungen, sondern die spezifische Differenz ge­ genüber der heute vorherrschenden Marx-Kritik sind von Bedeu­ tung, wenn wir den Aufbau der Gesellschaftstheorie von Casto­ riadis weiterverfolgen wollen. Denn Castoriadis arbeitet nun das, was er als den produktiven, aber unterdrückten Kern der Marx­ schen Theorie herausstcllt, in einer anderen Richtung auf, als cs inzwischen üblich geworden ist. Nicht die intersubjektive Struk­ tur, sondern die kreativ-schöpferische Dimension sozialen Han­ delns bildet den Gesichtspunkt, unter dem er das verdrängte Ele­ ment der Marxschen Praxisphilosophie einheitlich zu begreifen versucht. Für diese besondere Auslegung der Praxiskategorie, an die er die Konstruktion einer ganzen Gesellschaftstheorie knüpfen wird, bereitet Castoriadis in seiner Marx-Kritik nur erst den Boden vor: am revolutionären Handeln hebt er, wie wir gesehen haben, immer wieder den Aspekt der schöpferischen Hervorbringung einer neuen Sozialordnung hervor; den historischen Determinis­ mus widerlegt er mit dem anthropologischen Hinweis auf die besondere Fähigkeit des Menschen, stets neue Antworten auf sich gleichbleibende Situationen geben zu können; und dem BasisÜberbau-Konzept hält er beharrlich das projektiv-kreative Po­ tential entgegen, das den menschlichen Kulturleistungen innezu­ wohnen scheint. Diesen verstreuten Überlegungen läßt sich be­ reits eine Kategorie sozialen Handelns entnehmen, in deren Zen­ trum die Dimension der kreativen Hervorbringung symbolisch vermittelten Sinns steht; zu einer systematischen Explikation des Handlungstyps, den er vor Augen hat, gelangt Castoriadis jedoch erst auf dem Umweg einer Erneuerung des aristotelischen Praxis­

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Von dem aristotelischen Praxisbegriff, dessen sozialphilosophi­ sche Tragweite erst Hannah Arendt wieder dem zeitgenössischen Bewußtsein erschlossen hat,5 macht Castoriadis einen eigenarti­ gen Gebrauch. Zwar knüpft auch er zunächst, wie Hannah Arendt, an der entscheidenden Differenz von Praxis und Poiesis an: im Gegensatz zu allen technischen Tätigkeiten, die sich an einem vorgegebenen Zweck orientieren, stellt das praktische Handeln jene besondere Form einer Tätigkeit dar, die ihren Zweck in sich selber trägt. Während die Poiesis auf die Herstel­ lung eines ihr äußerlichen Produktes gerichtet ist, verwirklicht sich die Praxis in ihrem eigenen Vollzug. Castoriadis verwendet die herkömmlichen Beispiele, um die grundsätzliche Unterschei­ dung zu erläutern: die politische Praxis, das medizinische und das erzieherische Handeln sind es, die für ihn exemplarisch ein Tun repräsentieren, dessen Ziel im Unterschied zu aller zweckrationa­ len Produktion in der praktischen Ausübung der Tätigkeit selbst liegt. Die Eigenschaften jedoch, die Castoriadis an diesen Hand­ lungsweisen nun zusätzlich hervorhebt, sprengen bereits das ari­ stotelische Bezugssystem: so ist die Praxis für ihn über ihren Vollzugscharakter hinaus sowohl durch eine besondere Form des handlungsorientierenden Wissens als auch durch einen immanen­ ten Bezug auf die Autonomie des Individuums gekennzeichnet. Im tätigen Vollzug der Praxis nimmt das Wissen die Gestalt eines Entwurfes an, der nach Maßgabe der praktischen Erfahrungen ständig korrigiert und erweitert werden kann; nicht die Anwen­ dung einer in sich abgeschlossenen Theorie, sondern die kontinu­ ierliche Erweiterung einer Vorgriffshaften Erkenntnis im experi­ mentierenden Vollzug des Handelns gibt das Muster ab, nach dem sich Wissen und Tun hier aufeinander beziehen. Zudem sind im Vollzug der Praxis die Handlungspartner stets in eigentümli­ cher Weise als autonome Wesen präsent; die praktischen Tätig­ keiten sprechen im Anderen nicht nur prinzipiell das autonome Subjekt an, sondern sind selbst ihrer Struktur nach auf die Beför­ derung von Autonomie angelegt: »Man könnte sagen, daß für die Praxis die Autonomie des oder der anderen zugleich Zweck und

5 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. 15°

Mittel ist. Praxis ist, was die Entwicklung der Autonomie be­ zweckt und dazu die Autonomie benützt.« (128) Auch mit diesen erweiterten Bestimmungen aber hat Castoriadis noch nicht den vollen Bedeutungsgehalt des Praxisbegriffes expli­ ziert, den er in seiner Marx-Kritik bereits Vorgriffshaft entwickelt hatte. War dort mit »Praxis« vor allem die kreative Hervorbrin­ gung neuer Bedeutungswelten gemeint, so ist nun mit demselben Begriff zunächst nur der in sich zweckvolle Vollzug eines auf Autonomie angelegten Flandelns bezeichnet. Castoriadis vervoll­ ständigt seine Begriffsexplikation daher erst, wenn er in einem letzten Schritt als die originäre Gestalt einer solchen autonomie­ geleiteten Praxis das revolutionäre Handeln einführt und daran den innovatorischen Aspekt hcrausstreicht: die Tätigkeit revolu­ tionärer Gruppen ist von dem schöpferischen Entwurf einer neuen Sozialordnung geleitet, »die ihrer Organisation nach auf die Autonomie aller ausgerichtet ist« (134). In diesem Hand­ lungsmodell ist, wie sich zeigt, der normativ angereicherte Praxis­ begriff mit einem Konzept der kollektiven Einbildungskraft zu­ sammengebracht; als unverkürzte Form gesellschaftlichen Han­ delns erscheint dann die Praxis, in der soziale Gruppen kraft ihrer Kreativität neue, auf die Erweiterung von Autonomie zielende Sozialwelten entwerfen und revolutionär in die Wirklichkeit um­ zusetzen versuchen. Freilich, erst einmal in ein so anspruchsvolles Handlungsmodell transformiert, kann der Praxisbegriff nun auch nicht mehr einfach als die kategoriale Basis einer ganzen Gesellschaftstheorie einge­ führt werden. Die revolutionäre Tätigkeit, die mit dem reformulierten Praxisbegriff jetzt gemeint ist, stellt viel zu sehr eine gesell­ schaftliche Ausnahmesituation dar, als daß sie als ein konstituti­ ves Element des Soziallebens betrachtet werden könnte. Wie aber soll sich aus dem neugewonnenen Handlungsmodcll dann ein tragfähiges Gcscllschaftskonzept entwickeln lassen? Die theoreti­ sche Entscheidung, mit der Castoriadis auf dieses Grundproblem seines handlungstheoretischcn Ansatzes reagiert, ist für den Aus­ bau seines Gesellschaftskonzepts von entscheidendem Stellen­ wert; sie besteht in der systematischen Verallgemeinerung der revolutionären Praxis zur Bewegungsform der gesellschaftlichen Wirklichkeit als solcher. Castoriadis nimmt der revolutionären Praxis ihren zeitlichen und sozialen Ausnahmecharakter, indem er sie zu einem überpersönlichen Schöpfungsgeschehen ontologi-

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siert; die Argumente jedoch, mit denen er diese ontologische Ret­ tung seines praxisphilosophischen Ansatzes rechtfertigt, stammen aus einer Kritik der zeitgenössischen Sozialwissenschaften.

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Ist die erste Phase der intellektuellen Entwicklung von Castoriadis durch die Auseinandersetzung mit dem Marxismus bestimmt, so deren zweite Phase durch eine nicht minder intensive Beschäf­ tigung mit den zeitgenössischen Sozial Wissenschaften; zudem ge­ winnt mit Beginn der sechziger Jahre auch die Psychoanalyse eine wachsende Bedeutung für sein Werk. In einer immanenten Kritik der herrschenden Sozialwissenschaft erblickt Castoriadis die Chance, den praxisphilosophischen Grundgedanken seiner MarxInterpretation gesellschaftstheoretisch zu fundieren; unter den Theorien, durch die er sich dabei besonders angeregt fühlt, stellen der durch Parsons vertretene Funktionalismus und der durch Levi-Strauss angeregte Strukturalismus die herausragenden An­ sätze dar. Dem Funktionalismus gewinnt Castoriadis in einer knappen, aber überzeugenden Kritik die Einsicht in die symboli­ sche Infrastruktur der Gesellschaft ab (196 ff.): jeder Versuch, die Entstehung und die Existenz gesellschaftlicher Institutionen aus dem funktionalen Beitrag zu erklären, den sie für die Aufrechter­ haltung einer sozialen Ordnung übernehmen, ignoriert die Tatsa­ che, daß das, was diese Ordnung ausmacht, immer nur durch gesellschaftliche Deutungen festgelcgt ist. In Gesellschaften las­ sen sich gar nicht lebensnotwendige Funktionen als solche antref­ fen, die dazu herhaken könnten, den Bestand eines sozialen Sy­ stems objektiv zu definieren; vielmehr ist der Maßstab für gesell­ schaftliches Überleben von denjenigen Interpretationen und Weltbildern abhängig, durch die ein sozialer Lebenszusammen­ hang sich überhaupt erst Sinn und Ordnung verleiht. Von solchen Deutungsweisen sind dementsprechend auch die Institutionen ei­ ner Gesellschaft getragen; nicht als funktionsgerechte Instanzen der Bestandserhaltung, sondern als einzigartige Verkörperungen von historischen Sinnentwürfen müssen sie betrachtet werden, wenn der symbolischen Verfaßtheit der sozialen Ordnung Rech­ nung getragen werden soll. Mit dieser Argumentation vollzieht Castoriadis die sprachtheoreI I

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tische Wende nach, die in die Sozialwissenschaften zunächst von der sprachanalytischen Philosophie und der philosophischen Hermeneutik hincingetragen worden ist: die Gesellschaft wird als ein symbolisch vermittelter Bedeutungszusammenhang begriffen, in dem die Institutionen die besondere Rolle übernehmen, mittels einer »starren Verknüpfung von Signifikanten und Signifikaten« (200) den herrschenden Sinnentwürfen soziale Geltung zu verlei­ hen. Um die Regeln weiter aufhellen zu können, denen diese Verknüpfungen unterstehen, wendet Castoriadis sich dem Struk­ turalismus zu. Mit Recht erblickt er in der strukturalistischen Denkbewegung einen theoretischen Ansatz, der mit seiner eige­ nen Funktionalismuskritik zumindest in dem Grundsatz konver­ giert, den symbolischen Zusammenhang einer Gesellschaft auf seine interne Zeichenordnung hin zu analysieren; zumal die Schriften von Levi-Strauss, auf die Castoriadis sich konzentriert, geben als ein ursprüngliches Motiv des Strukturalismus noch die Absicht zu erkennen, die im Funktionalismus erstarrten Sozial­ wissenschaften durch eine Hervorkehrung der Eigenlogik der ge­ sellschaftlichen Symbolsystcme wieder zum Leben zu erwecken.6 Castoriadis folgt der strukturalistischen Theorie allerdings nur in diesem Ausgangsmotiv; gegenüber der Art und Weise, in der dort nun die interne Analyse der sozialen Zeichenordnung durchge­ führt wird, macht er Einwände geltend, die sich einer Fortent­ wicklung seiner praxisphilosophischen Prämissen verdanken. Im Strukturalismus dient die allgemeine Zeichenlehre Saussures bekanntlich als das methodische Vorbild, dessen sozialwissen­ schaftliche Nachahmung es ermöglichen soll, die gesellschaftli­ chen Symbolsystcme in objektivistischer Einstellung zu analysie. ren. Der Gedankengang, der die Übertragung zu rechtfertigen hat, ist einfach: wenn sich, wovon Saussure ausgeht, die Bedeu­ tung von Zeichensystemen allein aus der jeweils besonderen An­ ordnung der elementaren Zeichencinheiten untereinander ergibt, dann können offenbar auch die sozialen Sinnzusammenhänge, die in kulturellen Symbolsystemen Ausdruck gefunden haben, auf dem Weg einer bloßen Analyse der Konstellation der einzelnen Symbolclemente erschlossen werden; sobald also die kulturellen Symbolsysteme in der Einstellung einer verallgemeinerten Semio6 Vgl. etwa Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt/ M. 1981, Kap. 1; vgl. auch meine eigene Interpretation, in diesem Band, S. 93 ff. 153

logie betrachtet werden, scheinen sie ohne jeden Bezug auf zei­ chenexterne Sachverhalte interpretierbar zu sein. Dies aber ist nun genau die These, gegen die Castoriadis entschieden oppo­ niert; er beharrt darauf, daß alle sozialen Symbolkomplexe zwangsläufig auf einen Vorzeichenhaften Bedeutungskern verwei­ sen müssen, von dem her sie erst ihre besondere Sinngestalt er­ werben. Jede Symbolisierung lebt von dem Bezug auf etwas, das dem Menschen in seiner Erfahrungswelt in irgendeiner Form »gegeben« sein muß: »Die Behauptung, Sinn sei schlicht und einfach das Ergebnis einer Zeichenkombination, ist nicht haltbar. Genausogut könnte man umgekehrt sagen, die Zei­ chenkombination ergebe sich aus dem Sinn, denn letzten Endes besteht die Welt nicht nur aus Leuten, die die Rede der ande­ ren interpretieren; damit jene existieren, müssen diese zuvor gesprochen haben, und sprechen heißt ja bereits: Zeichen wäh­ len, zögern, sich wiederholen, die gewählten Zeichen berichti­ gen - dem Sinn gemäß... Wir behaupten also, daß es Bedeu­ tungen gibt, die von ihren Trägern - den Signifikanten - relativ unabhängig sind und die bei der Wahl und Anordnung dieser Signifikanten eine Rolle spielen.« (237/241) Dieser Einwand ge­ gen den Strukturalismus stellt die Brücke zu Castoriadis’ eige­ nem Versuch dar, die Logik der gesellschaftlichen Symbolbil­ dung zu analysieren. Wenn sich die soziale Bedeutung einer Symbolordnung nämlich nicht einfach aus der Kombination ih­ rer Elemente, sondern nur aus der Beziehung auf einen Sach­ verhalt ergibt, den sie zur Darstellung bringen will, dann ist es für die sozialwissenschaftliche Analyse unerläßlich, den Vor­ gang jener symbolischen Beziehung näher zu bestimmen. Ca­ storiadis unterscheidet zu diesem Zweck drei Phänomenberei­ che, die als Bedeutungsreferenzen in der gesellschaftlichen Symbolbildung auftreten können: die Sphären des Wahrnehm­ baren, des Denkbaren und des Vorstellbaren. Während er aber die ersten beiden Sphären in den Konstitutionsprozeß symboli­ scher Bedeutungszusammenhänge nur hineinspielen sieht, inso­ fern sie als empirische oder rationale Verweisungsfelder dienen können, bildet die Sphäre des Vorstellbaren für ihn dessen zen­ trales Element. Denn Castoriadis ist davon überzeugt, daß jede gesellschaftliche Symbolbildung unvermeidlich auf einen Sach­ verhalt Bezug nehmen muß, der sich weder der empirischen Anschauung noch der rationalen Konstruktion, sondern einer

kreativen Schöpfung verdankt. In einer nicht bloß wahrgenom­ menen oder rational konstruierten, sondern in einer imaginicrten Bezugswclt, in einem Imaginären also, haben die symboli­ schen Ordnungen aller Gesellschaften ihr eigentliches Bedeu­ tungszentrum; von diesem Imaginären her baut sich ein sozia­ ler Lebenszusammenhang sinnvoll auf, aus ihm schöpft eine Gesellschaft die Interpretationen und Deutungen, die ihr einen einheitlichen Sinn verleihen. Castoriadis erläutert, was er mit dieser schwerwiegenden These meint, zunächst an instruktiven Beispielen. So zeigt er, daß die Entstehung religiöser Symbolsysteme an die semantische Her­ vorbringung einer Sinndimension gebunden war, für die es we­ der in der Welt des Wahrnehmbaren noch in der des Denkba­ ren überhaupt Anhaltspunkte hat geben können; wie auch im­ mer nämlich »Gott« in den monotheistischen Religionen empi­ risch vorgestellt oder begrifflich konstruiert war, stets hatte die neue Bezeichnung einen bis dahin vollkommen unbekannten Bedeutungshorizont eröffnet, der fortan zur organisierenden Mitte des gesellschaftlichen Symbolzusammenhangs werden konnte (241). Ebenso erhellend, aber weniger selbstverständlich ist ein zweites Beispiel, das Castoriadis zur Erwähnung bringt: seiner Auffassung nach setzte auch der kapitalistische Verding­ lichungsprozeß, auf den der Marxismus den Blick gelenkt hat, einen Akt der gesellschaftlichen Sinnschöpfung voraus, durch den das, was vorher als menschliches Individuum galt, die ima­ ginäre Bedeutung eines Dinges erhielt; denn erst in dem histo­ rischen Augenblick, in dem dieser neue Sinnbezug hervorgebracht und zum Mittelpunkt einer ganzen Symbolordnung ge­ worden war, konnten die Subjekte so weit als dingliche Größen vorgestellt werden, daß sie zu bloßen Arbeitskräften gemacht werden konnten (241 ff.). Auf dem Weg einer Sammlung sol­ cher Beispiele gelangt Castoriadis zu der generalisierenden Schlußfolgerung, die den Inhalt seiner These ausmacht: jede Gesellschaft stellt einen symbolisch vermittelten Sinnzusam­ menhang dar, der stets von dem Bezug auf einen imaginären Bedeutungshorizont lebt. Dieses Imaginäre wirkt wie ein kate­ goriales Organisationsschema, das den Rahmen möglicher Vor­ stellungen absteckt; es bestimmt, wie eine Gesellschaft »ihre ei­ gene Existenz, ihre Welt und ihre Beziehungen zu diesen er­ lebt, sieht und gestaltet«. Hervorgebracht werden diese imagi-

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nären Sinnhorizonte, die wie »unsichtbarer Zement« die sozia­ len Deurungsmuster einer Epoche Zusammenhalten, in immer neuen Akten der Sinnschöpfung; das Vermögen, das darin zur Entfaltung kommt, ist das »einer Einbildungskraft, die fähig ist, etwas als Bild auftauchen zu lassen, das weder ist noch war« (218).

In diesem Begriff der »Einbildungskraft«, den er bis auf Aristote­ les zurückverfolgt,7 klingt das zentrale Motiv wieder an, das schon dem praxisphilosophischen Ansatz von Castoriadis zu­ grunde gelegen hatte. War es dort das kreative Wcltverständnis revolutionärer Gruppen gewesen, das die geschichtliche Entwick­ lung bestimmt hatte, so übernehmen nun dieselbe Rolle jene Akte einer Sinnschöpfung, die immer neue Gestalten eines Imaginären aus sich heraus entstehen lassen. In beiden Fällen sind cs die Kräfte der Einbildung, der schöpferischen Hervorbringung neuer Sinnhorizonte, die den produktiven Kern der gesellschaftlichen Entwicklung ausmachen; aber jetzt, nach der Auseinanderset­ zung mit dem Strukturalismus, treten als die Träger solcher sinn­ stiftenden Akte nicht mehr soziale Gruppen, sondern anonyme Prozesse auf. Dadurch aber büßen die schöpferischen Leistungen jeden Charakter einer sozialen Handlungspraxis ein und gewin­ nen mehr und mehr die Züge eines übcrindividuellen Gesche­ hens.8 Das ist der Ansatzpunkt der Ontologie, die Castoriadis auf

7 C. Castoriadis, »La decouverte de l’imagination«, in: libre, 1978, H.j, S. 151 f. 8 Es ist diese Tendenz einer Verflüchtigung der schöpferischen, institu­ tionsbildenden Handlungspraxis sozialer Gruppen zu einem anonymen Seinsgeschchen, auf die ich im Titel dieses Aufsatzes mit der Formel von der »ontologischen Rettung« der Revolution hatte hinweisen wollen. Weder sollte mit diesem Titel eine voreilige Diskreditierung ontologi­ scher Ansätze überhaupt zum Ausdruck gebracht werden, wie Hans Joas mir in seinem Aufsatz unterstellt (Hans Joas, »Institutionalisierung als kreativer Prozeß. Zur politischen Philosophie von Cornelius Casto­ riadis«, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), H.4), noch wollte ich damit den der politischen Theorie von Castoriadis innewohnenden kategorialen Zusammenhang zwischen dem Konzept der Revolution Und der Idee der Autonomie in Frage stellen (siehe Johann P. Arnason, Praxis und Interpretation. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/M. 1988, S. 338, Anm. 127). Mein Titel soll im Gegenteil auf eine Schwie­ rigkeit hinweisen, die der Entwicklung der Theorie von Castoriadis immanent ist: die Tatsache nämlich, daß ein ursprünglich soziologischer

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der Basis seiner Kritik der zeitgenössischen Sozialwissenschaften entwirft. IV

Castoriadis entwickelt die Ontologie, in deren Zentrum das an­ onyme Geschehen der Sinnschöpfung stehen wird, in Form einer Kritik der »Identitätslogik«. Unter diesem Begriff faßt er zu­ nächst die konzeptuelle Prämisse zusammen, in der seiner Über­ zeugung nach Marxismus, Funktionalismus und Strukturalismus übereingestimmt hatten. Da jene drei Gesellschaftstheorien von der gemeinsamen Absicht ausgegangen waren, aus dem sozialen Lebensprozeß elementare Invarianten herausheben zu wollen, läßt sich das ontologische Vorurteil einer wissenschaftlichen Fixierbarkeit des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins als ihr theo­ retischer Konvergenzpunkt ausmachen. Als »Identitätslogik« be­ zeichnet Castoriadis daher dasjenige gesellschaftstheoretische Verfahren, das das soziale Geschehen auf invariante Bestimmun­ gen festzulegcn und damit prinzipiell auch dem historischen Wandel zu entreißen versucht. Allerdings erblickt er nun in die­ sem sozialwissenschaftlichen Denkprinzip nur einen einzigen Anwendungsfall für eine ontologische Tradition, die von un­ gleich größerem und weitaus älterem Einfluß ist. Die identitätslo­ gische Absicht, die soziale und natürliche Wirklichkeit kategorial zu fixieren, bildet das ontologische Fundament, in dem das

Entwurf, mit dessen Hilfe das Potential der schöpferischen Praxis sozia­ ler Gruppen im Widerspruch zu funktionalistischen, utilitaristischen und normativistischen Ansätzen hätte neu bewertet werden können — die Tatsache, daß ein derartiges handlungstheoretisches Konzept in eine Ontologie zurückverwandelt wird, in der die nur empirisch zu lösenden Fragen nach den besonderen Bedingungen und der Entwicklungsdyna­ mik der revolutionären Praxis überhaupt nicht mehr zu beantworten sind; anstatt sein ursprüngliches Handlungsmodell soziologisch weiter­ zuentwickeln, was eine Konfrontation z. B. mit Dürkheim oder Sorel erfordert hätte (zu Dürkheim vgl. etwa: Plans Joas, »Das Problem der Entstehung einer neuen Moral und neuer Institutionen bei Dürkheim«, unvcröffentl. Mskr. 1988), macht Castoriadis es im Gegenteil zum Kcrnelement einer neuen Ontologie und nimmt sich dadurch, soweit ich sehe, jede Möglichkeit, eine den Ansprüchen unserer Zeit genü­ gende Theorie des sozialen Konfliktes zu erarbeiten.

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I abendländische Denken überhaupt verankert ist: »Seit fünfund­ zwanzig Jahrhunderten beruht, arbeitet, entfaltet und verfeinert sich das griechisch-abendländische Denken auf der Grundlage dieser These: »sein« heißt »etwas Bestimmtes sein« (...); »sagen« heißt »etwas Bestimmtes sagen«; und, natürlich, »wahr sagen« heißt, das Sagen und das Gesagte den Bestimmungen des Seins gemäß oder das Sein den Bestimmungen des Sagens gemäß zu bestimmen und am Ende festzustellen, daß die einen und die anderen Bestimmungen zusammenfallen.« (372) Auf das eine Prinzip der Identitätslogik hin zurechtgelegt, lassen sich die Grundzüge der neuzeitlichen Ontologie ohne große Mühe erläutern. Castoriadis verwendet die mathematische Men­ genlehre, um die Regeln zu entwickeln, die in ihrer Gesamtheit jener Ontologie als ein formales Bezugssystem dienen; diejenigen Operationen, die nötig sind, um eine Menge von wohlunterschie­ denen Objekten bilden zu können, stellen für ihn zugleich auch die kognitiven Schemata dar, mit deren Hilfe die Wirklichkeit identitätslogisch als ein Gefüge fixierbarer Entitäten konstruiert wird. Hat die traditionelle Ontologie somit in den Operationen der Mengenbildung ihr logisches Fundament, so wurzelt sie prak­ tisch allerdings in den Belangen der sozialen Lebenswirklichkeit. Castoriadis leitet nämlich jene basalen Schemata, die das identifi­ zierende Denken voraussetzt, aus den praktischen Aufgaben ab, mit denen die vergesellschafteten Menschen in der Reproduktion ihres Lebens konfrontiert sind; geradezu pragmatistisch behaup­ tet er, daß die Vollzüge des »Sagens« und des »Tuns«, auf die jedes soziale Leben fundamental angewiesen ist, stets die Anwen­ dung der Operationsregeln erforderlich macht, die in der identitätslogischen Vernunft angelegt sind. »Legein« und »Teukein« nennt Castoriadis, die Begriffe der antiken Philosophie verwen­ dend, diese elementaren Vollzugsleistungen des Menschen, ohne die eine Reproduktion der Gesellschaft unmöglich wäre (372 ff.). Beide Tätigkeiten, die diskursive Rede und das technische Tun, erzwingen in ihrem Vollzug, so lautet sein Argument, eine identi­ fizierende Bestimmung von Sachverhalten und damit also eine kategoriale Fixierung des Seins; um sprechen und arbeiten zu können, bedarf es der Festlegung der Wirklichkeit auf wohlbe­ stimmte Entitäten. Daher ist die Ontologie der Neuzeit, die in der Identitätslogik zentriert ist, als eine unreflektierte Verallge­ meinerung jener identifizierenden Denkleistungcn zu verstehen, 158

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die im alltäglichen Handeln zwangsläufig erbracht werden müs­ sen. Gerade weil dem aber nun so sein soll, weil Castoriadis die Iden­ titätslogik für »eine wesentliche und unzerstörbare Dimension der Sprache« (373) hält, ist das Problem, das er sich stellt, nur um so schwieriger zu lösen. Seine Rekonstruktion der neuzeitlichen Identitätslogik hatte, so haben wir gesehen, die Aufgabe, jene ontologischen Prämissen freizulegen, durch welche die Gesell­ schaftstheorien von Marx bis Levi-Strauss daran gehindert wor­ den waren, den schöpferischen Prozeß der Hervorbringung ima­ ginärer Sinnhorizonte in den Blick zu nehmen; freilich sollen cs, wie Castoriadis in Einzelstudien herauszuarbeiten versucht hat,9 nicht nur die Sozialwissenschaften, sondern auch die Naturwis­ senschaften sein, in denen sich die ontologischen Voraussetzun­ gen der Identitätslogik als theoretische Hindernisse erwiesen ha­ ben - in beiden Wissenschaftszweigen setzt die traditionelle On­ tologie der Theorieentwicklung unüberwindbare Barrieren entge­ gen. Für die Sozialwissenschaften kann das nur heißen: solange die identitätslogischen Prämissen, die bis hin zu Levi-Strauss ihre Wirkung entfalten, nicht vollends abgeschüttclt sind, läßt sich der theoretische Grundgedanke, der im Begriff des »Imaginären« an­ gelegt ist, nicht angemessen entfalten. Eine produktive Fortent­ wicklung der Gesellschaftstheorie setzt mithin eine radikale Um­ gestaltung unseres Seinsverständnisses voraus. Wie aber läßt sich nun die Wirklichkeit anders als unter den Bestimmungen der traditionellen Ontologie denken, wenn wir von ihnen doch in der diskursiven Rede immer schon Gebrauch machen? Wie ist die Identitätslogik zu überwinden, wenn sie zugleich die Vorausset­ zung allen sinnvollen Sprechens sein soll? Castoriadis ist sich darüber im klaren, daß er diese Fragen beant­ wortet haben muß, bevor er die Ausarbeitung einer neuen Onto­ logie tatsächlich in Angriff nehmen kann. Da er selbst das identi­ fizierende Denken zuvor als eine unhintergehbare Dimension der intersubjektiven Rede herausgestellt hatte, weiß er nur zu genau, daß wir »jenseits der Grenzen der Identitätslogik... weder den­ ken noch sprechen« können; »nur unter Verwendung dieser Lo-

9 Vgl. C. Castoriadis, »Moderne Wissenschaft und philosophische Frage­ stellungen«, in: ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1981, S. 127 ff. U9

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gik«, so heißt es kategorisch, »läßt sich diese Logik in Frage stellen« (383). Castoriadis denkt sich daher den ersten Schritt seines eigenen Entwurfs nach Art einer immanent ansetzenden Dekonstruktion; nicht mit einem direkten Aufweis einer anderen Gegebenheitsweise des Seins, sondern mit einer tastenden Erkun­ dung dessen, was unter den Prämissen der identitätslogischen Ontologie nicht zur Darstellung gelangen kann, soll die Revision unseres traditionellen Scinsverständnisses anheben. Den Leitfa­ den für diese immanente Kritik gibt die Idee der »Andersheit«, der »Differenz« ab: solange die Wirklichkeit als ein aus invarian­ ten Elementen zusammengesetztes Gefüge vorgestellt wird, las­ sen sich Entwicklungsprozesse nur als sukzessive Umbildungen jener invarianten Elemente, nicht aber als Hervorbringungen tat­ sächlich neuer Entitäten denken. Castoriadis veranschaulicht das an unserer Erfahrung von Zeit: zeitliche Vorgänge, ja die Zeit überhaupt werden herkömmlicherweise nach einem räumlichen Schema als linear gestreckte Abfolgen einzelner Zeitpunkte be­ griffen; die Identitätslogik erzwingt eine Verräumlichung unserer Zeitvorstellungen, durch die gerade das Wesentliche an der Zeit, das immer zwar unerwartbare, aber doch kontinuierliche Her­ vorbrechen neuer Gegebenheiten und Gestalten, ausgeblendet wird. Diese eigentliche Dimension der Zeit erschlösse sich hinge­ gen erst, wenn die Wirklichkeit nicht länger als ein Gefüge bereits bestimmter Entitäten, sondern als ein offener, in sich bewegter und zur Neuschöpfung fähiger Prozeß aufgefaßt würde: »Eine solche Zeit gibt es nur, wenn das, was auftaucht, nicht schon (...) im Seienden bereits vorhanden war. Eine solche Zeit gibt es nur, wenn das Neue nicht bloß Aktualisierung eines vorherbestimm­ ten Potentiellen ist.« (323) Die Mängel des verräumlichten Zeit­ modells verraten mithin, an welche Vorstellungsgrenzen eine On­ tologie geraten muß, die identitätslogisch verfaßt ist; in ihrem Rahmen ist es unmöglich, die kreative Hervorbringung neuer Ordnungen überhaupt nur zu denken. Lassen sich bereits in dieser Kritik unserer verräumlichten Zeit­ vorstellungen überraschende Übereinstimmungen mit der Le­ bensphilosophie Bergsons entdecken, so erst recht dann, wenn Castoriadis von dem dekonstruktiven zu dem konstruktiven Teil seines Entwurfs einer Ontologie übergeht. Wie Bergson in seinen letzten Werken, so unternimmt auch Castoriadis schließlich den Versuch, den Rahmen einer bloß negativen Ontologie zu träni6o

szendieren, um der schöpferischen Wirklichkeit als solcher an­ sichtig zu werden; am Ende soll sich der Schleier, mit dem die neuzeitliche Ontologie die Wirklichkeit umhüllt hat, doch noch lüften lassen, so daß das Sein des Seienden unvermittelt hervor­ tritt. Behilft Bergson sich an dieser Stelle allerdings mit der Ein­ führung des besonderen Erkenntnismittels einer Intuition, die uns direkt in den Lebensstrom des elan vital hineinversetzen kön­ nen soll, so ist Castoriadis methodisch besonnener und theore­ tisch umsichtiger; für ihn ist es nicht ein einziger, spontaner Er­ kenntnisakt, der uns die Grenzen der Identitätslogik überschrei­ ten läßt, sondern der Beweisgang einer deskriptiven Analyse, die sich schrittweise einer bildlichen Sprache überantwortet, ohne auf die disziplinierende Begleitung der wissenschaftlichen Erfahrung ganz zu verzichten. Die Metaphern jedoch, über die dieser Be­ weisgang sich fortbewegt, sind wiederum dieselben, die schon Bergson zu seiner Zeit benutzte, um die von allen zweckdienli­ chen Umhüllungen befreite Wirklichkeit zu beschreiben: lebens­ philosophisch erscheint auch jetzt das Sein als ein ewiger »Fluß des Werdens« (388), als ein »unaufhörliches Fließen« (546) oder als ein kontinuierlicher Strom kreativer Schöpfungen. Das eigent­ liche Ziel seiner Argumentation aber erreicht Castoriadis erst mit dem metaphorischen Begriff des »Magma«; ähnlich der Bergsonschen Kategorie des elan vital ist damit jene schöpferische, ständig pulsierende Energiemasse gemeint, die allem Gegebenen - »Vor­ stellung, Natur, Bedeutung« - zugrunde liegt.

