Medizinische Schreibweisen: Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900) 9783484970496, 9783484351172

The volume examines the interrelationships between the history of medicine and literature from the 17th until the 19th c

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Medizinische Schreibweisen: Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900)
 9783484970496, 9783484351172

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen
Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos
Theologia medicinalis und apotheca spiritualis
Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation vor 1800
Charakter und Figur
Tristram Shandy und die Anthropologia nova – Systematik in Literatur und Medizin
»Trotz der geringen medicinalischen Pflege geschicht es doch, dass einige genesen« – Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung
Medicine, Law, and Literature: Pierre Georges Cabanis’ Journal de la maladie et de la mort de Mirabeau
»Zum Besten der Menschheit, und zur Ehre der Kunst«
Literatur und Medizin
Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld
»Going Beyond the Facts«
Die Topik des Unvorstellbaren
Backmatter

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf H&binger

Band 117

Medizinische Schreibweisen Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900)

Herausgegeben von Nicolas Pethes und Sandra Richter

Max Niemeyer Verlag T&bingen 2008

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet &ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-35117-2

ISSN 0174-4410

? Max Niemeyer Verlag, T&bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch&tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulEssig und strafbar. Das gilt insbesondere f&r VervielfEltigungen, Fbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestEndigem Papier. Satz: Verena Thoma, Hagen Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Nicolas Pethes / Sandra Richter Einleitung ................................................................................................................. 1

I.

VOR DER AUSDIFFERENZIERUNG: MEDIZINISCHE GELEHRTENKULTUR UND LITERATUR BIS 1750

Lutz Danneberg Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen: Zu Formen der Textgestaltung und Visualisierung in wissenschaftlichen Texten sowie zu Problemen ihrer Deutung.......................... 13 Simone de Angelis Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos: Zur Beziehung von medizinischen und poetischen Texten in der Renaissance ..................................... 73 Johann Anselm Steiger Theologia medicinalis und apotheca spiritualis: Zur Intertextualität von medizinischen und theologischen Schreibweisen bei Luther und im Luthertum der Barockzeit ........................................................ 99 Daniel Schäfer Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation vor 1800 ............................................................................................................... 131 Sandra Richter Charakter und Figur – Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands Abderiten (1781)............................................ 145

II. DER PROZESS DER AUSDIFFERENZIERUNG 1750–1850 Felix Sprang Tristram Shandy und die Anthropologia nova – Systematik in Literatur und Medizin .................................................................... 171

VI

Gerhard Aumüller / Natascha Noll / Irmtraut Sahmland »Trotz der geringen medicinalischen Pflege geschicht es doch, dass einige genesen« – Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung .................................................. 189 Mariana Saad Medicine, Law, and Literature – Pierre Georges Cabanis’ Journal de la maladie et de la mort de Mirbeau .................................................. 227 Karen Nolte »Zum Besten der Menschheit, und zur Ehre der Kunst«: Ärztliche Autorität in Fallberichten über Gebärmutterkrebsoperationen um 1800................................................................................................................ 245

III. JENSEITS DER AUSDIFFERENZIERUNG: SCHREIBWEISEN ZWISCHEN DEN ›ZWEI KULTUREN‹ Tom Kindt / Tilmann Köppe Literatur und Medizin: Systematische und historische Überlegungen anhand programmatischer Texte des europäischen Naturalismus ........................ 265 Barbara Beßlich Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld: Ärztlicher Blick und gesellschaftliche Differentialdiagnostik im analytischen Drama des Naturalismus ............................................................ 285 Marcus Krause »Going Beyond the Facts« – John B. Watson, der kleine Albert und die Propaganda des Behaviorismus ............................................................... 301 Nicolas Pethes Die Topik des Unvorstellbaren – Anthropotechnik und Biopolitik in medizinischer Science Fiction.......................................................................... 321 Kurzbiographien................................................................................................... 335 Register ................................................................................................................ 341

Nicolas Pethes und Sandra Richter

Einleitung

Die Aufmerksamkeit für die Nähe zwischen Medizin und Literatur ist in den letzten Jahren in beiden betroffenen Fachdisziplinen beständig gewachsen.1 Sie bestärken und erneuern damit eine alte Forschungstradition: Seit Eduard Schuberts und Karl Sudhoffs Paracelsus-Forschungen (1887) sind die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Ästhetik und medizinischer Wissenschaft ein Gegenstand der Forschung,2 die von den Dokumenten antiker Medizin über das Lorscher Arzneibuch und die medizinischen Dialoge der Renaissance bis hin zur literarischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, physiologischen und psychischen Krankheitsbildern in literarischen Texten sowie dem Aufstieg populärwissenschaftlicher Darstellungen im 19. Jahrhundert oder Phänomenen wie Bibliomanie bzw. Bibliotherapie ein weites Feld von Interessengebieten findet.3 Drei Perspektiven bestimmen die Forschung in diesem Feld: Entweder nimmt man den Ausgang von der Medizin und versteht ihre Kenntnisse als Verständnisgrundlage für literarische Figuren und Szenarien. Oder man begreift literarische Darstellungen von Arztfiguren und Krankheitsverläufen als semantische Matrix, welche die soziokulturelle Einbettung der Medizin illustriert. Beide Aspekte um-

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Vgl. zur Bestandsaufnahme Bettina von Jagow, Florian Steger (Hrsg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005. Wilhelm Kühlmann, Joachim Telle (Hrsg.): Corpus Paracelisisticum. Dokumente der frühneuzeitlichen Naturphilosophie in Deutschland. Bd. 1: Der Frühparacelsismus, Erster Teil. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 59); Bd. 2: Der Frühparacelsismus, Zweiter Teil. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 89). Vgl. Jürgen Grimm: Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und der Romania. München 1965; Wilfried Kudszus (Hrsg.): Literatur und Schizophrenie. Theorie und Interpretation eines Grenzgebiets. Tübingen 1977; Morris Morrisson (Hrsg.): Poetry as Therapy. New York 1987; Brigitte Schader: Schwindsucht. Zur Darstellung einer tödlichen Krankheit in der deutschen Literatur vom poetischen Realismus bis zur Moderne. Frankfurt/M. 1987; Udo Benzenhöfer: Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990; Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Hürtgenwald 1991ff. (geplant 4 Bde, erschienen Bd. 1, 1991; Bd. 2, 2000); Ann Carmichael (Hrsg.): Medizin in Literatur und Kunst. Köln 1994; Josef Domes u.a. (Hrsg.): Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Göttingen 1994; Allen Thiher: Revels in Madness: Insanity in Medicine and Literature. Ann Arbor 1999; Carsten Zelle (Hrsg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Aufklärung. Tübingen 2001; Andreas Frewer, Stefanie Stockhorst (Hrsg.): Bibliomanie als Krankheit und Kulturphänomen. Pathographische Fallstudien zur Rezeption von Magister Johann Georg Tinius. In: KulturPoetik 3 (2003), S. 246–262; Bettina von Jagow, Florian Steger (Hrsg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Heidelberg 2004.

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greifend lässt sich im Sinne einer dritten Perspektive darauf verweisen, dass Medizin darauf angewiesen ist, ihr Wissen breitenwirksam zugänglich zu machen – etwa durch Literatur als Medium der sprachlichen und symbolischen Formung sowie Deutung von Medizin.4 Der Nachteil derartiger Ansätze ist, dass sie von mehr oder weniger deutlich fixierten und essentialistischen Komplexen ›Medizin‹ und ›Literatur‹ ausgehen, deren Zusammenhang sich zumeist auf die Identifikation medizinischer Motive in literarischen Texten und literarischen Symbolisierungen medizinischer Zusammenhänge beschränkt. Zum Vergleich solcher Zusammenhänge bezieht man sich auf die mehr oder weniger ahistorische anthropologische Dimension der Literatur bzw. kommunikative Dimension der Medizin.5 Dass ›Literatur‹ und ›Medizin‹ ihrerseits im Prozess der Ausdifferenzierung verschiedener Gesellschaftssysteme historisch gewachsene Kategorien sind, deren Verhältnis entsprechend wandlungsreiche, immer wieder neu konstruierte und funktionalisierte Genealogien kennt, gerät so nicht hinreichend in den Blick. Aus diesem Grund schlägt der vorliegende Band eine historische Darstellung des Verhältnisses zwischen Medizin und Literatur vor, die sich anstelle motivischer Gemeinsamkeiten auf eine materielle Schnittmenge beider stützt: auf die Tatsache nämlich, dass sich sowohl Literatur als auch Medizin (wenigstens in weiten Teilen) schriftlich artikulieren. Die verschiedenen Gestalten dieser Artikulationsform erlauben mithin eine Bestandsaufnahme von Parallelen und Differenzen, von Anleihen und Distanzierungen zwischen wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen. Dieser Vorschlag stützt sich auf eine ganze Reihe jüngerer Ansätze in Medizingeschichte wie Literaturwissenschaft: Obwohl es in der Medizingeschichte in erster Linie um die Entwicklung medizinischen Wissens, medizinischer Praktiken und medizinischer Institutionen geht,6 entdeckt sie im Ausgang von der Patientengeschichte Roy Porters die Literatur als Dokument medikaler Kulturen.7 Diese

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Vgl. die Unterscheidung von fiktionaler Funktion der Medizin, szientifischer Funktion der Literatur und genuiner Funktion der literarisierten Medizin in Dietrich von Engelhardt: Vom Dialog der Medizin und Literatur im 20. Jahrhundert. In: Jagow, Steger: Repräsentationen (Anm. 3), S. 21–40 und ders.: Artikel »Medizin und Dichtung. Neuzeit«. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hrsg. von Werner E. Gerabek u.a. Berlin, New York 2005, Sp. 933–938. Daneben existiert noch der biographische Ansatz bei Volker Klimpel: Schriftsteller-Ärzte. Biographisch-bibliographisches Lexikon von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hürtgenwald 1999. Vgl. etwa das Vorwort zu Jagow, Steger: Literatur und Medizin (Anm. 1), S. 10. Alfons Labisch, Reinhard Spree: Neuere Entwicklungen und aktuelle Trends in der Sozialgeschichte der Medizin in Deutschland – Rückschau und Ausblick. Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 84 (1997), Teil 2, S. 305–321; John C. Burnham: How the Idea of Profession Changed the Writing of Medical History. London 1998; Thomas Neville Bonner: Becoming a physician. Medical Education in Britain, France, Germany and the United States, 1750–1945. Baltimore 2001. Volker Roelcke: Medikale Kultur: Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung eines kulturwissenschaftlichen Konzepts in der Medizingeschichte. In: Norbert Paul, Thomas Schlich (Hrsg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt/M., New York 1998, S. 22–44. Für den Bezug auf literarische Quellen siehe v.a. die Doku-

Einleitung

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Entwicklung wird durch interdisziplinäre Arbeitsfelder wie die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte,8 die Anthropologie,9 die Kulturgeschichte10 und die kulturwissenschaftlichen Körper-Studien11 begünstigt. Hinzu kommen neue literaturwissenschaftliche Formationen: Die ›Literature and Science-Studies‹ förderten das fachübergreifende Interesse derart, dass sich mittlerweile sogar eine Zeitschrift ausschließlich dem Thema ›Literatur und Medizin‹12 widmet und ganze Tagungsreihen zum Thema geplant werden.13 Eine vergleichbare innovative Kraft kommt

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mentationen in der Darstellung von Engelhardt: Medizin (Anm. 3); Klaus Bergdolt, Dietrich v. Engelhardt (Hrsg.): Schmerz in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Hürtgenwald 2000; siehe v.a. auch den Sammelband von Udo Benzenhöfer, Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992. Barbara Mahlmann-Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 25 (1998), S. 3–35; Josef Vogl: Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. München 2000 und dies.: Early Modern History Meets the History of the Scientific Revolution: Thoughts towards a Rapprochement. In Helmut Puff, Christopher Wild (Hrsg.): Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003, S. 37– 54; Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 1. Berlin, New York 2002; Lutz Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und des Natur-Körpers. Das Lesen im ›liber naturalis‹ und ›supernaturalis‹. Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 3. Berlin, New York 2003. Siehe die Erträge der seit 1998 bestehenden Hallenser Forschergruppe »Selbstaufklärung der Aufklärung. Individual-, Gesellschafts- und Menschheitsentwürfe in der anthropologischen Wende der Spätaufklärung«; zuletzt aber v.a. Christian Kiening: Historische Anthropologie in literaturwissenschaftlicher Perspektive. Historische Anthropologie 10/2 (2002) S. 205–207; Carsten Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E.A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns). In: Jörn Steigerwald, Daniela Watzke (Hrsg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter. Würzburg 2003, S. 203–224; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003; Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004; Jörn Garber, Heinz Thomas (Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; kritisch dazu Jutta Heinz: Doppelrolle. Die »anthropologische Wende« der Aufklärung, konstruktivistisch gewendet, IASLonline 22.04.2005. Hartmut Böhme (Hrsg.): Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt/M. 1988; ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988; unter den jüngeren Ansätzen Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hrsg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg 2001. Vgl. Heinz-Georg Held: Körperverständnis im 18. Jahrhundert. Zu einem neuen Forschungsbeitrag. In: Euphorion 97/2 (2003) S. 255–264. So die Zeitschrift »Literature and Medicine«. Besonders aktiv ist dabei die »Équipe Traverses« der Universität Stendhal-Grenoble 3, die ihre einschlägige Veranstaltungsreihe vom 13. bis 15. März 2008 mit einem internationalen Kolloquium zum Thema »Médecine, sciences de la vie et littérature« eröffnet.

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dem ›New Historicism‹ und verwandten Verfahren zu, welche die Literaturwissenschaft für nicht-literarische Text- und Bildtypen öffneten.14 Inspiriert durch diese Ansätze schlug Walter Erhart im Jahr 2004 vor, eine Medizingeschichte der Literatur zu schreiben.15 Dem Projekt stellte Erhart eine folgenreiche methodische Überlegung voran: Für eine solche Medizingeschichte der Literatur reiche es nicht aus, Kontexte der Literatur zu erörtern. Vielmehr gelte es, zwei getrennte Geschichten, diejenige der Literatur und diejenige der Medizin, im Sinne von »koexistente[n] und koevolutionäre[n]« Entwicklungen miteinander zu verbinden.16 Dabei zielt Erhart vor allem auf eine Geschichte des Wissens, der Praktiken und der Institutionen, nimmt aber zugleich auch die »Textualität und Semiotik der gemeinsamen Wissensbestände« in den Blick.17 Dieser Ansatz erfordert, und hierin liegt der forschungssystematische Akzent dieses Sammelbandes, eine simultane Perspektive auf die Medizingeschichte der Literatur wie auf die Literaturgeschichte der Medizin.18 Medizinisches Wissen wird zum einen durch die verschiedenen Textformen dargestellt und vermittelt, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausbildeten und sich im Zuge der fachwissenschaftlichen Spezialisierung instituitionalisierten. Zum anderen kommt diesen Textformen und ihren genretypischen Strukturen eine konstitutive Dimension bei der Entwicklung medizinischen Wissens zu – quantitativ und qualitativ abhängig von ihren jeweiligen Funktionen entweder als fachwissenschaftlicher, als populärer oder fiktionaler Text. Alle diese Textformen reagieren auf einen unterschiedlichen Bedarf an Archivierung, Kommunikation und Reflexion wissenschaftlicher Beobachtungen. Für diesen Bedarf wählen sie sich die jeweils geeignete ›Schreibweise‹, d.h. Textkomplexe, die unterhalb der Ebene von Gattungen oder Genres liegen, aber – wie »das Narrative, das Dramatische, das Satirische« – wieder-

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Etwa die Studie von Rudolf Käser: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998. Walter Erhart: Medizin – Sozialgeschichte – Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29/1 (2004) S. 118–128; vgl. auch ders.: Editorial. Einleitung. In: Der Deutschunterricht 5 (2003) S. 2–7; Anregungen für eine vergleichbare Geschichtsschreibung lassen sich auch bereits Käsers diachron angelegter, von der Diskursanalyse und vom New Historicism inspirierter Studie über Darstellungen von Arzt und Tod in der Literatur seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts entnehmen (Arzt, Tod und Text, Anm. 14, S. 22 und passim).; kritisch dazu – und wiederum mit Anregungen zum Vorgehen – die Rez. von Martin Stingelin. In: Scientia Poetica 5 (2001) S. 231–236; vgl. auch die Sammelrez. v. Florian Steger: Rez. »Literatur und Medizin«. In: KulturPoetik 5/1 (2005) S. 111–118. Erhart: Medizin (Anm. 15), S. 121; vgl. dazu auch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Ebd., S. 126; vgl. auch den Ansatz des neubegründeten Zürcher Jahrbuchs der Wissensgeschichte (2005). Vgl. mit einer ersten und historisch enger gefassten Skizze Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert. Von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical writing‹. In: Gesnerus 63/1,2 (2006), S. 127–143.

Einleitung

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erkennbare Konstanten aufweisen.19 Unter einer integrierten Literaturgeschichte medizinischen Wissens und Medizingeschichte literarischen Schreibens fiele dann nicht nur die Geschichte der unterschiedlichen literarischen und medizinischen Darstellungsweisen und Gattungen, sondern auch die Frage nach der Prägung medizinischen Wissens durch seine textuellen oder bildlichen Darbietungsformen sowie die komplementäre Hypothese, dass medizinisches Wissen die Darstellungsweisen und Gattungen mitgestaltet, in denen es aufbereitet wird. Was könnte ein solcher Zugang leisten, der in der angloamerikanischen Diskussion – in Anlehnung an die Praktiken medizinischer Wissensvermittlung – mitunter als ›Medical Writing‹, ›Writing Medicine‹ sowie – in Anlehnung an quasi-therapeutische Krankheitsbeschreibungen – als ›Narrating Illness‹20 oder ›Narrative Medicine‹ etikettiert wird? Erstens könnte ein solcher Zugang helfen, Darstellungsformen und -techniken rhetorisch, stilistisch, narrativ, poetologisch, semiotisch und metaphorologisch21 in den Blick zu nehmen, in denen medizinisches Wissen auftaucht. Beispielsweise prägen die ›geographischen‹ Kartierungen des Gehirns durch den Phrenologen Franz Joseph Gall die gesamte Hirnphysiologie bis heute; aus der Sicht der Neurowissenschaften ist aber von sehr viel flexibleren Funktionszuweisungen der Hirnsegmente auszugehen.22 Zweitens ermöglicht der beschriebene Zugang eine kritische Prüfung auch medizingeschichtlicher ›Erzählungen‹.23 Für den Bereich der Krankheits- und Patientengeschichte ist von einem noch höheren Grad der Rheto-

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Der Begriff der Schreibweise entstammt Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 27. Rita Wöbkemeier: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien. Stuttgart 1990; vgl. dazu die Dokumentationen zum Thema aus dem Graduiertenkolleg »Krankheit und Geschlecht« (Universität Greifswald), das von der deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Siehe auch Anne C. Vila: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France. Baltimore, London 1998, S. 111–292; dazu die Rez. v. Jörn Steigerwald. In: Das achtzehnte Jahrhundert 28/2 (2004) S. 310f. Seit Susan Sontags einschlägigem Essay über Aids als Metapher ist die Metaphernforschung unter diesem Aspekt besonders aktiv; Susan Sontag: Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors. New York 1989; Roger D. Lund: Infectious Wit: Metaphor, Atheism and the Plague in Eighteenth-Century London. In: Literature and Medicine 22/1 (2003), S. 45–64; Andreas Renner: A Misery Beyond Description? Plague as Metaphor in Moscow, 1770–1772. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 23 (2004), S. 43–66. Das Gehirn sei hier nur als eines unter zahlreichen Beispielen erwähnt, weil es v.a. im Ausgang des 18. Jahrhunderts mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wird; siehe Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin 1997; ders.: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen 2004; speziell zu Strategien der ›Narrativierung‹ des Gehirns L.S. Jacyna: Lost Words. Narratives of Language and the Brain, 1825–1926. Princeton 2000; Peter-André Alt: Kartographie des Denkens. Literatur und Gehirn um 1800. In: Norbert Elsner, Werner Frick (Hrsg.): Scientia poetica. Literatur und Naturwissenschaft. Göttingen 2004, S. 162–192. Vgl. John Harley Warner: Locating Medical History. Their Stories and Their Meanings. Baltimore 2004; Harry Collins, Trevor Pinch: Dr. Golem. How to Think about Medicine. Chicago 2005.

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rizität medikalen Wissens und medikaler Darstellungen auszugehen. Krankheiten wie Syphilis,24 Nymphomanie25 und vor allem die Krankheit des Genies, die Melancholie,26 sind so stark kulturell besetzt, dass sie bereits bestimmte Assoziationen, Wertungen und narrative Schemata hervorrufen, andere wie z.B. Aids haben die Metapher der Ansteckung erneut in den Vorrat gängiger Kommunikationsmuster eingespeist.27 Die Literarisierung von Medizin und die Medikalisierung von Literatur beeinflussen einander so betrachtet wechselseitig.28 Drittens lässt sich zeigen, wie medikale Wissensbestände und ihre (Selbst-)Literarisierung auch in andere Wissensbereiche eingehen: Vom ›Zerschneiden‹ etwa ist auch in der Hermeneutik die Rede.29 Unser Vorschlag, den Disziplinennamen ›Medizin‹ und die literaturwissenschaftliche Kategorie der ›Gattung‹ durch den Begriff ›medizinisches Wissen‹ einerseits, durch das Konzept ›Schreibweise‹ andererseits zu ergänzen, möchte diesen Formen des Transfers von Wissen und Text in besonderer Weise Rechnung tragen: Um die infrage stehenden Korrelationen angemessen beschreiben zu können, ist ein ausschließlich disziplinärer Blickwinkel nur bedingt hilfreich. In diesem Sinne verstehen wir unter medizinischem, oder, weiter gefasst: ›medikalem‹ Wissen jede Behauptung über Körperorganisation, Konzepte von Krankheit und

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Allan M. Brandt: No Magic Bullet. A Social History of Venereal Disease in the United States since 1880. New York u.a., Oxford 1987; Anja Schonlau: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880–2000). Würzburg 2005, S. 60–76. Alexander Košenina: ›Es leihe [...] Trost der männertollen Dirne‹. Beiträge über Nymphomanie im Umkreis von Ernst Anton Nicolai. In: Carsten Zelle (Hrsg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Aufklärung. Tübingen 2001, S. 120–140. Jackie Pigeaud: La Maladie de l’âme. Etudes sur la relation de l’âme et du corps dans la tradition médico-philosophique antique. Paris, Soc. d’éd. »Les Belles lettres« 1981; Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung: Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; zuletzt Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002. Siehe auch die Monographie zur Psychologie von Matthew Bell, der gegenwärtig ein umfassendes Projekt zur Melancholie in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts verfolgt; ders.: The German Tradition of Psychologie in Literature and Thought, 1700–1840. Chicago 2005. Vgl. im Anschluss an Sontag: Illness (Anm. 21): René Martin: Eine Krankheit zum Tode. Aids in der deutschsprachigen Literatur. St. Ingbert 1995; Emmanuel Nelson (Hrsg.): AIDS. The Literary Response. New York 1992; Brigitte Weingart: Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS. Frankfurt/M. 2002; Ruth Mayer, Brigitte Weingart (Hrsg.): Virus! Mutationen einer Metapher. Bielefeld 2004; Miriam Schaub, Nicola Suthor (Hrsg.): Ansteckung. München 2005. Vgl. z.B. Emanuel Papper: Romance, Poetry, and Surgical Sleep. Literature Influences Medicine. Westport, London 1995; Tanja Nusser, Elisabeth Strohwick (Hrsg.): Krankheit und Geschlecht. Diskursive Affären von Literatur und Medizin. Würzburg 2002; Bettina von Jagow, Florian Steger (Hrsg.): Was treibt die Literatur zur Medizin? Göttingen 2007. Danneberg: Die Anatomie (Anm. 8).

Einleitung

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Gesundheit, Therapieformen,30 Gebiete, die (wie die Hygiene) Gegenstand von Polizeiordnungen waren31 – unabhängig davon, wie fachlich fundiert und institutionell akzeptiert sie sind. Entsprechend möchten wir mit der Perspektive auf ›medizinische Schreibweisen‹ ein vorgeprägtes historisches Wissen über Genreund Gattungsschemata zurückstellen und das Augenmerk auf den jeweils spezifischen – wissensgeprägten und wissensprägenden – Formfindungsprozess richten. Dabei kommen Genremischungen, Genrewechsel, Genrekritiken etc. mit in den Blick. Dass sich solche Schreibweisen immer wieder zu neuen Gattungs- oder Genretypen verfestigen können, bleibt dabei unbestritten. Damit könnte es ein solcher Zugang zweitens ermöglichen, die etablierten Gattungen präziser zu kennzeichnen, in denen medizinisches Wissen auftaucht, und ihre Leistungen (respektive ihre Fehlleistungen) zu erörtern. Wie also sind Patientenbriefe und Konsiliarkorrespondenzen,32 Tagebücher und andere Selbstzeugnisse der Ärzte und Patienten,33 Ratgeber,34 medizinische Kalender,35 Notizbücher,36

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Über die Therapieformen siehe die provozierende Studie von David Wooton: Bad Medicine. Doctors Doing Harm Since Hippocrates. Oxford 2006. Virginia Smith: Clean. A History of Personal Hygiene and Purity. Oxford 2007. Dazu v.a. die Ergebnisse, die im Rahmen des Projektes »Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit« (Leitung Michael Stolberg) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit« (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München) entstanden und auf der Auswertung von mehr als 1000 Patientenbriefen ruhen; siehe auch den Beitrag von Marion M. Ruisinger: Auf Messers Schneide. Patientenperspektiven aus der chirurgischen Praxis Lorenz Heisters (1683–1758). In: Medizinhistorisches Journal 36 (2001) S. 309–333; zur aktuellen angloamerikanischen und französischen Diskussion Philip Rieder, Vincent Barras: Écrire sa maladie au siècle des Lumières. In Vincent Barras, Micheline Louis-Courvoisier (Hrsg.): La médecine des Lumières: Tout autour de Tissot. Genf, Paris 2001, S. 201–222. V.a. auch Thomas Schnalke: Medizin im Brief. Der städtische Arzt des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Korrespondenz. Stuttgart 1997; mit vergleichbarem Ansatz auch ders.: Leopoldina intern. Die Deutsche Akademie der Naturforscher um 1750 im Spiegel ihrer Korrespondenz. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 158–166. Siehe die Beiträge über die Archivalien August Hermann Franckes von Jürgen Helm und Josef N. Neumann in Josef Neumann, Udo Sträter (Hrsg.): Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Beiträge des Internationalen Symposion vom 12.–15. November 1997 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Tübingen 2000; vgl. auch Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert. In: Steigerwald, Watzke: Reiz (Anm. 9), S. 55–75. Speziell zur Gattung der Fallgeschichten siehe die Literaturhinweise im Beitrag von Karen Nolte in diesem Band; außerdem Kathryn Montgomery Hunter: Doctor’s Stories. The Narrative Structure of Medical Knowledge. Princeton UP 1993; Lauren Kassell: How to Read Simon Forman’s Casebooks: Medicine, Astrology and Gender in Elizabethean London. In: Social History of Medicine 12 (1999), S. 3–18; Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung in Recht, Medizin und Literatur. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 63–92. Siehe auch zuletzt die Tagung »Cases in Science, Medicine and Law«, 20./21. April 2007, Centre for Research in the Arts, Social Sciences and Humanities, Cambridge (Organisation John Forrester, Lauren Kassell).

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Nicolas Pethes/Sandra Richter

Rezepte,37 Lehrbücher, Wörterbücher bzw. Enzyklopädien,38 Disputationen, Programmschriften39 und Zeitschriften40 aufgebaut? Wie lassen sich medizinische Dialoge,41 Romane,42 Gelehrtensatiren,43 Exempla-Literatur,44 Versepen,45 Gedich-

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Sabine Sander: Gesundheit statt Galanterie. Der Paradigmenwechsel in ärztlichen Schönheitsratgebern im Jahrhundert der Aufklärung. In: Gesnerus 60 (2003), S. 25–61. Am Beispiel eines anonymen Kalenders Sandra Pott: ›Medicus poeta‹. Poetisierung medizinischen Wissens über Pest und Blässe: Hans Folz und einige unbekannte Mediziner-Dichter. In: Florian Steger, Kay Peter Jankrift (Hrsg.): Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Köln u.a. 2004, S. 253–261. Catherine Rollet: History of the health notebook in France: A stake for mothers, doctors and state. In: Dynamis (2003), S. 143–166. Die Breite der Rezeptliteratur vom Scherzrezept bis hin zum literatur- und kunstkritischen Rezept untersucht Joachim Telle: Das Rezept als literarische Form. Zum multifunktionalen Gebrauch des Rezepts in der deutschen Literatur. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26 (2003), S. 251–274. Barbara Bauer: Der ›Polyhistor physicus‹, ein Spiegel der naturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussionen auf der Schwelle zum Zeitalter Newtons. In: Françoise Waquet (Hrsg.): Mapping the world of learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, S. 179–220. Zu den Programmschriften Georg Ernst Stahls und seiner pietistischen Popularisatoren Jürgen Helm: ›Quod naturae ipsae sint morborum medicatices‹. Der Hippokratismus Georg Ernst Stahls. In: Medizinhistorisches Journal 35 (2000), 251–262; ders.: ›Daß zugleich die Gottseligkeit dadurch gebauet wird‹ – Pietismus und Medizin in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26/3 (2003), S. 199–211. Matthias Reiber: Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers »Der Arzt« (1759– 1764). Göttingen 1999; Bettina Wahrig: ›Alle Aerzte sollten also zu redlichen Männern gemacht werden.‹ Der Zeitschriftendiskurs zur medicinischen Policey 1770–1810. In Bettina Wahrig, Werner Sohn (Hrsg.): Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850. Wiesbaden 2003, S. 39–69. Klaus Bergdolt: Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühumanismus. Weinheim 1992; ders.: Freud im 14. Jahrhundert? Die Gesprächstherapie als literarisches Motiv bei Petrarca. In: G. Nissen, F. Baruda (Hrsg.): Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. Würzburg 1997, S. 35–43. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996; Maximilian Bergengruen: Missgeburten. Vivisektionen des Humors in Jean Pauls ›Dr. Katzenbergers Badereise‹. In: Jürgen Helm, Karin Stukenbrock (Hrsg.): Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 271–292; Käser: Arzt, Tod und Text (Anm. 14), S. 39–95; Günter Sasse: ›Die Zeit des Schönen ist vorüber‹. Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26/2 (2001), S. 72–97; Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 1. Berlin, New York 2002, S. 158–192, S. 261–276; Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007. Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003.

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te,46 Drama und Theater,47 Reiseberichte,48 Leichenpredigten, Trauer- und Trostgedichte49 beschreiben, in denen zu erheblichen Teilen medizinisches Wissen vermittelt wird? Wie ist mit Visualisierungen in solchen Texten umzugehen?50 Als kognitives und soziales Schema kann eine Schreibweise medizinisches Wissen in einer ihr eigenen Weise ausprägen, weil sie bestimmte Darstellungsformen, einen besonderen Begriffsgebrauch, Topoi und Metaphern nahelegt. Was aber passiert, wenn dieses medizinische Wissen außerordentlich komplex wird und einen professionellen Leser voraussetzt? Diese Frage führt zu dem dritten Anspruch, mit dem wir den Ansatz des ›Medical Writing‹ konfrontieren wollen und den die Beiträge dieses Bandes einzulösen suchen: Der Ansatz des ›medical writing‹ soll es ermöglichen, über die Entwicklungsgeschichten von Medizin und medizinisch orientierter Literatur differenziert Auskunft zu geben. Denn der Ausgang von einer Koevolution und Wechselbeziehung zwischen Wissensformen und Schreibweisen erfordert eine Historisierung der Differenzen zwischen Medizinund Literaturgeschichte. Der weite historische Bogen, den die Beiträge des vorliegenden Bandes spannen, veranschaulicht dementsprechend, wie sich die Relation zwischen beiden fundamental verschiebt: Während die neuzeitliche Gelehrtenkul-

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Daniel Schäfer: Langlebige Beispiele. Überlegungen zur Funktion und Gestaltung historischer Exempla für ein hohes Alter in der diätetischen Literatur der frühen Neuzeit. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 188–203; Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007. Irmgard Müller, Daniela Watzke: Gebrauch und Mißbrauch der Einbildungskraft in der Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Rudolf Behrens (Hrsg.): Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht. Hamburg 2002, S. 89–115. Vgl. die Lektüren ausgewählter Gedichte von Roland Borgards: Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur im Literatur und Medizin. In: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards, Johannes Friedrich Lehmann (Hrsg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001; Pott: ›Medicus poeta‹ (Anm. 35). Es handelt sich dabei um das Konzept der Reihe »Theatrum Scientiarum«, herausgegeben von Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig seit 2003 (Berlin, New York). Mit Blick auch auf das 18. Jahrhundert und im Überblick über die wichtigste Forschungsliteratur Thomas Müller: Vergleich und Transferanalyse in der Medizingeschichte? Eine Diskussion anhand von Reiseberichten als Quelle. In: Medizinhistorisches Journal 39 (2004), S. 57–77. Ralf Georg Bogner: Die Hilflosigkeit des Arztes im Angesicht des eigenen Todes. Biographistische versus rhetorische Deutungen zu Johann Christian Günters Lyrik am Beispiel seines Trauergedichtes auf Johann Jacob Vogt. In: Jens Stüben (Hrsg.): Johann Christian Günter (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters (München 1997), S. 113–122. Siehe u.a. Nick Hopwood: Visual standards and disciplinary change: Normal plates, tables and stages in embryology. In: History of Science 43 (2005), S. 239–303; Ian Maclean: Diagrams in the Defence of Galen: Medical Uses of Tables, Squares, Dichotomies, Wheels, and Latitudes, 1480–1574. In: Transmitting knowledge. Texts, Images and Instruments in Early Modern Europe. Hrsg. von Sachiko Kusukawa, Ian Maclean. Oxford 2006, S. 135–164.

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tur noch universell konzipiert ist und dem Autor gleichermaßen wissenschaftliche wie textuelle, literarische und visuelle Kompetenzen (LUTZ DANNEBERG) ebenso wie ein universelles Wissen abverlangt (J. ANSELM STEIGER, SIMONE DE ANGELIS), kommt es im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und Künste im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer Konstellation, für die der Graben zwischen den ›zwei Kulturen‹ ein zwar übertriebenes, aber doch signifikantes Bild liefert.51 Dieser Graben ist auch verantwortlich für die übliche und irritierende Zuordnung des ›Wissens‹ zur Medizin und der ›Schreibweisen‹ zur Literatur (DANIEL SCHÄFER). Diese Aufteilung der Kompetenzen beruht auf demjenigen Prozess, an dessen Ende im 19. Jahrhundert die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme deutlich abgegrenzt voneinander stehen. Der Prozess dieser Abgrenzung basiert aber auf einer Parallelentwicklung: der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung medizinischen Wissens52 und der gleichzeitigen Differenzierung und Spezialisierung der Literatur in Richtung auf die ›schöne Literatur‹.53 Erst infolge dieses Vorgangs der funktionalen Ausdifferenzierung existiert das Problem der Interaktion zwischen beiden Bereichen überhaupt als Problem, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in England (FELIX SPRANG).54 Nach der Etablierung der Medizin als fachwissenschaftliche Disziplin, können nur noch ›einfache‹ und wenig fachsprachliche Typen medizinischen Wissens wie die Temperamentenlehre, die Naturheilkunde und ihre Vorläufer55 die Gattung wechseln und auf die Vertrautheit des Leser mit entsprechenden Diagnosen, Symptomen oder Kurenz zählen (SANDRA POTT). Komplexes medizinisches Wissen jedoch kann dies nicht mehr. Umgekehrt werden Rhetorik und Stilistik, zuvor allgemeine Archive und Techniken der Texterstellung, zu einem Spezialwissen der Literatur und Literaturwissenschaft, deren immer komplexer werdende Textformen für Fachfremde ihre Bedeutung verlieren. Vor dem Hintergrund dieser Parallelbewegung der Differenzierung und Spezialisierung in beiden Bereichen unterbreitet der vorliegende Band den Vorschlag, die nach der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft dennoch

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Vgl. hierzu den Forschungsbericht und die Diskussion bei Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28 (2003), Nr. 1, S. 181–231, und ders.: Poetik/Wissen – Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 341–372. Zur Ausdifferenzierung der Wissenschaften Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Frankfurt/M. 1984. Vgl. zur Ausbildung eines autonomen Literatursystems Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1989. Siehe beispielsweise Hermione de Almeida: Romantic medicine and John Keats. Oxford UP 1991; Neil Vickers: Coleridge and the Doctors. Oxford 2004. Bernhard Uehleke: Ideengeschichtliche und begriffliche Vorläufer der ›Naturheilkunde‹ im 17. und 18. Jahrhundert. In: Dominik Groß, Monika Reininger (Hrsg.): Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf Keil. Würzburg 2003, S. 132–155.

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bestehenden Austauschbeziehungen zwischen Medizin und Literatur theoretisch zu fassen: Die Professionalisierung der Medizin und der zunehmende Ausschluss von Öffentlichkeit galten bislang als wesentliche Kriterien für die neue Epoche (KAREN NOLTE).56 Umgekehrt lässt sich die Differenzierung und Spezialisierung von Literatur aber nicht nur als Abkehr, sondern vielmehr als erneuter Schub für die literarische Gestaltung medizinischen Wissens begreifen (GERHARD AUMÜLLER, NATASCHA NOLL, IRMTRAUT SAHMLAND; MARIANA SAAD). So sorgt beispielsweise Goethes Wilhelm Meister – jenseits des Autonomie-Paradigmas – nicht nur für eine Popularisierung der Anatomie, sondern plädiert zugleich innovativ für die ›ressourcen-schonenden‹ Praktiken einer speziellen anatomischen Technik: der plastischen Anatomie.57 Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt es schließlich zu literarischen Programmen, die den Graben zwischen Wissenschaft und Literatur wieder programmatisch zu überbrücken beabsichtigen (TOM KINDT, TILMANN KÖPPE).58 Emile Zolas Anspruch, mittels seiner fiktionalen Milieustudien die experimentelle Physiologie eines Claude Bernard auf den Bereich der Gesellschaftswissenschaft ausdehnen zu können, ist weniger hinsichtlich seiner – früh kritisierten – methodischen Plausibilität von Interesse, denn als Symptom einer Krisenreaktion einer literarischen Kultur, die ihre stilistischen und formalen Kompetenzen ins Spiel zu bringen versucht, um den mittlerweile uneinholbaren Wissensvorsprung der Fachwissenschaften zu kompensieren (BARBARA BEßLICH). Die Einheit zwischen medizinischem Wissen und Schreibweise wird in der Klassischen Moderne zu einem bloßen Postulat, das außerhalb der Literaturgeschichte kaum Beachtung gefunden hat (NICOLAS PETHES). Gleichwohl bedienen sich medizinische Text bewusst bestimmter Schreibweisen, welche die Grenze zwischen literarischem und medizinischem Text mitunter als durchlässig erscheinen lassen (MARCUS KRAUSE).

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Hans-Uwe Lammel: Der Homo sacer der Aufklärung und die ›Dame Medizin‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29/1 (2004), 185f.; mit dem Plädoyer für eine vergleichbare diachrone Perspektive Käser 1998 (Anm. 14), 15f. Sinnvoll wäre es darüber hinaus, die Differenzierungsthese Niklas Luhmanns sowie benachbarte Thesen und Entwicklungsbegriffe zu erproben; vgl. beispielsweise den Versuch von Meike Hillen: Die Pathologie der Literatur. Zur wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt/M. u.a. 2003. Vgl. Walter Müller-Seidel: Dichtung und Medizin in Goethes Denken. Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt. In Hans-Jürgen Gawoll, Christoph Jamme (Hrsg.): Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. München 1994, S. 107–137 und Bernhard Siegert: Leichenschau zwischen Kunst und Medizin. Goethe und Hufeland. In: Ernst Osterkamp (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik NF, Bd. 5), Bern 2002, S. 211–230. Vgl. Lawrence Rothfield: Vital Signs. Medical Realism in Nineteenth-Century Fiction. Princeton UP 1994; Cynthia J. Davis: Bodily and Narrative Forms. The Influence of Medicine on American Literature, 1845–1915. Stanford UP 2000; Janis McLarren Caldwell: Literature and Medicine in Nineteenth-Century Britain: From Mary Shelley to George Eliot. Cambridge 2004; Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005.

Lutz Danneberg

Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen Zu Formen der Textgestaltung und Visualisierung in wissenschaftlichen Texten sowie zu Problemen ihrer Deutung

1. Das Gesicht des Textes Zwei Gestaltungsformen lassen sich hinsichtlich des Gesichts, der optischen Gestalt einer Seite, unterscheiden: zum einen die Gestaltung des wortsprachlichen Textes, zum anderen die Teile eines Werks, die als nicht-wortsprachlich gelten. Das erste umfasst Visualisierungen, die sich im weiten Sinn als solche des Layouts sowie vor allem als solche der internen Beziehungen segmentierbarer wortsprachlicher Teile eines Textes ansehen lassen. Zu diesen makrotypographischen Mitteln gehören Abtrennungen von Textteilen ebenso wie die Heraushebung einzelner Sätze, Wörter oder Buchstaben. Solche typographischen Mittel sind lange vor dem Druck entwickelt worden. Stärker genutzt wurden sie vermutlich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts um das, was zuvor nur lesbar war, nun sichtbar zu machen. Das betrifft nicht allein die Vermittlung theologisch-exegetischen und historischen Wissens, sondern erstreckt sich auch auf die Präsentation naturwissenschaftlicher und medizinischer Wissensansprüche. Später kommen Mittel hinzu, die sich nicht in der Makrotypographie niederschlagen, sondern etwa als Griffregister eine taktile Buchgliederung ermöglichen. Die makrotypographischen Darstellungsmittel – aber auch nicht-wortsprachliche wie Bilder, Diagramme, schematische Zeichnungen und Tabellen – dienen nicht zuletzt dazu, ein kompaktes Ganzes auf einer Textseite zu gliedern, Teile zu exponieren und so die Verstehbarkeit und Lesbarkeit des Textes sowie die Memorierbarkeit bestimmter Informationen zu erleichtern. Ebenso wichtig wie die optischen Mittel der Abgrenzung der leeren von den beschriebenen Teilen der Fläche einer Seite, etwa zur Markierung und Exponierung von Textanfängen und Textenden, sind solche Mittel, die die beschriebene Binnenfläche für den lesend Wahrnehmenden hierarchisieren. Generell helfen alle typographischen Formen, die sich seit dem frühen Mittelalter ausbildeten, ein ungegliedertes textuelles Ganzes auf der Textseite zu gliedern1: Die Mittel reichen von der

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Vgl. auch Henri-Jean Martin, Jean Vezin (Hrsg.): Mise en page et mise en texte du livre manuscript. Paris 1990; sowie H.-J. Martin: La naissance du livre moderne: (XIVe–XVIIe siècles); mise en page et mise en texte du livre français. Paris 2000; speziell auch zur Entwicklung der typographischen Techniken im Druck zur Abgrenzung von Abschnitten Frans A. Janssen: The Rise of the Typographical Paragraph. In: Karl A.E. Enenkel und Wolfgang Neuber (Hrsg.): Cognition and the Book: Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period. Leiden/Boston 2005, S. 9–32.

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Standardisierung der Buchstabens, um die Variationsbreite der token zum Buchstaben-type einzugrenzen (litterae absolutae), mit Auswirkungen auf die leichtere Lesbarkeit, über die Hervorhebung bestimmter Buchstaben, um Markierungen innerhalb eines Textganzen zu vollziehen (etwa capitalis rustica oder capitalis quadrata als Bestandteile der Zeichensetzung oder Minuskeln wie Majuskeln2), bis hin zu Merk-Wörtern oder Merk-Sentenzen, die in besonderer Weise hervorgehoben werden.3 Vermutlich aufgrund des geringen Interesses der Antike an einer meditativen Privatlektüre erfolgt nur zögerlich die Ablösung der scriptura continua durch die Einführung eines Spatiums und der damit erreichten Beschleunigung des (stillen) Lesevorgangs.4 Nicht zuletzt daraus, dass die überlieferten Schriften continua serie verfasst waren, erklärt sich das laute Lesen: Es ist die Transformation der kontinuierlichen Schrift in eine diskontinuierliche Gliederung von bedeutungsrelevanten oder bedeutungstragenden Segmenten: die discretio, auf die die pronuntiatio folgt. Korrektes Lesen, zugleich erster Teil der Technik in der Grammatik, und damit eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache des Textes bildet die Voraussetzung für die Arbeit mit ihm. So findet sich denn auch das korrekte Lesen des Textes explizit als erster Schritt der Interpretation im Prolog zu Augustins De doctrina Christiana, nicht zuletzt vor dem Hintergrund dargebracht, inwiefern die hermeneutischen Regeln des Kommentierens, demjenigen, der einen Zugang zum Text erlangen will, unabhängig und selbstständig gegenüber den Kommentaren macht und gerichtet dabei gegen diejenigen, die sich rühmten, ohne hermeneutisches Regelwerks zum (richtigen) Verstehen der Schrift zu gelangen, und zwar aufgrund göttlicher Eingabe. Gleich am Beginn des Prologs rechtfertigt Augustinus sein Regelwerk mit dem Hinweis, dass der Leser der Heiligen Schrift bei seiner Kenntnis Fortschritte machen könnte, auch ohne anderen Autoren folgen zu müssen. Bereits der Kirchenvater Hieronymus (340/50–419/20), sowohl auf Demosthenes als auch auf Cicero verweisend, hat den Text seiner Übersetzung per cola et

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Hierzu u.a. Udo Kindermann: Die kulturellen Auswirkungen der Karolingischen Minuskel. In: Lenz Kriss-Rettenbeck, Max Liedtke (Hrsg.): Erziehungs- und Unterrichtsmethoden im historischen Wandel. Bad Heilbronn 1986, S. 103–125; Ursula Risse: Untersuchungen zum Gebrauch der Majuskel in deutschsprachigen Bibeln des 16. Jahrhunderts. Heidelberg 1980; auch David Ganz: The Preconditions für Carolingian Minuscle. In: Viator 18 (1987), S. 23–44. Solche Hervorhebungen semantischer Informationen scheinen besonders im Orden der Zisterzienser gepflegt worden zu sein, hierzu Richard M. Rouse: Cistercian Aids to Study on the Thirteenth Century. In: Studies in Medieval Cistercian History 2 (1976), S. 123– 134; sowie Id.: La Diffusion en Occident au XIIIe siècle des outils de travail facilitant l’accès aux textes autoritatifs. In: Revue des études islamique 44 (1976), S. 115–147. Deutung nach Paul Saenger: Space Between Words: the Origins of Silent Reading. Stanford 1997; sowie Id.: Silent Reading; its Impact on Late Medieval Script and Society. In: Viator 13 (1982), S. 366–414; auch Id.: Manières de lire médiévales. In: Roger Chartier, Henri-Jean Martin (Hrsg.): Histoire de l’édition française. Tom. I: Le Livre conquérant. Du Moyen âge au millieu du XVIIe siècle. Paris 1982, S. 131–141.

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comma abgetrennt – zur Erleichterung des Verständnisses beim Lesenden.5 Das nimmt die traditionellen drei Bauformen der antiken Grammatiker auf: comma, colon und periodos.6 Sie dienten dazu, die angesichts der scriptio continua immer drohende Gefahr der incerta distinctio zu mildern. Auf den Kirchenvater haben sich denn auch die Späteren berufen – so Cassiodor (ca. 490–583), der die Interpunktion zur Erleichterung der Lektüre für den Ungeübten empfiehlt.7 Allein um eines einzigen Umstandes wegen sei das erwähnt: Es ist die Gefahr nicht intendierter Konsequenzen. So sieht sich der Kirchenvater genötigt, den mit dieser Technik der Lesbarkeit unerfahrenen Leser im Vorwort zu seinem Jesaia-Kommentar zugleich zu warnen: Er solle die so zerschnittenen Textteile nicht für Verse halten.8 Obwohl man mittlerweile nicht mehr der spektakulären Ansicht zuneigt, im Mittelalter sei auch bei ›privater‹ Lektüre durchweg laut gelesen worden und es

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Vgl. Hieronymus: Praefatio in Ezechielem (PL 28, Sp. 993–996, hier Sp. 996): »Legite igitur et hunc iuxta translationem nostram, quia per cola scriptus et commata, manifestiorem sensum legentibus tribuit.« Darüber hinaus heißt es Id.: Commentariorvm in Hiezechielem libri XIV [zw. 410–414], lib. IV, Praefatio (CCSL 75): »Vellem […] explanationes in Hiezechiel per singulos libros proriis texere prophetiis, et quod vaticinatione coniunctum est nequaquam exposiitone dividere, ut facilior esse curesus dictantis pariter et legentis; logvumque et immensum interpretationis iter certis spatiis separare, ut quasi titulis et indicibus, et, ut proprius loquar, argumentis ostenerem, quid libri singuli continerent. Sed quid faciam, cum aliae prophetiae breves sint, aliae longae, ut saepe necessitate cogamur et plures in unum librum coartare et unam in multos dividere?« Vgl. z.B. Quintilian, Inst Orat, IX, 4, 122–125, wo als lateinische Parallelausdrücke incisa, membra und circumitus verwendet werden. Dazu auch Eduard Fraenkel: Kolon und Satz: Beobachtung zur Gliederung des antiken Satzes. In: Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft, Phil.-hist. Kl. 1932, S. 197–213; Id.: Kolon und Satz: Beobachtung zur Gliederung des antiken Satzes, II. In: Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft, Phil.-hist. Kl. 1933, S. 319–354; sowie Id.: Noch einmal Kolon und Satz. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Ph.-hist. Kl. München 1965. Vgl. Cassiodor: Institutiones divinarum et saecularium litterarum [zw. 551–562]/ Einführung in die geistliche und weltliche Wissenschaften. Übersetzt und eingeleitet von Wolfgang Büsgens. Freiburg 2003 (FCh 39), I, 12, 4 (S. 180–182): »Menimisse autem debemus memoratum Hieronymum omnem translationem suam in auctoritate divina, sicut ipse testatur, propter simplicitatem fratrum colis et commatibus ordinasse; [...]«; auch ebd., Praefatio, 9 (S. 8). Zum Problem – in distinctionibus sententiarum – auch Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX [636]. Ed. W. M. Lindsay. Vol. I. Oxford 1911 (unpag.), I, 20: »Positura est figura ad distinguendos sensus per cola et comma et periodos, quae dum ordine suo adponitur, sensum nobis lectionis ostendit.« Vgl. Hieronymus: Praefatio In librum Isaiae [um 398] (PL 28, Sp. 825–828, hier Sp. 825B): »Nemo cum prophetas versibus viderit esse descriptos metro eos aestimet apud Hebaraeos ligari, et aliquid simile habere de Psalmis, vel operibus Salomonis; sed quod Demosthene et Tullio solet fieri, ut per cola scribantur et commata, qui utique prosa, et non versibus conscripserunt: nos quoque utilitati legentium providentes, interpretationem novam, novo scribendi genere distinximus.«

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habe kein rein optisches Lesen gegeben,9 hätte bereits eine genauere Beachtung dessen skeptisch machen können, was ›lautes‹ Lesen meinen kann – ein murmelndes, ein stimmloses Lesen (lectio tacita) lässt sich kaum als ein artikuliertes lautes Sprechen ansehen;10 selbst beim Kopieren von Texten in scriptio continua bedarf es keineswegs zwingend eines lauten Lesens, auch eine stille Konstruktion einzelner Wörter würde genügen. Misstrauisch hätte man gegenüber der Ausschließlichkeit einer solchen Annahme jedoch angesichts der verschiedenen elaborierten Darstellungsmittel werden können, die nicht zum Lesen, sondern zum Nachschlagen und allein für die Augen zur Texterschließung sowie zur lectio stataria entwickelt worden sind – ganz zu schweigen generell von gestalterischen Mitteln, die beim Vorlesen nicht mitteilbar sind, sondern sich allein dem anhaltenden Sehen erschließen wie etwa Akrosticha, aber auch Abbildungen. Freilich lassen sich beim Vorlesen bestimmte Gliederungsformen akustisch und mimisch ausdrücken, aber auch im Text selbst lässt sich das indirekt zum Ausdruck bringen – etwa durch sentenzen- und formelhafte Wiederholungen, die Absatzunterteilungen anzeigen, und zwar am Beginn und am Ende des Abschnitts (inclusio). Diese Veränderung der Art des Lesens hat weitreichende Spekulationen provoziert.11 So habe das stille Lesen mehr oder weniger die Bereitschaft zu Abweichungen in Gestalt von ›Häresien‹ befördert und sei auf diese Weise zumindest indirekt einflussreich für die Reformation geworden.12

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Zu den älteren Ansichten Josef Balogh: »Voces Paginarum«. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens. In: Philologus 82 (1927), S. 84–109, und S. 202–240; sowie G.L. Hendrickson: Ancient Reading. In: Classical Journal 25 (1929), S. 182–196; kritisch neben W.P. Clark: Ancient Reading. In: Classical Journal 26 (1931), S. 698–700; v.a. Bernard M.W. Knox: Silent Reading in Antiquity. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 9 (1968), S. 421–435; jüngst A.K. Gavrilov: Techniques of Reading in Classical Antiquity. In: Classical Quarterly 47 (1997), S. 56–73; auch mit einer Deutung der oft angeführten Augustinus-Stelle, ferner M.F. Burnyeat: Postscript on Silent Reading. In: ebd. S. 74–76, mit einer Stelle aus Ptolemäus’ Περί κριτηρίου και ¹γεµιονικοà, die »as such, […] refutes at one blow the army of scholars, both before and after Balogh, who have proved the extreme rarity of silent reading in antiquity.« Vgl. u.a. Heinrich Fichtenau: Monastisches und scholastisches Lesen. In: Georg Jenal, Stephanie Haarländer (Hrsg.): Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Stuttgart 1993, S. 317–337; übergreifend Dennis H. Green: Terminologische Überlegungen zum Hören und Lesen im Mittelalter. In: Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young (Hrsg.): Eine Epoche im Umbruch. Tübingen 2003, S. 1–22. So mache die ›Macht‹, die ein Text und seine Schreiber auf den Stimmgebrauch eines Menschen ausübe, der ihn laut vorliest, ihn damit (angesichts der griechischen) Wirklichkeit zu einem ›Sklaven‹, so Jesper Svenbro: Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens. In: Die Welt des Lesens: Von der Schriftrolle zum Bildschirm [Storia della lettura nel mondo occidentale, 1995]. Frankfurt, New York, Paris 1999, S. 59–96, hier S. 72 – mit so gut wie keinem unabhängigen Argument für eine solche Deutung. So verkürzt die Überlegungen bei Saenger: Space (Anm. 4), S. 264f. Ebenso wenig überzeugend erscheint die Assoziation, Berengar von Tours (1000–1088) sei aufgrund der mittlerweile üblichen Praxis der Worttrennung veranlasst worden, das logische Instru-

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Zweifellos können Darstellungsmittel einen Funktionswandel erfahren – so beispielsweise vom Träger spiritueller Bedeutungen hin zum Ornamentalen. Sie konnten aber auch als Textstabilisatoren fungieren, mithin als Mittel der Sicherung und Konsolidierung des Textes – etwa hinsichtlich seiner Reproduktion sowie der Identifizierbarkeit von Verfälschungen und Interpolationen. Zudem können unterschiedliche Mittel der Auszeichnung in bestimmter Hinsicht funktional äquivalent sein. Freilich sind sie es damit nicht schon hinsichtlich ihrer semantischen oder exemplifizierten Bedeutungen. Die Unterteilung eines Textes in Abschnitte lässt sich durch größeren räumlichen Abstand, aber auch wortsprachlich anhand von Überschriften anzeigen. Keine Frage ist weiterhin, dass allein schon optische Mittel der Unterteilung nicht nur die Sinnaufnahme, sondern auch die Sinngebung – raubend, vermehrend oder verändernd – beeinflussen können, auch wenn das nicht das Ziel des Einsatzes solcher Mittel zur Erhöhung der Lesbarkeit und Verständlichkeit eines Textes gewesen ist. An Gliederungsformen allein lassen sich zwar bestimmte Eigenschaften erkennen, aber an ihnen allein genommen nicht die ihnen zugedachte Funktion. So liegen die Gründe für die weitere Entwicklung der Unterteilungen in der karolingischen Zeit vermutlich in den Meditationsübungen und im liturgischen Gebrauch. Selbst das Format des Textes, beispielsweise ›tragbare‹ Bibelausgaben, besitzen, wenn auch nur im historischen Kontext, eine Funktion – für die Formatveränderungen scheinen Gründe im Zusammenhang mit der Häretikerbekämpfung gegeben zu sein. Es gab allerdings noch andere Gründe, um solche Bücher im Unterschied zu den magna volumina transportabel zu machen.13

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mentarium (des Aristoteles) auf Probleme der Eucharistie anzuwenden, und sei dadurch heftigen Vorwürfen der Häresie ausgesetzte gewesen, so zusammengefasst Saenger: Coupure et séparation des mots sur le Continent. In: Martin, Venzin (Hrsg.): La Mise en page (Anm. 1), S. 450–455. Nun heißt es freilich über Berengars in dieser Hinsicht schärfsten zeitgenössischen Kritiker, Lanfranc von Bec (1010–1089), er habe bei seiner Kommentierung der Paulinischen Briefe immer wieder auf die (aristotelische) Dialektik zurückgegriffen, so Sigebert von Gembloux (ca. 1030–1112), De scriptoribus ecclesiasticis [1100–12]. In: Robert Witte: Catalogus Sigeberti Gemblacensis monarchi de Viris Illustribus. Kritische Ausgabe. Bern, Frankfurt/M. 1974, cap. 156 (S. 97): »Lanfrancus dialecticus et Cantuariensis archiepiscopus Paulum Apostolum exposuit et, ubincunque opportunitas locorum occurrit, secundum leges dialecticae proponit, assumit, concludit.« Das bestätigen denn auch die von ihm erhaltenen Kommentare. Das heißt aber auch, dass es um die Erklärung der Anwendung der Logik auf einen bestimmten Bereich des theologischen Glaubens geht und das nun lässt sich aus den Praktiken der Worttrennung wohl mit Sicherheit nicht erklären. Vgl. z.B. Laura Light: The New Thirteenth-Century Bible and the Challenge of Heresy. In: Viator 18 (1987), S. 275–288; Charles H. Talbot: The Universities and the Medieval Library. In: Francis Wormald, Cyril E. Wright (Hrsg.): The English Library Before 1700. London 1958, S. 76–79. Zu den ›Riesenbibeln‹ und ihrer ›Funktion‹ u.a. Larry M. Ayres: The Italian Giant Bibels: Aspects of Their Touronian Ancestry and Early History. In: Richard Gameson (Hrsg.): The Early Medieval Bible: Its Production, Decoration and Use. Cambridge 1994, S. 125–154; sowie mit weiteren Literaturhinweisen Werner Telesko, Die »Riesenbibeln«, Beobachtungen zu Form und Gebrauch einer hochmittelalter-

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Das Verfahren der Textgliederung perfektioniert sich nicht zuletzt, um leichter bestimmte Passagen suchen und memorieren zu können14 und firmiert unter Bezeichnungen wie tituli, breves, breviarium, capitula, capitulati. Immer handelt es sich auch beim ›Einteilen‹ und ›Markieren‹ nur um eine von verschiedenen Funktionen, die sich mit makrotypographischen Mitteln verknüpfen ließen.15 Erst im 14. Jahrhundert, aber noch vor der Vereinheitlichung durch den Buchdruck, scheint sich die Praxis stabilisiert zu haben, nicht allein auf Kapitel eines Werks zu verweisen, die in den Handschriften nur mühsam aufzufinden sind, sondern sich beim Zitieren direkt auf die Blattzahl zu beziehen.16

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lichen Gattung. In: Karl Brunner, Gerhard Jaritz (Hrsg.): Text als Realie. Wien 2003, S. 319–335. Vgl. Samuel Berger: Histoire de la Vulgate pendant les premiers siècles du Moyen-Age. Nancy 1893, S. 311f., sowie Stephan Beissel: Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte des Mittelalters. Freiburg i. Br. 1906, S. 331f.; auch Jean Châttillon: Déarticulation et restructuration des textes à l’époque scolastique. In: Roger Laufer (Hrsg.): La notion de paragraphe. Paris 1985, S. 23–40. Hierzu u.a. Heinrich Josef Vogels: Zur Texteinteilung in altlateinischen Evangelienhandschriften. In: Albert Michael Koeniger (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des christlichen Altertums und der Byzantinischen Literatur. Bonn, Leipzig 1922, S. 434–450; Arthur Michael Landgraf: Die Schriftzitate in der Scholastik um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert. In: Biblica 18 (1937), S. 74–94; Bertrand Hemmerdinger: La division en livres de l’oeuvre de Thucydeide. In: Revue des études grecques 41 (1948), S. 104–117; Richard W. Hunt: Chapter Headings of Augustine De trinitate Ascribed to Adam Marsh. In: Bodleian Library Record 5 (1954), S. 63–68; Marguerite Harl: Recherches sur le Perˆ ¢rcîn d’Origène en vue d’une nouvelle édition: la division en chapitres. In: Studia Patristica 3 (1961), S. 57–67; Diana Albino: La divisione in capitoli nelle opere degli antichi. In: Annali della Facoltà di Lettere e filosofia (dell’Università di Napoli) 10 (1962/63), S. 219–234; M. W. Haslam: A Note on Plato’s Unfinished Dialogues. In: American Journal of Philology 97 (1976), S. 336–339; Michael M. Gorman: Chapter Headings for St. Augustine’s De Genesi ad litteram. In: Revue des Ètudes Augustiniennes 26 (1980), S. 88–104; sowie Id.: Eugippius and the Origins of the Manuscript Tradition of St. Augustine’s De Genesi ad Litteram. In: Revue Bénédictine 93 (1983), S. 7–30; Stephen J. Heyworth: Dividing Poems. In: Oronzo Pecere, Michael D. Reeve (Hrsg.): Formative Stages of Classical Traditions: Latin Texts Form Antiquity to the Renaissance. Spoleto 1995, S. 117–148; Charles Doria: Le titres des sermons d’Augustine. In: ebd., S. 447– 468, Pierre Petitmengin: Capitula paїens et chrétiens. In: Jean-Claude Fredouille et al. (Hrsg.): Titres et articulations du texte dans les œuvres antiques. Paris 1997, S. 491–509, sowie weitere Beiträge in diesem Band. – Zum hebräischen Text Josef M. Oesch: Petucha und Setuma: Untersuchungen zu einer überlieferten Gliederung im hebräischen Text des Alten Testaments. Freiburg, Göttingen 1979. Zur Foliierung und Paginierung mit einer Fülle an Belegen auch für andere Darstellungsund Verweistechniken Paul Lehmann: Blätter, Seiten, Spalten, Zeilen. In: Id.: Erforschung des Mittelalters. Bd. III. Stuttgart 1960, S. 1–59; dort (S. 11) auch der Hinweis auf ein frühes Beispiel der Bezifferung der Zeilen, jetzt v.a. Paul Saenger: The Impact of the Early Printed Page on the History of Reading. In: Bulletin du bibliophile 1996, S. 239–301, insb. S. 254–277.