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So abenteuerlich diese ontologischen Spekulationen auch anmu­ ten - viele der Argumente, die Castoriadis zu ihrer Begründung zunächst heranzieht, sind instruktiv und überzeugend. Es handelt sich vor allem um zwei wissenschaftliche Problembereiche, auf die er seinen Beweisgang stützt; beide, nämlich die individuelle Psyche wie auch die menschliche Sprache, gelten ihm als Seinsregionen, an denen sich die Existenz jenes kontinuierlichen Bedcutungsstromes ohne Schwierigkeiten theoretisch soll nachweisen lassen können. Das psychische Innenleben betrachtet Castoriadis aus der Per­ spektive einer an Lacan geschulten Psychoanalyse; im Horizont dieser Dcnkschule hatte er einst seine Ausbildung als Analytiker i6i

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erhalten, von ihr zehrt bis heute, auch wenn er sich inzwischen vehement von den modischen Allüren der Lacanianer distan­ ziert,10 seine eigene Deutung der Psychoanalyse. Castoriadis geht von einem ursprünglichen Unbewußten des Subjekts aus, das in dem innerpsychischen Erlebnis einer vollkommen undifferen­ zierten Einheit mit der Welt besteht; dieser monadischc Zustand, in dem die libidinösen Strebungen allein vom Lustprinzip diri­ giert sind, wird jedoch gewaltsam unterbrochen, sobald das Kind zur Wahrnehmung von ichunabhängigen Objekten befähigt ist; auf »den Verlust der Einheit seiner Welt«, mit dem der gesell­ schaftliche Prozeß der Sozialisation einsetzt, reagiert das Subjekt, indem es von nun an den monadischen Urzustand unablässig in Phantasien wiederherzustellen versucht, ohne jedoch dies eigent­ liche Triebziel je erreichen zu können. All die Bedürfnisse, die es in seinem weiteren Leben entwickeln wird, lassen sich daher in gewisser Weise als Ersatzbildungen für jenen ersten »Wunsch nach vollkommener Vereinigung« (494) verstehen; er bildet die triebdynamische Kraftquelle, die den Menschen zur unablässigen Phantasiebildung antreibt. Genau darin aber erblickt Castoriadis nun den innenpsychischen Vorgang einer permanenten Hervor­ bringung imaginärer Bedeutungen; jene immer neuen Triebphan­ tasien, in denen sich der ewig unerfüllte Urwunsch unbewußt Ausdruck verschafft, deutet er als einen »Vorstellungs- und Af­ fektstrom«, der den Menschen stets über seine jeweils aktuellen Bedeutungshorizonte hinaustreibt. Das menschliche Subjekt ist dann, wie Castoriadis zugespitzt formuliert, nichts anderes als ein solches »unaufhörliches Fließen« von Vorstellungen (546); seine Fähigkeit zum technischen Handeln, zum »Teukein«, erwirbt cs, indem es zweckdienliche Vorstellungen aus dem Bedeutungs­ strom herauslöst und künstlich in sich auf Dauer stellt. Ähnlich argumentiert Castoriadis auch im Falle der menschlichen Sprache. Hier verläßt er sich zunächst auf die Ergebnisse seiner Strukturalismus-Kritik, um in einem ersten Schritt zeigen zu können, daß sprachliche Bedeutungen prinzipiell durch Bezie­ hungen auf irgendwie gegebene Sachverhalte, auf Referenten also, bestimmt sein müssen. Diese »Bezeichnungsrelationen« aber sind, so behauptet Castoriadis zweitens, ihrem Wesen nach in

10 C. Castoriadis, »Die Psychoanalyse als Projekt und Aufklärung«, in: ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, a.a.O., S. 59 ff.

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beiden Richtungen offen: ebenso wie jedes sprachliche Zeichen sich stets schon in einem unbestimmbaren Verweisungszusam­ menhang mit allen anderen Zeichen befindet, so existiert auch jeder bezeichnete Sachverhalt stets nur als nicht streng abzugren­ zendes Element eines ganzen Gegebenheitsfeldes. In der sprachli­ chen Bezeichnung nehmen wir daher auf in sich Unbestimmtes mit Hilfe von prinzipiell verweisungsoffenen Zeichen Bezug, ohne je unsere Bezeichnungspraxis in einer Regel fixieren zu kön­ nen, da dies ja wiederum die Anwendung gerade jener unbe­ stimmbaren Bezeichnungsrclation voraussetzen würde (566 ff.). Daraus folgert Castoriadis schließlich, daß der menschlichen Sprache ein wesenhaft offener Charakter und damit ein unab­ schließbares Kreativitätspotential zukommt. Auch die sprachli­ chen Bedeutungen befinden sich, wie zuvor schon das psychische Innenleben, in einem Zustand des kontinuierlichen Fließens und Strömens: ständig brechen im Sprachgeschehen neue Bedeu­ tungshorizonte hervor, ohne daß dieser kreative Prozeß je an ein Ende geraten könnte. Wenn wir Castoriadis bis hierher folgen und die naheliegenden Einwände zurückstellen, die sich gegenüber seinem sozialisa­ tionstheoretischen Modell vorbringen lassen," erhebt sich die Frage, wie nun von den beiden dargestellten Phänomenbereichen her auf ein schöpferisches Vermögen der Wirklichkeit insgesamt geschlossen werden kann. Sowohl die Welt der sprachlichen Be­ deutungen als auch das psychische Innenleben stellen Wirklich­ keitsregionen dar, deren kreatives Potential wenn auch nicht auf den intentionalen Leistungen, so doch auf dem praktischen Mit­ vollzug menschlicher Subjekte beruht. Zwar kann der Mensch nicht einfach zielstrebig über ein sprachliches Bedeutungssystem oder sein eigenes Triebgeschehen verfügen, sondern findet sich in diesen, seine Intentionalität übersteigenden Mächten immer schon vor; umgekehrt aber sind jene kreativen Sinnschöpfungen, die sich in Form von Sprachinnovationen oder Phantasiebildun­ gen vollziehen, ohne seine kognitiven oder psychischen Energien gänzlich unvorstellbar. Der Mensch ist nicht bewußter Urheber, aber doch Träger solcher schöpferischen Hervorbringungen. Da­ her jedoch geben die Argumente, die Castoriadis bisher vorge11 Vgl. Jürgen Habermas. Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 380 ff. i6j

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bracht hat, nur die theoretische Grundlage für eine »Ontologie« der menschlich-sozialen Welt, nicht aber des Seinsgeschehens überhaupt ab; mit ihrer Hilfe lassen sich die psychischen und kulturellen Bedingungen rekonstruieren, die innerhalb von Ge­ sellschaften für eine ständige Offenheit, ja ein Fließen der symbo­ lischen Sinnzusammenhänge sorgen. Dann könnten der unbe­ grenzbare Kreativitätsreichtum der menschlichen Sprache und die unkontrollierbare Phantasietätigkeit des menschlichen Trieble­ bens, dann könnten die alltäglichen Sprachinnovationen und Phantasicbildungen als die unauffälligen Vorformen einer sozia­ len Einbildungskraft betrachtet werden, die sich außeralltäglich in Akten der kollektiven Sinnstiftung entlädt; in solchen historisch seltenen Augenblicken der innovativen Erzeugung neuer Bedeu­ tungshorizonte, der Gründung neuer Institutionengebilde, voll­ zöge sich das als eine bewußt gewordene Form kollektiver Praxis, was sich ansonsten implizit in allem sozialen Leben vollzieht. Castoriadis aber ist jetzt an Schlußfolgerungen dieser Art, die sich als ein Ausweg aus den Schwierigkeiten seiner ursprünglichen Praxisphilosophie anbieten würden, nicht mehr interessiert; da all sein Bemühen nunmehr einer umfassenden Ontologie gilt, sieht er auch die beiden dargestellten Argumentationsschritte allein noch als Vorstufen zu einer Lehre des schöpferischen Seins als solchem an. Die Kreativität der menschlichen Sprache und des libidinösen Trieblebcns stellt für ihn daher nur den innerweltlichcn Statthalter eines Schöpfungsgeschehcns dar, das der Wirk­ lichkeit überhaupt zukommt. Den Übergang von der menschlich­ sozialen Welt zum Sein der Dinge aber vollzieht er mit Hilfe eines Kunstgriffs: im Begriff des »Magma« nimmt er, wie Bcrgson in dem des »elan vital«, eine Substantialisierung von schöpferischen Leistungen vor, die wir mit guten Gründen zunächst einmal nur der menschlichen Welt zuerkennen können. Weil Castoriadis als die Quelle aller kreativen Hervorbringungen des Menschen eine substantielle Kraft ansieht, eben die des »Magma«, kann er schließlich ebenso wie von einem »Magma« des sprachlichen Be­ deutungsflusses auch von einem »Magma des Seienden« (571) sprechen. So mündet seine Gesellschaftstheorie, auf der Flucht vor ihrer eigenen Radikalität, am Ende in eine Kosmologie, über die heute kaum noch mit Argumenten zu diskutieren ist.

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Kampf um Anerkennung Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität

Unter den Philosophen, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat, ist Sartre in einer Hinsicht gewiß der radikalste: Stets blieb seine philosophische Theorie mit großer Selbstverständlichkeit und in direkter Weise auf die durch und durch profanen Exi­ stenzerfahrungen seiner Zeitgenossen bezogen. Mag die Philoso­ phie Sartres auch mit anderen Entwürfen der phänomenologi­ schen Tradition den Vorzug teilen, noch die abstraktesten Kate­ gorien im ständigen Rückvcrweis auf alltägliche Lebensvollzüge begründet zu haben, so hebt sie sich von ihnen doch durch den Charakter der theoretisch in Anspruch genommenen Alltagser­ fahrungen ab; in ihr gelangen, wie sonst wohl nur bei Georg Simmel, die Lcbensvollzüge einer großstädtischen Alltagskultur philosophisch zur Geltung. Sartre hat sich entschieden auf Ereig­ nisse und Episoden als Erfahrungsquelle philosophischen Argu­ mentierens bezogen, die zum profanen Leben einer Großstadt gehören; in seinen Schriften bilden daher öffentliche Parks, Cafes und Untergrundbahnen den räumlichen Hintergrund, erotische Abenteuer, Eifersuchtsszenen und Alltagskonflikte den Hand­ lungsstoff theoretischer Konstruktionen. Diese selbstverständli­ che Modernität mag die bis heute wirksame Anziehungskraft der Schriften Sartres begründet haben, in jedem Fall aber macht sie die Herausforderung aus, die seine Philosophie von Anfang an darstellt. Ihre zentralen Lehrstücke nämlich scheinen immer schon Erfahrungen auf ihrer Seite zu haben, die wir alle zu teilen vermögen oder zumindest zu teilen scheinen. In einem besonderen Maße trifft das auf die Intersubjektivitäts­ theorie zu, die Sartre im Mittelteil seines existentialphilosophischen Hauptwerks Das Sein und das Nichts entwickelt hat. Ihr zentrales Thema stellt die Bedingung der Möglichkeit einer inter­ subjektiven Begegnung zwischen Subjekten dar, ihre entschei­ dende These ist die einer unvermeidlichen Negativität zwischen­ menschlicher Beziehungen. Mit dieser ncgativistischcn Lehre hat Sartre nicht nur einem damals wie heute vorherrschenden Le­ bensgefühl philosophisch Ausdruck verliehen; vielmehr hat er i6j

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mit seinen Studien über die Fremdexistenz zugleich auch den theoretischen Boden für einen intcrsubjcktivitätsthcoretischen Negativismus bereitet, der noch bis in die Psychoanalyse von Jacques Lacan oder die Diskurstheorie von Jean-Francois Lyotard hinein wirksam ist: Seine Analyse der zwischenmenschlichen Begegnung kann als das untergründig fortwirkende Bezugsmo­ dell für alle poststrukturalistischen Versuche gelten, die intersub­ jektive Kommunikation als einen Vorgang der PseudokommuniPscudokommunikation zwischen narzißtisch oder egoistisch auf sich bezogenen Subjekten zu entlarven. In der intersubjektivitätsthcoretischen Lehre des frühen Sartre findet somit die zeitgenössische Skepsis gegenüber den Möglichkeiten gelingender Intersubjektivität nicht nur einen philosophischen Vorläufer, sondern noch immer auch ihren exemplarischen Ausdruck. Dieser Negativismus stellt heute eine Herausforderung an eine kritische, an der Idee kommunika­ tiver Freiheit orientierte Sozialphilosophie um so eher und stär­ ker dar, als ihm nicht nur die faktischen Kommunikationsvcrhältnisse selbst, sondern auch die Selbstbeschreibung der Subjekte zunehmend entgegenzukommen scheinen; die skeptische, ja negativistische Annahme, daß intersubjektive Beziehungen gewis­ sermaßen von Haus aus zum Scheitern verurteilt sind, dringt nämlich allmählich als eine lebensweltliche Hintergrundüberzeu­ gung in immer mehr soziale Gruppen unserer Gesellschaft ein. Ich will mich kritisch mit der Intersubjektivitätstheorie Sartrcs auseinandersetzen, indem ich (i) ihre philosophische Begründung knapp nachzuzeichnen versuche, (2) diese Argumentation imma­ nent zu kritisieren versuche und schließlich (3) einen Ausblick auf die Fortentwicklung der Intersubjektivitätstheorie bei Sartre eröffne.

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Sartre hat in seinem frühen Werk den Versuch unternommen, eine Ontologie der sozialen Welt aus der Innenperspektive des Bewußtseins eines intendierenden Subjekts heraus zu gewinnen. Ein nicht geringes Motiv des ganzen Unternehmens stellte die selbstbewußte Absicht dar, die Daseinsontologic Heideggers mit der Transzendentalphilosophie Husserls nachträglich in einem einzigen Ansatz zu versöhnen. Wenn auch allein mit dieser

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Grundidee eine Reihe von unüberwindbaren Schwierigkeiten verknüpft waren, die inzwischen offen zutage liegen, so ist die Summe an Einsichten selbst heute noch verblüffend, zu der Sartre im Gang ihrer Ausarbeitung gelangt. Als die beiden fundamenta­ len Bestimmungen einer phänomenologischen Ontologie gelten ihm das Für-sich-Sein des intendierenden Subjekts und das Ansich-Scin einer mit sich identischen Wirklichkeit. Mit jener ersten Seinsweisc ist die Intentionalität eines Bewußtseinssubjekts ge­ meint, das in seinen existentiellen Entwürfen stets schon über sich hinaus ist und also nie mit sich übereinstimmt. Die zweite Be­ stimmung hingegen bezeichnet die Seinsverfassung einer Wirk­ lichkeit, die im Unterschied zur in sich offenen Faktizität des Subjekts nur als abgeschlossene Tatsächlichkeit existiert. Sartre vollzieht den Aufbau der sozialen Welt nun am Leitfaden jener negativen Leistungen nach, durch die das Subjekt seine ge­ wählten Möglichkeiten unablässig überschreitet, um jenen uner­ reichbaren Zustand in sich ruhender und abgeschlossener Identi­ tät erlangen zu können, der die Seinsweise der Dinge auszeichnet. Es ist nicht schwer zu sehen, daß Sartre in dieser subjektivitäts­ theoretischen Prämisse aktuelle Tendenzen innerhalb der Psy­ choanalyse vorwegnimmt: In derselben Weise, in der heute Lacan und Castoriadis in ihren psychoanalytischen Konstruktionen von einem steten, aber prinzipiell unerfüllbaren Begehren des Sub­ jekts nach einem Zustand monadischer Einheit ausgehen,1 nimmt bereits der Autor von Das Sein und das Nichts an, daß das Subjekt seinen ursprünglichen Mangel an Objektivität, an Einheit mit sich selbst, durch immer neue Existenzentwürfe zu kompensieren ver­ sucht. Der Übergang zur intersubjektiven Sphäre ergibt sich für Sartre dabei aus dem Versuch einer Beantwortung der Frage, wie jenes in einem Zustand präreflexiver Bewußtheit sich bewegende Subjekt überhaupt ein Bewußtsein seiner selbst erlangen kann.2 Die Antwort, die Sartre gibt, erinnert im ersten Schritt an eine von Fichte vorweggenommene und von Hegel fortentwickelte Denkfigur: Jenes Subjekt kann ein Bewußtsein von sich selbst, also Selbstbcwußtsein, überhaupt nur erlangen, wenn es sich in

1 Vgl. dazu Axel Honneth, Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gcsellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis, in diesem Band, S. 123 ff. 2 Siehe Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1962, Dritter Teil, Erstes Kap. 167

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einem anderen Bewußtseinssubjekt als ein ebensolches Subjekt zu erkennen vermag.5 Freilich nimmt Sartre die umgekehrte Bewe­ gungsrichtung einer solchen intersubjektiven Begegnung zum Ausgangspunkt seiner Analyse. Für ihn stellt nicht die Situation der Wahrnehmung des Anderen, sondern die eines Erblicktwer­ dens durch den Anderen die Voraussetzung dar, unter der ein Subjekt so auf sich selbst verwiesen ist, daß es zu einem Bewußt­ sein seiner selbst gelangen kann. In dem Augenblick, in dem in meinem Wahrnehmungsfeld ein anderes Subjekt erscheint, dessen Blick auf mich gerichtet ist, bin ich fähig, mich selbst zu erfassen oder zu beschreiben, weil ich realisiere, daß ich für den anderen ein Objekt der Beschreibung bin.4 Daher wird, so läßt sich schlie­ ßen, die Fähigkeit des Sich-selbst-Bewußtseins auf intersubjekti­ vem Wege erworben. Nun mag schon in der passivischen Konstruktion dieser Situation ein Hinweis auf das Ziel stecken, das Sartre sich mit seiner Ana­ lyse der menschlichen Intersubjektivität gesetzt hat. Ihm ist es nicht, wie jener Generation deutscher Romantiker, der auch der junge Fichte noch angchörte, um das Ideal einer gelingenden Kommunikation, sondern um den Nachweis ihres unvermeidli­ chen Scheiterns zu tun. Aus dem Grundriß jener Situation, in der ein Subjekt durch den Blick des Anderen überrascht wird, ent­ wickelt Sartre eine Logik des notwendigen Mißlingens der zwi­ schenmenschlichen Interaktion. Dem Gedankengang, mit dem er diese innere Negativität der Kommunikation zu erweisen ver­ sucht, fehlt es, werden die ontologischen Prämissen seiner Argu­ mentation hinzugedacht, durchaus nicht an Konsequenz: Wenn nämlich die Seinsweise des Subjekts durch eine wesenhafte Tran­ szendenz ausgezeichnet ist, dann muß es im Erblicktwerden durch den Anderen sich auf einen einzelnen Ausschnitt seines Möglichkeitshorizonts festgelegt und damit in die abgeschlossene Faktizität eines An-sich zurückgeworfen sehen. Der Blick des Anderen weist mir nur eine einzige der ständig offenen Möglich­ keiten meines Selbstentwurfs zu, macht mich zu einem räumli-

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3 Zu diesem komplexen Argumentationszusammenhang siche Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Freiburg/ München 1979; Andreas Wildt.AwIonomie und Anerkennung, Stuttgart 1982, v. a. Kap. 111. 4 Eine sehr lesenswerte Rekonstruktion des Arguments gibt Arthur C. Danto, Jean-Paul Sartre, Göttingen 1986, Kap. 4.

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chcn Gegenstand in der Welt und schneidet meinen Zeithorizont auf die Gegenwart zu. Daher ist für mich, wie Sartre zugespitzt sagt, das Erblicktwerden durch den Anderen der »Tod meiner Möglichkeiten«.5 Einer solchen Gefahr der Vergcgcnständlichung, die im Gefühl der Scham oder der Furcht sich eröffnet, kann das bedrohte Sub­ jekt seinerseits nur entgehen, indem es umgekehrt das fremde Subjekt auf einen bestimmten Möglichkeitsaspekt hin fcstzulegen versucht. Ich muß, um nicht im Erblicktwerden verdinglicht zu werden, gewissermaßen die Vcrdinglichkeitsrichtung der Intcraktionsbeziehung umkehren, indem ich nun meinerseits das mich erblickende Subjekt auf eine einzige seiner Entwurfsmöglichkei­ ten hin festzulegen beginne. Sartre faßt diese Situation einer rezi­ proken Vergegenständlichung zwischen Subjekten als das An­ fangsstadium einer negativen Dynamik auf, die alle Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation von innen zerstört. Seine Intersubjektivitätsanalyse kommt mit dem Nachweis ans Ziel, daß die soziale Welt aus den Beziehungen sich wechselseitig ver­ dinglichender Subjekte zusammengesetzt ist. Um das Ergebnis seiner Argumentation freilich noch phänomenologisch zu unter­ mauern, beschließt Sartre seine Intersubjektivitätsanalysc be­ kanntlich mit dem Versuch, konkrete Beziehungen zwischen Menschen als Weisen der wechselseitigen Unterwerfung und In­ strumentalisierung zu entlarven: Die Gleichgültigkeit, der Maso­ chismus, die Begierde, aber auch die Liebe und die Sprache erwei­ sen sich ihm, werden sie nur einer hinreichend illusionslosen und unerbittlichen Beobachtung unterzogen, als ebenso viele Formen der strategischen Interaktion unter Subjekten. Es ist wohl vor allem die Suggestivkraft dieser phänomenologisch höchst ein­ dringlichen Dctailanalyscn, die es schwermacht sich dem Gang der Argumentation Sartres überhaupt zu entziehen.

j Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 338-397. 169

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Ist diese knappe Rekonstruktion der Argumentation Sartres rich­ tig, so liegt das Ergebnis, zu dem seine Intersubjcktivitätsthcorie gelangen muß, auf der Hand: Zwischen Subjekten ist eine Bezie­ hung kommunikativen Einverständnisses nicht möglich, da stets eines der Subjekte sich in dem vergegenständlichten Zustand des Für-Andere-Seins befinden muß. Das Grundverhältnis zwischen sich aufeinander beziehenden Subjekten ist, wie Sartre auch sagt, der Konflikt. Ich will nun, um den Gedankengang Sartres in Frage zu stellen, nicht den Weg einer methodischen Kritik wäh­ len, die die Ursachen für den Negativismus der Intersubjektivi­ tätstheorie Sartres in den konzeptuellen Mitteln aufsucht, mit denen er seine phänomenologische Analyse der zwischenmensch­ lichen Begegnung bestreitet; diesem Weg ist Michael Theunissen in seiner eindrucksvollen Interpretation gefolgt, indem er heraus­ gearbeitet hat, daß Sartre deswegen zu einem negativen Resultat in seiner Intersubjcktivitätsanalyse gelangen muß, weil er allen intersubjektivistischen Einsichten zum Trotz sich von den onto­ logischen Prämissen der Transzendcntalphilosophie nicht zu lö­ sen vermag.6 Demgegenüber will ich in meiner Kritik zunächst immanent ansetzen, indem ich zu zeigen versuche, daß Sartre eine reduktionistische Beschreibung jener interaktiven Schlüsselsitua­ tion des Erblicktwerdens liefert; erst als das Ergebnis einer sol­ chen phänomenologischen Reinterpretation wird sich dann her­ ausstellen, daß es die ontologischen Prämissen seiner Sozialphä­ nomenologie sind, die ihm eine kategorial angemessene Deutung der Interaktionssituation verbieten. Insgesamt soll meine Kritik den ersten Schritt in einer Argumentation darstellen, die zeigen möchte, daß der frühe Sartre wie viele andere Autoren das von Hegel bereits einmal erreichte Reflexionsniveau dadurch unter­ bietet, daß er das Modell eines interaktiven »Kampfes um Aner­ kennung« wieder unauffällig in das weniger anspruchsvolle Mo­ dell eines bloßen Kampfes um die individuelle Selbstbehauptung zurückübersetzt. Wenn wir uns an die Ausgangssituation erinnern, mit der Sartre die negative Logik interaktiver Beziehungen beginnen läßt, so

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6 Siche Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologic der Gegenwart, Berlin/New York 1977, vi.Kap. 170

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fällt zunächst auf, daß er den Blick des Anderen nicht weiter zu qualifizieren scheint. Die einzige Eigenschaft, die dem Blick, der auf mich gerichtet ist, offenbar zukommt, ist die, mich auf einen einzigen Handlungscntwurf hin zu fixieren und daher mich als Subjekt zu verdinglichen. Nun sind wir cs aber gewohnt, Blicke anders, reichhaltiger zu beschreiben. Wir sagen von Blicken, die auf uns fallen, daß sie ermutigend oder mißbilligend, fragend oder zustimmend, einladend oder skeptisch sind. Führen wir uns diese Vielfalt von Möglichkeiten vor Augen, mit denen wir Blicke ge­ wöhnlich beschreiben, dann wird sofort klar, daß sic uns nicht einfach zwangsläufig auf eine bestimmte Handlungsabsicht hin fcstlegen müssen; sie können uns im Gegenteil in einerWeise des Sichverhaltens bekräftigen oder in Frage stellen, ja sie vermögen uns selbst unbedachte Möglichkeiten des eigenen Tuns überhaupt erst zu eröffnen. Wir messen Blicken, so scheint es, evaluative Bedeutungen zu, die uns häufig genug dazu bewegen, positiv oder negativ auf die in dem Blick vermutete Zuschreibung zu reagieren. Selbst wenn wir uns also an das Wahrnchmungsmodell haken, das Sartre seiner Interaktionsanalyse zugrunde legt, wird deutlich, daß kommunikative Begegnungen der beschriebenen Art eine normative Infrastruktur besitzen, die von uns indirekt eine Art von Stellungnahme verlangt. Das scheint schon im ersten phänomenologischen Zugang so deutlich, daß sich geradezu die Frage aufdrängt, warum Sartre, der klug genug war, das zu wis­ sen, so vollständig von diesem normativen Innengcflccht sozialer Interaktionen abstrahieren zu können glaubte. Es sollte allerdings zunächst klargestellt werden, daß Sartre selbst an einigen Stellen seiner Argumentation davon spricht, ein Sub­ jekt werde im Erblicktwerden durch den Anderen zum Objekt einer Wertung.7 Zudem scheint er dadurch, daß er als eine bei­ spielhafte Situation des überraschenden Erblicktwerdens jene be­ rühmte Szene wählt, in der ein eifersüchtiger Mann beim miß­ trauischen Blick durch das Schlüsselloch plötzlich Bücke auf sich gerichtet fühlt, selbst nahelegen zu wollen, daß es sich bei solchen Begegnungen um normativ gehaltvolle Interaktionen handelt.8 Das Gefühl der Scham, mit dem jener Mann auf den erahnten

7 Vgl. etwa Jean-Paul Sartre, Das Sein und Das Nichts, S.356; vgl. zu diesem Komplex auch Peter Kampits, Sartre und die Frage nach dem Anderen, Wien 197$, S. 223 ff. 8 Ebd., 345 ff.

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Blick reagiert, wäre dann nämlich eine moralische Gefühlsrcaktion, mit der er vor einem virtuellen oder anwesenden Anderen auf sein eigenes, für unmoralisch gehaltenes Tun reagiert. Sartre jedoch schlägt nun aber den Weg einer solchen Deutung, die die normative Infrastruktur sozialer Interaktionen zum Bezugspunkt genommen hätte, nicht ernsthaft ein; vielmehr läßt er die eigenen Hinweise auf die bewertende Bedeutung des Blicks unberück­ sichtigt und verfolgt allein jenen Weg weiter, der durch die undifferenzierende Rede von der verdinglichenden Wirkung des Ange­ blicktwerdens gewiesen wird. Insofern spricht er auch von der Scham nicht als einer moralischen Gefühlsreaktion, wie es sein eigenes Beispiel nahegelegt hätte, sondern als einer »metaphysi­ schen« Gefühlsreaktion, mit der wir gewissermaßen auf den on­ tologischen Schock des Verdinglichtwerdens reagieren. Daß Sartre jedes Erblicktwerden undifferenziert als eine Weise der Verdinglichung beschreibt, kann offenbar nicht darin begrün­ det sein, daß er jenen Bedeutungsreichtum, in dem wir Blicke erfahren können, einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Seine Gründe müssen vielmehr von einer Art sein, die es überflüssig erscheinen läßt, Differenzierungen zwischen verschiedenen Be­ deutungsgehalten eines Blickes überhaupt vorzunehmen. Ein sol­ cher Grund zeigt sich aber, wenn nun die andere Seite jener durch einen Blick eröffneten Interaktionsbeziehung betrachtet wird, also das erblickte Subjekt. Dieses Subjekt erfährt jeden Blick, so wie Sartre es darstellt, als eine vergegenständlichende Festlegung, als einen »Tod« all seiner weiteren Handlungsmöglichkeiten. Es ist nicht von Relevanz, welche besondere Bedeutung cs dem wahrgenommenen Blick jeweils zumißt, da es nur in der Tatsache des deutenden Erblicktwerdens selbst sich bereits auf eine einzige Handlungsabsicht fcstgelcgt sieht. Das aber kann nur heißen, daß Sartre in seinem kategorialen Bezugssystem Subjekte zu unter­ stellen scheint, die stets in einer solchen experimentellen Offen­ heit ihrer Selbstdeutung leben, daß sie ihre verschiedenen Handlungscntwürfe weder untereinander noch in der zeitlichen Ab­ folge, weder horizontal noch vertikal in eine gewisse Konsistenz bringen. Nur deswegen nämlich müssen sie in jedem Blick eine zwanghafte Festlegung auf eine bestimmte Handlungsabsicht se­ hen, die sie doch in der ständigen Offenheit ihrer Existenzent­ würfe bereits schon wieder transzendiert haben. Waren Subjekte hingegen dazu in der Lage, sich ein den Augenblick überdauern172

des Selbstverständnis in jenem Sinne zu geben, dann müßte für sie die Art und Weise eines jeweiligen Blicks von unmittelbarer Rele­ vanz sein; denn sie könnten sich ja in ihrem handlungsleitenden Selbstverständnis bekräftigt oder hinterfragt, ermutigt oder kriti­ siert sehen; und sie könnten, was wichtiger ist, auf der Basis ihres jeweiligen persönlichen Seibstverständnisses ihrerseits positiv oder negativ auf die in einem Blick enthaltene Deutung ihrer selbst reagieren. Sobald wir also menschliche Subjekte kategorial zusätzlich mit einem normativen Verständnis ihrer selbst, also mit der Fähigkeit zu persönlicher Identität, ausstatten, treten an der von Sartre ana­ lysierten Interaktionssituation zwei strukturelle Elemente hervor, die in seiner eigenen phänomenologischen Beschreibung systema­ tisch ausgcblendct bleiben: Erstens wäre für ein so gedachtes Sub­ jekt die spezifische Bedeutung, die es dem Blick eines Anderen zumißt, nicht mehr in derselben Weise belanglos, wie Sartre zu unterstellen scheint, sondern im Gegenteil von handlungsent­ scheidendem Gewicht; je nach dem eigenen Selbstvcrständnis wird ein solches Subjekt nämlich auf den vermuteten Sinngehalt eines ihn treffenden Blickes anders reagieren. Schon das aber ver­ weist auf ein zweites Strukturelement, das zwar nicht aktuell, aber doch virtuell zu jener Interaktionssituation stets dazugehört: Das sich selbst auf einen bestimmten Lebensentwurf hin verste­ hende Subjekt muß nicht unbedingt auf die im Blick des Anderen vermutete Erwartungshaltung einfach nur positiv oder negativ reagieren, sondern ist auch dazu in der Lage, diese vermutete Erwartungshaltung selbst zum Thema seiner Reaktion zu ma­ chen, indem es sich des Mittels der sprachlichen Verständigung bedient. Jene Situation des Erblicktwerdens ist ihrerseits eingelas­ sen in das übergreifende Medium der Sprache, von dem das er­ blickte Subjekt in spezifischen Fällen Gebrauch machen kann. Sartre aber schließt eine solche Möglichkeit der sprachlichen Fortsetzung einer durch den Blickkontakt eröffneten Interaktion scheinbar völlig aus. All das scheint darauf hinzuweisen, daß Sartre nur deswegen zu einer negativistischen Konstruktion der menschlichen Interaktion gezwungen ist, weil er bereits in seinen Grundbegriffen die Mög­ lichkeit persönlicher Identität ausschlicßt.’ Seine duale Ontologie 9 Vgl. auch die Kritik von Charles Taylor, »Was ist menschliches •73

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läßt cs nicht zu, Personen als Subjekte zu begreifen, die ihrerseits darum bemüht sind, ihre verschiedenen Handlungsentwiirfc in eine dauerhafte, durch ihr Selbstverständnis aufrechterhaltene Ordnung zu integrieren; denn den Begriff der Identität hat Sartre ontologisch so einseitig der Sphäre des dinghaften An-sich zuge­ ordnet, daß er die Möglichkeit einer Identität des Für-sich, also die Möglichkeit einer persönlichen Identitätsfindung, selbst gar nicht mehr denken kann. Besäße er hingegen jene kategorialen Mittel, Subjekte als wie auch immer mit sich identische Persön­ lichkeiten zu verstehen, dann hätte sich ihm die interaktive Be­ gegnung nicht als ein Kampf um die Erhaltung der puren Tran­ szendenz des Für-sich gezeigt, sondern als ein Kampf um die wechselseitige Anerkennung des Selbstvcrständnisses, das Sub­ jekte von sich aus in jene Interaktion mit einbringen. Das jedoch war Hegels große, durch Fichte angeregte Einsicht: Er hat Inter­ aktionen als solche Formen des Kampfes um Anerkennung deu­ ten können, die das Potential ihrer eigenen Überwindung in sich enthalten, weil Subjekte sich auf die wechselseitige Anerkennung ihrer Selbstansprüche durchaus einigen können. Die Interaktion enthält bei Hegel als positives Gegenstück zum Moment des Konflikts die Erfahrung der Legitimität eigener An­ sprüche und Selbstdeutungen; deswegen auch vermag für ihn jede interaktive Bedeutung prozessual über sich hinauszuführen, weil die Subjekte mit dem Wissen um ihr Anerkanntsein auch zu im­ mer anspruchsvolleren Selbstdcutungen gelangen können. So er­ hält der Kampf um Anerkennung ein gleichsam historisches Po­ tential, das über jeweils etablierte Formen von Anerkennungsver­ hältnissen hinaustreibt.10 Sartre hingegen schraubt die Hegelsche Einsicht, so läßt sich sagen, auf ihre Hobbcsschen Ursprünge zurück: Der sittliche Kampf um Anerkennung wird wieder zu einem bloßen Kampf um Selbsterhaltung; allerdings gilt diese Selbsterhaltung nun, existentialistisch umgedeutet, der leeren Of­ fenheit eines Für-sich.

Handeln?«, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/Main 1988, S. 9 ff., bes. S. 29 ff. 10 Vgl. Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung, a. a. O. S. 343 ff.

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3Ich will kurz zusammenfassen: Theunissen hat in einem Kom­ mentar zur Bedeutung Sartres einmal geäußert, »Sartre betreibt eine Theorie des schcinhaft Negativen, die selber negativ ist, so­ fern sie sich in den Schein hineinbegibt.«11 Mag das auch vor allem gemünzt sein auf das Dialektik-Verständnis Sartres, so gilt es meines Erachtens ebenso für den intersubjektivitätstheoreti­ schen Negativismus. Negativ muß diese Konzeption sein, weil sie ein falsches Selbstverständnis von Subjekten unreflektiert als ih­ ren eigenen Verstchcnshorizont übernimmt. Nur weil Sartre das Selbstverständnis eines Individuums akzeptiert, das sich sein Hinaussein über die Seinsweisc eines An-Sich als ständiges Nicht­ sein, als unentwegte Offenheit auslegt, ohne zu einem Verständ­ nis seiner je eigenen menschlichen Identität gelangen zu können, muß er das Erblicktwerden durch den Anderen undifferenziert als Verdinglichung beschreiben und in der Folge davon jede menschliche Interaktion als eine Begegnung zwischen sich wechselseitig'verdinglichenden Subjekten. Daher ist auch Sartres frühe Theorie der Intersubjektivität Theorie des schcinhaft Negati­ ven. Freilich entwickelt sich Sartres Theorie in einer anderen Richtung fort; ich möchte zum Schluß die starke Hypothese vertreten, daß seine Intersubjektivitätstheorie dem produktiven Weg einer schrittweisen Historisierung des Negativen folgt. Sartre arbeitet seine Konzeption schrittweise um, indem er die Bedingungen für die strategischen Verzerrungen der menschlichen Interaktion, also für die verdinglichenden Effekte der Kommunikation, zu­ nehmend historisiert und soziologisiert. Dazu eröffnet er sich die Möglichkeit bereits mit seiner kleinen Schrift Zur Judenfrage-, in der die Ursachen für das feindlich-strategische Verhältnis des An­ tisemiten zum Juden in den zeitgebundenen Umständen der Klas­ senlage des Kleinbürgertums aufgesucht werden.1' Das zweite Stadium dieser Transformation eines ontologischen Negativismus der Interaktion in einen historisch eingeschränkten Negativismus

n Michael Theunissen, »Sartre —ein Dialektiker«, in: Dialektik. Beiträge zu Philosophie und Wissenschaften, Heft 2/1981, S. 19. 12 Vgl. dazu Axel Honneth, »Ohnmächtige Selbstbehauptung. Sartres Weg zu einer intersubjektivistischen Freiheitslehre«, in: Babylon. Bei­ träge zur jüdischen Gegenwart, Heft 2, 1987, S. 82-88.

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Wert< ausmacht, d. h. in der letzten Diffe28 Vgl. etwa cbd., S. 277ff., S. 332. 29 Auf eine theoretische Diskrepanz dieser Art weist auch Jon Elster in seiner vorzüglichen Rezension des Buches hin: Jon Elster, »Snobs«, in: London Review of Books, j.-i8.Nov. 1981, S. toff.

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renz, die häufig genug auch die letzte Eroberung ist, in der spezi­ fisch definierenden strukturellen und genetischen Abwei­ chung.«30 Auch wenn Bourdieu sich an dieser Stelle, wie gesagt, einer strukturalistischen Gedankenfigur bedient, indem er die »Bedeutung« oder den »Wert« einer sozialen Gruppe formal durch die bloße »Differenz« gegenüber den Nachbargruppen be­ stimmt sein läßt, so hat der Gedankengang doch weiterreichendc Implikationen. Denn nicht nur die Rolle, die die gruppenspezifi­ schen Lebensstile im sozialen Klassengefüge spielen, hat sich hier gegenüber derjenigen des Habituskonzeptes gewandelt, sondern auch der Begriff des Lebensstils, der »Alltagskuitur« selbst besitzt nunmehr einen neuen Gehalt: er bezeichnet nicht mehr bloß die symbolischen Ausdrucksformen der Handlungsstrategien, mit denen die verschiedenen Berufsgruppen ihre soziale Überlegen­ heit gegenüber anderen sozialen Gruppen zu behaupten versu­ chen, sondern die kulturellen Lebensformen, in denen die sozia­ len Gruppen zunächst ihre kollektive Identität zu bewahren trachten; mit dem Mittel der symbolischen Distinktion grenzen sich die sozialen Gruppen nun, soweit es ihre ökonomischen Mit­ tel zulassen, wechselseitig voneinander ab, um ihrer eigenen Le­ benslage Ausdruck zu geben und die daran geknüpften Wertvor­ steilungen gesellschaftlich zu behaupten. Bourdieu muß also jetzt einen internen Zusammenhang zwischen Alltagskuitur und Handlungsnormen, zwischen symbolischen Ausdrucksformen und bestimmten Wertvorstellungen annehmen, während er vor­ her, solange er von den symbolischen Distinktionsbemühungen bloß als einem strategischen Mittel sprach, in den kulturellen Lebensformen allein die symbolischen Ausdrucksformen von kollektiven Nutzenerwägungen zu vermuten brauchte. Allein jene zweite Verwendungsweise erklärt freilich, was im Rahmen des verallgemeinerten Nutzenkonzeptes unbegriffen bleiben muß: warum die sozialen Gruppen untereinander, wie Bourdieu behauptet, um die »Distinktionsmcrkmale« konkurrieren sollen, warum sie also die jeweils eigenen Orientierungsmaßstäbc kultu­ reller Selbstdarstellung gegenüber denen aller anderen Gruppen durchzusetzen versuchen. Denn nur, wenn wir unterstellen, daß die sozialen Gruppen in ihren eigenen Lebensstilen nicht nur ein Mittel der Verbesserung der eigenen Klassenposition sehen, sonjo Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a. a. O., S. 382 f.

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dern vor allem den symbolischen Ausdruck eigener Wcrtvorstellungen, macht es Sinn, von einer Konkurrenz zwischen kollekti­ ven Lebensstilen auszugehen - anderenfalls nämlich würde jede soziale Gruppe in wohlverstandener Nutzenerwägung die eigene Alltagskultur immer den Lebensstilen anzupassen wissen, die in der Gesellschaft gerade zur Herrschaft gelangt sind. Die eigen­ tümliche Beharrlichkeit, mit der die sozialen Gruppen über histo­ rische Veränderungen und soziale Wandlungsprozesse hinweg an ihren jeweiligen Geschmackskulturen und Lebensformen festhal­ ten, bleibt in dem Erklärungsmodcll, das Bourdieus utilitaristi­ sches Handlungskonzept nahelegt, unverstanden. Bourdieu kommt an einigen Stellen seiner Untersuchung einem Gedankengang dieser Art entgegen; insbesondere das letzte Kapi- j tel, in dem er den Kampf um die symbolische Klassifikation der Sozialwelt als eine »vergessene Dimension des Klassenkampfes« vorstellt,31 konvergiert mit der These, daß sich in kollektiven Lebensstilen auch konkurrierende Moral- und Kulturmodelle ei­ ner Gesellschaft gegenüberstehen. Doch an einer konsequenten Ausführung dieses Grundgedankens hindert ihn der kategoriale Rahmen seiner eigenen Theorie: die ökonomischen Zentralbe­ griffe, die er seiner Kulturanalyse zugrunde legt, zwingen ihn, alle Formen sozialer Auseinandersetzungen nach dem Typus von Verteilungskämpfen zu begreifen, obwohl doch der Kampf um die soziale Geltung von Moralmodellen ganz offensichtlich einer anderen Logik gehorcht. Denn welche Geltung eine bestehende Gesellschaftsordnung den Werten und Normen gewährt, die sich in den Lebensstilen einer sozialen Gruppe verkörpert haben, ist nicht abhängig davon, welches Volumen an Wissen oder Reich­ tum, welche quantitativ meßbaren Güter also eine bestimmte Gruppe hat akkumulieren können, sondern bestimmt sich nach Maßgabe der Traditionen und Wertvorstellungen, die in der ent­ sprechenden Gesellschaft sozial verallgemeinert und institutiona­ lisiert werden konnten; die soziale Geltung eines Lebensstils und der in ihm zur symbolischen Darstellung gebrachten Werte rich­ tet sich mithin nach dem Grade, bis zu dem die jeweiligen Hand­ lungsnormen und Wertvorstellungen gesellschaftlich Anerkcn- 1 nung gefunden haben. Während also der ökonomische Vertei­ lungskampf eine Auseinandersetzung zwischen allein auf ihren ji Ebd., S.755. 200

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Nutzen bedachten Gegner ist, stellt der moralisch-praktische Kampf eine Auseinandersetzung dar, in der die Gegner jeweils um die normative Zustimmung der anderen Seite ringen. Diese Differenz mag Max Weber vor Augen gestanden haben, als er in dem berühmten Kapitel über »Klassen, Stände, Parteien«, in sei­ nem Grundriß über »Wirtschaft und Gesellschaft« zwischen der »Wirtschaftsordnung« und der »sozialen Ordnung« einer Gesell­ schaft, zwischen der Verteilung ökonomischer Positionen und der »Verteilung sozialer Ehre« zu unterscheiden versucht hat:32 zwar besitzen die ökonomisch mächtigen Gruppierungen eine erheblich größere Chance, ihre eigenen Wertvorstellungen in ei­ ner Gesellschaft institutionell zu verallgemeinern und damit die soziale Geltung der eigenen Lebensführung zu erhöhen, aber der Weg, auf dem auch ihnen dies allein gelingen kann, ist nicht der der Akkumulation von kulturellen Gütern, sondern der der zu­ stimmungsabhängigen Durchsetzung eines bestimmten Lebens­ stils. Wie auch immer dieser besondere Typus von moralisch-kulturellen Auseinandersetzungen näher zu bestimmen wäre: Bourdieu kann ihm in der theoretischen Anlage seiner Untersuchung nicht gerecht werden. An den Stellen, an denen er nicht den allzu simplen Vorstellungen seines Habitusbegriffes gefolgt ist und die gruppenspezifischen Geschmackskulturen also als symbolische Identitätsformen sozialer Gruppen zu verstehen versucht hat, be­ greift er die gesellschaftliche Konkurrenz um deren Geltung oder Wertschätzung nach der Logik von Verteilungskämpfen. Dazu mag ihn verleitet haben, daß er unter dem »kulturellen Kapital«, das eine Berufsgruppc prinzipiell akkumulieren kann, ursprüng­ lich mehr verstanden wissen wollte als bloß die »Bildungstitel«, die über das gesellschaftliche Ausbildungssystem zu erwerben sind; vielleicht ist er in seiner Studie insgeheim der Vorstellung gefolgt, daß sich der nicht in Bildungstiteln verkörperte Teil des »kulturellen Kapitals« gewissermaßen auf dem Weg des Erwerbs eines möglichst »distinktionsreichen« Geschmacks erlangen läßt ■ — dann freilich hätte er das von ihm selbst benannte, entschei.dende Problem, wie nämlich innerhalb einer Gesellschaft die ' Wertschätzung, der Distinktionswert eines Lebensstils sozial 32 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auf!., Tübingen 1976, S. 531 ff. 201

festgelegt wird, theoretisch einfach übergangen. So aber erzeugt Bourdieu in seiner Untersuchung ständig die irrige Vorstellung, als ob die soziale Anerkennung eines Lebensstils und der in ihm verkörperten Werte auf demselben Wege zu erwerben sei wie ein ökonomisches Gut; nur eine entschiedene Preisgabe des utilitari­ stischen Rahmens, in dem er seine empirischen Studien angelegt hat, hätten ihn vor diesem gravierenden Mißverständnis bewah­ ren können.53

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33 Eine erhellende Kritik der utilitaristischen Grundannahmen Bourdieus entwickelt auch Philippe Adair in seinem Aufsatz: »Sociologie du discours et Statut de l’cconomique«, der in dem Publikationsorgan MAUSS. Bulletin du Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales abgedruckt ist (H. 8, 1983). Zur Utilitarismus-Kritik, die die­ sem Zeitschriftenprojekt programmatisch zugrunde liegt, vgl. jetzt zu­ sammenfassend: Alain Caillc, Critique de la raison utilitaire, Paris 1988. 202

Die unendliche Perpetuierung des Naturzustandes Zum theoretischen Erkenntnisgehalt von Canettis Masse und Macht

Hinrich Fink-Eitel zur Erinnerung

Unter den vielen Versuchen, die seit Mitte unseres Jahrhunderts unternommen wurden, um rückblickend die Heraufkunft des Totalitarismus zu erklären, nimmt Canettis Masse und Macht' bis heute eine extreme und irritierende Sonderstellung ein. Wer den Autor bislang nur als Verfasser einer dreibändigen Autobio­ graphie kannte, die mit überraschender Selbstverständlichkeit in althergebrachter Weise die Stationen einer Bildungsgeschichte be­ schreibt, wird bei der Lektüre der wissenschaftlichen Studie schon nach wenigen Seiten ins Stocken geraten. Da schreibt jemand, der schnell und unzweideutig zu erkennen gibt, daß er von aller Indivi­ dualpsychologie, ja von aller Hermeneutik oder geisteswissen­ schaftlichen Methode rein gar nichts hält; kein gesellschaftliches Phänomen kennt er, kein Ereignis in der Interaktion zwischen Menschen, das nicht in irgendeiner Weise auf archaische Antriebe des menschlichen Körpers zurückgeführt werden müßte. Als Wis­ senschaftler ist Canetti in keiner Weise mit dem Autor identisch, so wird alsbald klar, der seinen Lebensweg noch einmal als Ge­ schichte einer Bildungserfahrung hat beschreiben wollen. So groß aber wie die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Studie und dem autobiographischen Werk, so groß ist auch der Abstand, der zwischen ihr und allen vergleichbaren Theorien der Zeit be­ steht. Zwar teilt seine Studie mit der Totalitarismusanalyse von Hannah Arendt die Prämisse, daß nur die Existenz sozialer Massen verständlich machen kann, wie es zur destruktiven Dynamik to­ talitärer Gewalt hat kommen können; und mit der Dialektik der 1 Canettis Schrift zitiere ich im folgenden nach folgender Ausgabe: Elias Canetti, Masse und Macht, Düsseldorf 1960, die jetzt im Hanser-Verlag im Rahmen der Werkausgabe erschienen ist. Alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 203

Aufklärung von Horkheimer und Adorno stimmt Canetti in der Auffassung überein, daß sich die Selbststeigerung von Macht im modernen Totalitarismus einer Logik verdankt, die bereits in den archaischen Anfängen der menschlichen Selbstbehauptung ange­ legt sein soll. Aber jenseits solcher vagen Übereinstimmungen im Gegenstandsbereich, von denen überdies eine Reihe weiterer To­ talitarismusanalysen ihren Ausgang nehmen, steht Masse und Macht als ein vollkommen isoliertes, bezugsloses Werk da. Schon der methodische Ausgangspunkt, den Canetti wählt, um die ihn von früh an fesselnden Massenvorgänge zu entschlüsseln, verrät einen ersten Unterschied zu allen vergleichbaren Versuchen: um die Phänomene nicht vorschnell durch die Verwendung wissen­ schaftlicher Begriffe zu ersticken, so heißt es bei Canetti immer wieder, habe er sich strikt am Leitfaden des anschaulich Gegebe­ nen orientieren wollen; da ihm eine solche Anschaulichkeit aber nur das menschliche Körperverhalten zu gewähren schien, hat er seine Analyse in einer deskriptiven Phänomenologie körperlicher Vorgänge zu fundieren versucht, für die es in der Geschichte der Humanwissenschaften kaum ein Vorbild gibt2. Aus der Verlänge­ rung dieser methodischen Prämisse in den Erklärungsrahmen hin­ ein ergibt sich die sachliche These, die Canettis Werk auch in theoretischer Hinsicht von ähnlich gelagerten Untersuchungen radikal unterscheidet: das menschliche Verhalten soll nicht nur zunächst am körperlichen Ausdrucksbild analysiert werden, son­ dern es soll sich als ganzes auch nur als Wirkungsfeld von körper­ lichen Regungen erklären lassen, die in der archaischen Natur des Menschen ihre Herkunft haben. Ganz im Gegensatz zu der Auf­ fassung, nach der Canetti sich die Gesellschaft als »geistige Akti­ vität« vorgestellt habe3, nimmt er sie in größter Konsequenz als eine Konfliktstätte körperlich bedingter Verhaltensreaktionen wahr. Was in der Dialektik der Aufklärung nur in einem über-

2 Aufschlußreich ist hier das Gespräch, das Canetti mit Joachim Schicke geführt hat: Gespräch mit Joachim Schicke, in: Elias Canetti, Die ge­ spaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche, München 1972, S. 104 ff.; zu Canettis erkenntnistheoretischem Ansatz vgl.: Christoph Menke, Die Kunst des Fallens. Canettis Politik der Erkenntnis, in: Michael Krüger (Hrsg.), Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis »Masse und Macht«, MünchenAVien 1995, S. 38-67. 3 So Susan Sontag, Geist als Leidenschaft, in: Hüter der VerwandlungBeiträge zum Werk von Elias Canetti, Frankfurt/M. 1988, S. 106. 204

tragenen Sinne gemeint war, hat Canetti somit in einem buchstäb­ lichen Sinne zu demonstrieren versucht: daß der Zustand der Zivilisation im 20. Jahrhundert nur dann angemessen zu analysie­ ren ist, wenn er als Perpetuierung des archaischen Naturzustands des Menschen aufgefaßt wird. Es ist diese These, die Canettis Schrift heute eine extrem beunruhigende Aktualität verleiht; denn wo immer gegenwärtig versucht wird, das Anwachsen von physischer Gewalt und Zerstörung zu erklären, ist eines der be­ liebtesten Deutungsmittcl die Annahme einer Wiederkehr des Naturzustandes4. An der Frage, wieweit eine solche Hypothese trägt, wird sich mithin entscheiden lassen, wie hoch der theoreti­ sche Ertrag von Masse und Macht einzuschätzen ist.

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Wann immer Canetti in seiner Autobiographie von Begegnungen mit Massenvorgängen berichtet, ist es zunächst das begleitende Gefühl der Ambivalenz, das daran auffällig wird; von dem ge­ schilderten Geschehen ist er als Beobachter nicht nur durch die Distanz der Reflexion getrennt, sondern zugleich auf eine irritie­ rende Weise auch affektiv in den Bann gezogen, ja gefesselt5. Im Unterschied zu vielen anderen Versuchen, Phänomene der Mas­ senbildung im 20. Jahrhundert zu erklären, steht am Anfang der Analyse von Canetti die Einsicht in die Anziehungskraft der Masse; nicht die negative Vorentscheidung des Kritikers, sondern das zwiespältige Gefühl des Verfügbaren steuert den Gang seiner Untersuchung. Wer sich von einer solchen Perspektive leiten läßt, muß zunächst die Motive oder Ursachen herauszuarbeiten versu­ chen, die für die Partizipation am Erregungszustand der Masse sprechen. Canetti hat sie zeitlebens im Faktum der Verletzbarkeit

4 So exemplarisch heute: Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1993; in direktem Anschluß an Canetti findet sich ein vergleichbares Bild bei Wolfgang Sofsky, Die Meute. Zur An­ thropologie der Menschenjagd, in: Neue Rundschau, Jg. 105,1994, H. 4, S. 9 ff. 5 Vgl. etwa: Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, München/Wien 1977, S. 128 ff.; ders., Die Fackel im Ohr. Lebensge­ schichte 1921-1951, München/Wien 1943, S. 53 ff-, S.79f., S. 118f., S. 230 ff.

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des menschlichen Leibes gesehen; der Mensch ist für ihn durch eine Furcht vor der physischen Berührung geprägt, die in der elementaren Feindvermeidung eines jeden Tieres ihre stammesgeschichtlichen Wurzeln hat. Diese erste Beobachtung macht den Kern von Canettis Theorie des sozialen Lebens aus; ihr entnimmt er den Schlüssel sowohl für seine Analyse der Massenvorgänge als auch für seine Erklärung des Strebens nach Macht. Das Bild, das Canetti vom Zusammenleben der Menschen ent­ wirft, ähnelt bis in manche Details hinein der Schilderung, die Hobbes vor vierhundert Jahren vom menschlichen Naturzustand gegeben hatte; wie dieser das gesellschaftliche Leben bis zur Eta­ blierung einer staatlichen Ordnung, so sieht jener die soziale Inter­ aktion überhaupt durch ein Gefühl der Angst bestimmt, das alle Menschen gleichermaßen gefangenhält. Nicht zufällig ist es daher das Werk des englischen Philosophen, auf das Canetti sich an vielen Stellen seiner Schriften stützt, um seinen eigenen Ansatz zu rechtfertigen6. So wenig für Hobbes die Angst einen mensch­ lichen Affekt darstellt, der in dem Sinn gesellschaftlich vermittelt ist, daß er erst auf die Erfahrung einer sozialen Gefährdung hin entsteht, so wenig auch für Canetti; vielmehr soll schon mit dem biologischen Leben des Menschen als solchem insofern ein Be­ wußtsein der Bedrohung einhergehen, als der eigene Körper stets als etwas wahrgenommen werden wird, das Ziel eines verletzen­ den Angriffs sein kann. Diese konstitutive Angst erklärt sich für Canetti, nicht anders als für Hobbes, aus einer spezifischen Syn­ these von Mißtrauen und Todesbewußtsein, wie sie nur für den Menschen typisch sein soll: in der ständigen Antizipation des eigenen Todes muß er in jeder Begegnung mit einem anderen Lebewesen eine tödliche Bedrohung wittern, weil ihm dessen Absichten prinzipiell unerkennbar sind. So entsteht beim Men­ schen eine »Berührungsfurcht«, die sich auf jede Art von physi­ scher Fremdeinwirkung erstreckt; hervorgegangen aus dem ar­ chaischen Impuls der Feindvermeidung, teilt sie mit den tierischen Verhaltensweisen zwar die Instinkthaftigkeit, ist andererseits aber von allen lebensdienlichen Distinktionen in Freund und Feind, Nähe und Ferne so freigesetzt, daß sie gewissermaßen grenzenund unterschiedslos geworden ist: »Nichts fürchtet der Mensch

6 Aus der Sekundärliteratur verweise ich nur auf: John Bayley, Canetti und Macht, in: Hüter der Verwandlung, a.a.O., S. 133 ff. 206

mehr«, so lautet dementsprechend der erste Satz von Masse und Macht, »als die Berührung durch Unbekanntes.« (13). Was hier freilich »Unbekanntes« heißen soll, bleibt in der Analyse Canettis ebenso unerörtert wie die anschließende Frage, ob eine solche Berührungsfurcht tatsächlich einen primären oder natürli­ chen Charakter besitzen muß. Schon der Blick auf außereuropäi­ sche Kulturen belehrt ja darüber, daß der körperliche Kontakt auch zwischen Nichtverwandten an vielen Orten nicht nur frei von aller Besetzung mit Furcht sein kann, sondern darüber hinaus sogar zur Erwartung sozialer Normalität zu gehören scheint; und bei Säuglingen löst die physische Berührung im allgemeinen doch gerade nicht Panik oder Schrecken aus, sondern befreit ihrerseits überhaupt erst von einer vorgängigen Angst, die mit dem schmerz­ vollen Erlebnis eines Verlustes an Geborgenheit Zusammenhängen mag. Es sind mithin empirische Zweifel angebracht, ob sich die Berührungsfurcht in der Weise als eine natürliche Affektanlagc des Menschen begreifen lassen muß, wie Canetti es in seiner Aus­ gangshypothese vorgeschlagen hat. Wenn nicht seit Freud, so spätestens doch seit der Entstehung der psychoanalytischen Objektbeziehungsthcorie herrscht demgegenüber die Überzeugung vor, daß die menschliche Angst eine affektive Reaktionsbildung darstellt, die intern mit traumatisch erlebten Situationen gestörter Geborgenheit verknüpft ist; auch bei der spekulativen Unterstel­ lung eines Geburtstraumas, das den Menschen mit einem be­ stimmten Potential an dauerhafter Angstbereitschaft ausgestattet haben mag, wären es dann vor allem die Erfahrungen einer Be­ drohung durch soziale Isolation und affektiven Verlust, die Ge­ fühle von Panik oder Furcht auslösen würden7. Diese Art von sekundärer, sozial vermittelter Angst gehört insofern konstitutiv zur menschlichen Lebensweise, als ihr der regelmäßig wiederkchrende Zwang innewohnt, sich von emotionalen Identifikationen lösen zu müssen, um persönliche Autonomie gewinnen und be­ wahren zu können; und was darüber hinaus an spezifisch physi7 Sehr aufschlußreich ist hier: Hinrich Fink-Eitel, Angst und Freiheit. Überlegungen zur philosophischen Anthropologie, in: H. Fink-Eitel/ G. Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt/M. 1991, S. 17 ff.; für die hier behandelten Probleme ist bis heute auch sehr lesenswert: H. v. Ditfurth (Hg.), Aspekte der Angst (Starnberger Ge­ spräche 1964), Stuttgart 1965. 207

scher Berührungsfurcht beim Menschen anzutreffen ist, mag sich viel eher der Körperfeindlichkeit einer besonderen Kultur verdan­ ken als hartnäckigen Resten einer biologischen Natur. Kurz, die These, die Canetti der Untersuchung über Masse und Macht zu­ grunde legt, steht zumindest im Verdacht, sich als das Resultat einer Projektion zu erweisen, die einiges über die Empfindlichkeit der Person, wenig über die Affektgrundlage des sozialen Lebens besagen würde. Nun begreift Canetti jedoch seinen Entwurf einer Affekttheorie auch nur als den ersten Schritt in Richtung einer Konzeption, die die Struktur der menschlichen Lebensweise im ganzen darlegen soll; seine wesentliche Aufgabe besteht mithin in dem Versuch, aus der vorausgesetzten Tatsache einer archaischen Berührungsangst diejenigen Schlüsse zu ziehen, die die Eigentümlichkeit der zwi­ schenmenschlichen Kommunikation beleuchten können. Auch hier ist es wieder die Hobbessche Lehre vom Naturzustand, deren Vorbild den Gang der Argumentation weitgehend bestimmt. Hatte Hobbes aus seiner einleitenden These einer konstitutiven Angst die Konsequenz eines verstaatlichen Zustandes des Krieges aller gegen alle gezogen, ohne freilich an einer Stelle den fiktiven Charakter seiner Darstellung zu leugnen, so überträgt Canetti diese Herleitung ganz wörtlich auf die faktische Situation des sozialen Lebens überhaupt: weil die Menschen sich nur in der wechselseitigen Furcht vor physischer Verletzung begegnen, ist jeder von ihnen stets allein darauf bedacht, durch vorbeugende Maßnahmen sein Überleben gegenüber dem anderen zu sichern. Mit zahlreichen Beispielen aus der Ethnologie und der Religions­ geschichte versucht Canetti die Schlußfolgerung zu belegen, die am Ende eines derartigen Gedankenganges stehen muß: »Der Mensch will töten, um andere zu überleben. Der Mensch will nicht sterben, um andere zu überleben« (296). Die Ungeheuerlich­ keit dieser These wird auch dadurch nicht abgemildert, daß sie an manchen Stellen nur in einem metaphorischen oder gemäßigten Sinn verstanden wird; da ist dann davon die Rede, daß im Ab­ sterben fast aller Samenzellen im Zeugungsakt dem Menschen ein natürlicher Prozeß vorgegeben ist, der ihm schon an seinem bio­ logischen Beginn das Prinzip des Überlebens offenbart (291); und das zutiefst erschütternde Gefühl, daß den Einzelnen beim Gang über einen Friedhof überfällt, wird als Anzeichen einer geheimen Genugtuung darüber gedeutet, den wenigen Überlebenden in 208

einer ständig wachsenden Masse von Toten anzugehören (326 f.). Würden Beispiele solcher Art auch die ganz andere Deutung er­ lauben, derzufolge jeder Mensch vor dem eigenen Tod die größte Angst besitzt und daher mit einem starken Überlebcnsdrang aus­ gestattet ist, so läßt Canetti doch keinen Zweifel daran, daß er sie im Sinne eines latenten Tötungswunsches verstanden haben will: die menschlichen Subjekte sind, weil sie im Interaktionspartner nur den potentiellen Angreifer sehen können, von dem Willen beherrscht, jeden anderen auch um den Preis des Tötens zu über­ leben. In einem unaufgeklärten Verhältnis zu dieser Schlußfolgerung stehen allerdings die Überlegungen, die Canetti jenem Vorgang im archaischen Sozialleben widmet, den er als Bildung einer »Kla­ gemeute« bezeichnet; gemeint ist damit die häufig dargestelltc Situation, in der sich eine Gruppe von Stammcsmitgliedcrn spon­ tan versammelt, um mit großer Erregung und nicht selten in ritueller Form gemeinsam das Ableben eines Angehörigen zu betrauern (122-126). Da Canetti hier nicht der ihm eigentlich entgegenkommenden Deutung nachgeht, derzufolge der archai­ sche Sozialverbund noch so stark integriert ist, daß im Tod des einzelnen Mitglieds symbolisch das Absterben des ganzen Kol­ lektivs beklagt wird, müßte er derartige Phänomene im Prinzip als Zeichen einer wahrhaft empfundenen Trauer um den anderen Menschen interpretieren; dann aber wäre zumindest gegenüber dem Nächsten, also dem Stammesangchörigen, Gruppenmitglied oder Verwandten, der Wunsch nach Tötung aufgehoben und durch ein Gefühl der mitvollziehenden Anteilnahme ersetzt. Von hier aus hätte sich für Canetti die Möglichkeit eröffnen können, einen Blick auf jenes breite Spektrum von moralischen Gefühlen zu werfen, das neben den Tendenzen zur aggressiven iggressiven Feindbildung sicherlich auch zur Reproduktion der sozialen Welt gehört; denn auf der Stufe menschlichen Lebens scheint sich doch das instinktive Ver­ haltensrepertoire, welches bei Tieren der Pflege der Nachkom­ menschaft und dem Schutz von Artgenossen dient, in ein affektiv verankertes Potential von moralischen Einstellungen transfor­ miert zu haben, die eine ungestörte Idcntitätsbildung zumindest der Gruppenmitglieder schützen und garantieren sollen. So prägen wohl tiefsitzende Impulse der emotionalen Fürsorge wie auch elementare Regungen eines Sinnes für Gerechtigkeit alle Formen des gesellschaftlichen Lebens, soweit es sich innerhalb der Gren209

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zen eines sozialen Kollektivs vollzieht8. Zwar ist damit noch nichts darüber gesagt, ob und wie sich diese gefühlsnahen Einstellungen einer Binnenmoral jemals so über den Rahmen von partikularen Gruppen hinaus haben verallgemeinern können, daß sie schließ­ lich einem moralischen Universalismus den Weg bereiten konnten; immerhin aber wird deutlich, daß sich das soziale Leben gar nicht angemessen beschreiben läßt, wenn nicht auch jene moralischen Gefühle mit einbezogen werden, die der potentiellen Konfliktbe­ reitschaft des Menschen engste Grenzen ziehen. Canetti jedoch hat von solchen konflikthemmenden Kräften, obwohl seine Behand­ lung der »Klagemeute« ihn direkt darauf hätte stoßen 'müssen, theoretisch keine Notiz nehmen wollen; für ihn reduziert sich die zwischenmenschliche Kommunikation, in einer Art von em­ pirischer Aktualisierung der Lehre von Hobbes, auf einen Zustand des sozialen Krieges, in dem jeder latent den Tod des anderen wünscht. Sowenig Canetti an der menschlichen Angst das Moment einer gleichursprünglichen Angewiesenheit auf sozialen Schutz wahrzunehmen vermochte, sowenig kann er nun deren Bedeutung für die emotionalen Bindungen einsehen, die zwischen den Sub­ jekten seit jeher bestehen. Seltsamerweise ist es aber gerade dieser extrem gesteigerte Reduktionismus, der Canettis weiteren Analy­ sen ein hohes Maß an explanatorischer Kraft verleiht; denn für eine Erklärung von »Masse« und »Macht« scheinen sich noch immer gerade jene Elemente an der sozialen Interaktion als geeignet zu erweisen, die mit den archaischen Resten der menschlichen Kon­ fliktbereitschaft Zusammenhängen.

II Für den Literaturtheoretiker muß es eine herausfordernde Frage sein, wie ein Autor, der mit seiner Autobiographie eine große Passion für die geistige Welt beweist, in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk zu einem kruden Bchavioristen des sozialen Lebens

8 In diesem Sinn sogar schon: Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt/M. 1969; als notwendige Ergänzung vgl. aber auch Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1981 (3. Auflage), S. 107 ff. 210

I werden kann. Bei Canetti läßt der auffällige Widerspruch nur die Interpretation zu, daß seine intellektuelle Sensibilität der negativen Erfahrung einer Verletzbarkeit des Körpers abgetrotzt ist, von der er gleichzeitig die Sphäre der Gesellschaft noch vollständig be­ herrscht gesehen hat; so, als sei dieser brutalen Wirklichkeit des Sozialen nur dann zu entkommen, wenn sie in ihrer gewaltsamen Körperlichkeit vollständig erfaßt wird, stellt die Untersuchung über Masse und Macht gleichsam das wissenschaftliche Exerzitium dar, aus dessen befreiender Wirkung die autobiographischen Schriften dann ihr ganzes Bildungspathos schöpfen können. Aus den Gründen, die bislang entwickelt wurden, führt die damit umrissenc Motivlage zu theoretischen Prämissen, deren äußerste Fragwürdigkeit außer Zweifel steht: nicht anders als Hobbes, so muß in noch stärkerem Maße auch Canetti eine Reihe von ele­ mentaren Tatbeständen an der sozialen Wirklichkeit verleugnen, um sie als einen Zustand des dauerhaften Krieges aller gegen alle schildern zu können. Von diesem reduktionistischcn Ausgangs­ punkt zur Analyse derjenigen Phänomene, die Canetti vor allem interessieren, bildet nun ein Argument den Übergang, das auf den ersten Blick nicht simpler ausfallen könnte: sowohl die Entstehung einer »Masse« als auch das Streben nach »Macht«, so lautet kurz die vermittelnde These, stellen Kompensationsmechanismen jener Berührungsfurcht dar, die die Subjekte wechselseitig voreinander empfinden. Schon im Hinblick auf den ersten Phänomenbereich zeigt sich hingegen sehr schnell, daß diese These wenn nicht die vollständige Wahrheit, so doch eine Vielzahl von wertvollen Ein­ sichten enthält; denn was eine »Masse« ist, scheint sich nicht unabhängig von Verhaltensweisen analysieren zu lassen, die an archaischen Regungen der menschlichen Körperlichkeit haften. Canetti begründet seine Behauptung zunächst nur mit der ein­ fachen Beobachtung, daß es sich bei einer sozialen Masse stets um eine äußerst dichte Ansammlung von menschlichen Körpern han­ delt; was auch immer sonst der Anlaß eines derartigen Zusam­ mendrängens vieler Menschen sein mag, ins Auge springt vor allem die Aufhebung aller physischen Distanzen (14). Wenn wir uns an dieses beobachtbare Faktum halten, so scheint der Eintritt in die Masse ein Verhalten im öffentlichen Raum zu erlauben, das an­ sonsten nur in den enggezogenen Grenzen der Intimsphäre als legitim erachtet wird: wie in der körperlichen Berührung zwischen Liebenden, Freunden oder Verwandten, so schwinden hier mit 211

eincmmal auch zwischen Fremden jene unsichtbaren Schranken, die im Aufbau der erwachsenen Person um den eigenen Leib errichtet wurden. Zur Erklärung dieser Entlastungsfunktion der Masse bedarf es freilich kaum der These einer vorgängigen Berüh­ rungsfurcht, sondern nur der wesentlich schwächeren Annahme, daß jeder Mensch in sich bestimmte Tendenzen besitzt, hinter das einmal erreichte Niveau der körperlichen Ich-Abgrcnzungen zu­ mindest temporär zurückzufallen; schon bei Dürkheim findet sich ja das Argument, daß den Zuständen einer kollektiven Efferveszenz von selten der Subjekte das Bedürfnis entgegenkommt, sich periodisch vom mühevollen Zwang der Individuierung durch »Zerstreuung« zu erholen9. Es ist diese elementare Funktion, die auch zwei der Verhaltenszüge erklären kann, die Canetti ins Zen­ trum seiner Definition der Masse rückt: weil alle, die sich sammeln, in der Masse latent nach der Möglichkeit der körperlichen Ent­ grenzung suchen, herrscht in ihr ein gemeinsames Bedürfnis nach physischer Dichte vor, das stark genug ist, jeden Unterschied der sozialen Herkunft schlagartig in den Hintergrund treten zu lassen. »Dichte« und »Gleichheit« sind daher die beiden Eigenschaften, durch die jede Art von sozialer Masse vorweg gekennzeichnet ist

(3°f.).