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Entscheidend ist, dass auf diese Weise die Instrumente des Interpretierens, des Analysierens, in der Gestaltung des Textes selbst ihren Niederschlag finden konnten – und nicht etwa umgekehrt, so sehr auch der in bestimmter Weise eingerichtete Text sein Verständnis zu steuern vermag. Die Pesher-›Kommentare‹ in der jüdischen Tradition leiten sich aus pshr ab, was so viel wie ›lockern‹, ›auflösen‹ bedeutet. Bei dieser Weise des Kommentierens folgt auf ein Schrift-Lemma unterschiedlicher Länge (eine einzelne Phrase bis zu mehreren Versen) und einem formelhaft gekennzeichneten Übergang eine Bedeutungszuweisung.17 Dabei konnte der Text der Schrift in kleinste Einheiten zerlegt werden und diese erfahren dann, im Blick auf gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse, eine Deutung. Paulus kommentiert in Röm 10, 6–8, schrittweise ein Zitat (Dtn 30, 12–14), das er in drei Teile zerlegt und jeden (mit toàt’ œstin eingeleitet) einzeln erläutert. Gemeint ist hier freilich mehr die sich im Mittelalter ausbildende analysis textus mit ihren divisiones und distinctiones und dem expliziten Ziel der ›Auflösung‹ des Textes zu seinem Verständnis.18 Angelegt, wenn auch nicht mehr, etwa schon bei Quintilian.19

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Hierzu Isaac Rabinowitz: Pesher/Pittaron. Its Biblical Meaning and Its Singificance in the Qumran Literature. In: Revue de Qumran 8 (1973), S. 219–232; sowie Herbert W. Basser: Pesher Hadavar. The Truth of the Matter. In: ebd., 13 (1988), S. 389–404; zur Art dieser ,Kommentare‘ auch G.J. Brooke: Exegesis at Qumran: 4Qflorilegium in its Jewish Context. Sheffield 1985, S. 36–44 ; ferner Ida Fröhlich: Le genre littéraire des pesharim, de Qumrân. In: Revue de Qumrân 47 (1986), S.393–398. Bei den in Qumran gefundenen Kommentaren (etwa im Habakkuk Peshar) findet sich im Übrigen keine scriptio continua, sondern es wird ein Abstand (vacat) unterschiedlicher Länge verwendet, hierzu wie zu anderen Mitteln H. Gregory Snyder: Naughts and Crosses: Pesher Manucripts and Their Significance for Reading Practices at Qumran. In: Dead Sea Discoveries 7 (2000), S. 26–48. Sowie noch immer Karl Elliger: Studien zum Habakuk-Kommentar vom Toten Meer. Tübingen 1953, insb. S. 118–164, wo es (S. 163) heißt: »Einzelne Wörter, gewöhnlich nach ihrem Wortsinn genommen, genügen als Sprungbrett für die dem Ausleger wirklich wichtigen Gedanken, die sich ohne weitere Bindung an den übrigen Text frei entfalten und nicht auf den Text, sondern auf die dem Lehrer der Gerechtigkeit zuteilgewordene Offenbarung zurückgehen. Gewiß sucht der Ausleger dieses Gedanken im Text zu verankern; aber das geschieht mit den alten, relativ einfachen Mitteln der Atomisierung des Textes und Allegorese oder Beiseitelassen des Unpassenden.« Vgl. Lutz Danneberg: Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus. In: Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin, New York 2005, S. 255–337; Id.: Logik und Hermeneutik: die analysis logica in den ramistischen Dialektiken. In: Uwe Scheffler, Klaus Wuttich (Hrsg.): Terminigebrauch und Folgebeziehung. Berlin 1998, S. 129–157; sowie Id.: Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert. In: Jan Schröder (Hrsg.): Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Stuttgart 2001, S. 75–131 (frz. Übersetzung: Logique et herméneutique au XVIIe siècle. In: Jean-Claude Gens (Hrsg.): La logique herméneutique du XVIIe siècle – J.-C. Dannhauer et J. Clauberg. Argenteil 2006, S. 15–65). Vgl. Quintilian: Inst orat, I, 8, 13, wo es über den Grammatiker u.a. heißt: »[...] ut partes orationis reddi sibi soluto versu desideret et pedum proprietates, quae adeo debent esse notae in carminibus, ut etiam in oratoria compositione desiderentur.«

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Wie aus einer Passage kurz darauf hervorgeht, hat er offenbar eine klare Abfolge dabei im Auge: versus solvere, interpretari, paraphrasi vertere.20 Zum Hintergrund gehört zudem, dass seit alters sich das Kommentieren auf die Lösung (lÚsij) von Problemen (prÒblema/¢porƒa) ausrichtet, die beim Verständnis von Texten auftreten. Praktiziert wurde die (grammatische) Analyse beispielsweise unter der Überschrift Tracta singulas partes in den Partitiones duodecim versuum Aeneidos principalium, die zusammen mit den oft kommentierten und erfolgreichen grammatischen Lehrwerk Priscians (6. Jh.) überliefert wurden.21 Es handelt sich dabei um die grammatische Analyse der Anfangsverse der zwölf Bücher der Aeneis, und sie scheinen oftmals zum Standard auch des christlichen Unterrichts gehört zu haben. Der Sprachgebrauch erweist sich allerdings auch hier als systematisch mehrdeutig. Der für das frühe Mittelalter in der Logik maßgebliche Boethius (ca. 480– 524) unterscheidet von der divisio generis in species nicht allein die divisio totius in partes, sondern auch die divisio vocis in significationes.22 Sie ziele auf Vagheiten aller Art – nicht nur auf die Mehrdeutigkeit von Wörtern oder Sätzen, sondern 23 »secundum modum«; sie könne sich auf Bedeutungen erstrecken, aber auch auf Textaufteilungen im Raum oder schlicht auf grammatische Unterteilungen. Zunächst waren bestimmte distinctiones eher rhetorische Strukturierungen mit rhythmischen Pausen des Atmens (copiam spiritum reficiendi),24 die nicht zuletzt dem lauten (Vor-)Lesen dienten. Im Mittelalter scheint sich das zu ändern. Der Ausdruck, der die abzutrennenden Einheiten bezeichnet, ist nun sensus und im frühen Mittelalter wohl zuerst greifbar bei Isidor von Sevilla (Isidor Hispalensis ca. 560–

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Vgl. Quintilian: Inst orat, I, 9, 2, auch X, 5, 2f. Vgl. Priscian, Grammatica Caesariensis instintvtionvm grammaticorum libri 18. Vol. I. Libros 1–12, Vol. II, libros 13–18, continens. Ex recensione Martini Hertzii. Lipsiae 1855 und 1859, 1, 9; 2, 44; 3, 67, 4, 84, 5, 93, 6, 109, 7, 135; 8, 157; 9, 169, 10, 185, 11, 198; vgl. auch Marvin Irvine: The Making of Textual Culture: ›Grammatica‹ and Literary Theory, 350–1100. Cambridge 1994, insb. S. 178–189. Boethius: Liber de divisione [vor 510] (PL 64, Sp. 875–892, insb. Sp. 877f.). Vgl. ebd., Sp. 888A; und es heißt bei ihm erläuternd (Sp. 888D): »Fit autem vocis divisio tribus modis. Dividitur enim in significationes plures, ut aequivoca vel ambigua. Plures enim res unum nomen significat [...]. Plures rursus una oratio [...]. Alio autem modo secundum modum, haec enim plura non significant, sed multis modis [...].« Es handelt sich um solche Fälle, die entweder über die Mehrdeutigkeit hinaus eine nähere Bestimmung erfordern (Sp. 888D/889A) oder aber auch – für die mittelalterliche Interpretationspraxis wichtig –, die von ihrer näheren Bestimmung zu befreien sind. Vgl. z.B. Diomedes: Artis Grammaticae libri III. De poematibus [4. Jh.]. In: Grammatici latini ex recensione Henrici Keilii. Tom. I. Lipsiae 1852, S. 299–529, hier S. 437; oder Dositheus: Ars grammatica [3./4. Jh.]. In: Grammatici latini ex recensione Henrici Keilii. Tom. VII. Lipsiae 1880, S. 376–436, hier S. 380. Dionysius Thrax: Ars grammatica [2. H. 2. Jh. v. Chr.]. In: Gustavus Uhlig (Hrsg.), Grammatici Graci recogniti et apparatu critico instructi. Pars I Vol. 1. Lipsiae 1883, unterscheidet (S. 7/8) zwischen στιγµή τελεία, στιγµή µέση sowie Øποστιγµή, dabei bezeichnet letzteres die Stelle, wo man Atem holt; die ersten beiden unterscheiden sich hinsichtlich der Länge der (Atem-)Pause.

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636): »figura ad distinguendos sensus per cola et commata, et periodos«.25 Isidor dürfte zudem zu den ersten gehören, die ausgesprochen haben, dass sich ein Satz nicht allein durch den Rhythmus gliedern lasse, sondern durch Interpunktion – also nicht allein durch das Gehör, sondern auch optisch. Geraume Zeit hat sich die distinctio auf beides nebeneinander bezogen – auf Atmen wie auf Sinn. Ob und wie die Veränderungen der Zeichensetzung vom Kennzeichnen der Pausen zum Atmen beim Vorlesen zum Anzeigen von Sinneinteilungen mit ›tiefgreifenden Wandlungen des Gehörs für Satzformen‹ zusammenhängt, braucht hier ebenso wenig entschieden zu werden wie die ebenfalls kaum mit unabhängigen Gründen gestützte Vermutung, dass das im sich ausbildenden cursus mit dem »aufkommenden scholastischen Geschmack an logischen Abteilungen und Unterabteilungen« zusammenhänge und dabei »den Fortschritt der logischen Formen in der Komposition« kennzeichne, da sich »Leser und Autor« mehr als je zuvor »der Gliedsätze als der Grundeinheiten der Rede« bewusst werden würden.26 Wichtiger ist, dass diese Zweigestaltigkeit der divisio textus – im Rahmen der typographischen Gestaltung wie bei der Bedeutungszuweisung – verschiedentlich im Sprachgebrauch ihren Ausdruck findet. Ein Beispiel ist die Paragraphen- bzw. Kapitelunterteilung. Capitula können nummerierte Kapitel sein, die eine Überschrift tragen und die zugleich als Inhaltsangabe fungieren können:27 distinctiones capitularum sowie capitula lectionum (auch tituli breves oder breves causae) als kurze Zusammenfassungen, die dem Texten vorangesetzt wurden.28 Gleichwohl bleibt zwischen Inhaltsverzeichnis sowie Kapitelüberschriften, zwischen diesen wiederum und der Kapitelgliederung zu unterscheiden. Caput lässt sich mitunter aber auch mit »Anfang« (initium) als verblasste Metapher übersetzen, als Kapitel, und zwar als das erste, als »Anfangskapitel«, sowie als das, was von einem caput zum anderen reicht (›Absatz‹),29 ferner als Prinzip, Hauptstück, wie es bei Seneca vorgebildet

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Isidor von Sevilla: Etymologiarum [636] (Anm. 7), I, 20; ferner Alkuin: De Grammatica [2. Hälfte 8. Jh.] (PL 101, Sp. 849–902, hier Sp. 858); vgl. Id.: De ecclesiasticis officiis [zw. 598–615], De lectoribus, II, 11, 2 (PL 83, Sp. 791): »Qui autem ad hujusmodi provehitur gradum, iste erit doctrina et libris imbutus, sensumque ac verborum scientia perornatus, ita ut in distinctionibus sententiarum intelligat ubi finiatur junctura, ubi afhuc pendet oratio, ubi sententia extrema claudatur.« Aldo Scaglione: Komponierte Prosa von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Die Theorie der Textkomposition in den klassischen und den westeuropäischen Sprachen [The Classical Theory of Composition, 1972]. Stuttgart 1981, S. 108. Zu drei Bedeutungen von capitulum die Hinweise bei Zoltán Alszeghy: Einteilung des Textes in mittelalterlichen Summen. In: Gregorianum 27 (1946), S. 25–62; ferner zur capitulatio und zu Rubriken, v.a. auch zu ihrem Wandel, Georg May: Die Kanonistik um das Jahr 1000. In: Helmut Hinkel (Hrsg.): 1000 Jahre St. Stephan in Mainz. Mainz 1990, S. 113–157, insb. S. 151–154. Vgl. auch Paul Meyvaert: Bede’s Capitula Lectionum For the Old and New Testaments. In: Revue Bénédictine 55 (1995), S. 348–380. Es gibt bei Cicero mehrere Stellen, an denen er Textabschnitt als caput bezeichnet, vgl.Cicero, De legibus, 1, 21 oder 2, 62, oder Ad familiares, 3, 8, 2.

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ist.30 Kapitelangaben können der vorausgreifenden Unterrichtung des Lesers dienen, aber auch eine gliedernde Funktion haben für solche Leser, bei denen vorausgesetzt wird, dass sie mit dem Inhalt schon vertraut sind.31 Es handelt sich um eine Gliederungstechnik, die verhältnismäßig selten in der Antike gepflegt wurde;32 doch einer der ersten, der den Ausdruck capitulum als eine Art von Zusammenfassung – nicht capitula als Kapitel – in diesem Zusammenhang verwendet und die Bezeichnung index capitulorum geprägt hat, scheint Hieronymus in der Praefatio zu seinem Jesaia-Kommentar gewesen zu sein.33 Quintilian weist bei einer gelungenen (Gerichts-)Rede auf die ›Wiederholung‹ (repetitio) und die ›Zusammendrängung‹ (congregatio) der Tatsachen hin, die von den Griechen als ¢nakefala…wsij, von den Lateinern als enumeratio bezeichnet werden würden. Dabei handle es sich um eine Zusammenfassung, die den ›Fall‹ in einem Gesamtbild anschaulich vor Augen stelle (totam simul causam ponit ante oculos). Es gelte, so knapp wie möglich zusammenzufassen und die ›Hauptsachen‹ schnell durchzugehen.34 In dem Genre, in dem die distinctio und die divisio textus samt divisio und distinctio einen festen Platz in der Erhellung und Entfaltung der Textbedeutung (etwa nach dem vierfachen Schriftsinn) im Mittelalter gewinnt, ist das der Predigtlehren, also die artes praedicandi. In ihnen finden sich nicht selten explizite Anweisungen zur divisio als einem der tragenden Verfahren zum Textverständnis und zur Textaufbereitung für das Predigen.35 Bereits den Zeitgenossen war bewusst, dass sich die Predigtmuster gewandelt haben. In einem lange Zeit Heinrich von Langenstein (Henricus de Hassia um 1340–1397) zugeschriebenen Traktat zum Predigen wird – aufgrund der Wahrnehmung historischer Unterschiede in der exegetischen Praxis – zwischen verschiedenen Formen des Predigens unterschieden: »Quadruplex est modus praedicandi: antiquissimus, et eo usus fuit Christus et multi sancti doctores

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Seneca: Epistola, 84, 4: »[...] decreta ipsa philosophiae et capita [...].« Vgl. Hansjürgen Linke: ›Kapitelüberschriften‹ in den Handschriften f und p von Hartmanns ›Iwein‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 93 (1964), S. 176–208. Vgl. Henri-Irénée Marrou: La division en chapitres des livres de la Cité de Dieu. In: Mélanges Joseph de Ghellinck. Tom. I: Antiquité. Gembloux 1951, S. 235–249; ferner F.H. Kenyon: Book Divisions in Greek and Latin Literature. In: Harry M. Lydenberg, Andrew Keogh (Hrsg.), William Warner Bishop: A Tribute. New Haven 1941, S. 63–75; Jan van Sickle: The Book-Roll and Some Conventions of the Poetic Book. In: Arethusa 13 (1980), S. 5–42. Vgl. Hieronymus: Commentariorvm in Esaiam [zw. 408–410], Prologvs (CCSL 73, S. 4): »Apollinaris autem more suo sic exponit omnia ut uniuersa transcurrat et punctis quibusdam atque interuallis, immo compendiis grandis uiae spatia praeteruolet; ut non tam commentarios quam indices capitulorum nos legere credamus.« Vgl. Quintilian: Inst Orat, VI, 1, 1/2; bei Cicero: Epistulae ad Atticum, 16, 11, 4, heißt es: ut ad me t¦ kefalaia mitteret. Zu einigen Hinweisen u.a. James J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages: A History of Rhetorical Theory Form Saint Augustine to the Renaissance. Berkeley, Los Angles, London 1974, insb. S. 306–344.

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post eum; modernus; antiquus, qui fuit post Christum et sanctos doctores, et ante modernus; subalternus, et est aggregatus ex omnibus illis predictis.«36 Von den angeführten Besonderheiten der genannten modi ist im vorliegenden Zusammenhang allein von Interesse, dass der erste modus praedicandi – also der, dem Christus selber und die Kirchenväter gefolgt seien – explizit so charakterisiert wird, dass dieses Predigen ohne jegliche divisio auskomme: Es sei die postillatio, die »sine aliqua divisione« verfahre.37 Die Neubildungen postilla verdankt sich dem nachgesetzten post illa, scilicet verba sacrae scripturae aus dem dann das Substantiv postillatio sowie das Verb postillare gebildet wurde, und es bietet ein Verfahren des zusammenhängenden, meist populären Kommentars, oftmals evangelischer Perikopen, im Unterschied zu einer diskontinuierlich Erklärung. Im Unterschied zur postillatio als Vorgehen im modus antiquissimus sei ein wesentliches Moment des modus modernus, dass die Predigt aus thema, prothema und divisio sowie subdivisio bestehe. Divisio und thema bilden darüber hinaus den unverzichtbaren Bestandteil jeder Predigt in diesem modus: »Due sunt partes sermonis necessarie, scilicet: thema, divisio.«38 Die divisio scheint hier die Aufspaltung zentraler Ausdrücke der Predigt in ihre Bestandteile zu meinen: »Divisio est cuiuslibet et alicuius termini praedicabilis in membra partitio.«39 Die Beispiele zeigen, dass wohl tatsächlich an eine partitio (und nicht an eine divisio im technischen Sinn) gedacht wird. Das Gleiche dürfte auch bei der subdivisio, dem vierten Teil der Predigt, der Fall sein: »[...] subdivisio est alicuius membri meditantibus signis divisio ulterior partitio.«40 Nicht ungewöhnlich ist bei einer Predigtlehre zudem, dass die verschiedenen sensus – tropologica, allegorica und anagogica – als Aufspaltungen aufgefasst und daher im Rahmen der divisio dargelegt werden.41 Daneben kennt das Mittelalter keine separaten und eigenständigen Darstellungen des Interpretierens – weder sakraler noch paganer Texte, auch wenn es schon früh zur Auflistung (hermeneutischer) Schlichtungsregeln kommt. Berühmtestes Beispiel sind Abaelards (1079–1142) Regeln im Prolog zu Sic et Non. Zwar besaß er bei dem gesamten Unternehmen wie bei den einzelnen Regeln Vorläufer, nicht zuletzt unter Juristen,42 doch bietet Abaelard mitunter ingeniöse Formulierungen

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[Ps.-]Heinrich von Langenstein: De arte Praedicandi. In: Harry Caplan, Henri of Hesse On the Art of Preaching. In: Publications of the Modern Language Association 48 (1933), S. 340–361, Edition: S. 345–359, hier S. 347. Ebd., S. 358. Ebd. Ebd., S. 352. Ebd. Vgl. z.B. auch Ranulph Higden, (um 1290–1363–65): The Ars Componendi Sermones […]. By Margeret Jennings. Leiden 1991, XIX (S. 65): »Octavus modus dilatandi est exponere thema secundum diversos sensus scripture: [...].« Zu mehr oder weniger ausgeprägten Vorläufern neben Martin Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode. 1. Bd.: Die scholastische Methode von ihren ersten Anfängen in der Väterliteratur bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 1909;

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einzelner Regeln. Sie sollten angesichts der nicht selten als diversa, mitunter sogar als adversa erscheinenden verba der Autoritäten die concordantia auctoritatum sichern und zur unum sententiarum excellentissimum führen.43 Erörterungen von Fragen des Interpretierens (auch im Blick auf die Predigt) finden ihren Platz nicht selten in der Summen-Literatur oder in den Kommentierungen des Lombarden, immer dabei freilich im thematischen Anschluss: In den Sentenzenkommentaren etwa in der Folge der Behandlung der göttlichen Sendungen – missiones divinae –, der göttlichen Vorsehung, der Lehre vom Glauben und wie er zustande kommt oder in Anknüpfung an die Lehre von den Sakramenten. Erörterungen können sich aber auch im Rahmen der Disputationes quodlibetales finden,44 nicht zuletzt, wenn es zugleich um moraltheologische Fraugen geht, oder schließlich en passant reflektiert in den Schriftkommentaren. Wichtiger noch ist, dass das hier gemeinte Unterteilen, die divisiones und distinctiones, als fester Bestandteil der scholastischen Textbehandlung perfektioniert wird, und zwar im Rahmen der expositio textus: Die dubitatio und die quaestio unterstützen die divisio textus sowie die distinctio. Diese Instrumente zur Bedeutungsanalyse waren freilich längst vor der lectio scholastica im Rahmen einer vielgestaltigen (monastischen) lectio divina ausgebildet worden. Dabei werden einzelne ›Schritte‹ markiert und im Rahmen der kommentierenden Textarbeit hervorgehoben, ohne dass eine strenge Abfolge eingehalten werden musste – z.B.: expositio (litterae), sententia, divisio textus, notandum (nota), dubia, quaestiones (per modum quaestionis), solutiones oder Text (im Original), Übersetzung, Paraphrase, argumentum (summa), Analyse (grammatische, rhetorische, logische), scholae, observationes, (dogmatische, lehrhafte) Auswertung (observationes locorum doctrinae oder communium). Die divisio textus konnte dann beim Kommentieren wie folgt berücksichtigt werden. In einem der Modelle konnte sie bereits am Beginn der lectio eine Unterteilung des gesamten zu kommentierenden Buches in Kapitel und Unterabschnitte bieten. Im Rahmen eines anderen Modells beginnt die expositio litterae als eine Aufbereitung des Textes, bestehend aus elementaren Erläuterungen und Ergänzungen,

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v.a. Ermenegildo Bertola, I precedenti storici del metodo »Sic et Non« di Abelardo. In: Rivista di filosofia neoscolastica 53 (1961), S. 255–280 – dass dies auch früher bei der Exegese Praxis war, zeigt Id.: Il commentario paolino di Haimo di Halberstadt o di Auxerre e gli inizi del metodo scolastico. In: Pier Lombardo 5 (1961), S. 29–54 –, ferner Jean Jolivet: Le traitement des autorités contraires selon le Sic et Non d’Abélard. In: Jacques Berque et al. (Hrsg.), L’ambivalence dans la culture arabe. Paris 1968, S. 267–280; sowie George Makdisi: The Scholastic Method in Medieval Education: An Inquiry into Its Origins in Law and Theology. In: Speculum 49 (1974), S. 640–659. Vgl. Abaelard: Sic et non [1132]. A Critical Edition. Hrsg. Blanche B. Boyer und Richard McKeon. Chicago, London 1976/77, S. 89: »Cum in tanta verborum multitudine nonnula etiam sanctorum dicta non solum ab invicem diversa versum sed etiam invicem adversa videantur, [...].« So z.B. bei Thomas von Aquin: Quaestiones quodlibetales [1256–59; 1269–72]. Cura et studio Raymundi Spiazzi. Torino 1956, VII, q. 6.

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mitunter finden sich Paraphrasen oder mehr oder weniger standardisierte sprachliche Reformulierungen. Nach diesen sprachlichen Erläuterungen folgt die sententia, bei der man sich auf ›konzeptionelle‹ Gehalte konzentriert, die mehr oder weniger stringent in die Gestalt eines Argumentationsschemas umgeformt werden. Erst das dritte Element bildet bei diesem Modell des Kommentierens dann die divisio textus.45 Hier handelt es sich um eine Behandlung des gesamten Textes im Blick auf Momente seiner ›logischen‹ Einrichtung. Danach folgen notanda, bei denen es sich um thematisch recht heterogene Digressionen handeln konnte. Die quaestio (disputata) konnte sich anschließen, wobei die Darbietungen unterschiedlich komplex sein können – etwa mit der Entfaltung von pro- und contra-Argumenten sowie der solutio und dem Rückgang auf die Argumente. In der Regel muss die quaestio keine der anderen angeführten Formen der Textaufbereitung voraussetzen. Festzuhalten ist ferner, dass schon früh verschiedene nicht wortsprachliche Zeichen – nicht nur Zahlzeichen, sondern auch Symbole oder Monogramme – als Mittel zur Kennzeichnung der Entlehnung aus anderen Texten verwendet wurden46 sowie zur Markierung etwa am Rand der Seite (als Marginalnoten), die in mehr oder weniger verschlüsselter Form dem Leser Angaben zu dem bieten, was ihn an dieser Stelle (etwa an Belehrung) erwartet. So berichtet Johannes von Salisbury (Saresberiensis 1115/20–1180), dass notae verwendet werden würden, um in den verschiedenen Arten von Schriften das (schnell) auffinden zu können, was klar, und das, was dunkel, sowie das, was gewiss oder was ungewiss sei – und vieles andere mehr. Freilich sei die ars notaria, wie Johannes bedauernd bemerkt, mittlerweile eher ungebräuchlich geworden.47 Im Hintergrund dürfte auch hier Isidor von Sevilla stehen, wenn es bei ihm heißt, dass nota ein besonderes Zeichen sei, das geschrieben werden würde wie ein Buchstabe, um bei jeder Gelegenheit die

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Diese Form scheint sich im Zuge des 12. Jhs vollständig ausgebildet zu haben, vgl. z.B. Sten Ebbesen: Medieval Latin Glosses and Commentaries on Aristotelian Logical Texts of the Twelfth and Thirteenth Centuries. In: Charles Burnett (Hrsg.), Glosses and Commentaries on Aristotelian Logical Texts. The Syriac, Arabic and Medieval Latin Traditions. London 1993, S. 129–173, insb. S. 133–138. Vgl. u.a. Patrick McGurk: Citation Marks in Early Latin Manuscripts (with a List of Citation Marks in Manuscripts Earlier Than A.D. 800 in English and Irish Libraries). In: Scriptorium 15 (1961), S. 3–13; Michael M. Gorman: Source Marks and Chapter Divisions in Bede’s Commentary on Luke. In: Revue Bénédictine 112 (2002), S. 246–290; auch James Shiel: A Set of Greek Reference Signs in the Florentine ms. of Boethius’ Translation of the Prior Analytics (BN, Conv. Soppr. J VI 34). In: Scriptorium 38 (1984), S. 327–342. Johannes von Salisbury: Metalogicon [1159], I, 30 (PL 199, Sp. 823–946, hier Sp. 850): »Sunt et notae quae scripturarum distinguunt modos, ut deprehendatur quid in eis lucidum, quid obscurum, quid certum, quid dubium; et in hunc modum, plurima. Pars haec tamen artis jam ex maxima parte in desuetudinem abiit: adeo quidem ut studiosissimi litterarum merito quarantur, et fere lugenat, rem utilissimam et tam ad res retinendas quam intelligendas efficacissimam, majorum nostrorum invidia aut negligentia artem dico deperisse notariam.«

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Bedeutung (ratio) eines Wortes, eines Satzes oder eines Verses deutlich zu machen. Hierfür gebe es 26 verschiedene Arten von notae.48 Durch die divisio sowie die Verwendung von Verweisungsmitteln können wortsprachliche Teile als segmentierbare Bestandteile sichtbare funktionale Zusammenhänge bilden: Das können Inhalts- wie Kapitelangaben (›Paragraphen‹49), Inhaltsverzeichnisse (tabulae contentorum) oder Register sein, die optisch abgehoben werden und die dem Leser einen direkten Zugriff auf separate Text-Informationen (statim inveniri) ermöglichen.50 Dazu gehören alphabetische Anordnungen (secundum alphabetum) im Rahmen der ›Wiederentdeckung des Alphabets als Ordnungsprinzip‹,51 Schlagwortregister, Verzeichnisse nicht allein der einzelnen Kapitel,

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Isidor von Sevilla: Etymologiarum [636] (Anm. 7), I, 21: »Nota est figura propria in litterae modum posita, ad demonstrandam unamquamque verbi sententiarumque ac versuum rationem. Notae autem versibus adponuntur numero vigenti et sex, quae sunt nominibus infra scriptis.« Darauf folgt die Aufzählung mit Erläuterungen. Hierzu u.a. einige der Beiträge in Laufer (Hrsg.): La notion de paragraphe (Anm. 14); ferner William A. Johnson: The Function of the Paragraphus in Greek Literary Prose Texts. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 100 (1994), S. 65–68; zum §-Zeichen Wilhelm Weidmüller: Paragraphenzeichen. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 8 (1967), Sp. 470–484 Neben Hermann Mutschmann: Inhaltsangabe und Kapitelangabe im antiken Buch. In: Hermes 46 (1911), S. 93–107; und Martin Grabmann: Hilfsmittel des Thomasstudiums aus alter Zeit (Abbreviationes, Concordantiae, Tabulae) [1923]. In: Id.: Mittelalterliches Geistesleben. Bd. II. München 1936, S. 424–489; Hubert Cancik: Der Text als Bild. Über optische Zeichen zur Konstitution von Satzgruppen in antiken Texten. In: Hellmut Brunner et al. (Hrsg.): Wort und Bild. München 1979, S. 81–100; Richard H. Rouse: L’évolution des attitudes envers l’autorité écrite: le développement des instruments de travail au XIIIe siècle. In: Geneviève Hasenohr, Jean Longère (Hrsg.): Culture et travail intellectuel dans l’Occident médiéval. Paris 1981, S. 115–144; Id. und Mary A. Rouse: Statim inveniri. Schools, Preachers and New Attitudes to the Page. In: Richard L. Benson, Giles Constable (Hrsg.): Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Oxford 1982, S. 201–225; Nigel F. Palmer: Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher. In: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 43–88; Heinz Meyer: Ordo rerum und Registerhilfen in mittelalterlichen Enzyklopädiehandschriften. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 315–339; Christine Wulf: Tituli, Kapitelreihen, Buchsummarien: Überlegungen zu texterschließenden Beigaben in vorlutherischen Bibeln. In: Heimo Reinitzer (Hrsg.): Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Bern 1991, S. 385–399; ferner Barbara Frank: Die Textgestalt als Zeichen: lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprache. Tübingen 1994. Hierzu neben Lloyd W. Daly, Bernadine A.: Some Techniques in Mediaeval Latin Lexicography. In: Speculum 39 (1964), S. 231–239; Anna-Dorothee von den Brincken: Tabula Alphabetica. Von den Anfängen alphabetischer Registerarbeit zu Geschichtswerken. In: Festschrift für Hermann Heimpel. Bd. 2. Göttingen 1972, S. 900–923; Christina von Nolcken: Some Alphabetical Compendia and How Preachers Used them in FourteenthCentury England. In: Viator 12 (1981), S. 271–288; v.a. Olga Weijers: Lexicography in the Middle Ages. In: Viator 20 (1989), S. 139–53, Ead., Dictionnaires et répertoires au moyen âge: une étude du vocabulaire. Turnhout 1991.

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sondern auch der traktierten quaestiones und quodlibeta sowie Indices52 und vieles mehr.53 Der Text wird so zum Lesen, zur lectio stataria und zum intensivierten Nachschlagen eingerichtet, etwa mit Voraus- und Rückbezügen – allgemein: zur nichtlinearen Lektüre mit inter- und intratextuellen (Quer-)Verweisen und so zum verzögerten, ›bedächtigen‹ oder ›verweilenden‹ Akt des (stillen) Lesens. Zugleich aber unterstützen dieselben Mittel, unter Umständen im Verbund mit anderen Techniken der Textaufbereitung, das schnelle Informieren (die facilitas inveniendi), das vereinfachte Auffinden durch sporadisches Nachschlagen spezieller Themen, das leichte Ausbeuten der Texte für das eigene Verfassen von Schriften sowie die Ablösung der Zitationen aus den exzerpierten Werken von ihren jeweiligen KoTexten und Sinn-Kontexten, die aufgrund bestimmter Verweisungsformen nicht mehr zur Kenntnis genommen werden müssen, um passende Stellen zu finden, mit gleichzeitiger Entlastung des Memorierens beim Auffinden. Der in dieser Weise eingerichtete Text unterstützt damit zugleich die Prägung der Rolle des schnellen Benutzens im Unterschied zum langsamen Lesen. Ebenso wie die zur Intensivierung der Arbeit mit und am Text gebrauchten Mittel fördert ihr in gewisser Hinsicht hierzu gegenläufige Gebrauch die Aufmerksamkeit: Die einen, indem sie die Zeitintensität der Lektüre erhöhen, die anderen, indem sie sie verringern; die einen erfordern Aufmerksamkeit im Sinn eines wissensgestützten Achtgebens, die anderen im Sinn einer konventionsgeleiteten Achtsamkeit. Nicht nur auf den ersten Blick gegenläufig hierzu erscheint die mitunter extensive Verwendung von Abbreviaturen – teilweise als exceptoria notaria oder als ars exceptoria, wonach zwei Buchstaben für ganze Wörter stehen konnten.54 Bis zu einem Viertel des Buchstabenbestandes konnte auf diese Weise bei Texten eingespart sein55 – und das sowohl vor als auch nach dem Buchdruck. Diese Sparsamkeit (beim Kopieren) verlangsamt nicht nur den Durchlauf des Lesers durch den Text (wie bei Texten, deren Lektüre den Wechsel von Leserichtungen erfordert), sondern sie setzt entweder spezielle Informationen voraus (wie bei dechiffrierenden Lektüre-Tätigkeiten) oder aber eine große Vertrautheit mit den auf diese Weise vermittelten Wissensbeständen (wie beim In-Erinnerung-Rufen).

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Vgl. u.a. M. Richard, A. Mary Rouse: La naissance des index. In: Martin Chartier (Hrsg.): Histoire (Anm. 4), S. 77–85; Francis J. Witty: Early Indexing Techniques: A Study of Several Book Indexes of the Fourteenth, Fifteenth, and Early Sixteenth Centuries. In: Library Quarterly 35 (1965), S. 141–148. Hierzu auch Lutz Danneberg, Jürg Niederhauser: »... daß die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form.« Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen. In: Id. (Hrsg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast: Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998, S. 23–102. Hierzu u.a. Arthur Mentz: Zwei Stenographiesysteme des späteren Mittelalters. Dresden 1912. Hierzu u.a. Jürgen Römer: Geschichte der Kürzungen. Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Göppingen 1987.

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Alle diese zusätzlichen Hilfsmittel und Techniken des Suchens und Verarbeitens von Informationen in der Wissenszirkulation sind bereits im Mittelalter alles andere als ungewöhnlich. Sie zählen zu den vielfältigen Instrumenten, die bereits früh die Texte in werkdisponierender wie in werkerschließender Weise für ihren Gebrauch einzurichten versuchen und vor allem, um die Suche wie das Verarbeiten von Informationen zu erleichtern und übersichtlicher zu gestalten. Zugleich wird die Seite des Textes, etwa bei Kommentarwerken, immer weniger zugänglich. Erforderlich wird ein Expertenwissen, nicht zuletzt die Vertrautheit mit den entsprechenden Lesekonventionen sowie mit einer hinlänglichen Versiertheit bei der Entzifferung von Abkürzungen, die durchweg ohne erläuternde Legende dargeboten werden.

2. Perspektivische und nicht-perspektivische Abbildungen Texte sind als Lesetexte mithin immer auch Sehtexte gewesen, deren Gesicht aus mehr als nur wortsprachlichen Zeichen besteht. Gemeint ist das nicht allein in dem Sinn, dass seit dem 11. Jahrhundert videre als Synonym für Lesen verwendet wurde, sonders auch in dem Sinn, dass sich in den gelesenen Werken Abbildungen finden, wie es seit der Antike bei wissenschaftlichen Texten bekannt ist.56 Das erstreckt sich ebenso auf Bereiche wie den der frühen Mathematik, für die beispielsweise festgehalten wurde, dass weder die Diagramme ohne die Texte, noch sie ohne die Diagramme verständlichen seien,57 wie auf den Bereich der Medizin und dabei nicht zuletzt auf den der Anatomie. Von Aristoteles hat es ein, allerdings verschollenes Werk mit Abbildungen zur Anatomie (Ανατοµα…) gegeben.58 Obwohl bereits dieser Philosoph Unterschiede hinsichtlich des Nutzens der wortsprachlichen und der nicht-wortsprachlichen Darstellungsweise kennt ›die einen Dinge muss man eben eher durch das Wort erklären, die anderen eher durch

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Vgl. zusammenfassend Alfred Stückelberger: Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik. Mainz 1994; ferner u.a. Zoltán Kádár: Survivals of Greek Zoological Illustrations in Byzantine Manuscripts. Budapest 1978. Hierzu Reviel Netz: The Shaping of Deduction in Greek Mathematics: A Study in Cognitive History. Cambridge 1999, chap. I und II, wo zu zeigen versucht wird, wie the »shaping of deduction« durch zwei Mittel, »the lettered diagramm« und »the mathematical language«, erfolgt; es dürfte sich um die erste Untersuchung des Gebrauchs von Diagrammen in der griechischen Mathematik handeln, wonach sowohl das Verständnis des wortsprachlichen Textes als auch das der verwendeten (»lettered«) Diagramme aufeinander angewiesen erscheint. Vgl. Alfred Stückelberger: Vom anatomischen Atlas des Aristoteles zum geographischen Atlas des Ptolemaios: Beobachtungen zu wissenschaftlichen Bilddokumentationen. In: Wolfgang Kullmann et al. (Hrsg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. Tübingen 1998, S. 287–307; auch Id.: Aristoteles illustratus. Anschauungshilfen in der Schule des Peripatos. In: Museum Helveticum 50 (1993), S. 131–143.

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ihre Anschauung‹,59 und es bei Platon heißen konnte: ›darüber zu reden ohne Nachbildungen davon für das Auge, das wäre vergebliche Mühe‹,60 besagt das nicht sonderlich viel über die Wertschätzung von Abbildungen als (Hilfs-)Mittel wissenschaftlicher Darstellungen. So hat es denn auch immer neben begeisterten Verfechtern misstrauische Skeptiker gegenüber bildlichen Wissenspräsentationen gegeben. Vor allem besagt es wenig darüber, wie intensiv bildliche Darstellungen in den verschiedenen Wissenskomplexionen genutzt wurden. Beispielsweise scheinen in der Alchemie Abbildungen erst seit Mitte des 13. Jahrhunderts Verwendung zu finden, obwohl sie im Westen bereits seit Mitte des 12. Jahrhunderts gegenwärtig ist.61 Dagegen lassen sich diagrammatische Darstellungen verhältnismäßig komplexer logischer Sachverhalte, etwa das sogenannte logische Quadrat, bereits in dem Werk Perˆ ˜rmene…aj des Apuleius von Madura (ca. 125–nach 162) finden.62 Vor allem besagt es wenig über die Beziehung zwischen beiden Darstellungsweisen in einem Werk. So ist nicht ausgeschlossen, dass naturwissenschaftliche Abbildungen als Buchillustration unabhängig von der schriftlichen Überlieferung gewesen sind, und sie konnten selbstständig, ohne direkte Beziehung zum wissenschaftlichen Text weiter entwickelt und tradiert werden.63 Sie konnten zudem in dem Sinn als autonom erscheinen, wie ihr (richtiges) Verständnis nicht als abhängig von einem begleitenden wortsprachlichen Text gesehen wurde.64 Wohl nicht selten sind die Illustrationen im Zuge der Abschriften der Werke weggefallen. Das könnte darauf schließen lassen, dass man in ihnen mitunter keinen integralen Be-

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Aristoteles: De part an, IV, 5 (680a1ff). Platon: Timaios, 40D (Übersetzung Hans Günter Zekl): tÕ lšgein ¥neu di’×yewj toÚtwn aá tîn mimhm£twn m£taioj ¨n e‡h pÒroj). Hierzu u.a. Barbara Obist: Visualization in Medieval Alchemy. In: Hyle. International Journal for the Philosophy of Chemistry 9 (2003), S. 131–170. Zur vermutlichen ursprünglichen Gestalt dieses ›Quadrats‹ David Londey und Carmen Johanson: Apuleius and the Square of Opposition. In: Phronesis 29 (1984), S. 165–173. Zu Beispielen u.a. William B. Ashworth: The Persistent Beast: Recurring Images in Early Zoological Illustration. In: Allan Ellenius (Hrsg.), The Natural Sciences and the Arts. Uppsala 1985, S. 46–66; ferner Tim H. Clarke: The Rhinoceros From Dürer to Stubbs, 1515–1799. London 1986; dazu bereits F.J. Cole: The History of Albrecht Dürer’s Rhinoceros in Zoological Literature. In: E. Ashworth Underwood (Hrsg.): Science, Medicine and History. Vol. 1. London, New York, Toronto 1953, S. 337–356; ferner Charles Mitchell: Ex libris Kiriaci Anconitani. In: Italia medievale e humanistica 5 (1962), S. 283–299; Charles D. Cuttler: Exotics in Post-Medieval European Art: Giraffes and Centaurs. In: artibus et historiae 23 (1991), S. 161–179; Alexander Perrig: Der Löwe des Villard de Honnecourt. Überlegungen zum Thema »Kunst und Wissenschaft«. In: Roland G. Kecks (Hrsg.): Musagetes. Berlin 1991, S. 105–121. Nur ein Beispiel: Im ersten Buchs von Albrecht Dürer (1471–1528), Vnderweysung der messung mit den zirckel und richtscheyt in Linien, ebnen und gantzen corporen [...]. Nüremberg 1525, unpag. (Faksimile-ND Zürich 1966), und zwar am Ende seiner Ausführungen zu den Kegelschnitten schreibt er hinsichtlich der beigegebenen Abbildungen: »So eygentlich/ obschon keyn schryfft dabey wer/ vermeint ich/ diß sollt alles durch sehen känntlich seyn.«

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standteil des kopierten Werks gesehen hat. Daneben scheint es im Mittelalter kein eigenständiges Illustrieren antiker Texte gegeben zu haben. Das Wegfallen der Illustrationen konnte aber auch Gründe haben, die mit dem Aufwand des Reproduzierens zusammenhingen. Weniger die pragmatischen Umstände der Wertschätzung bildlicher Darstellung, die das Tradieren von Werken in bestimmter Gestalt bedingen mochten, sind hier von Interesse; vielmehr sind es die (jeweils) bei der Produktion und der Rezeption solcher Werke angenommenen inter-textual-pikturalen Relationen. Ersichtlich wird die Unsicherheit, um welche Art von Relationierung es sich handelt, bereits an den im Wesentlichen drei Ausdrücken, die bildliche Darstellungen im wortsprachlichen Ko-Text in der Antike umschreiben konnten: hypographe/Øpograf» – verwendet für Begriffstableaus, für astronomische und anatomische Skizzen, aber auch für technische Zeichnungen, die offenbar direkt auf den Text folgten, also unter (Øpo) dem Text standen; diagramma/di£gramma (diagraphe/diagraf») – verwendet zumeist für geometrische oder astronomische Konstruktionsbilder, schließlich schema (figura)/scÁma (zugleich ein grammatisch-rhetorischer Ausdruck) – sie konnten einfache geometrische Skizzen, aber auch recht aufwendige Baupläne bezeichnen.65 Ausgangspunkt für die Bild-Text-Relation sind zunächst die Beziehungen innerhalb des wortsprachlichen Textes, bei denen sich ein Teil auf einen anderen desselben Texts bezieht, etwa Überschriften oder Register. In bestimmter Weise spatial abgetrennte Fuß- oder Endnoten gibt es, wenn ich es richtig sehe, in Texten vor dem Druck überhaupt noch nicht und auch danach hat sich diese Text-TextRelation erst verhältnismäßig spät entwickelt. Die sich aufeinander beziehenden Teile sind zwar durchweg räumlich gegeneinander abgehoben, gleichwohl bedarf es neben ihrer spatialen Positionierung (stillschweigender) Lesekonventionen oder direkter Leserinstruktionen, die den Bezug zu erkennen und das Instrument zu deuten und zu nutzen erlauben. Das gilt für Überschriften wie für die seit dem 16. Jahrhundert so beliebten Beschriftungen des Seitenrandes – nebenbei bemerkt: ein nahezu optimales Instrument, um Themen und Stellen schnell mit den Augen zu finden. Für bestimmte Text-Text-Relationen innerhalb eines Textes gibt es schon früh zudem gesonderte Mittel der Bezugnahme, nämlich paarweise auftretende Verweisungszeichen wie Buchstaben oder Zahlen – etwa die durchlaufende Nummerierung von capitula und im Inhaltsverzeichnis.66 Besonders augenfällig, wenn

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Vgl. Alfred Stückelberger: Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der Antike. In: Klaus Döring et al. (Hrsg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption. Bd. 5. Trier 1995, S. 63–77, hier S. 70f.; ferner Ulrike Maria Bonhoff: Das Diagramm: kunsthistorische Betrachtung über seine vielfältige Anwendung von der Antike bis zur Neuzeit. Phil. Diss. Münster 1993. Zu nummerierten Kapiteln und Inhaltsverzeichnissen, die sich bereits im 8. und 9. Jh. finden, die Hinweise bei Bianca-Jeanette Schröder: Titel und Text. Zur Entwicklung lateinischer Gedichtüberschriften. Mit Untersuchungen zu lateinischen Buchtiteln, Inhaltsverzeichnissen und anderen Gliederungsmittel. Berlin, New York 1999, insb. S. 115f.

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vielleicht auch nicht zuerst, werden die genannten Mittel durchgängig bei Bibelkommentaren eingesetzt. Für die Text-Bild-Relation ist wichtig, dass solche Mittel unabhängig von der räumlichen Gestalt verwendet werden konnten, die kommentierter und kommentierender Text zusammen bilden: als Kolumne, als Rand oder als Rahmen, als Außenspalte, in Klammerform oder in mehrspaltiger Anordnung, wobei die spaltenartige Anordnung auf der Seite eine kontinuierliche Lektüre der jeweiligen Texteinheiten unabhängig von der anderen erlaubt; zudem konnte das Kommentarwissen mit dem zu kommentierenden Text fortlaufend vermengt dargeboten werden.67 Die unterschiedlichen spatialen Anordnungen des Kommentars finden sich beispielsweise bei den catenae (σειρα…, ¤lusij), bestehend aus einfacher Nebeneinanderreihung oder ununterbrochener ›Verkettung‹ früherer, (zumeist) den Werken der Kirchenvätern entnommener Erklärungen. Sie werden seit dem 5. Jahrhundert zur beliebtesten christlichen Kommentierungsweise und konnten in unterschiedlichsten spatialen Anordnungen vorliegen: als Kolumnen-, Rahmen-, Breit- sowie Randkatenen.68 Auf derselben Seite (bzw. Doppelseite) steht der zu kommentierende Text und sein Kommentar. In der Regel bezieht er sich nicht auf den ganzen auf der Seite wiedergegebenen Text, sondern etwa als Stellenkommentar nur auf bestimmte Teile. Wo sich diese Teile befinden, wird durch paarweise auftretende Zeichen markiert, die der Lesekonvention folgend, als Verweisungszeichen gelesen werden. In anatomischen Abbildungen vor allem seit dem 16. Jahrhundert findet sich oft dasselbe Mittel der Sicherung und Visibilisierung der Bezugnahme des wortsprachlichen Teils eines Werks auf Teile seiner (nicht-wortsprachlichen) Abbildungen. Sie ersetzen, mehr oder weniger durchgängig, die Beschriftungen in Gestalt kleiner Fähnchen, die sich in den Abbildungen selbst finden. In der Regel erfolgt das ebenfalls unter Verwendung von Zahl- oder Buchstabenzeichen, mitunter aber auch durch Verbindungsstriche – und das dürfte bei Kommentaren zu

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Vgl. auch Johan Peter Gumbert: The Layout of the Bible Gloss in Manuscript and Early Print. In: Paul Saenger, Kimberley van Kampen (Hrsg.): The Bible as Book: The First Printed Editions. S. l. 1999, S. 7–13; v.a. Powitz, Gerhardt: Textus cum commento. In: Codices manuscripti 5 (1979), S. 80–89; Christopher F. R. de Hamel: Glossed Books of the Bible and the Origins of the Paris Booktrade. Woodbridge 1984, insb. S. 1–21. Neben Robert Devresse: Chaines exégétiques grecques. In: Dictionnaire de la Bible […]. Supplément 1. Paris 1928, Sp. 1084–1233; Günther Zuntz: Die Aristophanes-Scholien der Papyri. In: Byzantion 13 (1938), S. 631–690 sowie 14 (1939), S. 545–613, insb. S. 572f., dort (S. 585) auch zu »Katenen in Bildern« und zum Verweisungssystem, ferner Michael Faulhaber: Katenen und Katenenforschung. In: Byzantinische Zeitschrift 18 (1909), S. 383–396; zu jüngeren Untersuchungen v.a. Gilles Dorival: Les chaînes exégétiques grecques sur les Psaumes. Contribution à l’étude d’une forme littéraire. 4 Vol. Louvain 1986/89/92/95; sowie Id.: Des commentaires d l’Ecriture aux Chaînes. In: Claude Mondésert (Hrsg.): Bible de tous les Temps. I: Le monde grec ancien et la Bible. Paris 1984, S. 361–384.

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wortsprachlichen Texten nur ganz selten ein Mittel des Verweisens gewesen sein.69 Strukturell ähnliche Anordnungen wie bei Text-Text-Kommentaren bieten beispielsweise die Randillustrationen zum (byzantinischen) Psalter, was in der Forschung denn auch als ›visuelle Katenen‹ bezeichnet worden ist.70 Ein anderes Beispiel stellen die bebilderten Bibliae pauperum dar, insofern sich das im Blattzentrum befindliche Bild vom Text umschlossen wird. Genau das findet sich auch bei zahlreichen anatomischen Darstellungen noch im 16. Jahrhundert, bei denen sich der erläuternde Text direkt an die jeweiligen Abbildungskonturen anschmiegt. Ein älteres Beispiel stellt die (sog.) Fünfbilderserie mit Umrisszeichnungen und schematisch eingetragenen Organen und Strukturen dar, ohne dass der Text dabei fortlaufend ist. Allein die Abbildungen disponieren den galenisch inspirierten Kommentar.71 Zumeist ist unklar, ob zuerst der wortsprachliche oder bildnerische Teil vorliegt und welcher Teil die Komposition bestimmt – freilich lässt sich aufgrund von überlieferten Texten, in denen Räume frei geblieben sind, auf eine bestimmte Abfolge schließen. Nicht wenige der anatomischen Einblattdrucke des 16. Jahrhunderts machen von einer solchen kommentierenden Text-Bild-Anordnung auf einer Seite Gebrauch.72 Gleichwohl daraus schließen zu wollen, dass die Text-Bild-Relation in diesen Werken nach dem Muster des (biblischen) Text-Kommentars gebildet worden sei, wäre ebenso voreilig

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Bei Alastair J. Minnis: Late-medieval Discussions of ›Compilatio‹ and the Rôle of the ›Compilator‹. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 101 (1979), S. 385–421, hier S. 393/94, findet sich ein Hinweis darauf, dass Initialen am Rande mit dem zugehörigen Text durch Striche verbunden wurden. So John Lowden: Observations on Illustrated Byzantine Psalters. In: The Art Bulletin 70 (1988), S. 242–260, hier S. 255, aufruhend auf Kurt Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration. Princeton 1947 (ND 1970), S. 120–122. Hierzu Karl Sudhoff: Anatomische Zeichnungen (Schemata) aus dem 12. und 13. Jahrhundert und eine Skelettzeichnung des 14. Jahrhunderts. In: Id.: Studien zur Geschichte der Medizin. Heft 1. Leipzig 1907, S. 53–65. Zu diesen in vielfacher Hinsicht noch rätselhaften Abbildungen Ynez Violé O’Neill: The Fünfbilderserie Reconsidered. In: Bulletin of the History of Medicine 43 (1969), S. 236–245; Id., The Fünfbilderserie – a Bridge to the Unknown. In: ebd. 51 (1977), S. 438–549; Roger K. French: An Origin For the Bone Text of the ›Five-Figure-Series‹. In: Sudhoffs Archiv 68 (1984), S. 143–154. Zu Beispielen neben Ludwig Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst. Unveränderter Neudruck der Ausgabe Leipzig 1852 unter Hinzufügung der 1858 erschienenen Ergänzungen des Verfassers. Niederwalluf 1971; u.a. Leroy Crummer: Early Anatomical Fugitive Sheets. In: Annals of Medical Histotry 5 (1923), S. 189–209; Id.: Further Information on Early Anatomical Fugitive Sheets. In: ebd., 7 (1925), S. 1–7; sowie Id.: Check List of Anatomical Books Illustrated With Cuts of Superimposed Flaps In: Bulletin of the Medical Library Association N.S. 20 (1932), S. 131–139; Jan Gerard de Lint: Fugitive Anatomical Sheets. In: Janus 28 (1924), S. 78–91; L.H. Wells: Anatomical Fugitive Sheets with Superimposed Flaps, 1538–1540. In: Medical History 12 (1968), S. 403–407; Andrea Carlino: »Know thyself«: Anatomical Figures in Early Modern Europe. In: res. anthropology and aesthetics 27 (1995), S. 53–69.

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wie die Vermutung, die Beziehungsstiftung anhand von Buchstaben stamme »sicherlich aus den geometrischen Darstellungen in der Tradition des Euklid.«73 Nur erwähnt sei, dass für Abbildungen auch die breiter gelassenen Ränder einer Seite vorgesehen sein konnten – etwas, das man wohl nie bei Kommentaren findet, nämlich dass der kommentierte Text sich auf dem äußeren oder inneren Rand findet (wenn Zitate am Rand auftreten, dann besitzen sie nur belegenden Charakter für die Aussagen im fortlaufenden Text). Nicht nur scheint dieses Verfahren der Beziehungsstiftung zwischen Bildteil, Bildlegende und wortsprachlichen Text älter zu sein,74 wichtiger noch ist, dass die Verweisungen als solche (in der Regel) noch nicht die Relation erkennen lassen, die sich in ihr ausdrücken soll und die ihren Zweck bildet. So kann es sich um eine Kommentar-Relation handeln,75 die im Fall der Text-Text-Beziehung immer asymmetrisch ist, aber auch um eine ebenfalls asymmetrische Illustrations-, Veranschaulichungs- oder Verbildlichungs-Relation etwa als den wortsprachlichen Texte begleitende narrative Abbildungen. Es kann sich aber auch um eine eher symmetrische emblematische Relation handeln, nicht zuletzt im Zusammenhang der Beziehung emblematischer Bildlichkeit und nichtliteraler (allegorischer) Deutung.76 Eine asymmetrische Beziehung zwischen Text und Bild schließt freilich nicht aus, dass solche Illustrationen nicht in dem Sinn selbstständig sind, dass sie Bestimmtes der wortsprachlichen Darstellungen exponieren und die Illustrationsrelation auch gegeben ist, wenn sich die Abbildungen auf andere Aspekte des erzählenden Textes exponierend beziehen. Die Illustrationen sind immer auch Illustrationen als etwas, und dieses als etwas selbst muss in der wortsprachlichen Darstellung besonders herausgestellt sein – es sei denn, die gegebene epistemische Situation ge-

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Ernst Gombrich: Bildliche Anleitungen [1986], in Martin Schuster, Bernard P. Woschek (Hrsg.): Nonverbale Kommunikation durch Bilder. Stuttgart 1989, S. 123–142, hier S. 130. Vgl. Aristoteles, De hist an, III, 1 (510a29ff); der Text stellt mit Buchstabenbezeichnungen eine Bildlegende dar, wobei sich die Abbildung, auf die sich der Text bezieht, sich nicht erhalten hat. Weitere Verweise auf Abbildungen (497a32), (509b22), (511a13), (525a9), (529b19), (530a31), (565a12), (566a15), in De part anim, (650a31/32), (668b29– 31), (680a1–4). Zu medizinischen Kommentaren, die verschiedenen accessus-Varianten folgen, u.a. Roger K. French: A Note on the Anatomical Accessus of the Middle Ages. In: Medical History 23 (1979), S. 461–468; ferner Id.: Berengario da Carpi and the Use of Commentary in Anatomical Teaching. In: Andrew Wear et al. (Hrsg.): The Medical Renaissance of the Sixteeenth Century. Cambridge 1985, S. 42–74; auch Per-Gunnar Ottosson: Scholastic Medicine and Philosophy: A Study of Commentaries on Galen’s Tegni (ca. 1300– 1450). Napoli 1984. Zum medizinischen Kommentar ferner (mit wieteren Hinweisen) Jole Agrimi und Chiara Crisciani: Edocere medicos. Medicina scolastica nei secoli XIII– XV. Milano, Napoli 1998, insb. Kap. III, Nancy G. Siraisi: Renaissance Commentaries on Avicenna’s »Canon«, Book I, Part I, and the Teaching of Medical »Theoria« in Italian Universities. In: History of Universities 4 (1984), S. 47–97. Jetzt v.a. Bernhard F. Scholtz: Emblem und Emblempoetik: Historische und systematische Studien. Berlin 2002.

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währleiste interpikturale oder extratextuelle Beziehungen zu einem Referenzobjekt. Wie dem auch im Einzelnen sein mag: Nicht nur sind auch Illustrationen mithin selegierend, sondern sie selbst geben nicht ohne weiteres den selektierten Aspekt preis. Das gilt letztlich auch für Abbildungen, wenn es sich bei ihnen um Instruktionszeichnungen (technical drawings) zum Bau technischer Geräte (etwa epistemischer Instrumente) handeln soll. Bei Abbildungen dieser Art gilt zudem, dass man nicht allein schon aufgrund der Zeichnungen die Instrumente nachzubauen vermochte oder vermag, da die Abbildungen zumeist nur die fertigen Gebilde zeigen – von der sachgerechten Anwendung der Nachbildungen ganz zu schweigen. Zudem ist das Vorkommen bildlicher Darstellungen in einem Werk weder ein hinreichender Grund dafür, dass sich irgendein Teil des wortsprachlichen Textes (direkt oder indirekt) darauf bezieht noch umgekehrt. Vor allem kann die Relation des Text-Bild-Kommentars symmetrisch sein und damit grundsätzlich anders als die des Text-Text-Kommentars: Das Bild kommentiert den Text sowie umgekehrt. Die bildliche Darstellung kann so Ausdeutungen bieten, die im wortsprachlichen Text (bestenfalls) als nur angelegt erscheinen – etwa einen sensus typologicus, allegoricus oder anagogicus: Wenn man so will, dann können (in traditioneller Terminologie) gerade die wortsprachlichen Texte den karnalen (sensus carnaliter) bieten, die ›körperlichen‹ Bilder den spirituellen Sinn (sensus spiritualis, mysticus). Allerdings kann die bildliche Darstellung eines im sensus litteralis beschriebenen Sachverhalts symbolische oder allegorische ›Implikationen‹ aufgrund eines geteilten Wissens nahe legen oder zu erzeugen erlauben.77 Im Fall des Text-Text-Kommentars unterstützen schließlich seit alters, freilich in sehr unterschiedlicher Weise, Abbildungen das Kommentieren autoritativer Texte und das nicht allein dann, wenn es sich um Bibelillustrationen handelt und auch nicht allein, wenn es um zu kommentierende architektonische Zusammenhänge in der Heiligen Schrift geht, die etwa durch Umrisszeichnungen verdeutlicht werden (wie die Arche Noah oder der Tempel Salomos).78 Es kann sich um visuelle Symbole, etwa in Gestalt von Diagrammen, die eine überaus komplexe Ge-

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Zu einem komplizierten Zusammenspiel etwa Josef Strzygowskui: Der Bilderkreis des griechischen Physiologus. In: Byzantinisches Archiv 2 (1899), S. 1–130. Hierzu u.a. Anna C. Esmeijer: Divina Quaternitas: A Preliminary Study in the Method and Application of Visual Exegesis. Assen, Amsterdam 1978; Michael Curschmann: Imagined Exegesis: Text and Picture in the Exegetical Works of Rupert of Deutz, Honorius Augustodunensis, and Gerhoch of Reichersberg. In: Traditio 44 (1988), S. 145–169; Toubert, Hélène: La mise en page de l’istruation. In: Martin, Venzin (Hrsg.): Mise en page (Anm. 1), S. 353–407; Susanne Wittekind: Kommentar mit Bildern. Zur Ausstattung mittelalterlicher Psalmenkommentare und der Verwendung der Davidgeschichte in Texten und Bildern am Beispiel des Psalmenkommentars des Petrus Lombardus (Bamberg, Stiftsbibliothek, Msc. Bibl. 59). Frankfurt/M. 1994; Patrice Sicard: Diagrammes médiévaux et exégése visuelle. Le ›Libellus e formitatione arche‹ de Hugues de Saint-Victor. Paris, Turnhout 1993.