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Im Ausgang von einer solchen Bestimmung erscheint es dann auch nur als konsequent, wenn Canetti seine weitere Analyse der Masse zunächst an dem bloß äußerlichen Bild orientiert, das von ihr bei der ersten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entgegentritt: denn ob eine Masse in Sekundenschnelle expandiert, ob sie sich in Stokkung befindet oder in rhythmischer Bewegung kreist, ob sie mit Langsamkeit voranschreitet oder in hektischer Bewegung vorwärtseilt, jedesmal besagt das beobachtbar Gegebene bereits We­ sentliches über die Weise, in der die körperlichen Distanzen zwi­ schen den Teilnehmern in ihr durchbrochen werden; so lebt etwa die stockende Menschenmenge, wie Canetti sagt, von der gemein­ samen Antizipation eines Zustandes der Entgrenzung, während er sich in der rhythmisch kreisenden Masse stets schon aktuell voll­ zieht (31 ff.). Wie fruchtbar diese Methode einer externen Be­ schreibung sein kann, erweist sich bei der Übertragung auf Phä-

9 Emile Dürkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 505 ff.; vorzüglich zu diesem Kontext auch: Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1991, bes. S. 280ff. 212

nomcne, die für das soziale Leben unserer Gegenwart einen prä­ genden Charakter besitzen. Hier zeigen bereits die Unterschiede, die im Hinblick auf die kollektiv vollzogenen Bewegungen zwi­ schen einer religiösen Großveranstaltung, dem Fußballpublikum und der tanzenden Menge in einer Diskothek bestehen, erhebliche Differenzen in den Erwartungshaltungcn an, die mit den Ereig­ nissen jeweils einherzugehen scheinen: während die zeremonielle Langsamkeit im ersten Fall die gemeinsame Anstrengung verrät, einer Transzendenz ins Jenseits beizuwohnen, ist es im zweiten Fall die direkte Identifikation mit dem physisch ausgetragenen Spielgeschehen, aus der sich das unregelmäßige Auf und Ab der körperlichen Erregung der Menge ergibt; im dritten Fall schließ­ lich spricht der rhythmische Gleichklang der tanzenden Körper für die Möglichkeit, daß ein Zustand völliger Entgrenzung für den einzelnen erlebbar wird, weil er ihn in anonymer Gemeinsamkeit mit allen anderen vollzieht. In allen drei Fällen liefert so schon die rein körperliche Erscheinung der Masse einen ersten Hinweis auf die Tatsache, daß es sich jedesmal um eine besondere Weise der leiblichen Verschmelzung von Subjekten handeln muß; und wie es um die weitere Deutung dieser Vorgänge im einzelnen auch be­ stellt sein mag, zusammengenommen geben sie an den Interak­ tionsritualen moderner Gesellschaften zu erkennen, was sich mit Canetti als ihr archaischer Rest begreifen läßt: kein noch so fort­ entwickeltes Sozialsystem scheint sich bislang reproduzieren zu können, ohne in der öffentlichen Sphäre Mechanismen in An­ spruch zu nehmen, die mit tiefverwurzelten Bedürfnissen nach körperlicher Entgrenzung Zusammenhängen. Nun ist sich Canetti allerdings darüber im klaren, daß die symbio­ tischen Tendenzen nur eine Art von physischer Grundschicht dar­ stellen, an die sich bei der Bildung sozialer Massen weitere Zwecke anlehnen können müssen; denn der Drang nach leiblicher Regres­ sion, der gewissermaßen kausal am Anfang jeden Massenvorganges steht, gehört viel zu sehr den unbewußten Regungen des Menschen an, als daß er den Eintritt in ein solches Geschehen subjektiv motivieren könnte. Was diese individuelle Seite des Masscnerlebnisses anbelangt, so ergibt sie sich für Canetti aus dem Handlungs­ druck bestimmter Affekte, die aufgrund ihrer archaischen Her­ kunft nur kollektiv bewältigt werden können; noch immer ist der einzelne Mensch nämlich von Reaktionsmustern wie der Jagd und der Flucht, des Verbots, der Überschreitung und des Feierns bc2I3

stimmt, die zur Befriedigung nur dann zu gelangen vermögen, wenn sie in der Menge ausagiert werden. Die Chancen einer Er­ füllung dieser Affektreste sind cs, die sich nach Überzeugung Canettis wie sekundäre Zwecksetzungen an den symbiotischen Mechanismus der Massenbildung zivilisatorisch gleichsam angela­ gert haben: nicht die Aussicht auf Lockerung der Körpergrenzen, sondern die Erwartung einer Abfuhr archaischer Handlungsim­ pulse veranlaßt dann die Individuen, sich spontan dem regressiven Sog zu überlassen, in den die Masse sie hineinzuziehen droht. In der Konsequenz eines derartigen Gedankengangs muß die These liegen, daß der Zivilisationsprozeß soviele Formen der Masse hervorgebracht hat, wie an seinem Beginn Affekte kollek­ tiver Art vorhanden waren. Die von Canetti vorgeschlagene Typo­ logie trägt dem Rechnung, indem sie fünf Arten der Masse unter dem Gesichtspunkt unterscheidet, welche der archaischen Gefühlsrcste in ihr jeweils zur Vorherrschaft gelangt sind: so finden in seiner Studie neben der Hetz- und der Fluchtmassc, die beide in tierische Lebensformen zurückreichen sollen, noch die Verbots-, die Umkehrungs- und die Festmasse systematische Behandlung (53 ff.). Nicht immer ist bei den genannten Typen allerdings klar, welches Phänomen einer Bildung sozialer Massen Canetti tatsäch­ lich vor Augen gestanden haben mag; hier vermischen sich die reichlich zitierten Berichte ethnographischer Art mit den Schilde­ rungen zeitgenössischer Vorgänge so stark, daß die entstehenden Überblendungen den gemeinten Sachverhalt stets wieder unscharf werden lassen. So ist etwa nur schwer zu verstehen, warum der gemeinsame Beschluß einer Arbeitsniederlegung den Grund dafür abgeben soll, den Streik als das typische Beispiel einer »Verbots­ masse« anzusehen; denn in diesem Fall ist doch die kollektive Verweigerung der Arbeit viel eher nur das Mittel zu einem Ziel, dessen solidaritätsstiftende Wirkung es ist, was die Arbeiter gege­ benenfalls zu einer Masse werden läßt (62 ff.). Und ebenso unver­ ständlich scheint der Vorschlag, den Sturm auf die Bastille als den exemplarischen Fall einer »Umkehrungsmasse« zu begreifen (63 ff.), wenn doch die ganze Dynamik eines solchen Volksauf­ standes wohl nicht allein mit einer plötzlichen Umkehrung der Befehlshierarchie erklärt werden kann, sondern auch mit der Chance einer Abfuhr von moralischen Gefühlen der Empörung in Zusammenhang gebracht werden muß. Beide Beispiele offen­ baren freilich auch, daß sich die Unschärfen in der Typologie nicht 214

zuletzt der strikten Weigerung Canettis verdanken, andere als bloß archaische Affekte den motivbildenden Kräften der Massenbil­ dung zuzuschlagen; die ganze Welt der moralischen Gefühle bleibt ihm bei der Analyse von Massenvorgängen ebenso verschlossen wie schon bei Einführung seiner Grundbegriffe. Es ist diese Ten­ denz einer Ausblendung all dessen, was wir seit Hegel oder Dürk­ heim als den eigentlichen Kern des Sozialen begreifen, aus der sich sowohl die Stärken als auch die Schwächen seines Massenbegriffs erklären. Die Stärken zeigen sich mit aller Klarheit am großen Abstand, den Canetti zu jedem psychoanalytischen Versuch einer Erklärung des Massenphänomens einhält. In Freud, dessen Studie über Massen­ psychologie und Ich-Analyse ihm schon sehr früh in die Hände fiel10, sieht er von Anfang an in leichter Selbstüberschätzung den zentralen Widersacher seiner eigenen Konzeption: wer die Masse, so lautet sein Argument, auf jenen Typ einer Menschenansamm­ lung reduziert, in der sich viele einzelne mit einer Führerfigur identifizieren, um einen omnipotenten Ersatz für ihre geschwäch­ ten Ich-Ideale zu finden, der nimmt das Phänomen erst gar nicht »von innen« heraus wahr11; denn das würde bedeuten, am eigenen Körper jene Entlastungsfunktion zu realisieren, die die Masse primär in Hinblick auf die leiblichen Regressionstendenzen und sekundär in Hinblick auf unsere archaischen Gefühlsreste über­ nimmt. In seiner Massenpsychologic setzt Freud dort pathologi­ sche Mechanismen der kompensatorischen Identifikation im Sub­ jekt an, wo nach Überzeugung Canettis nur einfache Mechanis­ men der Triebabfuhr herrschen: der einzelne wird nicht deswegen von der Masse angezogen, wie wir gesehen haben, weil er unbe­ wußt nach einer Überhöhung seiner Ich-Ideale sucht, sondern weil er latent nach einer physischen Dichte strebt, in deren egalisieren­ dem Schutz er rudimentäre Gefühlsimpulse ausagicren kann. Durch diese gezielte Reduktion des Psychischen, die dem Selbst jede nach innen gehende Tiefe nimmt, gibt Canetti paradoxerweise den Ausblick auf eine Vielzahl von Massenphänomenen frei, die in der psychoanalytischen Tradition nicht einmal zur Kenntnis ge­ nommen werden konnten: so tritt entgegen der Freudschen Hypo­ these zutage, daß es in den meisten Fällen nicht die zwanghafte

10 Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, a.a.O., S. 141 ff. 11 Ebd., S. 143. 215

Identifikation mit einer Autoritätsfigur ist, sondern das freige­ wählte und gefahrlose Vergnügen am Spiel der leiblichen Ver­ schmelzung, was eine Masse in unserem Alltag entstehen läßt; und ebenso wird deutlich, in welchem Maße sich auch heute noch alle kollektiven Formen der Verarbeitung von Trauer oder Freude jenes einfachen Mechanismus bedienen, den Canetti in der wechselseitigen Preisgabe der individuellen Körpergrenzen aus­ gemacht hat. Allerdings muß Canetti für den Versuch, Erkenntnisgewinn durch Reduktion am Gegenstand zu erzielen, einen sachlichen Preis bezahlen, der nicht unerheblich ist. Weil er das Psychische auf einige recht einfache Mechanismen zusammenschrumpfen läßt, die weitgehend Funktionen der Entlastung oder Abfuhr von ele­ mentaren Affekten übernehmen, bleibt bei ihm vom Freudschen Strukturmodell gewissermaßen nur noch das »Es« und das »Ich« bestehen; gemeinsam mit den »Ich-Idealen« ist somit an der menschlichen Person auch noch das »Übcr-Ich« weggefallen, so daß sie am Ende wie ohne eine Spur jener sanktionierenden Re­ gungen dasteht, die Freud als das Resultat der moralischen Erzie­ hung begriffen hat. Die Subjekte, mit denen Canetti in seiner Massenanalyse rechnet, besitzen daher weder moralische Gefühle noch gar moralische Überzeugungen. Für eine Beschreibung der Phänomene, die Canetti vor allem vor Augen hat, bliebe diese Ausblendung ohne jede negative Folge, wenn sich nicht schon an seinen eigenen Beispielen gezeigt hätte, daß in die Entstehung sozialer Massen solche höherstufigen Affekte oder Regungen auf vielfältige Weise hineinspielen können. Dabei ist nicht nur an den offenkundigen Fall zu denken, bei dem wie im Streik oder der Demonstration das kollektive Erlebnis der leiblichen Entgrenzung häufig den Weg bereitet, auf dem sich vage empfun­ dene Gefühle moralischer Wut oder Empörung öffentlich über­ haupt erst Ausdruck verschaffen können; es ist darüber hinaus auch mit der umgekehrten Möglichkeit zu rechnen, daß die Zu­ sammenrottung einer Menschenmenge deswegen in den ersten Anfängen steckenblcibt, weil das individuelle Gewissen dem ein­ zelnen die weitere Teilnahme untersagt. Auf der Stufe der mensch­ lichen Lebensform sind aus dem Spektrum der Affekte, die das tiefverwurzelte Bedürfnis nach körperlicher Entgrenzung sekun­ där verstärken oder eingrenzen können, die moralischen Gefühle gar nicht mehr wegzudenken; in jede Form der Masscnbildung 2l6

spielen daher, sei es unterstützend, bekräftigend oder kontrollie­ rend, jene Regungen mit hinein, deren Sitz Freud im »Über-Ich« vermutet hatte. Weil Canetti von dieser Instanz in der Persönlich­ keit überhaupt keine Kenntnis nehmen will, muten seine Analysen von Massenvorgängen nicht selten auf gespenstische Weise zeitlos an: es ist, als habe zwischen den archaischen Anfängen und unserer Gegenwart nicht die Spur eines Zivilisierungsprozesses stattge­ funden, der das menschliche Affektpotential wenn nicht vollkom­ men transformiert, so doch moralisch eingchcgt hätte.

III

Von derselben Ambivalenz, die die Darstellung der Masse bei Canetti durchzieht, ist in nicht geringerem Maße auch seine Ana­ lyse der Macht geprägt. Wiederum gelangt er hier zu einer Vielzahl von fruchtbaren Einsichten vor allem, weil er sich an einem äußerst primitiven Bild des Menschen orientiert, was hinterrücks dann jedoch dazu führt, daß ihm jeder Sinn für historische Differenzie­ rungen verlorengeht. Den Übergang zum zweiten Thema seiner Studie vollzieht Canetti freilich nicht, wie es der Anspruch einer vorbereitenden Untersuchung zum Totalitarismus doch nahege­ legt hätte, durch eine Betrachtung des internen Verhältnisses von Masse und Macht; überhaupt spielt die weitverbreitete These, derzufolge der einzelne als Mitglied einer Masse in seinen IchKräften so sehr geschwächt ist, daß er zum willfährigen Objekt der politischen Einflußnahme werden kann, für sein Buch nur die geringste Rolle. Es unterstreicht vielmehr den anthropologischen Charakter seines Unternehmens, daß Canetti die Dimension der Macht auf derselben elementaren Ebene einführt, auf der zuvor das Phänomen der Masse abgehandelt wurde: nicht anders als die körperliche Verschmelzung mit der anonymen Menge, stellt auch der Erwerb von Macht zunächst ein archaisches Verhaltens­ muster dar, durch das der einzelne sich von seiner tiefsitzenden Berührungsfurcht zu befreien vermag; während es im Fall der Masse aber die Regression hinter die einmal errichteten Körper­ grenzen war, was die Entlastung von der quälenden Furcht be­ wirkte, ist es im Fall der Macht der Aufbau von übcrlebenssichernden Körperdistanzen (242). Für die Idee, Macht als ein Mittel zu begreifen, das durch Er­

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richtung von Distanzen zur Angstbewältigung beiträgt, steht ein letztes Mal die Hobbessche Lehre vom Naturzustand Pate. Schon Hobbes war nämlich der Überzeugung gewesen, daß im Krieg aller gegen alle dem Subjekt nur eine einzige Möglichkeit offen­ bleibt, für sich selber einen Sicherheitsraum zu schaffen und damit die eigene Angst zu verringern: es vermag Mittel zu akkumulieren, die zusammengenommen die Wirkung besitzen, jeden anderen so weit auf Abstand zu halten, daß von ihm auf Dauer kein gefahr­ bringender Angriff mehr zu erwarten sein wird. Den Inbegriff all der Ressourcen, die dem einzelnen bei einer derartigen Strategie zur Verfügung stehen, hat Hobbes in seinem Leviathan »Macht« genannt; ihr gehören seiner Vermutung nach, die hier ein hohes Maß an soziologischer Weitsicht offenbart, nicht nur die physische Stärke an, sondern auch »Reichtum, Wissen und Ehre«12. Von dieser beeindruckend differenzierten Konzeption findet sich bei Canetti nun allerdings nur jenes schmale Teilstück wieder, das auf die bloß körperliche Seite des Verhältnisses zwischen Subjekten zielt: Macht stellt dementsprechend für ihn das Vermögen dar, durch physische Stärke jeden anderen so weit zur körperlichen Distanz zu zwingen, daß von ihm die Gefahr einer möglichen Berührung nicht mehr ausgehen kann. Im Akt einer gewaltsamen Unterwerfung hat daher jede Macht ihren Ursprung, auf ihn be­ ziehen sich auch alle ihre höherentwickelten Formen »im Augen­ blick der Entscheidung« (333) stets wieder zurück. Wenn in diesem Zusammenhang von physischer Stärke und Ge­ walt die Rede ist, so besagt das für Canetti indes wesentlich mehr, als gewöhnlich mit dem Verweis auf das organische Substrat aller Ausübung von Macht gemeint ist13. Seine starke Fixierung auf die pure Körperlichkeit der sozialen Welt läßt ihn vielmehr auch hier zunächst an jene Vorgänge denken, durch die der Mensch mit seinen leiblichen Organen selbst Macht über seine Umwelt zu gewinnen sucht. In der Tat gibt es kaum einen Gegenstand, der der phänomenologischen Beobachtungsgabe Canettis mehr ent­ gegenkäme als diese alltäglichste Faktizität roher Gewalt. Das zeigt sich bereits an der erschreckenden Detailversessenheit, mit der er die Funktion aller menschlichen Tast- und Sinnesorgane so 12 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. und eingcleitet von Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1984, S. 16. 13 Vgl. etwa Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975, Kap.iv. 218

zu beschreiben weiß, als seien sic für nichts anderes geschaffen als die brutale Einverleibung von erjagtem Fleisch: das Auge und die Nase sind ihm Mittel der Erspähung von Beute, die Hand das Organ, das dem ganzen Aufbau nach der Ergreifung dient, der Mund Instrument der Verspeisung, die Zähne schließlich Werk­ zeuge des Zerreißens (237ff.). Keine sinnliche Empfindung des Menschen, keine leibliche Geste oder Tätigkeit bleibt übrig, die vor dem Auge Canettis nicht ihre Rolle als Herrschaftsinstrument offenbarte; und die wenigen Sätze, die er wie in Parenthese der sensiblen »Geduld der Hände« (249 f.) widmet, unterstreichen nur noch die Brutalität des Vermögens aller anderen menschlichen Körperorgane. Wenn es stimmt, daß Canetti die mühevolle, ja peinigende Arbeit an Masse und Macht als eine Art von geistiger Übung begriffen hat, die ihn von der abstoßenden Realität des Sozialen insgesamt befreien sollte, so liegt dafür in dieser verengten Sicht des Leibes die Ursache: denn nur, wer den menschlichen Körper so einseitig allein als Medium rohester Gewalt betrachtet, kann es sich sinnvollerweise zur Aufgabe machen wollen, durch die Erstellung einer vollständigen Theorie ein für allemal von der körperlichen Welt loszukommen. Vielleicht erklärt das auch den eigentümlichen Umstand, daß in den autobiographischen Schrif­ ten Canettis an kaum einer Stelle von Erfahrungen berichtet wird, in denen der menschliche Leib als Quelle von zärtlichen Gesten oder erotischer Lust in Erscheinung träte; wo das aber doch einmal geschieht, wie in den Erinnerungen an die erotomanen Züge eines George Grosz14, da begegnet die Sexualität wiederum allein in der »animalischen« Gestalt der hemmungslosen Begierde. Die organische Befähigung des Menschen, durch Gewaltanwen­ dung von seiner Umwelt Besitz zu ergreifen, stellt für Canetti freilich nur die natürliche Voraussetzung dar, unter der sich zwi­ schen den Subjekten ungleiche Machtverhältnisse hcrausbilden konnten. Zwar ist er nicht ernstlich an der Frage interessiert, wie aus der ursprünglichen Verfügung über Natur die Prozesse zu entstehen vermochten, deren Resultat die Etablierung sozialer Herrschaft war; die wenigen Hinweise, die seine Studie enthält, lassen einen Vorgang vermuten, in dem es den physisch Über­ legenen durch eine Reihe von gewaltsamen Unterwerfungen ge­ lang, alle anderen zur dauerhaften Abstandswahrung zu zwingen.

14 Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, a.a.O., S. 28 $ f. 219

Sind solche Verhältnisse der sozialen Asymmetrie aber erst einmal in institutionellen Regelungen organisiert, so setzen jene Strate­ gien der Machterhaltung ein, denen die Aufmerksamkeit Canettis vordringlich gilt. Natürlich konzentriert er sich auch in diesem Zusammenhang wieder auf die latenten Beziehungen, die zwi­ schen den fortentwickelten Sozialformen und unseren archaischen Anfängen bestehen: das, was an einverleibender Gewalt in der menschlichen Körperausstattung angelegt ist, soll sich als ein un­ tilgbarer Rest selbst noch an den Techniken wiederfinden lassen, die heute dem Erhalt von Macht zu dienen haben. Aber wenn derartige Spekulationen bei Canetti häufig auch ins Leere laufen, weil es ihnen an jeder empirischen Grundlage mangelt, so tragen sie hier doch wesentlich zum Erkenntnisgehalt seiner Analyse bei; denn sie sind cs, die ihn dazu in die Lage versetzen, einige idea­ lisierende Annahmen über den Charakter von Macht zu zer­ streuen. Über die Methode, die Canetti im Kern seiner Machtanalyse verwendet, läßt sich am ehesten sagen, daß sie einer Genealogie herrschaftlicher Sprachformen ähnelt; nicht von ungefähr drängen sich daher auch immer wieder Erinnerungen an das moralpsycho­ logische Verfahren Nietzsches auf. Den Ausgangspunkt stellt die spekulative Vermutung dar, daß es zwei Typen von Sprechakten gibt, über deren regelmäßige Praktizierung sich jede etablierte Macht bis heute maßgeblich erhält: während in verschiedenen Arten der Befragung das unterworfene Subjekt daraufhin unter­ sucht wird, welche inneren Einstellungen es besitzt (337ff-), wird es durch den Befehl dazu veranlaßt, bestimmte Handlungen wider­ spruchslos auszuführen (3 37 ff.). Um Mißverständnisse zu vermei­ den, sollte allerdings berücksichtigt werden, daß es sich bei diesen beiden Sprachformen um institutionell gebundene Sprechakte handelt: sowohl während der hier gemeinten Befragung als auch im typischen Fall des Befehls sind die Redechancen insofern ex­ trem ungleich verteilt, als durch den institutionellen Kontext vor­ weg geregelt ist, daß zwischen den Akteuren ein unzweideutiges Machtgefälle herrscht. Eine solche Klarstellung ist um so wich­ tiger, weil Canetti nun einen Bogen zu seinem eigentlichen Thema dadurch schlägt, daß er die innere Gewaltförmigkcit beider Sprechakte mit ihrer archaischen Herkunft erklärt: die psychische Wirkung jeder Befragung und jedes Befehls läßt sich nach seiner Überzeugung nur dann vollständig begreifen, wenn die vorsprach220

liehen Wurzeln freigelegt werden, mit denen sie beide in die Früh­ geschichte des menschlichen Überlebenskampfes hineinreichen. So ergibt die genealogische Untersuchung der Redepraxis, die in der inquisitorischen Befragung angelegt ist, daß sic auf archaische Situationen der »zweifclndc(n) Berührung der Beute« (340) zu­ rückgeht; noch in jedem Augenblick, in dem die Eltern ihre Kinder ausfragen, die Polizei einen mutmaßlichen Täter erfaßt oder der Richter den Angeklagten verhört, soll eine Erinnerung an die blanke Gier mitschwingen, mit der der vorzeitliche Jäger den Geschmack des erlegten Wildes erkundet hat. Und kaum harm­ loser fällt auch das Ergebnis der genealogischen Überprüfung aus, der Canetti die Redepraxis des Befehls unterzieht: worin seine verängstigende, ja panikauslösende Wirkung besteht, ergibt sich aus der objektiven Rückbezichung auf Situationen, in denen die Todesdrohung durchs überlegene Tier den Menschen zur Flucht aufgefordert hat (358). In der Zusammenfassung beider Überle­ gungen kann Canetti so zu der Schlußfolgerung gelangen, die wohl den eigentlichen Ertrag seiner Analyse ausmacht: daß nämlich die zentralen Institutionen der Macht, also die behördliche Befragung und der Erlaß von Befehlen, ihre einschüchternde Wirkung dem Umstand verdanken, daß sie stets wieder Ängste Ängst« zu aktivieren vermögen, die sich aus der unbewußten Assoziation archaischer Gefahrensituationen ergeben. Bei allem Hang zum Spekulativen dürfte es allerdings auch Canetti klar sein, daß er nicht mehr wie C. G.Jung mit einer Art von kollektivem Unbewußten rechnen kann, das die Ereignisse der menschlichen Vorgeschichte archetypisch in Erinnerung be­ wahrte. Was seine Hinweise auf das Fortwirken archaischer Schlüsselsituationen in den Techniken moderner Macht anbelangt, so müssen sie sich daher wohl so verstehen lassen, daß sie einen anschaulichen Vergleich für das Maß der Angstreaktion bei den Betroffenen liefern sollen: die Menschen, die heutzutage mit einer behördlichen Befragung oder einem autoritativen Befehl konfron­ tiert sind, geraten in eine angsterfüllte Panik, die zwar nicht aus der unbewußten Erinnerung an eine barbarische Vorzeit stammen kann, aber im Erlcbnisgrad derjenigen im archaischen Überlebens­ kampf durchaus vergleichbar ist. Daß eine solche Parallelisierung nicht vollkommen abwegig ist, zeigt bereits der Zustand unserer Alltagssprache, die bis heute Metaphern wie die vom »Dschungel« der Behörde, von den »Klauen« des Gesetzes und vom staatlichen 221

K

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»Moloch« kennt; und warum sollen derartigen Redeweisen nicht auch in der Gegenwart noch Affekte entsprechen, die insofern »archaisch« sind, als sie einen Grad an Ohnmacht und unkon­ trollierbarer Angst signalisieren, den wir rückblickend stets un­ seren urgeschichtlichcn Vorfahren unterstellt haben? Aber selbst auf dieses vertretbare Maß zurückgeschnitten, stößt die Machtanalyse Canettis noch auf systematische Grenzen, die sich erneut aus ihrem ins Extrem getriebenen Reduktionismus ergeben. Wie Hobbes nimmt Canetti weiterhin alles, was mit dem Erwerb und dem Erhalt von Macht zusammenhängt, im Vorstellungsmodell eines kausal wirkenden Zwangs wahr15: Durch Befehle, hinter denen sich die Androhung physischer Gewalt verbirgt, werden Subjekte äußerlich zu Handlungen veranlaßt, durch ununterbrochene Befragungen werden sie bis an die Grenze des Ichverlustes eingeschüchtert. Kein Wort aber widmet Canetti dem Umstand, daß sich nach Hobbes doch eine theoretische Entwicklung angebahnt hat, an deren Ende zu Beginn unseres Jahrhunderts die Überzeugung von einer ganz anderen Funktions­ weise der Macht stand: als deren Mittel gilt nicht länger die Aus­ übung von externem Zwang, sondern die Verinnerlichung von moralischen Normen; und die ihr entsprechende Angst soll nicht mehr die vor einer äußerlichen, sondern die vor der verinnerlichten Autorität repräsentieren. Was Freud an Einsichten über die Schuldangst, was Dürkheim an Erkenntnissen über die normative Integration gewonnen hatte, was wir heute schließlich über den Zusammenhang von moralischer Gewissensbildung und politi­ scher Herrschaftssicherung wissen können, bleibt aus der Analyse Canettis insgesamt ausgespart; daher muß sie ständig den An­ schein erwecken, als vollzöge sich die Reproduktion von Macht bis in die Gegenwart hinein noch immer im Modus externen Zwangs, während ihr in der sozialen Wirklichkeit doch längst die Bindekräfte der moralischen Sozialisation zur Verfügung ste­ hen. Zwar gibt Canetti im Zusammenhang seiner Machtanalyse dem Subjekt ein Stück jener inneren Welt zurück, die er ihm zuvor so vollständig genommen hatte; denn er spricht hier davon, daß jeder Befehl im Untergebenen einen »Stachel« hinterlasse, der in

15 Zum folgenden vgl. den Aufsatz von Hinrich Fink-Eitel, Dialektik der Macht, in: Emil Angehrn u. a. (Hrsg.), Dialektischer Negativismus, Frankfurt/M. 1992, S. 33 ff-, bes. S. 52 ff. 222

Zukunft einmal nach gewaltsamer Erlösung verlange (360 f.). Aber schon die Körpermetapher verrät, daß diese Vorstellung viel zu sehr der mechanistischen Anthropologie eines Hobbcs verhaftet bleibt, als daß sie der komplexen Dynamik von Verinnerlichung, Abwehr und Schuldangst gerecht werden könnte. So schließt sich im Grunde genommen der Kreis, den die Feststellung eröffnet hatte, daß Canettis Idee einer unendlichen Pcrpctuicrung des Naturzustandes an einer Ausblendung zwischenmenschlicher Bindungen krankt: ebensowenig wie sich aus der sozialen Welt einfach alle affektiven Beziehungen herauslösen lassen, ohne ihren Eigensinn erheblich zu verfehlen, kann auch an der Bildung so­ zialer Massen oder der Erhaltung von Macht die Rolle einfach unterschlagen werden, die die moralischen Gefühle und Über­ zeugungen dabei übernehmen. Canetti räumt den menschlichen Subjekten ein so geringes Maß an psychischem Innenleben ein, daß nicht einmal die Instanzen der Gewissensprüfung oder der Affektkontrollc darin Platz haben können; daher muß es am Ende so scheinen, als habe zwischen den archaischen Anfängen und der Gegenwart nicht einmal die Spur einer Zivilisicrung stattgefun­

den.