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staltung besitzen wie das im Fall von Trinitätsdiagrammen nicht selten gegeben ist:79 Mittels symbolischer Deutung sollen sie auf etwas verweisen – per visibilia ad invisibilia –, das prinzipiell unsichtbar, überhaupt unsinnlich ist.80 Allerdings kann der Kommentar einer Abbildung auch etwas wiedergeben, das zwar prinzipiell darstellbar wäre, bei der bildlichen Repräsentation aber unsichtbar bleibt. Spektakuläres Beispiel ist das überaus kunstvoll und komplex gestaltete Titelbild von Johannes Keplers Tabulae Rudolphinae mit acht sichtbaren Säulen jeweils individueller Gestaltung und zwei verborgenen Säulen, die sich durch keinen Augenschein erkennen lassen, sondern allein über die Lektüre des mehr als 450 Hexameter umfassenden erläuternden Begleittextes.81 Zwar weniger spektakulär, aber gleichwohl aufschlussreich ist ein anderes Beispiel. Nach galenischer Auffassung besteht der menschliche Unterkiefer aus zwei Knochen, die eine Zusammenwachsung darstellen und die durch eine ›Mittelnaht‹ sichtbar sei. In Andreas Vesals (1514–1564) frühen Tafelwerk Tabulae anatomicae sex bringt die fünfte (Lateralis SKELETOΥ Figvrae Designatio) die Seitenansicht eines Skeletts, auf dem die ›Mittelnaht‹ durch die abgewendete Haltung nicht sichtbar ist. Im

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Zu einem Beispiel Christel Meier: Figura ad oculum demonstrativa. Visuelle Symbolik und verbale Diskursivität nach Heymericus de Campo. In: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hrsg.): Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Frankfurt/M. 2003, S. 755– 781; es gibt allerdings sehr unterschiedliche Formen der Trinitätsdarstellungen, vgl. dazu u.a. Peter Springer: Trinitas-Creator-Annus. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 38 (1976), S. 17–46, vor allem Josef Engemann: Zu den Dreifaltigkeitsdarstellungen der frühchristlichen Kunst: Gab es im 4. Jahrhundert anthropomorphe Trinitätsbilder? In: Jahrbuch für Antike und Christentum 19 (1976), S. 157–172, wo eine ›typologische‹, , ›zahlen-symbolische‹ sowie ›figürlich-symbolische‹ Darstellung unterschieden wird, die , ›diagrammatische‹ dabei unerwähnt bleibt. – Eine sehr weite Vorstellung von diagrammatic reasoning und modelling orientieren die Darlegungen bei James Franklin: Diagrammatic Reasoning and Modelling in the Imagination: the Secret Weapons of the Scientific Revolution. In: Guy Freeland, Anthony Corones (Hrsg.): 1543 and all that: Image and Word, Change and Continuity in the Proto-Scientific Revolution. Dordrecht, Boston, London 2000, S. 53–115. Zum weiten Feld symbolisierender Diagramme u.a. Andreas Gormans: Imagination des Unsichtbaren. Die Gattungstheorie des wissenschaftlichen Diagramms. In: Hans Holländer (Hrsg.): Erkenntnis, Erfahrung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 51–71, allerdings gilt nur für einen bestimmten Typ von Diagrammen, wenn es heißt (S. 52): »So versuchen Diagramme stets etwas zu erklären, was – allein in Worte gefaßt – unverständlich bliebe.« Ferner Christel Meier: Die Quadratur des Kreises. Die Diagrammatik des 12. Jahrhunderts als symbolische Denk- und Darstellungsform. In: Alexander Patschovsky (Hrsg.): Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter. Ostfildern 2003, S. 23–53, mit viel Material Bonhoff: Das Diagramm (Anm. 65). Hierzu Arwed Arnulf: Das Titelbild der Tabulae Rudolphinae des Johannes Kepler. Zu Entwurf, Ausführung, dichterischer Erläuterung und Vorbildern einer Wissenschaftsallegorie. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstgeschichte 54/55 (2000/01), S. 177– 198.

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Kommentar unter dem Buchstaben G gibt Vesal eine Beschreibung mit Hinweis auf die beiden verbundenen Knochen. Darauf folgt ein Kommentar zu diesem Kommentar, in dem Vesal das anzweifelt, was im Bild nicht gezeigt, aber im Kommentar behauptet wird: Beide Knochen ließen sich nicht mit Mittel wie Kochung trennen und versucht man, sie mit dem Messer zu teilen, so falle es just an dieser Stelle am schwersten.82 Später, in Vesals De humani coporis fabrica libri septem, entfällt die Mittelnaht kommentarlos. Figurengedichte schließlich, so sie denn aus wortsprachlichen Elementen geformt sind,83 bilden wohl die intimste, in sich unauflösliche Bild-Text-Beziehung: Es handelt sich nicht mehr um ein räumliches Nebeneinander, denn beides findet sich an derselben Stelle realisiert; die wortsprachliche semantische Bedeutung ist zudem abhängig von der semantischen gedeuteten Exemplifikation von Elementen des bildlichen Darstellungsmoments wie auch umgekehrt. Im strengen Sinn sind beide gleichrangig beteiligt und erst in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken erzeugt sich das Verständnis eines solchen Gebildes. Ein Beispiel von vielen sind die Kreuzgedichte des Hrabanus Maurus (um 780–856),84 zu denen sich freilich Wichtigeres sagen lässt als sich in ihrer Preisung als singuläre Vorausweisungen auf gegenwärtige Hyper-Media-Formen ausdrückt. Diese Hinweise sollen nur darauf aufmerksam machen, dass ein allgemeines Sprechen über Text-Bild-Beziehung im Blick Werk-Gesamtheiten oftmals wenig ergiebig und erhellend ist: Die Text-Bild-Beziehung (word-image-Beziehung) bezeichnet nicht eine, sondern umfasst ein ganzes Bündel recht heterogener Relationen. Nicht-wortsprachliche Darstellungen können Leistungen erbringen, die wort-

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Vgl. John Bertrand de C. M. Saunders und Charles D. O’Malley: The Illustrations From the Works of Andreas Vesalius of Brussels [...]. New York (1950) 1973, S. 245: »Ossa duo maxille inferioris, parte per coalitum firmißime anexa; nec sat scio, an malè cum Celso in hominibus vnum dicere poßimus, nam quavis etiam decoctione separari haudquaq[ue] posse obseruaui, & si ipsa cultro dirimenda sit, nullibi difficilius quá[m] in medio illam diuides.« Zu der mittlerweile Vielzahl an Untersuchungen u.a. Jeremy Adler und Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim (1987) 31990, Ulrich Ernst: Carmen figuratum: Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991 (dort S. 646ff auch zum diagrammatischen Figurengedicht); ferner Id.: Diagramm und Figurengedicht. Betrachtungen zu zwei affinen Formen visueller Kommunikation. In: Comunicare e significare nell’alto medioevo. Bd. I. Spoleto 2005, S. 539–573; auch Id.: Permutationen als Prinzip der Lyrik. In: Poetica 24 (1992), S. 235–269. Vgl. Michele C. Ferrari: Il ›Liber s. crucis‹ di Rabano Mauro. Testo – immagine – contesto. Bern 1999; Id.: Hrabanica. Hrabans De laudibus sanctae crucis im Spiegel der neuen Forschung. In: Gangolf Schrimpf (Hrsg.): Kloster Fulda in der Welt der Karolinger und Ottonen. Frankfurt/M. 1996, S. 493–526; Hans Georg Müller: Hrabanus Maurus – De laudibus sanctae crucis. Studien zur Überlieferung und Geistesgeschichte mit dem Faksimile-Textabdruck aus Cod. Reg. Lat. 124 der Vatikanischen Bibliothek. Düsseldorf, Ratingen 1973; Bruno Reudenbach: Imago – figura. Zum Bildverständnis in den Figurengedichten von Hrabanus Maurus. In: Frühmittelalerliche Studien 20 (1986), S. 25–35.

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sprachliche Darbietungen nicht erbringen können und umgekehrt. Das Ausloten der jeweiligen spezifischen Möglichkeiten wissenschaftlicher Abbildungen macht wenig Sinn, wenn es nicht auf bestimmte epistemische Situationen bezogen wird und sich nicht festlegen lässt, welchen Zielen die Abbildungen dienen sollen und in welcher Weise (in der Zeit) das jeweilige Ziel als erreichbar gelten kann. Zu der Ansicht, die Leistungen wortsprachlicher und nicht-wortsprachlicher Darstellungen seien teilweise substituierbar oder jeweils eigenständig, tritt die, dass die nicht-wortsprachliche Darstellung keine Leistung erbringe, die sich grundsätzlich (in einem bestimmten Bereich) nicht auch wortsprachlich erzielen lasse,85 sie nur ›Beiwerk‹ darstellen, eine mehr oder weniger ›fakultative‹ Ergänzung. Im anderen Extrem sieht man (allein) in Veränderungen der nichtwortsprachlichen Darstellungsmittel die entscheidende Differenz, die die gegenwärtigen gegenüber den älteren (Natur-)Wissenschaften unterscheide. Theoretisch wie praktisch interessanter als solche flächigen Zuschreibungen scheint demgegenüber die Frage zur Beziehung zwischen Abbildung und einem symbolsprachlich erweiterten wortsprachlichen Text, inwiefern eine ›bildliche‹ Darstellung gleichrangig sein kann mit einem etwa (symbolsprachlichen) mathematischen Beweis oder ihn sogar ersetzen könne.86 Beim Kommentar zu einer (wissenschaftlichen) Abbildung kann es sich beispielsweise (allein) um die Angabe der Namen von Teilen der Abbildung handeln – im Rahmen eines Text-Text-Kommentars macht das keinen Sinn. Mitunter sind diese Namen direkt in die Abbildungen integriert, etwa bei anatomischen Darstellungen, wenn an die Bildteile ›Zettel‹ angeheftet sind, die ihre terminologischen Bezeichnungen bieten. Ähnliches findet sich zwar auch im Kommentar (etwa die glossa interlinearis). Doch anders als bei so gestalteten nicht-wortsprachlichen Abbildungen bestand bei den wortsprachlichen Teilen immer die Gefahr, dass im Laufe der Zeit die in dieser Weise in den kommentierten Text integrierten Kom-

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Etwa die Ansicht, wissenschaftliche Abbildungen seien »bestenfalls Nebenprodukte der wissenschaftlichen Tätigkeit«, so Thomas S. Kuhn: Bemerkungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft [Comment on the Relation of Science and Art, 1960]. In: Id.: Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M. 1977, S. 446–460, hier S. 448. Zu dieser erst vor wenigen Jahren einsetzenden Diskussion u.a. John R. Brown: Illustration and Inference. In: Brian S. Baigrie (Hrsg.): Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems Concerning the Use of Art in Science. Toronto 1996, S. 250–268; Id.: Proofs and Pictures. In: The British Journal for the Philosophy of Science 48 (1997), S. 161–187; sowie Id.: Philosophy of Mathematics. An Introduction to a World of Proofs and Pictures. London, New York 1999; unter Analyse historischer Beispiele wird die Frage hinsichtlich (bestimmter Teile) der Geometrie, Arithmetik und Analysis unterschiedlich beantwortet bei Marcus Giaquinto, Visualizing as a Means of Geometrical Discovery. In: Mind and Language 7 (1992), S. 381–401; Id.: Visualizing in Arithmetic. In: Philosophy and Phenomenological Research 53 (1993), S. 385–396; sowie Id.: Epistemology of Visual Thinking in Elementary Real Analysis. In: The British Journal for the Philosophy of Science 45 (1994), S. 789–813 (wobei der Verfasser mit discovery explizit mehr als Heuristik meint).

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mentarpartikel als seine integralen Teile angesehen wurden. Das wurde immer wieder moniert und als Gefahr gesehen – so beispielsweise von dem Kirchenvater Hieronymus, wenn er darüber klagt und unmissverständlich fordert, sofern etwas am Rand des Textes hinzugefügt worden sei, sollte es der Kopierende nicht in den Text selber aufnehmen.87 Bereits vor dem Druck ist es daher nicht selten,88 den Kommentar zur Vermeidung einer solchen Verwechselung durch eine andere Schrifttype vom kommentierten Text sichtbar abzuheben89 – etwa Kursivierungen, cursiva. Anführungsstriche scheinen hingegen vor dem Druck nicht verwendet worden zu sein und im Druck wohl auch erst recht spät.90 Bildelemente lassen sich aber auch separat auflisten. Der Text selber bezieht sich dann auf die Auflistung (Legendentafeln, characterum index) und über sie auf die Abbildung, wie es durchgehend in Vesals sieben Büchern über den Bau des menschlichen Körpers der Fall ist. Wie bei der Aufbereitung des wortsprachlichen Textes fördert das auch das intensivierte Nachschlagen – so handelt es sich bei Vesal nicht um Kommentare zu einzelnen Abbildungen, sondern der wortsprachliche Text erzählt seine eigene ›Geschichte‹, für die gegebenenfalls durch Zurückschlagen die vorgängigen Abbildungen präsent zu halten sind und verzögert so wie bei der lectio stataria den Akt des Lesens. Die Benennung von Teilen der Abbildungen mit ihren terminologischen Namen – anders als mit Zahlen- und Buchstabenzeichen – verleiht dem wortsprachlichen Text eine bestimmte Unabhängigkeit von den Abbildungen, auf die er auch ohne die direkte Präsenz des Bildes verweisen kann. Das wiederum kann die individuellen Bezeichnungen von Bildteilen, auf die sich der wortsprachliche Text eines Werks bezieht, mit einem Bezeichnungssystem verbinden, das unabhängig ist von den vorliegenden Abbildungen. Das nun wiederum ist vergleichbar mit dem sich ausbildenden standardisierten eindeutigen Verweisungssystem bei der Zitation wortsprachlicher Texte, die das Verweisen im Kommentar-Text unabhängig macht von einem im Kommentar-Werk reproduzierten kommentierten Text, also ein Kommentieren sine textu. Ein Moment bei (anatomischen) Abbildungen, das demgegenüber beim Textkommentar wenig Sinn macht, ist die bereits im 16. Jahrhun-

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Vgl. Hieronmus: Ep 106, 46 (CSEL 55, S. 270): »Unde si quid pro studio e latere additum est, non debet poni in corpore, ne priorem translationem pro scribvbentium uoluntate conturbet.« Edward J. Kennedy: The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book. Berkeley, Los Angeles, London 1974, S. 64, scheint anzunehmen, dass solche optischen Differenzierungen erst in der Horaz-Edition von 1561 des Denys Lambinus (1519–1572) gegeben seien. Hierzu u.a. Margaret Gibson: Carolingian Glossed Psalters. In: Richard Gameson (Hrsg.): The Early Medieval Bible. Cambridge 1994, S. 78–100. Wenig ergiebig Christian Weyers, Zur Entwicklung der Anführungszeichen in gedruckten Texten. In: Zeitschrift für Semiotik 14 (1992), S. 17–28. Erhellend Christian Wildberg: Simplicius und das Zitat. Zur Überlieferung des Anführungszeichens. In: Friederike. Berger (Hrsg.): Symbolae Berolinenses. Amsterdam 1993, S. 187–199.

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dert genutzte Technik der Koordinaten, die zu den Abbildungen hinzugefügt werden und durch die eine vergleichsweise eindeutige Lokalisierung von jedem Ort einer Abbildung möglich wird. In dieser Hinsicht besitzt kein wortsprachlicher Text den Charakter eines Bildes. Abgesehen davon, dass es kaum Generalisierungen zu den word-image-Beziehungen über einen größeren Zeitraum hinweg geben dürfte, das gilt beispielsweise auch für die pictura-laicorum-litteratura-These91 (dass Abbildungen durchweg allein für die Schriftunkundigen wortsprachliche Darstellungen ersetzen oder vergegenwärtigen sollten92), bleibt immer die jeweilige text-picture-Beziehung in jedem einzelnen Werke zu analysieren. Bei dieser Beschreibung und Analyse wäre dabei das zeitgenössische, vermutlich nicht selten genrespezifische Verständnis der Text-Bild-Beziehung stärker noch zu berücksichtigen, als das bislang zumeist geschieht. Das gilt insbesondere dann, wenn es um Fragen geht, worauf eine Abbildung außerhalb des Werks Bezug nimmt, also der Bestimmung ihres ›Referenten‹. Damit soll nicht ausgeschlossen sein, dass es bei Abbildungen (Bedeutungs-) Aspekte gibt, die relativ unabhängig von ihren Verwendungskontexten und in diesem Sinn als invariant erscheinen. Nicht abquälen will ich im Weiteren mit der Frage, wie sich der Unterschied zwischen wortsprachlichen und bildlichen, also nicht-wortsprachlichen Darstellungen, präzise, angemessen und allgemein bestimmen lässt – unabhängig einmal davon, dass die konkrete Unterscheidung zwischen beiden Arten der Darstellung erst möglich wird durch die Einbettung in die Verwendungskontexte (in die ›Bild-

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Zur Erörterung u.a. Lawrence G. Duncan: Was Art Really the Book of the Illiterate? In: Word & Image 5 (1989), S. 227–251; Celia M. Chazelle: Pictures, Books, and the Illiterate: Pope Gregory I’s Letters to Serenus of Marseilles. In: Word & Image 6 (1990), S. 138–153; Michael Curschmann: Pictura laicorum litterartura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter. In: Hagen Kelle, Nikolaus Staubach (Hrsg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. München 1992, S. 211–229. Den Ausgang bildet das Diktum Gregors des Großen: Ep XI, 13 (PL 77, Sp. 1128): »[…] Aliud est enim picturam adorare, aliud per pirecturae historiam quid sit adorandum addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa etiam ignorantes vident quid sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt. Unde et praecipue gentibus pro lectione pictura est. [...] Frangi ergo non debuit quod non ad adorandum in Eclesiis, ed ad instruendis solummodo mentis fuit nescientium collocatum.« Zunächst ist festzuhalten, dass es sich um eine Reaktion des Tadels der Vernichtung von Bildern in den Kirchen (von Marseille) mit dem Hinweise auf ihren Nutzen handelt, dann geht es darum, dass man allein darum bedacht sein müsse, dass das Volk die Bilder nicht anbete – übrigens ein anhaltendes Problem, das zu nicht wenigen Differenzierungen in der Scholastik hinsichtlich der Bild-Abbild-Relation geführt hat, das in der Reformation vehement aufbricht und einen Höhepunkt erlangt in einem Dekret auf der letzten Sitzung des Tridentinischen Konzils 1563, hierzu Hubert Jedin: Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung. In: Tübinger Theologische Quartalschrift 116 (1935), S. 143–188 sowie S. 404–429; Anastasio Roggero: Il decreto del concilio di Trento sulla vernerazione delle immagini e l’arte sacra. In: Ephemerides carmelitanae 20 (1969), S. 150–167.

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zeichensysteme‹), in denen die Kommunikation (die ›Sprechakte‹ wie etwa Veranschaulichen) mit Abbildungen erfolgt. Das schließt allerdings nicht aus, dass sich bei den ›Prinzipien‹ der wortsprachlichen und nichtsprachlichen Wissensrepräsentation Unterschiede finden lassen. Gemeint sind, wenn man so will, intrinsische Struktureigenschaften nicht-wortsprachlicher Darstellungen, die mit dem Repräsentierten übereinstimmen, und die durch spezielle (Relations-)Symbole ausgedrückt werden.93 Zwar können ›extrinsische‹ wortsprachliche Darstellungen solche ›intrinsische‹ Struktureigenschaften ebenfalls besitzen, aber nicht aufgrund von entsprechend semantisch gedeuteten besonderen (Relations-)Zeichen, sondern die Darstellung kann Struktureigenschaften exemplifizieren. Wie dem auch sei – zwei Arten von nicht-wortsprachlichen Darstellungen möchte ich unterscheiden: Darstellungen, die (zentral)perspektivisch sind (in ihnen kann man auch wahrnehmungsnahe Zeichengebilde sehen) und solche, die es nicht sind. Diese Unterscheidung selbst wäre noch in kontextsensitiver Weise zu differenzieren. Doch scheint es bislang keine umfassendere Klassifikation nicht-wortsprachlicher Darstellungen in wissenschaftlichen Werken zu geben, die nicht nur aus mehr oder weniger aufschlussreichen Aufzählungen von ›Typen‹ besteht. Sie werden zwar durch anschauliche Beispiele illustriert, doch verzichtet man durchweg auf die Explikation systematisch nachvollziehbarer Unterschiede:94 ›Typisierend‹ versus ›identifizierend‹, ›diagrammatisch‹ versus ›realistisch‹, ›generisch‹ versus ›spezifisch‹, ›normativ‹ versus ›deskriptiv‹, ›anschaulich‹ versus ›unanschaulich‹, ›naturalistisch‹ versus ›nichtnaturalistisch‹, sind nicht selten verallgemeinernde Deutungen der Unterscheidung zwischen zentralperspektivischen und nicht zentralperspektivischen Abbildungen. Doch bleiben sie durchweg unbefriedigend, da sie mitunter zu wenig die verschiedenen Aufgaben berücksichtigen, die Abbildungen in den (historischen) Kontexten ihrer Verwendung erfüllen können oder erfüllen sollen. Zunutze mache ich mir bei dieser Unterscheidung, dass die zentralperspektivischen Bilder in einer besonderen, nicht-konventionellen Beziehung zu den von ihnen dargestellten Gegenständen stehen, da die einschlägigen Gesetze der Optik mit denen der Zentralperspektive zusammenfallen.95 Zu unterscheiden ist dabei zwischen ›Sehen‹ und ›Wahrnehmen‹: Die Theorie der Perspektive erklärt nur das ›Sehen‹, nicht hingegen die Interpretationen im Rahmen des Wahrnehmens von

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Vgl. u.a. S.E. Palmer, Fundamental Aspects of Cognitive Representation. In: Eleanor Rosch, Barbara B. Lloyd (Hrsg.): Cognition and Categorization. Hillsdale 1978, S. 259– 303. So etwa, wenn auch erhellend, Willem D. Hackmann: Natural Philosophy Textbook Illustrations, 1600–1800. In: Renato G. Mazzolini (Hrsg.): Non-verbal Communication in Science Prior to 1900. Firenze 1993, S. 169–196. Vgl. auch Klaus Rehkämper: Bilder, Ähnlichkeit und Perspektive: auf dem Weg zu einer neuen Theorie der bildhaften Repräsentation. Wiesbaden 2002; sowie Id., Wolfgang Möckel: Visuelle Ähnlichkeit und perspektivische Darstellungen. In: Silja Freudenberger, Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/M. 2003, S. 197–216.

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Ähnlichkeit. Man kann dann auch sagen, dass die korrekte zweidimensionale Zentralprojektion einem dreidimensionalen Gegenstand als Abbild ähnlich ist. Die Darstellung ist freilich relativ zu einem Augenpunkt und einem Sehkegel, so dass ein und derselbe dreidimensionale Gegenstand unbegrenzt viele zweidimensionale zentralperspektivische Abbildungen haben kann. Von der zentralperspektivischen ist dann die nicht-perspektivische unterschieden. Auf viele spannende Themen und mehr oder weniger irrige Ansichten, die man mit der Entdeckung der Zentralperspektive in Zusammenhang gebracht hat, kann ich hier nicht eingehen.

3. Vesals écorchés Stattdessen komme ich zu einem Beispiel, für das gerade die perspektivische Darstellungsweise zentral ist. Wenn man die Zeichnungen von Vesals großem anatomischen Werk mit den älteren, im Unterschied hierzu mitunter wie Kinderzeichnungen anmutenden Darstellungen vergleicht, dann gehört zu den wesentlichen Unterschieden die Einführung der Perspektive und die angestrebte Detailliertheit. Das späte Mittelalter kennt nur flächige Ganzdarstellungen des Menschen, die den Aufbau und den Zusammenhang etwa der Organe zeigen, und zwar so, wie sie sich aus den galenischen Schriften ergeben. Diese schablonenhaften Zeichnungen dienten weniger zur anatomischen Orientierung als vielmehr zur Eintragung etwa von Stellen zum Aderlassen und mitunter eher der Versinnbildlichung des Zusammenhangs zwischen den menschlichen Organen und den Tierkreiszeichen, zur Bestimmung des richtigen Zeitpunktes für den Vollzug des Aderlasses im Rahmen einer ›astrologischen Medizin‹. Keine Frage ist seit geraumer Zeit, dass Vesal die Anfertigung der Abbildungen selbst kontrolliert. Obwohl er sie größenteils nicht selbst angefertigt hat, gehen sie wohl durchweg auf seine Entwürfe zurück. Die bildlichen Darstellungen selbst dürften von einer nicht sicher identifizierten Meisterhand aus der Schule Tizians stammen.96 Nach den (verschollenen) Entwürfen soll die Arbeit Jan Stephan van Kalkar gemacht haben.97 Freilich bleibt rätselhaft, weshalb Vesal entgegen seiner

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Vgl. Moritz Roth, Andreas Vesalius Bruxellensis. Berlin 1892, S. 179, Charles D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels 1514–1564. Los Angeles 1964, S. 127/28, vor allem Martin Kemp, A Drawing for the Fabrica; and Some Thoughts Upon Vesalius MuscleMen. In: Medical History 14 (1970), S. 277–288. Vgl. u.a. James T. Goodrich: John Stephen of Calcar. The Identification of the Anatomical Illustrators of the De Humani Corporis fabrica (1543). In: The Journal of Biocommunication 5/3 (1978), S. 26–32; zu einem anderen möglichen Beteiligten Joseph Petrucelli: Giorgio Varsari’s Attribution of the Vesalian Illustrations to Jan Stephan of Calcar: A Further Examination. In: Bulletin of the History of Medicine 45 (1971), S. 29–37; allerdings hat man mitunter auch die Hand des Meisters selbst gesehen, hierzu Marielene Putscher, Ein Totentanz von Tizian. Die 17 großen Holzschnitte zur Fabrica Vesals (1538–1542). In: Wilfried Göpfert und Hans-Hermann Otten (Hrsg.), Μετανοειτε − wandelt euch durch neues Denken. Düsseldorf 1983, S. 23–40, auch dies.: Leonardos

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früheren Geflogenheit bei De humani corporis fabrica keinen Künstler nennt und sich in den Darstellungen auch keine versteckten Hinweise finden. Durch die perspektivische Darstellung und die Detailgenauigkeit gelingt es, den räumlichen Aufbau wie auch beispielsweise die Lagebeziehungen der Organe darzustellen. In den berühmtesten der zahlreichen Darstellungen streifen die Muskelmänner (écorchés) sukzessive alle ihre Muskeln wie Kleidungsstücke ab, bis nur noch das Skelett übrig bleibt – so bieten dann sieben Tafeln das Szenario im Blick auf die vordere, sechs auf die hinteren Partien. Die Abbildungen in Vesals anatomischem Werk haben die ebenso anhaltende wie bewundernde Aufmerksamkeit der Wissenschaft erfahren und sind nicht selten analysiert worden.98 Vieles hat man herausbekommen, auch beispielsweise über die kleinen Zeichnungen, die figurierte Initialen darstellen99 – figurierte Initialen sind im Übrigen ein altes und dabei nicht seltenes Darstellungsmittel, das zu den Gestaltungstechniken gehört, welche die Bildwirkung der Schrift wie die Schriftbezogenheit des Bildes fördern und dem Leser nahe legen, lesend wie betrachtend den Sinn zu entdecken.100 Freilich darf man sich die Veränderungen bei den anatomischen Darstellungsweisen nicht als einen gleichsam senkrecht von oben in die Geschichte fallenden erratischen Block vorstellen, ohne wesentliche Ähnlichkeiten zum Vorangegangenen oder zum Gleichzeitigen.101 Sicherlich ist Leonardo da Vinci (1452–1519)

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Anatomiestudien und ihre Bedeutung für Kunst und Wissenschaft. In: Wolfram Prinz und Andreas Beyer (Hrsg.): Die Kunst und das Studiem der Natur vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Weinheim 1987, S. 141–157. Zur Beteiligung Vesals an der buchtechnischen Relisierung des Werks Hans A. Janssen und R.M. Bouhoorn: Vesalius exemplarisch: een auteur schrijft zijn uitgever. In: De Boekenwereld 14 (1998), S. 218–230. Nur zwei Beispiele: Andrew Cunningham: Focus on the Frontispiece of the Fabrica of Vesalius, 1543. Cambridge 1994; Andrea Carlino: La fabbrica del corpo. Libri e disserzione nel Rinascimento. Torino 1994, S. 41–54. Zur Deutung u.a. Klaus Rosenkranz: Die Initialen in Vesals Anatomie. Ein Beitrag zur Geschichte der anatomischen Abbildung. In: Archiv der Geschichte der Medizin 30 (1937), S. 35–46; B.J. Anson: Anatomic Tabulae and Initial Letters in Vesalius’ Fabrica and in Imitative Works. In: Surgery, Gynecology and Obstetrics 89 (1949), S. 97–120; Samul W. Lambert: The Initial Letters of the Anatomical Treatise de humani corporis fabrica of Vesalius. In: Id. et al.: Three Vesalian Essays to Accompany the Icones Anatomicae of 1534. New York 1952, S. 1–24; Adolf Faller: Eine neue Darstellung der großen Initiale I des 7. Buches der Vesalschen »Fabrica«. In: Gesnerus 28 (1971), S. 56–65; auch Id.: Zur Deutung der Initiale in Vesals ›De Humani Corporis Fabrica libri septem‹. In: Nova Acta Paracelsica 9 (1977), S. 132–139. Hierzu auch Beat Brenk: Schriftlichkeit und Bildlichkeit in der Hofschule Karls d. Gr. In: Testo e immagine nell’alto medioevo. Spoleto 1994, S. 631–682, insb. S. 660–662. Vgl. u.a. Robert Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung. I. Von der Antike bis um 1600. München 1967; Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildungen [II]. Von 1600 bis zur Gegenwart. München 1972; Gerhard Wolf-Heidegger, Anna Maria Cetto: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Basel, New York 1967; Kenneth B. Roberts, J. D. W. Tomlinson: The Fabric of the Body: European Traditions of Anatomical Illustrations. Oxford 1992; Mimi Cazort, Monique Korenll, Kenneth B. Roberts: The Ingenious Machine of Nature. Four Centuries of Art and Anatomy. Ot-

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mit seinen anatomischen Darstellungen zu einem geplanten Anatomie-Lehrbuch eine gewichtige Ausnahme in der vor-vesalschen Zeit.102 Ihn dürften dabei vermutlich nicht allein Analogien zur Architektur inspiriert haben samt den dort entwickelten Darstellungstechniken,103 sondern auch »›the dynamic‹ anatomy of machines«, wobei seine menschliche Anatomie als »largely tributary to his conceptually and chronologically earlier anatomy of machines« angesehen wird.104 Schließlich findet dieses Bemühen Anleitung durch die Maxime, dass es dem »Maler notthut, die innerliche Form des Menschen [l’intrinsecha forma del homo] zu kennen«.105 Allerdings konnten Leonardos Arbeiten in der Zeit kaum rezipiert werden; zu Lebzeiten sind allein die Illustrationen zu Luca Paciolis (um 1445–1514) De divina proportione von 1509 erschienen. In Charles Estiennes (Stephanus, 1504–1564) vor Vesals De humani coporis fabrica libri septem fertiggestellten, aber erst 1545 erschienenem Werk De Dissectione Partium Corporis Humani Libri Tres finden

–––––––— tawa 1996; sowie Deanna Petherbridge und Ludmilla Jardonova: The Quick and the Dead: Artits and Anatomy. Berkeley 1997. 102 Vgl. Pierre Huard: Die anatomischen Texte und Zeichnungen des Leonardo da Vinci. In: Robert Herrlinger, Fridolf Kudlien (Hrsg.): Frühe Anatomie. Von Mondino bis Malpighi. Stuttgart 1967, S. 53–79; Sigrid Braunfels-Esche: Leonardo als Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung. In: Rudolf Schmitz, Gundolf Keil (Hrsg.): Humanismus und Medizin. Weinheim 1984, S. 23–45; und Ead., Leonardo da Vinci. Das anatomische Werk. Stuttgart 1961, Marielene Putscher: Ausdruck und Beobachtung. Rückblick auf Leonardo und Vesal. In: Peter Bloch, Gisela Zick (Hrsg.): Festschrift Heinz Ladendorf. Köln, Wien 1970, S. 144–166; später v.a. Kenneth D. Keele: Leonardo da Vinci’s ›Anatomia naturale‹. In: Yale Journal of Biology and Medicine 52 (1979), S. 363– 409; Martin Kemp: »Il concetto dell’anima« in Leonardo’s Early Skull Studies. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34 (1971); S. 115–134, sowie Id.: Dissection and Divinity in Leonardo’s Late Anatomies. In: ebd. 35 (1972), S. 200–225; übergreifend auch Bernard Schultz: Art and Anatomy in Renaissance Italy. Ann Arbor 1985, insb. S. 67–87; ferner Kim H. Veltman: Linear Perspective and the Visual Dimensions of Science and Art. München 1986; zusammenfassend Ralf Vollmuth: Das anatomische Zeitalter: Die Anatomie der Renaissance von Leonardo da Vinci bis Andreas Vesal. München 2004, S. 31–60; schließlich M. Smith, Leonardo da Vinci, Andreas Vesalius: A Comparison. In: Transactions and Studies of the College of Physicians of Philadelphia 25 (1958), S. 167–177. 103 Hierzu Renato G. Mazzolini: Mechanische Körpermodelle im 16. und 17. Jahrhundert. In: Wolfgang Maier, Thomas Zoglauer (Hrsg.): Technomorphe Organismuskonzepte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 113–134, insb. S. 114–19. 104 Paolo Galuzzi: Art and Artifice in the Depiction of Renaissance Machines. In: Wolfgang Lefèvre et al. (Hrsg.): The Power of Images in Early Modern Science. Berlin 2003, S. 47–68, hier S. 58. – Zu einer anderen ›Analogiebildung‹ Leonardos vgl. Ernst Gombrich: The Form of Movement in Water and Air. In: Charles D. O’Malley (Hrsg.), Leonardo’s Legacy. Berkeley, Los Angeles 1969, S. 131–204. 105 Leonardo da Vinci: Das Buch der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus 1270. Wien 1882 (ND Osnabrück 1970), § 106 (S. 156/57), auch § 125 (S. 172) spricht Leonardo den »pittore notomista« an.

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sich zum Teil nicht weniger beeindruckende Darstellungen, obwohl die Abbildungen starke Qualitätsschwankungen aufwiesen.106 Allerdings liegen bei der Ausdeutung von Abbildungen Schatten und Licht dicht beieinander, so auch hier, wenn man nur an die unplausible, weil durch nichts weiter begründete Ausdeutung denkt, die der Umstand erfahren hat, dass im Zentrum des überaus bevölkerten Titelblattes von Vesals Werk als einziges inneres Organ der sezierten Leiche ein Uterus, ein geöffneter Unterleib zu sehen ist – korrekter: Der Anatom demonstriert seinen Zuhörern und Zuschauern den Bauchsitus einer weiblichen Leiche. Das hat zu der Deutung verführt – jenseits aller wissenschaftlicher Probleme wie etwa der siebenkammrige Uterus107 –, dass hier kein geozentrisches, kein heliozentrisches, sondern ein uterozentrisches Weltbild seinen Ausdruck finde.108 Das Titelbild von Vesals Fabrica ist demgegenüber überaus komplex; es exemplifiziert sicherlich nicht wenig, doch vermutlich genau das nicht. Kontexte, in die das Titelblatt zu seiner Beschreibung und Analyse nicht selten gestellt wurde, bilden andere Abbildungen mit der oft kolportierten Darstellung einer anatomischen Lehrsituation, in der ein Mediziner (doctor extraordinarius) aus einem Buch vorliest (interpres sectionis oder interpes historiae humanae), ein anderer (doctor ordinarius) auf das Vorgelesene bei der Leiche aufzeigt und der Wundarzt (chirurgus, sector) ebenfalls unterhalb der Lehrkanzel die Sektion (demonstrator) vollzieht oder auf die Körperteile auf einer Schautafel weist (ostensor). Das Titelblatt eines anatomischen Textes, Fasciculo di medicina ist der immer wieder vor dem Hintergrund von Äußerungen Vesals selbst kontrastiv zum Titelblatt der Fabrica ausgedeutete Beleg für eine solche vor-vesalsche Konstellation der anatomia ex cathedra. Ohne Frage sind bildliche Darstellungen eine recht schmale Basis für weitreichende Schlüsse auf die zeitgenössische anatomische Lehr-Praxis.109

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Vgl. Charles E. Kellett: Perino del Vaga et les illustrations pour l’anatomie d’Estienne. In: Aesculapius 37 (1964), S. 74–79; Robert Herrlinger: Carolus Stephanus and Stephanus Riverius (1530–1545). In: Clio Medica 2 (1967), S. 275–287; Gernot Rath, Charles Estienne: Zeitgenosse und Konkurrent Vesals. In: Herrlinger, Kudlien (Hrsg.): Frühe Anatomie (Anm. 102), S. 143–158; Id.: Charles Estienne: Anatom im Schatten Vesals. In: Sudhoffs Archiv 39 (1955), S. 35–43. Hierzu Robert Reisert: Der siebenkammrige Uterus. Studien zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte und Entfaltung eines embryologischen Gebärmuttermodells. Pattensen 1986. So Jonathan Sawday: The Body Emplazonde: Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London, New York 1995, S. 71: »It is not the sun, the title-page of the Fabrica insists [sic], which lies at the centre of the known universe. The world is neither geocentric, nor heliocentric, but uterocentric: [...].« – Brigitte Cazelles: Bodies on Stage and the Production of Meaning. In: Yale French Studies 86 (1994), S. 56–74, sieht in ihrer extensiven Beschreibung des Titelblattes ihrem Thema entsprechend nur, dass es die einzige Frau im dargestellten Szenario ist und begeistert sich ob der »theatricalized situation«. Vgl. auch den Hinweis bei Herrlinger, Geschichte (Anm. 101), S. 103.

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Im erweiterten Kontext der einschlägigen, die Sektion regelnden Statuten fällt die Interpretation denn auch differenzierter aus,110 und das Buch selbst bleibt in den anatomischen Darstellungen präsent, wie es denn auch noch auf dem Titelblatt des Werks Vesals vorhanden ist, nun allerdings in den Händen der Zuschauer.111 Wie dem auch sei: Diese Situation ließe sich auch so deuten, dass die Stellen des Körpers bzw. des Textes nur der Illustration des Kommentars, als visuelle Hilfe, und nicht zu seiner Überprüfung dienen sollten.112 Die Sektion unterstützt dann vor allem die Lehre, nicht aber zielt sie auf die Erzeugung neuer Wissensansprüche über den menschlichen Körper. Das Titelblatt von De humani coporis fabrica libri septem zeigt demgegenüber ein ganz anderes Szenario: Da nimmt der Gelehrte auf gleicher Höhe zu den Studenten und Anwesenden die Sektion vor, doziert und seziert zugleich – wie die Gestik der Hände des Anatomen deutlich machen sollen. Das Buch hat also seinen Platz mit dem Seziermesser getauscht. Das neue Lehr-Szenario samt der von Vesal immer wieder betonten Autopsie ist in einer jüngeren Untersuchung direkt mit der im Protestantismus aufkommenden Vorstellung des Selbstlesens der Heiligen Schrift im Zuge der Ablehnung der päpstlichen Autorität sowie mit der Distanznahme zu den, wenn auch nicht gänzlich vernachlässigten Kommentaren der Kirchenväter parallelisiert worden – freilich wurde das Selbstlesen vehement nur am Beginn der Auseinandersetzungen vertreten; bereits Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts kann davon keine Rede mehr sein, dass jeder, auch das ›einfache Volk‹, ohne Anleitung die Heilige Schrift lesen sollte.113 Zwar scheint eine solche konfessionelle Deutung nicht von vornherein unplausibel zu sein. Sie erweist sich jedoch als viel zu großflächig, um in irgendeiner Weise erhellende Anschlussfragen zu erzeugen.

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Vgl. hierzu Jerome J. Bylebyl: Interpreting the Fasciculo Anatomy Scene. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 45 (1990), S. 285–316; vgl. aber auch Loris Premuda, Guiseppe Ongaro: I primori della dissezione anatomica in Padova. In: Acta Medicae Historiae Patavina 12 (1965/1966), S. 117–142; ferner Nancy G. Siraisi: Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice. Chicago, London 1990, S. 78–97. Das Buch als Thema in den nach-vesalschen anatomischen Darstellungen scheint nach ersten Ansätzen bei Walter Artelt: Das Buch im Anatomiebild und das Anatomiebuch im Bild. In: Deutsche medizinische Wochenschrift 77 (1952), S. 1637–1640, nicht ausführlicher untersucht worden zu sein; weitere Hinweise bei William S. Heckscher: Rembrandt’s Anatomy of Dr. Nicolaas Tulp. An Iconological Study. New York 1958, S. 71f. Allerdings sollte man auch hier den Bruch zur vesalschen und prä-vesalschen Anatomie nicht zur sehr betonen, vgl. Levi Robert Lind: Studies in Pre-Vesalian Anatomy. Biography, Translations, Documents. Philadelphia 1975; ferner zur Geschichte der Anatomie vor Vesal und in seiner Zeit Andrea Carlino: La fabbrica del corpo. Libri e dissezione nel Rinascimento. Torino 1994. Weder auf die katechismusartige Steuerung der Erwartungen, mit denen der Laie an die Bibel tritt, noch auf die Steigerung der Zugänglichkeit der Schrift und der damit einhergehenden Disziplinierung der Wahrnehmungsweisen, kann hier eingegangen werden, vgl., wenn auch in Details nicht unumstritten, Gerald Strauss: Luther’s House of Learning: Indoctrination of the Young in the German Reformation. Baltimore 1978.

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Zudem kann die Autopsie nicht das verbindende Band zwischen Anatomie und Protestantismus sein.114 Selbst angenommen, Vesals Leistung verdanke sich einem gewissen Lutheranism115 – und das, obwohl er sich über seine religiösen Überzeugungen nie öffentlich geäußert hat (allerdings schließt das indirekte Plausibilisierungen von Annahmen über seine religiösen Vorstellungen nicht aus) –, erklärt eine solche Zuschreibung zunächst wenig im Blick auf die Rezeption seiner Anatomie des menschlichen Körpers. Dass die epistemische Situation der Zeit eine wesentliche ›theologische‹ Komponente aufweist, durch die sich sowohl Unvereinbarkeiten gegenüber neuen Wissensansprüchen erzeugen als auch ihre theologische Ausdeutung und Adaptation befördert wird, steht außer Frage. Zwar macht die Feststellung durchgängiger zustimmender Rezeption der neuen Anatomie des Vesal in einem konfessionell homogenen Territorium einen Einfluss protestantischer Theologeme auf dieses Akzeptanzverhalten möglich (etwa an der Universität Wittenberg),116 ist aber noch

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Vgl. L. Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin, New York 2003, insb. Kap. VI, S. 142–177. Vgl. Andrew Cunningham: Focus (Anm. 98), S. 40: »But one central aspect of his [scil. Vesals] teaching about anatomy, which he has illustrated […] in the Frontispiece by showing the students crowding round the body and reaching forward and touching it, has very close parallels with the Protestant message being taught by Martin Luther. Paintings of Luther frequently show him pointing to Christ [so wie Vesal den Betrachter anblickend, auf den aufgeschnittenen Körper zeigt]; the message is that only through Christ can we come to knowledge of God [...]. Personal knowledge of Christ can only be found through personal reading of the Bible. The true Christian, according to Luther, must constantly read ›The word, the word, the word‹.« Noch spekulativer dann am Ende (S. 41): »These attitudes of Vesalius about the right approach to anatomising, directly parallel Luther’s claims about the need for every Christian to read the Bible for him or herself and to be responsible for their personal relationship with God; true Christians should not rely either on ancient tradition in old texts, or on the intermediary of the Catholic Church, but should establish the truths of Christianity for themselves. Vesalius’ emphasis on the crucial need for personal experience to establish the facts, and on the need to engage in the pursuit of anatomising in the same way that one should engage in seeking true religious knowledge, may indicate that Vesalius was Lutheran in his religious sympathies, and that the Vesalian approach to anatomy is (in part) a side-effect of the Protestant reformation.« Vgl. auch Id.: The Anatomical Renaissance: The Resurrection of the Anatomical Projects of the Ancients. Aldershot 1997, insb. S. 212ff, wo allerdings ein wenig vorsichtiger argumentiert wird; so sollen nur »parallels (or homologies) between certain important moments of the new anatomizing […] and certain moments of the reformation« (S. 203) aufgezeigt werden. Später dann (S. 225) eingeschränkt auf »Vesalius’s actions: the pattern of what he did in his anatomizing, how he did it, and what he called on other people to do, in turn, in their anatomizing.« Eine Leseprobe (S. 235), in der es über Vesal heißt, »coming to a new view of the body because he was playing out his Lutheranism into his practice of anatomy.« Ferner Id.: Protestant Anatomy. In: Jürgen Helm, Annette Winkelmann (Hrsg.): Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century. Leiden, Boston, Köln 2001, S. 44–50. So z.B. Vivian Nutton: Wittenberg Anatomy. In: Ole Peter Grell, Andrew Cunningham (Hrsg.): Medicine and the Reformation. London, New York 1993, S. 11–32; zur Ge-

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nicht exkludierend, da der Schluss davon auf eine ›dispositionale‹ Eigenschaft des neuen Wissensanspruchs ein non sequitur ist. Sogar dann wäre das der Fall, wenn dieses Akzeptanzverhalten sich verbinden lässt mit einem speziellen theologischen Lehrstück protestantischer (lutherischer) Provenienz (etwa die besondere Charakterisierung der Unterscheidung von ›Gesetz‹ und ›Evangelium‹): Selbst das schließt von vornherein weder die Vereinbarkeit mit differierenden theologischen Annahmen noch entsprechende Ausdeutungen aus. Zu zeigen wäre demgegenüber, dass ein Bündel bestimmter neuer Wissensansprüche mit speziellen theologischen Ansichten unvereinbar und sich mit ihnen auch nicht harmonisieren lässt – und das ist, wenn ich es richtig sehe, im Fall der Anatomie bislang nicht einmal in Ansätzen gelungen.117 Im 16. und 17. Jahrhundert scheinen Wissensansprüche überhaupt in weit stärkerem Maße überkonfessionell verfügbar gewesen zu sein, als man gemeinhin anzunehmen pflegt.118 Man ist zu größeren kognitiven Assimilierungsleistungen in der Lage gewesen, wie es immer wieder Erklärungen suggerieren, die auf konfessionsspezifische Eigenschaften als Erklärungen zurückgreifen. Nicht selten werden zudem Auswirkungen einer veränderten Auffassung des Lesens in der Heiligen Schrift im Selbstverständnis der Protestanten nicht allein als (mit)verantwortlich für eine veränderte Orientierung der Sicht der Natur sowie des Umgangs mit ihr gesehen, sondern als zentral für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften überhaupt.119 Bei näherer Betrachtung jedoch darf eine solche

–––––––— schichte der Medizin in Wittenberg großräumig Wolfram Kaiser und Arina Völker: Ars medica Vitebergensis 1502–1817. Halle 1980; ferner W. Kaiser: Ärzte und Naturwissenschaftler im Kreis um Luther und Melanchthon. In: Id., A. Völker (Hrsg.): Medizin und Naturwissenschaften in der Wittenberger Reformationsära. Halle 1982, S. 127–165; v.a. Hans Theodor Koch: Wittenberger Medizin im 16. und 17. Jahrhundert. Halle 1992; sowie Jürgen Helm, Wittenberger Medizin im 16. Jahrhundert. In: Heiner Lück (Hrsg.): Martin Luther und seine Universität. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 95–115; ferner Wolfgang Böhmer, Die überregionale Bedeutung der medizinischen Fakultät der Universität in Wittenberg. In: Stefan Oehmig (Hrsg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, S. 225–230. 117 In: Danneberg: Die Anatomie (Anm. 114), insb. Kap. VIII, S. 204–225, wird zu zeigen versucht, dass die Rezeption der (vesalschen) Anatomie zwar zur Renovierung der protestantischen Hermeneutik (ausgehend von Melanchthon) geführt hat und geraume Zeit drückt sich das darin aus, dass für analysis hermeneutica synonym anatomia verwendet werden konnte; freilich konnte eine solche Renovierung auch von anderen Konfessionen übernommen werden. 118 Im Fall der Anatomie des 16. Jhs. bestätigt das auch die Untersuchung von Jürgen Helm: Protestant and Catholic Medicine in the Sixteenth Century? The Case of Ingolstadt Anatomy. In: Medical History 45 (2001), S. 83–86; ferner Id.: Religion and Medicine: Anatomical Education at Wittenberg and Ingolstadt. In: Id., Winkelmann (Hrsg.), Religious Confessions (Anm. 115), S. 51–68. 119 Vgl. Peter Harrison: The Bible, Protestantism, and the Rise of Natural Science. Cambridge 1998, S. 4 und S. 8: »The new conception of the order of nature was made possible, I shall argue, by the collapse of the allegorical interpretation of texts, for a denial of the legitimacy of allegory is in essence a denial of the capacity of things to act as signs.

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These in ihrer Allgemeinheit kaum auf ein Fünkchen historische Plausibilität hoffen. Ihre Voraussetzungen sind nicht gegeben, und das, was vom behaupteten Zusammenhang besteht, ist nicht nur wesentlich komplexer als eine solche Annahme erahnen lässt, sondern besitzt auch weitaus geringere Erklärungskraft als insinuiert wird – ganz abgesehen davon, dass das, was ausschlaggebend gewesen sein soll, etwa die Betonung des sensus litteralis und die Ablehnung des sensus allegoricus (in den protestantischen Auslegungslehren) nicht von intimen Kenntnissen der Geschichte der hermeneutica sacra und ihrer Struktur als Instrument zur probatio theologica zeugt,120 und so kommt denn auch die hier angesprochene Untersuchung ohne Kenntnisnahme auch nur einer einzigen protestantischen sakralen Hermeneutik aus und schöpft das vermeintliche Wissen über die protestantischen Auslegungslehren aus sekundären oder tertiären Quellen. Im Weiteren will ich mich auf einen einzigen Aspekt konzentrieren, der sich freilich nicht erst bei Vesal findet und der sofort ins Auge fällt: Die mitunter anatomisch heftig zerfledderten Gestalten präsentieren sich als Momentaufnahmen von Bewegung und das erfordert zunächst eine perspektivische Darbietung. Freilich hat das in der Forschung immer wieder für Rätselraten und Verwunderung gesorgt. Was allen bisherigen Ausdeutungen gemeinsam ist – etwa die vanitasAusdeutungen, als »Klagegesang auf die Hinfälligkeit des Menschen«,121 oder die Muskelmänner und Skelette als »einsam und in tragischer Größe« stehend und sich

–––––––— The demise of allegory, in turn, was due largely to the efforts of Protestant reformers, who in their search for an unambiguous religious authority, insisted that the book of scripture be interpreted only in its literal, historical sense. This insistence on the primacy of the literal sense had the unforeseen consequence of cutting short a potentially endless chain of reference, in which the word refers to object, and object refers to other objects. […] Literalism means that only words refer; the things of nature do not. In this way the study of the natural world was liberated from the specifically religious concern of biblical interpretation, and the sphere of nature was opened up to the new ordering principles […]. While I do not wish to be seen as setting out a monocausal thesis for the rise of modern science, for there is no reason why a range of factors should not play some role, yet I shall argue that of these factors by far the most significant was the literalist mentality initiated by the Protestant reformers, and sponsored by their successors«, auch S. 107, S. 114 und S. 208. Die Rezension von Robert Iliffe: [Rez.] Peter Harrison [...]. In: The British Journal for the History of Science 31 (1998), S. 470–473, ist zwar kritisch, aber nicht sonderlich informiert und übt sich im Gebrauch von intellektuellen Totschlägern wie die Identifikation der Auffassung als »methodological logocentrism« 120 Vgl. u.a. L. Danneberg: Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als donum Dei: Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Sabine Beckmann, Klaus Garber (Hrsg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005, S. 435–563; sowie Id.: Hermeneutik zwischen Theologie und Naturphilosophie: der sensus accommodatus. In: Fosca Mariani Zini, Denis Thouard, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Philologie als Wissensmodell. Philologie und Philosophie in der Frühen Neuzeit. La philologie comme modèle de savoir. Philologie et philosophie à la Renaissance et à l’Âge classique. München 2007. 121 So Marielene Putscher: Ein Totentanz (Anm. 97), S. 28.

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bewegend,122 als Anklang an mittelalterliche Totentanz-Darstellungen, dem the Renaissance Dance of Life entgegengesetzt sei123 – und weshalb sie aus meiner Sicht nicht zufriedenstellend sind: Alle diese Deutungen haben zur Folge, dass diese spezielle und alles andere als erwartete Eigenschaft der Abbildungen für ihren Charakter als anatomische Darstellungen als unwesentlich erscheinen. Die so gedeuteten Darstellungen werden, wenn auch nur implizit, in zwei Teile zerlegt, in einen intrinsischen und einen extrinsischen: in solche Eigenschaften, die sich mit dem vorliegenden (anatomischen) Darstellungsziel verbinden lassen, sowie in solche, die hierfür als irrelevant erscheinen. Dabei ist keine Frage, dass unabhängig vom Darstellungsziel sich von vornherein von keiner Eigenschaft sagen lässt, sie sei intrinsisch oder extrinsisch. Fraglos besitzen alle bildlichen (aber auch wortsprachlichen) Darstellungen Eigenschaften, die nicht direkt mit ihrem Darstellungsziel zusammenhängen – aber nicht nur das: Diese Eigenschaften können überaus bedeutsam sein bei entsprechender Perspektivierung, mit der Abbildungen im historischen Kontext situiert und analysiert werden. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Was lässt sich aus dem Befund schließen, dass »typically« die Manuskriptillustrationen einer bestimmten Zeit die Lernenden zwar mit Büchern zeigen, aber nicht mit Schreibmitteln? Lässt sich daraus auf die Praxis des Universitätsunterrichts im 12. und 13. Jahrhundert schließen, nämlich dass dieser durchweg allein auf die Memorierungsfähigkeit aufgebaut war ohne nennenswerte Unterstützung durch schriftliches Notieren?124 Ein anderes und näher liegendes Beispiel: Die Informationen, die eine (perspektivische) Abbildung bietet, lässt sich beispielsweise deuten als Versuch einer räumlich-zeitlichen Lokalisierung und das wiederum unter Umständen unter dem Ge-

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So etwa Reinhard Hildebrand: Zum Bilde des Menschen in der Anatomie der Renaissance: Andreae Vesalii De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1543. In: Annals of Anatomy/Anatomischer Anzeiger 178 (1998), S. 375–384, hier S. 377. 123 Z.B. A. Hyatt Mayor: Artists & Anatomists. S. l. 1984, S. 105–107: »They are actors strutting in the pride of Life. […] The idea of lining up a parade of anatomies could have occurred to Vesalius during his Parisian student days in the Cemetery of the Innocents, where the surrounding cloister was painted with the most famous of all the mediaeval Dances of Death. […] Vesalius’s muscle men keep up their tatterd ballet just as long as they keep their outer muscles, and only after theses are cut away do they allow themselves to stagger and collapse. They triumph over the medieval Dance of Death with a Renaissance Dance of Life. It would be hard to find any other pictures that so unmistakably proclaim the determination to keep going despite everything, the will to live – came what may! – which distinguishes Western man form the world of Buddhism.« – Wenig belangvoll ist das, was sich bei Geoges Canguilhem: L’homme de Vésale dans le monde de Copernic: 1543 [1964]. In: Id.: Études d’histoire et de philosophie des sciences. Paris (1968) 1970, S. 27–36, zu den Abbildungen Vesals allgemein ausgeführt findet. 124 So im Tenor Mary Carruthers: The Book of Memory. Cambridge 1990, u.a. S. 159; dazu mit Recht kritisch Charles Burnett: Give him the White Cow: Notes on Note-Taking in the Universities in the Twelfth and Thirteenth Centuries. In: History of Universities 14 (1995/96), S. 1–30, insb. S. 15ff.