IV

Nur an den wenigsten Stellen seiner Studie gibt Canetti den Blick auf Formen des sozialen Zusammenlebens frei, wie sie in einer unbestimmten Zukunft ohne jedes Nachwirken des archaischen Übcrlebenskampfes einmal vorstellbar wären. Wo er von solchen Verhältnissen redet, die ein Ende des »Reichs der Feindschaft« (329) bedeuten würden, steht im Zentrum stets die Idee der »Ver­ wandlung«. Dieser Begriff übernimmt in der Konzeption Canettis exakt dieselbe zwiespältige Rolle, die der Begriff der »Mimesis« in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno in­ nehat: er bezeichnet eine Weise des menschlichen Verhaltens, die phylogenetisch zwar auf den archaischen Impuls zurückgeht, sich durch plötzliche Anverwandlung an die Umwelt im Kampf zu behaupten (397 ff.), im Zuge der geschichtlichen Entwicklung aber schließlich zum übriggebliebenen Potential einer ästhetischen Freiheit wird. Wie die Mimesis, so steht mithin auch die Verwand­ lung handlungstheoretisch genau in der Mitte zwischen strategi22}

scher List und gestalterischem Spiel. Dieser zweiten Seite der menschlichen Verwandlungsfähigkeit größtmöglichen Raum zu geben, stellt den Kern der Vorstellung dar, in der Canetti sein Bild einer befreiten Gesellschaft umreißt: sobald einmal der An­ trieb zur Machtbildung beseitigt sein wird, soll jeder Mensch die Chance erhalten, sich durch Verstellungen und Maskierungen immer wieder in eine neue »Figur« (444) zu verwandeln. Warum in der sozialen Ermöglichung einer solchen Verwendungsfähigkeit eine Steigerung von Freiheit gesehen werden muß, ergibt sich bei Canetti aus Voraussetzungen, die nicht in seiner anthropologi­ schen Studie, sondern in den Aufzeichnungen über Die Provinz des Menschen gelegentlich Erwähnung finden: dort heißt es über das menschliche Subjekt, daß es in sich zu viele Regungen, An­ triebe und Gefühle versammle, um jemals zu einer »Einheit« gelangen zu können16. Vom menschlichen Glück sagt Canetti dementsprechend an einer Stelle, die sich aufs engste mit Gedan­ kengängen Adornos berührt, daß es in der Möglichkeit bestehe, »friedlich seine Einheit zu verlieren, und jede Regung kommt und schweigt und geht .. ,«.17 Nicht schwer ist es, zwischen dieser Vorstellung und der Idee einer spielerischen Verwandlungsfähig­ keit den Zusammenhang zu sehen, der erklärbar macht, warum hier von einer Steigerung menschlicher Freiheit gesprochen wer­ den muß: denn allein die Möglichkeit, experimentell die verschie­ densten Gestalten annehmen zu können, eröffnet dem Menschen die Freiheit, den vielfältigen und nicht selten widerstreitenden Impulsen seines Inneren öffentlich Ausdruck zu verleihen. In dieser Reihe von Überlegungen kommen Gedanken zur Gel­ tung, die stärker noch als mit der Philosophie Adornos Überein­ stimmungen mit der Lehre von Helmuth Plessner aufweisen18. Ist die enge Verwandtschaft schon dort erkennbar, wo Canetti die Angewiesenheit des Menschen auf Formen der spielerischen Ver­ wandlung betont, so erst recht an den dünngesäten Stellen, die deren Voraussetzung in bestimmten Regelungen des sozialen Ver­ kehrs umreißen: nicht anders als Plessner in einer repräsentativen

16 Elias Canetti, Aufzeichnungen 1942-198;, Münchcn/Wlen 1993 (Werk­ ausgabe), S. 19, S. 59, S. 65 f. 17 Ebd., S. 59. 18 Ich beziehe mich auf: Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.v, Frankfurt/M. 1981, S. yff. 224

Öffentlichkeit, so sieht auch Canetti die Chancen für ungezwun­ gene Maskierung und Verstellung nur in Interaktionsformen an­ gelegt, die »Schutz vor Fragen« (538) gewähren und ein hohes Maß an Distanziertheit erlauben (341). Die Gesellschaft, die beide normativ vor Augen haben, wäre eine, in der Umgangsweisen des Takts, der Diskretheit und der Ironie es jedem einzelnen er­ lauben wurden, auf experimentellen Wegen und stets nur vorüber­ gehend immer neue Identitätsmöglichkeiten auszuprobicren. Während aber bei Plessner zwischen dieser Aussicht und seinen anthropologischen Prämissen ein Verhältnis der Kontinuität be­ steht, das durch die Idee einer strukturellen Gebrochenheit des menschlichen Lebens gestiftet wird”, fehlt bei Canetti jede ver­ gleichbare Möglichkeit einer solchen internen Verknüpfung: zwi­ schen seiner anthropologischen Lehre, die auf die Behauptung einer unendlichen Perpetuierung des Naturzustands hinausläuft, und der Vision einer distanzschaffenden Öffentlichkeit existiert eine Kluft, die durch kein Argument zu überbrücken scheint. So muß sich Canetti am Ende die Frage gefallen lassen, woher denn die Kräfte in der sozialen Lebenswelt stammen sollen, die auf die Überwindung des fortgesetzten Überlebenskampfcs drängen kön­ nen. Wie soll es möglich sein, einen Raum für ungezwungene Formen der Verstellung zu schaffen, wenn doch alles gesellschaft­ liche Leben nur aus Berührungsfurcht, Tötungsabsicht und Machtstreben besteht? An einer unscheinbaren Stelle seines meisterhaften Hitler-Essays findet sich ein Gedanke, der darauf die Antwort geben könnte; er freilich ist so beschaffen, daß er mit einem einzigen Satz das ganze Theoriegebäude von Masse und Macht in sich Zusammenstürzen lassen würde. Denn dort heißt cs mit Blick auf die militärische Koalition gegen Hitler, daß sie sich aus Einsicht in die Bedeutung solcher moralischen Normen formiert habe, die es nach Auskunft der wissenschaftlichen Studie Canettis zwischen Menschen doch gar nicht geben dürfte: »Damals war man, eben von Hitler, noch dazu erzogen, in der blinden Ausführung jedes seiner Befehle die höchste Tugend zu sehen. Es gab keinen Wert mehr, der darüber stand, der Abbau aller Werte, die nach dem Ablauf sehr langer

ip Vgl. den erhellenden Aufsatz von Birgit Sandkaulen, Helmuth Plessner: »Über die Logik der Öffentlichkeit« in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1994, Heft 2,5.255-273. 22J

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Zeiträume als eine Art Gesamtgut der Menschheit anerkannt wa­ ren, war unheimlich rasch gelungen. Man kann sehr wohl sagen, daß es das Bewußtsein davon war, was die Menschheit in der erstaunlichen Koalition zum Kampf gegen Hitler vereinte. In der Verachtung dieser Werte, in der Unterschätzung ihrer Bedeu­ tung für Menschen aller Art bewies Hitler eine Blindheit ohne­ gleichen20.«

20 Elias Canetti, Hitler, nach Speer, in: ders., Die gespaltene Zukunft, a.a.O., S. 2i.

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Das Subjekt im Horizont • konfligierender Werte Zur philosophischen Anthropologie von Charles Taylor

Unter den Philosophen unserer Tage fällt Charles Taylor zunächst durch die Souveränität auf, mit der er traditionelle Grenzen zu überschreiten weiß: er ist ein im analytischen Klima Oxfords großgewordener Intellektueller, der sich den kontinentaleuropäi­ schen, zumal deutschen Traditionen philosophischen Denkens tiefer verpflichtet weiß als die meisten ihrer einheimischen Ver­ treter. Die Voraussetzung für diese einzigartige Sonderrollc bilden Eigenschaften, die den Menschen nicht weniger als das Werk aus­ zeichnen. In seiner Person vereinigt Charles Taylor alle Tugenden des Hermeneutikers; wer ihn je in der akademischen Lehre erleben konnte, weiß, was es heißen kann, sich eine fremde Position im Dialog verstehend anzueignen. An seinem theoretischen Werk aber tritt derselbe Grundzug zunächst in Gestalt eines ganz und gar unbefangenen Kosmopolitismus hervor; seine Theorie ist aus einem inneren Dialog mit den verschiedensten Kulturen philo­ sophischen Denkens erwachsen; sie haben sich in ihr als unter­ schiedliche Erfahrungsschichten niedergeschlagen. Mit dem nüchternen, demokratisch orientierten Geist der angel­ sächsischen Philosophie teilt Taylor die Verpflichtung auf einen argumentationsbezogenen Denkstil; ihm ist die klare, intersubjek­ tiv nachvollziehbare Entwicklung von Argumenten so selbstver­ ständlich das leitende Prinzip philosophischer Theoriebildung, daß seine Schriften häufig wie direkte Stellungnahmen in einem intellektuellen Streitgespräch verfaßt sind. Den ersten Anstoß zu dem philosophischen Problem, das er mit den argumentativen Mitteln der analytischen Philosophie zu lösen versucht, erhält Taylor jedoch von der französischen Tradition der Existentialphänomenologie; es ist die Frage nach der spezifischen Verfassung der Existenzweise des Menschen, die seinem Werk von Anfang an als ein innerstes Zentrum zugrunde liegt. Auf dem Weg, der mit dieser ' Fragestellung eröffnet ist, liegen die intellektuellen Begegnungen mit all den weiteren Traditionszusammenhängen, die in seine philosophische Theorie als Bildungsclemente eingehen: die Ent­ deckung des romantischen Flügels der deutschen Aufklärung, die

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Beschäftigung mit der klassischen Antike, die Vergegenwärtigung der Philosophie Hegels und schließlich die Auseinandersetzung mit der Daseinsontologie Heideggers. Alle diese Denktraditionen schließen sich im Werk Taylors heute zu dem großangclegten Projekt einer »philosophischen Anthropo­ logie« zusammen; ihre Aufgabe soll es sein, auf dem Weg einer Kritik der neuzeitlichen Philosophie die Grundzüge eines neuen Verständnisses der Existenzform des Menschen zu gewinnen. Von dem systematischen Anliegen, das mit einem solchen Projekt ver­ knüpft ist, haben die bislang auf deutsch vorliegenden Bücher Taylors schrittweise einen immer genaueren, umfassenderen Ein­ druck vermittelt. Die unter dem Titel »Erklärung und Interpre­ tation in den Wissenschaften vom Menschen« veröffentlichte Aufsatzsammlung war zunächst dazu angetan, ihn als einen Par­ teigänger der Hermeneutik im Felde der analytischen Wissen­ schaftstheorie vorzustellen1; das zweite Buch, die große Studie über Hegel, hat ihn hierzulande als einen analytisch geschulten Interpreten des deutschen Idealismus bekannt gemacht.2 Keines der beiden Bücher aber hat in mehr als nur indirekter Weise das systematische Ziel einer neuen »philosophischen Anthropologie« zum Ausdruck zu bringen vermocht, von dem Taylor sich leiten läßt. Erst die Aufsatzsammlung »Negative Freiheit?«, in der sechs Beiträge versammelt sind, die in der 1985 veröffentlichten, zwei­ bändigen Sammlung der Philosophical Papers von Charles Taylor enthalten waren, hat zum ersten Mal einen umfassenderen Ein­ blick in das systematische Anliegen Taylors gewährt? Inzwischen ist mit der großen Studie »Quellen des Selbst« auch das Buch übersetzt worden, in dem wohl am klarsten zum Ausdruck kommt, daß Taylor mit seiner philosophischen Anthropologie auch die Absicht einer therapeutischen Zeitdiagnose verknüpft.4 Um diese verschiedenen Schriften in ihrem inneren Zusammen­ hang verstehen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst der Ent-

1 Charles Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/M. 1975. 2 Charles Taylor, Hegel, Frankfurt/M. 1978. 3 Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Indivi­ dualismus, Frankfurt/M. 1988. 4 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994; in das Umfeld dieser Studie gehört auch: Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1991. 228

wicklung und Zielsetzung von Taylors Philosophie noch einmal Schritt für Schritt zu vergewissern.5

I.

Der Denkweg von Charles Taylor nimmt seinen Ausgang in einer urbanen Umwelt, die schon aufgrund ihrer kulturellen Sonderlagc die Ausbildung einer kosmopolitischen Mentalität begünstigen mußte: in seiner Heimatstadt Montreal prallen nicht nur die beiden Kulturen der französischen und der angelsächsischen Sprachwclt aufeinander, sondern leben innerhalb des zweigeteilten Sprach­ horizontes auch noch ethnische Minderheiten unterschiedlichster Herkunft nebeneinander. An den politischen Problemen, die mit dieser außergewöhnlichen Situation einhergehen, nimmt Taylor von Anfang an lebhaften Anteil; ihnen mag sich sein frühes Inter­ esse an der politischen Philosophie verdanken, sie werden in ihm mit Sicherheit ein Sensorium für die enge Verflechtung von Kultur, Sprache und persönlicher Identität geweckt haben. Als Taylor Mitte der fünfziger Jahre von Montreal nach Oxford in England übersiedelt, um hier sein Studium im intellektuellen Zentrum der sprachanalytischen Philosoplüe fortzusetzen, kommt ihm seine natürliche Zweisprachigkeit sogleich gut zustatten; sie gibt ihm die Chance, auch inmitten des angelsächsisch geprägten Milieus seinem Interesse an der französischen Nachkricgsphilosophic wei­ ter nachzugehen. Es ist vor allem die Existentialphänomenologie Merleau-Pontys, die Taylor sich mit zunehmendem Enthusiasmus anzucignen be­ ginnt; mit Unterstützung von Isaiah Berlin, der ihm bald Freund und Lehrer zugleich wird, entsteht hieraus der Plan einer existential-phänomenologisch orientierten, aber sprachanalytisch durch­ geführten Überprüfung der behavioristischen Handlungstheorie. Gleichzeitig aber treiben Taylor die politischen Interessen, die er bereits in seiner Heimatstadt ausgebildet hatte, über die Grenzen der akademischen Tätigkeit hinaus; in die Zeit seines Aufenthalts am All Souls’ College in Oxford fällt sein intellektuelles Engagc5 Einen vorzüglichen Überblick über das Gesamtwerk Taylors liefert jetzt: Hartmut Rosa, Personale Identität und soziale Praxis. Die politi­ sche Philosophie Charles Taylors, Diss.-Ms. 1997. 229

ment für die sich reorganisierende Linke in England. Gemeinsam mit Doris Lessing, Edward P. Thompson und Stuart Hall beteiligt er sich an der Redaktionsarbeit für die neugegründete Zeitschrift Universities and the New Left, die später zur New Left Review fortentwickelt wird; von diesem Organ gehen in den späten fünf­ ziger Jahren die entscheidenden Impulse für die theoretische Dis­ kussion der unabhängigen Linken in England aus.6 Aus den theoretischen Studien, mit denen Taylor sich in Oxford beschäftigt, geht das 1964 veröffentlichte Buch The Explanation of Behaviour hervor; darin sind die ersten Voraussetzungen seiner philosophischen Anthropologie implizit bereits enthalten.7 Die Grundabsicht der Untersuchung ist es, innerhalb der analytischen Philosophie den Spielraum für Handlungsmodelle zu öffnen, die nicht den empirischen Beschränkungen des Behaviorismus unter­ liegen; das damit gesetzte Ziel wird freilich heute überhaupt nur verständlich, wenn daran erinnert wird, in welchem Maße damals behavioristische Ansätze in den Sozialwissenschaften und der Philosophie zur Vorherrschaft gelangt waren. Taylor geht von der formalen Struktur aus, die alltagssprachliche Formen der Er­ klärung menschlichen Handelns besitzen; in ihnen wird der Hand­ lungsvollzug eines Individuums stets als ein Vorgang betrachtet, der auf die Erreichung eines subjektiv beabsichtigten oder ge­ wünschten Zieles gerichtet ist. Insofern sind Sätze, mit denen in der Alltagssprache Handlungen erklärt werden, ihrer Natur nach teleologisch verfaßt; sie nehmen auf die inneren Zustände eines Subjekts, seine Absichten, Wünsche oder Neigungen, Bezug, um sie als Zwecke anzuführen, denen eine bestimmte Handlung in ihrem Vollzug dient. In dem Handlungsmodell, das unserer All­ tagssprache implizit zugrunde liegt, nimmt daher das Selbstver­ ständnis des Handlungssubjekts, die Weise, in der es sich in seinen Wünschen und Absichten auf eine Situation bezieht, eine zentrale Stellung ein; dieser Aspekt menschlichen Handelns ist es nun, den Taylor auf dem Weg einer Kritik des Behaviorismus in die analy­ tische Philosophie einzubringen versucht. Allerdings unternimmt er das in seinem Buch nur in Form einer negativen Beweisführung, indem er zeigt, daß jede behavioristische Erklärung menschlichen 6 Vgl. dazu Perry Anderson, »The Left in the Fifties«, in: New Left Review 29 (1965), S. 3 ff. 7 Charles Taylor, The Explanation of Behaviour, London 1964. 2JO

1

Handelns mit Hilfe des Reiz-Reaktions-Schemas notwendig scheitern muß. Schon im Falle von höhcrentwickelten Tieren gilt für Taylor, daß Reize nicht mehr der Verhaltensreaktion als etwas objektiv Gegebenes vorausliegen, sondern überhaupt erst gemäß bestimmten Verhaltensorientierungen konstituiert werden; daher ist auch ohne die systematische Berücksichtigung der Situa­ tionswahrnehmung des Tieres - »the way the animal secs the Situation«8 - eine Erklärung seines Verhaltens nicht möglich. Das aber trifft in noch verstärktem Maße auf die Entwicklungs­ stufe menschlichen Handelns zu; hier werden alle Situationsbe­ dingungen des Handelns durch das jeweilige Selbstverständnis eines Subjekts gewissermaßen überhaupt erst geschaffen. Insofern ist das, was den behavioristischen Erklärungsansatz kennzeichnet, nämlich die objektivistische Bezugnahme auf handlungsauslö­ sende Reize, im Falle des Menschen von vornherein ausgeschlos­ sen; vielmehr muß der subjektive Verstehens- und Erlebnishori­ zont, aus dem heraus ein menschliches Subjekt seine Umwelt wahrnimmt, zu einem entscheidenden Element jeder Erklärung seines Handelns werden. Mit diesem Ergebnis nimmt Taylor innerhalb der analytischen Philosophie die Einwände bereits vorweg, die später in der Kon­ troverse um »Erklären oder Verstehen« von selten der Hermeneu­ tik gegen die Möglichkeit objektivistischer Handlungstheorien vorgebracht worden sind: Soziales Handeln ist ohne Bezugnahme auf das situationsgebundene Sclbstverständnis der handelnden Subjekte gar nicht angemessen aufzufassen; der Erklärung einer Handlung muß daher ein hermeneutisches Verstehen der jeder unmittelbaren Beobachtung entzogenen Perspektive des Handeln­ den unbedingt vorhergehen. Allerdings besteht nun das, was Tay­ lor im Anschluß an sein erstes Buch zum Schwerpunkt seiner weiteren Forschungsarbeit macht, nicht einfach in der Ausarbei­ tung der methodologischen Schlußfolgerungen, die sich aus einer solchen hermeneutischen Prämisse für die Sozialwissenschaftcn ziehen lassen. Als er in den frühen sechziger Jahren einen Ruf an die McGill-Universität annimmt und damit in seine Heimatstadt zurückkehrt, sind es zwar zunächst eher wissenschaftstheoretische Beiträge, mit denen er an die akademische Öffentlichkeit tritt; die gegenüber dem Behaviorismus vorgebrachten Einwände dienen

8 Ebd., S. 369. 231

darin als Ausgangspunkt einer breiter angelegten Auseinanderset­ zung mit dem Szientismus, deren Ergebnis es ist, daß sich in den Sozialwissenschaften prinzipiell nicht von jener hermeneutischen Dimension des menschlichen Vorverständigtseins über Situationen abstrahieren läßt. Fortan wird Taylor die Aufgabe einer solchen Kritik von szientistischen Ansätzen innerhalb der Wissenschaften nicht mehr aus den Augen verlieren, ja, sie später noch um Ge­ sichtspunkte der zeitgenössischen Theorieentwicklung ergänzen; aber seine frühen Beiträge zu diesem Themenkomplex transzen­ dieren auch schon den engen Horizont wissenschaftstheoretischer Fragen und geben als ihr untergründiges Motiv einen anderen Themenkomplex zu erkennen. Von Anfang an ist Taylors Interesse vorrangig auf die Konsequenzen gerichtet, die sich aus den her­ meneutischen Prämissen seiner Behaviorismus-Kritik für eine Analyse der existentiellen Struktur des menschlichen Daseins er­ geben; es sind eher die existentialphänomenologischen als die wissenschaftstheoretischen Implikationen, die ihn an der Herme­ neutik interessieren. Aus dieser Fragestellung aber erwächst im Laufe der Jahre ein Konzept der menschlichen Person, das die Basis der philosophischen Anthropologie Taylors ausmachen wird.

II.

Taylors Konzept der menschlichen Person versteht sich als ein Gegenentwurf zur naturalistischen Interpretation des Menschen. Unter dem Titel des »Naturalismus« faßt er solche Theorien zusammen, die die menschliche Gattung als Teil einer mechani­ stisch verstandenen Natur begreifen; ihre gemeinsame Vorausset­ zung besteht für ihn darin, alle humanspezifischen Lebensvollzüge in dem Sinn als »absolute« Eigenschaften aufzufassen, daß sie unabhängig von den Erfahrungen als Menschen als handelndem Wesen gegeben sein sollen. Demgegenüber besteht Taylor auf der konstitutiven Rolle der »Selbstinterpretation« im Vollzug des menschlichen Lebens; der Mensch ist, wie er zugespitzt sagt, »das sich selbst interpretierende Tier«.9 Von dieser Bestimmung nimmt Taylors Konzept der menschlichen Person seinen Ausgang; 9 Vgl. unter anderem Charles Taylor, »Was ist menschliches Handeln?«, in: ders., Negative Freiheit?, a.a.O., S. 9 ff.; und Charles Taylor, »Self232

sie ist in einer Analyse der evaluativen Komponenten der mensch­ lichen Identitätsbildung verankert. Mit der Kategorie der »Selbstintcrpretation« gibt Taylor den Er­ gebnissen seiner Behaviorismus-Kritik zunächst nur eine existentialphänomenologische Wendung. Jene subjektiven Wünsche und Absichten nämlich, auf die schon jede alltagssprachliche Erklärung menschlichen Handelns wie selbstverständlich Bezug nimmt, las­ sen sich auch als Formen des persönlichen Selbstvcrständnisses, eben als Deutungen eines Subjektes von sich selber, auffassen; dann aber sind solche Selbstinterpretationen in dem Sinn »konstitutiv« für ein menschliches Wesen, daß sich unabhängig von ihnen nichts über seine Handlungsabsichten aussagen läßt. Die Handlungen einer Person können wir nur in dem Maße erklären, in dem wir wissen, wie sie sich selber sieht oder interpretiert. Nun ist aller­ dings noch nicht sehr klar, was es heißen kann, daß menschlichen Wünschen die Rolle von Selbstinterpretationen zukommen soll; weder der Charakter noch der Gegenstand von Interpretationen dieser Art ist näher bestimmt. Taylor wendet sich daher in einem nächsten Schritt einer Analyse der internen Struktur von mensch­ lichen Wünschen zu; den Hintergrund seiner Überlegungen stellt die berühmte Unterscheidung zwischen »first-« und »second-order desires« dar, die Harry Frankfurt in die philosophische Dis­ kussion um den Begriff der menschlichen Person eingebracht hat.10 Frankfurt sieht als die für den Menschen konstitutive Eigenschaft die Fähigkeit an, zu den eigenen Wünschen und Bedürfnissen selbst noch einmal wertend Stellung nehmen zu können; während offenbar auch höherentwickeltc Tiere mit bestimmten Absichten oder Wünschen ausgestattet sind, kommt nur menschlichen Wesen das Vermögen zu, gegenüber diesen »first-order desires« befür­ wortende oder ablehnende, positive oder negative Wünsche, also »second-order desires«, auszubilden. Erst solche Wünsche zweiter Stufe repräsentieren, wie Taylor sich klarmacht, Selbstinterprctationen des Menschen im strengen Sinn; dabei handelt es sich um evaluative Uneile, in denen ein menschliches Subjekt seine gegeintcrpreting animals«, in: dcrs., Philosophical Papers, Bd. i, Cambridge 1985, S. 45 ff. 10 Harry Frankfurt, »Frecdom of thc will and thc concept of a person«, in: Journal of Philosophy 67 (1971) 1, S. 5-20; deutsch in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts. 1981, S. 287-302.

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benen Handlungsabsichten bewertet. Menschen zeichnen sich daher also zunächst durch die Fähigkeit zur Bewertung ihrer eigenen Absichten oder Wünsche aus. Allerdings räumt Taylor auch sofort ein, daß selbst mit dieser präzisierten These noch nicht allzuviel für ein philosophisches Konzept der Person gewonnen ist, da sich verschiedene Arten sol­ cher Selbstbewertungen bei Menschen vorfinden lassen. Wenn gefragt wird, nach welchen Gesichtspunkten ein Subjekt zwischen zwei in ihm miteinander konkurrierenden Handlungswünschen die Wahl trifft, lassen sich auf Anhieb zwei Formen der Bewertung systematisch voneinander unterscheiden: In dem einen Fall be­ vorzugt jene Person einen der beiden Wünsche bloß deswegen, weil er ihr besser oder angenehmer für sie selbst erscheint, in dem anderen Fall hingegen, weil er ihr als in sich wertvoller erscheint; dort ist es allein die faktische Anziehungskraft eines Wunsches, hier jedoch die interne Beziehung desselben Wunsches auf einen Wert, die jeweils den entscheidenden Ausschlag bei der Beurtei­ lung geben. Urteile der ersten Art nennt Taylor nun »schwache«, Urteile der zweiten Art aber »starke« Wertungen; für sein eigenes Konzept der menschlichen Person ist diese zweite Klasse von Wertung von zentraler Bedeutung. Starke Wertungen zeichnen sich für Taylor gegenüber jenen schwächeren Beurteilungsformen zunächst dadurch aus, daß sie Wünsche oder Absichten im Lichte von evaluativen Begriffen betrachten, die kontrastiv einander zugeordnet sind; Handlungs­ ziele werden hier daraufhin beurteilt, ob sie Werten entsprechen, deren Bedeutung sich jeweils nur aus der Kontraststellung zu den entsprechenden Gegenwerten ergibt. Insofern bewegt sich ein Subjekt, das seine eigenen Wünsche der Prüfung einer starken Wertung unterzieht, stets in einem sprachlichen Horizont »kon­ trastiver Charakterisierungen«: es verwendet, wie Taylor sagt11, eine »Sprache des Höherund Niedriger, des Edel und Gemein, des Mutig und Feige, des Ausgeglichenen und Zerrissenen«. Evaluative Kontrastbildungen dieser Art lassen freilich auch die zweite Besonderheit deutlich werden, durch die Taylor die starken Wer­ tungen im Gegensatz zu schwächeren Formen der Selbstbeurtei­ lung ausgezeichnet sieht. Wünschen oder Handlungszielen kön11 Vgl. Charles Taylor, »Was ist menschliches Handeln?«, in: ders., Ne­ gative Freiheit?, a.a.O., S. 22. 234

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nen ja nicht als solchen jene Eigenschaften zukommen, die im evaluativen Sprachgebrauch prinzipiell kontrastiv entgegengesetzt sind; vielmehr ist mit der Qualifizierung von bestimmten Wün­ schen mit Hilfe solcher Eigenschaftsbezeichnungen jeweils nur der Beitrag gemeint, den sie zu einer Lebenspraxis stiften, die nur als ganze durch eben jene Bezeichnungen charakterisiert werden kann. Also fragt ein Subjekt, das seine Handlungsabsichten in Form einer starken Wertung prüft, stets auch danach, welche Art von Leben es führen möchte. Der charakteristische Grundzug, durch den sich die menschliche Daseinsweise von allen anderen Lebensformen abhebt, besteht dann in dem hermeneutischen Rückbezug, den sie zu evaluativen Urteilsbildungen unterhält: Nur Menschen vollziehen und prüfen ihr Leben in einem interpretativen Horizont, der sich kumulativ aus den biographischen Ablagerungen von starken Wertungen bildet. »To be a full human agent«, heißt es bei Taylor resümierend, »is to exist in a space defined by distinctions«.12 Nun läßt aber auch diese letzte Bestimmung noch offen, wie jener Prozeß angemessen zu verstehen ist, in dem der Mensch sich die für ihn bestimmenden Werthorizonte biographisch eröffnet; nur der Inhalt von starken Wertungen, nicht aber das Wie ihres Vollzuges ist bislang geklärt. Taylor nähert sich einer Lösung dieses Problems auf dem Umweg einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden Konzeptionen der menschlichen Person; für ihn, dessen philosophische Ausgangs­ situation ja entscheidend durch die Konkurrenz von angelsächsi­ schen und kontinentaleuropäischen Traditionen geprägt ist, stellen der Utilitarismus und der Existentialismus die beiden bedeutsam­ sten Herausforderungen dar. Der Einwand gegen den Utilitaris­ mus ergibt sich direkt als eine Schlußfolgerung aus der zitierten Grundbestimmung: Wenn der Mensch sich durch die Eigenschaft auszeichnet, sein Leben in einem ständigen Rückbezug auf starke Wertungen zu deuten, dann kann er nicht zureichend als ein bloß güterabwägendes Wesen aufgefaßt werden; vielmehr ist auch jede Kalkulation von Handlungspräferenzen ihrerseits noch in einen Rahmen übergreifender Wertsetzungen eingelassen, der jeweils vorgängig festlegt, was dem Subjekt sich überhaupt zur Entschei­ dung aufdrängt. 12 Charles Taylor, »Introduction«, in: ders., Philosophical Papers, Bd. i, a.a.O., S. 3. 235

Schwerer muß Taylor die Abgrenzung gegenüber dem Begriff der menschlichen Person fallen, der in der existentialphänomenologischcn Tradition angelegt ist. Sartre sieht die menschliche Existenz ebenfalls in einen Horizont von Bedeutsamkeiten eingebettet, der aus individuellen Akten der Selbstinterpretation hervorgegangen ist: der Mensch vollzieht sein Leben im Lichte von existentiellen Entwürfen, zu denen er sich stets aufs neue entschließen muß. Mit den »starken Wertungen« teilen solche Seinsentwürfc den evaluativen Charakter; auch sie sind wertend auf das Ganze einer in­ dividuellen Existenz bezogen. Die Hervorbringung von existen­ tiellen Entwürfen wird im Rahmen der Ontologie Sartres nun freilich als ein Vorgang der »radikalen Wahl« begriffen; an. dieser Vorstellung setzt die Argumentation Taylors kritisch an.1. Seine Einwände beruhen auf der These, daß starke Wertungen als sprachlich verfaßte Akte der Artikulation verstanden werden müssen. Ein Vorgang der »radikalen Wahl« kann jene individuelle Erzeugung von Werthorizonten allein schon deswegen nicht sein, weil jedes Subjekt sich immer aus einem Horizont bereits voll­ zogener Wertsetzungen heraus versteht, die zusammengenommen seine ihm gar nicht frei verfügbare Identität ausmachen; in der evaluativen Umdeutung von Sachverhalten vollzieht sich vielmehr die Artikulation eines biographisch gewachsenen Gefühls »dafür, was wertvoll ist, höher, ausgeglichener oder befriedigender«.15 Auf die individuelle Lebensgeschichte bleibt daher jede neue Wertung dadurch rückbezogen, daß sie in einem interpretativen Rahmen aufbricht, der sich ja gerade aus den evaluativen Urteilen der je eigenen Vergangenheit zusammensetzt; mit der sozialen Gemein­ schaft aber sind solche subjektiven Neubewertungen nun dadurch innerlich verwoben, daß sie sich als Artikulationen von bislang unbestimmten Gefühlen sprachlicher Ausdrücke zu bedienen ha­ ben, die die Subjekte einer Gruppe zunächst einmal untereinander verstehen können müssen. Starke Wertungen sind somit in der Vertikalen auf die individuelle Lebensgeschichte und in der Ho­ rizontalen auf die soziale Sprachgemeinschaft zurückbezogen; sie stellen alles andere als die Akte einer Wahlhandlung dar, in denen ein aus jedem sozialen Kontext herausgelöstes Subjekt frei über die Bewertung seiner Existenz zu entscheiden vermag. Allerdings

13 Charles Taylor, »Was ist menschliches Handeln?«, in: ders., Negative Freiheit?, a.a.O., S. 38. zj6

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verlangt nun die bislang nur vage umrissene Gegenthese, daß solche evaluativen Deutungsvorgänge angemessen allein als »Ar­ tikulationen« aufzufassen sind, die Entwicklung einer Sprachtheoric, die jenen sprachlichen Vorgang selbst näher zu beschreiben erlaubt. Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich das zweite Thema, dem Taylor sich im Rahmen seiner philosophischen An­ thropologie zuwendet; es ist in einer Analyse der expressiven Dimension der menschlichen Sprache zentriert.

111.

Die Kategorien des »Ausdrucks« oder der »Artikulation« stellen für Taylor von Anbeginn an einen Schlüssel für seine Theorie der menschlichen Sprache dar. Noch in die Frühphasc der sechziger Jahre muß seine erste Begegnung mit jener Thcorietradition ge­ fallen sein, in der das Modell des Ausdrucks zum Bezugspunkt einer ganzen Anthropologie geworden war; sein Freund und Leh­ rer Isaiah Berlin hatte damals in einigen berühmt gewordenen Aufsätzen die geistesgeschichtliche These entwickelt, daß sich als eine Art von romantischer Unterströmung schon früh eine Gegenbewegung gegen den Rationalismus der Aufklärung heraus­ gebildet hat, deren geistige Gemeinsamkeit in einer solchen Aus­ drucksanthropologie bestand.14 In dieser »expressivistischen« Tradition, deren intellektueller Wegbereiter Vico war und die in Flerder ihren bedeutsamsten Vertreter fand, werden alle Handlungsäußerungcn des Menschen als Ausdrucksgestaltcn eines ihm je eigenen Wesens gedeutet; es ist nicht länger das in der Aufklä­ rung vorherrschende Modell einer zweckrationalen Realisierung von Zielen, sondern das Modell der expressiven Verwirklichung von inneren Seelcnzuständen, der Selbstverwirklichung also, das den Bezugsrahmen für eine Analyse menschlicher Handlungsvoll­ züge abgeben soll. Von dem anthropologischen Grundgedanken, dem damit der Weg bereitet ist, scheint Taylor vom ersten Augen­ 14 Vgl. Isaiah Berlin, »Herderand the Enlightenment«, in: E. Wassermann (Hg.), Aspects of the Eighteenth Century, Baltimore 196$ (später in: ders., Vico and Herder, London und New York 1976); ders., »Die Gcgcnaufklärung«, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideen­ geschichte, Frankfurt/M. 1982, S. 6} ff.

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blick an fasziniert gewesen zu sein; dem mag entgegengekommen sein, daß auch Merleau-Ponty sich in seinen späten Schriften mehr und mehr von Motiven einer Ausdrucksanthropologie hatte leiten lassen. In jedem Fall beeinflussen Taylor die geistesge­ schichtlichen Studien Isaiah Berlins so stark, daß er sich bald daranmacht, zentrale Motive jener expressivistischen Tradition in den gedanklichen Rahmen seiner eigenen Theorie einzuarbei­ ten. Den ersten Schritt auf diesem Weg stellt die in den späten sechziger Jahren aufgenommene Arbeit an einer Gesamtdarstel­ lung der Philosophie Hegels dar; in der umfassenden Studie, die daraus hervorgeht, wird das romantische Modell des Ausdrucks als eine der intellektuellen Quellen vorgestellt, aus denen der idealistische Begriff des Geistes seine kategoriellen Voraussetzun­ gen bezieht. Taylor läßt Hegel als den einzigen Denker seiner Zeit erscheinen, der philosophisch die Kraft besaß, die romantische Idee der Selbstverwirklichung mit den moralischen Forderungen der Kantischen Freiheitslehre gedanklich zur Synthese zu bringen; im Begriff eines sich stufenweise objektivierenden Geistes hat er nämlich das Ausdrucksgeschehen so umfassend zur Bewegungs­ form aller Seinsprozesse gemacht, daß sich am Ende die indivi­ duelle Autonomie als die höchste Stufe im Prozeß der Selbst­ verwirklichung des Menschen begreifbar machen läßt. Von dieser Hegeldeutung aus führt nun über den Gedanken, daß unter nach­ metaphysischen Bedingungen allein noch der Begriff der mensch­ lichen Sprache die Nachfolge jenes Begriffes des Geistes anzu­ treten vermag15, ein direkter Weg in die Sprachphilosophie Tay­ lors. In seinen Überlegungen schließt Taylor an die sprachphilosophi­ sche Tradition an, die Herder, Humboldt und Hamann ins Leben gerufen haben, indem sie das romantische Modell des Ausdrucks für ein Verständnis der menschlichen Sprache fruchtbar zu machen versuchten; aber auch diese Konzeption, der er ironisch den Na­ men »triple-H thcory« gibt, wird von ihm zunächst nur auf dem negativen Weg einer Kritik von konkurrierenden Ansätzen einge­ führt. Das, was er mit Bezug auf das Verständnis der menschlichen Person »Naturalismus« genannt hatte, spiegelt sich innerhalb der Sprachtheorie in der Auffassung der Spache als ein bloßes Mittel

■5 Vgl. vor allem Charles Taylor, »Language and Human Nature«, in: ders., PhilosophicalPapers, Bd. 1, a.a.O., S. 215 ff., besonders S. 234 ff. 238

der Bezeichnung wider. Von Hobbcs über Locke bis hin zu Frcge reicht die sprachphilosophische Tradition, in der die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke unter Bezug auf ihre weltabbildende Funktion bestimmt worden ist: die Aufgabe der Sprache wird stets darin gesehen, eine Welt zu repräsentieren, die ihrerseits unabhän­ gig von den Erfahrungen des Menschen gegeben ist. Zwar ist auf dem Weg, den diese naturalistische Tradition bis in die Gegenwart genommen hat, unser Verständnis der Sprache erheblich erweitert worden; spätestens die Schriften von Frege haben zu Bewußtsein gebracht, daß es nicht einzelne Wörter, sondern nur die von einem Sprecher gebildeten Sätze im ganzen sind, in denen die sprachliche rungen haben, wie Taylor zeigt, den mit der Repräsentationsvor­ stellung gesetzten Rahmen der naturalistischen Sprachkonzeption nie wirklich durchbrochen; vielmehr läßt sich noch an den wahrhcitskonditionalen Bedeutungstheorien, in denen die Einsichten Freges heute fortcntwickelt werden, klarmachen, daß die Bedeu­ tung grammatisch geregelter Sätze bis in die jüngste Vergangenheit hinein allein unter dem Gesichtspunkt der weltabbildenden Funk­ tion der Sprache bestimmt wird.16 Dabei bleibt aber die Tatsache theoretisch unberücksichtigt, daß eine sprachliche Äußerung dann überhaupt nur angemessen zu verstehen ist, wenn zugleich mit­ vollzogen wird, unter welcher Perspektive der Sprecher den von ihm bezeichneten Sachverhalt selber sieht oder deutet; jeder sprachlichen Bezeichnung eines Gegenstandes liegt nämlich ihrer­ seits eine Erschließung der Realität als eine uns je spezifisch ge­ gebene Wirklichkeit zugrunde. In der Sprache bringt der Mensch daher immer auch zum Ausdruck, welche Sicht er von der Welt besitzt; auf diese welterschließende Funktion der Sprache stützt Taylor nun den Versuch, seinen Begriff einer menschlichen Person sprachphilosophisch zu vertiefen. Der Sprachphilosophie Humboldts und Herders entnimmt Taylor das Modell, anhand dessen sich die Funktion der Sprache als ein Ausdrucksmedium erläutern läßt: die Sprache wird als ein sub­ jektübergreifendes Gewebe vorgcstellt, das sich in der Praxis einer expressiven Sprachverwendung zugleich erhält und erneuert. Be­ reits Humboldt unterscheidet, wie später Saussure, zwischen der 16 Vgl. Charles Taylor, »Bedcutungstheorien«, in: ders., Negative Frei­ heit?, a.a.O., S. 52 ff., besonders S. 58 ff. 239

Hintergrundexistenz der Sprache als ganzer, ergon, und der akti­ ven Realisierung jenes gewebeartigen Hintergrunds in der Rede­ praxis, energeia. Die ganzheitliche Struktur der Sprache gibt dem Subjekt einen grammatisch geregelten Rahmen vor, innerhalb des­ sen cs sich in der Praxis seiner Rede bewegen kann; er macht von dem unüberblickbaren, nie vollständig verfügbaren Sprachgewebc Gebrauch, um unbestimmt Gefühltes oder Gedachtes zu artiku­ lieren und damit sich selber Klarheit zu verschaffen, um durch die Offenbarung von Innerpsychischem eine interpersonelle Bezie­ hung zu eröffnen oder um schließlich die evaluativen Maßstäbe seines eigenen Handelns zu formulieren und zu überprüfen.17 Allen diesen Verwendungsweisen der Sprache ist ihr welterschlie­ ßender oder, wie Taylor auch sagt, »offenbarender« Charakter gemeinsam: jedesmal erschließt ein Subjekt etwas an der Welt, indem es sich sprachlich artikuliert. Welterschließung ist insofern bloß die andere Seite jenes Prozesses, in dem ein Subjekt seine inneren, ihm nur unklar verfügbaren Zustände oder Erlebnisse mit Hilfe der Sprache öffentlich zum Ausdruck bringt. Nun ist die kreative Fähigkeit eines Subjekts dabei um so stärker gefordert, je weniger sich innerhalb seiner Sprachgemeinschaft schon die sprachlichen Formulierungen für das finden lassen, was es zu artikulieren versucht. Denn die Praxis seiner expressiven Rede ist nicht allein durch den grammatischen Rahmen der Spra­ che insgesamt, sondern stets auch durch die Sprachtradition der besonderen Gemeinschaft eingeschränkt, in die es hineinwächst. In der Sprachtradition einer sozialen Gruppe sind die sprachlichen Ausdrücke, mit deren Hilfe sich ihre Mitglieder von den Mit­ gliedern anderer Gruppen unterscheiden können, zu stabilen Co­ des geronnen und auf Dauer gestellt; da solche expressiven Selbst­ beschreibungen nur auf dem Weg terminologischer Kontrastbil­ dungen möglich sind, setzt sich die Sprache einer Gemeinschaft aus einer Reihe von »kontrastiven Charakterisierungen« zusam­ men, die es erlauben, die kollektive Identität in moralischer, evaluativer und kognitiver Hinsicht zum Ausdruck zu bringen. Sprachliche Traditionen sind in diesem Sinne die geronnenen Re­ sultate von intersubjektiven Bemühungen um die Artikulation gemeinschaftlich geteilter Empfindungen und Gefühle. Sobald 17 Das sind die drei expressiven Sprachfunktionen, die Taylor in seinem Aufsatz über »Bedeutungstheorien« unterscheidet; vg). ebd. 240

aber nun ein Subjekt in sich Gedanken oder Regungen verspürt, für die jener sprachliche Traditionszusammenhang die angemes­ senen Ausdrucksmittel nicht bercithält, ist es darauf angewiesen, die Grenzen eines kollektiv tradierten Sprachhorizonts innovativ zu überschreiten, um sich verständlich machen zu können. So erweitert sich durch die expressive Redepraxis des einzelnen schrittweise das Ausdruckspotential einer gemeinschaftlichen Sprache. Genauso verhält es sich aber auch mit dem Typ von Artikulation, den Taylor als den individuellen Vollzug einer starken Wertung bezeichnet hatte. Subjekte überprüfen ihr Leben, indem sie Wer­ tungen artikulieren, die in der sprachlichen Tradition ihrer sozialen Gemeinschaft als Ausdrucksform einer kollektiven Identität an­ gelegt sind: in dem Augenblick, in dem sie jedoch solche Wertempfindungen zum Ausdruck bringen wollen, für die der evaluative Wortschatz fehlt, müssen sie den intersubjektiv geteilten Sprach­ horizont überschreiten und neue Wertungen kreativ hervorbrin­ gen. Allerdings können sich die evaluativen Interpretationen, in deren Licht Menschen ihr Leben auf innovative Weise bewerten, auch nie vollständig aus dem Werthorizont ihrer sozialen Gemein­ schaft herauslösen: stets bleiben solche Wertungen auf die Unter­ stützung einer kollektiv geteilten Lebensform angewiesen. Das ist das Thema, dem Taylor in seinen Überlegungen zur Situation der zeitgenössischen Ethik nachgeht; sie machen den dritten Teil der philosophischen Anthropologie aus, auf die hin sein Werk angelegt ist.

IV.

Die theoretischen Voraussetzungen der Ethik Taylors ergeben sich aus Schlußfolgerungen seiner Konzeption der menschlichen Per­ son; aber es sind Fragen der Politik, die ihn ins Gebiet der prakti­ schen Philosophie geführt haben. Das politische Engagement, das ihn schon in England für die unabhängige Linke Partei ergreifen ließ, hat ihn auch nach der Rückkehr in sein Heimatland nicht mehr verlassen; er nimmt am Aufbau der ersten sozialdemokrati­ schen Partei in Kanada praktisch Anteil, wird schnell einer ihrer intellektuellen Wortführer und ist an den folgenreichen Wahl­ kämpfen der späten sechziger Jahre selbst aktiv beteiligt. Die 241

politischen Ideen, für die Taylor sich in jenen Tagen einsetzt und von denen er auch bis heute nicht gelassen hat, entstammen dem breiten Traditionsstrom des demokratischen Sozialismus; sie nah­ men freilich in seinem Denken einen stärker rousseauistischen, an Vorstellungen einer egalitären Gemeinschaft orientierten Charak­ ter an. Aus der intellektuellen Aufgabe, die sich mit dem öffentlichen Engagement für diese politischen Überzeugungen stellt, sind seine Beiträge zur zeitgenössischen Ethik erwachsen. In ihnen verfolgt Taylor das Ziel, die philosophischen Voraussetzungen zu klären, unter denen heute die Idee einer egalitären Gemeinschaft politisch noch zu verteidigen ist; auf seine Konzeption der menschlichen Person sind sie dadurch zurückbezogen, daß sie in einer Kritik des neuzeitlichen Individualismus verankert sind. Taylor geht von der Überzeugung aus, daß den gcltungsmächtigsten Traditionen der neuzeitlichen Ethik ein falsches Konzept der menschlichen Person zugrunde liegt; in die kategorischen Prämis­ sen, die die Vertragstheorien, der Utilitarismus und der Kantianismus voraussetzen, ist die atomistische Illusion vereinzelter, aus allen gesellschaftlichen Bindungen herausgelöster Individuen ein­ gelassen.18 Stets wird in diesen Ansätzen mit Subjekten gerechnet, die vor aller Vergesellschaftung zur zweckrationalen Wahrneh­ mung ihrer Interessen befähigt sind und zur Wahl ihrer prakti­ schen Ziele auf monologischem Wege gelangen; als das ethische Grundproblem erweist sich in einem solchen atomistischen Rah­ men dann die Vereinbarkeit der Willkürfreiheit eines jeden mit der Willkürfreiheit aller anderen. Für Taylor ergibt sich der zentrale Einwand gegen diese atomistische Tradition nun bereits aus den theoretischen Implikationen, die sein eigenes Personenkonzept enthält: Wenn menschliche Subjekte nur auf dem Weg sprachlicher Interaktionen ihre Interessen überhaupt artikulieren können und dementsprechend allein in kommunikativen Beziehungen eine personale Identität aufbauen, dann dürfen sie innerhalb der Ethik 18 Vgl. vor allem Charles Taylor, »Atomism«, in: ders., Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge 1985, S. 187 ff.; ders., »Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit«, in: ders., Negative Freiheit?, a.a.O., S. 145 ff. Michael Sandel, ein Schüler Taylors, hat diese Kritik des Atomismus in einem vorzüglichen Buch auf die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls angewandt: Michael J. Sandel, Liberaltsm and the Limits ofJustice, Cambridge, Mass. 1982. 242

nicht kategorial als vorgesellschaftliche Wesen aufgefaßt werden; vielmehr stellt der intersubjektive Rahmen derjenigen sozialen Gemeinschaft, innerhalb deren eine Person aufwächst, selber einen Zusammenhang dar, dessen Erhaltungsbcdingungcn jede ethische Theorie konzeptuell sichern muß. Nicht die Berücksichtigung der Willkürfreiheit des einzelnen, sondern der Schutz der Integrität von Gemeinschaftsbeziehungen macht daher das Grundproblem einer zeitgenössischen Ethik aus. An dieser Stelle seiner Argumentation hat Taylor vor der Wahl zwischen einem intersubjektivitätstheoretischen Prozcduralismus und einer teleologischen Gemeinschaftsethik gestanden. Die for­ malistische Alternative hätte für die Fortentwicklung seiner Kritik des ethischen Atomismus bedeutet, aus der Mannigfaltigkeit von konkreten Lebensformen eine kommunikative Prozedur der Be­ gründung von Normen herauszuheben, die als ein universales Prinzip der Gemeinschaftsbildung ethisch gerechtfertigt werden kann; die teleologische Alternative hingegen verlangt, die Idee einer solidarischen Gemeinschaft als ein menschliches Gut vorzu­ stellen, von dem jeweils auf dem Weg einer reflexiven Vergegen­ wärtigung existierender Sozialbindungen gezeigt werden kann, daß es im Interesse der Mitglieder einer konkreten Gesellschaft liegen muß. Beide Alternativen stimmen in der Kritik des ethi­ schen Atomismus so weit überein, daß sie es gemeinsam als die primäre Aufgabe einer zeitgenössischen Ethik ansehen, den inter­ subjektiven Lebenszusammenhang kommunikativ aufeinander angewiesener Subjekte unter Schutz zu stellen; während jedoch der erste Lösungsansatz dieses intersubjektivitätstheoretische Grundmotiv durch das kantische Mittel der Formalisierung in ein universal rechtfertigungsfähiges Prinzip verwandeln will, ver­ zichtet der zweite Lösungsansatz auf jeden universalistischen Be­ gründungsanspruch, indem er dasselbe Motiv hermeneutisch als das sittliche Element eines historisch bereits eingespielten Tradi­ tionszusammenhangs zu begreifen versucht. Taylor entscheidet sich gegen die Alternative eines intersubjektivitätstheorctischen Prozcduralismus, mit Argumenten, die wiederum seiner Konzep­ tion der menschlichen Person entstammen: Weil wir als mensch­ liche Wesen gar nicht anders können als uns stets schon im Lichte von starken Wertungen selbst zu verstehen, ist für uns jene ex­ zentrische Position prinzipiell nicht erreichbar, von der aus wir kulturübergreifend eine bestimmte Prozedur normativ auszeich243

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nen könnten; vielmehr ist jede Auszeichnung dieser Art ihrerseits immer schon in ein übergreifendes Verständnis des richtigen Le­ bens eingebunden, das dem normativen Traditionszusammenhang der besonderen Kultur entstammt, der wir selbst angeboren.” Die Ablehnung der prozeduralistischen Alternative verlangt von Taylor nun umgekehrt den Entwurf einer teleologischen Gemein­ schaftsethik. Dazu stellen einige seiner jüngsten Aufsätze einen ersten Ansatz dar; mit ihnen bewegt er sich im Horizont jener sozialphilosophischen Position, die in den USA heute als »com­ munitarianism« bezeichnet wird. Innerhalb dieser intellektuellen Bewegung, deren geistiges Fundament die Orientierung an Idealen einer solidarischen Gemeinschaft ausmacht, bildet Taylors Theorie den progressiven Pol eines politisch breitgefächerten Spektrums.20 Zwar ist er ebenfalls davon überzeugt, daß sich nur auf dem Weg einer hermeneutischen Vergegenwärtigung von bereits existieren­ den Sozialbindungen die Gemeinschaftsideale als ein primäres Gut menschlicher Lebenszusammenhänge rechtfertigen läßt; insofern ist auch er, wie alle »Communitarians«, vom Neoaristotelismus geprägt. Aber Taylor rechnet in seiner Ethik nicht nur die Idee einer Gleichheit unter den Menschen, sondern auch die Gemcinschaftsidee zu den primären Gütern und glaubt überdies, daß innerhalb einer Gesellschaft nur in Form eines rationalen Diskur­ ses über die Rangfolge solch ethisch erstrebenswerter Güter ent­ schieden werden kann. Einen vorbereitenden Beitrag zu einem solchen Diskurs stellen die zeitdiagnostischen Überlegungen dar, 19 Vgl. Charles Taylor, »Die Motive einer Verfahrensethik«, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit, Frankfurt/M. 1986, S. 101 ff.; ders., »Sprache und Gesellschaft«, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ • Theorie des kommunikativen Handelns*, Frankfurt/M. 1986, S. 35 ff. Auf Taylors Einwände gegen den Prozeduralismus hat Jürgen Haber­ mas inzwischen reagiert: Jürgen Habermas, »Entgegnung«, in: cbd., S. 327 ff., bes. S. 328 ff. 20 Zur internen Differenzierung des »Communitarianism« vgl. die Dis­ kussion zwischen Richard Bernstein und Richard Rorty in: Political Theory 15 (1987), S. 538 ff.; dort ebenfalls: John R. Wallach, »Liberais, Communitarians, and the Tasks of Political Theory«, S. 581 ff. Einen vorzüglichen Gesamtüberblick über diese internen Differenzierungen bietet jetzt: Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994. 244

in die seine philosophische Anthropologie am Ende mündet. Der Aufsatz über die »Legitimationskrise«, der sich in dem Sammel­ band »Negative Freiheit?« findet, gibt einen Eindruck von der hermeneutischen Kraft, mit der Charles Taylor uns über die in­ tellektuellen Widersprüche der Gegenwart aufzuklären vermag; er stellt hier die instrumentalistische Orientierung an Effektivitätsge­ sichtspunkten der romantischen Orientierung an Werten der Selbstverwirklichung als zwei Einstellungsmustcr gegenüber, die in der Selbstinterprctation der Mitglieder hochentwickelter Ge­ sellschaften so miteinander in Konflikt geraten, daß das Vertrauen in die kulturelle Legitimität der Moderne allmählich zu schwinden droht.21 Nicht falsch wäre es, in den Umrissen dieser Zeitdiagnosc den Weg vorgezeichnet zu finden, den eine romantisch inspirierte Kapitalismuskritik unter zeitgenössischen Bedingungen einzu­ schlagen hätte.

V.

Inzwischen hat Taylor seine Zeitdiagnose bis zu einem Punkt weiterentwickelt22, an dem sich abzuzeichnen beginnt, inwiefern seine ethischen Überlegungen auch als therapeutische Antwort auf die Pathologien der Moderne verstanden werden müssen: der Versuch, mit Hilfe einer philosophischen Anthropologie den un­ hintergehbaren Werthorizont menschlichen Lebens freizulcgen, hat das Ziel, der ethischen Verarmung des modernen Menschen entgegenzusteuern. Allerdings läßt dieses allgemeine Programm verschiedene Möglichkeiten der Auslegung zu, zwischen denen innerhalb der neueren Schriften eine gewisse Spannung besteht; drei alternative Wege eröffnen sich, wenn das Werk Taylors heute daraufhin befragt wird, wie das ethische Dilemma der Moderne durch eine philosophische Anthropologie korrigiert werden soll: a) in der Schrift »Ethics of Authenticity« scheint die therapeuti­ sche Lösung, von der sich Taylor eine ethische Korrektur der 21 Vgl. auch die zeitdiagnostisch zugespitzte Zusammenfassung der gro­ ßen Hegel-Studie: Charles Taylor, Hegel and Modem Society, Cam­ bridge 1970. 22 Ich beziehe mich hier zunächst vor allem auf: Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O.

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t-

Krise der Moderne erhofft, eine intersubjektivitätstheoretische Neudeutung des Authentitizitätsideals zu sein. Den Ausgangs­ punkt dieser ersten Alternative stellt die zcitdiagnostische These dar, daß das moderne Ideal der Authentizität inzwischen durch einseitige Auslegungen im Geiste Nietzsches eine Form ange­ nommen hat, in der allein das subjektive Elemente der ästhe­ tischen Neuschöpfung betont wird; daher, so folgert Taylor, wachsen heute mit der allgemeinen Orientierung an Selbstver­ wirklichung die Tendenzen, sich im Vollzug des eigenen Lebens nur noch individualistisch zu verstehen. Um diesem Individua­ lismus entgegenwirken zu können, bemüht sich Taylor in seiner Schrift nun um eine An von rettender Hermeneutik der Ge­ meinschaftsbezüge, in die das Ideal der Authentizität ursprüng­ lich einmal eingelagert war: der Nachweis, daß der Prozeß der Selbstverwirklichung sich nicht nur stets schon in Dialogform vollzieht, sondern auch auf kollektive Sinnhorizonte angewie­ sen ist, soll die Verschränkung von Authentizität und Gemeinschaftlichkeit zu Bewußtsein bringen. Somit besteht dieser erste Lösungsweg Taylors in dem Versuch, den Individualismus der Moderne durch eine philosophische Anthropologie zu korri­ gieren, die die kommunikativen Voraussetzungen aller Prozesse der Selbstverwirklichung in Erinnerung ruft. b) In einem ungelösten Verhältnis zu diesem ersten Vorschlag steht die therapeutische Lösung, die Taylor in seiner hermeneutischen Rekonstruktion der Quellen des Selbst zu empfehlen scheint. Den Ausgangspunkt stellt hier die Diagnose dar, daß sich das neuzeitliche Selbstverständnis von Subjektivität aus drei selb­ ständigen Wertquellcn speist: erstens ist die Moderne durch jene erkenntnistheoretische Haltung gekennzeichnet, die Taylor schon in seinen frühen Studien »naturalistisch« genannt hatte; in diesem Zusammenhang ist damit die Einstellung gemeint, nach der die menschlichen Subjekte gefühlslose, »punktförmige« Wesen darstellen, die ihrer Umwelt mit der Absicht der instru­ mentellen Verfügung distanziert gegenüberstehen. Dieser Wert­ überzeugung, die in der normativen Auszeichnung der instru­ mentellen Vernunft besteht, steht eine zweite Einstellung gegen­ über, die Taylor im Anschluß an Isaiah Berlin »Expressivismus« nennt; damit wird jene romantische Tradition bezeichnet, die eine ethische Idee von Selbstverwirklichung entwickelte, in der gerade die Überwindung der Trennung von Natur und Gemein-

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schäft zum Ziel des menschlichen Lebens gemacht wurde. Als dritte Quelle des neuzeitlichen Selbstverständnisses sieht Taylor schließlich jene Strömungen an, in der der Theismus der vor­ modernen Kultur in revidierter Form überlebt hat; zentral für diese ethische Einstellung ist die Überzeugung, daß uns in unserer natürlichen Umwelt ein objektiver, unverfügbarer Sinn­ horizont vorgegeben ist. Taylor vertritt nun die These, daß jede dieser Wertquellen selbstzerstörerischc Konsequenzen hervor­ bringt, wenn sie allein zum allgemeinen Bezugspunkt unseres Selbstvcrständnisses wird, insofern besteht die therapeutische Heilung unserer pathologischen Situation in dem Versuch, alle drei Wertquellen so vollständig zu artikulieren, daß sie mitein­ ander in ein Verhältnis der wechselseitigen Bereicherung treten. Es ist leicht zu sehen, daß dieser zweite Vorschlag auf der Idee beruht, daß nur einer unverzerrten Artikulation aller Dimen­ sionen unserer Identität die normative Kraft der Versöhnung zukommt. c) Wird in dieser zweiten Lösung als Ursache für die Krise der Moderne ein Zustand angesehen, in dem wesentliche Quellen unseres Selbstverständnisses unartikuliert bleiben, so gilt in der dritten Lösung als die eigentliche Ursache eine allgemeine Ver­ gessenheit von Transzendenz. In den Quellen des Selbst findet sich nämlich auch eine gewisse Tendenz, als das zentrale Di­ lemma der modernen Kultur den Verlust übergreifender, als objektiv erlebter Sinnhorizonte anzusehen: was zum grenzen­ losen Individualismus unserer Tage geführt hat, ist die Unfä­ higkeit der modernen Kultur, Anzeichen von Transzendenz in der Natur wahrzunehmen. Insofern besteht die ethische Theo­ rie, die Taylor im Rahmen dieser Überlegung vorschlägt, in dem Versuch, unsere Imagination mit Hilfe von Musik und Dichtung erneut für objektive Bedeutungshorizonte zu öffnen. Zwischen diesen drei ethischen Ideen zeichnet sich heute im Werk von Taylor ein Verhältnis der ungelösten Spannung ab: sowohl für den Kommunitarismus der ersten Lösung, für das Artikulations­ modell der zweiten Lösung als schließlich auch für den Theismus der dritten Lösung finden sich hinreichend Belegstellen in den letzten Schriften. Es bleibt daher abzuwarten, in welcher Richtung Taylor seine Theorie fortentwickeln wird, um zu sehen, wie seine philosophische Anthropologie als normative Basis einer Theorie der Krise der Moderne wirksam werden kann.

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Eine Gesellschaft ohne Demütigung? Zu Avishai Margalits Entwurf einer

»Politik der Würde«1

Wer in den letzten Jahren die Entwicklung der politischen Philo­ sophie aufmerksam verfolgt hat, konnte Zeuge eines jener theo­ retischen Prozesse werden, in dem sich mit zentralen Begriffen allmählich auch die normativen Orientierungen verwandeln. Bis in die späten achtziger Jahre hatten die Vorherrschaft des Marxismus in Europa und die breite Wirkung von Rawls in den USA dafür gesorgt, daß es über das leitende Prinzip einer normativen Theorie der politischen Ordnung keine Zweifel geben konnte; bei allen Differenzen im einzelnen bestand Einigkeit in der Forderung, solche sozialen oder ökonomischen Ungleichheiten zu beseitigen, die mit vernünftigen Gründen nicht zu rechtfertigen waren2. An die Stelle dieser einflußreichen Idee von Gerechtigkeit, die sich politisch als Ausdruck der sozialdemokratischen Epoche begreifen läßt, scheint nun seit geraumer Zeit eine neue Vorstellung zu treten, die politisch zunächst viel weniger eindeutig wirkt: nicht mehr die Beseitigung von Ungleichheit stellt hier scheinbar das normative Ziel dar, sondern die Vermeidung von Entwürdigung oder Mißachtung, nicht mehr »Gleichvertcilung« oder »Güter­ gleichheit«, sondern »Würde« oder »Respekt« bilden ihre zentra­ len Kategorien. In einer schlagwortartigen Formulierung, die schnell paradigmatische Bedeutung erlangen dürfte, hat Nancy Fraser diesen Wandlungsprozeß als einen Übergang von der Idee der »redistribution« zur Vorstellung von »recognition« be­ zeichnet: während mit jenem ersten Begriff eine Vision von Ge­ rechtigkeit verknüpft ist, die durch Umverteilung von freiheits­ verbürgenden Gütern auf die Herstellung sozialer Gleichheit zielt,

1 Avishai Margalit, Politik der Würde, a. d. Amerik. v. Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein, Berlin 1997 (alle im folgenden Text in Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). 2 Einen Beleg für diese These stellt etwa die Selbstverständlichkeit dar, mit der Will Kymlicka seinen vorzüglichen Überblick über die »Politische Philosophie der Gegenwart« am Leitfaden der Idee der Gleichheit vor­ nimmt: vgl. W. Kymlicka, Politische Philosophie heute, Frankfurt/M./ New York 1996, Kap. 1.

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werden im zweiten Begriff die Bedingungen einer gerechten Ge­ sellschaft durch das Ziel einer Anerkennung der individuellen Würde aller einzelnen definiert3. Etwas ähnliches hat Albert O. Hirschman vor Augen, wenn er eine kategoriale Unterschei­ dung vorschlägt, mit der sich eine zentrale Tendenz der politischen Kultur unserer Gegenwart kennzeichnen lassen soll: daß nämlich die sozialen Auseinandersetzungen heute in wachsendem Maße den Charakter von »unteilbaren« Konflikten annehmen, die sich im Unterschied zu »teilbaren« Konflikten auf Güter beziehen, deren Charakter eine Verteilung nach Gesichtspunkten der Gleichheit ausschließt.4 Für eine Erklärung dieses Wandels in den normativen Orientie­ rungen bieten sich heute zwei alternative Deutungen an, die in gewisser Weise von entgegengesetzten Beobachtungen ihren Aus­ gang nehmen. Auf der einen Seite läßt sich die Hinwendung zu Begriffen wie »Würde« oder »Anerkennung« als das Resultat einer politischen Ernüchterung begreifen, die in dem Augenblick ein­ setzte, als mit dem internationalen Siegeszug konservativer Par­ teien und dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Programme auch die Aussichten auf eine Erweiterung sozialer Gleichheit zu schwinden begannen; kaum waren nämlich die Forderungen nach ökonomi­ scher Umverteilung als längerfristig unrealisierbar durchschaut, so würde die These lauten, setzten sich an ihrer Stelle die ermäßigten, bloß negativen Vorstellungen einer Beseitigung von Demütigung und Mißachtung durch. Auf der anderen Seite ist aber auch eine Erklärung vorstellbar, die die wachsende Orientierung an solchen Ideen nicht als Resultat einer politischen Ernüchterung, sondern umgekehrt als Folge einer Steigerung von moralischer Sensibilität begreift: durch eine Reihe von neuen Sozialbewegungen aufmerk­ sam geworden auf den politischen Stellenwert der Erfahrung so­ zialer oder kultureller Mißachtung, so würde diese zweite These lauten, sind wir inzwischen zu dem Bewußtsein gelangt, daß die Anerkennung der Würde von Personen oder Gruppen einen we­ sentlichen Teil unseres Begriffes von Gerechtigkeit ausmacht. Daß 3 Nancy Fraser, From Redistribution to Recognition? Dilemmas of Justice in a >Post-Socialist< Agc, in: New Left Review, No. 212,1995, S. 68934 Albert O. Hirschmann, Wieviel Gemeinschaft braucht die liberale Ge­ sellschaft?, in: Leviathan, H. 2, 1994.

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es neben diesen beiden Erklärungen aber auch noch eine dritte geben kann, die nicht auf Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, sondern auf den Erfahrungshorizont des ganzen Jahrhunderts Bezug nimmt, ist eine der Lehren, die das neue Buch von Avishai Margalit vermittelt; wenn die Argumentation, die in »Politik der Würde« entwickelt wird, in den Kontext von anderen Veröffentli­ chungen des Autors gerückt wird, zeigt sich nämlich schnell, daß hier die Hinwendung zu Kategorien wie »Würde«, »Respekt« oder »Anerkennung« das Resultat einer philosophischen Verar­ beitung des Holocaust ist. Im Durchgang durch dasselbe Buch wird in einem zweiten Schritt indes auch klar werden, daß die einfache Entgegensetzung von »Gleichheit« und »Würde«, von »redistribution« und »recognition« in letzter Konsequenz nicht haltbar ist; die Entwürdigung von Personen ist, so läßt sich ent­ gegen der Intention des Autors deutlich machen, mit der Verlet­ zung von Prinzipien der Gleichbehandlung intern verknüpft. I

Schon der englische Titel des Buches von Margalit (»The decent society«) gibt unzweideutig zu erkennen, daß es sich um den normativen Entwurf einer Konzeption von Gesellschaft handelt, der mit der neueren Entwicklung der politischen Philosophie die Orientierung am Maßstab der »Würde« oder der »Achtung« teilt; zwar ist »decency«, oder, wie die deutsche Übersetzung lautet, »Anstand«, kein eingespielter Begriff der politisch-philosophi­ schen Tradition, aber im Kern meint er zunächst nichts anderes als die individuelle oder gesellschaftliche Sicherung von »Würde« oder »Respekt«. Um nun aber in Erfahrung bringen zu können, welche Überlegungen Margalit zum Rückgriff auf diesen Typus von Begriffen motiviert haben mögen, ist cs ratsam, zunächst einen Aufsatz heranzuziehen, den er gemeinsam mit Gabriel Motzkin etwa zeitgleich mit dem Buch veröffentlicht hat5. Es geht dabei um den erneuten Versuch, auf die Frage eine schlüssige Antwort zu finden, was den Holocaust zu einem singulären Ereignis in der menschlichen Geschichte hat werden lassen. Im Durchgang durch die bekannten Vorschläge gelangen Margalit und Motzkin schnell

5 Avishai Margalit/Gabriel Motzkin, The Uniqueness of the Holocaust, in: Philosophy and Public Affair, Vol. 25» No. 1, 1996, S. 65-83. 2J0

zu dem Schluß, daß keine der bislang vertretenen Erklärungsan­ sätze wirklich überzeugen kann: weder der quantitative Umfang der Massenvernichtung noch die Form ihrer quasi-industriellen Durchführung ist es, was den Holocaust zu einem einzigartigen Geschehen hat machen können, weil in beiden Hinsichten ver­ gleichbare Verbrechen entweder bereits stattgefunden haben oder aber heute doch leicht vorstellbar sind. Die Singularität der natio­ nalsozialistischen Judenvernichtung zeigt sich für Margalit und Motzkin hingegen erst, wenn sie in engste Beziehung zu einer Rassenideologie gesetzt wird, die zwei sich widersprechende Ge­ dankenreihen zur Synthese bringen wollte: einerseits sollten die Juden insofern noch zur menschlichen Spezies gehören, als sie den Inbegriff einer Rasse zu verkörpern schienen, die paradigmatisch die Gefahr einer evolutionären Degenerierung markierte; anderer­ seits sollten dieselben Juden aber auch schon nicht mehr der menschlichen Spezies angehören, weil ihr Verhalten als Ausdruck einer Lebensform gewertet wurde, die subhumane Züge trägt. In einer einzigen Ideologie zusammengebracht, ergab sich aus diesen beiden Vorstellungskomplexen die Aufforderung zu zwei unter­ schiedlichen Vernichtungspraktiken, die sich wechselseitig gleich­ sam ständig im Wege stehen mußten: als degenerierte Rasse sollten die Juden zum Objekt einer Praxis der Demütigung und Ernied­ rigung gemacht werden, die an die Voraussetzung ihrer Mensch­ lichkeit gebunden blieb, während sie als subhumane Spezies zum Objekt einer industriellen Massenvernichtung werden sollten, die nur unter der Voraussetzung der Bestreitung ihrer Menschlichkeit funktionieren konnte. Es ist dieses paradoxe Zusammenspiel von zwei unvereinbaren Formen der Zerstörung, was nach Auffassung von Margalit und Motzkin dem Holocaust seine einzigartige Stel­ lung in der menschlichen Geschichte gibt: »Over time, Nazi ideology moved from the first kind of racism, the racism of inferior varieties, to the second kind of racism, the racism of exclusion from the human race ... Yet despite this desire for clear destruction, the entire record of German behavior in the extermination process draws that the Germans could not rid themselves of the Constant process of humiliating the Jews. The reasons for this impossibility arc basic: you cannot kill people without killingpeop/e. Some aspcct of humiliation will al ways inhere to the process of killing people.«6

6 Ebd.,S.7i. 25>

Es ist dieser letzte Satz, der eines der zentralen Motive preiszuge­ ben scheint, das sich hinter dem Versuch Margalits verbirgt, seine normative Konzeption von Gesellschaft am Begriff der »decency« oder des »Anstands« auszurichten. Wenn der Holocaust nämlich den Punkt in der historischen Entwicklung repräsentiert, der in einzigartiger Weise die grausamste Möglichkeit eines sozial ver­ übten Verbrechens offenbart, dann muß von ihm jeder Ansatz seinen Ausgang nehmen, moralische Kriterien für eine gute oder gerechte Gesellschaft zu entwickeln. Dazu reichen aber solche Konzeptionen nicht aus, die sich normativ an der Idee der »Gleich­ heit« orientieren, weil jene Verbrechen weitaus elementarer sind, als daß sie in Begriffen der Verletzung von Prinzipien der Gleich­ behandlung gefaßt werden könnten; vielmehr bedarf es der Aus­ richtung an dem Typ gesellschaftlichen Übels, das die Singularität des Holocausts ausmacht, also die institutionell praktizierte Er­ niedrigung und Demütigung eines ganzen Kollektivs selbst noch bis in den Akt der Massenvernichtung hinein. Nun mag eine solche Schlußfolgerung den Anschein erwecken, als sei es das zentrale Anliegen von Margalit, durch seine normative Theorie vor allem die Möglichkeit der nationalsozialistischen Ver­ brechen auszuschließen. - Die Idee einer »anständigen Gesell­ schaft« liefe statt auf eine Erweiterung unserer Moralvorstellungcn auf den Entwurf einer Art von »Minimalmoral« hinaus. Das dem nicht so ist, ja, daß darin eine absurde Verkennung der Aufgaben einer zeitgenössischen Gesellschaftskritik läge, macht hingegen schon eine Bemerkung klar, die sich im Vorwort des neuen Buches findet. Hier erwähnt Margalit am Rande, daß ihm erst Gespräche mit Palästinensern und Immigranten aus der ehemaligen Sowjet­ union in Israel die Augen dafür geöffnet hätten, in welchem Maße die Erfahrung sozialer Entwürdigung das Alltagsleben gewöhn­ licher Menschen beherrscht: es ist die Verletzung von Ehre oder Würde, die vor aller Aufmerksamkeit auf andere Dimensionen von Ungerechtigkeit den Inbegriff all dessen bestimmt, was für die Betroffenen selber an einer Gesellschaft von Übel ist (t i f.). Wenn diese Bemerkung auf den Gedankengang zurückbezogen wird, der den Aufsatz über den Holocaust beherrscht, so zeigt sich bei aller Singularität des nur schwer vorstellbaren Geschehens auch ein Element der Kontinuität: in der nationalsozialistischen Judenver­ nichtung treten auf paradoxe Weise zwei Formen sozialer Grau­ samkeit zusammen, von denen die erste, nämlich die organisierte

IDcmütigung und Erniedrigung, eine institutionelle Praxis darstcl11, uinter der die Menschen zu allen Zeiten und bis heute gelitten fhaben. Insofern klärt das Bewußtsein von der Einzigartigkeit des IHolocaust auch eine zeitgenössische Gesellschaftstheorie noch »über die Tatbestände auf, die es bei der normativen Beurteilung ^gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken vor allem zu berück­ sichtigen gilt; »nach Auschwitz« müssen die Kriterien, an denen sich bemessen soll, was an einer Gesellschaft moralisch falsch ist, im wesentlichen darauf zugeschnitten sein, alle erdenklichen For­ men der Mißachtung oder Demütigung auszuschließen. So gesehen, bestätigt die Untersuchung von Margalit zwar die allgemeine Tendenz einer Abkehr von der Idee der Umverteilung und einer Hinwendung zu Vorstellungen der Anerkennung oder Würde. Aber das, was bei ihm diese normative Orientierung motiviert zu haben scheint, läßt sich weder allein als das Resultat einer politischen Ernüchterung begreifen noch einfach auf den Einfluß neuer sozialer Bewegungen zurückführen; vielmehr hat sich darin offenbar ein Bewußtsein von der Dringlichkeit nieder­ geschlagen, mit der die Erinnerung an den Holocaust uns heute zu moralischen Begriffen anhält, in denen die Betroffenen ihre Lei­ denserfahrungen wiedererkennen können. Weil für Margalit außer Frage steht, daß sich ein solcher Begriff nur im Ausgang von der Erfahrung sozialer Demütigung und Entwürdigung entwickeln läßt, muß er seine Untersuchung mit dem Entwurf eines entspre­ chenden Vokabulars beginnen lassen; ihr erstes Kapitel besteht daher in dem Versuch, einen Begriff der »Demütigung« darzule­ gen, der gleichermaßen analytischen Ansprüchen standhält und moralischen Alltagserfahrungen entspricht.