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sichtspunkt der Bildung von Vertrauenswürdigkeit hinsichtlich dessen, was abgebildet worden ist, und dann schließlich aufgefasst als der Versuch der Erzeugung virtueller Zeugenschaft bei bestimmten Adressaten, die selbst keine Augenzeugen gewesen sind, und zwar mit Hilfe wortsprachlicher und nicht-wortsprachlicher Darstellung.125 In dieser Weise sind denn auch die ›naturalistischen‹ Abbildungen in Vesals Fabrica gedeutet worden – beispielsweise unter einem Konzept wie rhetoric of reality.126 Wie sich aber gleich zeigen wird, ist der Gedanke der virtuellen Zeugenschaft und der Rhetorik allein genommen schon dann nicht richtig,127 wenn man die intentio auctoris der Fabrica als Lehrbuch berücksichtigt, an dessen Ende die Praxis des Anatomisierens steht. Daher ist das denn auch zumindest nicht alles, was der ›naturalistische‹ Charakter der Abbildungen Vesals exemplifizieren soll. Doch unabhängig von diesem Fall: Das Erzeugen von Vertrauenswürdigkeit durch bestimmte bildliche Elemente hängt wesentlich von der epistemischen Situation ab, die den durch Abbildungen präsentierten Wissensanspruch rahmt.128 Im-

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So die Deutungen der Abbildungen Boyles etwa bei Steven Shapin und Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump: Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985, insb. S. 55–65; dort heißt es allgemein (S. 491/92): »The technology of virtual witnessing involves the production in a reader’s mind of such an image of an experimental scene as obviates the necessity for either its direct witness or its replication. Through virtual witnessing the multiplication of witnesses could be in principle unlimited. It was therefore the most powerful technology for constituting matters of fact.« Freilich deuten die Verfasser die virtuellen Zeugenschaft ohne den Bezug zur traditionellen Testimoniums- und Autoritätslehre zu sehen. Gemeint ist damit: »the use of recognisable visual signals of uncompromising naturalism to convince the viewer that the forms are protrayed from life. These visual signals were frequently accompanied by texts or captions which emphasised the concrete situations and procedures by which the representations were generated, and by visual references to the act of dissection itself, through such devices as the display of tools«, Martin Kemp: Vision and Visualisation in the Illustration of Anatomy and Astronomy From Leonardo to Galileo. In: Freeland, Corones (Hrsg.): 1543 (Anm. 79), S. 17–51, hier S. 19. Vgl. z.B. Jan-Henrik Witthaus: Fernrohr und Rhetorik: Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère. Heidelberg 2005, S. 49/50: »Diese Herstellung von Präsenz erweist sich als höchst ›energetisch‹, im aristotelischen Sinn, denn anhand welcher Beispiele wäre es berechtigter, von einer Belebung des Unbelebten zu sprechen als eben im Hinblick auf die Abbildungen des Vesalius, wo sich die Muskelmänner in Pose werfen, und Skelette in Ausübung alltäglicher Bewegungen zu betrachten sind? Vielleicht möchte man – auf die Gefahr hin, den dekonstruktiven Bogen zu überspannen – den Gedanken noch weitertreiben und die belebten Leichen als Figuration des durch die Bilder animierten ›Textkorpus‹ selbst ansehen.« Den Verfasser kann man beruhigen; denn auch bei ihm – wie fast immer – wird »der dekonstruktive Bogen« des Wissens alles andere als überspannt, sondern ist viel zu schlaff, um nicht selbst kleinste Pfeile, kaum haben sie den Bogen verlassen, ohne Bodengewinn gleich wieder in den pompösen Voraussetzungen verharren zu lassen. Hierzu Lutz Danneberg: Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität. In: Id. et al. (Hrsg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin, New York

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mer wieder ist bemerkt worden, dass Abbildungen eine Detailgenauigkeiten aufweisen können, die hinsichtlich des vermeintlichen Darstellungsziels als redundant erscheinen – etwa die berüchtigte Fliege auf der Darstellung eines menschlichen Kadavers.129 Auch hier erlaubt die Abbildung allein genommen keinen Schluss darauf, was ein solches Detail exemplifizieren soll: Detailreichtum kann (zu einer bestimmten) Zeit zur Glaubwürdigkeit und Autorisierung bildlicher Darstellungen gehören (ebenso wie bei wortsprachlichen Beschreibungen); zugleich ist dieser Reichtum wohl nie ein uneingeschränktes Ziel gewesen, sondern der angestrebte Grad der Detailgenauigkeit resultiert wesentlich aus der Realisierung des Darstellungsziels. Allein vor dem Hintergrund einer gegebenen epistemischen Situation lassen sich Autorisierung und Glaubwürdigkeit von bildlicher (wie wortsprachlicher Darstellung) vermitteln und auch ermitteln. So kann an die Stelle bestimmter Darstellungsmittel zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit beispielsweise der Ort der Publikation treten. Die Abbildungen können dann schematisch und abstrahierend sein, etwa bei Experimentalanordnungen, bei denen allein die Wiedergabe des prinzipiellen Aufbaus oder des Funktionsprinzips erforderlich ist. Unabhängig von der epistemischen Situation des Verwendungskontextes gibt es auch keine Beziehung zwischen dem Grad der Interpretierbarkeit einer Abbildung und dem Grad ihres Detailreichtums. Im Rahmen einer solchen Situation kann eine Abbildung hoher Detailliertheit relativ unabhängig vom wortsprachlichen Rahmen und direkt erkennbar auf einen Referenten Bezug nehmen. Gleiches kann bei wesentlich geringerem Detaillierungsgrad durch Konventionen oder pars-pro-toto-Annahmen, die das Typische bestimmen, nicht minder gegeben sein. Im Hintergrund der berühmten vierzehn Muskelmänner-Bilder Vesals ist jeweils ein Teil einer Landschaft zu sehen – das Positionieren anatomischer Darstellungen in Landschaften ist nicht ungewöhnlich und schon zuvor praktiziert worden. Allerdings liefern die Landschaftsteile der Abbildungen in der Bildabfolge, wie sie im gedruckten Werk vorliegen, kein durchgehendes Panorama. Ordnet man die Bilder so an, dass sich ein durchgängiges Panorama ergibt, so scheint ihre Abfolge eher umgekehrt zu sein,130 und man kann daher zu der Ansicht kommen, dass diese Landschaften »have no significance except for an indirect identification of Padua« und nur der Dekoration dienten.131

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2002, S. 19–66; sowie Id.: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte. München 2006, S. 193–221. Vergrößerte Abbildung in Roberts, Tomlinson, The Fabric (Anm. 101), S. 312. Vgl. Harvey Cushing: A Bio-Bibliography of Andreas Vesalius. Hamden (1943) 1962 (Sec. Ed.), Fig. 59. Charles D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels 1514–1564. Los Angeles 1964, S. 128; zum Thema und zu anderen Auffassungen v.a. G. S. T. Cavanagh: A New View of the Vesalian Landscape. In: Medical History 27 (1983), S. 88–79; ferner Carsten-Peter

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Ein weiteres Moment zeigt sich bei dem Bildnis, das sich auf der Seite platziert findet, die der beginnenden Praefatio der Fabrica gegenüber liegt. Vermutlich zeigt es den Verfasser des Werks selbst den Blick auf den Betrachter gerichtet und dabei einen Unterarm mit Hand sezierend. Sicherlich meint diese Abbildung etwas anderes als (nur) Vertrauenswürdigkeit. Die ›naturalistische‹ Bedeutsamkeit dieses Bildes, auf dem sich zudem ein Tintenfass und eine beschriebene Seite findet, dürfte denn auch in einem anderen Kontext zu sehen sein: Zum einen handelt es sich um Utensilien, die in der anatomischen Arbeit erforderlich bleiben, um die Autopsie zu dokumentieren; zum anderen aber bleibt für die anatomische Ausbildung der Studierenden die begleitende Arbeit mit ›Wort‹ und dem ›Bild‹ erforderlich. Bilder können nach Vesal dem Verständnis dienlicher und sogar genauer als die ausführlichste Erklärung sein, indem sie die Sache vor Augen führen132 – also das Bild steht für das zweifache Zusammenspiel von ›Bild‹ und ›Text‹, wie es (auch) die (neue) ars anatomica erforderlich macht bzw. bleibt. In der Tat hält Vesal die graphischen Darstellungen allein nicht für tauglich, um aus ihnen zu lernen. Leistungsfähigkeit und Nutzen von Abbildungen für die Anatomie sind denn auch heftig angegriffen worden – so auch von Vesals ehemaligem Lehrer Jacobus Sylvius (1478–1555).133 Um die Wende zum 17. Jahrhundert ist beispielweise der bedeutende Neoaristoteliker Andreas Caesalpinus (1524/25–1603) der Ansicht, Worte drückten die differentiae zwischen den Pflanzen besser aus als Abbildungen.134 Für Vesal sind Abbildungen immer nur Ersatz für die eigene Anschauung und die eigene Handarbeit:135 Sie seien so in den wortsprachlichen Text zu integrieren,

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Warncke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987, S. 225f. Vgl. Vesal: De humani corporis fabrica libri septem. Basileae 1543 (Faksimile-ND Bruxelles 1964), *2v : »Qvantvm uero pictvrae illis intelligendis opitvlentvr, ipsorvm etiá[m] uel explicatissimo sermone rem axactius ob oculos collocé[n]t.« Hierzu Roger French: Dissection and Vivisection in the European Renaissance. Aldershot 1999, S. 170–177; zur allgemeinen Kritik des Sylvius auch Renate Wittern: Die Gegner Andreas Vesals. Ein Beitrag zur Streitkultur des 16. Jahrhunderts. In: Florian Steger, Kay Peter Jankrift (Hrsg.): Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinisches Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 167–199; ferner Juan Josè Goxanes: El mito de Vesalio. Valencia 1994. Vgl. Kristian Jensen: Description, Division, Definition – Caesalpinus and the Study of Plants as an Independent Discipline. In: Marianne Pade (Hrsg.): Renaissance Readings of the Corpus Aristotelicum. Kobenhavn 2000, S. 185–206, hier S. 194. Hinsichtlich der Alternative: Bei der Anatomie selbst zuzusehen oder eine Abbildung zu betrachten, ist Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen hg. und übersetzt von Theodor Lücke. München 1952, S. 91, hinsichtlich eines bestimmten Aspekts eindeutig und Vesal würde ihm vermutlich beipflichten: »Und wenn Du nun meinst, es sei besser, bei einer Anatomie zuzusehen, als solche Zeichnungen zu betrachten, so hättest du wohl recht, wenn es möglich wäre, alle Dinge, die in diesen Zeichnungen gezeigt werden, in einem Körper zu betrachten.« In seinen Notizbüchern Quaderni d’Anatomia, hierzu Martin Kemp: Leonardo da Vinci. London 1981, S. 270–272, heißt es: »And you,

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dass sie beim Studium der Natur anhand eines Buches den sezierten Körper ›vor Augen stellen‹. Bereits im Widmungsschrieben zu seinen Tabulae sex von 1538, in dem er biographisch erläutert, wie die Zeichnungen im Zusammenhang mit seiner anatomischen Arbeit stehen – Anlass war ein Verständnisproblem des Ausdrucks (kat’’i’xin), den Hippokrates verwendet hat –, heißt es, dass die dargebotenen Abbildungen (lineamenta) sehr nützlich für diejenigen seien, die seine Vorlesungen besuchen würden. Zur gleichen Zeit allerdings, hält er es für inakzeptabel anzunehmen, ein eigenes Verständnis von Teilen des Körpers oder ihre Funktion allein von Abbildungen (picturis) oder schematischen Darstellungen (formulis) zu erlangen. Gleichwohl werde niemand bestreiten wollen, dass sie dem anatomischen Unterricht dienen nicht zuletzt, indem sie das Erinnern stützen.136 Aufschlussreich für den Nutzen der optischen Darstellung ist Vesals stützender Vergleich mit der Geometrie. Wie sehr bei der Anatomie die Darstellungen zum Verständnis einer Sache helfen können und dies noch viel genauer als die ausführlichste Erläuterung, erkennen nach Vesal alle diejenigen eindrücklich, die sich mit der Geometrie wie anderen Disziplinen der Mathematik beschäftigen.137 Es kann sich dabei um eine Reminiszenz an den principes omnium medicorum Galen handeln, der nicht selten auf den Nutzen der Mathematik, nicht zuletzt der Geometrie für die Medizin hinweist. In De constitutione artis medicae formuliert Galen Anforderungen an den angehenden Medizinstudenten; danach soll er nicht nur bestimmte kognitive Fähigkeiten besitzen, sondern auch in jungen Jahren bereits mit der Arithmetik und Geometrie vertraut sein.138 Vermutlich dürfte er zumeist die praktische Geometrie meinen, die für die äußere Gestalt, der von der Medizin untersuchten Dinge als zuständig gilt (etwa die äußere Gestalt von Wunden). Dar-

–––––––— who hope to demonstrate the figure of man with words in all the aspects of his structure, put this hope from you, because the more minutely you decribe it, the more you will confuse the mind of your reader and the further you will remove him from the knowledge of the thing described. […] O writer, with what letters would you compose the entire figuration with as much perfection as does drawing here? « 136 Vgl. den Abdruck der Tabulae sex in Saunders, O’Mally: The Illustrations (Anm. 82), S. 237: »Quia uerò ad meam pertinebat professionem Anatomes administratio, ipsis deeesse non debui, potissimum quum scirem eiusmodi lineamenta, his qui secanti adfuissent, non mediocre commodum allatura. Aliàs siquidem aut partium corporis, aut simplicium pharmacorum cognitionem ex solis picturis, seu formulis uelle assequi, ut arduum, sic quoque uanum ac impossibile omnino arbitror; sed ad memoriam rerum confirmandam apprimè conducere, nemo negauerit.« 137 Vgl. Vesal, De humani [1543] (Anm.132), *4: »Quantum uerò picturae illis intelligendis opitulentur, ipsoq[ue] etiá[m] ad explicatissimo sermone rem exactiùs ob acutos collocent, nemo est qui nó[n] in geometria, alijsq[ue] mathematú[m] disciplinis experiatur praeter quàm quod nostrae partium imagines illos impense oblectabú[n]t, quibus nó[n] semper humani corporis resecandi datur copia […].« usw. 138 Vgl. Galen, De constittione artis medicae (Opera, ed. Kühn, I, S. 244f.).

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über hinaus scheint sich Galen am Vorbild einer euklidischen Wissenschaftsmethode, more geometrico, zu orientieren.139 Es kann sich aber auch um eine eigene Anspielung auf Quintilian handeln, der davon spricht, dass die stärksten Beweise allgemein grammikaˆ ¢pode…xeij, Beweisführungen mittels Zeichnungen, seien;140 an anderer Stelle erläutert er das mit explizitem Hinweis auf die Geometrie: »¢pode…xeij est evidens probatio, ideoque pobatio, ideoque apud geometras grammikaˆ ¢pode…xeij.«141 Schließlich kann es sich auch um Anspielung auf Aristoteles handeln, der das, was er mit ›vor die Augen stellen‹ meint, mit der graphisch dargestellten Figur des Dreiecks illustriert. Ebenso wie die Geometrie – so ließe sich ergänzen – keinen empirischen Körper mit seinen ›Zufälligkeiten‹ darstellt, sondern eine Idealisierung vollzieht, so auch die anatomische Darstellung.142 Im Vorwort zur Fabrica exponiert Vesal als eines der von ihm verfolgten Ziele, dass sein Werk der Chirurgie nützen soll, die er aus einer verachteten in eine geachtete Disziplin verwandeln will: Es ist die Handarbeit des Chirurgen – noch in seiner bissigen Intervention zur Frage des Vorrangs der Disziplinen drückt sich bei Petrarca (Invectiva contra medicum quendam, I, 8) die tiefe Verachtung des ›Humanisten‹ vor der Handarbeit aus.143 Sie – ceiroυργ…a (manus opera), die ars chirurgica – soll angeleitet werden durch die Seh-Arbeit des Anatomen, der selbst den eigenen Händen traut; es ist die ebenso gelehrte wie geschulte Hand (manus

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Vgl. Galen, De usu partium corporis humani. (Opera, ed. Kühn, III, S. 1–933, hier S. 830, wo Galen sagt, dass man die (wissenschaftlichen) Beweise von Euklid zu lernen habe. 140 Vgl. Quintilian, Orat Inst, I, 10, 28. 141 Ebd., V, 10, 7. – Dass dieses Konzept nichts mit dem aristotelischen Konzept der Apodeixis zu tun hat, haben die Rezipienten gesehen, das zeigen die gewählten Illustrationen – um nur ein Beispiel heraus zu greifen, Erasmus, De duplici copia verborum ac rerum [1512]. In: Id.: Opera Omnia […] Tomvs Primus. Lvgdvni Batavorvm 1703, Sp. 1–95, hier Sp. 67: »Uervm qvvm tota res ad volultaté[m] spectat, qvemadmodú[m] in poematis ferm sit, & ¢pode…xej, qvae exercendi ostendandiue ingenii cavsa tractantvr, licebit effictionibvs hvivsmodi liberivs lasciuire. Ad hanc formá[m] pretinent descriptiones Homericae, qvoties armat Deos svos avt horas, qvoties conuiuivm, qvoties prolivm, qvoties fvgam, qvoties concilivm describit.« Homer als Exempel zu nehmen, scheint ein Echo von Aristoteles, Rhet, III, 11 (14b31–1412a9) zu sein. 142 Vgl. Aristoteles: De mem, 1 (450a1–10). Ein Echo bei Galen: De usu partium (Anm. 139) (S. 8/9). 143 Im Zusammenhang Klaus Bergdolt: Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus. Weinheim 1992; auch u.a. Nancy Struewer: Petrarch’s Invective contra medicum: An Early Confrontation of Rhetoric and Medicine. In: Modern Language Notes 108 (1993), S. 659–679; sowie Conrad H. Rawski: Notes on the Rhetoric in Petrarch’s Invenctive contra medicum. In: Also D. Scaglione (Hrsg.): Francis Petrarch, Six Centuries Later: a symposium. Chapel Hill 1975, S. 249–277. Zum allgemeinen Hintergrund Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft [The Sociological Roots of Science, 1942]. In: Id.: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hrsg. von Wolfgang Krohn. Frankfurt/M. 1976, S. 49–65, auf die ausgiebige Diskussion der dort vertretenen Entstehungsthese sei hier nur hingewiesen.

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doctus):144 »[...] ego nolo hoc proferre, tangatis uos ipsi uestris manibus, et his credite«,145 wie nach dem Bericht eines Augenzeugen Vesal seine Studenten aufgefordert haben soll, die von ihm autoritative Antworten erwartet haben.146 Der überlieferte Augenzeugenbericht über die mehrtägige Folge der anatomischen Arbeit zeigt Vesal als Meister der Hand arbeitend, an vorbereiteten Skeletten illustrierend sowie zur Erläuterung Skizzen auf dem Seziertisch zeichnend; die Studierenden müssen nicht nur sehen, sondern auch fühlen: Fühlt mit den eigenen Händen und vertraut ihnen. Obwohl Aristoteles den Sehsinn für den am höchsten entwickelten Sinn anspricht, ist es der Tastsinn, der das ›Gefühl‹ der Realität bietet (nicht zuletzt als Nahsinn gegenüber dem Fernsinn des Sehens). Zugleich bedeutet die Hand mehr als nur die Anatomie in der Betonung ihrer praktischen Ausführung: Sie ist organum organorum (Ôrganon prÕ Ñrg£nwn – wie Aristoteles sagt147) und Sinnbild göttlicher Providenz.148 Zudem vergleicht Aristoteles in De anima sogar die Seele mit der Hand: »So ist die Seele wie die Hand; denn auch die Hand ist das Organ der Organe, und so ist die Vernunft die Form der (intelligiblen) Formen, und die Wahrnehmung die Form der wahrnehmenden (Formen).«149

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So schreibt Dürer auf seinem Melanchthon-Bild, dass er nur die Züge des lebenden Philippus gestalten, nicht aber seinen Geist wiedergeben konnte: Viventis potuit Duerius orea Philippi mentem non potuit pingere docta manus. Hierzu Peter-Klaus Schuster: Individuelle Ewigkeit: Hoffnungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit. In: August Buck (Hrsg.): Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Wiesbaden 1983, S. 121–159, insb. S. 137f. 145 Es ist eine wiederkehrend anzutreffende Formel, dass man nur den Augen und den geschickten Händen des Beobachters Vertrauen können, vgl. z.B. Johann Jakob Wepfer (1620–1695): Observationes Anatomicae ex Cadaveribus eorum, quos sustulit Apoplexia. Cum exercitatione De eius Loco Affecto. Schaffhusii 1658, S. 36: »Ad partis enim visibilis et palpabilis existentiam demonstrandam, firmissimum testimonium nonnisi ab oculis et dextra artificis manu petitur, imo solis his fides debetur.« 146 Ruben Eriksson: Andreas Vesalius’ First Public Anatomy at Bologna 1540. An Eyewitness Report by Baldasar Heseler [...]. Edited, with an Introduction, Translation into English and Notes by R.E. Uppsala, Stockholm 1959, S. 292. Vgl. auch Gerhard Fichtner, Die verlorene Einheit der Medizin und das »Handwerk«. Ein unbekannter Stammbucheintrag Andreas Vesals als Schlüssel zu seinem Lebenswerk. In: Peter Kröner et al. (Hrsg.): Ars medica. Verlorene Einheit der Medizin. Stuttgart, Jena, New York 1995, S. 54–23. 147 Vgl. Aristoteles: De part animal, IV, 10 (687a2ff). 148 Einen weiteren Kontext, nämlich Galens Äußerungen zum Arm, findet sich bei Nancy G. Siraisi: Vesalius and the Reading of Galen’s Teleology. In: Renaissance Quarterly 50 (1997), S. 1–37, insb. S. 4–10; einen Archikteurkontext sieht aufgrund der im Bild anwesenden Säule Matteo Burioni: Corpus quod est ipsa ruina docet. Sebastiano Serlios vitruvianische Architekturtraktat in seinen Strukturäquivalenzen zum Anatomietraktat des Andreas Vesalius. In: Albert Schirrmeister (Hrsg.): Zergliederungen – Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 2005, S. 50–77. 149 Aristoteles: De anima , I, 9 (532a1–3); Übersetzung von Wilhelm Theiler.

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Extrinsische Eigenschaften von Abbildungen lassen sich als Ausdruck von etwas sehen, das sich gleichsam hinter dem Rücken einer ganzen scientific community abspielt, und die so von etwas künden, das subkutan ›Diskurse‹ bestimmt – oder es wird gar der gesellschaftlich tabuisierte Wunsch vermeintlich von jedem Anatomen in solchen Abbildungen erahnt, zur Erkenntnisgewinnung nicht nur die Vivisektion von Tieren, sondern die von Menschen zu begehren; ein verborgener Wunsch, der in der Art der bildlichen Darstellung aufscheint und sich so gleichsam verrät. Doch die Regel sollte sein, dass eine Erklärung von Eigenschaften bildlicher Darstellungen, die sie in das Darstellungsziel integriert, die mithin sich als intrinsische Eigenschaften auffassen lassen, besser ist als eine Erklärung, bei der das eben nicht der Fall ist. Um eine solche Erklärung geben zu können, ist zunächst einmal der (räumlich) nächste Kontext der bildlichen Darstellungen aufzusuchen und das ist in diesem Fall der wortsprachliche Text (ein Sub- oder Prätext). Zwar heißt es, Bilder könnten tausend Worte ersetzen, aber es reicht nicht, nur Bilder anzugucken, wenn sie von einem Text umgeben sind. Das nun wiederum heißt nicht, dass es keine Text-Bild-Beziehung gibt, nach der die Abbildung von dem sie umgebenden Ko-Text, von Sub- oder Prätexten, als weitgehend oder vollkommen unabhängig gilt. Doch kann das nicht die Vorabvermutung bei wortsprachlich und nichtwortsprachlich zusammengesetzten Werken sein – es sei denn, es gibt Informationen, die das nahe legen. Die Pointe meines Beispiels lässt sich knapp so formulieren: Liest man den Text Vesals bei der Betrachtung der Abbildungen, so geht es bei den Abbildungen nicht um die Darstellung von Strukturen oder der Lage von Körperbestandteilen, sondern um funktionale Zusammenhänge. Strukturen lassen sich an unbewegten Gebilden zeigen, Funktionen erfordern lebendige Gebilde – also: Die Darstellungen sind nicht Momentaufnahmen von Bewegung, sondern zeigen das In-BewegungSein und das wiederum zeigt, dass die Objekte als lebendige dargestellt werden. Nun ist es in der Zeit alles andere als ungewöhnlich, dass nicht-wortsprachliche Darstellungen das Tote als lebend darstellen sollen oder können – so heißt es bei Leon Battista Alberti (1404–1474): »Painting contains a divine force which not only makes absent men present, as friendship is said to do, but moreover makes the dead seem almost alive. [...] Thus the face of a man who is already dead certainly lives long life through painting.«150 Oder Leonardo da Vinci, der davon spricht, dass bildlich dargestellte Menschen, bei denen nichts Äußeres ein Inneres ausdrückt, gleich in zweifacher Weise tot seien: »If figures do not make lifelike gestures with their limbs which express that is passing through their minds, these figures are twice dead [esse figure so due volte morte] – dead principally because painting is not alive, but only expressive of living things without having life in

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Alberti: On Painting. Translated by John R. Spencer. Rev. Edition. New Haven 1966, S. 63.

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itself, and if you do not add liveliness of action [vivacità dell’atto], it reamins a second time dead.«151 Nach Leonardo habe ein guter Maler »den Menschen und die Absicht der Seele« zu malen: »Das Erstere ist leicht, das Zweite schwer, denn es muss durch die Gesten und Bewegungen der Gliedmassen ausgedrückt werden.«152 Leonardo schwingt sich zu der nur schwer erfüllbaren Forderung auf; »Die Bewegungen und Stellungen der Figuren sollen just den Seelenzustand dessen, der sie ausführt, zeigen, derart, dass sie nichts anderes bedeuten können.«153 An anderer Stelle im Blick auf den Vergleich mit der Poesie sagt er: »[...] deine Feder wird aufgebraucht sein, ehe denn du völlig beschreibst, was der Maler dir, mit seiner Wissenschaft, unmittelbar [immediate] vor die Augen stellt. [...] In diesem Bild fehlt nichts als die lebendige Seele der vorgestellten Dinge, und an jedem Körper ist die ganze Sache völlig da, die sich in einer Ansicht zeigen kann, und das wäre eine langwierige und sehr ermüdende Sache für eine Dichtung, alle die Bewegungen derer herzusagen, die in solch’ einer Schlacht fechten, sowie die Theile der Gliedmaassen und ihren Schmuck, Dinge, welche das fertige Bild in grosser Kürze und Wahrhaftigkeit vor dich hinstellen.«154 Freilich bezieht sich das noch nicht auf die bei Vesal interessierenden Konstellationen, in denen etwas Totes zugleich als Totes und Lebendiges abgebildet wird: Beim ersten werden Eigenschaften dargestellt, aus denen sich nach einem allen vertrauten Wissen folgern lässt, es handle sich um die Darstellung eines Kadavers, wohingegen andere Eigenschaften derselben Abbildung nahe legen, es handle sich um ein lebendes Gebilde. Bei Leonardo heißt es im Zusammenhang mit dem Rangstreit zwischen Malerei und Dichtung angesichts des Arguments für die letztere, dass sie es vermag, den Menschen zur Liebe zu entzünden, »der Maler« habe die »Macht, dasselbe zu vollbringen, und in um so höherem Grade, als er von den Liebenden das eigene Abbild des geliebten Gegenstandes hinstellt, so das jener oft anfängt, es zu küssen und anzureden [...]. Nun gehe hin, Poet, beschreibe

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Leonardo da Vinci: On Painting: A Lost Book (Libro A). Reassembled from the Codex Vaticanus Urbinas 1270 and From the Codex Leicester by Carlo Pedretti. With a chronology of Leonardo’s ›Treatise on painting‹. Foreword by Sir Kenneth Clark. Berkeley 1964, S. 46. – Ähnliches ist freilich schon älter; so habe Sokrates zu Kleiton gesagt, vgl. Xenophon: Memorabilia, II, X, 8: Der Bildhauer müsse in seinen Figuren die Aktivitäten der Seele zum Ausdruck bringen (ndriantopoiÕn t¦ tÁj yucÁj œrga tù Ÿidei proseik£zein). 152 Leonardo da Vinci: Das Buch der Malerei (Anm. 105), § 180 (S. 217). 153 Ebd., § 298 (S. 317), vgl. auch § 294 (S. 315), § 296 (S. 315), § 297 (S. 317) sowie § 376 (S. 372–375). 154 Ebd., § 15 (S. 22–24): »[...] la tua penna fia consumata, innanzi che tu descriua appieno quel, che immediate il pittore ti rappresenta co’la sua scientia. [...] Nella qual pittura non manca altro, che l’anima delle cose finte, et in ciascun corpo è 1’integrità di quella parte, che per un sol aspetto può dimostrarsi, il che lunga e tediosissima cosa sarebbe alla poesia a ridire tutti li mouimenti de li operatori di tal guerra, e le parti delle membra, e lor’ ornamenti, delle quali cose la pittura finita con gran breuità e uerità ti pone innanzi.«

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eine Schönheit, ohne dass es etwas Lebendiges vorstellt, und errege damit die Menschen zu solchem Verlangen.«155 Den belebten und den wie im Leben agierenden Gestalten, die Vesal auftreten lassen wird, fordern zu der Art von Illusionsbildung, die Leonardo imaginiert (und dabei ein antikes Motiv bei der Malerei aufnimmt), obwohl sie vermutlich so ›lebendig› dargestellt sind, wie Leonardo es fordern würde, gerade nicht heraus. Deutlich wird, dass ›lebendig‹ Verschiedenes meinen kann: zum Beispiel eine Darstellung, die lebensähnlich (wahrheitsähnlich) ist, eine Darstellung, die eine Vorstellung von Bewegung beim Betrachter erzeugt, eine Darstellung, die etwas vom Inneren eines (Lebe-)Wesens an seinem Äußeren erkennen lässt. Zudem kann bei einer entsprechenden Darstellung (wie seit alters bei wortsprachlichen Texten) auf eine rhetorische Wirkung gezielt werden oder ihr kann (darüber hinaus) eine epistemische Funktion zugedacht sein. Doch bei Vesal kommt noch ein weiteres und entscheidendes Moment hinsichtlich der Darstellung von Kadavern als lebendig hinzu. Erst mit diesem Moment vollzieht sich der Übergang der Beschreibung der dargestellten Kadaver von lebend zu beseelt. Die in allerlei Posen bewegten Objekte verweisen dann darauf, dass sie im Besitz ihres Funktionszentrums sind, dessen Träger die Seele ist. Doch auch das ist noch nicht das Ende des Versuchs bestimmte Eigenschaften der Abbildungen Vesals als intrinsisch aufzufassen; noch ein weiteres Moment tritt hinzu. Mitunter hat man bemerkt, dass die Darstellungen Vesals die idealisierter Körper sind. Das ist, wie sich zeigen wird, keine Nebensächlichkeit – denn in der Tat:156 Vesal will nicht nur die Anatomie des Menschen darstellen, sondern die eines nichtdeformierten, eines (in gewisser Hinsicht) idealen Menschen. Es ist weder der homo naturalis noch der homo monstruosus, sondern der homo absolutus, der bei ihm seine Darstellung finden soll.157 So spricht Vesal über bestimmte Abweichungen, die nicht anders einzuschätzen seien, als wenn eine Hand sechs Finger habe oder »aliud monstrosum«. Man solle das übergehen, damit nicht ge-

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Ebd., § 25 (S. 48): »[…] e se ’1 poeta dice di far accendere li homini ad amare [...], il pittore ha potentia di fare il medesimo, tanto piu, ehe lui mette innanti all’amante la propria effigie della cosa amata, il quale spesso fa con quella bacciandola e parlandole [...]. Hor ua tu, poeta, descriui una bellezza senza rappresentatione di cosa uiua e desta li homini co’ quella a tali desiderii.« Auch § 26 (S. 50–53). 156 Dazu auch Jackie Pigeaud: Forms et normes dans la »De Fabrica« de Vesale. In: Jean Céard et al. (Hrsg.): Le corps a la Renaissance. Paris 1990, S. 399–421. 157 Vgl. u.a. Vesal, De humani [1543] (Anm. 132), S. 280: »[...] quum interim ipsis dolendum magis esset, tale ad integram sectionem corpus otigisse, quod ab hominum canone plurimum variat, nisi forte etiam crebro absolutorum et non monstruosorum hominum sectionibus astitissent, Galeni praecepta ad finem libri primi de Administrandis sectionibus nobis datum nunquam negligentes.« Vesal scheint hier auf Galen: De anatomicis administrationibus, 1, 11 (Opera, ed. Kühn, II, S. 215–731, hier S. 278) anzuspielen.

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glaubt werde, das sei allen gemeinsam, und so will er denn auch bei der Darstellung des Menschen verfahren – »in absoluti hominis historia persequenda«.158 Das ändert sich im 17. Jahrhundert: Die idealisierte Darstellung des menschlichen Körpers wird freilich gerade nicht in dem Sinn zur nichtidealisierten, aber schematisierten, bei der die Schematisierungen funktional auf die Vermittlung relevanten Wissens ausgerichtet sind und so zum Beispiel physiologische Vorgänge darzustellen erlauben ebenso wie Handlungsabfolgen.159Auf der einen Seite bieten die Darstellungen unter bestimmten Gesichtspunkten irrelevante Redundanz an Informationen – etwa solche, die einen dargestellten Leichnam individualisieren und ihn so als einen bestimmten erkennen lassen –, auf der anderen Seite werden die Darstellungen synthetisiert nach dem Muster des Zeuxis, der für ein Bild der Helena kein einzelnes hineichendes Modell zu finden vermochte und sich daher von fünf Modellen hinsichtlich der Teile inspirieren lassen hat.160 Doch in der Zeit Vesals ist seine idealisierte Darstellung weder ungewöhnlich noch exemplifiziert sie mehr als ein Ideal körperlicher Unversehrtheit und der harmonischen Gestaltung des Menschen. Es gibt ältere Darstellungen, bei denen ebenfalls lebendige Gestalten auftreten und bei denen sich zeigen lässt, dass diese Gestalten anderen, und zwar künstlerischen und ›fiktionalen‹ Darstellungen entlehnt sind, nur jetzt eben anatomisiert. Zusätzlich tragen sie dann die Zeichen einer Fachdarstellung, indem das Bild mit allerlei anatomischen Gerätschaften bestückt wird.161 Bilder konnten auch im Blick auf andere Wissensbereiche aus bisherigen Kontexten abgelöst und für ganz andere verwendet werden, ohne dass an ihnen etwas (wesentlich) geändert wurde. Die beseelten enthäuteten Toten sind aber mehr als Idealisierungen, dabei sind sie weder paradox noch setzen sie sich dem Verdacht der Häresie in welcher Richtung auch immer aus. Eines der dargestellten Skelette berührt und betrachtet

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Vgl. auch William L. Straus und Owsei Temkin: Vesalius and the Problem of variability. In: Bulletin of the History of Medicine 14 (1943), S. 609–633; Curt Elze: Vesals Anatomie. In: Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 124 (1964), S. 197–225, insb. S. 213/214; Nancy G. Siraisi: Vesalius and Human Diversity in De Humani Corporis Fabrica. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 57 (1994), S. 60–88; Malcolm H. Hast und Daniel Garrison: Vesalius on the Variability of the Human Skull: Book I Chapter V of De humani corporis fabrica. In: Clinical Anatomy 13 (2000), S. 311–320. 159 Vgl. u.a. Karl E. Rothschuh: Über Kreislaufschemata und Kreislaufmodelle seit den Zeiten Wilhelm Harvey (1587–1657). In: Zeitschrift für Kreislaufforschung 46 (1957), S. 241–249. 160 Zu Beispielen, die in diese Richtung der anatomischen Abbildung zielen, Hendrik Punt: Bernard Siegfried Albinus (1697–1770) und die anatomische Perfektion. In: Medizinhistorisches Journal 12 (1977), S. 325–345; James Elkins: Two Conceptions of the Human Form: Bernard Siegfried Albinus and Andreas Vesalius. In: artibus et historiae 7/14 (1986), S. 91–106. 161 Vgl. Charles E. Kellett: Perino del Vaga (Anm. 106) sowie Id.: A Note on Rosso and the Illustrations to Charles Estienne’s De Dissectione. In: Journal of the History of Medicine 12 (1957), S. 325–336.

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(scheinbar) sinnend einen skelettierten Kopf. Auf dem Sockel, auf dem dieser Kopf liegt, steht: Vivitvr ingenio, caetera mortis ervnt. Die Aussage ist in diesem Zusammenhang vergleichsweise klar; doch offenbar handelt es sich zudem noch um ein Zitat, und zwar aus dem (wohl pseudo-vergilischen) Werk Elegiae in Maecenatem und der dem Pentameter vorausgehende ausgelassene Hexameter lautet: marmorea Aonii vincent monumenta libelli. Auf weitere Ausdeutungen kann hier verzichtet werden. Die Pointe ist nicht so sehr, dass es sich um Idealisierungen bestimmter Art handelt, sondern dass es kontrafaktische Imaginationen sind: Nur mit ihrer Hilfe lässt sich das noch bildlich ausdrücken, was wortsprachliche auszudrücken, keiner kontrafaktischen Imaginationen bedarf.162 Also mit etwas, von dem jeder zeitgenössische Betrachter wusste, dass es sich im strengen Sinn um unmögliche Darstellungen handelt – das ist bei Idealisierungen nicht unbedingt der Fall. Es hat mithin auch nichts zu tun mit dem seit der Antike traditionellen Lob der Naturähnlichkeit von Abbildungen, durch die Tiere getäuscht und durch die Emotionen bei Menschen evoziert werden würden.163 Mit subtilen Darstellungsmitteln hat bereits Leonardo da Vinci die Imitation von Bewegung in einer graphischen Darstellung versucht, und es handelt sich bei ihm möglicherweise um mehr als nur »didaktischtechnische Tricks« oder »graphische Kunstgriffe«,164 etwa bei der »Transparenzmethode«, die den Menschen bei ihm durchsichtig erscheinen lässt und der Visibilisierung dessen, was nicht gleichzeitig sichtbar ist. Eine indirekte Bestätigung findet das in einer Abbildung bei Vesal, die zeigt, dass in gewisser Weise sich Ähnliches abbilden lässt, ohne auf einer kontrafaktischen Imagination zu beruhen: Es ist die Fixierung und Stabilisierung eines lebenden Tieres zu seiner Vivisektion im letzten Kapitel von De humani coporis fabrica libri septem und angesichts seiner praktischen Ausrichtung schließt das Werk nicht unerwartet mit den Vorbereitungen zu einer Lehrsektion ab,165 so wie

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Zu diesem Typ von Imaginationen ausführlicher L. Danneberg: Überlegungen zu kontrafaktischen Imaginationen in argumentativen Kontexten und zu Beispielen ihrer Funktion in der Denkgeschichte. In: Toni Bernhart und Philipp Mehne (Hrsg.): Imagination und Innovation. Berlin 2006, S. 73–100; ferner Id.: Kontrafaktische Imaginationen und Hermeneutik. In: Id. et al. (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in der Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2007. Vgl. u.a. Plinius: Hist nat, XXXV, 65; vgl. auch Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler [1934]. Frankfurt/M. 1980, S. 90 mit weiteren Anekdoten. So Robert Herrlinger: Die didaktische Originalität in Leonardos anatomischen Zeichnungen. In: Id., Kudlien (Hrsg.): Frühe Anatomie (Anm. 102), S. 80–107; auch Id.: Geschichte (Anm. 99), S. 72–82. Zum Erfordernis der Sektion etwa Vesals Aufforderung, vgl. Id.: De humani [1543] (Anm. 130), V, 19 (S. 548): »In privatis autem sectionibus, quae crebrius accidunt, utile erit quodvis aggredi, ut cuiusmodi id quoque sit expendas, corporum differentiam, veramque multorum morborum naturam assequaris.«

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Vesal es selbst praktiziert zu haben scheint.166 Das führt, wenn auch über kleinere Umwege, zur nächsten Pointe. In Alexandria des 3. Jh. v. Chr., in der Zeit ein Zentrum der Wissenschaften und Künste, kommt es nicht nur zu einem ersten Höhepunkt in der Entwicklung des menschlichen Anatomisierens.167 Wie Vesal sagt, habe erst jüngst die Medizin begonnen, sich wiederzubeleben und ihr Haupt aus den tiefsten Finsternissen zu erheben. Sie gewinne nun den Anschluss an die vor-galenische Antike, der anatomisierenden Alexandriner verkörpert durch Herophilos und Erasistratos168 – eine Kenntnis, die Vesal den Schriften Galens entnehmen konnte.169 Inspiriert haben dürften ihn insbesondere solche Stellen, bei denen Galen hervorhebt, die frühen Anatomen hätten ihr Wissen nicht auf der Grundlage der Tier-, sondern der Menschen-Anatomie gewonnen.170 Ob und in welchem Umfang es dabei zu menschlichen Vivisektionen gekommen ist, wird in der Forschung noch immer als offene Frage behandelt171 – in Celsus findet das einen Gewährsmann, wenn er die menschliche Sektion für grausam und nutzlos ansieht.172

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Vgl. Moritz Roth: Andreas Vesalius (Anm,. 96), S. 85; sowie Nikolaus Mani: Vesals erste Anatomie in Bologna 1540. In: Gesnerus 17 (1960), S. 42–52, hier S. 51. Für das rätselhafte Verlassen Vesals Spaniens für eine Pilgerfahrt nach Jerusalem wird noch immer als Grund angeführt, dass er »eine Frau am lebendigen Lieb seziert« habe, so Anna Bergmann: Wissenschaftliche Authentizität und das verdeckte Opfer im medizinischen Erkenntnisprozeß. In: Erika Fischer-Lichte und Isabel Pflug (Hrsg.), Inszenierung von Authentizität. Tübingen/Basel 2000, S. 323–350, hier S. 334; solche ›Inszenierungen‹ freilich folgen dem Stand des 18. Jhs. und ignorieren die Vesal-Forschung seit dem 19 Jh. 167 Vgl. Peter M. Fraser: Ptolemaic Alexandria. Oxford 1972, v.a. Vol. I, S. 336–376, sowie Vol. II, S. 495–551; Id.: Anatomy in Alexandria in the Third Century B.C. In: British Journal for the History of Science 21 (1988), S. 455–488. 168 Vgl. Vesalius: De humani [1543] (Anm. 132), *3: »[…] ut spes sit, hanc breui in omnibus Academijs ita excolendam, quamadmodum […] in Alexandria olim exerceri consueuit.« Sowie: »Porro quum illa iam pridem in tanta huius seculi […] foelicitate cum omnibus studijs ita reuiscere, atque à profundissimis tenebris caput suum erigere coepisset […].« 169 Vgl. Heinrich von Staden: Galen as Historian: His Use of Sources on the Herophileans. In: J. A. López Férez (Hrsg.): Galeno: obra, pensamiento e influencia. Madrid 1991, S. 205–222; Id.: Herophilus: The Art of Medicine in Early Alexandria. Edition, Translation and Essays. Cambridge 1989; Ronald V. Christie: Galen on Erasistratus. In: Perspectives in Biology and Medicine 30 (1987), S. 440–449. 170 Vgl. Galen: De ueteri dissectione (Opera, ed. Kühn, II, S. 887–908, hier S. 895). 171 Vgl. Peter M. Fraser: The Career of Erasistratus of Ceos. In: Rendiconti del Istituto Lombardo 103 (1969), S. 518–537; Geoffrey E.R. Lloyd: A Note on Erasistratus of Ceos. In: Journal of Hellenistic Studies 95 (1975), S. 172–175; James Longrigg: Superlative Achievement and Comparative Neglect: Alexandrian Medical Science and Modern Historical Research. In: History of Science 19 (1981), S. 155–200; allgemein Theodor Meyer-Steineg: Die Vivisektion in der antiken Medizin. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 6 (1912), Sp. 1491–1512. 172 Dazu auch John Scaraborough: Celsus on Human Vivisection at Ptolemaic Alexandria. In: Clio Medica 11 (1976), S. 25–38. – Vgl. zudem Ludwig Edelstein: Die Geschichte der Sektion der Antike. In: Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 3/2 (1933), S. 50–106; zahlreiche Momente, so auch den Zeitraum der geüb-

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Obwohl es bei Galen wohl sicher ist, dass er nicht nur die Sektion von Kadavern (™pˆ tîn teqneètwn ¢natom»), sondern auch bei lebenden Tieren (™pˆ tîn zèntwn ¢natom») vollzogen hat, sprechen einige Anzeichen dafür, dass Vesal in seiner Arbeit eine Erneuerung der vor-galenischen Anatomie gesehen hat, eine wiedergeborene Kunst des Sezierens (»ex renata dissectionis arte«173). Zugleich handelt es sich dabei um ein auch später nicht untypisches Muster der zeitlichen Zurückverlagerung bei der Kritik überkommener Autoritäten: In diesem Fall ist es das Programm der Restituierung einer prisca anatomia, eines Wissens der wahren Anatomie (uerae anatomes). Die Gewinnung neuer Wissensansprüche mittels philologischer Kompetenz (in Disziplinen, die primär nichts mit ihr zu tun haben) ist im 16. Jahrhundert nicht ungewöhnlich – für dieses Jahrhundert gilt uneingeschränkt das redite ad fontes, in Melanchthons Worten: »fontes ipsos artium ex optimis auctoribus hauritis.«174 Ausgebildet im berühmten Collegium trilingue Lovaniense, das sich schon seit 1517 dem Ideal des vir trilinguis, in triplici lingua eruditus, Latina, Hebraica, Graeca verschrieben hat,175 gehört auch Vesal in diesen Rahmen. Betraut wird er mit der Bearbeitung, Übersetzung und Kommentierung des griechischen Originals der anatomischen Hauptschriften Galens im Zuge der berühmten Giunta-Ausgabe von 1541.176 So erscheint denn auch Vesal als das, was man humanistische Medi-

–––––––— ten Sektion am Menschen in der Antike, korrigierend Fridolf Kudlien: Antike Anatomie und menschlicher Leichnam. In: Hermes 97 (1969), S. 78–94; ferner Heinrich von Staden: The Discovery of the Body: Human Dissection and Its Cultural Contexts in Ancient Greece. In: Yale Journal of Biology and Medicine 65 (1992), S. 223–241; Burkhard Gladigow: Anatomia sacra. Religiös motivierte Eingriffe in menschliche oder tierische Körper. In: Philip J. van der Eijk et al. (Hrsg.): Ancient Medicione in Its Socio-Cultural Context. Vol. III. Amsterdam, Atlanta 1995, S. 345–361; ferner Geoffrey E.R. Lloyd: Alcmaeon and the Early History of Dissection [1975]. In: Id.: Methods and Problems in Greek Science. Cambridge 1991, S. 164–193. 173 Vesal: De Humani [1543] (Anm. 132), *3v: »[...] quum interim [...] nobis modò ex renata dissectionis arte, diligentiq[ue] Galeni librorum praelectione, & in plerisque locis eorundem non poenitenda restitutione constet, nunquam ipsum resecuisse corpus humanum: at uerò suis deceptum simijs (licet duo ipsi arida hominum cadauera occurerint) crebro ueteres medicos in hominum consectionibus se exercentes immeritò arguere.« 174 Melanchthon: De corrigendis adolescentiae studiis [1518]. In: Id.: Werke in Auswahl [...]. Hrsg. von Robert Stupperich. III. Bd. Gütersloh 1961, S. 29–42, hier S. 38. 175 Hierzu die in jeder Hinsicht umfassende Untersuchung von Henry de Vocht: History of the Foundation and the Rise of the Collegium Trilingue Lovaniense 1517–1550. 4 Vol. Louvain 1951–55; zum Hintergrund auch Antonie M. Luyendijk-Elshout, De duisternis rondom Vesalius. Het veranderend patroon der geneeskunde in de Lage Landen in die zestiende eeuw. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 85 (1972), S. 390–409; ferner Jan Papy: Humanist Philology as a Scientific Catalyst? The Louvain Collegium Trilingue and Its Impact on Sixteenth and Seventeenth Century Medicine. In: Wouter Bracke, Herwig Deumens (Hrsg.): Medical Latin From the Late Middle Ages to the Eighteenth Century. Brussels 2000, S. 31–51. 176 Vgl. Roth: Andreas Vesalius (Anm. 96), S. 110/11; ferner Ludwig Edelstein: Andreas Vesalius, the Humanist. In: Bulletin of the History of Medicine 14 (1943), S. 547–561.

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ziner, medicus philologus genannt hat, die durch die Wiederentdeckung, durch philologische Reinigung und durch Neuübersetzungen alter Texte neue Wissensansprüche zu bilden versuchten.177 Dafür spricht denn auch das durchaus anspruchsvolle und sorgfältige Latein der Fabrica.178 Zwar finden sich bei den drei Skeletttafeln in der Erläuterung der einzelnen Teile neben den lateinischen und griechischen Bezeichnungen auch ihre arabischen und hebräischen Pendants;179 das gleiche bieten bereits seine Tabulae anatomice sex von 1538.180 Daraus allerdings schließen zu wollen, dass Vesal ausgeprägtere Kompetenzen in diesen beiden Sprache besessen hat, verbietet sich allein schon deshalb, weil die vermittelten Hebräisch-Kenntnisse oftmals nur einen eher ornamentalen Einsatz dieser Sprache erlaubten. Die griechischen Sprachkenntnisse ließen sich allerdings auch dazu nutzen, um die Autoritäten, also die klassische Medizin, insbesondere die Galens, zu verteidigen, indem man auf die Verständ-

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Hierzu u.a. Vivian Nutton: John Caius and the Eton Galen: Medical Philolgy. In: Medical History 20 (1985), S. 227–252; sowie Id.: Prisci dissectionum professores: Greek Texts and Renaissance Anatomists. In: A. Carlo Dionisotti et al. (Hrsg.): The Uses of Greek and Latin. Historical Essays. London 1988, S. 111–126; Id.: Humanist Surgery. In: Andrew Wear et al. (Hrsg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century. Cambridge 1985, S. 75–99; sowie Id.: Greek Science in the Sixteenth-Century Renaissance. In: Judith V. Field und Frank A.J.L. James (Hrsg.): Renaissance and Revolution. Humanists, Scholars, Craftesmen and Natural Philosophers in Early Modern Europe. Cambridge 1993, S. 15–28; ferner Richard J. Durling: Linacre and the Medical Humanism. In: Francis Maddison et al. (Hrsg.): Linacre Studies. Essays in the Life and Work of Thomas Linacre, c. 1460–1524. Oxford 1977, S. 76–106; Giovanna Ferrari: L’esperienza del passato. Alexander Benedetti filologo e medico umanista. Firenze 1996; allgemein Walter Pagel: Medical Humanism – a Historical Necessity in the Era of the Renaissance. In: Maddison et al. (Hrsg.), Linacre Studies, S. 375–386; Gerhard Baader: Die Antikerezeption in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft während der Renaissance. In: Rudolf Schmitz und Gundolf Keil (Hrsg.), Humanismus und Medizin. Weinheim 1984, S. 51–66; Georg Harig: Medizin und Renaissance in ihrem Verhältnis zum antiken Erbe. In: Acta historica Leopoldina 16 (1985), S. 55–64; Joseph L. Bylebyl: Medicine, Philosophy and Humanism in Renaissance Italy. In: John W. Shirley, F. David Hoeniger (Hrsg.), Science and the Arts in the Renaissance. London, Toronto 1985, S. 27–40. Vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen bei Dag Nikolaus Hasse: Die humanistische Polemik gegen arabische Autoritäten. Grundsätzliches zum Forschungsstand. In: Neulateinisches Jahrbuch 3 (2001), S. 65–79. 178 Hierzu auch die Hinweise bei William F. Richardson und J.B. Carman: On Translating Versalius. In: Medical History 38 (1994), S. 281–302. In dem erhaltenen Exemplar Melanchthons der Fabrica finden sich nur ganz wenige Korrekturen, vgl. Vivian Nutton: The Changing Language of Medicine, 1450–1550. In: Olga Weijers (Hrsg.): Vocabulary of Teaching and Research Between Middle Ages and Renaissance. Brepols 1995, S. 184– 198, hier S. 185f. 179 In: Vesal: De Humani [1543] (Anm. 132), I, 39 (S. 166–168). 180 Hierzu Charles J. Singer und Chaim Rabin: A Prelude to Modern Science Being a Discussion of the History and Circumstances of the ›Tabulae Anatomicae Sex‹ of Vesalius. Cambridge 1946, Tom. I, S. lxxii–lxxxv.

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nisirrtümer und Übersetzungsfehler hinwies.181 Dazu greifen denn auch und nicht zuletzt angesichts der Kritik Vesals die Verteidiger Galens. Wichtiger jedoch ist, dass in einem Punkt sich die Anatomie Vesals in ihrem Anspruch vom Typ des medicus philologus unterschied. In ähnlichem Umfang wie in der Medizin gilt auch für die Mathematik, dass sie secundum Graecos florierte.182 Doch noch unter einem weiteren Aspekt sind beide ähnlich. Nicht allein neu aufgefundene und restituierte Werke antiker Mathematiker, sondern auch das Wissen um Werke, die als verloren galten, wurden zur anhaltenden Herausforderung, die Ergebnisse nicht philologisch, sondern selbstständig durch Erlangung von Kompetenz (des griechischen) mathematischen Denkens erneut zu erzeugen. In gleicher Weise erscheint Vesals Versuch, die anatomische Kompetenz, die womöglich die vorgalenische Antike besessen hat, zu erlangen, um neues (vielleicht verlorenes) Wissen zu gewinnen. Hierzu gehört nicht zuletzt die Tiervivisektion. William Harvey (1578–1658) führt neben der Quantifizierung von körperlichen Abläufen sowie der eigenständigen Erfahrung und Beobachtung (experimenta ocularia) sowohl die Vivisektion (dissectio vivorum, üblicher vivorum sectio) als auch das Experimentieren am lebenden Tier (experimenta vivorum) auf.183 Sie war, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, immer umstritten – zu den Kritikern gehörte beispielsweise auch Jean Riolan, Jr. (1580–1657), ein einflussreicher Anatom seiner Zeit und protector medicinae galenicae, wenn er darauf hinweist, dass bei der Vivisektion die physiologischen Funktionen des Tieres beeinträchtigt werden würden wie er vor dem furor experimentalis warnt, der dazu

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Vgl. z.B. Nutton: The Changing Language (Anm. 178), S. 190. Beispielweise zum in dieser Hinsicht besonders aktiven italienischen Sprachraum neben Paul Lawrence Rose: The Italian Renaissance of Mathematics. Studies on Humanists and Mathematicians From Petrarch to Galileo. Genève 1975; etwa die Spezialstudie Enrico Gamba und Vico Montebelli: La Scienze a Urbino nel Tardo Rinascimento. Urbino 1988, zu der von Frederigo Commandino (1509–1575), dem Editor der wirkungsvollen Schriften des Pappus (Pappi Alexandrini mathematicae collectiones), aber auch Euklids und des Archimedes, begründeten Schule. 183 Vgl. Harvey: Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibvs. Francofurti 1628 (ND 1978), cap. 8, S. 41, sowie cap. 9, S. 45. Am Ende der Praefatio heißt es: Das, was früher über die Bewegung des Herzens und der Arterien gesagt worden ist, erscheint demjenigen, der die Sache genauer untersucht, als unangemessen, dunkel oder unmöglich (»aut inconvenienta, aut obscura, aut impossibilia«). Es sei daher zweckmäßige, die Sache sich genauer anzusehen, und zwar nicht allein die Bewegung der Arterien sowie des Herzens nicht allein beim Menschen, sondern auch allen entsprechend eingerichteten Tieren, und zwar durch häufige Vivisektionen sowie durch wiederholte Autopsie, durch welche die Wahrheit erforscht und erkannt wird (»[...] quinetiam, vivorum dissectione frequenti, multaque autopsia, veritatem discernere et investigare.« –Gegen Ende des Jahrhunderts heißt es bei Johann Conrad Brunner (1653–1727), Experimenta nova circa pancreas, accedit diatribe de lympha & genuino pancreatis vsv. Amstelaedami 1683, Praefatio, S. 5, an toten Lebewesen könne man bei der Zergliederung bestimmte funktionale Zusammenhänge nicht erkennen; das sei allein möglich bei der direkten (experimentellen) Beobachtung am lebenden Tier: »Ad experimenta tandem me avspicato conuerti. Qvibvs vnice opvs est, si de partivm vsv sensvvm euidentia certi fieri exoptamvs.« 182

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führen könnte, Versuche an sterbenden Menschen zu unternehmen;184 auch unabhängig von der Tradition, die vom Anatomie-Begriff des Paracelsus ausgeht,185 der sich (sehr vereinfacht) als eine universelle Konkordanz und Korrespondenz versteht: der anatomia maior und anatomia minor, beider fabrication, der machinae mundi wie der physici corporis, mit der durch anatomia magica bewirkten Korrespondenz zwischen Mensch und Arznei. Daher sei sie auch nicht wie die ›CadaverAnatomie‹ als eine anatomie localle (anatomia localis microcosmi) angelegt, sondern als eine anatomie materielle der comparaison du ciel et du microcosme und vor allem als anatomia viva; und die magica erscheint so als eine anatomia medicinae, welche die verborgenen remedia (anatomia elementata) ans Licht hole für die Krankheiten (anatomia essata). Wenn man so will, dann richtet die paracelsistische Anatomie den Blick über den Makrokosmos vermittelt auf das Innere des menschlichen Mikrokosmos, ohne zu ›schneiden‹. Doch wichtiger als die praktische Vivisektion ist der theoretische Hintergrund, der dem zugrunde liegt und denn auch eigene weitere Pointen der Beseeltheit der Abbildungen Vesals zu erklären vermag. Dieser Hintergrund liegt in der Problematisierung des Analogieschlusses im Rahmen der komparativen Anatomie: das Problem vom Tier auf den Menschen zu schließen.186 Thematisiert wird das von Vesal besonders im Rahmen seiner Kritik an Galens Tieranatomie (die sich vornehmlich auf Hunde und Affen erstreckt), der er mitunter seine Anatomie des Menschen demonstrativ entgegenstellt. Dabei handelt es sich nicht (wie allerdings nur selten exponiert wird) um den Vorwurf, Galen hätte die Autopsie verweigert

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Hierzu Nikolaus Mani: Jean Riolan II (1580–1657) and the Medical Research. In: Bulletin of the History of Medicine 42 (1968), S. 121–144. Riolan verweist auch auf die gängigen Legenden, dass insbesondere Maler Menschen foltern ließen, um ein Vorbild für die ›realistische‹ Darstellungen etwa des Ausdrucks von Schmerzen« zu erhalten, vgl. Riolan [II], Anatome [Schola anatomica, 1608]. In: Riolan [I]: Opera cum Physica, tum Medica. Authoris postrema manu exarata et exornata: quibus Physicam ac Universam Medicam fideliter et accurate descripsit, atque illustravit. Cui accessit Anatomia Joannis Riolani Filii.Francofurti 1611, S. 439–567, hier I, 7 »Qvaeritvr si uium hominé[m] secare« (S. 448): »Apud Senecam in declamat. et controversii Parrhasius pictor Atheniensis accvsatvr laesae reipblicae. Qvod uium senem emisset ex captiuis Olynthiis, qvos Philippvs vendebat, qvem deinde torserat & interfecerat, vt ad exemplar torti Promethea pingeret. Idem de Michele Angelo narratvr, qvi vt Christvm crvcifixvm morienté[m] depingeret, hominé[m] torsit & crvci affixit.« Zur »lebendigen Anatomie« auch die Hinweise Walter Pagel und Pyarali Rattansi: Vesalius and Paracelsus. In: Medical Histoiry 8 (1964), S. 309–328; Gundolf Keil: Der anatomei-Begriff in der Paracelsischen Krankheitslehre. Mit einem wirkungsgeschichtlichen Ausblick auf Samuel Hahnemann. In: Hartmut Boockmann et al. (Hrsg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie. Göttingen 1989, S. 336–351; ferner Michael Kuhn: De nomine et vocabulo. Der Begriff der medizinischen Fachsprache und Krankheitsnamen bei Paracelsus (1493–1541). Heidelberg 1996, S. 118–122. Nach Aristoteles, da er nicht menschliche Kadaver zu sezieren vermochte, empfiehlt solche Tiere zu wählen, die dem Menschen am Ähnlichsten seien, vgl. Id.: Hist an, I, 16 (494b21f.).

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oder dazu aufgefordert – im Gegenteil:187 Galen scheint hierfür das Bild des ›Steuermanns aus dem Buche‹ (™k bibl…ou kubern»thj) für diejenigen zu lieben, die meinen, ohne Autopsie auszukommen.188 Formulierungen wie die, dass der sorgfältige und gewissenhafte Beobachter der Natur nicht den anatomischen Büchern vertrauen soll, sondern den eigenen Augen,189 sind in seinem Werk nicht selten. Entscheidend ist bei seiner Rezeption Galens Vesals epistemische Situation. Man kann die Überlieferung egozentrisch sehen: Die Vertreter von Wissensansprüchen, die man – aus welchen Gründen auch immer – nicht (mehr) nachvollziehen kann oder will, werden in ihren Handlungen irrationalisiert. Demgegenüber fordert die reverentia im Rahmen der epistemischen Situation gegenüber den Autoritäten nach der Autoritätstheorie freilich, dass das so weit wie möglich vermieden wird – und das ist die tragende Voraussetzung für Wissenskonstanz im Sinne der Vermeidung des Verlustes von Wissen. Hierzu gehört seit dem Mittelalter auch das exponere reverenter, das geltungsbewahrende Interpretieren der Autoritäten, das freilich immer nur als eine Vor-Annahme (praesumtio) aufgefasst wurde, die sich bei widerstreitenden Befunden prinzipiell als trüglich erweisen konnte. Das heißt: Erst dann gelingt Vesal die (partielle) Distanzierung von der Autorität Galens, wenn er die mangelnde Übereinstimmung zwischen seiner Autopsie und der fremden Autorität auch erklären kann. Genau hier gewinnt dann die Täuschung Galens (deceptus suis simiis) durch eine Anatomie von Schweinen und Affen, kurz durch eine Tier-Anatomie, ihren Stellenwert. Durch diese Erklärung kann Vesal zudem die Autorität Galens wahren, dessen Fleiß wir so überaus viel verdanken (Galeni diligentiae plurimum deberi), der uns so viel Treffliches gelehrt habe (non sabunde docuit) und auf dessen Worte auch er geschwört hat (et ego in Galeni verba iuraui).

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Hierzu die Hinweise in L. Danneberg: Die Anatomie (Anm. 110), Kap. X, ferner dort unerwähnt Ivan Garofolo: L’anatomia umana in Galeno. In: Nuova Civiltà delle Maccine 9 (1991), S. 101–111. Vgl. z.B. Galen: De compositione medicamentorum per genera, III, 2 (Opera, ed. Kühn, XIII, S. 605), auch Id.: De libris propriis (Opera, ed. Kühn, XIX, S. 8–48, hier S. 33): ¹

di¦ tîn ¢natotomikîn suggramm£tîn m£qhsij ™oiku‹a to‹j kat¦ paroim…an legomšnpoij ™k bibl…ou kubern»taij. Vgl. Galen: De usu partium (Anm. 137), II, 3 (S 98): ostiς οân boÚletai tîn tÁς φÝsewς œrgon genšsθαιθεατ»ς, οÝ cr¾ toà ton ¢natomika‹ς βιβλοις πιστεÚein ¢ll¦ to‹ς „d…ς Ômmasin. Auch Id.: De locis Affectis, III, 3 (Opera, ed. Kühn, S. 1–452, hier S. 146), sowie Id.: De naturalibus facultatibus, III, 10 (Opera, ed. Kühn, II, S. 179/180), wo es heißt, dass man alles von den Anerkanntesten der Vorgänger lernen solle, aber wenn man alles gelernt hätte, sollte man sich Zeit lassen, um zu prüfen, welcher Teil mit den offenkundigen Fakten übereinstimmt und welcher nicht und man sich von dem einen ab, dem anderen zuwenden könne. Allerdings sieht er auch, dass ein ›Lehrer‹, der einem beispielhafte Exemplare zur Identifizierung von Ingredienzien zeigen könne, die beste Art und Weise des Erlernens; das Hinzuziehen von Büchern bedeutet, dass man eine große Anzahl von eigenen Erfahrungen für die Beurteilung von Arzneimitteln hinsichtlich ihre guten wie schlechten Wirkungen machen müsse, vgl. auch Id.: De antidotis, lib. II, I, Praefatio (Opera, ed. Kühn, XIV, S. 1–209, hier S. 6).

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Die Pointe aber zeigt sich erst, wenn man zugleich sieht, dass das keine Entlarvung durch Vesal ist und dass Galen das freimütig einräumt. So sagt er beispielsweise, dass man solche Affen zur Sektion wählen solle, die dem Menschen am ähnlichsten seien. Galen gibt einige äußere Merkmale an und fährt mit einem Analogieschluss fort, dass man dann auch die anderen Teile als ähnlich finden werde,190 und er läßt keinen Zweifel daran, dass der Rückgriff auf Affen (nur) als die Regel zu verstehen sei.191 Seien diese nicht vorhanden, so gelte als Kriterium bei der Auswahl das der Menschenähnlichkeit.192 Er kennt denn auch Unterschiede zwischen Menschen und Affen, und so ersetzt denn auch nicht die Tier-Anatomie eine denkbare Anatomie des Menschen, die allerdings jenseits des Horizonts bleibt – Carl von Linné (1707–1776) wird beklagen, dass sich kein rein anatomisches Merkmal finde, das den Affen vom Menschen unterscheide. Die traditionellen Unterscheidungsmerkmale – Vernunft und/oder Sprache: Cicero (Off, I, 50) übersetzt lÒgoj mit ratio et oratio – blieben davon unberührt. Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens (os intermaxillare) schafft in dieser Hinsicht dann Abhilfe.193 Mitunter bricht dann das Selbstbewusstsein des überlegenen menschlichen Körpers durch,194 und droht dabei tendenziell, die Basis der Analogisierung zu zerstören: Bei einem hinsichtlich seiner Seele so lächerlichen Wesen wie dem Affen müsse sich das auch in der Anatomie der Hand niederschlagen, die den Vergleich mit der menschlichen nicht aushalte. Galen findet dann zu einer Feststellung, die

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Vgl. Galen: De anatomicis (Anm. 155), I, (S. 222): œklexai d’ ε„ς τοÞto tîn piϑ»kwn toÝς Ðmoiot£touς ¢nϑρèpw, toioÞtoi d’ e„s…n, ïn oÜϑ’ αƒ gšnueς προµ»keiς, Ùϑ’ oƒ

kunodÒnteς ÑnomaζÒmenoi meg£loi. eØr»seiς καˆ t¥lla mÒria paraplhs…oς ¢nϑρ èpoiς διακειενα.

Vgl. z.B. Galen: De compositione (Anm. 188), III, 2 (S. 608), oder Id.: De anatomicis (Anm. 157), III, 5, (S. 384). – Es ist darauf hingewiesen worden, dass das Fehlen von Maßangaben in Galens Werken damit etwas zu tun haben könnte, dass er die Sektionsergebnisse nur per analogiam auf den Menschen übertragen habe, denn für Maßangaben hätte er Menschen sezieren müssen, vgl. Adolf Faller: Vorstellungen über den Bau der Muskeln bei Galen und den mittelalterlichen Galenisten. In: Gesnerus 17 (1960), S. 1–13, hier S. 4. 192 Vgl. Galen: De anatomicis (Anm. 157), I, 3 (S. 227). 193 Hierzu Max Pfannenstiel: Die Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens durch Goethe und Oken. In: Die Naturwissenschaften 36 (1949), S. 193–198; Gustaf Kötzschke: Der Zwischenkieferknochen und Goethe. Ein Beitrag zur Evolutionstheorie. In: Deutsche Stomatologie 3 (1953), S. 243–246; Hermann Bräuning-Oktavio: Vom Zwischenkieferknochen zur Idee des Typus. Goethe als Naturforscher in den Jahren 1780– 1786. Leipzig 1956; Horst-Werner Storch und Gerhard Storch: Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens und seine Wirbelheltheorie des Schädels. In: Alfred Schmidt und Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.): Durchgeistigte Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie. Frankfurt/M. 2000, S. 101–113; Aeka Ishihara: Von der Skala der Natur zum evolutionären Vektor: der Zwischenkieferknochen und das AffenMotiv in der Literatur der Goethe-Zeit. In: Kulturwissenschaft als Provokation der Literaturwissenschaft: Literatur – Geschichte – Genealogie. München 2004, S. 144–158. 194 Vgl. z.B. Galen: De usu partium (Anm. 139) (S. 81).

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den auf Tier-Anatomie aufruhenden Schlüssen gänzlich die Legitimation zu nehmen droht: Wir würden Nachahmungen gerade dann als besonders lächerlich empfinden, wenn sie bei großer Ähnlichkeit in den wesentlichen Aspekten unähnlich seien – und das sei beim Affen der Fall.195 Vesal, der seinen Galen noch gelesen hat, sagt (wenn ich es richtig sehe) denn auch an keiner Stelle, Galen hätte etwas anderes behauptet oder beansprucht. Es geht mithin nicht darum, ob Analogieschlüsse (in diesem Bereich) überhaupt zulässig seien, sondern immer um ihre Reichweite und Gewissheit. Die Leistung besteht mithin darin, die Unterschiede zwischen der menschlichen und der animalischen Anatomie zu sehen, also die Reichweite des unternommenen Analogieschlusses einzuschränken. Das nun wiederum erklärt ein Moment, das mitunter voreilig gegenüber Vesal als entlarvend gesehen wird: Es ist offenkundig, dass selbst Vesal nicht nur für die öffentlichen Demonstrationen (aufgrund der Knappheit menschlicher Leichname und ihrer schnellen Verwesung nahezu unumgänglich), sondern auch bei seinen eigenen Befunden auf Tier-Anatomien, sogar auf solche von Affen, zurückgegriffen hat.196 Zudem hat Vesal, ohne darauf hinzuwiesen, gelegentlich selbst durch Tier-Anatomie gewonnene Erkenntnis als Humananatomie ausgegeben.197 Nur dann, wenn man die epistemische Situation nicht kennt oder verkennt, lässt sich das bei Vesal als Inkonsequenz oder gar als Täuschung sehen. Doch das noch gravierendere theoretische Problem ist das Schließen vom Toten auf das Lebende. Das nun hat bereits Aristoteles problematisiert, indem er ein grundsätzliches Bedenken vorträgt. Die Leiche gleiche dem Menschen zwar in ihrer morf¾ sc»matoj, doch alle ihre Teile seien nicht mehr so wie am lebenden Körper:198 Wenn die Seele gehe, dann existiere kein Lebewesen mehr, und nichts von den Teilen bleibe dasselbe, außer nach seiner äußeren Gestalt, ähnlich wie die

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Vgl. Galen: De anatomicis (Anm. 157), III, 5 (S. 384). Zum expliziten Eingeständnis, eine Anatomie von Affen zu geben; auch Id.: De venarum arteriarumque dissectione (Opera, ed. Kühn, II, S. 779–830, hier S. 779), wo er explizit zu seinem Adressaten sagt, dass er die Anatomie der Venen und Arterien, wie es zuvor an Affen gezeigt worden sei, nun als Erinnerung aufschreiben wolle. 196 So identifiziert er ohne Bedenken mitunter anatomische Befunde beim Hund und Schwein mit dem des Menschen, so in Id.: De humani [1543] (Anm. 132), V, 17 (S. 541). Zusammenfassend Michael Reinecke, Galen und Vesal. Ein Vergleich der anatomisch-physiologischen Schriften. Münster 1997, S. 38, sowie S. 46. 197 Darauf, dass Vesal Schweine, Hunde und Ziegen als Studienobjekte verwendet hat und aus ihnen auf den Menschen Analogien gezogen hat, hat bereits Moritz Holl: Vesals Darstellung des Baues der Niere. In: Archiv für die Geschichte der Medizin 6 (1912), S. 129– 148, hingewiesen; ferner Richard Schmutzer: Vesals Darstellung des Baus der Niere. Ein Nachtrag zur gleichnamigen Arbeit Holls [...]. In: ebd., 27 (1934), S. 187–188; John A. Benjamin: A Discussion of the Twenty-first Illustration of the Fifth Book of De humani corporis fabrica (1543). In: Bulletin of the History of Medicine 14 (1943), S. 634–651. 198 Vgl. Aristoteles, De part animal, I, 1 (640b35).

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Versteinerungen, von denen die Märchen erzählten.199 In De Anima kommt nach Aristoteles dem toten Körper der Ausdruck ›Körper‹ nur in einem äquivoken Sinn zu.200 Es ist die Unterscheidung zwischen der anatomia viva und mortua, die fortwährend als Herausforderung bleibt. Nicht wenige der später so offenkundigen Fehlbefunde, die dann nicht selten in der Retrospektive als Verweigerung von Autopsie erscheinen, haben hier ihren Ursprung. Beispielsweise ist das der Fall bei dem Befund, dass die Arterien blutleer seien und statt dessen Pneuma enthielten: Das ist eine richtige Beobachtung, allerdings eben nur, wenn man sie am sezierten Leichnam macht; es ist die postmortale Blutleere der Arterien.201 Zwar betont Descartes den Unterschied zwischen Mensch und Tier, zugleich aber legt er die Grundlage für einen sicheren Analogieschluss vom tierischen auf den menschlichen Körper – ja, er korrigiert implizit die Bedenken des Aristoteles, dass vom toten und lebenden Körper nur in einem äquivoken Sinn zu sprechen möglich sei: Gerade diesen Unterschied leugnet Descartes, denn die Körper eines toten und eines lebenden ›Lebewesens‹ (Menschen) unterschieden sich nicht, respektive nicht anders als von irgendeinem ›Automaten‹, wenn dieser »zerbrochen ist« oder das »Prinzip« seiner »Bewegung zu wirken aufhört«.202 Im 17. Jahrhundert gehörten die Versuchen der Bluttransfusion zu den aufsehenerregendsten Experimenten am menschlichen Körper.203 Welche Rechtfertigung oder Kritik auch

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200

Vgl. ebd., I, 1 (641b19–21): ¢pelϑoÚshς [scil. τÁj ψυχÁj] goàn oÙkšti ζîÒn ™stin,

oÙde tîn mor…wν oÙden tÕ aÙtÕ le…petai, pl¾n tù sc»mati mÒnon, kaϑ£pej t¦ muϑeuÒmena liϑoÞsϑai.

Vgl. im Kontext Aristoteles: De anima, II, 2 (412b10–413a4); ferner Id.: Meteorologica, IV, 12 (389b27–390a11); es ist der Gedanke, dass ein Gegenstand, wenn er nicht mehr seine Funktion erfüllen kann – wie die tote Hand – nicht mehr ›eigentliches Sein‹ hat. 201 Z.B. Hermann Diels: Über das physikalische System des Straton [1893]. In: Id.: Kleine Schriften zur Geschichte der antiken Philosophie. Hrsg. von Walter Burkert. Darmstadt 1969, S. 239–265, hier S. 242ff; oder Jerome J. Bylebyl: The Medical Side of Harvey’s Discovery: the Normal and the Abnormal. In: Id. (Hrsg.): William Harvey and His Age. Baltimore, London 1979, S. 28–102, hier S. 46ff. 202 Vgl. Descartes: Die Leidenschaften der Seele [Passions de l’Ame, 1649]. Hg. und übersetzt von Klaus Hammacher. Hamburg 1984, I, 6 (S. 11). – Obwohl stark vom Cartesianismus seiner Zeit beeinflusst, heißt es bei Niels Stensen (1638–1686): Wären die Tiere gefühllose cartesianische Automaten, so könnte man sie unbedenklich vivisezieren, vgl. Id.: Epistolae et epistolae ad eum datae, quas cum pro emio ac notis Germanice scriptis ed. Gustav Scherz adjuvante Joanne Raeder. Tomus I. Hafniae, Friburgi 1952, S. 142, Brief an Thomas Bartholin vom 12. 9. 1661. 203 Hierzu Geoffrey Keynes: The History of Blood Transfusion 1628–1914. In: British Journal of Surgery 31 (1943), S. 28–50; N.S.R. Maluf: History of Blood Tranfusion. In: Journal of History of Medicine 9 (1954), S. 59–107; J. Schiller: La transfusion sanguine et les débutes de l’académie des Sciences. In: Clio Medica 1 (1965), S. 33–40; J. J. Peuméry: Les origines de la transfusion sanguine. In: Clio Medica 9 (1974), S. 131–156, S. 215– 250 und S. 325–341; Alfred D. Farr: The First Human Blood Transfusion. In: Medical History 24 (1980), S. 143–162; zudem M.J. van Kieburg: The First Blood Transfusion to Man, Infusion Experiments, Physiological Problems and Some Curiosities of Medicine Reported in a Letter From J. Bruynestein to W. van Liebergen (1668). In: Lias 16 (1989),

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immer die Vivisektion gefunden hat:204 Nach dem aristotelischen Bedenken geht es nicht um ›Kadaver‹ (cadaver), sondern um die Erkenntnis des lebenden Organismus, der noch seine ›Seele‹ hat – und genau das versuchen die Abbildungen Vesals zu zeigen. Doch an einer Stelle kann das nicht gelingen, nämlich bei der Darstellung der Vivisektion – es sind denn auch nur die Vorbereitungen, die Vesal bildlich bietet: Bei der Vivisektion hat der Betrachter (in der Regel) gerade keine Möglichkeit, die Abbildungen als Ausdruck einer kontrafaktischen Imagination zu sehen. Robert Hooke (1635–1703) wird das bei Vesal im letzten Kapitel seiner Fabrica beschriebene Experiment wiederholen.205 Wichtig ist schließlich, dass Abbildungen, die auf kontrafaktischen Imaginationen beruhen, nicht fiktional sind bzw. sein müssen. Zwar ist das, was im Ganzen abgebildet ist, im strengen Sinn unmöglich, und das Wissen darum teilt auch der Betrachter. Doch bedeutet das nicht, dass jeder Bildausschnitt kontrafaktisch wäre. Ohne es an dieser Stelle vertiefen zu können, ließen sich zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks kontrafaktisch im Hinblick auf nicht-wortsprachliche Darstellungen unterscheiden: zum einen als Bezeichnung einer (Makro-)Eigenschaft einer bildlichen Gesamtheit; zum anderen als Bezeichnung, die Ausschnitte einer solchen Gesamtheit klassifiziert. Es gibt Ausdrücke, die sich gleichbedeutend sowohl auf

–––––––— S. 43–60; ferner Gerhard Fichtner: Vorstellungen über die Wirkung der Bluttransfusion. In: Sudhoffs Archiv 54 (1970), S. 20–29, ferner Alistair Cameron Crombie: Bluttransfusion im 17. Jahrhundert. In: Bild der Wisssenschaft 5/3 (1968), S. 237–246, Heinrich Buess: Die Bluttransfusion im Anschluß an die Entdekkung des Blutkreislaufs. In: CibaZeitschrift 7/79 (1956), S. 2612–2617, sowie Id.: Die Lehre von der Bluttransfusion. In: ebd., S. 2618–2621, ferner Walter Artelt: Der Volksglaube als Wegbereiter der Bluttransfusion. In: Suhoffs Archiv 34 (1941), S. 29–34, zur Praxis der Vivisektion ferner Gerrit Lindeboom: Dog and Frog. Physiological Experiments at Leiden During the Seventeenth Century. In: Th. H. Lunsingh Scheurleer und G.H.M. Posthumus Meyjes (Hrsg.): Leiden University in the Seventeenth Century, Leiden 1975, S. 278–293. 204 Zum Thema neben den Beiträgen in Nicolaas A. Rupke (Hrsg): Vivisection in Historical Perspective. London 1987; u.a. Stewart Richards, Drawing the Life-blood of Physiology: Vivisection and the Physiologists’ Dilemma, 1870–1900. In: Annals of Science 43 (1986), S. 27–56; sowie Id.: Anaesthetics, Ethics and Aesthetics: Vivisection in the Late Nineteenth-Century British Laboratory. In: Andrew Cunningham, Perry Williams (Hrsg.): The Laboratory Revolution in Medicine. Cambridge 1992, S. 142–169; Robert G. Frank: Harvey and the Oxford Physiologists. Berkeley 1980, S. 159f.; v.a. Anita Guerrini: The Ethics of Animal Experimentation in Seventeenth-Century. In: Journal of the History of Ideas 50 (1989), S. 391–407; Malcolm R. Oster, The ›Beame of Divinity‹: Animal Suffering in the Early Thought of Robert Boyle. In: British Journal for the History of Science 22 (1989), S. 151–180; Andreas Holger Maehle: Literary Responses to Animal Experimentation in Seventeenth- and Eighteenth-Century Britain. In: Medical History 34 (1990), S. 27–51; Simon Schaffer: Regeneration: The Body of Natural Philosophers in Restoration England. In: Christopher Lawrence und Steven Shapin (Hrsg.): Science Incarnate: Historical Embodiments of Natural Knowledge. Chicago, London 1998, S. 83–120; Rod Prece: Darwinism, Christianity, and the Great Vivisection Debate. In: Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 399–419. 205 Vgl. Thomas Sprat: The History of the Royal Society. London 1667 (ND 1958), S. 232.

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eine bildliche Gesamtheit als auch auf ihre Ausschnitte anwenden lassen und dabei jedem der (sinnvoll) unterscheidbaren Ausschnitte eines Ganzen gleichermaßen zukommen. Anders als die Verwendung des Ausdrucks fiktional, bei dem es sich empfiehlt, ihn nur als eine solche (Makro-)Eigenschaft von Darstellungsgesamtheiten aufzufassen, die auch jedem ihrer Bestandteile zukommt206 – also: Wenn eine bildliche Darstellung als fiktional klassifiziert wird, dann gilt das auch für jeden ihrer (sinnvollen) Ausschnitte. Demgegenüber erscheint die Klassifikation einer Abbildung als kontrafaktisch als inhomogen: Bildausschnitte eines auf kontrafaktischer Imagination beruhenden Bildes können als wahr, als referenzialisierend behandelt werden, ohne dass dies im Widerspruch zum kontrafaktischen Charakter des gesamten Bildes stehen müsste; kontrafaktisch ist kein dissektives Prädikat, das auf jeden Teil eines Ganzen (Einzeldings), auf das es zutrifft, ebenfalls zutrifft. Festzuhalten bleibt mithin: Die hier erörterten Abbildungen Vesals sind zwar kontrafaktisch, aber nicht fiktional. Das ist wichtiger als es auf den ersten Blick erscheinen mag; denn diese Analyse konfligiert nicht mit einem der Ziele, die – wie gesehen – Vesal explizit mit seinen Abbildungen verfolgt: Es ist das Wiedererkennen (recognition) von etwas, wenn man Teile eines menschlichen Körpers sieht, und die anatomische Praxis soll das in ein Können des sprachlichen ›Reproduzierens‹ (recall), des ›Beschreibens‹ in absentia verwandeln.207 Gedeutet als fiktionale (und nicht als kontrafaktische) Abbildungen käme das einer, wenn man so will, ›Irrationalisierung‹ des gesamten Vorgangs des Abbildens gleich, indem es dem Wissen über den engeren intratextuellen wie den extratextuellen Kontexten widerstreitet. Die Plausibilität der hier vorgelegten Deutung kann zunehmen, gelingt es ihr, Gegenproben zu bestehen. Die Erklärung bestimmter Eigenschaften bei Abbildungen als intrinsisch erweist ihre Güte dann dadurch, dass man sie mit Eigenschaften konfrontiert, die als Gegenprobe dienen können und die so die Deutung infrage stellen. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Ich muss mich daher darauf beschränken, bei einigen der Abbildungen Vesals eine einzige Eigenschaft zu erörtern, die dieser Vermutung zu widersprechen scheint. Es handelt sich um eine Eigenschaft, die sich so deuten ließe, als zeige sie, dass Vesals Versuche der simultanen Darstellungen von ›Struktur‹ und ›Funktion‹ in seinen Abbildungen schei-

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Hierzu auch L. Danneberg: Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten. In: Uta Klein et al. (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Einladung zu disziplinexternen Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 35–83. Zu empirischen Untersuchungen dieser beiden Formen der ›Erinnerung‹ R.L Cohen und K. Granström: Reproduction and Recognition in Short Term Visual Memory. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 22 (1970), S. 450–457; sowie Kenneth R. Laughery et al.: Dynamics of Face Recall. In: Haydn D. Ellis et al. (Hrsg.): Aspects of Face Processing. Dordrecht 1986, S. 373–387; im Zusammenhang mit der bildlichen Darstellung auch E.H. Gombrich: Visual Discovery Through Art [1969]. In: Id.: The Image and the Eye. Further Studies in the Psychology of Pictorial Representation. Oxford (1982) 1986, S. 11–39.

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tert. Angedeutet wurde dergleichen hinsichtlich der siebten Tafel seiner Muskelmänner-Abbildungen.208 Hier scheint offenbar, dass ein bestimmter, für die dargestellte Ansicht des Körpers wichtiger Funktionsträger gerade nicht mehr vorhanden ist. Um gleichwohl den erwünschten Eindruck der Gestaltung zu erzeugen, wird das durch ein körperfremdes Hilfsmittel kompensiert. In der septima tabula musculorum ist es ein Strick, der die fallende Haltung des Muskelmannes aufhält. Es ist freilich nicht das einzige Beispiel: In der octava tabula musculorum ist es eine Wand, die den Muskelmann stabilisiert. Erklären lässt sich das zum einen aus einem Moment einer Gestaltungsweise, wenn sie auf kontrafaktischer Imagination beruht, zum anderen aus dem (jeweils) verfolgten Darstellungsziel. Beides scheint in diesem Fall möglich, auch wenn ich es abkürze. Bei Darstellungen mittels kontrafaktischer Imaginationen – seien sie wortsprachlich oder nicht – ist nicht alles möglich, sondern die Kontrafaktizität einer Imagination bezieht sich immer nur auf ein bestimmtes Wissen, dem sie widerstreitet und bei dem angenommen wird, dass dem Betrachter dieser Widerstreit nicht verborgen bleibt. Das, worauf sich die Kontrafaktizität bezieht, hängt zusammen mit dem Darstellungsziel, das die Abbildung ausrichtet und mit dem, was die Darstellung exemplifizieren soll: Es ist (in diesem Fall) allein die Beseeltheit von Körpern und nicht zum Beispiel bestimmte Aspekte fallender oder stürzender Körper, und generell sollen nicht bestimmte Bewegungsarten exemplifiziert werden, auch wenn sich die Beseeltheit oftmals durch Bewegung ausdrückt. Ich fasse zusammen: Es gibt meines Erachtens eine gute Erklärung dafür, dass die anatomisierten Gestalten als beseelt erscheinen sollen, und zwar handelt es sich um eine intrinsische Eigenschaft im Blick auf das Ziel der wissenschaftlichen Darstellung – keine Frage, meine Erklärung ist nur hypothetisch. Zahllose anatomische Werke in der Nachfolge Vesals weisen ähnlich belebte Gestalten auf; und wie oftmals leicht erkennbar ist, sind sie mit nur kleinen Nuancen direkt den Abbildungen Vesals entlehnt – schon zu Vesals Lebzeiten zwangen sie geradezu zur Kopie oder Adaptation und so war denn auch sein Eindruck des Plagiats nicht selten:209 Das, was womöglich für die Darstellungen Vesals als Erklärung gilt, muss nicht auch für diejenigen gelten, die diese zum Muster gewordenen Abbildungen kopiert und variiert haben. Vielleicht konnte man sich diese Eigenschaften der vesalschen Darstellungen um die Mitte des 18. Jahrhunderts ebenso wenig erklären wie wir heute, und man ist einfach einer Bildtradition gefolgt.

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Vgl. Glenn Harcourt: Andreas Vesalius and the Anatomy of Antique Sculpture. In: Re presentations 17 (1987), S. 28–60. 209 Hierzu die Hinweise bei Harvey Cushing: A Bio-Bibliography of Andreas Vesalius Hamden (1943) 21962, sowie Herrlinger: Geschichte (Anm. 101), S. 119–132.

Simone De Angelis

Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos Zur Beziehung von medizinischen und poetischen Texten in der Renaissance

I. Konsultiert man die Forschungsliteratur zum Thema ›Liebeskrankheit‹, so stellt man in der Regel Folgendes fest:1 Entweder hat das Thema eine ›iatrozentrische‹ Perspektive, welche die Liebeskrankheit in der Medizingeschichte untersucht,2 oder das Thema wird aus literaturgeschichtlicher Perspektive behandelt. In diesem Fall werden Texte vom Typ ›Liebe als Krankheit in … etc.‹ generiert, die verschiedene Philologien, Gattungen und Epochen berücksichtigen.3 In literaturwissenschaftlichen Arbeiten wird oft nicht darauf verzichtet, neben der literarischen auch auf die medizinische Tradition der Liebeskrankheit hinzuweisen, indem etwa die Transmissionslinien von Texten der griechischen und der arabischen Medizin in den lateinischen Westen nachgezeichnet werden; vor allem aber wird in solchen Studien gezeigt, dass und wie die Dichter die Idee der Liebeskrankheit in ihren Texten adaptieren.4 Adaptionsweisen eines Formenrepertoires über die Liebeskrankheit in poetischen Texten erklären aber nur zum Teil, wie sich literarische und medizinische Texte zueinander verhalten. Wenn wir mit Georg Braungart annehmen, dass die ›Liebe als Krankheit‹ eine »Redeweise« ist5 und dass aufgrund der vorhandenen medizinischen und literarischen Traditionen ein »Kraftfeld [des] Sprechens und Schreibens über Liebe entsteht«,6 so stellt sich die Frage, ob denn die Mediziner und die Poeten in ihren Texten von derselben Idee der Liebeskrankheit sprechen beziehungsweise ob es sich um zwei verschiedene Redeweisen ein und derselben Idee handelt oder nicht. Eines ist nämlich festzuhalten: Es kann bei der Behandlung dieses Themas freilich nicht darum gehen, in Erfahrung bringen zu wollen, ob

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Für wertvolle Anregungen und kritische Hinweise danke ich Lutz Danneberg, Wolfgang Pross und Barbara Mahlmann-Bauer. Vgl. z.B. Adelheid Giedke: Die Liebeskrankheit in der Geschichte der Medizin. Diss. med. Düsseldorf 1983. Vgl. z.B. die Beiträge in dem Sammelband Theo Stemmler (Hrsg.): Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters. Mannheim 1990. Katharina Philipowski: Minne als Krankheit. In: Neophilologus 87 (2003), S. 411–433. Georg Braungart: De Remedio Amoris: Ein Motiv und seine Traditionen von der Antike bis Enea Silvio Piccolomini und Johannes Tröster. In: Archiv für Kulturgeschichte, 62/63 (1980/81), S. 11–28, hier S. 11. Philipowski: Minne als Krankheit (Anm. 4), S. 415.

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es die Liebeskrankheit je gegeben hat und welches deren Symptome und Ursachen waren, wie es zum Beispiel die Fragestellung von Adelheid Giedke programmatisch vorgibt.7 Giedke will daher den Ausdruck ›Liebeskrankheit‹ »für diese hypothetische Liebeskrankheit«8 benutzen. Da Giedke aber für ihren epochenübergreifenden Ansatz über keine experimentellen klinischen Daten verfügt, die zu überprüfen wären, führt ihr Weg über die Analyse medizinischer Texte, hinter denen sie – so die stillschweigende Annahme – ›Fakten‹ vermutet. Diese ›Fakten‹ bestehen aber in diesem Fall aus Namen wie amor furiosus, amor hereos, amor insanus oder amor vesanus, die sich streng medizinisch nicht untersuchen lassen und die die Mediziner zu allem Überfluss oft von Philosophen und Poeten übernommen haben. Das klassische Beispiel ist Sappho und das Fragment 31 der sapphischen Gedichte. Giedke etwa begründet das Sappho-Zitat (Fragment 31 V) am Beginn ihrer Studie wie folgt: »weil sich spätere medizinische Autoren immer wieder darauf berufen«.9 Giedke kümmert das aber wenig oder scheint nicht zu verstehen, worum es hier geht. Ganz ähnlich ist das bei Bernhard D. Haage, der Sapphos Fragment 31 als »[d]as klassische Beispiel für die Symptomatik der L.[iebeskrankheit]« zitiert, dann aber in seiner Darstellung – praktisch unvermittelt – zu der Diskussion der so genannten »Fachlit.[eratur] der alexandrinisch-hellenistischen Medizin« übergeht.10 Der iatrozentrische Blick hält damit die Sphären von medizinischen und poetischen Texten getrennt, wie es der Vorstellung einer Autonomieästhetik um 1800 entspricht, in der Antike aber so nicht stattgefunden hat. Das bestätigen schon einige Beobachtungen zur ›klinischen Sprache‹ des sapphischen Textes: Die Beschreibung der Symptome ist an die Alltagssprache angelehnt, die Symptome sind parataktisch aufgelistet und es geht um die Selbstbeobachtung von inneren Vorgängen des Schmerzes und der Krankheit – subjektiv-lyrischer Ausdruck und medizinischalltägliche Redeweisen, die die Realität der Krankheit betreffen, überlagern sich.11 Es muss also nach dem Verhältnis gefragt werden, das zwischen medizinischen und literarischen Texten besteht. Denn will man die medizinische Geschichte der Liebeskrankheit von der literarischen getrennt halten, so vergibt man sich die Chance, etwas über das Verhalten der medizinischen Quellen zu verstehen. Das hat vor allem der interdisziplinär arbeitende Literaturwissenschaftler Massimo Peri

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Giedke, Die Liebeskrankheit (Anm. 2), S. 7. Ebd. Ebd. Bernhard D. Haage: ›Liebeskrankheit‹. In: Werner E. Gerabek et al. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin, New York 2005, S. 853a–854b, hier S. 853a. Vincenzo di Benedetto: Intorno al linguaggio erotico di Saffo. In: Hermes. Zeitschrift für Klassische Philologie, 113 (1985), S. 145–156, hier S. 147–151. Vgl. zur Analyse des Fragm. 31 auch Monica Silveira Cyrino: In Pandora’s Jar. Lovesickness in Early Greek Poetry. New York, London 1996, S. 145–149: »Here at the beginning of Sappho’s poem, the use of such conventional and not-overly-specific language paves the way for the innovative, almost clinical language of the catalogue which follows, with its precise details and anatomical vocabulary.«

Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos

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erkannt, dem wir eine der genauesten und kenntnisreichsten Darstellungen des Begriffs des Amor hereos verdanken.12 Aber auch Peri begnügt sich in der Frage, warum sich die Mediziner auf die opinio der Poeten beziehen, mit der Antwort, dass aus der Sicht der Mediziner die opinio der Poeten »eine seriöse Sache« sei.13 Aber warum ist das so? Und welcher ist der epistemische Status des sogenannten »›anderen Diskurses‹«14 der Poeten, von dem sich die Mediziner distanzieren? In diesem Punkt führt die Frage weiter, wie denn die Gelehrten aus früheren Jahrhunderten, also etwa die Humanisten, mit den Büchern der antiken Autoren im Verhältnis zur ›Erfahrung‹ umgegangen sind. Studien zu den Techniken der Textproduktion des Florentiner Humanisten und Architekten Leon Battista Alberti (1404–1472) zeigen, dass ihm beim Verfassen des IV. der Bücher über die Famiglia, in dem es um das Thema der Freundschaft geht, das Buchwissen als indispensable Argumentationsbasis diente.15 Dabei ging es auch nicht darum, das Buchwissen einem (aktuellen) Erfahrungswissen gegenüber zu stellen, das sozusagen ›näher am Leben‹ stand und dem daher mehr zu vertrauen gewesen wäre. Diese Schlussfolgerung wäre irreführend. Denn die antiken Texte selber geben dem Leser den Hinweis, dieser möge sich der Realität und der Praxis zuwenden. Außerdem sprechen die antiken Autoren nicht abstrakt, sondern nach dem, was allgemein üblich und dem alltäglichen Leben selbst entnommen ist. Die antiken Texte – also etwa Ciceros Laelius de amicitia – handeln von konkreten Individuen, die man vor Augen hat (›ante oculos sunt‹) und aus dem gewöhnlichen Leben kennt und – so wie man sie kennt – in der Erinnerung behalten will.16 Die Humanisten eignen sich also die Texte der antiken Autoren an und verwenden sie. Deren Verfahren bestand darin, Positionen in antiken Texten zu zitieren, um ein komplettes Dossier von Zeugenaussagen zu erstellen; beliebt war die Nebeneinanderstellung von Positionen, vor allem von alternativen Stimmen.17 So konnte zum Beispiel die idealisierende, sublime Freundschaftsbeziehung gemäß dem Laelius de amicitia von Cicero neben die interessierte, hinterlistige Freundschaftsbeziehung gemäß der Ars amandi des Ovid gestellt werden, bei der es einzig darum geht, eine

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Massimo Peri: Malato d’amore. La medicina dei poeti e la poesia dei medici. Soveria Mannelli 1996, S. 23–41. Ebd., S. 119. Ebd. Mariangela Regoliosi: »Libri« ed »esperienza«: Alberti e le litterae. In: Roberto Cardini (Hrsg.): Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista. Firenze 2005 (Katalog der Ausstellung Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, 8 ottobre 2005–7 gennaio 2006), S. 95–99. Von Petrarca (Fam. III, 18, 1ff.) stammt übrigens das Bekenntnis zu einem existentiellen Bedürfnis nach antiken Büchern, zu denen er ein emotionales Verhältnis aufbaut und die er als ›intime Gesprächspartner‹, ›Vertraute‹ und ›Ratgeber‹ sieht; vgl. Elisabeth Stein: Auf der Suche nach der verlorenen Antike. Humanisten als Philologen. In: Thomas Maissen, Gerrit Walther (Hrsg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, S. 76–102, hier S. 80– 83. Regoliosi: »Libri« ed »esperienza« (Anm. 15), S. 96a–b. Ebd., S. 96b.

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Geliebte zu erobern. Wurde die Nebeneinanderstellung als Kontraposition interpretiert, so konnte sie sich auf unterschiedliche Texte desselben Autors beziehen, die als zwei unterschiedliche Gebrauchsanweisungen zum Thema Freundschaft aufgefasst wurden: Bei Cicero etwa stand der Laelius für eine tugendhafte Welt und der Commentariolum petitionis beschreibt die Freundschaft in der Welt, ›wie sie ist‹ und in der es vor allem um die Beherrschung der Kunst der Verstellung (simulatio) geht zur Erreichung eines pragmatischen Zieles.18 Dies entsprach durchaus der konkreten Lebenssituation eines Leon Battista Alberti, der, um am Hof der Estensi in Ferrara Karriere zu machen, die Gunst eines Leonello d’Este gewinnen musste und dies über die ›kalkulierte‹ Freundschaft zu einer Reihe von Mittelsmännern erreichte, die dem Fürst nahe standen.19 Die eigene Erfahrung des Humanisten konnte also ausschlaggebend sein für ein Zitat, zum Beispiel aus einem scherzhaften Epigramm Martials (I,5), das eine vergleichbare Situation von opportunistischer Freundschaft beschreibt.20 Aufgrund des humanistischen Verfahrens des Zitierens einer alternativen (oder antagonistischen) Position kann jetzt also zumindest vom formalen Vorgehen her erklärt werden, warum die Mediziner die Poeten als eine ›andere‹ Stimme zitieren und warum in der medizinischen Literatur über die Liebeskrankheit vor allem Ovids De remedio amoris als Ratgeberbuch Karriere gemacht hat und gegen dessen Ars amandi ausgespielt wurde. Was also die Argumentation eines Humanisten wie Alberti formt, sind die auctores der Tradition, wobei die Form oder die Wörter aus verschiedenen Texten stammen können, je nachdem, welche Strategie der Humanist in seinem eigenen Text verfolgt: ob er mehr eine idealistische Welt von intakter Moralität und Tugendhaftigkeit oder ob er mehr eine praxisbezogene und nützliche Rede gestalten will, die sich an bestimmte soziale Gruppen (Familie, Händler) richtet und also von Menschen spricht, ›wie sie wirklich sind‹.21 Das gilt im Prinzip auch für die Texte der Mediziner, die Sappho als Autorität zitieren. Dies ist als Hinweis zu deuten, dass der sapphische Text hinsichtlich der Schilderung der Symptome einer erotischen Pathologie als glaubwürdige Zeugenaussage gilt. Inwiefern jedoch die Poeten über die Liebeskrankheit eine andere Auffassung vertreten als die Mediziner, darüber wird noch zu sprechen sein. Bei der im Folgenden zu analysierenden Beziehung zwischen Medizin und Literatur geht es einerseits um literarische Gattungen, in denen die Poeten medizinisches Wissen verarbeiten, andererseits geht es um medizinische Traktate, die poetische Texte zitieren, weil in ihnen medizinische Ansichten vertreten werden. Auf der einen Seite lesen also Poeten medizinische Traktate, auf der andern lesen Mediziner poetische Texte. Die dabei zu erörternden Fragen sind also erstens, wie die komplexe Relation zwischen medizinischen und poetischen Texten, die über die

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Ebd., S. 98b–99a. Anthony Grafton: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance. Aus dem Amerikanischen von Jochen Bußmann. Berlin 2002, Kap. VI, bes. S. 293–298. Regoliosi: »Libri« ed »esperienza« (Anm. 15), S. 97b. Ebd., S. 99a.

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Liebeskrankheit reden, zu begreifen ist und zweitens, wie sie sich beschreiben lässt. Diese Fragen lassen sich für die Periode von 1300–1600, die hier genauer in den Blick genommen wird, anhand eines repräsentativen Textkorpus behandeln. Von medizinischer Seite bildet der Canon medicinae von Avicenna (980–1036) den Ausgangspunkt, der im 12. Jahrhundert von Gerardo da Cremona22 ins Lateinische übersetzt wird und zu den Grundlagentexten der Renaissancemedizin gehört.23 An Avicenna knüpfen nämlich eine Reihe von Autoren und Texten an, die in der medizinischen Literatur bis in die Frühe Neuzeit präsent bleiben. Es sind dies unter anderem der Philonium Pharmaceuticum von Valesco da Tharanta (1380–1418)24 und die Practica maior von Michele Savonarola (1384–1462),25 die beide aus dem 15. Jahrhundert stammen. Die mittelalterlichen practica, die Andrew Wear als »a genre of medical writing« bezeichnet, waren Bücher, die Medizinstudenten und praktizierende Ärzte in Handbuchform über Ursachen, Symptome und Behandlung von Krankheiten informierten und die auch noch im 16. Jahrhundert gedruckt wurden.26 Aus dem 16. Jahrhundert kommen ferner die Observationes medicinalium von François Valleriola (1504–1580)27 und die Observationes et Curationes

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Pierluigi Pizzamiglio: Gerardo da Cremona nella tradizione amanuense e tipografica. Cremona 1988, S. 29f. (über die Übersetzung von Avicennas Canon, die 1486 in Venedig erstmals im Druck erscheint). Avicenna Arabum Medicorum Principis Canon Medicinae. Quo Universa Medendi scientia pulcherrima, & brevi methodo planissime explicatur. […]. Ex Gerardi Cremonensis versione, & Andreae Alpagi Bellunensis castigatione. A Ioanne Costeo, & Ioanne Paulo Mongio Annotationibus iampridem illustratus. […]. Venetiis 1595. Apud Iuntas, Liber III, Fen I, Tract. IV, Cap. 24 [De ilisci]. Vgl. dazu Nancy G. Siraisi: Avicenna in Renaissance Italy. The Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500. Princeton 1987. Philonium Pharmaceuticum Et Chirurgicum, De Medendis Omnibus, cum internis, tum externis Humani Corporis Affectibus: à Valesco de Taranta, Medico Monspelli olim Clarissimo; Deinde post Guidonis DesiderI editionem, locis infinitis emendatum, varie auctum, notisque illustratum, Opera et Studio Joannis Hartmanni Beyeri, P. & M. D. Reique publicae Francofurtensis ad Moenum quondam Medici ordinarii; Nunc vero cum Praefatione Georgii Wolfg. Wedelii, Med. D. Professoris Publici & Archiatri Ducalis Saxonici, editum. Francofurti & Lipsiae. Sumtibus Joannis Adami Kästneri, Bibliop. Jenae, Typis Joannis Nisi, 1680, Lib. I (De Capitis affectibus, externis & internis), Cap. 17 (De Amore), S. 68f. Practica Maior Io. Michaelis Savonarolae Patavini Philosophia ac Medici Coeleberrimi in qua Morbos omnes, quibus singulae humani corporis partes afficiuntur, ea diligentia, & arte pertractat, eaque auxiliorum varietate & abundantia curare docet, ut ijs, qui medica artem exercent, & summe conducat, & studiosissime expetenda videatur. Venetiis apud Iuntas 1559 [De ilisci, Rubrica 14], ff. 66rb–66vb. Andrew Wear: Explorations in renaissance writings on the practice of medicine. In A. Wear, R. K. French, I. M. Lonie: The medical renaissance of the sixteenth century. Cambrigde, London et al. 1986, S. 118–145, hier S. 118f. Francisci Valleriolae Doctoris Medici Oberservationum Medicinalium lib. vj. Denuo editi, & emendatiores quam antea in lucem emissi: In quibus multorum gravissimorum morborum historiae, eorundem causae, symptomata atque eventus, tum etiam curationes

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medicinalium von Pieter van Foreest (1522–1597)28 hinzu, während die Practicae medicinae von Daniel Sennert (1572–1637)29 ins 17. Jahrhundert überleiten. In all diesen Werken sind die Krankheiten nach dem Prinzip a captu usque pedem topologisch geordnet und das Kapitel über die Liebeskrankheit befindet sich jeweils im Abschnitt über die spezifischen Krankheiten, die sich am Kopf manifestieren. Die Medizin, die auf der griechisch-islamischen Tradition beruhte, wirkte – wie Nancy G. Siraisi hingewiesen hat – in der Praxis »as a therapeutic system.«30 Dieses spiegelt sich auch in der Struktur der Texte wider, die zu einer Krankheit verfasst wurden. So ist etwa in Savonarolas Practica maior die Rubrik De ilisci (arabisch für amor hereos) nach den Kategorien der praktischen Medizin: causa, signa, prognostica und cura gegliedert, auf die ebenfalls noch zurückzukommen sein wird. Von literarischer Seite steht ein zentrales Werk der italienischen Literatur der Renaissance im Mittelpunkt der Betrachtung und zwar das epische Gedicht von Ludovico Ariosto L’Orlando Furioso (1516), das in den 1630er Jahren von Diederich von dem Werder (1584–1657) unter dem Titel Die Historia vom Rasenden Roland ins Deutsche übersetzt wurde.31 Bekanntlich erzählt dieses Epos die Geschichte, wie der adlige Ritter Roland aufgrund seiner unglücklichen Liebe für das schöne Fürstenmädchen Angelica seinen Verstand verliert und durch welche Begebenheiten er diesen zurückgewinnt und also wieder gesund wird. Dafür dass sich Ariost für die Konstruktion dieses Handlungsstrangs von Krankheitskonzepten in der practica-Literatur leiten ließ, gibt es mehr als plausible Gründe. Einer davon hängt mit dem zusammen, was man als das ›kulturelle Beziehungsnetz‹ am Fürstenhof der Estensi nennen könnte, die als Palästebauer nicht nur Architekten wie

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miro, utili & compendioso ordine describuntur. […]. M.D.LXXXVIII. Apud Antonium Candidum, Typogr. Lugdun. Lib. II. Observatio VII, S. 184–219. Domini Petri Foresti Alcmariani, Medicinae Doctoris Experientissimi, Inclytae Reipub. Delphensis Medico-Physici ordinarii, Observationum et Curationum Medicinalium ac Chirurgicarum Opera omnia: In Quibus Omnium et Singularum Affectionum corporis humani causae, signa, prognoses & curationes graphice depinguntur; cum Universali Titulorum, Observationum, Morborum, Secretorum singularium, ac Rerum memorabilium Indice locupletissimo […] Francofurti, Apud Johann. Andream & Wolffgangi Endteri Jun. Haeredes. Anno Christi MDCLX. Lib. X. Observatio XXIX [De furore ex vaesano amore], S. 351b–354a. Danielis Sennerti, Vratislaviensis, Doctoris, et Professoris Medicinae, in Academia Wittebergensi, Operum Tomus Secundus: quo continetur De Febribus, Libri IV. Necnon Practicae Liber I. II. & III. Lugduni, Sumptibus Ioannis Antonii Huguetani Filij, & Marci Antonii Ravaud. 1650. […]. Practicae Medicinae Liber Primus. Cap. X. [De amore insano], S. 388–391. Nancy G. Siraisi: Medieval & Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice. Chicago, London 1990, Chap. 5, hier S. 116. Ludovico Ariosto: Die Historia vom Rasenden Roland übersetzt von Diederich von dem Werder (Leipzig 1632 bis 1636). Hrsg. und kommentiert von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. 3 Teile. Stuttgart 2002.

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Leon Battista Alberti,32 sondern als wohlhabende Adlige auch Mediziner wie Michele Savonarola förderten. 1450 wurde Savonarola nämlich zum Leibarzt von Leonello d’Este ernannt und fand am Hof die Gunst der Fürstenfamilie.33 Das passte eigentlich ganz gut in die Kulturpolitik, welche die Este schon seit einigen Jahrzehnten betrieben. Im Jahre 1429 gelang es ihnen zum Beispiel, den berühmten humanistischen Lehrer Guarino Guarini da Verona (1374–1460) nach Ferrara zu holen, der dort eine berühmte und einflussreiche Schule für griechisch-lateinische Studien einrichtete; unter seinen Schülern befand sich auch Leonello d’Este, dem er klassisches Latein beibrachte und den er für die Buchkultur zu passionieren vermochte.34 In seiner Zeit am Hof schrieb Savonarola ein Diätbuch und widmete es seinem Mäzenen und Patienten Borso d’Este, dem Halbbruder von Leonello.35 Der in Vulgärsprache verfasste Text gehörte zum practica-Genre des regimen sanitatis und war angeblich auf die persönlichen Bedürfnisse und auf die individuelle Körperkomplexion des Fürsten zugeschnitten, obwohl einige diätetische Ratschläge dem Textwissen der auctores Avicenna und Hippokrates entstammen.36 Ebenfalls im volgare schrieb Savonarola ein gynäkologisch-pädiatrischer Traktat, den er den Ferrarenser Frauen widmete.37 Aufgrund der prominenten Stellung Savonarolas am Hof der Estensi ist davon auszugehen, dass seine practicaLiteratur auch noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts dort zirkulierte, als Ippolito d’Este der Mäzen und Förderer des Dichters Ariost war.38 Um Ariosts Darstellungsweise der Liebeskrankheit zu ergründen, ist noch ein relevanter Kontext zu bilden, der zeitlich weiter zurückliegt: Es geht um die Beziehung zwischen dem Corpus Hippocraticum und der griechischen Tragödie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. So zeigt jetzt eine neuere Studie, wie dem Euripideischen Drama das Thema Krankheit als konstitutive Struktur zu Grunde liegt und wie der narrative Ablauf der Handlung danach ausgerichtet ist, die Ursa-

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Grafton: Leon Battista Alberti (Anm. 19), Kap. VI. Tiziana Pesenti: Professori e promotori nello Studio di Padova dal 1405 al 1509. Repertorio bio-bibliografico. Padova 1984, S. 187–196 (über M. Savonarola). Anthony Grafton, Lisa Jardine: From Humanism to the Humanities. Education and the Liberal Arts in Fifteenth-and Sixteenth-Century Europe. Cambridge (Massachusetts) 1986, Kap. 1. Michele Savonarola: Libreto de tutte le cosse che se mangano; un’opera di dietetica del sec. XV [1452]. Hrsg. von Jane Nystedt. Stockholm 1989. Vgl. zu diesem Diätbuch Siraisi: Medieval & Early Renaissance Medicine (Anm. 30), S. 120–123, hier S. 121 und ausführlich zu Savonarolas regimen sanitatis-Traktaten jetzt auch Chiara Crisciani: Histories, Stories, Exempla, and Anecdotes: Michele Savonarola from Latin to Vernacular. In Gianna Pomata, Nancy G. Siraisi (Hrsg.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Cambridge (Massachusetts), London (England) 2005, S. 297–324, bes. S. 310f. Il Trattato Ginecologico-Pediatrico in Volgare. Ad mulieres Ferrarienses De regimine pregnantium et noviter natorum usque ad septennium [vor 1460]. Hrsg. von Luigi Belloni. Milano 1952. Dennis Looney: Ariosto’s Ferrara: A national Identity between Fact and Fiction. In: Comparative and General Literature 39 (1990–91), S. 25–34.

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che und vor allem eine geeignete Therapie für ein bestimmtes Leiden zu finden.39 Am Beispiel des Mythos von Orest, der nach dem Muttermord von den Furien verfolgt wird und dem Wahnsinn verfällt, wird verdeutlicht, dass die Figur der Elektra als ›Krankenschwester‹ bemüht ist, das Leiden ihres Bruders erträglicher zu machen, indem sie ihn schlafen lässt oder – nach dem wichtigen therapeutischen Prinzip der metabolé – versucht, eine plötzliche Veränderung in seinem Verhalten herbeizuführen: Orest müsse sich so verhalten, als wäre er gesund; Elektras Ratschläge schlagen aber fehl und Orest kann seiner ›Krankheit‹ nicht entrinnen.40 Liest man also die Euripides-Dramen durch die Brille der hippokratischen (rationalen) Medizin, so lassen sich Denkmuster (patterns of thinking) ermitteln, mit denen in der griechischen Kultur Schmerz, Leiden und Krankheit angegangen und bewältigt wurden.41 Wichtig ist dabei, dass selbst wenn Tragiker auf mögliche rationale Erklärungen von Krankheiten zurückgreifen, es nicht heißt, dass sie nicht auch archaische und religiöse zeitgenössische Vorstellungen über Krankheit in ihren Darstellungsweisen des Themas aufnehmen.42 Genau dies scheint nun generell bei den Krankheitsgeschichten der Poeten der Fall zu sein, wie wir bei Ariost sehen werden. Dieser liest übrigens die Orest-Geschichte ebenfalls als Krankengeschichte. Wie eine Anspielung auf den Orest-Mythos im Orlando Furioso belegt, spricht Ariost nämlich von Filandro/Orest als einem Kranken, den der psychische Schmerz an das Bett gebunden hielt.43 Dies deutet darauf hin, dass ihm die ›medizinische‹ Lesart dieses Dramas geläufig war und dass diese vermutlich auch die gemeinhin akzeptierte Lesart war. Gestützt wird dies durch die von Guarino initiierten Studien der griechischen Kultur in Ferrara, die am Ende des 15. Jahrhunderts noch nachwirkten: 1410 war Guarino mit einer Reihe von Manuskripten aus Konstantinopel

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Jennifer Clarke Kosak: Heroic Measures. Hippocratic Medicine in the Making of Euripidean Tragedy. Leiden 2004, bes. S. 11–13 u. S. 131–135. Ebd., S. 135–141. Ebd., S. 11. Ebd., S. 8. OF, XXI, 57: »Non fu [sc. Filandro, SDeA] da indi in qua rider mai visto:/ tutte le sue parole erano meste,/ sempre sospir gli uscian dal petto tristo; et era divenuto un nuovo Oreste, poi che la madre uccise e il sacro Egisto, e che l’ultrice Furie ebbe moleste./ E senza mai cessar, tanto l’afflisse/ questo dolor, ch’infermo al letto il fisse.« Zitiert nach: Ludovico Ariosto: Orlando furioso. Hrsg. von Lanfranco Caretti. 2 Bde. Torino 1992, hier Bd. 1, S. 626. Die entsprechende Stelle in Werders Übersetzung lautet: »Von dem an hat man ihn nie wieder sehen lachen/ Nichts hat mehr in der Welt ihn fröhlich können machen. Aus seiner Brust er stets viel seufftzen gehen ließ/ Und dem Oreste sich nicht ungleich auch erwies/ Als Vatter Mutter er hat durch den todt gefellet/ Und von der rächerin der Hellen ward gequelet/ Also wird’ auch gequelt Filandro von der Plag’ Ohn unterlas/ biß das er Kranck zu Bette lag« (XXI, 55; Ausg. Aurnhammer/Martin (Anm. 31), 3. Teil, S. 657). Im Folgenden werden mit der Sigle OF (= Orlando Furioso) plus römische und arabische Zahl der Gesang und die Oktave des italienischen Originaltextes angegeben; die entsprechenden Stellen in der Werderschen Ariost-Übersetzung werden einzig mit römischer (= Gesang) und arabischer (= Oktave) Zahl bezeichnet. Die Zählung ist nicht identisch, weil Werder Textstellen zusammengefasst oder ausgelassen hat.

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zurückgekehrt, unter denen sich vermutlich auch Euripides- und Sophokles-Stücke befanden.44 Ganz grundsätzlich war um 1500 das geistige Klima in Norditalien von der Renaissance des griechischen Wissens geprägt: Im Rahmen des venezianischen Humanismus wurden die Stücke der antiken Tragiker durch Guarinos Schüler Aldo Manuzio gedruckt.45 Dieser nahm bald auch die großen Editionsprojekte der griechischen Werke der Mediziner Hippokrates und Galen in Angriff und brachte sie in den 1520er Jahren zu Ende.46 Es gibt also im Corpus Hippocraticum – vornehmlich im 1. und 3. der Epidemienbücher – eine Form von Geschichten spezifischer Krankheiten, die ›Fallgeschichten‹ sind und also die Krankengeschichte von Individuen erzählen.47 Owsei Temkin hat bemerkt, dass die hippokratische Kasuistik als ein Dokument für ihre Wichtigkeit »literarische Gestalt gewinnen mußte«.48 Und Mirko D. Grmek betont in seiner Analyse einer solchen Fallgeschichte, dass Hippokrates die ganze individuelle Geschichte des Patienten, die chronologische Abfolge der pathologischen Phänomene und jede klinische Veränderung auf den Tag genau verfolgt.49 Damit erscheint plausibel, dass sich die hippokratischen Krankengeschichten auch für die Gestaltung von Mythen in literarischen Gattungen eigneten. So ist es kein Zufall, dass das Paradebeispiel für die Diagnose der Liebeskrankheit ebenfalls als Erzählung überliefert ist: Antiochos, der Sohn des Königs Seleukos entbrennt in Liebe für seine Stiefmutter Stratonike. Überliefert ist diese Erzählung, die auch als Erasistratos-Geschichte bekannt ist, von Valerius Maximus im ersten nachchristlichen

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Robert Garland: Surviving Greek Tragedy. London 2004, 95–113, hier S. 100; vgl. auch Henri Omont: Les mss. grecs de Guarino et la Bibliothèque de Ferrara. In: Revue des Bibliothèques 2 (1892), S. 78–81, hier S. 79f. Zitiert nach: Garland: Surviving Greek Tragedy, (ebd.), S. 199: »Ex libris Battista Guarino of Verona, dated 1460, s.v. ›Index librorum graecorum manu descriptorum qui in Bibliotheca Bapt. Guarini Veronensis reperti sunt et nunc Ferrariae adservantur‹«. Garland: Surviving Greek Tragedy, (Anm. 44), S. 105–110: Der erste Band der editio princeps der Euripideischen Tragödien war im Februar 1503 in der Aldinischen Presse erschienen. Euripides’ Medea, Hippolytus, Alcestis und Andromache wurden in dieser Reihenfolge bereits 1495 in Florenz bei Janus Lascaris erstmals gedruckt; Elektra wurde erst 1546 im Druck veröffentlicht. Im Zuge der erst später im Cinquecento einsetzenden Aristoteles’ Poetik-Rezeption wurde Euripides’ Orest dann unter den Tragödienbeispielen erwähnt, so etwa bei Francesco Robortello: In librum Aristotelis De Arte Poetica Explicationes. […], Florentiae 1548, S. 312 (zitiert nach dem ND München 1968). Vivian Nutton: Greek Science in the sixteenth-century Renaissance. In: J. V. Field, F. A. J. L. James (Hrsg.): Renaissance and Revolution. Humanists, scholars, craftsmen and natural philosophers in early modern Europe. Cambridge 1993, S. 15–28. Clarke Kosak: Heroic Measures (Anm. 39), S. 97. Vgl. hierzu auch Mirko D. Grmek: Les maladies à l’aube de la civilisation occidentale. Recherches sur la réalité pathologique dans le monde grec préhistorique, archaique et classique. Paris 1983, Chap. XI, S. 409– 436. Owsei Temkin: Studien zum »Sinn«-Begriff in der Medizin. In: Kyklos. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin an der Unversität Leipzig, Bd. II (1929), S. 21–105, hier, S. 43–47, Zitat S. 43. Grmek: Les maladies à l’aube de la civilisation occidentale (Anm. 47), S. 422.

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Jahrhundert. Ihr zufolge gelingt es dem Arzt Erasistratos, durch die Methode der Messung der Pulsvariation die Liebeskrankheit zu diagnostizieren. Der Erzählstoff war im Mittelalter bekannt und erlangte durch die ganze Frühe Neuzeit hindurch große Popularität:50 noch Daniel Sennert bezieht sich in seinen Praxisbüchern unter der Sektion signa diagnostica des Kapitels De amore insano darauf.51 Die Rezeption dieser Erzählung hört aber nicht mit ihm auf, sondern zeigt, dass der Übergang dieses Stoffes von dem medizinischen Text auf die bildende Kunst und von dieser zurück auf den literarischen Text bis ans Ende des 18. Jahrhunderts eigentlich fließend war: So benutzte auch Goethe – vermittelt durch eine Bildbeschreibung Winckelmanns52 – das »bekannte Bild des kranken Königssohns« als strukturbildendes Motiv der Handlung seines Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre.53 Die

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Vgl. zur Überlieferungsgeschichte Giedke: Die Liebeskrankheit (Anm. 2), S. 12–15, aber auch Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries. Philadelphia 1990, S. 15–18. Practicae Medicinae (Anm. 29), S. 390: »Qui melancholici sunt ex amore, vultum saepe mutant, & nunc hilaritatem, nunc tristitiam prae se ferunt; & in primis si amici, vel amicae mentio fiat, vel is, autea visui obiiciatur, non solum in vultu, sed & in pulsu mutatio deprehenditur; quo modo Galenus, de praecogn. ad Posthum. c. 6. mulierum quandam ex amore aegram esse deprehendit, & ab Erasistrato, Medico, Antiochium, Seleuci Regis filium, Stratonicae novercae amore aegrotare deprehensum esse, refert Valer. Maximus, lib. 5. c. 7. Ideoque si Medicus tale quid de aegro suspicetur, neque is ob verecundiam animi affectum prodere velit, Medicus tangat pulsum, & curet, ut amicae, vel amici mentio fiat, vel de eo nuncium, aut epistola afferatur: aut is, vel ea ex improviso aegrotanti offeratur. Tum enim ad mentionem, vel adspectum eius non solum faciei color, sed & pulsus mutabitur. Pulsus equidem amantibus nullus proprius est, & peculiaris; sed turbatus saltem, ut neque naturalem aequalitatem, neque ordinem servet.« Johann Joachim Winckelmann: Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1756]. In: Ders.: Kleine Schriften Vorreden Entwürfe. Hrsg. von Walther Rehm, eingel. v. Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. 80–82. Winckelmann beschreibt das Bild von Gérard de Lairesse: König Seleukos übergibt dem Sohn Antiochos die Königsherrschaft und seine zweite Gemahlin Stratonike, ca. 1673; Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Vgl. hierzu Helmut Pfotenhauer: Winckelmann und Heinse. Die Typen der Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte. In: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 313–355, bes. S. 319f. u. S. 333, der zwar auf Goethe und Winckelmann, nicht aber auf die Rezeption des antiken Erzählstoffes in den frühneuzeitlichen medizinischen Texten eingeht. Vgl. etwa I, 17, VIII, 2 u. 10: »›Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort, der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt? Wie heißt die Schöne, die hereintritt und in ihren sittsamen Schelmenaugen Gift und Gegengift zugleich führt? Wie heißt der Pfuscher von Arzt, dem erst in diesem Augenblicke ein Licht aufgeht, der das erste Mal in seinem Leben Gelegenheit findet, ein vernünftiges Rezept zu verordnen, eine Arznei zu reichen, die aus dem Grunde kuriert, und die ebenso wohlschmeckend als heilsam ist?« Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger-Ausgabe. Bd. 7 Romane und Novellen II. München 1998, Zitate S. 513 u. S. 606. Rezeption und Verwendung des Motivs des Liebeskranken in anderen literarischen Texten und Gattungen des 17. und 18. Ja-

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Mediziner des 17. Jahrhunderts bezogen sich hingegen zunehmend auch auf aktuelle praktische Fälle: Anders als Sennert schilderte etwa Pieter van Foreest, der Stadtarzt von Delft, nicht den allgemeinen Fall, wie es in der practica-Literatur üblich war, sondern schrieb eine Reihe von medizinischen Observationen, die sich auf der Ebene des Individualfalles abspielten.54 So erzählt der ›holländische Hippokrates‹55 von einem Fall von Liebeskrankheit bei einem Jüngling aus Delft, den er selbst behandelt hat.56 Es ist somit festzuhalten, dass seit dem Corpus Hippocraticum die Krankheitsanalysen der Mediziner narrative Strukturen ausbilden, die in Texten dargestellt und vermittelt werden und die es erlauben, Krankheitsanalysen als Erzählungen zu lesen. Auf die narrativen Strukturen der Krankheitsgeschichten rekurrieren seit der Antike auch die Poeten, die Mythen behandeln und diese in literarischen Gattungen darstellen. Mythen werden bekanntlich auch in Epen erzählt, auf welche die narrativen Schreibweisen der Mediziner ebenfalls übertragen werden konnten. Somit ist davon auszugehen, dass Ariost im Horizont der ›medikalen Kultur‹57 seiner Zeit, die sich besonders in dem Genre der practica-Literatur ausdrückt, die narrative Struktur in Texten über die Liebeskrankheit dem Stoff des Orlando Furioso zugrundegelegt hat. Mehr noch: Es ist – wenn man die Krankheitsanalysen der Mediziner als Erzählungen liest – auch möglich, die Beziehung zwischen der Erzählung der Mediziner und dem Eros-Mythos, den die Poeten erzählen, etwas genauer zu analysieren.

II. Wichtige strukturelle Zusammenhänge zwischen dem Amor-Mythos, dem Ariostschen Epos und der practica-Literatur hat Massimo Peri aufgezeigt,58 dessen

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hrhunderts wie etwa im Opernlibretto (Händel, Mozart) müssten im Horizont dieser Ausführungen in einer eigenen Studie untersucht werden; vgl. Georg Friedrich Händel: Orlando, Opera in 3 acts (1733), Les Arts Florissants, William Christie. CD 0630-14636-2. Paris 1996; Wolfgang Amadeus Mozart: La finta giardiniera, dramma giocoso in tre atti, K 196, livret intégral de Giuseppe Petrosellini (?); nouv. trad. française de Claudio Mancini; commentaire littéraire et musicale de Jean-Victor Hocquard. Ital.-Franz. Paralleltext. Paris 2000. Für den Hinweis auf die Opernlibretti danke ich Katharina Suske. Wear: Exploration in renaissance writings (Anm. 26), S. 125. Ebd. Observationum et Curationum Medicinalium (Anm. 28), S. 351f.: »At alius iuvenis Delfensis ex amore quoque insanus factus, in Lecto ligatus decumbebat, ac in parte orientali neglectus misere iacebat, ad quem post sex septimanas cum ita insania iam tabe quasi consumtus esset, accitus fui. […].« Volker Roelcke: Medikale Kultur: Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung eines kulturwissenschaftlichen Konzepts in der Medizingeschichte. In: Norbert Paul, Thomas Schlich (Hrsg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt/M., New York 1998, S. 45–67. Peri: Malato d’amore (Anm. 12), S. 100–120.