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Nun ist es bei aller Verantwortung gegenüber den Opfern gleich­ wohl keine Selbstverständlichkeit, daß eine Untersuchung über die Prinzipien einer »decent society« mit einem Kapitel anhebt, in dem Sinn und Umfang des Begriffs der »Demütigung« geklärt werden soll; viel eher wäre doch zu erwarten gewesen, daß den Anfang eine Analyse des Begriffs der »decency« macht, an dem immerhin der Anspruch des gesamten Unternehmens zu hängen scheint. In der Bevorzugung des negativen Terminus kündigt sich

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indes an, daß Margalit gar nicht das Ziel verfolgt, die Grundlagen einer »decent society« durch positive Eigenschaften zu bestim­ men; vielmehr soll zu einer derartigen Charakterisierung auf dem indirekten Weg gelangt werden, jene Umstände zu identifizieren, durch die Erniedrigung und Demütigung verhindert werden kön­ nen. Es sind drei unabhängige Gründe, die Margalit anführt, um ein solches Vorhaben der negativen Charakterisierung zu recht­ fertigen: es bietet sich moralisch an, die Eigenschaften einer »de­ cent society« durch Negation zu bestimmen, weil der Kampf gegen Demütigung vor der Durchsetzung respektvollen Verhal­ tens praktische Priorität besitzt; aus logischen Gründen empfiehlt sich ein solches Verfahren, weil das Erbieten von Respekt gewöhn­ lich nur das Nebenprodukt anderer Handlungen ist, während es viele Fälle erniedrigender Handlungen gibt, die das gradlinige Ergebnis von Intentionen sind; und schließlich ist das indirekte Verfahren einer negativen Charakterisierung aus dem kognitiven Grund vorzuziehen, daß Akte der Demütigung leichter zu identi­ fizieren sind als respektvolles Verhalten, weil jenen ein klarer Kontrast von Angreifer und Opfer zugrunde liegt (19 f.). Wenn sich auch später zeigen wird, daß bei der Bestimmung von erniedrigenden Praktiken der systematische Bezug auf einen po­ sitiven Maßstab gar nicht restlos zu vermeiden ist, so stellen diese Argumente doch zunächst einmal gute Gründe für den Ausgang von einem negativen Verfahren dar: es ist theoretisch einfacher und moralisch überdies von größerer Dringlichkeit, vorweg diejenigen Eigenschaften zu identifizieren, durch die die Verletzung der Würde von Personen gekennzeichnet ist; auf diese Weise läßt sich dann die »decent society« in einer ersten Annäherung durch das Fehlen von solchen Praktiken charakterisieren, die die zuvor umrissenen Eigenschaften der Erniedrigung oder Demütigung besitzen. Allerdings entsteht bei einem derartigen Verfahren ein neues Problem, über dessen Tragweite Margalit sich stärker im klaren ist als andere Verfechter einer vergleichbaren Position. In der Geschichte des politischen Denkens fanden sich immer wieder Strömungen, in denen rationale Gründe für die Empfindung von Entwürdigung entweder gänzlich bestritten wurden oder aber derart allgemein angesetzt worden sind, daß am Ende alle herr­ schenden Institutionen einen verletzenden Charakter besitzen mußten: den ersten Fall sieht Margalit durch den Stoizismus re­ präsentiert, demzufolge menschliche Subjekte deswegen nicht er254

niedrigt werden können, weil ihre Sclbstbeziehung vom Urteil anderer Personen unabhängig ist (39 ff.); ein geeignetes Beispiel für den zweiten Falle erblickt er demgegenüber in einer Form des Anarchismus, die davon ausgeht, daß jeder Mensch sich durch die bloße Existenz vom institutionellen Regelungen in seiner Würde verletzt sehen muß (27 ff.). Beide Annahmen stellen deswegen eine bedrohliche Herausforde­ rung für die von Margalit zu entwickelnde Konzeption dar, weil sie von zwei Seiten aus an ihrer zentralen, alles entscheidenden Prä­ misse rütteln: während das stoische Argument in Zweifel zieht, ob Demütigung durch andere überhaupt einen moralisch ernstzuneh­ menden Sachverhalt darstellt, wirft die anarchistische These die Frage auf, inwiefern sich gesellschaftliche Institutionen nach Maß­ gabe ihres demütigenden Charakters sinnvoll unterscheiden las­ sen. Das Argument, mit dem Margalit den ersten Einwand zu entkräften versucht, findet sich an einer Stelle seines Buches, an der eine wesentliche Einschränkung bereits vorgenommen ist: unter »Selbstachtung« möchte Margalit in einem ersten Anlauf das Bewußtsein einer Person verstanden wissen, als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft anerkannt zu sein, während mit der sozialen Ehre jene Empfindung des eigenen Wertes gemeint ist, die im Bewußtsein erbrachter Leistungen wurzelt (64 ff.). Demüti­ gung im Sinne der »humiliation« soll sich nun nur auf die Selbst­ achtung einer Person beziehen können, wohingegen die Verlet­ zung ihrer sozialen Ehre als Beleidigung, als »insult«, als »Krän­ kung« zu begreifen ist. Fällt nun die Widerlegung des stoischen Arguments ausgesprochen leicht, solange es nur um das Selbst­ wertgefühl von Personen geht, so wirft das Phänomen der Selbst­ achtung doch ungleich größere Probleme auf: im ersten Fall scheint nämlich klar, daß wir unsere eigenen Leistungen nur im Lichte der Wertungen einer sozialen Gruppe beurteilen können, wohingegen das Bewußtsein von der Mitgliedschaft in der menschlichen Gemeinschaft doch in der eigenen Urteilsfähigkeit verwurzelt scheint (148 ff.). Margalit behilft sich an dieser schwierigen Stelle mit einem Argu­ ment, das in den letzten Jahren von verschiedenen Autoren mit unterschiedlichem Erfolg entwickelt worden ist. Auch die Selbst­ achtung, die nicht anders als im vorliegenden Text heute weit­ gehend dem Selbstwertgefühl entgegengesetzt wird, stellt ein Phä­ nomen dar, das sowohl in psychologischer als auch in begrifflicher

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Hinsicht an die Voraussetzung intersubjektiver Bestätigung ge­ bunden ist; denn schon um formulieren zu können, so heißt es bei Margalit, worin der Wert jener menschlichen Gemeinschaft be­ stehen soll, als deren Mitglied eine Person sich zu begreifen ver­ sucht, bedarf es der Einbeziehung der »Haltung« anderer Men­ schen in die eigene Urteilsfindung (153 f.). Im Kern gibt dieses Argument nur in verknappter Form die Überlegungen wieder, die Habermas, Taylor oder Tugendhat mit größerer Sorgfalt ausgear­ beitet haben, um im Anschluß an Wittgenstein oder G. H. Mead den sprachlichen Charakter der menschlichen Selbstbeziehung darzulegen; stets lautet hier der zentrale Gedanke, daß wir uns nur positiv auf uns beziehen können, indem wir uns in einem sprachlichen Horizont zu verständigen lernen, der moralische oder evaluative Ausdrücke für den Wert der eigenen Person ent­ hält7. Der besondere Akzent freilich, den Margalit der dann umrissenen These verleiht, besteht in der Interpretation der Selbst­ achtung als eines bloßen Bewußtseins, ein anerkanntes Mitglied der menschlichen Wertgemeinschaft zu sein; weder irgendwelche Fähigkeiten noch bestimmte Prinzipien sind es also, die bei ihm die Rolle von Kriterien spielen sollen, anhand deren die einzelne Person sich ihrer legitimen Mitgliedschaft versichern könnte. Diese Eigentümlichkeit im Wortgebrauch wirft bereits ein Licht auf die Bedeutung, die Margalit dem Ausdruck der »Demütigung« geben wird. Auf jeden Fall ist mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß wir unsere Selbstachtung intersubjektiven Voraussetzungen verdanken, der stoische Zweifel an der Möglichkeit der Demütigung durch andere Personen widerlegt. Wenn in die Haltung nämlich, die ich mir selber gegenüber einnehme, die Werturteile meiner sozialen Um­ welt stets miteinfließen, dann läßt mich deren negative Reaktion mir gegenüber auch nicht zu einer Achtung meiner selbst, zu einem Bewußtsein meiner Mitgliedschaft in jener menschlichen Gemeinschaft gelangen: »Das aber bedeutet, daß sich selbst eine Person mit Selbstachtung von der Meinung anderer nicht frei machen kann.« (154). 7 VgL etwa Jürgen Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G.H. Meads Theorie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysi­ sches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 187-241; Ernst Tugendhat, Selbst­ bewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 1979.

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Der Zweifel des Anarchismus ist demgegenüber nicht in derselben, knappen Weise der Darlegung einer einzigen Gegenthese zu ent­ kräften; denn die Frage, ob gesellschaftliche Institutionen über­ haupt anhand des Kriteriums der »Demütigung« unterschieden werden können läßt sich sinnvoll nur in Form der Ausarbeitung einer normativ gehaltvollen Gcscllschaftstheorie beantworten. Daß Margalit sich über diese nicht leichte Aufgabe im klaren ist, macht schon die ganze Anlage seiner Untersuchung klar. Gleich zu Beginn des Buches trifft er eine kategoriale Vorentscheidung, an der deutlich wird, wie er sein eigenes Beweisziel verstanden wissen möchte: unter einer »decent society« soll eine Gesellschaft begrif­ fen werden, die frei von Institutionen ist, welche einen entwürdi­ genden oder demütigenden Charakter besitzen (15 f.). Was die Argumentation im folgenden demnach zu leisten hat, ist der Ent­ wurf eines umfassenden Begriffes der »Demütigung«, der nicht auf die Verhaltensweise von Personen, sondern auf die Eigenschaften von Institutionen Anwendung finden kann; dabei läßt sich kaum, wie leicht zu sehen ist, die Auseinandersetzung mit solchen An­ sätzen der zeitgenössischen Gesellschaftstheorien vermeiden, die aus funktionalistischen Erwägungen heraus der Effizienz von In­ stitutionen die oberste Priorität einräumen. Insofern stellt die Untersuchung von Margalit im ganzen auch den Entwurf einer kritischen Gesellschaftsthcorie dar, die den anarchistischen Zwei­ fel dadurch zu widerlegen versucht, daß sie an Institutionen zwi­ schen notwendigem Druck und überflüssiger Entwürdigung sinn­ volle Unterscheidungen macht.

III.

Mit dem Begriff der »Demütigung« sollen, so haben wir bislang gesehen, solche Praktiken von Institutionen bezeichnet werden, durch die menschliche Subjekte sich in ihrer Selbstachtung be­ gründet verletzt sehen können; und unter »Selbstachtung« ist vorläufig nur das individuelle Bewußtsein zu verstehen, ein aner­ kanntes Mitglied der menschlichen Wertgemeinschaft zu sein. Aus diesen begrifflichen Vorklärungen ergeben sich für Margalit bereits zwei Konsequenzen, die die Abgrenzung zu benachbarten Auf­ fassungen betreffen. Der Begriff der »Demütigung« darf erstens nicht reduziert werden auf den Aspekt der Verletzung von Men-

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schenrechten, weil eine Person in mehr Dimensionen mißachtet werden kann, als die Summe seiner universell begründeten Rechts­ ansprüche umfaßt: so ist etwa ein politisches Gemeinwesen vor­ stellbar, das zwar seinen Mitgliedern die Ausübung aller Men­ schenrechte garantiert, den Frauen aber das Bürgerrecht auf poli­ tische Beteiligung vorenthält (59). Dieses Argument ist freilich nur sinnvoll, solange die Menschenrechte als eine abgeschlossene Liste von moralisch verbürgten Ansprüchen aufgefaßt werden, die ih­ rerseits der Dynamik historischer Veränderungen nicht unterliegt; wenn wir nämlich davon ausgehen, daß sich der Umfang der Menschenrechte nach Maßgabe der kollektiven Einsicht in not­ wendige Bedingungen der individuellen Autonomie erweitern läßt, dann wird die von Margalit vorgenommene Unterscheidung hinfällig. Insofern wäre cs für ihn von größerem Wert gewesen, die Frage zu überprüfen, welche verletzbaren Aspekte der individuel­ len Selbstachtung prinzipiell nicht in Form von Rechten geschützt werden können. Die zweite Konsequenz, die Margalit aus seinen begrifflichen Vorklärungen zieht, betrifft im engeren Sinn den Ausdruck der »Demütigung« selber. Wir haben bereits gesehen, daß mit demüti­ genden Akten solche Praktiken gemeint sein sollen, durch die Personen sich in etwas verletzt sehen können, das Margalit »Selbstachtung« nennt: im Unterschied zum Selbstwertgefühl, das in einem Bewußtsein erbrachter Leistungen begründet ist, stützt sich dieses auf ein Bewußtsein der Mitgliedschaft in der menschlichen Gemeinschaft. Was das heißen soll, wird deutlicher, wenn es nach zwei Seiten hin abgegrenzt wird. Natürlich liegt cs nahe, als das positive Komplementärphänomen von »Demüti­ gung« jene potentielle Eigenschaft des Menschen anzunehmen, die in der philosophischen Tradition »Würde« genannt worden ist. Eine solche begriffliche Koppelung würde nach Auffassung Margalits aber vergessen lassen, daß demütigende Praktiken pri­ mär Gefühle verletzen, die Personen gegenüber sich selber emp­ finden, während die Dimension der Würde eher das Verhalten von Menschen gegenüber der sozialen Umwelt betrifft. Daher schlägt er vor, unter »Würde« die soziale Repräsentation jener Selbst­ achtung zu verstehen, die im Akt der Erniedrigung stets eigentlich verletzt wird; und keine Frage ist es, daß die Demütigung auch auf dem Umweg einer Verletzung des äußeren Erscheinungsbildes zum Selbstgefühl einer Person vordringen kann (73 ff.). zj8 i

Wesentlicher für die Probleme, die Margalits Konzept einer »dccent society« aufwirft, ist die Abgrenzung des Begriffs der »Selbst­ achtung« gegenüber demjenigen der »sozialen Ehre«. Es besteht heute im wesentlichen Einigkeit darüber, daß mit diesem letzten Begriff eine bestimmte Art der sozialen Wertschätzung gemeint ist, die sich graduell am gesellschaftlich bestimmten Wert einer erbrachten Leistung bemißt8; insofern ist die soziale Ehre etwas, das nicht allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleichermaßen zu­ kommen kann, sondern je nach den kulturell herrschenden Wert­ vorstellungen ungleich verteilt werden muß (62 f.). Was durch eine solche Form der Bezeugung von Ehre der einzelnen Person er­ möglicht wird, ist die Ausbildung genau der Art von positivem Selbstbild, für das Margalit bereits den Ausdruck »Selbstwert« eingeführt hat. Demgegenüber ist die Form des Respekts, durch die Selbstachtung ermöglicht wird, nicht nach Maßgabe irgend­ einer Wertvorstellung graduierbar, weil sie einer Eigenschaft gelten soll, die allen Subjekten gleichermaßen zukommen soll: hier geht es darum, was Menschen sind, dort hingegen um das, was sic getan oder geleistet haben (61 f.). Das ist der Grund, der Margalit zu dem überraschenden Schluß gelangen läßt, daß im Gegensatz zu Fragen der Selbstachtung diejenigen nach der sozialen Ehre nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Konzeption der »decent society« fal­ len: »Obwohl die ungerechte Verteilung sozialer Ehre zweifellos eine Ungerechtigkeit darstellt, heißt dies nicht, daß eine Gesell­ schaft mit einer solch ungerechten Verteilung nicht trotzdem eine anständige Gesellschaft sein könnte.« (63). Vielleicht klingt diese Stelle auch nach erneutem Überdenken so wenig plausibel, weil sie zum ersten Mal unklar werden läßt, worin der Unterschied zwischen »justice« und »decency«, zwischen Gerechtigkeit und Anstand, eigentlich bestehen soll. In unserem herkömmlichen, an Kant geschulten Verständnis bemißt sich das, was gerecht ist, an der Idee der Gleichheit oder der Gleichbe­ handlung: eine Handlung odereine politische Ordnung ist gerecht, wenn sie aus unparteilicher Perspektive dazu in der Lage zu sein scheint, die Interessen aller Betroffenen in gleichem Maße zu be­ rücksichtigen. Insofern bereitet es schon Schwierigkeiten, die un­ gleiche Verteilung sozialer Ehre als einen Fall von Ungerechtigkeit

IS Vgl. die Diskussion in: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1992, S. 196 ff. 259

zu begreifen, weil hier ganz offensichtlich die vorausgesetzte Be­ zugnahme auf einen Standpunkt der Unparteilichkeit preisgege­ ben werden muß; denn es läßt sich nur beurteilen, ob eine be­ stimmte Art von sozialer Ehre gerecht verteilt ist, wenn zuvor die ihr zugrunde liegende Wertvorstcllung normativ ausgezeichnet worden ist. Umgekehrt scheint es aber keine Schwierigkeiten zu bereiten, jenen Respekt für Personen, durch den nach Margalit die Entwicklung von Selbstachtung möglich sein soll, als eine Forde­ rung der Gerechtigkeit zu verstehen; was in diesem Fall nämlich verlangt ist, unterscheidet sich nicht wesentlich von der gleichen Achtung vor der Selbstzweckhaftigkeit aller Personen, die Kant vor Augen hatte, als er den kategorischen Imperativ formulierte. So gesehen, würde die Idee einer Gesellschaft, die frei von demü­ tigenden Institutionen ist, mit den überkommenen Konzepten einer gerechten Gesellschaft zusammenfallen: was hier die positive Forderung ausmacht, die gesellschaftliche Grundstruktur in der Weise einzurichten, daß allen Mitgliedern die Ausübung indivi­ dueller Autonomie ermöglicht wird, dem entspräche dort die negative Vorstellung, die gesellschaftlichen Institutionen von einer Beeinträchtigung der individuellen Selbstachtung aller Mitglieder freizuhaken. Eine derartige Angleichung widerspräche aber doch den starken Visionen, die in die Idee einer Gesellschaft ohne Demütigung gewöhnlich hineinspielen; erinnert sei nur an die berühmte Formulierung von Adam Smith, nach der eine Gesell­ schaft es ihren Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen können muß, »ohne Scham in der Öffentlichkeit aufzutreten«9. Wenn der normative Kern eines solchen Ideals ernst genommen wird, darf die Dimension der sozialen Wertschätzung nicht einfach aus­ geklammert bleiben; vielmehr muß doch zu dem Bewußtsein, als ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gelten und daher »ohne Scham« öffentlich auftreten zu können, auch die Überzeugung gehören, für die eigenen Leistungen die verdiente Anerkennung zu finden. Für beides, die Selbstachtung nicht weniger als das Gefühl des eigenen Wertes, müssen die institutionellen Voraussetzungen gegeben sein, wenn eine Gesellschaft ihren Mitgliedern ein Leben ohne Demütigung garantieren können soll. Mithin scheint das Verhältnis von Anstand und Gerechtigkeit

9 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1910, S. 351 f.

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gerade umgekehrt zu sein, als Margalit es in seiner Verteilung der Aufgaben vorgesehen hat. Schon aus Gründen der ethischen Neu­ tralität wird eine Theorie der Gerechtigkeit kaum Fragen berühren können, die mit der Verteilung oder gar den Prinzipien sozialer Ehre in einer gegebenen Gesellschaft Zusammenhängen; denn das würde verlangen, jene ethischen Wertvorstellungen selber norma­ tiv beurteilen zu müssen, in deren Licht die Leistungen der ver­ schiedenen Mitglieder mehr oder weniger anerkannt werden. Um­ gekehrt aber wird sich eine Konzeption, die die Bedingungen einer Gesellschaft ohne Demütigung zu umreißen versucht, einer sol­ chen Frage nicht einfach entledigen können; hier nämlich steht auch zur Diskussion, inwiefern die gegebenen Prinzipien sozialer Wertschätzung dazu in der Lage sind, die individuellen Leistungen der Mitglieder so zu bewerten, daß ihr Selbstwertgefühl nicht ungerechtfertigterweise verletzt wird. Mit anderen Worten, auch die Kränkung von Personen fällt, sobald sie in regelmäßiger Form durch Institutionen ausgeübt wird, in den Zuständigkeitsbereich einer Theorie der »decent society«. Ein jeder Schritt in die damit skizzierte Richtung verlangt freilich, wie unschwer zu sehen ist, eine Preisgabe der Verpflichtung zur ethischen Neutralität; eine wohlverstandene Konzeption der »decent society« wird nicht umhin können, auch jene Ziele oder Werte zu beurteilen, an denen sich die Verteilung der sozialen Ehre in einer Gesellschaft bemißt. Einen genaueren Einblick in die Position, die Margalit gegenüber Fragen der Ethik einnimmt, bietet sein Versuch einer Rechtferti­ gung des normativen Prinzips einer Vermeidung von Demüti­

gung.

IV.

Obwohl Margalit in seinem Buch bislang alles daran gesetzt hat, positive Formulierungen in bezug auf den Begriff der »decency« zu vermeiden, muß auch er offenbar an einer bestimmten Stelle seiner Argumentation die erstrebte Enthaltsamkeit aufgeben. Wenn nämlich gefragt wird, aus welchen Gründen die Demüti­ gung von Menschen überhaupt verurteilt werden soll, läßt sich eine befriedigende Antwort nur unter Rückgriff auf etwas norma­ tiv zu Verteidigendes, auf ein moralisches Prinzip oder eine Idee des Guten, geben. Nach dem bislang Gesagten ist klar, daß Mar­ 161

galit diesen impliziten Bezugspunkt seiner Verurteilung von De­ mütigung in der normativen Forderung einer bestimmten Art von Respekt sehen muß: jene Selbstachtung, die durch institutionelle Praktiken der Demütigung verletzbar ist, wird ihrerseits über­ haupt erst durch eine Form des Respekts ermöglicht, die jeder Mensch nicht aufgrund von Leistungen, sondern aufgrund seiner bloßen Existenz verdient. Bei der Beantwortung der Frage, wie die Einforderung eines solchen universellen Respektes normativ ge­ rechtfertigt werden kann, bieten sich nach Margalit prinzipiell drei mögliche Alternativen an (77): eine positive Lösung, die besagt, daß menschliche Wesen durch eine besondere Eigenart oder Fä­ higkeit ausgezeichnet sind, deren Wert universelle Anerkennung verdient; eine skeptische Lösung, die davon ausgeht, daß es nur die erfolgreiche Durchsetzung respektvollen Verhaltens unter Men­ schen ist, was gewissermaßen nachträglich den Besitz mensch­ licher Eigenschaften zu einem Grund für Respekt zu machen vermag; und eine negative Lösung, derzufolge jene Art von Re­ spekt überhaupt nicht zu rechtfertigen ist, sondern nur das Prinzip einer Vermeidung von Grausamkeiten, zu deren Erfahrung allein Menschen in der Lage sind. Wiederum ist es leicht, den drei Positionen hier bedeutsame Traditionen der Moralphilosophie zu­ zuordnen: für die positive Lösung steht Kant mit seinen Nachfol­ gern ein, die skeptische Position wird von der empiristischen Tradition von Hume bis Rorty vertreten, die negative Lösung schließlich ist wohl am ehesten durch die untergründige Tradition einer von John Stuart Mill bis Judith Shklar reichenden Ethik der Vermeidung von Schaden oder Grausamkeit repräsentiert. Es kann nicht überraschen, daß Margalit unter den drei Positionen erneut der normativ sparsamsten, also der negativen Lösung den Vorrang gibt. Bislang hatte sich seine Bevorzugung eines negativen Verfahrens ja nur auf die deskriptive Frage bezogen, mit welcher Art von Begriffen die Eigenschaften einer »decent society« zu charakterisieren seien; nun aber wendet er dieselbe Methode auch auf die Beantwortung der normativen Frage an, mit welchen Gründen die Verurteilung von Demütigung moralisch gerecht­ fertigt werden könne - kurz, dem deskriptiven Negativismus wird mit einer gewissen Konsequenz eine negativistische Begrün­ dung beiseite gestellt. Die entschiedensten Einwände bringt Mar­ galit in diesem Zusammenhang gegenüber Positionen vor, die mit Kant an der Überzeugung festhalten, daß bestimmte Eigenschaf2Ö2

ten des Menschen das Prinzip universellen Respekts rechtfertigen. Solche Eigenschaften müssen, so behauptet Margalit, sehr an­ spruchsvollen Voraussetzungen Genüge leisten, um ihre normative Funktion erfüllen zu können: weder dürfen sie, wenn sie tatsäch­ lich als Gründe für Respekt gegenüber allen Menschen gelten sollen, in irgendeiner Weise graduierbar sein noch für einen mögli­ chen Mißbrauch offenstehen; hinzu kommt noch, daß sie von moralischer Relevanz sein müssen und ihre rechtfertigende Rolle bloß innerweltlichen Bezügen verdanken dürfen (83 f.). Gemessen an diesen Kriterien soll sich nun schnell zeigen, daß keine der von Kant und seinen Nachfolgern genannten Eigenschaften die ihr beigemessene Funktion unzweideutig erfüllen kann: die Fähigkeit zur autonomen Zwecksetzung etwa ist unter Menschen ungleich verteilt und daher nach Graden abstufbar; das Vermögen, ein moralisches Leben führen zu können, läßt insofern Mißbrauch zu, als es im Falle des Kriminellen moralische Verachtung begrün­ den kann; und selbst die gegen Kant vorgebrachte Idee Bernard Williams’, die unvertretbare Perspektive jedes einzelnen als intrin­ sischen Wert zu begreifen, der Respekt begründet, ist wenig über­ zeugend, da sie angesichts der Möglichkeit radikal bösartiger Lebensorientierungen zu absurden Konsequenzen führt (86 f.). Hier drängt sich nicht nur die Frage auf, warum Margalit der Tatsache nur wenig Beachtung schenkt, daß Kant seine Idee einer moralischen Autonomie des Menschen nicht empirisch, sondern transzendental hat aufgefaßt wissen wollen; am ehesten können wir seine Konstruktion doch so verstehen, daß die wechselseitige Unterstellung von rationaler Zwecksetzung genau die Bedingung ist, unter der die menschliche Gattung überhaupt nur eine mora­ lisch bedeutsame Welt zu errichten vermag10. Wesentlicher für den Fortgang der Argumentation scheint indes der Umstand, daß Margalit eine Alternative der positiven Rechtfertigung von Re­ spekt vollkommen unerwähnt läßt, die sich zwanglos aus seinen bereits entwickelten Überlegungen ergeben könnte. Beim Men­ schen ist die Herausbildung eines notwendigen Maßes an Selbst­ achtung und Selbstwert, so hatte sich gezeigt, mit der Erfahrung von Anerkennung oder Respekt intern verknüpft: kein Subjekt vermag es, sich selber gegenüber positive Gefühle der Achtung

io Vgl. etwa Peter F.Strawson, Frecdom and Resentment, in: ders., Free­ dom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 13-17. 26}

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und der Wertschätzung zu empfinden, wenn es nicht von Seiten anderer Subjekte in seiner menschlichen Existenz und seinen Lei­ stungen anerkannt wird. Sobald dieser begriffliche Zusammen­ hang nun aber als diejenige Idee des Guten begriffen wird, unter der allein die menschliche Gattung sich als eine lebenswerte Ge­ meinschaft erhalten kann, ergeben sich weitreichende moralische Konsequenzen: dann nämlich schulden wir uns schon deswegen wechselseitig Respekt und Anerkennung, weil wir nur dadurch uns vor Verletzungen schützen können, die die kommunikativen Voraussetzungen unserer moralischen Existenz gefährden. Aner­ kennung und Respekt sind, so gesehen, moralische Einstellungen, zu deren Übernahme wir untereinander verpflichtet sind, weil sie die Bedingungen bereitstcllen, unter denen wir gemeinsam unsere Integrität als menschliche Wesen erhalten11. Zwar gerät damit die normative Begründung von Respekt in Abhängigkeit von einer Idee des Guten, die jene Grenzen transzendiert, die Margalit seiner eigenen Rechtfertigung im Sinne Kants gezogen haben mag; aber eine solche Idee des Guten ist andererseits so wenig vorausset­ zungsvoll und formal, daß sie nur den ethischen Horizont skiz­ ziert, vor dem Begriffe wie Demütigung und Mißachtung über­ haupt nur als moralische Verletzungen verstanden werden können. Margalit jedoch scheint eine solche ethische Aufladung seiner eigenen Grundannahme, wonach Selbstachtung und Anerkennung beim Menschen begrifflich verschränkt sind, auf jeden Fall ver­ meiden zu wollen; daher auch kann er nicht die naheliegende Konsequenz ziehen, Respekt normativ als dasjenige Mittel zu rechtfertigen, durch das die menschliche Gattung sich als Gemein­ schaft identitätsfähiger Subjekte erhält. Nun ist es nicht so, daß Margalit auf jede Möglichkeit einer positiven Rechtfertigung von Respekt verzichten will. Vielmehr deutet er am Ende seines skeptischen Durchgangs durch verschie­ dene Begründungsmodelle einen Ausweg an, der freilich eher zu einer Erweiterung der Bedeutung von »Demütigung« führt als zu einer eigenständigen Rechtfertigung. In der von Sartre betonten Fähigkeit des Menschen, zu jedem beliebigen Zeitpunkt dem eigenen Leben eine radikal neue Deutung zu geben, und es damit nachhaltig zu ändern, läßt sich nach der Überzeugung Margalits