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Ergebnisse wir den folgenden Überlegungen zu Grunde legen. Gleichzeitig geht es auf der Basis des oben erörterten humanistischen Zitierverfahrens jetzt darum, das Verhältnis zwischen narrativen Strukturen und medizinischen Schreibweisen präziser zu beschreiben. Ariost organisiert den Handlungsstrang über die Liebeskrankheit Orlandos nach dem berühmten Mythos des Liebesgottes Amor, der den Liebenden befällt und diesem seinen Willen aufzwingt. Es handelt sich also um einen literarischen Topos, der auf einem narrativen Schema basiert, welches sich mithilfe des Begriffs der ›Funktion‹ beschreiben lässt. In dem Schema des Furioso können fünf Funktionen unterschieden werden: 1. den Befall: Amor verletzt den Liebenden und pflanzt diesem die geliebte Person bzw. die Vorstellung von ihr ins Gehirn; 2. die passiven Reaktionen des Liebenden: Orlando verliert den Verstand und das Selbstgefühl: »Ich bin/ ich bin nicht der/ derselb’ auch nicht sein werde/ Der / der Orlando war / ist todt/ und unter Erde. Sein’ undanckbare Dam’ hat ihm umbs Leben bracht/ Sie hat durch Untrew’ ihm den schwersten Krieg gemacht« (XXIII, 208);59 3. die aktive Resistenz des Liebenden: der Liebende versucht die Krankheit zu kurieren und zwar durch eine Reihe von allopathischen Therapien, wie zum Beispiel die physische Abwesenheit oder die Beschäftigung mit anderen Dingen oder Menschen: »Die lang’ Abwesenheit/ und fremdes Land zu sehen/ Mit andern Weibern auch vielfältig umzugehen/ Das scheinet/ als wann es die Lieb’/ und was sich find/ An Leid und Trawrigkeit in uns/ vertreiben künnt« (XXVII, 46);60 4. die Hegemonie Amors: Der Liebesgott herrscht im Herzen des Liebenden und bewirkt dessen Seufzer: »Die Seufftzen die mein’ Angst und Qual genug bezeugen/ […]« (XXIII, 207)61 und schliesslich 5. die Kapitulation des Liebenden, der die eigene Ohnmacht erkennt und sich der Macht Amors ergibt: Bei Orlando führt dies zu regelrechten Wahnsinnszuständen bzw. -ausbrüchen, in denen er nächtelang in Wäldern herumirrt, Teile seiner Rittermontur auszieht und um sich wirft, seine Kleider in Stücke zerfetzt und alte Bäume ausreißt. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Funktionen 1.–3. des narrativen Schemas, also die Funktionen des Befalls, der passiven Reaktionen und der aktiven Resistenz des Liebenden den Sektionen causa, signa und cura in der medizinischen practicaLiteratur entsprechen. Zieht man als Vergleich etwa die Practica maior des Paduaner Arztes Michele Savonarola heran, der das gesamte medizinische Wissen zum Thema Liebeskrankheit seit Avicenna knapp zusammenfasst, so stellt man fest, dass Ariost praktisch mit demselben sprachlichen Material arbeitet: So spricht Savonarola unter causa von einer kontinuierlichen Aktivität der Einbildungskraft und des Denkvermögens, die sich auf ein begehrtes Objekt bezieht, oder – unter cura – von der Therapie der sexuellen Ablenkung mit mehreren Geliebten und der Reisen in ferne Länder; dabei zitiert Savonarola immer wieder Verse aus Ovids Lehrgedicht De remedio amoris, in dem sich der Dichter der Ars amandi jetzt als

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OF XXIII 128: »Non son, non sono io quel che paio in viso:/ quel ch’era Orlando è morto et è sotterra; la sua donna ingratissima l’ha ucciso: sì mancando di fé, gli ha fatto guerra.« OF, XXVIII, 47: »La lunga absenzia, il veder vari luoghi,/ praticare altre femine di fuore, par che sovente disacerbi e sfoghi de l’amorose passïoni il core.« OF, XXIII, 127: »Questi ch’indizio fan del mio tormento, sospir non sono, né i sospir son tali. […].«

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Rezepte verschreibender Hausarzt gibt.62 Gerade das Beispiel der sexuellen Ablenkungstherapie zeigt außerdem, wie komplex die Zitat- und Textstruktur ist, auf dem es basiert. Dabei laufen antike, islamische und okzidental-mittelalterliche Texttraditionen zusammen: Die Practica maior zitiert nämlich als Autorität den griechischen Mediziner Ruphos von Ephesos (1. Jh.n.Chr.) aus dem Text Viaticus [peregrinorum], der gesagt habe, der Beischlaf (coitus) helfe denjenigen, die unter der schwarzen Galle oder mania leiden, unter Säften also, die auch bei den Liebeskranken überschüssig vorhanden seien, und zwar auch wenn der coitus mit einer anderen als der geliebten Person stattfinde.63 Savonarola zitiert also eigentlich aus dem Liber de heros morbos, das um 1100 vermutlich von dem Schüler des Constantinus Africanus (11. Jh. n. Chr.) Johannes Afflacius aus dem Arabischen übersetzt wurde. Es handelt sich dabei um eine Übersetzung aus dem Kapitel über die leidenschaftliche Liebe (cishq) aus dem Handbuch Zad al-musafir des nordafrikanischen Mediziners Ibn-al-Jazzar (ca. 878–980), das kurz vor 1087 durch Constantinus Africanus, einem Mönch aus Monte Cassino, als Viaticum ganz übersetzt wurde; Constantinus’ medizinische Übersetzungen halfen die erste Phase dessen zu initiieren, was man die Renaissance des 12. Jahrhunderts nennt.64 Die hiermit explizierte Textreihe bildet auch für diejenigen Verse des Furioso den Wissenshintergrund, die oben unter der Resistenzfunktion des Liebenden (3.) zitiert wurden. Will man ferner die alternativen, voneinander differierenden Stimmen in medizinischen und poetischen Texten begreifen, so sind die unterschiedlichen Krankheitskonzeptionen bei Medizinern und Poeten zu berücksichtigen. Schon der Rückgriff der Poeten auf den Mythos von Amor oder Cupido, der ikonographisch stets als Pfeilschütze dargestellt ist, verweist auf die ontologische Konzeption von Krankheit, wie sie einem primitiven Stadium des Denkens über Krankheiten eigen war. In der primitiv-archaischen Konzeption ist die Krankheit nämlich kein natür-

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Practica Maior (Anm. 25), ff. 66va–66vb: »Coniuncta aut est nimia & continua operatio virtutis imaginativae & cogitativae circa desiderium rei comprehensae. […]. Quartus elongatio à patria. Quintus inductio ad amorem aliarum. […]. Quartus completur per varias & longinquas regiones ducendo in quibus varia & diversa videat à quibus distrahatur. Unde Ovidius. Vade per urbanae splendida castra troiae. Pyridas inveniens & rerum mille colores. Quintus. Unde Ovidius. Hortor & ut pariter binas habeatis amicas. Fortius & plures siquis habere potest.« Vgl. P. Ovidius Naso: Heilmittel gegen die Liebe. Übertragung, Einführung und Anmerkungen von Josef Eberle. Zürich, Stuttgart 1959, S. 9 u. S. 30: »Andrerseits rate ich, zwei Geliebte zugleich sich zu halten,/ oder besser noch mehr, wenn man es kann und vermag.« Ebd.: »Et in Viatico autoritate Rufi. Coitus inquit valere videtur quibus cholera nigra, & mania dominantur.« Savonarola kürzt das Zitat ab, das in dem ›Liber de heros morbo‹ so lautet: »Unde quidam Rufus dixisse perhibetur: Coitus, inquit, est iuvativus quibus colera nigra vel mania dominantur, per quem sensus revocantur et superfluitates heroicorum similiter adiuvantur, etiam si cum alia re quam non dilexerint coniungantur.« Vgl. die moderne Edition dieses Textes von Mary Frances Wack: The ›Liber de heros morbo‹ of Johannes Afflacius and Its Implications for Medieval Love Conventions. In: Speculum, 62/2 (1987), S. 324–344, Text und englische Übersetzung S. 327–329, Zitat S. 327. Wack: The Liber de hereos (Anm. 63), S. 325.

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liches Phänomen, das dem Organismus inhärent ist, sondern dringt als äußeres Agens in diesen hinein.65 Wie auch die Ikonographie des Liebesgottes zeigt, ist es sein Pfeil, der die Liebeskrankheit verursacht. Spuren dieser Konzeptualisierung haben sich auch im modernen Sprachgebrauch, zum Beispiel im semantischen Feld der Wörter ›Intoxikation‹, ›toxisch‹ erhalten, wobei das Wort ›toxisch‹ vom griechischen Terminus toxikÕn abstammt, der das Pfeilgift bezeichnet.66 Wie wir u.a. aus den historischen Studien zum Krankheitskonzept von Mirko D. Grmek wissen, ist es die hippokratische Medizin, die mit den religiös-magischen und sakralen Deutungen von Krankheit bricht, indem sie den regelhaften (und daher prognostizierbaren) Charakter von Krankheitsphänomenen entdeckt und die Aufmerksamkeit von den übernatürlichen Faktoren auf die Geschichte des erkrankten Individuums verlagert.67 Für Hippokrates, so Grmek, »ist die Krankheit nicht ein Wesen, sondern ein Prozess.«68 Die magische Konzeption von Krankheit verschwindet dennoch nicht einfach so, sondern findet sich in der griechischen Tragödie und generell in der Literatur wieder. So ist die literarische Personifikation Amors, der den Liebenden mit Pfeilen beschießt und erkranken lässt, zwar eine rhetorische Figur, deren Charakter als poetischer Ornat aber weniger oberflächlich erscheint, wenn man sie vor dem Hintergrund des langandauernden Antagonismus zwischen dem Konzept der Personifikation der Krankheit, das im Ursprung existiert, und der Entpersonifizierung des Krankheitskonzepts durch die ›rationale‹ oder humoralpathologische Medizin liest.69 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Poeten gegenüber dem psychologischen und medizinischen Denken indifferent bleiben, im Gegenteil: Sie leiten von der ›rationalen‹ Medizin eine Reihe von interpretativen Modellen ab, wie zum Beispiel die humorale Theorie, die pneumatisch-ventrikuläre Theorie und die Verbrennungstheorie: Seit Arnau da Villanovas Systematisierung des medizinischen Wissens über die Liebeskrankheit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wissen die Poeten genauer Bescheid, welche psychophysischen Prozesse dem mental disorder des Liebeskranken zugrundeliegen. In Villanovas Tractatus de amore heroico (ca. 1265–80) wird die Liebeskrankheit nämlich von einer Störung der facultas aestimativa abhängig gemacht und zwar nicht des Vermögens selbst, sondern des zweiten Hirnventrikels, in dem es operiert.70 Die Störung ergibt sich

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Mirko D. Grmek: Le concept de maladie. In: M. D. Grmek (Hrsg.): Histoire de la pensée médicale en occident. Bd. 1 Antiquité et Moyen Age. Paris 1993, S. 211–226, hier S. 213. Ebd. Grmek: Les maladies à l’aube de la civilisation occidentale (Anm. 47), S. 422; ders.: Le concept de maladie (Anm. 65), S. 219 u. S. 222. Vgl. auch Fridolf Kundlien: Early Greek Primitive Medicine. In: Clio Medica, 3 (1968), S. 305–336. Grmek: Les maladies à l’aube de la civilisation occidentale (Anm. 47), S. 422: »[…] la maladie n’est pas un être mais un processus.« Vgl. auch Grmek: Le concept de maladie (Anm. 65), S. 214 und S. 217–219. Tractatus Arnaldi de Villanova de amore heroico: »Causa vero propter quam estimativa virtus in opere vel iudicio suo claudicat sic et errat necessario sumenda videtur ex parte instrumentorum quibus dicta virtus perficit actiones, medie scilicet concavitatis cerebri et spiritum receptorum in ea. Virtutes namque non senescunt nec vitium in operibus patiuntur sui ratione sed organi, […].« Zitiert nach: Arnaldi de Villanova Opera medica omnia,

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durch eine Erhöhung der Körperwärme, die von der Vorstellung des begehrten Objekts ausgelöst wird und durch eine Erhitzung des im Herzen produzierten vitalen Spiritus ensteht.71 Sobald die warmen Spiritus den Sitz der facultas aestimativa erreichen, trocknen sie den Ventrikel aus, was zu einer Disfunktion des Urteilsvermögens führt.72 Wird also das Begehren nicht befriedigt oder der Liebeskranke nicht rechtzeitig kuriert, kann sich der Krankheitsverlauf verschlimmern und zu Melancholie und Wahnsinn führen.73 Erklärt wird dieses Phänomen aufgrund der Beziehung zwischen dem kogitativen und dem imaginativen Vermögen: weil der Sitz des imaginativen Vermögens im ersten Ventrikel ebenfalls austrocknet und weil das Verbleiben der imaginierten Bilder in ihm proportional zum Trockenheitsgrad ist, so stellt die imaginatio dem kogitativen Vermögen ständig dasselbe Bild vor, auch wenn das begehrte Objekt längst nicht mehr wahrgenommen wird;74 folglich beherrscht dieses Bild obsessiv – gleichsam als idea fixa – den Verstand des Liebenden und seine Urteilsfähigkeit ist im Ganzen beeinträchtigt. Wie man sich die Lokalisierung der Vermögen in den Ventrikeln oder zerebralen cellulae vorgestellt hat, zeigt eine Zeichnung (s. Abb. 1), neben der der Satz steht Ista est anathomia capitis pro medicos und die sich im Anhang einer lateinischen Übersetzung von einem Text von Avicenna befindet.75 Im Wesentlichen argumentieren die Mediziner unisono nach dem hier abgebildeten interpretativen Modell:76

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Bd. 3. Hrsg. von Michael R. McVaugh. Barcelona 1985, S. 49. Die Voraussetzungen der Theorie Villanovas liegen in der Wahrnehmungstheorie im Rahmen der Ventrikellehre seit Galen und in der Lokalisierung der Seelenvermögen; vgl. dazu die luzide Darstellung bei Peri: Malato d’amore (Anm. 12), S. 29–32. Vgl. auch Joseph Ziegler: Medicine and Religion c. 1300. The case of Arnau de Villanova. Oxford 1998. De amore heroico (Anm. 70), S. 49f.: »Cum enim anime gratum seu delectabile presentatur, ex gaudio delectabilis apprehensi spiritus in corde multiplicati subito calefiunt, et calefacti subito […] delegantur ad membra corporis universa.« Ebd., S. 50: »Cum sint igitur calidi vel quasi ferventes, ad organum estimative virtutis adveniunt copiose, quod organum (quia siccum et inde exacuens, aut etiam calidum) nequit illorum caliditatem reprimere; tunc quasi motu mixtionis turbate volvuntur, quapropter confundunt virtuale iudicium; et velut ebrii tales iudicant cum fallacia et errore.« Ebd., S. 53: »Nisi huic furie celeriter obvietur melancholiam parit in posterum et ut sepe contingit properat in maniam et quod gravius est quamplurimum languent, inde mortis periculum incurrentes.« Ebd., S. 50: »Cum itaque firma retentio formarum in multis quibuslibet nequaquam effici valeat sine sicco, necessario sequitur cerebellarem partem imaginative virtutis aliqualiter exsiccari. Hoc vero ex pretactis sic ostenditur: cum et fortis et frequens sit transitus calidorum spiritum ad cellam estimative fluentium ad iudicium celebrandum, pars anterior in qua virtus imaginativa residet propter humidi / consumptionem a calore spirituum derelicta remanet necessario siccior seu minus humida quam fuerit per naturam. Hac igitur introducta qualitatem sequitur – maxime si aliqua frigiditas coniungatur – quod forma imaginationis in organo firmius retinetur necnon multa sollicitudo validius excitatur.« Vgl. La Fabbrica del Pensiero. Dall’Arte della Memoria alle Neuroscienze. Milano 1989, Abbildung S. 84. So z.B. Savonarola: Practica Maior (Anm. 25), f. 66va: »Coniuncta aut est nimia & continua operatio virtutis imaginativae & cogitativae circa desiderium rei comprehensae. Et modus generationis est quia apprehenso obiecto a virtute imaginativa primo per sensum

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Abb. 1: Ista est anathomia capitis pro medicos

–––––––— exteriorem sibi deportato secundum plurimum tanquam multum delectabili, deinde virtus extimativa inducit ipsum esse appetendum & ultra qq conveniat, & in hoc corrumpitur iudicium, unde philocapti super omnem rem amasiam appetunt omnia alia spernentes, & existimantes suam felicitatem esse si habere possent, & sic de his quae talia sine usu rationis appetunt. Extimativa quae est virtus altior imperat deinde imaginativae, & imaginativae concupiscibili, & concupiscibilis irascibili, & irascibilis motivae lacertorum, & sic totum corpus movetur spreto ordine rationis es discutit de nocte & die vagando, spernendo frigus, calores, pericula, & huiusmodi stans in continua cogitatione, & concupiscentia ad rem desideratam, ita pp si cum his fit sermo stant ut non audientes, neque videntes. Et quia hae virtutes continue operantur hinc spiritus resolvuntur, & organa infrigidantur & exsiccantur, & sic ad naturam melancholicam convertuntur & maxime ventriculus medius, & anterior, sic itaque fit sollicitudo melancholica«; vgl. auch Valesco: Philonium Pharmaceuticum (Anm. 24), S. 68: »Amor, Graece ερος, est affectus, quo amantes prosequuntur mulierem: cujus causa est corruptio virtutis, imaginativae falsa repraesentantis rationali facultati« sowie Foreest: Observationum et Curationum Medicinalium (Anm. 28), S. 352: »Vel caussa huius mali est figura in mente concepta, & corrupta imaginatio per amorem inducta, unde nimia sollicitudo saepe humorem melancholicum adurit, vel intemperiem siccam absque humore inducit, maciem, & tandem insaniam.«

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Zu fragen ist dennoch, warum die Poeten die medizinische Ätiologie der Liebeskrankheit nicht befolgen und die vom Modell beschriebenen psychophysischen Vorgänge nicht auf eine natürliche Ursache zurückführen. Die Antwort könnte auch trivial erscheinen: weil die Poeten der Überzeugung sind, dass die Liebeskrankheit eigentlich anders verursacht wird. Wenn also Ariost den psychisch qualvollen Zustand des Liebeskranken darstellt, der sich durch Seufzer manifestiert, so gibt er den Flügelschlag Amors, der einen Wind in das Herz des Liebenden bläst, als verursachenden Faktor an. Das ist nicht etwa die Rhetorisierung eines medizinischen Konzepts, sondern eher die Deutung eines Phänomens: Der Poet sagt uns, dass die Erhöhung der Körpertemperatur durch das Eindringen eines äußeren Faktors entfacht wird. Dabei muss es sich um ein unnatürliches Phänomen handeln, um ein Wunder, wie Ariost sagt, weil Amor durch sein unerschöpfliches Windwerk das Herz des Liebenden zwar kontinuierlich erhitzt, es aber nie verbrennen lässt. Und so sind denn auch die Seufzer keine natürlichen, weil diese auch mal innehalten, der Leidende aber keine Erleichterung verspürt: Die Seufftzen die mein’ Angst und Qual genug bezeugen/ Nicht Seufftzen seyn/ weil sich nicht Seufftzen so ereugen. Die Seufftzen halten ja bißweilen inn’ und still’/ Und von viel hauchzen ich doch kein’ erleuchtrung fühl’. Allein vom Gott der Lieb’ in mir der Wind entstehet/ Der sein Fewr in mir/ an/ mit seinen Flügeln/ wehet In meinem Hertzen er sein Wunderwerck vermehrt/ Er helt im Fewr es/ und es doch nicht verzehrt.77

Das von Ariost entworfene Bild bliebe unverständlich, wüssten wir nichts von der archaischen Konzeption der Krankheit, welche die Poeten vertreten. Wenn wir also medizinische und literarische Texte als Erzählungen lesen, in denen zwei unterschiedliche Ansichten über die Krankheit aufbewahrt sind, dann lässt sich auch erklären, weshalb die divergierenden Meinungen nicht so sehr bei der Darstellung der Symptome, also bei den Schilderungen der Leidenschaft, zum Vorschein kommen. Braungart hat festgestellt, dass in der literarischen Tradition »ein eher geringeres Interesse an der Darstellung von Mitteln zur Heilung« der Liebeskrankheit besteht.78 Die literarische Darstellung der Symptome impliziert per se kein ätiologisches Kriterium, sie diagnostiziert also nicht die natürliche (oder unnatürliche) Krankheitsursache. Anders sieht es bei der Darstellung der Therapie aus, weil diese die Ätiologie und damit eine Krankheitskonzeption voraussetzt. Die Divergenz zwischen Medizinern und Poeten macht sich somit besonders auf dem Feld der Therapie bemerkbar. Dabei ist bei der Erzählung der Poeten das Augenmerk speziell auf die narrative Funktion der Resistenz zu richten, die – wie oben gezeigt wurde – der Sektion der cura bei den Medizinern entspricht und die sich für die Poeten eigentlich als unmöglich erweist.

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XXIII, 207; OF, XXIII, 127: »Questi ch’indizio fan del mio tormento,/ sospir non sono, né i sospir son tali./ Quelli han triegua talora; io mai non sento/ che ’petto mio men dura la sua pena esali./ Amor ch m’arde il cor, fa questo vento,/ mentre dibatte intorno al fuoco l’ali./ Amor, con che miracolo lo fai,/ che ’n fuoco il tenghi, e nol consumi mai?« Braungart: De Remedio Amoris (Anm. 5), S. 17–19, Zitat S. 18.

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Denn während die Mediziner auf die allopathische Therapie setzen, werden die Poeten nicht müde, zu wiederholen, dass das allopathische Prinzip unwirksam bleibt und sogar kontraproduktiv ist, wie bei Orlando: »Je mehr er Ruhe meint zu geben seinem Hertzen/ Je mehr find er für sich Müh’/ Arbeit/ Quall und Schmertzen« (XXIII, 197).79 Somit ist für die Poeten die einzig mögliche Therapie nicht die allopathische (contraria contrariis), sondern die homöopathische (similia similibus), wonach nur wer verletzt, also Amor selbst, zugleich auch heilen kann.80 Das hat Konsequenzen für die narrative Literatur: Denn hält sie sich rigoros an die ontologische Krankheitskonzeption, identifizieren sich die Befall- und die Hegemonie-Funktion, während die Resistenz-Funktion – im Extremfall – gänzlich verschwindet: Der Kranke kann also durch Liebe sterben oder durch sie wieder gesund werden, er kann ihr nicht widerstehen. Das ist im Wesentlichen die Ansicht der Poeten. Aber wie organisieren die Mediziner ihren Text? Wie bauen sie die Ansichten der Poeten ein und welche Ansichten und Autoren sind das? Aufgrund der humanistischen Zitiertechnik kann die Konstruktion der Argumentation verfolgt und der epistemische Status des Zitats weiter präzisiert werden. In ihrer Darstellung der Liebeskrankheit greifen mitunter auch die Mediziner auf den Amor-Mythos zurück, wie zum Beispiel François Valleriola belegt, der in seinem Text ausführlich über die Entstehung der zwei genera von Liebe – der himmlischen und der irdischen – gemäß Platons Symposion berichtet.81 Um die pathologischen Fälle von irdischer Liebe zu erläutern, zitieren die Mediziner ihrerseits nach wie vor die auctores der Antike. So erwähnt Valleriola, der von der Beschreibung eines Individualfalls ausgeht, was dem epikuräischen Philosophen Lukrez widerfahren sei, der sich, in Liebe entflammt und wahnsinnig geworden, selbst umgebracht habe und erzählt ferner ausführlich die ErasistratosGeschichte, indem er Antiochos ausdrücklich als Zeugnisgeber (testimonium) für die körperlichen Effekte des amor vesanus (u.a. die Magerkeit) anführt.82 Vallerio-

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OF, XXIII, 17: »Quanto più cerca trovar quïete,/ tanto ritrova più travaglio e pena;/ […].« Ovid: Über die Heilmittel gegen die Liebe (Anm. 62), rem. 44, S. 34: »Dort ist zu Haus der lethäische, Herzen heilende Amor:/ die er entzündet, die Glut, löscht er mit eisigem Stahl.« Diese Auffassung findet sich noch bei Goethe; vgl. oben Anm. 53. Observationum medicinalium (Anm. 27), S. 190f.: »Ergo duo amorum genera Plato facit: […]. Necessarium itaque amorem veneris illius comitem coelestem vocari, huius vero vulgarem. […]. Illa divinitatis fulgorem in se primum complectitur, deinde exceptum fulgorem hunc, in venerem secundam iam in materia operantem traducit. Haec fulgoris illius scintillas ac seminaria quaedam in materiam mundi transfundit, unde singula mundi corpora pro captu naturae suae pulchra speciosaque videntur. Horum speciem corporum humanus animus per oculos percipit, & ad amandum quae speciosa videantur allicitur.« Observationum medicinalium (Anm. 27), L. II, Observatio VII. Observationis explanatio, S. 194: »Quod Lucretio Philosopho Epicureo accidisse legimus. Is enim amore flagrans, menteque emotus, in insaniam lapsus, manus sibi iniecit. […]. Nec solum in animum impetum facit amor, verum & in corpus saepenumero tyrannidem exercet: vigiliis, curis, macie, dolore, tabitudine, & mille aliis affectibus lethalem noxam inferentibus, corpus vexans. Testimonio esse potest Antiochus Seleuci Regis filius, qui quum Stratonices novercae vesano amore corriperetur, […].«

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la erklärt aber die Entstehung von Magerkeit (macies) und Blässe (pallor) am Liebeskranken auch nach der antiken physiologischen Theorie: Es geht um Disfunktionen des Ernährungs- und Verdauungs- bzw. Verbrennungsprozesses: Stoffe gelangen unverarbeitet in die Leber, wodurch wenig Blut entsteht, das, einmal in die Venen gelangt, nicht geeignet ist, den Körper zu ernähren und daher die blasse und magere Erscheinung verursacht.83 Dieses Phänomen habe auch der Poet Ovid beobachtet und besungen. Dabei erfolgt der Anschluss an eine Reihe von Versen aus dessen De arte amandi über die Korrespondenz der Wörter pallor, macies und dolor, die der Mediziner ebenfalls benutzt.84 Der Dichter Vergil wird zitiert, wenn es darum geht, den Raserei-Affekt an der an Liebesschmerz erkrankten Dido (»wie eine von einem Pfeil durchbohrte Hirschkuh«) zu veranschaulichen;85 Terenz, wenn der/die Liebeskranke den Verstand verliert86 und Lukrez, wenn durch eine erhöhte Herzaktivität das hochverfeinerte Blut die Begierde nach dem Körper der/s Geliebten erzeugt.87

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Ebd., S. 195: »Nam qui perdite amant, nec re amata potiri queunt, hi macilenti & pallidi fiunt. Quippe ad duo simul perficienda opera vis naturae ferme deficit. Animi amantis intentio in assidua amati cogitatione tota se versat, illic tota ferme vis corporis intenta est: quo sit ut neque concoctio recte procedat, neque reliqua naturae munia quae circa alimoniam facultatem naturalium ope fiunt, recte perficiantur. Unde efficitur, ut & superflua coctionis defectu redundent, & cruda in iecur trahantur: quamobrem & sanguinem paucum crudumque inde gigni consequens est, qui per venas diffusus, nec alendo corpori aptus, pallorem maciemque creat.« Ebd.: »Quod animadvertens lepidissimi Poeta, sic de ea re cecinit:/ Palleat omnis amans, color hic est aptus amanti/ Hoc decet, hoc multi non valuisse putant./ Et paulo post, Arguat & macies vultum. Et rursum, Attenuant iuvenum vigilatae corpora noctes,/ Curaque, & immenso qui fit amore dolor« [Ovid. libr. I. de arte amandi]. Ebd., S. 200: »Hoc lepido carmine summus poetarum Virg. Ad hunc modum expressit: At regina gravi iamdudum saucia cura,/ Vulnus alit venis, & caeco carpitur igni. Et paulo post, fascinationis ab amore modum explicans, subiuxit: Uritur infoelix Dido, totaque vagatur/ Urbe furens, qualis coniecta cerva sagitta, […].« Ebd., S. 200f.: »Fascinationis in amore modum lepidissime divinus Vates expressisse videtur, dum vulnus ali venis, & caeco igne, hoc est ardenti rei amatae desiderio urgeri amantis animum censet, dum furentem tota urbe vagari fingit. quid enim aliud id est, quam mentem amore insano illaqueatam in furorem agi? qui perdite amant, insanite dicantur? Unde est illud Terentij in Eunucho, Dij boni quid hoc morbi est? Adeon homines immutari ex amore, ut non cognoscas eundem esse? […].« Ebd., S. 201f.: »Quia calidus, vehementer agit & movet (est enim caliditas omnium actuosissima, auctoribus Aristotele atque Galeno) quamobrem vehementer agens, sanguinem inficit simili tabe qua ipse infectus est, hoc est insano quodam fruendi ardore ac desiderio. Quod Lucretius scite admodum libro de rerum natura quarto explicasse est visus, inquiens: Hinc illa primum veneris dulcedinis in cor/ Stillavit gutta, & successit fervida cura./ Nam si abest quod ames, presto simulachra tamen/ Illius, & nomen dulce obversatur ad aureis. (sunt Qua vero spiritalis ille vapor a sanguine elaboratissimo genitus, & dulcis quoque ipse est, sangunis unde manavit naturam referens: ea sane ratione sit ut viscera quodammodo pascat, foveat, atque oblectet. Quo fit, ut amantium desiderium atque cupiditas inde mira excitetur, quum amans amatae appetat corpus, ut commixtione illabi in venas alterutrius in alterum spiritus ille dulcis queat.«

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Was also den symptomatischen Aspekt der Liebeskrankheit angeht – im Wesentlichen die Generierung von Affektwirkungen, die beobachtbar und beschreibbar sind, – werden Poeten als Autoritäten zitiert, deren Aussagen einen bestimmten Sachverhalt vor Augen führen und beweisen88 und zwar im antiken rhetorischen Sinne der untechnischen Beweismittel (probatio inartificialis); das sind Argumente, die auf vorgegebenen Tatsachen beruhen, wie etwa Dokumente, Zeugenaussagen etc.89 Nicht umsonst werden nämlich Dido und Lukrez auf der einen Seite und die Lehrgedichte Vergils und Ovids auf der anderen als Zeugnisgeber (testes) betrachtet,90 deren Beweiskraft auf derselben Ebene steht wie ein medizinischer Text Galens.91 Bei der Beurteilung des Autoritätsarguments ist die Annahme also, der Zeugnisgeber habe seine Überzeugungen aufgrund von kunstgemäßen Argumenten (probationes artificiales) gebildet, die entweder induktiv, durch Beispiele, oder deduktiv, durch Schlussfolgerungen, gewonnen wurden.92 Valleriolas Bezeichnung des Vergil als divinus vates oder des Ovid als poeta doctus ist somit auch vor diesem epistemischen Hintergrund zu verstehen. Die poetischen Beispiele in medizinischen Texten ließen sich beliebig erweitern. Was hingegen den therapeutischen Aspekt der Liebeskrankheit angeht, da sieht die Sache etwas anders aus. Hier nehmen die Zitate der Poeten deutlich ab, wenn sie (mit der Ausnahme von Ovid) nicht gänzlich verschwinden. So verhält es sich zumindest bei Savonarola, Valleriola, van Foreest und Sennert. Daraus ist zu schließen, dass die Poeten davon ausgehen, dass die Liebeskrankheit nicht heilbar ist und dass sie dies in ihren Texten darstellen. Daher sprechen sie (wenn überhaupt) über den Misserfolg, nicht aber über den Erfolg von Therapien, wie das die Mediziner tun. Vermutlich gibt es kaum literarische Erzählungen, in denen ein Liebeskranker durch die Intervention eines Arztes zur Genesung gelangt, wenn man von Ariosts Lösung absieht, von der gleich zu sprechen sein wird. Bei den Medizinern verhält es sich anders, denn sie glauben (im Gegensatz zu den Poeten) an die Therapierbarkeit der Liebeskrankheit. Valleriola zum Beispiel rekapituliert die Vorzüge der Ablenkungs- bzw. Vergnügungstherapie in Gesellschaft anderer und verbindet das mit der Erzählung eines Individualfalles, um den er sich persönlich gekümmert habe: in räumlicher Distanz und von Tag zu Tag, so

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Ebd., S. 204: »Nec dissimili modo (ut tandem ad amoris mirabiles effectus redeamus) hominis amore vulnerati sanguinem festinare in ferientem & parem in eo generare affectum, credi iure potest: quod & Lucretius superioribus versibus indicavit, & res ipsa demonstrat, & comprobant classici auctores.« Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart, Weimar 1994, S. 234 u. 265. Observationum medicinalium (Anm. 27), S. 207: »unde amantibus huiusmodi infortunium plerumque accidit, infoelixque exitus: qualem Didoni, Phyllidi, Lucretio evenisse, Vergilij & Ovidij carmine testatum habemus.« Ebd.: »Amorem vero quo insanire homines contingit, sanguinis esse perturbationem quandam (quod ultimo loco dicendum nobis est) illud indicat, quod aestus huiusmodi continuus est, & alterna requie caret, nec interimissionem omnino habet ullam: quod affectib. In sanguine positis peculiare esse solet, ut Galen lib. ix. meth. med. exactissime demonstravit.« Ueding, Steinbrink: Grundriß der Rhetorik (wie Anm. 89), S. 234.

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Valleriola, schien der Liebeskranke schließlich mehr von seiner Liebe zu vergessen.93 Der Arzt geht dann aber ausführlich auf die medikamentöse Behandlung der Liebeskrankheit ein, die dann zum Zug kommt, wenn sowohl die Persuasions- als auch die Ablenkungstherapie scheitern: So helfe etwa die Einnahme von Milch und der Schlaf dem besseren Ablauf der Verbrennungs- und Ernährungsfunktionen. Ganz ähnlich gestaltet sich der Argumentationsablauf bei Savonarola, van Foreest und Sennert, der neben der medikamentösen und dietätischen auch noch eine Getränktherapie (ex philtris) verschreibt, in der er sein ganzes chemiatrisches Wissen ausbreitet.94 Die Mediziner sprechen also über die Liebeskrankheit, weil sie davon ausgehen, dass eine medizinische Therapie, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, erfolgreich sein kann. Liebeskranke seien auch wirklich schwierig zu behandeln, wenn sie sich nicht auf eine medizinische Kur einlassen wollen, schreibt Pieter van Foreest.95 Für ihn ist der amor vesanus nicht zu unterschätzen und auch nicht nachlässig zu behandeln.96 Foreest schildert Krankheitsfälle, die mit dem Wahnsinn (insania) und dem späteren Tod der Erkrankten endeten, weshalb er vor allem den Zeitfaktor, also die möglichst frühe Intervention des akademisch gebildeten Arztes im Krankheitsprozess hervorhebt.97 Davon überzeugt war auch Robert Burton

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Ebd., S. 210: »Itaque in pagum amoenissimum ad sex octove inde miliaria distantem deduci hominem iussi una cum affinibus, gratis amicis atque iuvenculis consanguineis: in moram trahens in dies oblivisci magis amorum videbatur.« Practicae medicinae (Anm. 29), S. 391: »Curatio. […] Hinc commendantur haec medicamenta: […] Trochiscor. De camphora, menth. siccae, an. Drach. i. sem. agni casti Drach. ß. Cum syrup. Nymphaeae. F. Pilulae. […]. Diaeta. […]: Hoc genus Daemoniorum non eiicitur, nisi precatione & ieiuniis. Videantur de hoc affectu etiam Langius, lib. I. Epist. 24. Valesc. De Taranta, lib. I. c.11. Forest, lib. 10. observ. 29. & 30. Inprimis vero erudite & prolixe de insania ex amore tractat Fr. Valleriola, observ. lib. 2. observ. 7. qui ibi videatur. Cura furoris ex philtris. […]. A sumto vomitorio statim provocandus sudor cum aqu. acetosae, cardui benedict. Angelicae, betonic. Praeservativâ aliquâ, aqu. Mithridatica, theriacali, spir. theriacali, spir. Tartari compos. Andernaci, terra sigillata; quibus admisceri possunt elixir propriet. Mater perlarum praeparata, vel eius magisterium, succinum album praeparatum. [4]. Aq. acetos. card. ben. an. Unc. i. terrae sigill. Siles. Scr. i. matr. perl. praepar. succini albi praepar. an. Scr. ß. lap. bezoar. gr. ii. mixtur. simpl. Scr. ß. aq. theriacalis Drach. i. syr. acetos. citri Unc. ß. M. pro Haustu. Vel [4]. Aq. plantag. cardui bened. an. Unc. iß. theriacal. Drach. ii. terrae sigill. Scr. j. C. C. praeparati gr. xv. sal. absinth. Scr. ß. extr. gentianae gr. iiii spir. […] gr. vii. syr. de succo acetosae Drach. iii. Misce pro Haustu, quae dosis per aliquot dies mane vacuo ventriculo repetenda, donec sudor largus consequatur, & alleviationem aliquam percipiat aeger. […].« Observationum et Curationum Medicinalium (Anm. 28), S. 352: »Unde recte dicebat Ovidius lib. 1. De remediis amoris, Otia si tollas, periere Cupidinis arcus. Amantes quoque difficile curantur, cum illi nullam curam sibi adhiberi volunt.« Ebd.: »Huius itaque tam magni & poenitendi affectus, haud levis facilisque curatio exsistit: ideo non negligenter tractandus aeger, qui hominem in externum discrimen coniicit.« Ebd., S. 351b: »At alia puella, quae multis annis in Nosocomio Divi Grego. (in quo tales vincti custodiebantur) misere carceri inclusa iacebat, ob amorem insana facta, multis

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(1577–1640), der im Kapitel »Cure of Love Melancholy, by Labour, Diet, Physike, Fasting, &c.« seines berühmten Werkes The Anatomy of Melancholy (1621) auf die Therapien und Observationen u.a. von Avicenna, Savonarola und Valleriola hinweist.98 Sennert ist wohl einer der ersten Mediziner, der die Unheilbarkeitsthese der Poeten zu relativieren bzw. zu entschärfen versucht. Er neutralisiert die Ansicht der Poeten, ohne sie ganz zu zerstören: Er macht ihnen zwar Konzessionen, lehnt dennoch deren Therapieskepsis dezidiert ab. Dafür verwendet er ein argumentatives Muster, das er im Text wie folgt darstellt: In den gewählten Konzessivsatz flicht er Ovids klassischer Topos ein, der die paradoxe Befindlichkeit des liebenden Subjekts ausdrückt: nämlich zwischen dem Bewusstsein, das sich eine vernünftige Norm setzt, und dem Trieb, der ihr widerspricht, zerrissen zu sein.99 So kämen zwar die meisten Liebenden durch den blinden Liebestrieb in verschiedener Hinsicht vom gesunden Menschenverstand ab, nicht immer würden sie aber den Gebrauch des gesunden Verstandes verlieren, sondern seien in der Lage, psychotherapeutische Ratschläge zu befolgen; vorausgesetzt, sie strengten sich an, dem Liebesaffekt zu widerstehen und dessen verursachende Faktoren zu meiden.100 Somit schwenkt Sennert das Ruder zwar wieder auf die Seite der ›rationalen‹ Medizin. Dennoch bleibt die Ansicht der Poeten als alternative, ja sogar antagonistische Stimme in seinem Text bestehen. Das ist kaum erstaunlich, wenn man den epistemischen Status, der ihr zukommt, bedenkt: Weil nämlich die Mediziner die argumentative Beweiskraft der Ansichten der Poeten kennen, dürften diese den Medizinern so vorkommen, als bedrohten sie die Konzeption der rationalen Medizin und unterminierten deren zentrale Annahme der Heilbarkeit, auf die ein Mediziner offensichtlich nicht zu verzichten bereit ist.

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quoque annis, supervixit, donec vetula moreretur. Misera horum conditio, si tempori non occurratur.« Robert Burton: The Anatomy of Melancholy. Bd. 3. Hrsg. von Thomas C. Faulkner, Nicholas K. Kiessling, Rhonda L. Blair. Oxford 1994, Part. 3. Sect. 2. Memb. 5. Subsec. 1, S. 201: »Although it be controverted by some, whether Love Melancholy may be cured, because it is so irresistable and violent a passion, for as you know, –– facilis descensus Averni,/Sed revocare gradum, superasque evadere ad auras,/ Hic labor, hoc opus est. –– […]. Yet without question, if it be taken in time, it may be helped, and by many good remedies amended. […].« Vgl. auch Jacques Ferrand: Traité de l’essence et guérison de l’amour ou de la mélancolie érotique (1610). Hrsg. von Gérard Jacquin, Éric Foulon. Paris 2001, Kap. XXVI (Rémedes chirurgiques et pharmaceutiques pour la guérison de l’amour et de la mélancolie érotique). met., 7.20: video meliora, probentque, deteriora sequor (»Ich sehe das Bessere, und nehme es auch an, dennoch wähle ich das Schlechtere«; meine Übers.). Practicae medicinae (Anm. 29), S. 388: »Etsi enim verum sit Poetae illud. Crede mihi, stulto nemo in amore sapit. & plerique amantes coeco amoris impetu in diversum à recta ratione abripiantur, & videant meliora, probentque, deteriora sequantur: tamen non semper rectae rationis usum amittunt, sed amicorum, imo mentis, & conscientiae ad meliora hortantis monita sequi possunt, si validius paulo affectui huic reluctentur, & resistant, & caussas, ac occasiones huius mali vitent. Interdum tamen affectus hic tam vehemens est, ut, praecipue si diu duret, hominem ratione quasi spoliet, & fere delirium efficiat.«

Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos

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III. Der Schlussteil meiner Ausführungen gilt der Darstellung, wie Ariost in der Orlando-Geschichte den Erfolg der medizinischen Therapie inszeniert und gleichzeitig ad absurdum führt. Im Nachhinein stellt es Ariost also so dar, als sei Orlando ganz nach dem Prinzip der Allopathie zur Genesung gelangt, indem sich seine Liebe für Angelica in Verachtung umwandelte: »Zum früheren Seinszustand zurückgekehrt,/ Orlando mehr denn je weise und viril/ fand sich von Liebe zusätzlich befreit;/ indem diejenige, die ihm so schön und edel vorkam/ und die er so geliebt,/ nicht mehr schätzt ausser als niederträchtiges Objekt.«101 Bereits Ovid hatte in den Remedia amoris in ähnlicher Weise auf die Wirksamkeit der Therapie der Mängelaufzählung hingewiesen: »Klug ist’s, die Mängel der Freundin sich ständig vor Augen zu halten, mir hat das Mittel schon oft heilsame Dienste getan.«102 Die Voraussetzung für die Genesung Orlandos war jedoch bekanntlich der Flug von dessen Vetter Astolfo auf den Mond gewesen, wo er Orlandos Verstand in flüssiger Form in einem Gläschen auffindet und auf die Erde zurückbringt.103 Als es Astolfo und anderen mit Mühe schließlich gelingt, den nackten Orlando an einen Baum zu fesseln, hält er diesem das Gläschen unter das Nasenloch, woraufhin der schnaufende und schnaubende Orlando seinen Verstand regelrecht wieder in sich hineinsaugt.104 Welches Fazit lässt sich also aus einer solchen Krankengeschichte ziehen? Die Therapie führt zwar zum Ziel, sie wird aber begleitet von einer Pointe, durch die das ganze Geschehen in einen übergeordneten Sinnzusammenhang gestellt wird: Die Therapie wird nämlich einzig durch ein Ereignis möglich gemacht, das übernatürlich und (auch für das Verständnis der empirischen Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts) nicht wahrscheinlich ist, so dass dessen Realisierung an ein ›Wunder‹ grenzt. Astolfo fliegt nämlich vom Berg des irdischen Paradieses aus auf den Mond, gezogen von einem Gespann mit vier Schlachtpferden, das vom Evangelisten Johannes gelenkt wird. Die Genesung Orlandos gelingt also nur, weil sie – wie sich herausstellt – Teil eines providentiellen Plans ist und also einer Ursache höheren Ordnung entspringt. Gott hat nämlich Orlando wahnsinnig werden lassen als Strafe dafür, dass er sich von der Liebe einer Heidin, der schönen Sarazenin Angelica, hat blenden lassen, anstatt das christliche Heer zum Sieg zu führen.105 Außerdem hat Ariost die Mond-Episode nach einer Textvorlage von Leon Battista Alberti, den Intercenales, modelliert, aus der er teilweise wörtlich übersetzt.106 Nach

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OF, XXXIX, 61: »Poi che fu all’esser primo ritornato/ Orlando più che mai saggio e virile, d’amor si trovò insieme liberato; sì che colei, che sì bella e gentile/ gli parve dianzi, e ch’aveva tanto amato,/ non stima più se non per cosa vile.« Da von dem Werders Übersetzung nur bis zum XXX. Gesang des Furioso reicht, stammt hier die dt. Übersetzung von mir. Heilmittel gegen die Liebe (Anm. 62), S. 26. OF, XXXIV, 67–87. OF, XXXIX, 57. OF, XXXIV, 65. Cesare Segre: Leon Battista Alberti e Ludovico Ariosto. In: Ders.: Esperienze ariostesche. Pisa 1966, S. 85–95.

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dem, was wir über die Karriere Albertis am Hof von Ferrara wissen,107 mag dies eigentlich wenig erstaunen. Es sieht also so aus, als habe Ariost im Furioso die albertinische Schilderung der Traumwelt (die auch Reminiszensen an Lukian weckt) auf den Mond übertragen und mit dem medizinischen Wissen aus der practica-Literatur kombiniert, um die ›rationalen‹ therapeutischen Maßnahmen der Mediziner zu parodieren. Der Mond, der im geographisch-kosmologischen und astronomischen Verständnis der Zeit in Erdnähe imaginiert wird, gestaltet sich bei Ariost als eine andere Welt und als Spiegel der Erde zugleich,108 auf dem sich (genauso wie in Albertis Imagination) alle Dinge versammeln, die auf der Erde verloren gehen.109 Die Parodie spielt sich im semantischen Feld der Wörter ›medicina‹ und ›saggio‹ ab, die Ariost narrativisch aufeinander bezieht: Wie der Evangelist Johannes Astolfo erklärt, befindet sich nämlich die Medizin, die Orlandos Verstand restituiert, auf dem Mond.110 Dabei steht ›Medizin‹ (umgangssprachlich auch noch heute) metaphorisch für ›Medikament‹, das man einem Kranken verabreicht, um ihn wieder gesund werden zu lassen. Und Orlandos Verstand (senno) ist ja auch nicht zufällig »wie eine subtile und weiche Flüssigkeit«, die auch verdunsten kann, wäre sie nicht in einer gut verschlossenen Ampulle aufbewahrt.111 Die Anspielung auf die medikamentöse Therapie der Mediziner scheint mir evident, wenn man nur an Sennerts Getränkpräparate gegen die Raserei der Liebeskranken zurückdenkt. Und Orlando nimmt seinen ›Verstand‹ ja auch wie ein Medikament ein (auch wenn dabei etwas Gewalt ausgeübt wird). Was mit einem derart groteskkomischen Szenario verulkt wird, das ist die medizinische Rationalität, deren Scheitern dekretiert wird, so wie auch die Ohnmacht der menschlichen Argumente demonstriert wird (insofern bleibt Ariost in der Tradition der Poeten). Indem er gänzlich die Sprache der Poeten annimmt, distanziert sich nämlich Ariost im Proömium zum 35. Gesang des Furioso ironisch von der Mond-Episode: Wer denn für ihn zum Himmel steigen werde und ihm seinen verlorenen Verstand wiederbringe, fragt der Dichter seine madonna, von deren Augen der Pfeil losgegangen sei, der sein Herz durchbohrte. Dennoch bezweifle er, dass ihm dasselbe

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Grafton: Leon Battista Alberti (Anm. 19). Gennaro Savarese: Lo spazio dell’«impostura»: Il Furioso e la luna. In: Ders.: Il Furioso e la Cultura del Rinascimento. Roma 1984, S. 71–89, hier S. 81 und S. 88f. Vgl. auch Lina Bolzoni: Note su Bruno e Ariosto. In: Physis, 38 (2001), S. 41–65. OF, XXXIV, 73: »Non stette il duca [sc. Astolfo] a ricercare il tutto;/ che là non era asceso a quello effetto./ Da l’apostolo santo fu condutto/ in un vallon fra due montagne istretto,/ ove mirabilmente era ridutto/ ciò che si perde o per nostro difetto,/ o per colpa di tempo o di Fortuna: ciò che si perde qui, là si raguna.« Vgl. zum Text ›Somnium‹ aus dem satirischen Werk Leon Battista Albertis Intercenales, aus dem Ariost die Idee der ›verlorenen Dinge‹ entlehnt, auch Roberto Cardini: Alberti e i libri. In: Ders. (Hrsg.): Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista (Anm. 15), S. 21–35, hier S. 33. OF, XXXIV, 67: »Nel cerchio de la luna a menar t’aggio,/ che nei pianeti a noi più prossima erra,/ perché la medicina che può saggio/ rendere Orlando, là dentro si serra.« OF, XXXIV, 83: »Era [sc. Orlandos Verstand] come un liquor suttile e molle,/ atto a esalar, se non si tien ben chiuso;/ e si vedea raccolto in varie ampolle,/ qual più, qual men capace, atte a quell’uso.«

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Schicksal drohe wie das, welches er bei Orlando beschrieben habe.112 Um seinen Verstand wieder zu bekommen, sei es nicht nötig, den Mondkreis oder das irdische Paradies zu besteigen, weil er nicht glaube, dass sein Verstand eine so hohe Stätte bewohne.113 Denn: »Auf Ihren schönen Augen und auf Ihrem heiteren Gesicht,/ auf der alabasterweissen Brust,/ irrt er [sc. der Verstand] umher; und ich werde ihn mit diesen Lippen einfangen,/ wenn Ihr wollt, dass ich ihn wiederhabe.«114 Das ist nichts anderes als das Argument der homöopathischen Therapie der Poeten, die Ariost ebenfalls befürwortet: Die Genesung vom Liebeswahnsinn ist – mit anderen Worten – nur durch die Befriedigung des Verlangens gegeben, so dass der Körper der Frau das eigentlich wahre Paradies ist, das der Liebende zu besteigen wünscht; Ariost transformiert also die ganze Mond-Episode in eine erotischgalante Rede an seine Dame,115 die gerade auch bei den deutschen Barockdichtern Schule machen wird. Aus der übergeordneten Erzählperspektive des Epos bleibt die Reise auf den Mond dennoch notwendig, denn vom Gelingen des göttlichen Plans hängt nämlich auch die Begründung des Geschlechts des Fürstenhauses der Este in Ferrara ab, für die der Poet Ariost letztlich schreibt.116

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OF, XXXV, 1: »Chi salirà per me, madonna, in cielo/ a riportarne il mio perduto ingegno?/ che, poi ch’uscì da bei vostri occhi il telo/ che ’l cor mi fisse, ognior perdendo vegno./ Né di tanta iattura mi querelo./ pur che non cresca, ma stia a questo segno;/ ch’io dubito, se più si va sciemando,/ di venir tal, qual ho descritto Orlando.« In den AriostKommentaren wird die vom Dichter angesprochene Dame als Alessandra Benucci identifiziert. OF, XXXV, 2: »Per rïaver l’ingegno mio m’è aviso/ che non bisogna che per l’aria io poggi/ nel cerchio de la luna o in paradiso;/ che ’l mio non credo che tanto alto alloggi.« Ebd.: »Ne’ bei vostri occhi e nel sereno viso,/ nel sen d’avorio e alabastrini poggi/ se ne va errando; et io con queste labbia lo corrò, se vi par ch’io lo rïabbia« (meine dt. Übers.). Vgl. hierzu auch Bolzoni: Note su Bruno e Ariosto (Anm. 108), S. 55, die aber den medizinisch-therapeutischen Bezug in Ariosts Rede nicht sieht. In ihren Epen begründen Ariost und Tasso den Ursprungsmythos des Hauses der Este, deren Genealogie im Quattrocento von Boiardos Onkel Tito Vespasiano Strozzi sogar bis zu den Troianern zurückgeführt wird; vgl. Roberto Bizzocchi: Tra Ferrara e Firenze: Culture genealogico-nobiliari a confronto. In: Massimiliano Rossi, Fiorella Gioffredi Superbi (Hrsg.): L’arme e gli amori. Ariosto, Tasso and Guarini in Late Renaissance Florence. (Acts of an International Conference, Florence, Villa I Tatti, June 27–29, 2001). 2 Bde., Bd. I, Firenze 2004, S. 3–15, hier S. 4 u. S.11f.

Johann Anselm Steiger

Theologia medicinalis und apotheca spiritualis Zur Intertextualität von medizinischen und theologischen Schreibweisen bei Luther und im Luthertum der Barockzeit

Befasst man sich mit ›medizinischen Schreibweisen‹ und untersucht in diesem Kontext Luthers Theologie und deren unmittelbare Wirkungsgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert, so begegnet man rasch einer Vielzahl von literarischen Gattungen, in denen geistlich-medizinische Argumentationen und Topoi vorkommen. In diesem weiten Gattungsspektrum geraten nicht nur genuin akademische Schriften ins Blickfeld (wie etwa Vorlesungen oder Disputationen), sondern v.a. auch solches Schrifttum, das sich an eine breitere Öffentlichkeit wendet: Predigten, Meditationsund Hausväterliteratur, geistliche Gesänge und Kräuterbücher. Aber auch anderen Medien ist die Topik der medicina spiritualis eingeschrieben, so dem Andachtsbild, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Dass die Rekurrenz geistlichmedizinischer Motive in solchen literarischen Gattungen, die applikative Ziele verfolgen, also eine Umsetzung theologischer Gelehrsamkeit auf den einschlägigen Praxisfeldern (etwa der Predigt oder der Meditationsliteratur) anstreben, weitaus größer ist als in Schriften, die sich an ein vornehmlich akademisches Publikum wenden, hat unzweifelhaft mit dem Umstand zu tun, dass der Gegenstand, um den es geht, selbst applikativer Natur ist. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass die geistlich-medizinische Topik bei Luther und seinen Erben auffällig häufig in solchen Schreibweisen begegnet, die die mündliche Rede zur Voraussetzung haben, allen voran in der Predigt – ist sie es doch, die neben den Sakramenten (Taufe und Abendmahl) nach reformatorischer Auffassung als medicamentum spirituale genau das leistet, worauf auch jegliches ärztliches Tun aus sein muss, nämlich die Bewahrung oder Wiederherstellung von Gesundheit durch präventive oder heilende Maßnahmen.

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medicina corporalis et spiritualis

Auffällig oft vergleicht Luther1 die Sündenvergebung und heilvermittelnde Tätigkeit Christi mit derjenigen eines Arztes. Hiermit schreibt Luther die bis in das

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Die Weimarer Ausgabe der Werke Luthers wird im folgenden unter Verwendung des Siglums WA zitiert (WA = Schriften, WA.TR = Tischreden, WA.B = Briefwechsel). Die von Otto Clemen besorgte Auswahlausgabe, sog. ›Bonner Ausgabe‹ (Werke in Auswahl. Hrsg. von Otto Clemen, 8 Bde. Berlin 1950), wird BoA, die Studienausgabe (hrsg. von Hans-Ulrich Delius, 6 Bde., Berlin 1979–1999) wird StA abgekürzt. Eine ausführlichere Darlegung der in vorliegendem Aufsatz behandelten Thematik findet sich in: Johann An-

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frühe Christentum zurückreichende Tradition des Christus-medicus-Topos fort,2 die sich mitunter ikonographisch in der Sarkophag-Skulptur niederschlug3 und zudem in der patristischen Theologie, nicht zuletzt in derjenigen Augustins und Gregors des Großen, eine prominente Rolle spielte.4 Als einen medizinisch-theologischen locus classicus bei Luther wird man dessen Auslegung von Röm 4,7f. ansehen dürfen, in der er die Relation Christi zum peccator mit dem Verhältnis zwischen Arzt und Krankem vergleicht. Ein Kranker, dem der Arzt verspricht, dass er ihn heilen wird, ist – so Luther – nicht mehr nur krank, sondern krank und geheilt zugleich – »egrotus in rei veritate, sed sanus ex

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selm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte: Wilhelm Sarcerius, Der Hellische Trawer Geist (1568) – Simon Musäus, Nützlicher Bericht [...] wider den Melancholischen Teuffel (1569) – Valerius Herberger, Leichenpredigt auf Flaminius Gasto (1618) (= Studies in the History of Christian Traditions 104), Leiden u.a. 2005. Vgl. zum Christus-medicus-Motiv: Adolf Harnack: Medicinisches aus der ältesten Kirchengeschichte (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 8,4), Leipzig 1892, S. 37–152; Hermann Josef Frings: Medizin und Arzt bei den griechischen Kirchenvätern bis Chrysostomos, Phil. Diss. Bonn 1959; Heinrich Schipperges: Zur Tradition des ›Christus Medicus‹ im frühen Christentum. In: Arzt und Christ 11 (1965), S. 12–19; Gerhard Müller: Arzt, Kranker und Krankheit bei Ambrosius von Mailand (334–397). In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 51 (1967), S. 193–216; Gerhard Fichtner: Christus als Arzt. Ursprünge und Wirkungen eines Motivs. In: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 1–18; Martin Honecker: Christus medicus. In: Kerygma und Dogma 31 (1984/85), S. 307–323; Jörg Hübner: Christus medicus. Ein Symbol des Erlösungsgeschehens und ein Modell ärztlichen Handelns. In: Kerygma und Dogma 31 (1985), S. 324–335; Michael Plathow: Christus als Arzt. Zu Luthers integrierendem Verständnis von Diakonie und Seelsorge. In: Ders.: Freiheit und Verantwortung. Aufsätze zu Martin Luther im heutigen Kontext. Erlangen 1996, S. 105–117; Fritz Krafft: Christus ruft in die Himmelsapotheke. Die Verbildlichung des Heilandsrufs durch Christus als Apotheker. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung im Museum Altomünster (29. November 2002 bis 26. Januar 2003) (= Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 81). Stuttgart 2002, S. 15–24 (mit weiterer Literatur). Vgl. David Knipp: ›Christus medicus‹ in der frühchristlichen Sarkophagskulptur. Ikonographische Studien zur Sepulkralkunst des späten vierten Jahrhunderts (= Supplements to Vigiliae Christianae 37). Leiden u.a. 1998; vgl. zudem Elfriede Grabner: ›Ein Arzt hat dreierlei Gesicht ...‹. Zur Entstehung, Darstellung und Verbreitung des Bildgedankens ›Christus coelestis medicus‹. In: Materia Medica Nordmark 24 (1972), S. 297–317. Vgl. Augustin: Enarratio in Ps 130,7. In: Ders.: Opera, Pars X, 3 (= Corpus Christianorum Series Latina 40). Turnhout 1956, S. 1903,19f.: »Dominus Iesus Christus, medicus et saluator noster [...].« Vgl. Petrus Cornelis Josephus Eijkenboom: Het Christus-Medicusmotief in de preken van Sint Augustinus. Assen 1960; sowie Rudolf Schneider: Was hat uns Augustins ›theologia medicinalis‹ heute zu sagen? In: Kerygma und Dogma 3 (1957), S. 307–315; vgl. Gregor d. Gr.: Homiliae in Evangelia. Evangelienhomilien, Teilbd. 2, übers. und eingeleitet von Michael Fiedrowicz (= Fontes Christiani 28/2). Freiburg i.B. u.a. 1998, Homilia 32 (zu Lk 9,23–27), S. 594: »Sed coelestis medicus singulis quibusque vitiis obviantia adhibet medicamenta«.

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certa promissione medici«.5 Entscheidend hierbei ist, dass der Kranke der Verheißung (promissio) des Arztes Glauben schenkt, sich also gegen den Augenschein im Lichte der Verheißung als einen bereits Geheilten betrachtet, obgleich der empirische Augenschein dagegen spricht. Die promissio des Arztes aber besteht darin, dass dieser – ebenfalls kontrafaktisch – dem Kranken seine Krankheit nicht zurechnet, jedenfalls nicht als Krankheit zum Tode (»nec imputavit ei egritudinem ad mortem [vgl. Joh 11,4]«6). So handelt auch Christus, der den Sündenkranken dadurch therapiert, dass er ihm das peccatum nicht zurechnet, ihm vielmehr die fremde Gerechtigkeit imputiert, so dass der geistliche Patient zwar weiterhin Sünder ist (und dies ganz), zugleich aber von Gott aufgrund der reputatio als ein Gerechter angesehen wird. »Nunquid ergo perfecte iustus? Non, sed simul peccator et iustus; peccator re vera, sed iustus ex reputatione et promissione Dei certa.«7 Doch nicht nur in akademischen Vorlesungen, sondern im Kontext sämtlicher von ihm gepflegten Schreibweisen, insbesondere in Predigten, seelsorglich motivierten Gelegenheitsschriften sowie in den Tischreden operiert Luther mit medizinischer Begrifflichkeit, um das Proprium des göttlichen Heilshandelns zu veranschaulichen. Darum bezeichnet Luther den Sohn Gottes häufig als ›medicus‹.8 Christus ist Heiland (salvator), ein Arzt, jedoch ein solcher, der im Unterschied zu menschlichen Ärzten nicht allein leibliche Gebrechen heilt, sondern obendrein die geistlichen. Luther stützt sich mit der Bezeichnung Christi als salvator primär auf die entsprechenden neutestamentlichen Texte (Joh 4,42; Phil 3,20; 1Joh 4,14 u.ö.) und steht damit in der Tradition der schon im antiken Christentum zu weiter Verbreitung gekommenen Übertragung des ursprünglich Asklepios zugedachten Titels »swt»r« auf Christus.9 Der Sohn Gottes ist der einzige »sünden Artzet«10 und Ursprung aller Medizin, sowohl derjenigen, die das irdische Leben erhält, als auch derjenigen, die den Weg zum ewigen Leben weist. Dies wiederum hat seinen Grund darin, dass Christus »warer mensch und ewiger Gott«11 ist, worin deutlich wird, wie stark Luthers theologia medicinalis eine Funktion der Zwei-NaturenLehre ist. Die nachhaltige soteriologische Interpretation der altkirchlichen Christologie konkretisiert sich bei Luther bekanntermaßen auf Schritt und Tritt, auch und gerade innerhalb seiner theologia medicinalis, die letztlich eine Christologia medi-

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BoA 5,241,4f. (Römerbriefvorlesung 1515/1516). BoA 5,241,6f. BoA 5,241,13–15. Vgl. WA 5,311,1; 31/II,311,12. Vgl. hierzu Karl Heinrich Rengstorf: Die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen Christusglaube und Asklepiosfrömmigkeit (= Schriften zur Förderung der Westfälischen Landesuniversität zu Münster 30). Münster 1953; Schipperges: Tradition (Anm. 2), S. 12–15. Heinrich Schipperges: Art. Krankheit IV. In: Theologische Realenzyklopädie 19 (1990), S. 686–689, hier: S. 687f.; Josef N. Neumann: Art. Medizin 5. Christentum. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., 5 (2002), Sp. 983–985, hier: Sp. 985. WA 52,711,17. WA 52,709,17f.

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cinalis ist, die den in zwei Naturen zugleich subsistierenden und daher als Leibesund Seelenarzt fungierenden Sohn Gottes zum Gegenstand hat. Die Schwäche bzw. Begrenztheit aller menschlichen Arzneikunst liegt nach Luther darin begründet, dass sie nur Krankheiten des Leibes – wenngleich nicht alle – zu diagnostizieren und zu heilen im Stande ist, nichts aber tun kann gegen die schlimmste Krankheit überhaupt: die Sünde. Da aber Tod und Krankheiten nichts anderes sind als Epiphänomene der Sündhaftigkeit des Menschen,12 also seiner auf ihn fortgeerbten inneren Krankheit, kuriert die Medizin ständig nur an den Symptomen der Ursache aller Krankheit herum, ohne wirkliche, d.h. endgültige Heilung bewerkstelligen zu können. »nullum est humanum remedium contra mortem, peccatum et legem«.13 Hierin liegt die Begrenztheit der menschlichen Arzneikunst: Der conscientia14 kann nur ein Arzt helfen, Christus selbst, denn nur er vermag das Gewissen von den Verderbensmächten Sünde, Tod und Teufel zu erlösen. Allein der Sohn Gottes kann die conscientia befreien – dadurch nämlich, dass er sie selbst in Besitz nimmt und so von allen anderen Mächten befreit.15 Gleichwohl ist die Heilkunst der Leibesärzte nach Luther hochzuschätzen, denn ein Arzt ist »vnsers Herr Gots flicker«,16 und er »hilft also der Creatur [dem Menschen] durch Creatur [die Arznei]«.17 Die Heilkunde und die Tätigkeit des Arztes also haben ihren Ort – theologisch betrachtet – in der Schöpfungslehre bzw. in der Lehre von der providentia Dei, die ein Teil der ersteren ist und u.a. von der göttlichen conservatio der Kreatur handelt. Gott bedient sich des Arztes als seiner Kreatur, damit dieser durch kreatürliche Mittel anderen Kreaturen hilft. Auf diese Weise grenzt sich Luther u.a. von Andreas Karlstadt (1480–1541) ab, der dem Wittenberger Bürgermeister Johann Hohndorf (†1534) dringend davon abgeraten hatte, mit Hilfe von Arzneimitteln gegen eine Erkrankung vorzugehen und somit Gott ins Handwerk zu pfuschen. In diesem Rat konkretisiert sich Karlstadts schroffer Dualismus, der von einer Diastase zwischen geistlicher und leiblich-kreatürlicher Sphäre, Innerlichem und Äußerlichem und darum auch zwischen (abzulehnender) leiblicher Heilkunst und der (vorzuziehenden) geistlichen, allein bei Gott zu findenden Heilung geprägt ist. Dies ist eine Position, die u.a. an die Haltung der frühchristlichen Apologeten erinnert, nicht zuletzt an Tertullian und Tatian,18 aber auch

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Vgl. WA 34/II,330,7f.; Peter Meinhold: Zur Theologie der Krankheit bei Martin Luther In: Saeculum 23 (1972), S. 15–29; Joachim Mehlhausen: Art. Krankheit VI. In: Theologische Realenzyklopädie 19 (1990), S. 694–697, hier: S. 694f. mit weiteren Lit.Angaben. WA 31/II,571,16. Vgl. Gerhard Ebeling: Lutherstudien, Bd. 2: Disputatio de homine. 3. Teil: Die theologische Definition des Menschen, Kommentar zu These 20–40. Tübingen 1989, bes. S. 108– 125. Vgl. WA 34/I,18,18f. WA.TR 1,151,5. WA.TR 1,151,36–152,1. Vgl. Richard Toellner: Art. Heilkunde/Medizin II. In: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S. 743–752, bes. S. 747 und Hans Schadewaldt: Die Apologie der Heilkunst bei

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an Makarios, der zwar zugibt, dass die Heilmittel göttliche Gaben sind, zugleich aber propagiert, dass solche nur von den Schwachen und Ungläubigen, kurz: von den Kindern der Welt genutzt werden, nicht aber vom Mönch, der sein Vertrauen allein auf Gott setzt.19 Die von Hohndorf an Luther gerichtete Frage, ob es erlaubt sei, Arzneien zu sich zu nehmen, beantwortet Luther mit einer schlichten Gegenfrage, die deutlich macht, dass der Mensch tagtäglich äußerliche Mittel braucht, die Gott gegeben hat, um das Leben der Menschen zu erhalten – Lebensmittel: »Sicut respondi dem Hondorff, qui cum ex Carlstadio audisset non licere uti medicina et me interrogaret, dixi ad eum: Esset yhr auch, wenn euch hungert?«20 Wer medizinische Hilfe ausschlägt, verachtet nach Luther die Gaben des Schöpfers und damit diesen selbst. Mit dieser Argumentation greift der Reformator einen Topos aus der patristischen Apologie der Arzneikunst auf, wie er sich z.B. bei Basilius d. Gr. findet.21 Luther sieht Gott im Rahmen seiner providentia als einen solchen handeln, der sich vielfältiger leiblich-kreatürlicher media bedient. Das heilende Handeln Gottes mit Hilfe von Arzneien ist Teil der göttlichen conservatio. Der Schöpfer überlässt die Schöpfung nicht sich selbst, sondern betätigt sich im Sinne der creatio continuata, nimmt zwecks Erhaltung des von ihm Geschaffenen seine guten Kreaturen in den Dienst und hat Lust und Freude daran, wenn sich die Kreaturen gegenseitig helfen.22 »Das ist vnser Herr Gott. Ipse creavit omnia, et sunt bona. Quare medicina etiam licet uti tanquam creatura Dei.«23 Karlstadt dagegen reduziert das Heilshandeln Gottes auf die rein geistlich-innerliche Dimension und läuft dabei Gefahr, die gute Schöpfung Gottes geringzuschätzen. Zwar kann auch Luther im Anschluß an Sir 38,9 davon sprechen, dass dem Gebet mehr Kraft zuzutrauen ist als jeglichem Arzneimittel.24 Dies bedeutet jedoch nicht, dass man die letztlich sakramentstheologische Dialektik von Innerlichem und Äußerlichem, Geistlichem und

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den Kirchenvätern. In: Die Vorträge der Hauptversammlung der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e.V. während des Internationalen Pharmaziegeschichtlichen Kongresses in Rotterdam vom 17.–21. September 1963 (= Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie 26). Stuttgart 1965, S. 115–130, hier S. 126; Fritz Krafft: ›Die Arznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie‹. Biblische Rechtfertigung der Apothekerkunst im Protestantismus. ApothekenAuslucht in Lemgo und Pharmako-Theologie (= Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 76). Stuttgart 1999, S. 44f. Vgl. Die 50 Geistlichen Homilien des Makarios. Hrsg. und erläutert von Hermann Dörries, Erich Klostermann, Matthias Kroeger (= Patristische Texte und Studien 4). Berlin 1964, S. 314f. WA.TR 1,151,16–18. Vgl. WA.TR 1,152,13–18. Vgl. Migne Patrologia Graeca 31, Sp. 1051 sowie Schadewaldt: Apologie (Anm. 18), S. 127. Vgl. WA 52,713,8–13. WA.TR 1,151,15f. Vgl. WA.TR 1,443,10f.: »Jesus Sirach sagt: Der gottseligen, frommen Christen Gebet thut mehr zur Gesundheit denn die Arznei der Aerzte«. Zur wissenschaftshistorischen Einordnung von Sir 38 und Luthers Übersetzung vgl. Krafft: Arznei (Anm. 18), S. 33–36.

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Leiblichem im Sinne spiritualistischer Eindeutigkeit auflösen kann, wie dies Karlstadt tut. Vielmehr verbinden sich die medicina corporalis und die »höhere Arzney«,25 die Luther auch »geistlich Arzney aus Gottes Wort«26 nennt, zu einer spannungsreichen Einheit, die dem Verhältnis von Heiligem Geist und verbum externum sowie letztlich demjenigen von göttlicher und menschlicher Natur in Christus analog ist. Hierzu fügt sich der Umstand, dass Luther und die lutherisch-barocke Tradition im Rahmen ihrer Strategie antimelancholischer Seelsorge auch und gerade den äußerlich-leiblichen remedia gegen die Schwermut wie der zwischenmenschlichen Kommunikation, dem mäßigen Weingenuss, der Bewegung an frischer Luft, Bädern und der Musik große Beachtung schenken.27 Aus der Hochschätzung der medicina corporalis ergibt sich, dass der Berufsstand des Arztes mit Sir 38 in Ehren zu halten ist,28 wenngleich Luther, der von sich selbst sagt, nur höchst ungern Medikamente zu sich zu nehmen,29 eine gewisse Distanz zur Ärzteschaft zu wahren befleißigt ist und exempla solcher Heilungen erzählt, die sich ereignet haben, obwohl bzw. weil sich die Patienten gerade nicht an die diätetischen Vorschriften der behandelnden Ärzte gehalten haben.30 Luther selbst hat bekanntermaßen unter Harnsäurestein und Gicht gelitten. Im Jahre 1537, als Luther unter einer höchst schmerzhaften totalen Harnsperre31 und den Folgen einer beginnenden Harnvergiftung zu leiden hatte, ließ er sich – gegen den diätetischen Rat seiner Ärzte – kalte Erbsen und Bratheringe auftischen und konnte kurz darauf wieder urinieren.32 Dieses Erlebnis dürfte Luthers seit jeher ausgeprägte Skepsis den Ärzten und ihrer Kunst gegenüber nur bestärkt haben. Die Medizin hat nach Luther als eine Gabe Gottes, als ein »donum Dei«33 zu gelten, da Gott dem Menschen den Verstand eingestiftet hat, der die Voraussetzung dafür ist, dass er medizinisch tätig werden kann – sowohl theoretisch als auch praktisch. Wie die juristische Wissenschaft, so geht auch die medizinische auf die natürliche Offenbarung Gottes zurück und gehört zum angestammten Aufgabenfeld der Vernunft.34 Von Heilung im wahren Sinne des Wortes kann indes erst die

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WA.TR 4,26,38. WA.TR 4,26,39–27,1. Vgl. Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg 1996, S. 17–20. 27f. 36 u.ö. Zu Sir 38 bei Luther vgl. WA 30/II,580,9–581,9. Vgl. WA.TR 6,299,2f. Vgl. WA.TR 6,299,3–19. Vgl. WA.B 8,51,5–8. Vgl. Richard Toellner: Heil und Heilung bei Martin Luther. Luthers Verhältnis zur Medizin als Anfrage an die heutige Medizin. In: Hans-Jürgen Hoeppke u.a. (Hrsg.): Glaubend leben. Gerhard Ruhbach zum 60. Geburtstag. Wuppertal u.a. 1994, S. 140–152, hier: S. 142; vgl. WA.TR 6,299,3–9 und WA.B 8,50,15. WA.TR 3,578,14; vgl. WA 47,797,36f.: »Eruditio Theologica, item Iuridica et politica, medica etc. sunt dona Dei.« Vgl. WA.TR 1,151,8f.: »Est enim medicina divinitus revelata, non ex libris profecta, sicut etiam iuris scientia non est ex libris, sed ex natura hausta.« Vgl. weiter WA 39/I, 175,11–13: Die Vernunft ist »inventrix et gubernatrix omnium Artium, Medicinarum, Iu-

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Rede sein, wenn sie den ganzen Menschen umfasst. Auch dieser Gedanke, der aus Luthers biblisch-ganzheitlicher Anthropologie resultiert, die wiederum eine den ganzen Menschen betreffende Heilkunde nach sich zieht,35 die Ansätze zur Psychosomatik erkennen lässt,36 spiegelt sich u.a. in Luthers Pestschrift. Daran wird deutlich, dass die konkrete Situation, nämlich die in Breslau grassierende Pestepidemie, Luthers Schreibweise nachhaltig bestimmt und ihn veranlasst, nicht nur Ratschläge medizinisch-hygienischer Art und ethische Direktiven zu geben, sondern auch Trost mit Hilfe medizinisch-theologischer Argumentation zu spenden. Dies führt dazu, dass sich in Luthers Pestschrift die auf leiblich-medizinische Sachverhalte bezogene Schreibweise mit geistlich-medizinischen Darstellungsstrategien in derart intensiver Weise verquickt, wie dies im Œuvre des Reformators in dieser Extensität sonst nur selten der Fall ist. Aus dem Glauben an Gott, den höchsten und ersten Arzt, kann nach Luther nicht abgeleitet werden, dass man die Patienten zu Pestzeiten sich selbst überlassen darf. Vielmehr gilt umgekehrt: Gerade weil Gott der Ursprung aller Heilung ist, haben Seelsorger und Ärzte die Pflicht, die Versorgung der an der Pest Erkrankten sicherzustellen. Wer aber seinen seelsorglichen, ärztlichen, elterlichen etc. Pflichten in Zeiten der Pestepidemie nachkommt, hat hie widderumb einen grossen trost, das sein sol widdergewartet werden. Gott wil selbs sein warter sein, dazu auch sein artzt sein. O welch ein warter ist das. O welch ein artzt ist das. Lieber was sind alle ertzte, apoteken und warter gegen Gott? Solt einem das nicht einen mut machen, zu den krancken zu gehen vnd yhn dienen, wenn gleich so viel druse [scil. Beulen] vnd Pestilentz an yhn weren als hare am gantzen leibe, und ob er gleich müste hundert Pestilentz an seym halse eraus tragen. Was sind alle Pestilentz vnd teuffel gegen Gott, der sich hie zum warter vnd artzt verbindet vnd verpflicht? [...] Darumb, lieben freunde, lasst uns nicht so verzagt sein vnd die unsern, so wir verpflicht sind, nicht so verlassen und fur des teuffels schrecken so schendlich fliehen.37

Genießt also die geistliche, durch die remissio peccatorum hergestellte Gesundheit bei Luther absoluten Vorrang, so bedeutet dies nicht, dass darum die sanitas corporalis vernachlässigt werden darf – im Gegenteil. Denn der Sohn Gottes selbst war als Arzt des Geistes und der Seelen zugleich tätig, wobei die von ihm vorgenommenen Wunderheilungen leiblicher Gebrechen nicht nur als sichtbare Kommentare zur Verkündigung der Sündenvergebung fungieren, sondern zugleich die promissio in sich tragen, dass diejenigen, die hier und jetzt sola fide die Rechtfertigung und das Heil der Seele erlangen, am Ende der Zeiten auch leiblich vollkommen gesunden werden, wenn der Tod und mit ihm alle Krankheiten überwunden sein werden.

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rium, et quidquid in hac vita sapientiae, potentiae, virtutis et gloriae ab hominibus possidetur.« Vgl. Toellner: Heil (Anm. 32), S. 147. Vgl. Hans Schadewaldt: Medizinisches in Luthers Tischgesprächen. In: Joachim Mehlhausen (Hrsg.): Reformationsgedenken. Beiträge zum Lutherjahr 1983 aus der Evangelischen Kirche im Rheinland (= Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 81). Köln 1985, S. 47–54, hier: S. 51. WA 23,359,28–361,5.18–20.

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2.

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Sündhaftigkeit als Urkrankheit – remissio peccatorum als Radikalkur

Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie Luther diejenigen Evangelientexte auslegt, die von Krankenheilungen erzählen. Ein Beispiel sei hier herausgegriffen. An der Erzählung von der Heilung des Paralytischen weist Luther auf, dass der Sohn Gottes keineswegs einerseits Kranke leiblich heilt und andererseits als Heiland durch die Vergebung der Sünde auch als geistlicher curator auftritt. Vielmehr, so arbeitet Luther anhand von Mt 9,2 heraus, ist die Sündenvergebung als geistlich-innerliche Kur die conditio sine qua non für die Beseitigung auch der äußerlich-leiblichen Gebrechen. Erst die Heilung der schwersten, weil innerlichen Krankheit, der Sünde, gibt den Weg frei für die Überwindung der Lähmung. »Remittuntur tibi peccata tua. Priusquam sanat (ut medicus perfectus) morbum paralysis, causas morbi (ut dicitur) tollit, scilicet peccatum.«38 So betrachtet, ist die Sündenvergebung das eigentliche Wunder und die Heilung leiblicher Gebrechen nur eine Sichtbarwerdung, eine empirische Manifestation der remissio peccati. Christus als der salvator mundi kuriert nicht an den äußerlichen Symptomen der im Innersten des Menschen sitzenden Krankheit herum, sondern geht der Sache im Rahmen einer Radikalkur auf den Grund, indem er die Sünde als causa und Wurzelgrund aller Krankheit überwindet: »Dieser medicus Christus greifft dieser kranckeit nach dem hals non sanaturus a paralysi, nisi prius a peccatis sanarit.«39 Nicht nur der Tod ist der Sünde Sold (Röm 6,23), sondern auch die Krankheiten, die – schon in der antik-heidnischen Sicht der Dinge – als Vorboten des Todes galten. Wird aber die Sünde dadurch überwunden, dass sie aufgrund der iustificatio nicht mehr zugerechnet wird, so schwinden damit auch alle Krankheiten.40 Wie aber fügt sich dies zu Luthers Anthropologie, der zufolge der Christenmensch nach der Rechtfertigung simul iustus et peccator ist? Der Zuspruch der Sündenvergebung bedeutet nicht, dass der Heilungsprozess bereits abgeschlossen ist. Vielmehr bringt es die imputatio der fremden Gerechtigkeit Christi mit sich, dass die Sünde nicht mehr zugerechnet wird, obgleich der Gerechtfertigte zugleich Sünder ist. Die sanatio indes wird sich erst eschatologisch vollenden, während sie bis zum Jüngsten Tag eine imputative ist.41 Dass die sanatio eine imputative ist,

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WA 38,477,39f.; vgl. analog hierzu den Text von J.S. Bachs Kantate zum 19. Sonntag nach Trinitatis: Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte. Hrsg. Von Werner Neumann. Leipzig 1974, S. 139: »Vergibt mir Jesus meine Sünden, | So wird mir Leib und Seel gesund«. WA 34/II,329,26f. Vgl. WA 34/II,330,7f.: »Morbus et mors nostra ist allein ein plag und straffe umb der sunde willen. Ablato autem peccato omnis morbus ablatus est.« Vgl. hierzu Toellner: Heil (Anm. 32), S. 140. Vgl. WA 39/II,153,20f.23f.: »Christus sanavit nos imputatione, non ut etiam radicem peccati tolleret; sed ut ea pullulans et erumpens non imputaretur nobis [...] Perpetuam sanationem servavit sibi in alteram vitam. Hic satis fuit, inchoatione et imputatione abesse peccatum at adesse iustitiam.«

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wird insbesondere an dem Umstand erfahrbar, dass es weiterhin Krankheiten gibt und diese erst am Jüngsten Tage endgültig überwunden werden. In einer Predigt über Lk 10 veranschaulicht Luther die Dialektik der Existenz eines Christenmenschen, der zugleich Sünder und Gerechter, Geheilter und Kranker ist, indem er sie vergleicht mit der Situation des in der Herberge liegenden Rekonvaleszenten aus Lk 10,34, der sich auf dem Wege der Besserung befindet. Der gerechtfertigte Sünder gleicht einem Verwundeten, dessen Wunden verbunden, aber noch nicht ausgeheilt sind. »Semper manent die vulnera offen et tamen ligata, donec revertatur und hol uns heim in die iudicii.«42 Bis zum Jüngsten Tag also befindet sich der Glaubende in einem Prozess medizinischer Rehabilitation, die erst im himmlischen Jerusalem zum Abschluss kommen wird, wo kein Leid, Geschrei noch Schmerz mehr sein (Apk 21,4) und das Holz des Lebens als Apotheke des Leibes wie der Seele für ewige sanitas sorgen wird (Apk 22,2).

3.

Das verbum Dei als Arznei

Zu den prominentesten biblischen Grundlagen für die Bezeichnung Christi als Arzt zählt neben Mt 9,12 (›Die Starcken dürffen des Artztes nicht/ Sondern die krancken‹) seit Luthers Bibelübersetzung Ex 15,26 (›Ich bin der HERR, dein Artzt‹). Auch das Handeln Gottes am Menschen mit Hilfe von Gesetz und Evangelium kann Luther mit demjenigen eines Arztes vergleichen.43 Da der Sohn Gottes allem voran durch das Wort der Predigt wirkt, nennt Luther das Evangelium folgerichtig »medicina sanativa et preservativa«.44 Demnach ist Christus nicht nur ein solcher Arzt, der Gesundheit dort herstellt, wo lauter Krankheit und Tod sind, vielmehr bewahrt er den Patienten auch nach dessen Genesung vor neuerlicher Erkrankung. Das wichtigste Medium innerhalb der göttlichen Therapie ist das verbum Dei, das Luther darum oft ›remedium‹ nennt. Das »officium [...] proprium«45 des Evangeliums besteht darin, dass es dem erschrockenen und von der Anklage des Gesetzes gedrückten Gewissen »auxilium et remedium«46 zusagt, was u.a. im Heilandsruf greifbar wird (Mt 11,28). Die lex dagegen überführt den Menschen seiner Sündhaftigkeit, d.h. bewirkt, dass der Kranke »wisse, was seyn kranckeyt ist«.47 Zu Joh 8,51 notiert Luther: »Nullum est aliud contra mortem remedium nisi verbum Christi Seruatum, id est fideli corde et non dubitante apprehensum.«48 Die Erzählung von der Verwandlung des bitteren Wassers zu Mara in süßes (Ex 15,23–27) interpretiert Luther allegorisch und findet – ähnlich wie Sir 38,5 dies tut – hier das Handeln Gottes als Arzt abgebildet, der den bitteren Tod in einen süßen Schlaf

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WA 29,537,15f. Vgl. z.B. WA 49,11,17–23 und WA 49,207–211. WA 5,302,8. WA 1,105,19. WA 1,105,20. WA 7,204,19. WA 48,164,4f.

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verkehrt. In diesem Zusammenhang fordert Luther seine Hörer auf, beim verbum Dei zu bleiben und in ihm den medicus divinus zu finden: »So bleibe allezeit bey dem Wort, so wird Gott dein Medicus sein und wird dich schützen für aller betrübnis.«49 Dieses verbum indes kann vielfältige Gestalt annehmen, nämlich überall dort, wo das Wort Gottes getrieben wird: in Gebet, Lektüre der Heiligen Schrift, Predigt und Abendmahl.50 Derjenige, der die Heilige Schrift meditiert und betet oder ein geistliches Lied singt, appliziert sich Gottes Arznei, betreibt also geistliche Selbstmedikation. Damit dies gelinge und eingeübt werden könne, hat Luther im Jahre 1521 eine kurze Trostschrift mit dem Titel ›Tröstung für eine Person in hohen Anfechtungen‹51 veröffentlicht. In ihr ahmt der Reformator die spezifisch medizinisch-ärztliche Schreibweise des Rezeptausstellens geistlich nach und gibt den Angefochtenen einen Leitfaden, ja ein Rezept, an die Hand, wie in der Situation der tentatio Trost zu finden ist. Kristallisationspunkt der Therapie ist die Arznei des Gebetes,52 durch das der Beter der Melancholie53 den göttlichen Affekt der geistlichen Freude entgegensetzt: Kein stercker ertzney ist hierin, denn das sie [scil. die angefochtene Person] anhebe irgend ein Gespreche, Wie David Psal. 18. sprach: ›Ich wil den HERRN loben und anruffen, so werde ich erlöset von allem, das mich anficht‹. Denn der böse Geist der schwermütigkeit mag nicht verjagt werden mit betrübnis und klagen und sich engsten, sondern mit Gottes lobe, davon das hertz frölich wird.54

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WA 16,286,26f. Vgl. WA 39/I,113,25–114,3: »Interim patimur vivi medici, id est, Christi medelam, audimus verbum, oramus, legimus, quantum possumus, sanamus per verbum. Nam quotidie orare, quotidie audire et meditari verbum et accedere ad sacramentum et purgare saniem et putredinem debemus; ergo debemus uti his instrumentis, ut purgemur, mundemur ex sanie peccati, donec vere et prorsus purgetur.« WA 7,785–791. Vgl. zum Gebet bei Luther Traugott Koch: Johann Habermanns ›Betbüchlein‹ im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert (= Beiträge zur Historischen Theologie 117). Tübingen 2001, S. 17–132; Friedrich-Otto Scharbau (Hrsg.): Das Gebet (= Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg 33). Erlangen 2002; vgl. ferner folgende ausgewählte Studien: Bruno Jordahn: Luther und das gottesdienstliche Gebet. In: Luther 33 (1962), S. 116–127; Kurt Dietrich Schmidt: Luther lehrt beten. In: Luther 34 (1963), S. 31–41; Horst Beintker: Zu Luthers Verständnis vom geistlichen Leben des Christen im Gebet. In: Luther-Jahrbuch 31 (1964), S. 47–68; Ders.: Die Bedeutung des Gebetes für Theologie und Frömmigkeit unter Berücksichtigung von Luthers Gebetsverständnis. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 6 (1964), S. 126–153; Vilmos Vajta: Luther als Beter. Helmar Junghans (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Göttingen 1983, S. 279–295.806–811; Gerhard Ebeling: Beten als Wahrnehmen der Wirklichkeit des Menschen, wie Luther es lehrte und lebte. In: Luther-Jahrbuch 66 (1999), S. 151–166. Vgl. hierzu ausführlicher Steiger: Melancholie (Anm. 27). WA 7,785,19–23.

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Als ein Beispiel, wie sich solches Gebet vollziehen kann, bietet Luther seinem Leser Ps 142 dar und kombiniert diesen Text mit kurzen Erläuterungen, um einen Weg zu weisen, wie die oratio dieses Psalms in die meditatio desselben überführt werden kann. Christus heilt durch sein Wort, das in Gebet, Gehör des Wortes Gottes, Meditation und Abendmahlsempfang appliziert wird. Dies sind gewissermaßen die unterschiedlichen Applikationsformen ein und derselben medizinischen Substanz. Im Anschluss an eine Tradition, die bis auf Ignatius von Antiochien55 zurückgeht, spricht Luther vom Abendmahl als einem »remedium efficacissimum«.56 Die römische Kirche dagegen habe das Sakrament des Altars zu Gift pervertiert, indem sie die Würdigkeit des Empfängers zur Vorbedingung der Kommunikation am Altartisch gemacht und dadurch die Gabe Gottes in ein Menschenwerk verkehrt habe. »In Euangelio est mera gnadanbietung, ergo non est sacramentum venenum, sed remedium gratiae, liberatio malae conscientiae adest.«57 In unterschiedlichen Medien wirkt das eine, ja einzige remedium, das verbum Dei. Da der Sohn Gottes jedoch selbst das Wort Gottes (Joh 1,1ff.) ist, kann Luther auch Christus »remedium« nennen, »quem sola fides apprehendit«.58 Pars pro toto ist bei Luther auch vom Blut Christi als »remedium«59 die Rede.

4.

Pharmacologia sacra: Das Wort Gottes in den Arzneien

Bei Luther gibt es keinen Dualismus von leiblicher Medizin hier und medicina spiritualis dort. Dies wird nicht zuletzt anhand der Beobachtung deutlich, dass nicht nur innerhalb der zu ewiger Gesundheit führenden cura Dei einzig und allein das Wort wirkt. Vielmehr trifft genau dies auch auf die leibliche Medizin zu. Nicht zuvörderst die Medikamente wirken Gesundheit – so arbeitet Luther anhand von Jes 38 heraus – sondern das verbum Dei in ihnen.60 Hier bringt sich Luthers fundamental-hermeneutische Grundeinsicht zur Geltung, der zufolge sich der trinitarische Gott an äußerliche media bindet, durch die hindurch er sich kommuniziert: durch das verbum externum, durch äußerlich-leibliche Elemente in den Sakramen-

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Vgl. Ignatius: An die Epheser, cap. 20. In: Die apostolischen Väter. Neubearbeitung der Funkschen Ausgabe von Karl Bihlmeyer. Zweite Auflage mit einem Nachtrag von Wilhelm Schneemelcher, Teil 1 (= Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Texte 2. Reihe, 1. Heft, 1. Teil). Tübingen 21956, S. 88,14–16. WA 29,212,18; vgl. WA 30/I,122,7. So auch im Marburger Gespräch über das Abendmahl Zwingli gegenüber (vgl. WA 30/III,128,12). WA 17/I,172,24–26. WA 39/II,196,15; vgl. WA 40/III,734,11, wo Luther Christus als »unicum remedium« und »via unica« bezeichnet. WA 20,619,1. Vgl. WA 25,245,20–22: »Non quod medicina nihil ad curandum morbum faciat sed quod ipsa curatio non sit in medicina et remediis sita sed in verbo. Per et in creaturis operatur verbum.«

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ten, durch Kreaturen. Ist schon die Tatsache, dass sich das verbum Dei mit kreatürlichen Dingen, in diesem Falle mit Pflanzen und Kräutern, verbindet, Grund der Verwunderung, so ist staunenswerter allemal der Umstand, dass Gott keine Scheu hat, selbst dem Tiermist und Menschenkot Heilkräfte dadurch einzustiften, dass er sein heilendes Wort in ihnen verbirgt.61 Noch also in den Heilmitteln kann man Gottes exinanitio und Knechtsgestalt aufspüren, worin man eine pharmakologischtheologische Variante der theologia crucis sehen könnte. Der Glaube, der in der schändlichen Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten am Kreuz die Überwindung des Todes und aller Verderbensmächte zu erblicken im Stande ist und sub contraria specie die Verwesung als promissio des ewigen Lebens ansieht, hat keine Scheu davor, anzunehmen, dass Gott, der um willen der Menschen in die Hölle gefahren ist, in, mit und unter Kot zugegen sein und leiblich Heil wirken kann. Die Wirkung der Medikamente also rührt her von der efficacia des Wortes Gottes, das in sie eingesenkt ist. Wirklich begreifbar wird diese Aussage erst, wenn man sie in Beziehung zu Luthers Abendmahlsverständnis setzt. Liegt die efficacia im Hinblick auf die sündenvergebende Qualität des Abendmahls darin begründet, dass sich das göttliche Wort mit den Elementen Brot und Wein verbindet, so trifft etwas Ähnliches auch auf die Arznei zu. Sie kann als äußerliches Medium nur wirken, insofern sich das verbum Dei mit ihr verbindet und die natürliche Dynamik zur Entfaltung bringt. Den äußerlichen media curationis eignet demnach eine letztlich sakramentale Relevanz, insofern Gott frei ist, sein verbum in sie einzuwickeln.

5.

Christus, der Arzt und Apotheker: Arztpraxis und Apotheke als Erfahrungsräume des Glaubens

Luther ist es darum gegangen, seinen Hörern und Lesern vor Augen zu malen, wie Gott den Sünder allein aus Glauben um seines Sohnes willen rechtfertigt und heilt. Im Zuge dessen verarbeitet Luther insbesondere diejenigen biblischen Texte, die

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Vgl. WA.TR 1,29,21–25: »Mich wundert, daß Gott so hohe und edle Arznei in Mist gesteckt hat; denn man hats aus Erfahrung, daß Säumist das Blut verstopft; Pferdemist dienet fur Pleuresin; Menschenmist heilet Wunden und schwarze Blattern; Eselsmist braucht man neben andern fur die rothe Ruhr, und Kühmist mit eingemachten Rosen dienet fur die Epilepsiam der Kinder.« Das Lob der therapeutischen Effizienz von Kot ist auch patristisch belegbar, etwa bei Hieronymus (Migne Patrologia Latina 23, Sp. 292); vgl. Schadewaldt: Apologie (Anm. 18), S. 122. Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts wird diese Tradition in verschiedenen ›Dreckapotheken‹ zusammengefasst. Vgl. z.B. Christian Franz Paullini: Heilsame Dreck=Apotheke; Wie nemlich mit Koth und Urin Fast alle/ ja auch die schwerste/ gifftige Kranckheiten/ und bezauberte Schaden/ vom Haupt biß zun Füssen/ inn= und äusserlich/ glücklich curirt worden; Durch und durch mit allerhand curieusen/ so nutz= als ergetzlichen/ Historien/ und andern feinen Denckwürdigkeiten/ bewährt und erläutert. Frankfurt/M. 1696 (Herzog August Bibliothek [fortan: HAB] Wolfenbüttel Xb 2571 [2]).

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das Wirken Gottes mit ärztlicher Behandlung vergleichen. Dabei wird sinnlich und im Kontext des alltäglichen Lebens spurenhaft erfahrbar, wie es um Gottes Heilsplan und Heilshandeln bestellt ist. Insofern liegt die Bezeichnung Gottes als Arzt genau auf der Linie von Luthers typischer, um Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit bemühten Predigtweise, die den Reformator z.B. auch veranlasst, Christus (Mt 23,37 folgend) in der Tierwelt gespiegelt zu sehen – in der Gluckhenne, die ihren Jungen unter ihren Flügeln Schutz und Zuflucht bietet.62 Es ist zutreffend, dass sich der Topos von Christus als Apotheker, der sich nicht zuletzt in der recht verbreiteten Abbildung des Sohnes Gottes als apothecarius manifestiert, vollends erst im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts ausprägt.63 Als Schöpfer dieses Bildmotivs darf Michael Herr (1591–1661) mit seinem Öltafelbild aus dem Jahre 1619 gelten.64 Hier werden prominente Auslegungstraditionen der zeitgenössischen geistlichmedizinischen Schreibweise im Zuge eines Medienwechsels innovativ zugespitzt, einer Visualisierung zugeführt und dem Medium Bild regelrecht eingeschrieben, dergestalt dass der Künstler Michael Herr zentrale Bibelstellen, die innerhalb der lutherischen theologia medicinalis eine prominente Rolle spielen, in seinem Ölgemälde wörtlich zitiert. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass Luther dieser Entwicklung in intensiver Weise vorgearbeitet hat. In einer Predigt zum ersten Adventssonntag 1525 entfaltet Luther zunächst den Umstand, dass die menschliche Vernunft niemals aus sich heraus zu denken fähig ist, dass eine Aussöhnung zwischen Gott und den Menschen stattfinden kann. »Ratio non putavit medium inter deum et hominem. Non crediderunt esse medium, ut pervenirent ad deum.«65 Das menschlicher ratio nicht zugängliche Medium zwischen Gott und den Menschen apostrophiert Luther sodann als Apotheke, indem er sagt: »Apoteca ista inveniri non potuit.«66 Im Anschluss daran jedoch fällt Luther in die direkte Rede Christi und lässt ihn sagen, dass er diese Apotheke, dieses Arzneidepot (und diese Arzneimittel) besitze: »Aber ich beut euchs an. Tales herbas habeo, ut nunquam moriamini, et fere fur der thur etc. Sed mundus non accipit, immo persequitur.« Lu-

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Vgl. WA 41,665,14–17: »Ideo mus so zu ghen, ut glorientur sub alis Christi, ut simus sub gluckhenne. Ut quando Ieremias locutus, quae placuit. Sed fac mecum secundum misericordiam. Ibi fleuget er unserm herr Gott unter sein gnadenflügel.« Vgl. Krafft: Arznei (Anm. 18), S. 50f. Vgl. hierzu ausführlich Fritz Krafft: Christus als Apotheker. Ursprung, Aussage und Geschichte eines christlichen Sinnbildes (= Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 104). Marburg 2001, S. 197f. Aus der älteren Forschungsliteratur vgl. v.a. WolfgangHagen Hein: Christus als Apotheker (= Monographien zur pharmazeutischen Kulturgeschichte 3). Frankfurt/M. 1974 (21992). Zu Michael Herr vgl. weiter: Michael Herr 1591– 1661. Ein Künstler zwischen Manierismus und Barock. Katalog der ausgestellten Werke. Ausstellung anläßlich seines 400. Geburtstages im Rathaus der Stadt Metzingen vom 15. November bis 4. Dezember 1991. Hrsg. von der Stadt Metzingen. Mit Beiträgen von Silke Gatenbröcker u.a. Metzingen 1991, S. 11–28. 57–116; Silke Gatenbröcker: Michael Herr (1591–1661). Beiträge zur Kunstgeschichte Nürnbergs im 17. Jahrhundert. Mit Werkverzeichnis (= Uni Press Hochschulschriften 76). Münster 1996. WA 17/I,477,25f. WA 17/I,477,26.

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ther liest an dieser Stelle das euangelium proprium zum ersten Advent synoptisch mit Joh 1,11 (›ER kam in sein eigenthum/ Vnd die seinen namen jn nicht auff‹) und bildet die Ablehnung der Heilsbotschaft durch deren Adressaten an einem Kranken ab, der den Arzt nicht nur nicht sucht, geschweige denn sich von ihm helfen lässt, sondern diesen zudem umbringt.67 In einer anderen Predigt zum ersten Advent bezeichnet Luther Christus als einen solchen, der das medizinische Wissen und die Mittel (die bevorratete Arznei) dazu hat, indem er fragend ausruft: »Qualem habet scientiam et apotecam, ut sic iustificet?«68 Auch um Gesetz und Evangelium anschaulich zu differenzieren, zieht Luther einen Vergleich heran, der mit der Apotheke zu tun hat: Während das Gesetz die Aufgabe hat, die Diagnose zu stellen, ist es das Amt des Evangeliums, als Apotheke zu fungieren, d.h. die entsprechende Arznei bereitzustellen und zu verabreichen.69 Luther setzt auch die remissio peccatorum mit einer solchen Apotheke gleich, die für gründliche, weil sofortige Abhilfe sorgt. Die tröstliche Botschaft des Evangeliums weckt bei demjenigen, dem seine Sünden allein um des Glaubens willen vergeben werden, die Einsicht »quod mea peccata non sunt amplius peccata, quia sie sind hinweg gerissen durch ein Apotecken. Remittuntur tibi etc.«70 Mit ›Apotheke‹ (Arzneimitteldepot) bezeichnet Luther also regelrecht das ›Heilmittel‹. In diesem Zusammenhang nimmt es kaum wunder, dass Luther nicht nur implizit von Christus als Apotheker spricht, indem er ihn als denjenigen vor Augen malt und ›fürbildet‹, der sich einer geistlichen Apotheke, will sagen: eines geistlichen Heilmittels bedient, sondern dies auch explizit zur Sprache bringen kann. Dies ist in einer Bucheinzeichnung zu Joh 8,51 (›Warlich/ warlich/ Jch sage euch/ So jemand mein Wort wird halten/ der wird den Tod nicht sehen ewiglich‹) der Fall, wo es heißt: DAs mag heissen ein guter Apoteker, der sölche Ertzney geben kan, das der Todt nicht alleine vberwunden sein sol, sondern auch nicht vnd nimmermehr sol gesehen werden. Vnd ist ein wünderlichs, das ein Mensch mus sterben vnd doch den Tod nicht sehen sol,

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Vgl. WA 17/I,477,28–478,2: »Stultus esset homo eger, quando veniret medicus ad eum et vellet sanare et ipse apportaret gladium occisurus medicum.« WA 20,544,39f. Vgl. WA 10/III,338,4–10: »Das gesatz ist das da fürgybt was man thun soll, das Euangelium das wa manß nemen soll, dann es ist vil ain anders wissen was man haben sol, und wann manß nemen sol, gleich wann ich in die Apetecken gee: da ist ain ander kunst zu sagen, was die kranckhait sey, und ain ander kunst zu sagen, was man dartzu haben sol, das manß loß werde. So ist es hye jnnen auch: das gesetz endeckt die kranckhait, das Euangelium gibt die ertzney.« WA 29,574,7–9. Vgl. WA 29,574,24–30: »Darümb ob ich gleich nichts anders füle denn viel und grosse sunde, so sind sie doch nicht mehr sunde, Denn ich habe dargegen ein köstlich tyriak und Apoteken, so der sunde yhr krafft und gifft nimpt und dazu tödtet, welchs ist das wort Vergebung, fur welchem die sund zurgehet wie die stoppeln, wenn das fewer drein kompt, sonst hülffe kein werck, kein leiden odder marter widder die aller geringste sund.« Vgl. auch WA 30/I,15,22–24: »Ideo hat er uns den trost gestellt: Ich sol wol heilig sein, sed etc. ein apotecken gestellt cum promissione: Si vis remitti tibi, remitte etc. Luc. 7.«

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wo er Gottes wort im hertzen hat vnd daran gleubet. Solche starcke Ertzney ist Gottes Wort, im glauben behalten, das es aus dem Todt ewiges leben machet. O wer das köndte gleuben, wie selig were er auch hie jnn diesem leben!71

Da es sich bei diesem Text nicht um einen solchen handelt, der im Verborgenen geblieben ist, dieser vielmehr in den entsprechenden Sammlungen von Georg Rörer, Johannes Aurifaber und Andreas Wanckel sowie in allen Luther-Gesamtausgaben nachweisbar ist und somit der Öffentlichkeit schon früh zur Verfügung stand,72 dürfte es nicht übertrieben sein, anzunehmen, dass diese Notiz Luthers die Entwicklung des Topos von Christus als Apotheker zumindest mitangeregt haben könnte. An Verbreitung dürfte die Bezeichnung des Sohnes Gottes als apothecarius zudem durch Caspar Huberinus’ Sirach-Auslegung (1555)73 gewonnen haben, die im Kontext der Geschichte der lutherischen Hausväterliteratur einen wichtigen Platz einnimmt. Die Promulgation des Christus-apothecarius-Topos im Kontext einer zusätzlichen Schreibweise, nämlich der Hausväterliteratur, hat zweifelsohne zur Popularisierung dieser spezifischen Spielart geistlich-medizinischer argumentatio entscheidend beigetragen. Auffällig ist zudem, dass auch die Rede von der göttlich-geistlichen Apotheke im Luthertum der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sehr beliebt gewesen ist.74 Wie Luther die Wirkung des Abendmahls mit medizinischen Kategorien beschreibt, so auch diejenige des Taufsakraments, das die regeneratio des Menschen bewirkt (vgl. Tit 3,4). »Ergo in baptismo est medicina, quae dat vitam et mortem superat.«75 Wiederum greift Luther mit der Bezeichnung der Taufe als Arznei einen Topos auf, der auf die frühe Kirchengeschichte zurückgeht und z.B. schon bei Tertullian greifbar ist.76 Allerdings unterzieht Luther den altgedienten Topos insofern einer weitergehenden Interpretation und damit einer reformationstheologischen Transformation, als er ihn mit seinem spezifischen Taufverständnis

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WA 48,153f., Nr. 199. Vgl. die entsprechende editorische Notiz: WA 48,153 zu Nr. 199. Caspar Huberinus: Spiegel der Haustzucht. Jhesus Syrach genant/ Sambt einer kurtzen Außlegung. Für die armen Haußväter/ vnd jre gesinde/ Wie sie ein Gottselig leben/ gegen menigklich sollen erzeygen. Darinnen der welt Lauff begriffen/ vnd wie sich ein jedlicher Christ/ inn seinem beruff/ vnd in der Policey/ ehrlich vnnd löblich solle halten. Nürnberg 1555 (HAB Wolfenbüttel C 190 Helmst. 2°). Vgl. z.B. Nikolaus Selnecker: Tröstliche schöne Sprüche für die engstigen Gewissen. Leipzig o.J. [ca. 1570] (HAB Wolfenbüttel Yv 1516 Helmst. 8° [2]), fol. M 6v: »Da findet sich allein der Ertzartzt/ Jhesus Christus/ Gottes vnd Marie Son. Dieser erbarmet sich vber vns/ vnnd bringt von oben herab aus der Himlischen Apoteken/ ein Göttlichs vnnd lebendigs Recept/ nemlich/ sich selbs/ gibt sich für vns in den Todt.« WA 30/I,51,23f.; vgl. WA 30/I,217,20–26: »Denn rechne du, wenn yrgend ein artzt were, der die kunst künde, das die leute nicht stürben odder, ob sie gleich stürben, darnach ewig lebten, wie würde die welt mit gelt zuschneyen und regenen, das fur den reichen niemand künde zukomen? Nu wird hie yn der Tauffe yderman umb sonst fur die thür gebracht ein solcher schatz und ertzney, die den tod verschlinget und alle menschen beym leben erhelt.« Vgl. Schipperges: Tradition (Anm. 2), S. 15, wo allerdings kein Beleg genannt wird.

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verknüpft. Im Vordergrund steht nämlich bei Luther die Langzeitwirkung der Taufe, die gewissermaßen als Retardmedikament wirkt, mithin ein medizinisches Bad ist, das zwar nur einmal stattfindet, dessen heilende Kraft aber durch die Tauferinnerung je neu im Glauben ergriffen wird und täglich erneut zur Entfaltung kommt. »Ideo Christianus hat gnug sein leben lang an einer Tauff, quia satis habet ad credendum hoc quod baptismus promittit: nempe gratiam et misericordiam dei, remissionem peccatorum, vitam aeternam.«77 Hebt Luther in diesem Kontext hervor, dass es keine irdische Apotheke gibt, die eine auch nur annähernd vergleichbare, will sagen: tiefgreifende und umfassende, Heilung gewährleisten kann wie die Taufe dies tut,78 so qualifiziert er dieses Sakrament andernorts explizit als geistliche Apotheke. Der Grund aber dafür, dass in der Taufe nicht »schlecht Wasser«79 ist, sie vielmehr als Apotheke des ewigen Lebens fungieren kann, liegt darin, dass Gott sich ins Element ›eingemengt‹ hat. Auffällig ist, dass Luther hierbei apothekarische Terminologie verwendet: Die Realpräsenz Gottes im Sakrament der Taufe gleicht der Einmischung eines medizinischen Wirkstoffes in eine Trägersubstanz.80 Die geistliche Apotheke, deren sich der Sohn Gottes bedient, umfasst also genau die Mittel, die auch die spätere lutherische Lehrbildung als media salutis81 bezeichnen wird. Zu beachten hierbei ist jedoch, dass diese göttliche Apotheke nicht ohne Konkurrenz ist, denn auch Satan hat eine gut ausgestattete Apotheke,82 die allerdings ganz andere Drogen vorhält, nämlich solche, die dem Menschen das Verderben bringen. Zugleich aber hat der Teufel auch die Macht, die Wirkweise der Heilkräuter durch Intoxikation in ihr Gegenteil zu verkehren. »Herba, quae hodie salubris est, cras letalis esse potest, quia a Daemone intoxicatur.«83 Auch, so Luther, muss damit gerechnet werden, dass der Teufel das Mischungsverhältnis von Wirkstoffen verändert, indem er die Teilquantitäten ändert und so die Wirkung eines Medikamentes umkehrt.84 Die von Christus angewandte geistliche pharmacologia ist nach Luther eschatologisch darauf angelegt, dereinst am Jüngsten Tag in voll- und endgültige Heilung überführt zu werden. Bedient sich Gott hier und jetzt einer großen Anzahl von

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WA 30/I,51,15–17. Vgl. WA 30/I,51,18–20: »Natura mocht wol dran zweifeln, obs war were etc. wenn ein apoteken wer irgend an einem ort, die so reichlich und gros ding verhiesse etc. quam dives esset ille doctor futurus, qui sciret artem, ne homines morerentur.« Vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [fortan: BSLK]. Hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. Göttingen 21952, S. 515,25. Vgl. WA 37,253,2–5: »Ideo est aqua, das sunde, tod und alle traurickeit weg nimpt und hilfft jnn den himel, So ein kostlich aromaticum und Apoteck ist draus worden, da Gott sich selb ein gemenget hat, Pater potest vivificare, ille est in hac aqua, Ideo est vere aqua vitae.« Ganz ähnlich WA 52,102,27–32. Zur Verwendung dieses Terminus bei Luther vgl. WA 20,797,31. Vgl. z.B. WA 34/II,412,10f. WA.TR 3,298,15f. Vgl. WA.TR 3,429,3f.: »Denn der Teufel ist also kräftig, er kann Arznei und Apotheken wandeln, und Staub in die Büchsen thun.«

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Medien, um das Leben der Menschen im Rahmen seiner providentia zu erhalten, so wird das einzige Lebensmittel im neuen Äon die beata visio Dei (1Kor 13,12; vgl. 2Kor 5,7) sein.85 Wirkt und regiert Gott bis zum Jüngsten Tag durch eine Vielzahl von media und causae secundae, so wird dies im himmlischen Jerusalem anders werden. Hier wird Gott einzig und allein als causa prima wirken, weswegen es kein weltliches Regiment, auch kein von Menschen versehenes Predigtamt mehr geben wird.86 Hat der gerechtfertigte Sünder sich selbst insofern in einem anderen, als er seine Gerechtigkeit nicht in sich selbst trägt, sondern dieselbe in Christus hat, weswegen Luther sagen kann, dass der Glaube, der die iustitia Christi ergreift, uns »extra nos«87 setzt, so wird die eschatologische Vollendung des Heilungsprozesses darin bestehen, dass der Mensch nicht nur seine iustitia, sondern auch alle übrigen Güter (sowohl die geistlichen als auch diejenigen der »Leibsnahrung und – notdurft«88) in Gott haben wird.

6.

Christus als Arzt im Luthertum der Barockzeit: Valerius Herberger zum Beispiel

Innerhalb der lutherischen Orthodoxie ist Luthers theologia medicinalis breit rezipiert und ausgebaut worden – nicht zuletzt dadurch, dass die hier einschlägigen älteren, vor allem patristischen Traditionslinien intensiv aufgearbeitet und in die reformatorische Botschaft integriert wurden. Die medizinische Theologie zeigte schon im ausgehenden 16., verstärkt aber im 17. Jahrhundert eine ungeheure Wirkung – nicht nur in Predigten, Erbauungsschriften, Gebetbüchern, im Kirchenlied89

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Vgl. WA 36,594,38–595,16: »Da werden wir kein brod noch wein ansehen, kein apoteck noch ertzney dürffen noch begeren, sondern gnug haben allein an dem blick und anschawen, der wird den gantzen leib so schon frisch und gesund machen, ja so leicht und behend, das wir daher faren werden wie ein füncklin, ja wie die sonn am himel leufft.« Vgl. WA 36,595,24–26.28–30. Vgl. WA 40/I,589,8–10: »Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos: non debeo niti in conscientia mea, sensuali persona, opere, sed in promissione divina, veritate, quae non potest fallere.« Vgl. Gerhard Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, S. 197. 301. BSLK, S. 514,3f. Vgl. z.B. Evangelisches Kirchengesangbuch 154,7 (Martin Luther); 227,4 (Ludwig Helmbold); 299,3 (Samuel Rodigast); 394,9 (Benjamin Schmolck); vgl. darüber hinaus etwa Johann Heermanns Abendmahlslied »O Jesu, du mein Bräutigam«, in dem es in den Strophen 2 und 3 heißt: »Ich kom zu deinem Abendmal, | Verderbt durch manchen SündenFall. | Ich bin kranck, vnrein, nackt vnd blos, | Blind und arm. Ach mich nicht verstoß! || Du bist der Artzt, du bist das Liecht, | Du bist der HERR, dem nichts gebricht. | Du bist der Brunn der Heiligkeit, | Du bist das rechte HochzeitKleid« (Albert Fischer / Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, 6 Bde. Gütersloh 1904–1916 [Reprint Hildesheim 1964], hier: Bd. 1, S. 291). Vgl., um ein weiteres Beispiel zu nennen, Johann Rists Lied eines Kranken ebd., Bd. 2, S. 280, insbesondere die Strophen 4 und 5.

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und in der Hausväterliteratur, um nur einige literarische Gattungen zu nennen, sondern auch im Rahmen der Ikonographie. Wie eng theologische und medizinische Wissenschaft miteinander verzahnt waren, konkretisiert sich u.a. darin, dass nicht wenige lutherische Theologen der Barockzeit beide Fächer studiert hatten – genannt seien an dieser Stelle nur Johann Gerhard [1582–1637] und Johann Rist [1607–1667]90 –, so dass sich auch von hieraus die Frage nach der Applikabilität des jeweils einen Faches in bezug auf das andere nahelegte, ja aufdrängte. Auch in Zeiten der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, an der neben der Medizin und anderen Fächern auch die Theologie intensiv Anteil nahm, ist es keineswegs zu einer Disjunktion von leiblicher und geistlicher Medizin gekommen, wie (um nur ein Beispiel zu nennen) anhand des Lebenswerkes von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) deutlich wird, aber auch an dem Umstand, dass das 18. Jahrhundert die Blütezeit der dezidiert medizinisch-empirisch ausgerichteten Pastoralethik (der sog. Pastoralmedizin) war. So wurden sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite mannigfaltige pastoralmedizinische Entwürfe entwickelt und nicht zuletzt von Geistlichen auf dem Lande, wo die professionelle medizinische Versorgung dürftig war, praktiziert,91 wohingegen zugleich die Tradition der medicina spiritualis des 16. und 17. Jahrhunderts in den Hintergrund trat.

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Vgl. Eberhard Mannack: Johann Rist. Gelehrter, Organisator und Poet des Barock. Festvortrag zur 89. Jahresversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen e.V. am 5. Juni 1988 in Kiel. München 1988, S. 8.; vgl. die Leichenpredigt auf Rist: Johannes Hudeman: Ars benè moriendi Das ist: Christliche Sterbens=Kunst/ Gezeiget aus den Worten Luc. XIIX. 13. Gott sei mir Sünder gnädig. Jn der Leich=Predigt Welche bei ansehnlicher und Volckreicher Beerdigung Des Weiland Wol-Ehrwürdigen/ WolEdlen/ Vesten und Hochgelahrten Herrn H. Johann Risten [...] Anno 1667. d. 12. Septemb. gehalten/ und auff Begehren zum Druck herauß gegeben hat Johann. Hudeman [...]. Hamburg 1667 (HAB Wolfenbüttel Slg. Stolberg LP 18925), fol. D 2v: »Von dannen hat Er sich auff die hohe Schule nach Rostock begeben/ und wie Er gespühret/ das seine Capacitaet jhm zuließ/ auch andern studiis nach zu trachten/ hat Er dieses jhm von Gott verliehenes Pfündlein nicht vergraben/ sondern seinen Fleiß auch auf das Studium Medicinae wenden und nach dem Exempel seines Seligmachers CHristi/ der an Leib und Seel gebrechlichen und mangelhafften Welt/ so wol mit Leiblicher/ als geistlicher Cur wollen zu Hülffe kommen; Welches löbliche Vornehmen Jhm dann auch so wol gelungen/ daß Er durch Unterweisung des Hocherfahrnen und Weltbekandten Chymici, Doct. Fabritij, imgleichen des Güstrauwischen HochFürstl. Jtaliänischen Leib Medici Angeli de Sala, wie auch anderer fürnehmer Practicanten, so viel in Botanicis, Chymicis und Pharmaceuticis erlernet/ daß Er nicht allein selbst Laboriren und allerhand Artzneien zurichten können/ sondern auch Zeit wehrendes seines Predig=Ampts/ beides in seiner Gemeine/ als auch in andern vielen benachtbahrten Fürstenthümern und Städten durch die Gnade GOttes unzehlbahre glückliche Curen verrichtet.« Vgl. Heinrich Pompey: Die Bedeutung der Medizin für die kirchliche Seelsorge im Selbstverständnis der sog. Pastoralmedizin. Eine bibliographisch-historische Untersuchung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (= Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge 23), Freiburg i. Br. 1968, S. 74ff. 151ff. u.ö.

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Ein Beispiel für eine sehr intensive Rezeption der medizinischen Theologie im Luthertum des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts ist Valerius Herberger (1562–1627). Herberger hat u.a. eine umfassende Auslegung des apokryphen Buches Jesus Sirach verfasst, die aus seiner Predigtpraxis erwachsen ist, und in ihr Sir 38 intensives Augenmerk geschenkt hat – ein Text, der im Hinblick auf die lutherische theologia medicinalis von äußerst zentralem Interesse ist. Herberger gibt hier u.a. konkrete diätetische Ratschläge, etwa den folgenden: »Viel Fressen macht kranck/ und ein unersättiger Fraß krieget das Grimmen. Viel haben sich zu Tode gefressen. Wie Boleslaus Hertzog zu Brieg/ der am Oster=Tage wollte einbringen/ was er in der Fasten versäumet hatte/ und dreyzehen gebratene Hühner auf einmal auffraß/ aber drüber die Erde kauen muste.«92 Da keiner weiß, wie lange er gesund ist und zu leben hat (»heute roth/ morgen todt«93), soll man, so rät Herberger mit Sir 38,1 (›EHre den Artzt mit gebürlicher Verehrung, das du jn habest zur not‹), Ärzte und Apotheker in Ehren halten, nicht erst, wenn man ihrer bedarf, sondern schon in Zeiten der Gesundheit, und zudem eine Hausapotheke zu unterhalten.94 In Sir 38,1 erkennt Herberger gleichsam ein Berufsstands-Motto der Ärzteschaft, das er mit der antik-heidnischen Bezeichnung des Arztes als Hand Gottes95 verknüpft. »Da haben Medici und Apothecker ihr Encomium und schönen Lob=Spruch. Ein Medicus ist ein rechter Dorotheus, oder Gottes Gabe/ Manus Dei, Gottes Hand.«96 Doch auch Herberger erinnert daran, dass die Ehre, die Ärzten zu zollen ist, nur dann mit Recht eine »gebührliche Verehrung«97 genannt werden kann, wenn man sein Vertrauen zuvörderst auf Gott bzw. auf die Heilige Schrift als geistlichem Arzneibuch98 und nicht auf den Arzt alleine setzt. Ein diesbezüglich negatives biblisches Exempel bietet König Assa, der in seiner Krankheit Hilfe nur bei Ärzten, nicht aber bei Gott suchte: ›Vnd Assa ward kranck an seinen Füssen im neun vnd dreissigsten jar seines Königreichs/ vnd seine kranckheit nam seer zu/

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Valerius Herberger: Sirachs Hohe Weißheit= und Sitten=Schule/ Oder Jesus Sirach Jn XCVII. Predigten deutliche erklähret [...]. Leipzig 1698 (HAB Wolfenbüttel Th. 4° 28), S. 522. Ebd., S. 523. Vgl. ebd.: »So vermahnet Sirach bald darauf/ daß man auch bey gesundem Leibe einen bescheidenen/ Gottsfürchtigen und erfahrnen Artzt/ so wol einen fleissigen Apothecker ehren und für Gottes Gaben erkennen soll/ und daß sich ein ieder auff eine feine Hauß=Apothecken befleissige. Hauß=Mütter sollen Apotheckerin seyn/ ihre Würtze/ Wasser und gute Säfftlein für Kinder und Gesinde im Vorrath halten.« Scribonius Largus: Compositiones. Hrsg. von Sergius Sconocchia (= Bibliotheca scriptorum graecorum et romanorum Teubneriana o. Nr.). Leipzig 1983, Epistula dedicatoria, S. 1,1f.: »Inter maximos quondam habitus medicos Herophilus, Cai Iuli Calliste, fertur dixisse medicamenta divum manus esse, et non sine ratione, ut mea fert opinio […].« Herberger: Sirach (Anm. 92), S. 523. Ebd., S. 523. Vgl. ebd., S. 3f.: »Biblia comparate, (sagt Chrysostomos) quae medicina animae sunt; omnium enim malorum causa est, ignorare scripturas. Schafft euch doch eine Bibel ins Hauß/ als welche eine Artzney der Seelen ist; denn das ist alle Ubels Ursach/ wenn man die Schrifft nicht weiß/ wenn man in der Bibel bekannt ist/ wie im Böhmer Walde.«

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Vnd sucht auch in seiner kranckheit den HERRN nicht/ sondern die Ertzte. Also entschlieff Assa mit seinen Vetern/ vnd starb im ein vnd vierzigsten jar seines Königreichs‹ (2Chr 16,12f.). Die Sünde König Assas besteht darin, dass er die causa prima der Heilung, nämlich Gott, verachtete, sein Vertrauen lediglich auf die causae instrumentales setzte, mithin gegen das erste Gebot verstieß, indem er dem Arzt mehr Vertrauen schenkte als Gott. Die Ermahnung, die Ärzte in Ehren zu halten, hat auch ganz handfeste, alltägliche Aspekte. Recht häufig begegnen daher im Rahmen der lutherischen Auslegungen von Sir 38 kritische Töne bezüglich der offenbar recht niedrigen Zahlungsmoral, was die Honorierung von Ärzten betrifft. So auch bei Herberger: »Thue nicht wie D. Esche hat pflegen zu klagen: Die Patienten sähen den Medicum an zum ersten als einen GOtt/ wenn er kömmt: Zum andern als einen Engel/ wenn die Hülffe sich zeiget: Und zum dritten als einen Teuffel/ wenn man zahlen soll«.99 Herberger lobt Gott als den Urheber nicht nur der Medizin, sondern auch der Pharmazie.100 Hierbei nimmt Herberger jedoch nicht nur Gott als den Schöpfer der Heilkräuter in den Blick, sondern auch und vor allem als denjenigen, der im Rahmen der creatio continuata Jahr für Jahr neu die nötigen Heilmittel bereitstellt. Gott arbeitet im Zuge der stetigen conservatio der Schöpfung u.a. als Apotheker.101 In Herbergers Sirach-Auslegung koinzidieren heterogene Schreibweisen. Herberger geht es nicht nur darum, die tröstliche Botschaft von Gottes geistlichmedizinisch motiviertem Heilshandeln auszurichten, vielmehr vermittelt der Prediger auch grundlegende medizinethische Kenntnisse und tritt zugleich als Berater bezüglich der konkreten Lebensgestaltung auf, etwa wenn er für die Einrichtung und Unterhaltung von Hausapotheken wirbt oder diätetische Ratschläge gibt. Nicht nur in seiner Sirach-Auslegung hat Herberger über die theologia medicinalis gehandelt, sondern auch in anderen Zusammenhängen, u.a. in einer Leichenpredigt auf den Liegnitz-Briegschen Hofarzt Flaminius Gasto († 5.2.1618).102 Mit ihm war Herberger eng befreundet. Herberger wählt als Predigttext den locus clas-

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Ebd., S. 525. Vgl. ebd., S. 523: »Die Artzney ist auch von GOtt: Der Blümlein Krafft ist von GOtt/ GOtt läst sie dem Menschen zum besten aus der Erden wachsen«. Vgl. ebd.: »Die gantze Welt ist Gottes Apotheca/ die steht voller Büchsen und Flaschen. GOtt ist ein fleissiger Apothecker/ er renoviret durch sein kräfftiges Wort seine Materialien alle Jahr/ (spricht der Herr Matthesius) und giebt einem ieden Lande nach Gelegenheit der Leiber und der Lufft eigene Artzney.« Valerius Herberger: JESUS OMNIUM MEDICORUM PRINCEPS ET DOMINUS. SANATOR Fidelium aegrorum & aegrotorum, ipsorum quoque Medicina Doctorum. JESVS Der HERR mein Artzt/ der fürnemeste/ klügeste vnd allerglückseligste Doctor, welchem keiner vnter seinen Patienten ist gestorben. Beschawet aus der letzten Zeil/ Exod. 15. Jch bin der HERR dein Artzt. I. Zu Ehren/ seiner grossen Trew/ II. Zu gefallen/ allen Doctoribus Medicinae, III. Zum Gedechtnis aber/ des tewren H. DOCTORIS FLAMINII GASTONIS, Fürstlicher Gnaden von Lignitz vnd Brieg/ so wol auch der löblichen Stadt Guraw trewen MEDICI. Welcher seliglich entschlaffen Anno 1618. den 5. Februarii, vnd den 21. hernach in grosser Versamlung begraben worden. Leipzig 1618 (UB Rostock Fl-3384 [7]).