11 Vgl. dazu: Axel Honneth, Anerkennung und moralische Verpflichtung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, H. 1/1997264

durchaus eine Eigenschaft erblicken, die entsprechend der zuvor genannten Kriterien das Prinzip universellen Respekts rechtferti­ gen kann: denn dadurch, daß wir alle Menschen aufgrund ihrer (gleichverteilten) Fähigkeit zur Freiheit radikalen Ncuanfangs respektieren, geben wir jedem einzelnen die Chance, sein Leben in Reue zum moralisch Besseren zu wenden (91 ff.). Auch in diesem Begründungsvorschlag klingt allerdings die Tendenz an, die Margalit bislang doch offensichtlich strikt vermeiden wollte: daß nämlich Respekt als ein (moralisches) Mittel zu einem Zweck gerechtfertigt wird, der in der Perfektion des Menschen besteht und daher den ethischen Charakter eines universellen Gutes be­ sitzt. Weil Margalit aber seinen eigenen Vorschlag nur halbherzig weiterverfolgt und nicht wirklich zum Programm einer Rechtfer­ tigung fortentwickelt, muß er auch hier sein Verhältnis zu einem schwachen oder formalen Begriff des Guten nicht klären; statt dessen nützt er den Hinweis auf die genannte Fähigkeit des Men­ schen, um dem Begriff der »Demütigung« eine weitere Bedeutung abzugewinnen. Wenn menschliche Wesen uneingeschränkt Re­ spekt verdienen, weil sie ihr Leben jederzeit zum moralisch Bes­ seren wenden können, dann muß der Entzug dieser Möglichkeit eine wesentliche Form der Erniedrigung darstellen; denn dadurch wird der einzelne der Chance beraubt, von einer Fähigkeit Ge­ brauch zu machen, die ihn als menschliches Wesen auszeichnet. Von den vielen Bedeutungen, die ein solcher Entzug annchmen kann, greift Margalit aber nur eine einzige, die schwächste, heraus; für ihn reduziert sich die Erniedrigung, die in der Festlegung des Menschen auf seinen je aktuellen Lebensentwurf enthalten ist, auf den manifesten Fall der Einschränkung von Kontrollfähigkeit. Weder die Stigmatisierung noch die Pathologisierung, auf die Foucault sein Augenmerk gerichtet hat, tauchen hier als Formen der Erniedrigung auf: »Fesselung, Haft und Drogenabhängigkeit (im engl.: »being drugged«, A. H.) sind exemplarische Situationen, in denen der Verlust der Selbstkontrolle dem Verlust der Hand­ lungsfähigkeit gleichkommt.« (177) Auch den skeptischen Argumenten, mit denen in der empiristi­ schen Tradition das Prinzip universellen Respekts gerechtfertigt worden ist, steht Margalit im wesentlichen kritisch gegenüber, nutzt sie aber wiederum zum Zweck einer Erweiterung des Be­ griffsspektrums von »Demütigung«. Wie sich heute am besten an den politischen Schriften Rortys demonstrieren läßt, stellt der

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Skeptiker das Begründungsverhältnis von menschlicher Eigen­ schaft und Respekt einfach auf den Kopf: Es ist nicht eine be­ stimmte Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen, die das Prinzip universellen Respekts a priori zu rechtfertigen vermag, sondern umgekehrt verleiht unsere Praxis des Respektierens bestimmten Eigenschaften des Menschen einen Wert, der nachträglich als Grund der Rechtfertigung von Respekt angesehen werden kann12. Natürlich gerät diese Position leicht in die Gefahr, prak­ tisch vollkommen bedeutungslos zu sein, weil sie nur dort ein normatives Verhalten zu begründen vermag, wo es bereits existiert. Daher schlägt Margalit vor, das skeptische Argument dadurch zu verbessern, daß statt von respektvollem Verhalten bloß von der sozialen Idee des Respekts ausgegangen wird: sobald einmal das normative Prinzip des Respekts in einer Gesellschaft zu allgemei­ ner Geltung gelangt ist, läßt sich in ihr dann jede Form einer Praxis moralisch kritisieren, die jenem Prinzip der ganzen Absicht nach widerspricht (102 f.). Aber auch diese verbesserte Version der skeptischen Position ist nach Überzeugung Margalits nicht frei von internen Schwierigkeiten; denn es ist ja eine Gesellschaft vorstellbar, in der bestimmte Gruppen von der allgemein akzep­ tierten Norm des Respekts ausgenommen sind, weil ihnen Eigen­ schaften zugeschrieben werden, die sie als subhuman erscheinen lassen. Von einer solchen Form des Rassismus (»Eigenschaftsras­ sismus«) glaubt Margalit freilich nicht, daß sie den Skeptizismus ernsthaft in Verlegenheit bringen kann; weil »jene Eigenschaft, die sie den Angehörigen ihrer eigenen Rasse zuschreiben und anderen absprechen, entweder einer empirisch falschen Rassentheorie ent­ springt oder aber moralisch irrelevant ist. Demnach ist Eigen­ schaftsrassismus kein skeptischer Rassismus.« (104). Wie es auch immer um den Wert der skeptischen Position bestellt sein mag, für Margalit scheint sie im weiteren vor allem von Interesse, weil sie eine neue Dimension am Phänomen der »De­ mütigung« zum Vorschein bringt. Die Diskussion der Schwierig­ keiten, in die der Skeptizismus angesichts von rassistischen Ideo­ logien geraten kann, macht nämlich indirekt deutlich, daß eine wesentliche Form der Demütigung darin besteht, Menschen so zu behandeln, als ob sie nicht-menschlich seien - »sondern Tiere, iz Vgl. etwa Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, bes. Kap. 9. 166

Maschinen oder Untermenschen« (175). Von besonderer Relevanz an dieser Art der demütigenden Behandlung ist für Margalit die Tatsache, daß sie nicht in einer Überzeugung verankert sein kann, derzufolge die mißhandelte Person tatsächlich keine menschlichen Eigenschaften besitzt; um von Demütigung sprechen zu können, muß vielmehr der oder die Andere zunächst stets »konzeptuell« als Mensch klassifiziert worden sein, bevor er oder sie dann als bloßes Objekt oder Tier behandelt werden kann. Insofern besteht hier die Eigenart der Demütigung in einer »als-ob«-Behandlung von Men­ schen - »a/s ob sie etwas anderes wären: leblose Objekte, Werk­ zeuge oder Tiere.« (13 5) Nicht zufällig ist es erneut die Erfahrung des Holocaust, auf die an dieser Stelle verwiesen wird, um ein besonders eindringliches Beispiel zu geben: »Die unermeßlich grausamen Taten, denen die Opfer in den Konzentrationslagern ausgesetzt waren, und die maßlosen Demütigungen, die sie dort zu erleiden hatten, ereigneten sich so, wie sie sich ereignet haben, eben weil es sich bei den Opfern um Menschen handelte. Tiere hätte man nicht auf dieselbe Weise mißhandelt, denn ihre Augen können nicht anklagen.« (140) Die letzte Form der Rechtfertigung von Respekt, mit der Margalit sich beschäftigt, basiert allein auf dem moralischen Grundsatz der Vermeidung von Grausamkeit. »Negativ« ist für ihn eine Begrün­ dung menschlicher Würde dann, wenn sie nicht das Prinzip der Respektierung von Menschen, sondern nur die allgemeine Norm zu rechtfertigen versucht, Menschen nicht zu entwürdigen oder zu demütigen. Die einfachste Weise, ein solch negatives Prinzip zu begründen, erblickt Margalit in der Erweiterung unserer Vorstel­ lung von Grausamkeit um eine spezifisch menschliche Dimension: die Vermeidung von Grausamkeit ist, weil sie das größte denkbare Übel darstellt, stets die elementare Aufgabe aller Moral; im Rah­ men der symbolvermittelten Lebensform des Menschen nimmt Grausamkeit vor allem die besondere Form der Demütigung an, denn diese stellt deren symbolische oder »mentale« Seite dar; daher ist es gerechtfertigt, die Vermeidung von Demütigung ebenso als ein oberstes Prinzip aller Moral zu betrachten wie das Verbot von physischer Grausamkeit (109). Margalit läßt keinen Zweifel daran, daß er eine solche Strategie der negativen Begründung von Respekt für ausreichend hält, um das Konzept der »deccnt society« zu rechtfertigen: mit der negativen Charakterisierung einer derartigen Form von Gesellschaft teilt sie die Orientierung an der Vermeidung ^7

von »Demütigung«, überdies ist sic frei von überflüssigen, schwer begründbaren Prämissen und verfängt sich nicht in Widersprüche oder Schwierigkeiten (108 ff.). Im Unterschied allerdings zu den beiden anderen Versionen einer Rechtfertigung von Respekt er­ schließt diese letzte Version keine neuen Dimension am Phänomen der »Demütigung«; vielmehr bildet die Kategorie der symboli­ schen Grausamkeit, auf die die negative Form der Begründung sich stützt, die begriffliche Klammer zwischen den verschiedenen Aspekten, die sich sinnvoll am Tatbestand der »Demütigung« voneinander abheben lassen. Die unterschiedlichen Formen, die die demütigende Praxis von Institutionen annehmen kann, stellen ebenso viele Weisen jener symbolischen Grausamkeit dar, deren Ausschluß eine »decent society« garantieren können muß.

V.

Margalit hat im Laufe seiner Argumentation, wie mittlerweile deutlich geworden ist, drei Aspekte am Phänomen der Demüti­ gung voneinander unterschieden. Im Zentrum der begrifflichen Bestimmung steht dabei zwar stets die negative Folge einer Ver­ letzung von Selbstachtung, aber es sind verschiedene Formen, in denen Individuen auf diese Weise durch Institutionen verletzt werden können: die elementare Form der Demütigung, von der die Darstellung ihren Ausgang nahm, stellt der Ausschluß aus der menschlichen Wertgemeinschaft dar; eine zweite Form bildet jene Einschränkung der menschlichen Kontrollfähigkeit, auf die Mar­ galit gestoßen war, als er die Möglichkeit einer positiven Recht­ fertigung von Respekt diskutierte; und eine dritte Form ist schließ­ lich mit solchen institutionellen Praktiken gegeben, durch die Menschen behandelt werden, »als ob« sie subhumane Wesen seien (175). Schon die enge Verwandtschaft, in der die erste und die dritte Form der »Demütigung« miteinander stehen, macht deutlich, daß hier nicht von drei distinkten Phänomenbereichen die Rede ist; nach Margalit soll es sich vielmehr um unterschiedliche Aspekte oder Bedeutungen ein- und desselben Sachverhalts handeln, dessen Kern in einer Form von symbolischer Grausamkeit besteht, die durch die Verletzung von Selbstachtung zugefügt wird (177 f.). Mit diesen theoretischen Überlegungen ist aus der Sicht Margalits in hinreichendem Maße geklärt, warum wir als Beobachter und als 268

die betroffenen Individuen gute Gründe besitzen, in Praktiken mit den besagten Merkmalen ein moralisches Unrecht zu erblicken: jede Handlung, durch die Menschen in einer der drei Formen gedemütigt werden, stellt eine symbolische Grausamkeit dar, de­ ren Vermeidung moralisch geboten ist. Allerdings bleibt auch nach dem damit umrissenen Ergebnis immer noch ungeklärt, was cs im einzelnen heißen soll, daß jenes moralische Unrecht nicht durch Personen, sondern durch Institutionen ausgeübt wird. Mit dem Versuch, diese Frage zu beantworten, wendet sich Margalit dem anwendungsbezogenen Teil seiner Studie zu. Den Ausgangspunkt stellt hier die Beobachtung dar, daß das von Hegel beschriebene »Paradox der Entwürdigung« überhaupt nur dort eine Rolle spielen kann, wo es sich bei dem moralischen Unrecht um die intentional zurechenbaren Handlungen eines Ak­ tors handelt: während in solchen Fällen für den Betroffenen von Bedeutung ist, ob die Demütigung von einem Subjekt ausgeführt wird, dessen Wert seinerseits ein Gefühl der Demütigung recht­ fertigt, sind derartige Gedankengänge im Fall des institutionell ausgeübten Unrechts ohne Bewandtnis; denn in dem Augenblick, in dem es die Institution ist, durch die die demütigende Handlung formal fcstgelegt ist, tritt die individuelle Besonderheit der aus­ übenden Personen (»Angestellten, Polizisten, Soldaten, [Gefäng­ niswärter, Lehrer, Sozialarbeiter, Richter]«) (158) hinter ihre in­ stitutionelle Rolle zurück. Typischerweise sprechen wir in diesem zweiten Fall auch nicht eigentlich von »demütigenden Handlun­ gen«, sondern von »demütigenden Situationen«, um hervorzuhe­ ben, daß das Verhalten der aktiv beteiligten Personen hier Bestand­ teil eines institutionell festgelcgten Arrangements ist; dabei spielt die Frage, ob die entsprechende Institution ihrerseits genügend Anerkennung verdient, um ein Gefühl der Mißachtung zu recht­ fertigen, für die Betroffenen überhaupt keine Rolle (15 8 f.). Ein zweiter Schritt, den Margalit unternimmt, um sein Konzept der »Demütigung« für gesellschaftstheoretische Zwecke verfügbar zu machen, besteht in der Einführung des Begriffs der »encompassing group« (identitätsstiftende Gruppe). Nur in den krassen Fällen totalitärer Gesellschaften nimmt die Demütigung von Per­ sonen ja die brutale Form der zwanghaften Einschließung ganzer Menschengruppen an; für die liberalen Gesellschaften unseren Typs ist hingegen eine Art des Ausschlusses charakteristisch, die sich in der subtilen Form der Degradierung oder Ignorierung von

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Gruppen vollzieht, deren Werte und Lebensstile für ihre Mitglie­ der von konstitutiver, identitätssichernder Bedeutung sind. Um solche verbreiteten Formen der Demütigung theoretisch analysie­ ren zu können, zieht Margalit den Begriff der »encompassing group« heran, den er gemeinsam mit Joseph Raz zuvor in einem Aufsatz entwickelt hatte:13 dabei handelt es sich um Gruppen, deren Mitglieder kulturelle Werte und Lebensstile teilen, die für ihr Wohlergehen von zentraler Bedeutung sind, weil sic Berufs­ orientierungen, Freizeitverhalten, Umgangsformen und Intimi­ tätserwartungen festlegen; die Mitgliedschaft in diesen Gruppen, die zu groß sind, als daß sie in persönlicher Bekanntschaft veran­ kert sein könnten, regelt sich durch informelle Prozesse der wech­ selseitigen Anerkennung, die nicht über besondere Leistungen, sondern über die bloße Zugehörigkeit entscheiden (196 ff.). Es sind solche Gruppen, von denen Margalit nun behauptet, daß sie in Gesellschaften unseren Typs gewöhnlich das Objekt von institutionellen Praktiken der Demütigung sind: durch unter­ schiedliche Formen der Ausschließung, die von der gezielten Ridikülisierung über die rechtliche Diskriminierung bis zum to­ talen Verbot reichen können, werden »encompassing groups« in einer Weise gedemütigt, daß ihre Mitglieder sich begründeterma­ ßen in ihrer Selbstachtung verletzt sehen können. Allerdings tritt schon an dieser Stelle ein Problem zutage, das von nun an den gesellschaftstheoretischen Teil der Studie von Margalit wie ein roter Faden durchziehen wird: unklar an verschiedenen Formen jener Demütigung von kulturellen Gruppen, ja, an der institutio­ nellen Realität von Demütigung überhaupt ist nämlich, ob durch sie tatsächlich die Selbstachtung von Individuen oder vor allem ihr Selbstwertgefühl verletzt wird. Und die Antwort auf die damit angerissene Frage ist deswegen von so großem Gewicht, weil mit ihr am Ende festgelegt wird, wie anspruchsvoll das Konzept der »decent society« im ganzen wirklich ist. So wie das Konzept der »demütigenden Situation« die Wirkungs­ weise der institutionellen Demütigung zu klären helfen sollte, so soll der Begriff der »encompassing group« mithin jene theoretische Lücke schließen helfen, die zwischen der abstrakten Vorstellung von Demütigung und der sozialen Realität bislang bestand: im 13 Avishai Margalit/Joseph Raz, National Self-Determination, in: The Journal of Philosophy, Vol.87, N0.9 (i99°)> S.439’461-

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Normalfall gesellschaftlichen Lebens vollzieht sich »Demüti­ gung« in Form einer Degradierung solcher kulturellen Gruppen, deren Werte und Lebensstile für ihre Mitglieder von konstitutiver Bedeutung für das eigene Selbstverständnis sind. Mit diesen beiden Begriffen sieht Margalit sich nun in der Lage, die für seine Studie von Anfang an leitende Frage produktiv anzugehen: welche in­ stitutionellen Regelungen in unseren Gesellschaften sind es, deren Wirkungsweise in einer Art von Demütigung besteht, die nach Maßgabe der normativen Idee einer Vermeidung von symbolischer Grausamkeit als moralisches Unrecht zu bestimmen ist? Natürlich strebt Margalit hier nicht einen summarischen Überblick über all die Institutionen unserer Gesellschaft an, die sich nach sorgfältiger Prüfung im Licht des genannten Kriteriums als »demütigend« bezeichnen lassen; vielmehr soll in Form einer Erörterung exem­ plarischer Fälle vorgeführt werden, wie sich die negative Idee der »decent society« als ein formales Prinzip anwenden läßt, das nor­ mativ nicht weniger aussagekräftig ist als etwa die positiven Vor­ stellungen der unterschiedlichen Gerechtigkeitstheorien. Unproblematisch in dieser Hinsicht sind für Margalit solche in­ stitutionellen Regelungen, auf die eine der drei Bestimmungen von »Demütigung« angewandt werden kann, ohne daß schwierige Probleme der Interpretation von sozialen Kontexten oder psycho­ logischen Zusammenhängen entstehen. So stellt den klaren Fall einer demütigenden Institution die staatliche Praxis dar, bestimm­ ten Minderheiten einige der Bürgerrechte vorzucnthaltcn, die im politischen Gemeinwesen verfassungsmäßig garantiert sind; denn mit der Schaffung einer solchen »second-class citizenship« werden menschliche Subjekte, wie Margalit allerdings ein wenig überra­ schend in vager Anspielung auf Aristoteles behauptet, aus der menschlichen Wertgemeinschaft ausgeschlossen (t 86 f.). Ein wei­ teres, nicht minder eindeutiges Beispiel sieht Margalit in Lebens­ verhältnissen der Armut, soweit sie nicht aus freier Entscheidung hervorgegangen, sondern durch die Einrichtung der ökonomi­ schen Ordnung erzwungen sind; mit einer unfreiwilligen Existenz in Armut gehen nämlich verschiedene Einschränkungen einher (Hilflosigkeit, Verletzbarkeit, Verlust an Interessen usw.), die zu­ sammengenommen ein so hohes Maß an Entmenschlichung er­ geben, daß sich die betroffene Person nicht mehr als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft anerkannt fühlen kann. (260 ff.) Frei­ lich muß Margalit schon an dieser Stelle einräumen, daß die

Grenzlinie zwischen Selbstachtung und Selbstwcrtgefühl nicht mehr leicht zu ziehen ist; denn derjenige, der in erzwungener Armut lebt, besitzt gute Gründe, sich in den beiden Rollen sowohl des wertvollen Mitglieds einer Kooperationsgemeinschaft als auch des gleichberechtigten Mitglieds der Menschengemeinschaft ver­ letzt zu sehen (263 f.). In ernsthafte Schwierigkeiten bringen Margalit solche Umstände aber erst dort, wo es sich um institutionelle Regelungen handelt, deren moralisches Unrecht wesentlich im Bereich der Verletzung der persönlichen Ehre zu liegen scheint; hier wird nämlich mit einemmal unklar, ob der normative Begriff der »decency« tatsächlich nur die institutionelle Verletzung der Selbstachtung oder auch die des Selbstwertgefühls ausschließen soll. Bei seiner exemplarischen Erörterung stellen für Margalit beson­ ders jene Institutionen problematische Fälle dar, deren Verwoben­ heit mit anderen sozialen Arrangements es schwer entscheidbar macht, ob sie selbst bereits unter eine der Bestimmungen von »Demütigung« fallen. So gilt ihm die institutionelle Tatsache der Arbeitslosigkeit solange nicht als des moralischen Unrechts der »Demütigung« verdächtig, wie die wohlfahrtsstaatliche Zusiche­ rung einer finanziellen Aushilfe dafür sorgt, daß der Arbeitslose nicht in einer Situation der Armut leben muß; denn an der »Arbeit« ist unter Gesichtspunkten der »decency« nicht der intrinsische Wert für die Subjekte von Bedeutung, sondern allein die Tatsache, daß sie eine entscheidende Quelle des Erwerbs von Einkommen ist (285 ff.). Andererseits möchte Margalit aber auch die klassische, »expressivistische« Doktrin nicht einfach preisgeben, derzufolge menschliche Subjekte ganz wesentlich auf die Erfahrung einer Entäußerung in »sinnvoller« Tätigkeit angewiesen sind; denn ihres metaphysischen Charakters entkleidet besagt diese These nicht mehr, als daß das Bewußtsein des eigenen »Wertes« (self-worth) beim Menschen von der Bedingung abhängig ist, eine aus indivi­ dueller Sicht sinnvolle Tätigkeit zu vollziehen (291 f.). Beide Reihen von Überlegungen kann Margalit nun aber nur dadurch mitein­ ander in Einklang bringen, daß er zwischen »Erwerbsarbeit« und »sinnvoller Tätigkeit« eine so starke Kluft entstehen läßt, wie sie sich etwa in den späteren Schriften von Andre Gorz findet:14 eine

14 Vgl. etwa Andre Gorz, Abschied vom Proletariat: Jenseits des Sozialismus, Frankfurt/M. 1980. 272

»decent society« unterliegt demnach zwar nicht der normativen Anforderung, allen erwachsenen Mitgliedern einen einkommens­ sichernden Arbeitsplatz bereitstellen zu müssen, untersteht ande­ rerseits aber doch der moralischen Pflicht, jedem Mitglied die Chance einer sinnvollen Beschäftigung zu gewährleisten. Eine solche Lösung wirft allerdings eine Frage auf, die mit den beson­ deren Prämissen zusammenhängt, unter denen Margalit im Unter­ schied zu Gorz seine Zweiteilung rechtfertigt: wenn es der »Selbst­ wert« der Individuen ist, aufgrund dessen eine »decent society« zur Garantierung sinnvoller Tätigkeiten verpflichtet ist, dann läge es doch nahe, diese auch mit irgendeiner Form der öffentlichen An­ erkennung zu versehen; denn es ist ja nicht die bloße Erfahrung, etwas Sinnvolles zu tun, sondern erst die intersubjektive Wert­ schätzung, die damit einhergeht, was eine Person zum Bewußtsein ihres eigenen Wertes gelangen läßt - nicht jede Ausübung eines privaten Hobbys reicht schon hin, um mir ein Gefühl zu verschaf­ fen, daß ich von »Wert« im sozialen Leben bin. So entsteht an dieser Stelle wieder das Problem, ob die strikte Grenzziehung zwischen »Selbstachtung« und »Selbstwertgefühl« tatsächlich ein geeignetes Mittel ist, um die normativen Bedingungen einer Gesellschaft ohne Demütigung festzulegen; und damit ist erneut die bereits aufge­ worfene Frage berührt, wie Margalit im ganzen das Verhältnis von Demütigung und Unrecht oder, positiv gewendet, dasjenige von »decency« und »justice«zu bestimmen versucht.

VI.

An verschiedenen Stellen dieser Auseinandersetzung hat sich ge­ zeigt, daß bei Margalit nicht immer klar ist, wie normativ an­ spruchsvoll die Idee einer Gesellschaft ohne Demütigung am Ende eigentlich sein soll. Auf der einen Seite findet sich die Tendenz, den Begriff der »decency« von jeder Bezugnahme auf das menschliche Wohlergehen freizuhalten, indem darunter in negativer Weise nur die Bedingungen einer Vermeidung von psy­ chischer Grausamkeit subsumiert werden; demnach verstößt eine Gesellschaft dann gegen das zugrunde gelegte Prinzip, wenn sie institutionelle Regelungen enthält, durch die die Mitglieder sich begründeterweise in ihrer Selbstachtung verletzt sehen können; und über die Frage, ob gute Gründe solcher Art vorliegen, ent-

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scheidet der Katalog von objektiven Merkmalen, mit dem Margalit das Spektrum der verschiedenen Formen von »Demütigung« fest­ gelegt hat. Aber schon bei der Anwendung dieser Kriterien auf konkrete Institutionen offenbart sich, daß Margalit nicht immer umhin kann, unvermutet von normativen Bestimmungen Ge­ brauch zu machen, die das gute Leben von Individuen betreffen; denn was es heißen soll, daß jemand aus der menschlichen Wert­ gemeinschaft ausgeschlossen oder in seiner Kontrollfähigkeit ein­ geschränkt wird, kann sich uns erst in dem Maße zeigen, in dem wir von den »objektiven« Bedingungen des individuellen Wohl­ ergehens Kenntnis besitzen. So findet sich auf der anderen Seite bei Margalit auch die Tendenz, den Begriff der »decency« in dem Sinn normativ anspruchsvoller zu verstehen, als darunter in negativer Wendung das Insgesamt an institutionellen Einschränkungen des menschlichen Wohlergehens zusammengefaßt wird; danach ver­ stößt eine Gesellschaft dann gegen das zugrunde gelegte Prinzip, wenn sie institutionelle Regelungen enthält, durch die die Mit­ glieder sich begründetermaßen in den sozialen Bedingungen ihrer Selbsrverwirklichung eingeschränkt sehen können; und unter die­ sem »ethischen« Gesichtspunkt macht es wenig Sinn, zwischen der Verletzung von Selbstachtung und derjenigen des Selbstwertge­ fühls eine scharfe Grenze zu ziehen, weil die verdiente Anerken­ nung der eigenen Leistungen ebenfalls eine wesentliche Voraus­ setzung individuellen Wohlergehens darstcllt. Nun kann sich Margalit allerdings über diese innere Spannung seines Ansatzes leicht hinwegtäuschen, weil seinem eigenen Selbst­ verständnis nach der Begriff der »decency« normativ auf keinen Fall anspruchsvoller als der der »Gerechtigkeit« sein darf. Es finden sich zwei Stellen in seinem Buch, in denen das Verhältnis von »Demütigung« und »Unrecht« ausdrücklich zum Thema ge­ macht wird; beide Stellen stehen zwar ihrerseits noch einmal in einem gewissen Konflikt zueinander, schränken aber gemeinsam die normative Idee der »decency« so ein, daß sie entweder zur Vorstufe oder zum Äquivalent eines Prinzips der »Gerechtigkeit« wird. An der ersten dieser Stellen wird das Verhältnis der beiden Prinzipien in Übereinstimmung mit den Überlegungen bestimmt, auf die wir bereits gestoßen waren, als es um die Frage der Ver­ teilung sozialer Ehre ging: weil mit dem Begriff der »Demütigung« nur solche Formen moralischen Unrechts gekennzeichnet werden sollen, die Fälle psychischer Grausamkeit darstellen, rangiert die

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darauf zugcschnittcne Idee der »deccncy« noch unterhalb der normativen Stufe der Idee der »Gerechtigkeit«, mit der ja vor allem Ziele der Gleichbehandlung verknüpft sind. Margalit ent­ wickelt hier den Gedanken einer lexikographischen Ordnung, mit der die Reihenfolge festgelegt wird, in der gesellschaftliche Übel nach Maßgabe der Größe des verursachten Schadens beseitigt werden sollen; danach genießt die Überwindung physischer Grau­ samkeit die oberste Priorität, gefolgt von der Beseitigung psychi­ scher Grausamkeit und schließlich der Vermeidung sozialer Un­ gerechtigkeit. Positiv gewendet ergibt sich daraus für Margalit, daß die Idee einer gerechten Gesellschaft die oberste Sprosse einer normativen Stufenfolge repräsentiert, die kumulativ stets an­ spruchsvollere Formen moralischer Ordnung enthält (170 f.). Diese Vorstellung kann freilich nicht ohne weiteres mit den Über­ legungen übereinstimmen, die Margalit überall dort angestellt hatte, wo er sich gezwungen sah, seine basale Verurteilung von Demütigung mit Hilfe eines Prinzips universellen Respekts nor­ mativ zu rechtfertigen; denn im damit umrissenen Kontext mußte cs doch so scheinen, als ergäbe sich die Forderung einer »decent society« aus derselben moralischen Idee einer gleichen Achtung vor der Autonomie aller Menschen, die auch den an Kant anschlie­ ßenden Theorien der Gerechtigkeit zugrunde liegt. Daher kann es nicht überraschen, daß Margalit an der zweiten der besagten Stellen sein Konzept von »decency« dem Prinzip der Gerechtig­ keit nicht unterordnet, sondern zur Seite stellt: hier erweitert der Begriff der »Demütigung« nur das moralische Sensorium einer Theorie der Gerechtigkeit, indem er Fälle der Verletzung von Respekt in den Blick rückt, die bei einem zu starken Formalismus keine Berücksichtigung finden können. Es ist das letzte Kapitel des Buches, der »Schluß«, in dem Margalit diese vergleichenden Über­ legungen anstellt; sein zentrales Anliegen ist dabei, die Differenz zu erkunden, die seine eigene Konzeption von der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie trennt (v. a. 310-321). Mit Recht bemerkt Margalit hier gleich zu Beginn, daß die Idee einer »decent society« schon deswegen mit dem ursprünglichen Ansatz von Rawls eine zentrale Prämisse teilt, weil es in beiden Fällen um die sozialen Bedingungen der Sicherung von individueller »Selbstachtung« geht; auch wenn dieser Begriff von beiden Autoren nicht einheit­ lich verwendet wird, so bemißt sich bei ihnen doch gleichermaßen die moralische Ordnung einer Gesellschaft ganz wesentlich daran, 27S

inwieweit sie in der Lage ist, ihren Mitgliedern institutionell den Respekt zu garantieren, der für die Achtung ihrer selbst eine not­ wendige Voraussetzung bildet (312 f.). Insofern können auch die Unterschiede, die zwischen beiden Ansätzen bestehen, nicht grö­ ßer sein, als es der Ausgang von derselben moralischen Intuition zuläßt; am Ende reduziert sich die ganze Differenz auf den Punkt, daß Margalit mit seinem Begriff der »Demütigung« auch solche alltäglichen Fälle der Mißachtung in den Blick bekommen möchte, die Rawls bei seiner prozeduralistischen Beschränkung auf die »basic institutions« ignorieren muß - so etwa die institutionelle Entwürdigung von Personen innerhalb von religiösen Gemein­ schaften (312 ff.) oder die demütigende Weise, in der ansonsten gerechte Prozeduren sozial Anwendung finden können (318 f.). Mithin finden sich in der Untersuchung Margalits zwei konkur­ rierende Auffassungen darüber, in welchem Verhältnis die norma­ tive Idee der »decency« zum Prinzip der Gerechtigkeit steht; aber in beiden Modellen wird die Vision einer Gesellschaft ohne De­ mütigung nicht gemäß unserer gewöhnlichen Intuitionen als etwas bestimmt, das im Hinblick auf die Behandlung von Menschen die normativen Anforderungen einer gerechten Gesellschaft noch übertrifft. Von anderer Art wäre das Verhältnis freilich gewesen, hätte Margalit den Respekt für Personen von Anfang an als ein Element im Insgesamt der intersubjektiven Voraussetzungen be­ griffen, unter denen Menschen im Rahmen von Gesellschaften ein gutes Leben führen könnten. Nicht nur wäre es ihm dann erspart geblieben, an vereinzelten Stellen vollkommen unbegründet auf Bruchstücke einer Ethik zurückgreifen zu müssen, die sich auf objektive Bedingungen individuellen Wohlergehens bezieht (etwa 186 f., 291 f.); und nicht nur hätte er dann den Unterschied zwi­ schen Selbstachtung und Selbstwertgefühl nicht so prinzipiell werden lassen müssen, daß es am Ende so scheint, als ob die institutionelle Verletzung von begründeten Ansprüchen auf die Wertschätzung der eigenen Leistungen nicht einen Fall von De­ mütigung präsentiere. Vor allem aber wäre eine solche ethische Fassung der Idee der »decency« jener großartigen Vorstellung nähergekommen, wonach sich die Forderung einer Gesellschaft ohne Demütigung auf das Ganze des individuellen Lebens aller ihrer Mitglieder beziehen muß: jedem einzelnen ein Leben zu ermöglichen, das so frei von Not und Demütigung ist, daß alle sich mit »aufrechtem Gang« in der gesellschaftlichen Öffentlich2/6

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keit begegnen können. Die Idee von »Anerkennung« oder »Re­ spekt«, die dieser von Ernst Bloch beschworenen Utopie zugrunde liegt15, unterscheidet sich von herkömmlichen Konzepten der Gerechtigkeit nicht durch einen Verzicht auf Forderungen nach sozialer Gleichheit; es ist umgekehrt so, daß die Beseitigung von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten nur einen Schritt in der Errichtung einer Gesellschaft darstellt, die wahrlich keine institutionellen Verhältnisse der Demütigung mehr kennt.

»aufrech-­ 15 Vgl. zur philosophiegeschichtlichen Verortung der Idee des »aufrech ten Ganges« Ernst Bloch, Nalurrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1961.

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»Kommunikative Erschließung der Vergangenheit. Zum Zusammenhang von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Walter Benjamin«: ur­ sprünglich in: Internationale Zeitschrift fiir Philosophie, 1, 1993, S. 3 ff. »Ein strukturalistischer Rousseau. Zur Anthropologie von Claude LeviStrauss«: zuerst publiziert in: Merkur, 9, 1987, S. 819 ff.

»Leibgebundene Vernunft. Zur Wiederentdeckung von Maurice MerleauPonty«: zuerst publiziert in: Merkur, 454, 1986, S. 1052 ff. »Eine ontologische Rettung der Revolution. Zur Gcsellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis«: zuerst publiziert in: Merkur, 439-440, 1985, S. 807 ff.

»Kampf um Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität«: zuerst publiziert in: Traugott König (Hrsg.), Sartre-Konferenz, Reinbek bei Hamburg 1988. »Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologi­ schen Werk Pierre Bourdieus«: zuerst publiziert in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1, 1984, Jg. 36, S. 147 ff. »Die unendliche Perpetuierung des Naturzustandes. Zum theoretischen Erkenntnisgehalt von Canettis Masse und Macht--. erweiterte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in: Sinn und Form, 1995, H. 3, S.401 ff.

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»Das Subjekt im Horizont konfligierender Werte. Zur philosophischen Anthropologie von Charles Taylor«: erweiterte Fassung des »Nachworts« in: Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Indi­ vidualismus, Frankfurt/M. 1988, S. 295 ff. »Eine Gesellschaft ohne Demütigung? Zu Avishai Margalits Entwurf einer Politik der Wurde»: ursprünglich in: European Journal of Philosophy, Heft 3> ‘997-

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