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sicus Ex 15,26, denn diese Stelle »reimet sich artig auff des jetzo seligen Herrn D. Flaminii Beruff vnd Profession«.103 Ehre gebührt dem Berufsstand der Ärzte – so Herberger im Anschluss an den französischen Rechtsgelehrten Pierre Grégoire (ca. 1540–1617) – vornehmlich darum, weil der Sohn Gottes diesen insofern ehrt, als er der Urheber aller Gesundheit ist.104 Mit der metaphorischen Bezeichnung des Arztes als Hand Gottes greift Herberger einen antik-heidnischen Topos auf, denn schon Herophilos (335–280 v. Chr.) hat die Arzneien ›Hände Gottes‹ genannt, wie der römische Arzt Scribonius Largus (1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.) berichtet.105 Die Heilige Schrift bietet, so Herberger, eine Fülle von exempla solcher Gestalten, die, von Gott begabt, medizinisch tätig waren. Salomo etwa war »ein hochverständiger KräutelDoctor«,106 wie 1Kön 4,33 zu entnehmen ist. Der Prophet Jesaja war nicht nur damit befasst, Gottes Wort auszurichten, sondern war »zugleich ein Wundartzt«, der den König Hiskia mit einem Feigenpflaster behandeln ließ (Jes 38,21).107 Der Evangelist Lukas betätigte sich als Leibes- und Seelenarzt gleichermaßen und bediente sich seines Evangeliums als »Kräuter=Buch«.108 Die enge wissenschaftstheoretisch begründete Verquickung von Theologie und Medizin erfährt hiermit eine biblische Legitimation. Doch nicht nur die biblische, sondern auch die heidnische Antike bietet eine reiche Ahnengalerie prominenter Ärzte, von denen Herberger Aeskulap, Hippokrates, Galenus und Avicenna nennt.109 Aufschlussreich in medizinhistorischer Hinsicht ist der Umstand, dass sich – wie Herberger berichtet – der verstorbene Gasto nicht nur mit der galenischen Schulmedizin, sondern auch mit der alchemischen Methode des Paracelsus110 ein-

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Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 12f.: »Der HERR Jesus ehret das Handwerck [scil. des Arztes]. Dem sey aber wie jhm wolle: Sanitatis autor Deus est, Dei instrumentum natura, utriusque minister medicus, saget Gregorius Tolosanus de Republica. Darumb ward vor zeiten ein glückseliger Medicus genennet: Manus Jehovaeh, GOttes gnädige heilsame Hand.« Herberger bezieht sich auf Pierre Grégoire: DE REPVBLICA LIBRI SEX ET VIGINTI, ANTEA IN DVOS DISTINCTI tomos, nunc vno concise & artificiose comprehensi [...], MVLTIJUGA RERVM SCIENTIA, varietate, & nouitate, ac pene aurea Reipubl. instituendae ratione, non tam vtiles, quam iucundi lectoribus futuri. EDITIO GERMANIAE NOVA [...]. O.O. 1597 (Universitäts- und Landesbibliothek Halle/S. AB 68368), S. 1184: »Sanitatis auctor Deus, qui occidit & viuificat, deducit ad inferos & reducit, vim tribuit & efficaciam sanandi rebus, vnde medicinae colliguntur: Dei instrumentum est natura, vtriusque minister, medicus:« Vgl. Krafft: Christus (Anm. 2), S. 170 und Schadewaldt: Apologie (Anm. 18), S. 115. Herberger: Jesus (Anm. 102), S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 26. Zum Paracelsismus vgl. folgende grundlegende Edition: Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Der Frühparacelsismus, bislang 2 Teile. Hrsg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle (= Frühe Neuzeit 59 und 89). Tübingen 2001/2004.

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gehend befasst hat.111 Gasto war ein »zugleich in Galenischer vnnd Paracelsischer Medicin erfahrner Mann«.112 Dies wird bestätigt, wenn man in die von Matthäus Vechner (1587–1630) auf Gasto gehaltene Leichabdankung blickt, die dem Druck der Herbergerschen Leichenpredigt beigegeben ist. Vechner sagt, Gasto sei Galenus und Hippokrates gefolgt, jedoch »liberaliter«.113 Was die Arzneikunde betrifft, so habe Gasto auch die »Hermeticorum Magisteria vnd arcana, Essentias vnd Tincturas«114 nicht ungenutzt gelassen; Gasto ist demnach zu den zahlreichen Gelegenheitsparacelsisten115 zu zählen. Hieran wird sichtbar, dass sich die schroffe Kontraposition von althergebracht-galenischer und fortschrittlich-hermetischer Medizin in praxi nicht in der Weise fortsetzte, wie man dies aufgrund der vor allem im akademischen Kontext und in der Fachliteratur geführten Debatten erwarten könnte. Vielmehr war es anscheinend üblich, im Rahmen der ärztlichen Praxis die paracelsische Medizin zu nutzen und auszuprobieren, auch wenn man grundsätzlich im Geiste der herrschenden Schulmedizin ausgebildet war. Insofern hat man es bei Herberger nicht nur mit Dokumenten der Verquickung von leiblich- und geistlichmedizinischen Schreibweisen zu tun, sondern zugleich mit solchen Quellen, die die gleichzeitige Wirkung zweier konkurrierender Traditionen der medizinischen Fachschriftstellerei – der galenischen und der paracelsistischen – bezeugen. Zunächst interpretiert Herberger Ex 15,26 christologisch, indem er diesen Text mit Mt 9,12, Lk 10,33ff. und den Heilungsgeschichten der Evangelien synoptisch liest. Sodann stellt Herberger in einer langen Kette von Vergleichen die von Menschen betriebene medizinische Kunst derjenigen gegenüber, die der erste und oberste Arzt Christus betreibt. Grundlegend hierbei ist wiederum der Gedanke der Überbietung: Die von Christus betriebene Heilkunst übertrifft die menschliche Kompetenz bei weitem. Gleichwohl wird hierbei umgekehrt das Tätigkeitsfeld von Ärzten als Gleichnisraum erschlossen, in dem sichtbar wird, wie der erste Arzt praktiziert. So interpretiert Herberger z.B. das hippokratische Gebot ärztlicher Verschwiegenheit geistlich und zeigt somit, wie sich die Verschwiegenheit des ersten Seelsorgers, des Sohnes Gottes, abbilden lässt an der ärztlichen Schweigepflicht.116 Der Umstand, dass sich die medicina corporalis der Heilmittel zu be-

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Vgl. Herberger: Jesus (Anm. 102), S. 26f.: »Jch wil hier geschweigen des berühmeten AEsculapii, des tieffsinnigen Hippocratis, des fürtrefflichen Galeni vnd Avicennae, vnd des weltkündigen Theophrasti Paracelsi. Die Gelehrten wissen das sehr lange Register alter vnd newer Medicorum, aus dem Theatro Humanae vitae zu Basel gedruckt/ etc. Was vnser jetzo selige Herr Flaminius Gasto für ein trefflicher vnd zugleich in Galenischer vnnd Paracelsischer Medicin erfahrner Mann gewesen/ wird in den nechsten pahr Tagen in diesen vnd benachbarten Orten nicht leicht vergessen werden.« Ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 149f. Vgl. Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle: Einleitung. In: Corpus Paracelsisticum 2 (Anm. 110), S. 1–39, hier: S. 11 u.ö. Vgl. Herberger: Jesus (Anm. 102), S. 45f: »Einen verschwiegenen Mund haben/ eine Klincke fürm Maul haben/ das ist bey einem Artzt hochnöhtig/ damit der Patient jhm

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dienen hat, verweist auf Höheres, denn auch der Sohn Gottes praktiziert mit Hilfe eines Mediums, nämlich seines Wortes. Ein Unterschied aber liegt darin, dass menschliche Ärzte auf unterschiedliche materielle Medien angewiesen sind, Christus indes mit einem einzigen Medium auskommt.117 Eine wesentliche Differenz zwischen leiblicher und geistlicher Heilkunst besteht indes auch darin, dass die erstere auf Schritt und Tritt die Erfahrung der Erfolglosigkeit machen muss, da gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist, dem Arzt Christus aber noch nie auch nur ein Patient unter den Händen weggestorben ist, weil der Heiland den Tod in sein Gegenteil verkehrt und ihn in einen Schlaf verwandelt hat.118 Dass Christi Heilkunst aller anderen weit überlegen ist, wird nach Herberger zusätzlich darin sinnenfällig, dass der Sohn Gottes nicht an der Sorbonne zu Paris, sondern »im himlischen Paradiß« als der »allerhöchsten Schule« promoviert und auf dem Berg der Verklärung von Gott selbst zum Doktor »proclamiret«119 worden ist. Die unvergleichliche Effizienz der von Christus betriebenen medicina spiritualis liegt darin begründet, dass er nicht lediglich unter Anwendung von Drittem heilt, sondern sich selbst als remedium verordnet, indem er sein Blut vergießt. Nur hier wird der Arzt selbst zum Arzneimittel, und Christi Blut ist die beste, wirkungsvollste Arznei, weil dessen Spender wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich ist. Eine der wichtigsten Methoden, dieses medicamentum vitae aeternae zu erlangen, ist nach Herberger die Betrachtung des Leidens Christi. Innerhalb der Meditation der Passion Christi sucht der Sündenkranke die geistliche Apotheke auf und appliziert sich das Blut Christi, das allein von der schwersten Krankheit befreien kann (Jes 53,5).120 Um die metaphorische Redeweise, die durch die Be-

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frewdig alles heimliche Leiden möge offenbahren. Fürwar vber den HERRN JEsum darff niemand klagen/ daß er vnsere Heimligkeit jemals verrahten/ oder bey vns aus der Schule geschwatzet habe/ er helt sich nach dem Juramento Silentii Hippocratis.« Vgl. ebd., S. 48f.: »Andere Doctores müssen jhre Artzneyen aus Kräutern oder andern materialien zurichten. Vnserm himlischen Doctori Jesu/ ists nur vmb ein Wort zu thun/ so ist dem Patienten geholffen. Darumb sagte der Häuptmann zu Capernaum/ Matth. 8. HERR/ ich bin nicht werth/ dz du vnter mein Dach gehest/ sondern sprich nur ein Wort/ so wird mein Knecht gesund/ etc. Sein Wort läufft schnell/ Psal. 147. Als der HERR Jesus zu dem Königischen sagete/ Joh. 4. Gehe hin/ dein Sohn lebet/ das hatte alsbald dasselbe Augenblick seine WunderKrafft vber fünff Meilweges.« Vgl. ebd., S. 50f.: »Vnd das ist der einige Artzt vnter allen/ welchem kein Patient/ so lange die Welt gestanden/ ist gestorben. Denn/ sonst gehets nach dem Wort: Non est in medico, semper relevetur ut aeger. Aber bey des HERRen Jesu Cura bleiben wir alle leben/ kömpt gleich der Todt/ so wird er vns doch in einen süssen Schlaff verwandelt/ nach des HErren JEsu Zeugniß/ Matthaei 9. Das Mägdlein ist nicht todt/ sondern es schläfft.« Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 71–73: »WAs brauchet denn der HErr vnser Artzt für köstliche Artzneyen? Darauff giebet S. Johannes Antwort/ 1. Cap. 1. [scil. 1Joh 1,7] Das Blut JEsu Christi des Sohns Gottes/ macht vns rein von allen vnsern Sünden. Wiltu seine wolbestelte Apotheken visitiren, so beschawe jhn/ wie er am Creutz mit Händen vnnd Füssen ist außgespannet. Sein allerheiligster Leib ist voll thewrer Apotheker=Büchsen vnd Kräuselin/ da sind lauter Striemen/ Beulen vnd Wunden/ daraus rinnet/ sickert vnnd fleusset eitel edler Bal-

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zeichnung der Passionsmeditation als geistlichem Apothekenbesuch entsteht, noch zu verstärken, greift Herberger auf die antik-christliche allegorische Abbildung Christi als Pelikan zurück, dem der ›Physiologus‹ nachsagt, er könne seine toten Jungen mit seinem Blut zum Leben erwecken.121 Auch in Herbergers theologia medicinalis stehen die Sakramente und die Predigt als media salutis im Zentrum. So beginnt die geistliche »Cura« mit der »heiligen Tauffe«,122 in der der Sünder nicht mit »schlecht Wasser«,123 wie Herberger im Anschluß an Luthers Kleinen Katechismus124 formuliert, sondern mit dem Blut Christi gewaschen und im »Bad der Widergeburt«125 (Tit 3,5) der Sündenvergebung teilhaftig wird. Die geistliche Therapie setzt sich sodann jedoch fort im Rahmen der Predigt, die allen voran Zusage der remissio peccatorum zu sein hat. »Drumb nennet S. Petrus die Predigt eine Besprengung des Bluts Jesu Christi [scil. 1Petr 1,2].«126 Auch im Abendmahl wird der Christus praesens greifbar und vergegenwärtigt sich als Arzt, indem er in, mit und unter den Elementen Brot und Wein seinen Leib und sein Blut gibt. Wer am Abendmahl teilnimmt, so Herberger, begibt sich in die Therapie des himmlischen Samariters.127 Gerade die Überlegenheit der geistlichen Medizin ist auch bei Herberger Motivation für das Plädoyer, diese und die medicina corporalis miteinander zu betreiben und aufeinander zu beziehen. Wer Heilung begehrt, muss sich darum zuerst in die geistliche Therapie begeben, da die leibliche sonst nicht fruchten kann, »ob du schon die gantze Apotheke außfressest«.128 Nicht nur die applicatio des Blutes Christi als des wichtigsten, weil wirkungsvollsten Arzneimittels, also nicht nur die Verkündigung des Evangeliums ist das Ziel der Herbergerschen Predigtweise. Vielmehr hat es der geistliche Therapieprozess – und hiermit folgt Herberger Luther – mit mehreren Phasen zu tun, zu denen auch die Gesetzespredigt gehört, die Herberger »Creutzbittere Purgierträncke«129 nennt. Nicht nur die empirische Wirklichkeit der Arzneikunst erhebt Herberger im Rahmen seiner metaphorischen Hermeneutik zum Raum der Erfahrung geistlicher Inhalte. Ähnliches gilt vielmehr auch von seiner Methodik der geistlichen Inter-

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sam für vnsere beschädigte Seelen/ seine allerheiligste Blutströpfflin sind die preciosae medicinae, die hochwichtigen Artzneyen/ die vns zu ewiger Gesundheit helffen. Davon hat die verdackte Rede in Mose gezeuget: Genes. 9. In sangvine vita, Das Leben ist im Blut [vgl. Gen 9,4–6].« Vgl. ebd., S. 73. Ebd., S. 78. Ebd. Vgl. BSLK, S. 515,25. Herberger: Jesus (Anm. 102), S. 78. Ebd., S. 79f. Vgl. ebd., S. 84f.: »Endlich im hochwürdigen Abendmal/ da trencket vns der HErr Jesus mit seinen thewren Blutströpfflin/ da flösset der himlische Samariter sein heilsames Balsamöle in die Wunden vnsers Gewissens/ so werden wir geheilet.« Ebd., S. 95. Ebd., S. 101.

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pretation von Personennamen. Innerhalb einer inventio a nomine nennt Herberger Flaminius Gasto ein »templum divini Flaminis« und »Divini Flaminis Flaminica domus, des heiligen Geistes werther Gasthoff«.130 Sein Familienname, so berichtet Herberger, gab Gasto vielfältigen Anlass, sich dessen zu erinnern, dass er in seiner irdischen Existenz tatsächlich nur Gast, »Weltgast«131 ist, sich auf der Wanderschaft (peregrinatio) befindet und seine wahre Heimat allein im Himmel hat (vgl. Hebr 13,14). Der Name Gasto avanciert hier zur Motivation, den Sachzusammenhang der Lehre von der ecclesia militans zu meditieren. »Darnach hat er auch solche Todesgedancken geschöpfft aus seinem eignen Zunamen Gast. Dabey hat er bedacht/ daß er ein Gast auff Erden sey/ Ps. 119. v. 19. vnd daß seines bleibens hier nicht sey/ Ebr. 11. v. 13. Levit. 25. v. 23.«132 Ergreifend ist die Art und Weise, wie Herberger davon erzählt, dass er seinen Freund Gasto durch eine ähnliche inventio a nomine einst dazu überredet hat, nicht mehr am selben Tag die Heimreise anzutreten, sondern als Gast beim Herberger zur Herberge zu sein. Er wolte einmal zur Frawstadt vber Nacht nicht bleiben/ weil ich nun in der Kirchen zu thun hatte/ gieng ich zu jhm/ vnd bat/ er wolte mich doch zuvor lassen fertig werden/ vnd sprach: Herr Doctor/ wo der Gast nicht mehr wil bey dem Herberger bleiben/ so wirdts in der Welt nit gut werden/ oder der jüngste Tag muß bald kommen. Da wandte er sich zu seiner lieben Frawen Barbara/ vnd sprach: Liebes Hertz/ fürwar/ diese invention zu ehren/ muß ich lassen außspannen. Wir haben vns ja viel Frewdenstunden darüber gemacht/ daß ich ein geborner Herberger/ vnd er ein geborner Gast war.133

Der verstorbene Arzt mit Namen Gasto, der auf Erden nur Gast gewesen ist, ist durch den Tod, wie Herberger nun seine geistliche Interpretation des Wortfeldes um Gast und Herberge(r) weiter fortspinnt, zum »selige[n] Himmelsgast«134 dessen geworden, der in Mt 25,36 in der Rolle des Weltenrichters das Beherbergen von Fremden als eines der sieben Werke der Barmherzigkeit nennt und auf Erden selbst ein Gast gewesen ist: Mein lieber Gast/ der geborne Weltgast/ ist nun ein seliger Himmelsgast worden. Der HErr mein Artzt Jesus/ der auch ein Gast gewesen/ Matth. 25. v. 36. helffe mir seliglich hernach/ damit Gast vnd Herberger wieder mit frewden zusammen kommen. Am Jüngsten Tage/ wird mein HERR Jesus/ der auch weiland ein Gast gewesen/ kommen/ alle Gäste zu besehen/ wie das Evangelium saget Matth. 22. da wird er sprechen/ wie Job cap. 31. v. 32. Draussen muß mir der Gast nicht bleiben. Vnd weiter: Gehe ein zu deines HERRN Frewde Matth. 25. Gehe ein in den grossen geraumen Gasthoff des ewigen Lebens/ da wird dieser Himmelsgast nicht mehr ein schlechter Gast seyn/ sondern ein Bürger mit den Heiligen Ephes. 2. v. 19.135

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Ebd., S. 112. Ebd., S. 120. Ebd., S. 117f. Ebd., S. 119f. Ebd., S. 120. Ebd., S. 120–122.

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In eine ähnliche Richtung weist Herbergers Predigt auf die Frau eines Apothekers,136 die in den ›Trauerbinden‹ abgedruckt ist. Auch hier bringt Herberger seine Programmatik der geistlich-biblischen Dechiffrierung der alltäglichen Berufsarbeit zur Anwendung und zeichnet das Tätigkeitsfeld des Apothekers in die geistliche Phänomenologie des Alltags ein. Den Leichenzug vom Haus der Verstorbenen zur Kirche interpretiert Herberger als einen Weg von einer Apotheke zur anderen: MEine geliebten Freunde/ wir sind jetzt gegangen von einer Apotheken zu der andern. Aus vnsers Herrn Apothekers hauß haben wir eine Leiche fortgetragen in des HErrn Jesu Christi geistliches Apotheker hauß. Kein kunstreicher Apotheker ist in der Welt als Jesus Christus/ der hat Artzney wider alle Kranckheiten. Vnsere Kirche ist sein hauß/ darin hat er seine Apotheken/ das ist der Tauffstein/ der Predigstuel/ die Beichtstüle/ vnd das Hohe Altar.137

Da zur geistlichen Apotheke auch die Kanzel gehört, definiert Herberger sein Predigtamt als dasjenige eines geistlichen Apothekers, der im Dienste des Apothekers Christus steht. »Jn jener Apotheken stunden viel Büchsen/ Kräuselin vnd Schachteln mit allerley nützlichen simplicibus vnnd compositis gefüllet: Allhier gefallen viel nützlicher/ heilsamer/ tröstlicher Predigten mit viel warnung/ lehr vnd trost gefüllet.«138 In dieser Perspektive rücken die Kollegialität des Predigers Herberger und der Verstorbenen in den Blick. Die Arzneien der leiblichen Apotheke dienen dem Leib und sind darum nicht zu verachten (Sir 38,4: ›DEr HERR lesst die Ertzney aus der Erden wachsen/ vnd ein Vernünfftiger veracht sie nicht‹),139 während »Vnsere Kirch= vnd Cantzelartzneyen [...] vnseren Seelen im Gebet/ in Creutz vnd leiden/ in anfechtung/ im leben vnd tode [dienen]«.140 Der Unterschied zwischen den beiden Apotheken besteht darin, dass es in der leiblichen kein Kraut gegen den Tod gibt, sehr wohl aber in der geistlichen. »Hier aber auff der Cantzel wird das edle blümlin aus der Wurtzel Jesse Jesus Christus gerühmet/ das dienet wider noth vnd todt [...] was jene Apotheken nicht kan geben/ das finden wir allhier reichlich.«141

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Valerius Herberger: APOTHECA MORIENTIUM, UEL PANACEA AGONISANTIUM. Der Sterbenden Christen Apotheken/ Oder Ein Kräutlein aus des HErrn JEsu Garten/ welches wider den schwartzen Sontag des Todes kan arten. Gepflückt aus einem Sprüchlin JESV Iohan. 8. Warlich warlich etc. vnd geprediget Anno 1601. am schwartzen Sontag/ IUDICA. Bey den schönen Begräbnis der tugentsamen Frawen Evae/ des weisen Herrn Christophori Nesselhauffens/ Rathsfreundes vnd Apothekers ersten Haußwirtin. In Ders.: Der Ander Theil Der Geistlichen Trawrbinden [...] Gewircket von lauter safftigen/ schmackhafftigen/ nützlichen vnd tröstlichen Leichpredigten/ derer zahl bald nach der Vorrede zu finden. Zu ehren etlichen frommen/ Christlichen/ jetzo in Gott ruhenden Hertzen. Leipzig 1605 (HAB Wolfenbüttel 468 Th. [2]), S. 150–172. Ebd., S. 151. Ebd. Vgl. ebd., S. 151f. Ebd., S. 152. Ebd.

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Herberger legt seiner Leichenpredigt auf die Apothekergattin Joh 8,51 (›So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich‹) zugrunde,142 also genau den Bibelvers, auf den sich Luthers einzige explizite Apostrophierung Christi als Apotheker143 bezieht. In diesem Bibeltext, der – so Herberger – eine »Apotheca morientium«144 ist, »weiset JESVS der himlische Apotheker selber auff die köstliche Apothekerbüchse seines Wortes«.145 Hatte Herberger in seiner Leichenpredigt auf Gasto dazu geraten, sich durch die Passionsmeditation die geistliche Arzneikunst zu applizieren, so anempfiehlt er nun die meditatio mortis anhand von Ps 90, mit der die Weltliebe überwunden werden kann. »Todes gedancken sind ein heilsames Pflaster auff die bösen Weltgrinde«.146 Wenn der Tod (»Streckebein«) kommt, »ists gut/ wenn das hertz/ wie eine wolbestelte Apotheken/ mit den worten des Lebens Christi Jesu in allen winckeln besetzet ist«.147 Diesbezüglich ist die verstorbene Apothekerin ein exemplum rechter Nutzung der geistlichen Apotheke.148 Doch nicht nur die leibliche Apotheke ist gekennzeichnet durch einen Verweisungscharakter, sondern auch die Kirche als apotheca spiritualis. Das Haus, in dem die Verstorbene gearbeitet hat, verweist auf die Kirche, diese wiederum jedoch auf zweierlei Apotheken: auf den Himmel, in dem die Seele die endgültige medizinische Versorgung findet, und auf das Grab, in dem der Leib der Verstorbenen vom Apotheker Christus bis zum Tag der resurrectio carnis aufbewahrt wird.149

7.

Epilog

Die Lehre von der Ubiquität150 und leiblichen Realpräsenz Christi im Abendmahl ist Ausgangspunkt und Grundlage der lutherischen Naturtheologie, die Christus allenthalben weiß und darum das Buch der Natur als Erfahrungs- und Kommunikationsraum der biblischen Botschaft zu entschlüsseln sich zur Aufgabe

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Vgl. ebd., S. 153. S. o. bei Anm. 71. Herberger: Trauerbinden (Anm. 136), S. 155. Ebd. Ebd., S. 157. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 170: »Sie hat aber jhr hertz/ gleich wie eine geistliche Apotheken/ mit den worten Christi durch vnd durch gefüllet/ das mag eine herrliche künstliche Apothekerin seyn!« Vgl. ebd., S. 172: »Gott lob vnd danck/ sie hat vberwunden/ sie ist hinauff gezogen mit jhrer Seel in die himlische Apotheken/ da lieblich wesen ist zur Rechten Gottes ewiglich. Jhre knochen werden jetzt in die Apotheken des grabes gesetzet werden/ da wird sie der himlische Apotheker JESVS wol wissen zum ewigen Leben zu verwaren.« Vgl. Jörg Baur: Art. Ubiquität. In: Theologische Realenzyklopädie 34 (2002), S. 224– 241.

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macht.151 Gott bedient sich dieser bis weit in das antike Christentum zurückreichenden Anschauung zufolge einer doppelten Schreibweise, indem er sein Wort dem liber scripturae und dem liber naturae einschreibt. Luther greift diese Tradition auf und verbindet sie verstärkt mit der sakramentstheologischen Rede von der leiblichen Ubiquität des Sohnes Gottes. Diesen Zusammenhang entfaltet Luther wohl am deutlichsten in seiner großen Abendmahlsschrift aus dem Jahr 1528. Gleichwohl verfällt Luther nicht der Gefahr des Panentheismus, wiewohl nicht wenige Passagen bei Luther sich (gewiss absichtlich) genau diesem Verdacht152 aussetzen, um die Unerhörtheit der Präsenz Christi allenthalben zu akzentuieren. Denn Gott geht in Christus zwar in die Schöpfung ein, bleibt jedoch zugleich deren Gegenüber. Der Sohn Gottes ist sowohl seiner göttlichen als auch seiner menschlichen Natur nach allgegenwärtig, weil sich die in einem stetigen Gegenwechsel (Antidosis) befindlichen beiden Naturen nicht voneinander trennen lassen.153 Zugleich jedoch ist Christus als deren Schöpfer außerhalb der Kreaturen.154 Auf diese Weise durchbricht Luther den philosophischen Lehrsatz, wonach Endliches Unendliches nicht fassen kann (›finitum non capax infiniti‹), indem er das ›non‹ ausläßt: ›finitum capax infiniti‹. Bei dieser einfachen Negation indes bleibt es nicht. Vielmehr kann die menschlichen Verstand und Sprache übersteigende ineffabilitas der Allgegenwart Gottes nur in der Negation der Negation zur Sprache gebracht werden: Kreatürliche Dinge sind nicht nur nicht zu klein, als dass Gott in ihnen sein könnte, sie sind vielmehr »viel viel zu weit«.155 Die Unerhörtheit der leiblichen Präsenz Christi in allen Dingen und deren rationale Nichtbegreifbarkeit besteht darin, dass der ubique realpräsente Christus auch und zugleich nicht ist, worin er ist, ja in allem gegenwärtiger ist als es die Dinge sein können, in denen er sich vergegenwärtigt.156 Dass man auch, wenn man – ungetrennt und ungesondert –

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Vgl. Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards (= Studies in the History of Christian Thought 104). Leiden u.a. 2002, S. 23–74. Vgl. treffend Ebeling: Luther-Einführung (Anm. 87), S. 303f.: »Um der Glaubhaftigkeit des Wortes und um der Worthaftigkeit des Glaubens willen müssen Gott und Welt so zusammengedacht werden, daß zuweilen der Verdacht pantheistischer oder gar atheistischer Redeweise entstehen könnte.« Vgl. WA 23,135,3–6: »Drumb mus er ja ynn einer iglichen creatur ynn yhrem allerynnwendigsten, auswendigsten umb und umb, durch und durch, unden und oben, forn und hinden selbs da sein, das nichts gegenwertigers noch ynnerlichers sein kan ynn allen creaturen denn Gott selbs mit seiner gewallt.« Vgl. StA 4,96,18f.22–97,1. Christus »kan also sein ynn vnd bey den Creaturn/ das sie yhn nicht fulen/ ru(e)ren/ messen noch begreiffen [...] Denn du must dis wesen Christi/ so er mit Gott eine person ist/ gar weit weit ausser den Creaturn setzen/ so weit als Gott draussen ist/ widderumb so tieff vnd nahe ynn alle Creatur setzen/ als Gott drynnen ist.« Vgl. WA 23,137,25–31. StA 4,102,10. Vgl. Baur, a.a.O. (Anm. 150), S. 232. Vgl. WA 23,137,31–138,2: »Hat er nu die weise funden, das sein eigen göttlich wesen kan gantz und gar ynn allen creaturn und ynn einer iglichen besondern sein, tieffer, yn-

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diesen Aspekt der praesentia Christi, die zugleich eine Nichtgegenwart ist, weil sie die Zeiten transzendiert, gebührend beachtet, nicht zwangsläufig der Gefahr des Panentheismus unterliegen muss, wird dadurch gewährleistet, dass nach Luther Christus zwar allenthalben gegenwärtig ist, er sich jedoch nur dort mit Gewissheit fassen lässt, wo er sein Wort an die kreatürlichen Elemente anbindet und hörbar macht, nämlich im Abendmahl.157 Das Bestreben, die sakramental-göttliche Signatur der empirischen Wirklichkeit zu erfassen, führt aber – wie beobachtet – auch dazu, dass die alltägliche Berufswelt auf ihre Gleichnisfähigkeit und somit auf ihre geistlichen Dimensionen hin befragt wird. Dass dies keineswegs nur für die Tätigkeitsfelder von Ärzten und Apothekern gilt, sondern z.B. auch für Buchdrucker158 und Militärs,159 ist bereits gesehen worden. Lohnenswert wäre es allemal, eingehender zu erforschen, welche geistlichen Perspektiven lutherische Theologen bezüglich anderer Berufssparten eröffnen. Wie eng miteinander verschränkt die Schöpfungshermeneutik und die Entzifferung der Berufswelt sind, lässt sich schon bei Luther mit Händen greifen. Nicht nur die Schöpfungswerke sind nach Luther ›larvae‹,160 in denen sich Gott verbirgt, zugleich aber den Augen des Glaubens sichtbar wird, sondern auch die unterschiedlichen Berufstätigkeiten.161 Da aber Offenbarung nach Luther nicht mit einer platten Offenbartheit gleichzusetzen ist, sondern immer mit Verborgenheit zu tun hat, folgt hieraus: Derjenige, der einer Berufsarbeit nachgeht, verhilft Gott dazu, im Alltag sichtbar zu werden.162 Wohlgemerkt obwaltet hier eine doppelte

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nerlicher, gegenwertiger denn die creatur yhr selbs ist, und doch widderumb nirgent und ynn keiner mag und kan umbfangen sein, das er wol alle ding umbfehet und drynnen ist, Aber keines yhn umbfehet und ynn yhm ist, solt der selbige nicht auch etwa eine weise wissen, wie sein leib an vielen orten zu gleich gantz und gar were, vnd doch derselbigen keines were, da er ist?« Vgl. WA 19,492,19–493,8. Vgl. Johann Anselm Steiger: Der Mensch in der Druckerei Gottes und die imago Dei. Zur Theologie des Dichters Simon Dach (1605–1659) In: Daphnis 27 (1998), S. 263–290. Vgl. Johann Anselm Steiger: Nachwort. In: Johann Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard. Kritisch hrsg. und kommentiert von J.A. Steiger (= Doctrina et Pietas I, 10). Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317–334. 348–363, hier S. 329f. Vgl. z.B. WA 40/I,463,9–464,2: »Omnes ordinationes creatae sunt dei larvae, allegoriae, quibus rethorice pingit suam theologiam: sol als Christum in sich fassen.« Vgl. hierzu Herbert Olsson: Schöpfung, Vernunft und Gesetz in Luthers Theologie (= Acta Academiae R. Scientiarum Upsaliensis. Studia doctrinae Christianae Upsaliensia 10). Uppsala 1971, S. 375ff. 393ff. Vgl. WA 31/I, 436,7–1: »Was ist aber alle unser erbeit auff dem felde, im garten, jnn der stad, im hause, im streit, im regiern anders gegen Gott, denn ein solch kinderwerck, dadurch Gott seine gaben zu felde, zu hause und allenthalben geben wil? Es sind unsers herrn Gotts larven, darunter wil er verborgen sein und alles thun.« Vgl. WA 31/I,436,16–19: »Man spricht: ›Dat deus omne bonum, sed non per cornua taurum‹, Gott bescheret alles gut, aber du must zu greiffen und den ochsen bey den hörnern nemen, das ist, du must erbeiten und damit Gotte ursachen und eine larven geben.« Vgl. WA 16,263,5–7.

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dialektisch qualifizierte Verborgenheit, denn nicht nur Gott offenbart sich dadurch, dass er sich im Alltag verbirgt, sondern auch der Christenmensch betreibt seine Heiligung bzw. seine Tätigkeit im Sinne des Gebotes der Nächstenliebe, indem er diese unter alltäglichen Dingen verdeckt.163 So wie die Kreaturen per analogiam fidei zu Predigern der göttlichen Botschaft werden und die Natur darum als biblisches Bilderbuch gelten kann, so trifft ähnliches auch auf die Berufswelt zu: Das Handwerkszeug in einer Werkstatt oder Schneiderei, die Ladenausstattung, das Bierfass oder was es auch sei – alle diese während der beruflichen Arbeit in Brauch befindlichen Dinge sind – so Luther – Prediger und fordern den Menschen auf, in Befolgung des Gebotes der Nächstenliebe dem Nächsten zu dienen. Der hermeneutische Schlüssel indes, der notwendig ist, um die alltäglichen Dinge geistlich zu dekodieren, ist der Glaube, der Augen und Ohren für diese ungeahnte Botschaft öffnet. Hier wird die Werkstatt, ja selbst die Brauerei, zum Kirchenraum.164 Bestimmend ist auch hierbei das Theologumenon von der exinanitio und Kondeszendenz Gottes in Christus. Aufgrund der Tatsache, dass sich Gott mit der Inkarnation ins Fleisch, in die Kreatur und in die Zeit hinein entäußert, wird er fassbar in jedem noch so unscheinbaren Ding, auch in der alltäglichen Berufsarbeit, ja selbst in Werkzeugen und Produktionsmitteln.165 Der durch den Glauben neu- und freigewordene Christenmensch begibt sich aus Freiheit in die Bindung, in den Dienst am Mitmenschen und ahmt die Entäußerung Christi nach, indem er dem Nächsten zum Christus wird. Dies ist der Grund dafür,

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Vgl. WA 10/I,1,137,18–138,5: »Denn eynn Christlich weßen steht nit ynn eußerlichem wandel, es wandellt auch den menschen nit nach dem eußerlichen stand, ßondernn nach dem ynnerlichen, das ist, es gibt eyn ander hertz, eyn andernn mutt, willen und synn, wilcher eben die werck thut, die eyn ander on solchen mutt und willen thutt; denn eyn Christen weyß, das es gar am glawben ligt; drumb geht, steht, ysset, trinckt, kleydet, wirckt, wandellt er wie ßonst eyn gemeyn man ynn seynem stand, das man nit gewar wirt seyniß Christenthumß, wie Christus sagt Luce. 17: Das reich gottis kumpt nit mit eußerlicher weyße unnd leßt sich nit sagen: Sihe hie odder da, ßondern das reych gottis ist ynn ewrem ynwendigsten.« Vgl. Gustav Wingren: Luthers Lehre vom Beruf (= Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10/3). München 1952, S. 57: »Wer dem Beruf folgt, dessen Heiligung wird verborgen unter anstößlich alltäglichen Dingen, sodaß man kaum gewahr wird, daß er überhaupt ein Christ ist.« Vgl. WA 32,495,29–496,2: »Bistu ein handwercks man, so findestu die Bibel gelegt jnn deine werckstat, jnn dein hand, jnn dein hertz, die dich leret und furpredigt wie du dem nehesten thun solt: Sihe nur an deinen hand zeug, deine nadel, finger hut, dein bierfas, deinen kram, deine woge, ellen und mas, so liesestu diesen spruch [scil. Mt 7,12] darauff geschrieben, das du nirgend hin sehen kanst, da dirs nicht unter augen stosse, und kein ding so gering ist, damit du teglich umgehest, das dir solchs nicht on unterlas sage, wenn du es horen wilt, Und mangelt ia am predigen nicht, denn du hast so manchen prediger, so manchen handel, warhre, handzeug und ander bereitschafft jnn deinem haus und hofe, das schreyet alzumal uber deinen hals: Lieber, handele mit mir also gegen deinem nehesten, wie du woltest das dein nehester gegen dir handlen solt mit seinem gut.« Vgl. Wingren: Luthers Lehre (Anm. 163), S. 57. Vgl. ebd., S. 187, Anm. 163: »Wie Gott in Christus sich herabbeugt unter das Kreuz, so geht Gott auch hinein in die Glanzlosigkeit des Berufes durch Glaube und Liebe.«

Theologia medicinalis und apotheca spiritualis

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dass eine jegliche berufliche Tätigkeit, auch die niedrigste, etwa wenn die Magd den Hof fegt, als gleichwertig betrachtet werden muß.166 Die Unterschiede der sozialen Stellung coram mundo fallen coram Deo dahin. Aber gerade durch diese exinanitio des Christenmenschen in die Berufswelt hinein, wächst diesem die Erfahrung zu, dass der Bereich des Alltäglichen durch Christus eine hermeneutische Aufwertung erfahren hat. Zwar trifft es zu, dass die Berufsarbeit nach Luther in den Bereich der lex gehört167 und dabei zugleich bestimmt ist von dem Fluch, der darin besteht, dass der Mensch nach dem Fall im Schweiße seines Angesichts seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten hat. Gleichwohl dürfte deutlich geworden sein: Das Evangelium bricht in diesen Bereich des Gesetzes ein, infriltiert ihn gleichsam und artikuliert sich hier auf ungeahnte Weise. Zudem wird so die Grenzziehung zwischen Reich Gottes auf der einen und Reich der Welt auf der anderen Seite durchbrochen.168 Die Botschaft des Evangeliums erklingt im Reich der Welt, das vom Reich Gottes durchdrungen und somit unterlaufen wird. Insofern ist die geistliche Interpretation der irdischen Berufsarbeit ein integraler Bestandteil eines hermeneutischen Programms sowie einer sich hieraus ergebenden Rede- und Schreibweise, die die Theologie Luthers und seiner Erben zutiefst prägt: nämlich das Wirken Gottes in den phainomena, das Eingeschriebensein des EwigHimmlischen im Bereich der Empirie, die Spuren (vestigia) der Transzendenz in der Immanenz aufzuspüren, damit deutlich werde, dass alles Sichtbare über sich selbst hinausweist auf Unsichtbares, endzeitlich noch Ausstehendes. Dies ist das Programm einer geistlichen Phänomenologie, die allerorten die Intertextualität von Leiblich-Irdischem und Himmlisch-Geistlichem und darum auch diejenige von Medizin und Theologie aufzuspüren bestrebt ist und diesem Umstand in sämtlichen zu Gebote stehenden Schreibweisen Rechnung trägt. Die Motivation hierfür liegt in der Botschaft und dem Glauben daran, dass Gott sichtbar geworden ist dort, wo man es nicht vermutet hätte: in einem Menschen, der doch über sich hinaus und den Weg weist zu Gott, weil er selbst Gott ist.

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167 168

Vgl. Karl Holl: Die Geschichte des Worts Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III. Der Westen. Tübingen 1928, S. 189–219, hier: S. 215, der zutreffend, allerdings ohne genügende Profilierung der christologischen Dimension, sagt: »Das Kleinste, an seinem Ort getan und im Bewußtsein, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen, steht sittlich auf derselben Höhe, wie das, an seinen Wirkungen gemessen bedeutendste Werk.« Vgl. Wingren: Luthers Lehre (Anm. 163), S. 55. Vgl. ebd.

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Johann Anselm Steiger

Abb. 1: Michael Herr: Christus als Apotheker (1619), Öl auf Kupfer (26,6 x 35 cm). Marburg, Universitätsmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte (Inv.-Nr. 7040) (Fotoarchiv Fritz Krafft).

Daniel Schäfer

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation vor 1800

Frühneuzeitliche »medizinische Schreibweisen« bildeten höchst unterschiedliche Formen heraus. Dies gilt auch für medizinische Literatur im engeren Sinne, also für Texte, die von Ärzten mit dem Hauptziel verfasst wurden, medizinisches Wissen zu vermitteln. Wie die Germanistin Sandra Pott ausführte, konnte Literatur, die vor dem Spezialisierungs- und Differenzierungsdruck des 19. Jahrhunderts entstand, noch medizinisches Wissen in hohem Maße aufnehmen;1 aber auch umgekehrt griff medizinische Fachprosa vor 1800 viel leichter als im 19. Jahrhundert oder gar in der Moderne literarische Formen und Inhalte auf, die eigentlich außerhalb der Medizin angesiedelt waren und die zur Vielfalt »medizinischer Schreibweisen« beitrugen. Die Grenzen zwischen den vier Fakultäten – eine sehr grobe, aber zeitgenössische Ordnungskategorie – waren noch verhältnismäßig offen. So beschäftigten sich beispielsweise nicht nur Theologen mit medizinischen Themen,2 sondern auch Ärzte betrieben verhältnismäßig häufig eine medizinische BibelExegese (s.u.). Solche Kommentare bildeten eine eigene Textsorte, die man nach dem Titel eines bekannten Werks von Richard Mead »Medica-sacra-Literatur« nennen könnte.3 Ähnliche transdisziplinäre Phänomene zeigen sich auch bei juristischen und philosophischen Themen. Bezüglich der Ursachen dieses regen Austausches kann an dieser Stelle nur auf die gemeinsame europäisch-lateinische Bildungstradition, sei sie nun scholastisch oder humanistisch geprägt, und auf das Ideal des polyhistorischen Gelehrten verwiesen werden, dessen Kenntnisse eben nicht vor der Fakultätsgrenze haltmachten. Allerdings ist dieser Austausch nicht immer selbstverständlich und gilt nicht für alle Zeitpunkte, Textsorten, Verfassertypen und Produktionsstätten gleichermaßen. In einem früheren Beitrag wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass literarische Beispiele für Langlebigkeit in erster Linie in solche medizinischen Texte integriert wurden, die für ein breiteres Publikum bestimmt waren.4 Im fachinternen Diskurs hingegen fielen sie – möglicherweise als überflüssiger Ballast – wieder

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2 3

4

Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert: von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical Writing‹. In: Gesnerus 63 (2006), S. 127–143, hier S. 133. Vgl. den Beitrag von Johann Anselm Steiger in diesem Band. Richard Mead: Medica sacra. In: Idem: The medical works. Edinburgh 1775 (Reprint 1978), S. 442–490. Daniel Schäfer: Langlebige Beispiele. Überlegungen zur Funktion und Gestaltung historischer Exempla für ein hohes Alter in der diätetischen Literatur der frühen Neuzeit. In: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 188–203.

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Daniel Schäfer

heraus, sogar dann, wenn sie in der unmittelbaren Vorlage noch vorhanden waren. Aber auch sprachlich zeigen sich deutliche Barrieren: Um 1530 kritisierte beispielsweise der medizinische Dissident Paracelsus die semantische Unzugänglichkeit (vielleicht auch Unzulänglichkeit) seiner Kollegen mit den Worten: »So ist es bei euch Ärzten auch! Ihr habts mit eurem Spekulieren darauf abgesehen und dahin gebracht, dass euch keiner in eure Sachen hineinreden kann, nämlich: Ihr habt euch so im Welschen und Niederländischen verschanzt, dass Euch kein Biedermann verstehen kann und man euch unkritisiert lassen muß. Damit habt ihr den Vogel abgeschossen! … Ganz mit recht haltet ihr euch von allen anderen Gelehrten fern, mit euren Redensarten und eurem Vokabular, denn wenn mans verstünde, dann würde alle Welt den Braten riechen, dass es Beschiß ist … So ist die Medizin also deshalb von allen Berufsgattungen entfernt und mit Sprache, Vorgehen und Gebaren von allen Gelehrten abgesondert, damit sie unwidersprochen bleiben kann.«5

Zumindest auf fachsprachlicher Ebene scheint es also durchaus schon im 16. Jahrhundert zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Ärzten und medizinischen Laien gekommen zu sein. Doch schloss Paracelsus vom Technolekt der Heilkunde auch auf ihre inhaltliche Angreifbarkeit: »Das ist keine philosophei, sondern einfach Spekulation« fügte er seinem Angriff noch hinzu, also unwissenschaftliches, für einen Gelehrten unakzeptables Reden.6 Diese Linie der Gegensätze zwischen medizinischer und nicht-medizinischer Literatur, die es zweifellos gibt, soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgt, sondern eher auf Gemeinsamkeiten und Brückenschläge zwischen den Disziplinen und ihren Ausdrucksformen hingewiesen werden. Dies kann etwa am Beispiel einer weitgehend vergessenen bzw. noch kaum entdeckten Gruppe medizinischer Fachprosa geschehen, den frühneuzeitlichen medizinischen Dissertationen. Sie sollen zunächst kurz nach Form, Inhalt und Funktion beschrieben werden, bevor exemplarisch zwei literarische Kleinformen innerhalb dieser so spröden Textsorte vorgestellt und analysiert werden.

1.

Medizinische Dissertationen vor 1800

Frühneuzeitliche Dissertationen sind eine ausgesprochene Massenquelle. Ihre Zahl ging schon innerhalb der Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in die Zehnbis Hunderttausende, wobei die Auflagen oft äußerst gering und die Verlustraten zumindest bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges entsprechend hoch waren.7

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6 7

Paracelsus: Der andere Arzt. Das Buch Paragranum, eingeleitet und übertragen von Gunhild Pörksen. Frankfurt/Main 1991, S. 34f. Ebd., S. 35. Übersichten zu frühneuzeitlichen medizinischen Dissertationen: Ewald Horn: Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert. Leipzig 1893 (Beihefte zum Centralblatt für Bibliothekswesen 11). – A.[G.] Chevalier: Medizinische Promotionen an alten französischen Universitäten. Ciba Zeitschrift (Basel) 3 (Nr. 34), 1936, S. 1159–1162; Gertrud Schubart-Fikentscher: Untersu-

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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Die allgemeine Zunahme von Hochschulschriften nach 1575 erklärt sich vor allem aus der Verpflichtung für Medizinstudenten, bereits während des Studium Übungsschriften – lateinisch: Disputationes, Exercitationes oder Specimen – anzufertigen, die zum Teil auch gedruckt wurden. In jedem Fall war es verpflichtend, im Rahmen eines Studienabschlusses (meist Lizentiat oder Doktorat) Thesen, Quaestiones (Untersuchungen einer speziellen Examensfrage) sowie Erörterungen (Dissertationes, Disputationes8) in gedruckter Form vorzulegen; diese Texte wurden jedoch in den meisten Fällen zugleich auch mündlich in der Prüfung vorgetragen und verteidigt. Ab wann der Druck dieser traditionsreichen akademischen Leistungsnachweise in jedem Fall obligat war, ob die Verpflichtung dazu allein von der Fakultät oder auch von einem bestimmten Hochschullehrer (dem Praeses oder Vorsitzenden der Disputation) ausging, ob man die Schriften unter Umständen auch als Leistungsnachweis gegenüber den Mäzenen der Studenten verwandte, die in Universitätsschriften deutscher Provenienz häufig erwähnt werden, lässt sich höchstens für den Einzelfall bestimmen. Bestimmungen zur Publikation gingen an den einzelnen Hochschulen häufig weit auseinander. Auch die Verfasserschaft der studentischen Hochschulschriften ist häufig ungeklärt. Selbst in den Fällen, in denen der Praeses ungenannt bleibt, kommt er als Autor, Mitautor oder Korrektor in Frage; seine Beteiligung konnte sich aber auch auf den unparteiischen Vorsitz (praeses) bei der mündlichen Disputation beschränken. Vor allem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts sind auch ungenannte Dritte als Verfasser zu erwägen, wie an mehreren Texten gezeigt werden konnte.9 Neben dieser weitaus größten Gruppe von Hochschulschriften, die von Studenten im Rahmen ihrer Ausbildung vorgelegt wurden und die als solche anhand ihres umfangreichen Titels meist eindeutig zu identifizieren sind, steht eine kleinere, heterogene Gruppe von Texten, die ausschließlich von Professoren verfasst wurden: teils als Gelegenheitsschrift zu einem besonderen Anlass (akademische Festreden, Gratulationsschreiben oder Einleitungen zu studentischen Dissertationen), teils aber auch als normale wissenschaftliche Publikation, wie sie an der

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8

9

chungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1970 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse 114, 5); Werner Allweiss: Von der Disputation zur Dissertation. Das Promotionswesen in Deutschland vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. In: Dissertationen in Wissenschaft und Bibliotheken. Hrsg. von Rudolf Jung, Paul Kaegbein. München, New York, London, Paris 1979, S. 13–28; Oscar Diethelm: Medical dissertations of psychiatric interest. Printed before 1750. Basel 1971; Michaela Triebs: Die medizinische Fakultät der Universität Helmstedt (1576 – 1810). Eine Studie zu ihrer Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Promotions- und Übungsdisputationen. Wiesbaden 1995. Vgl. Hanspeter Marti, Disputation, Dissertation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 866–884. Beispiele bei Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt/M. 2004, S. 169–177.

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Daniel Schäfer

frühneuzeitlichen Universität vor allem für eng umgrenzte Fragestellungen üblich war.10 Dissertationen jeglicher Provenienz widmeten sich vor allem speziellen Fragen und waren häufig nur nach Thesen oder Paragraphen formal untergliedert. Ihr Umfang betrug beispielsweise in Paris lange Zeit nur einen dicht bedruckten Bogen (Einblattdruck), im deutschen Sprachraum meist zwischen zwanzig und vierzig Seiten. Bis zum späten 18. Jahrhundert war zudem die lateinische Sprache für akademische Schriften obligat. Nach diesen Kriterien lassen sie sich meistens leicht von größeren medizinischen Monographien (beispielsweise Lehr- und Handbüchern oder der frankophonen Diskursliteratur) zu einem umfassenderen Thema unterscheiden. Diese Texte wurden zwar ebenfalls häufig von Hochschullehrern verfasst; doch fehlt bei ihnen in der Regel der unmittelbare Bezug zur medizinischen Fakultät; ihre sachliche Gliederung tritt (z.B. durch Überschriften) deutlicher zu Tage, und sie wurden teilweise bereits in der Landessprache verfasst. Forschungen über Dissertationen als bestimmten Typ von Fachliteratur sind noch ausgesprochen selten. Es gibt einige bibliographische Studien zu einzelnen Universitäten: Michaela Triebs untersuchte beispielsweise die medizinischen Dissertationen der Universität Helmstedt hauptsächlich nach formalen Kriterien. Der Inhalt der Texte blieb dagegen fast immer unberücksichtigt; lediglich Oskar Diethelm wertete bereits 1971 in einer wegweisenden psychiatriehistorischen Studie 1100 Hochschulschriften inhaltlich aus, erkannte allerdings den semistatistischen Wert dieser Massenquelle zur Feststellung eines wissenschaftlichen Mainstream noch nicht. Auch im Habilitationsprojekt »Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit«, aus dem dieser Beitrag entstand, fanden sich neben wenigen lehr- oder handbuchartigen Monographien zahlreiche Dissertationen zum Thema; dank der modernen elektronischen Recherchemöglichkeiten wurden immerhin etwa 130 noch existierende Texte ermittelt und analysiert.11 Das wissenschaftliche Niveau all dieser Hochschulschriften ist erwartungsgemäß sehr unterschiedlich. Originalität und Fortschrittlichkeit stellten an der frühneuzeitlichen Universität angesichts deren Verbundenheit mit Dogmen und Traditionen über lange Zeit kein Qualitätsmerkmal dar und können selbst heutzutage bei studentischen Autoren nicht unbedingt vorausgesetzt werden. Wenn man diese modernen Kriterien beiseite lässt, so zeigt sich bei verschiedenen Texten eine erstaunlich umfassende geistige Durchdringung der Materie mit kritischer Berücksichtigung der zeitgenössischen Diskussion. Andere werden hingegen den Vorur-

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Allweiß: Von der Disputation zur Dissertation (Anm. 7), S. 23f. Vgl. Triebs: Die medizinische Fakultät (Anm. 7); Diethelm: Medical dissertations (Anm. 7); eine Übersicht zu den untersuchten Unversitäten Duisburg, Königsberg, Gießen, Tübingen, Helmstedt, Köln, Würzburg, Basel und Freiburg mit Angaben zur Forschungsliteratur gibt Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit (Anm. 9), S. 234f.

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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teilen, die man ihnen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts entgegenbrachte,12 völlig gerecht, wenn sie beispielsweise nur oberflächlich und unvollständig das medizinische Konzept des Greisenalters erläutern und obendrein wenig oder falsch zitieren. Neben der Funktion der Dissertationen als Leistungsnachweis für Fakultät und Mäzen soll nochmals ausdrücklich ihre Stellung an der Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit herausgehoben werden: Ergab sich zum einen aus der Prüfungssituation ein gewisser Zwang zur sprachlichen Eleganz in schriftlich niedergelegter Semantik, Metaphorik und Syntax, so lässt sich andererseits die Mündlichkeit an der Ich-Form des Vorworts, an den Überleitungsformeln zwischen einzelnen thematischen Schwerpunkten sowie an landessprachlichen Einsprengseln noch deutlich ablesen. Beide Aspekte, Schriftlichkeit wie Mündlichkeit, haben besondere Sprach-Spuren hinterlassen: So werden nicht selten als Erweis erlesener Bildung Hexameter aus der klassischen Literatur (gelegentlich in Griechisch), aber auch aus wissenschaftlichen Lehrgedichten eingestreut. Der Einbau von landessprachlichen Sentenzen dagegen reflektiert im 18. Jahrhundert des Volkes Stimme, aus der nicht nur die empirische Wahrheit spricht, sondern eben auch der Verfasser und Vortragende. Zumindest in literarischer Hinsicht stehen die Dissertationen nicht am Anfang, sondern eher am Ende einer langen Fachprosa-Tradition, in der neben aktueller Kasuistik in Form von observationes auch historische Textsplitter aus Epik, Lyrik und Prosa als fachliche, zumindest aber rhetorische Argumente einen Platz besaßen. Zur Dokumentation und Analyse dieser frühneuzeitlichen Schreibpraxis sollen im Folgenden zwei Gruppen von kleinsten literarischen Textelementen vorgestellt werden, die in frühneuzeitlichen Dissertationen ihren Platz hatten: zunächst die sehr heterogenen Sentenzen und Sprichwörter, die wie Autoritätenzitate diese Texte begleiten und durchwandern, und im Anschluss daran etliche Hinweise auf mythisch-historische Beispiele für Therapien im Alter.

2.

Sentenzen und Sprichwörter in Hochschulschriften

Diese spätestens seit den Adagia des Erasmus von Rotterdam in der europäischen Kultur präsenten Textformen finden sich häufig in medizinischen Dissertationen. Erst ab etwa 1700 kommt das deutsche Sprichwort in Mode, das sich vom lateinischen Text schon durch die gotischen Lettern deutlich abhebt und den Einbruch der Laienperspektive in die Gelehrtenwelt dokumentiert. Fast immer steht hier der Vergleich oder eine Assoziation mit einer bereits vorgestellten medizinischen Aussage im Raum: Beispielsweise postulierte der ansonsten unbekannte Dissertant Johann Conrad Michaelis in seiner Schrift über die Leiden des Alters eine erhöhte

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Bereits in einer preußischen Kabinettsorder vom 6.1.1820 werden die damaligen medizinischen Dissertationen als »in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus minderwertig« qualifiziert; vgl. Gerhard Bengeser: Doktorpromotion in Deutschland. Bonn, um 1966, S. 71.

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Daniel Schäfer

Schwäche und Empfindlichkeit alter Menschen aufgrund längst vergangener Leiden und Unfälle und unterstrich dies mit dem damals offensichtlich geflügelten Wort: »Sie behalten einen Calender am Leib«.13 Um seine Ablehnung des Aderlasses im Alter zu unterstreichen, erwähnte Ambrosius Stegmann, von dem noch eine pharmakologische Genaue Untersuchung über den Keuterling (1694) bekannt ist, die deutsche Spruchweisheit »Mann [!] solle den alten Leuten lieber das Blut kauffen / als benehmen«.14 Die Inkontinenz alter Menschen im Zusammenhang mit ihrer Angst, ihre sexuellen Partner nicht mehr befriedigen zu können, bekräftigte der gleiche Autor mit der deutschen Redeweise: »Es wird ihnen scheißangst«.15 Noch zweideutiger wirkt die Sentenz: »Die alten Böcke und Ziegen lecken auch gerne Saltz«.16 Sie wird nur verständlich, wenn man das lateinische salax, das hier als Leitbegriff zunächst mit dem salzigen Blut alter Menschen in Beziehung steht, mit unkeusch oder geil übersetzt:17 Durch mangelnde Gelegenheit oder Impotenz sammelt sich nämlich nach zeitgenössischer Vorstellung salziger Samen in ihrem Blut an und verschafft den Betagten nicht nur unerträglichen Juckreiz, sondern auch die ihnen traditionell zugeschriebene sexuelle Begehrlichkeit. Diese Zusammenhänge werden im Text wohl aus Schicklichkeitsgründen nur angedeutet; lediglich eine angefügte Krankengeschichte von Felix Platter, die von der Heilung eines Achtzigjährigen durch die Ehe berichtet, macht den Kontext klar. Dieses letzte, allerdings nicht repräsentative Beispiel macht deutlich, dass das Sprichwort in der medizinischen Dissertation über eine bloße Affirmation des medizinischen Inhalts in der Laiensprache hinaus auch einen eigenständigen literarischen Kontext gewinnen konnte. Ähnlich wie die bisweilen sehr laszive arkadische Schäferdichtung verschaffte es über seine Doppeldeutigkeit einem eingeweihten Kreis das augenzwinkernde Verständnis sexueller Konnotationen, die für einen Augenblick die Ebene der wissenschaftlichen Disputation aufbrach und Prüfer wie Prüfling in der Zote zu einer Gemeinschaft der »Wissenden« einte. Auf einer etwas weniger rustikalen Ebene lassen sich solche Phänomene auch bei lateinischen Sentenzen finden, die naturgemäß noch wesentlich häufiger in die lateinischen Dissertationen eingefügt wurden. In einer ersten Gruppe spielt meist die akustisch-rhetorische Präsentation (Reime, Assonanzen, Homonyme, etymologische Figuren etc.) eine bedeutende Rolle; das literarische Element kommt vor allem in der brillanten Verbindung von Lautnähe, semantischer Divergenz und inhaltlicher Assoziation zum Ausdruck. Einige spätantike oder mittelalterliche Etymologien zum Greisenalter, die teilweise bis ins 18. Jahrhundert zitiert wurden,

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Georg Ernst Stahl, Johannes Conrad Michaelis: Dissertatio inauguralis medica De senum affectibus. Halle 1710, S. 13f. Justus Vesti, Ambrosius Stegmann: Disputatio inauguralis medica de affectibus senum Salomonaeis. Erfurt 1692, Th. XXX, S. 28. Ebd., Th. VII, S. 10. Ebd., Th. X, S. 13. Vgl. Lorenz Diefenbach: Glossarium latino-germanicum mediae et infimae Aetatis. Nachdruck Darmstadt 1997, S. 508.

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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benutzen solche Formen: senes a sensus diminuitione, erklärte Isidor von Sevilla: Das Wort »Greise« (senes) leitete er demnach von ihrer Sinnesminderung ab.18 Etwas drastischer kolportierte die Frühe Neuzeit den Spruch: Senes quasi seminex (»Greise sind gleichsam halbtot«).19 Auf geistige Unzurechnungsfähigkeit weist eine andere Herleitung hin: senes quod sese nesciant (»Sie heißen Greise, weil sie sich nicht selbst erkennen«).20 Dies waren natürlich keine ernsthaften medizinischen Altersdefinitionen, aber sie wurden gezielt eingesetzt, um die im Grunde pessimistische Sicht der materialistischen Medizin im Blick auf eine wirksame Kur des Alters zum Ausdruck zu bringen. Kritik an übermäßiger Medikalisierung des fortgeschrittenen Lebens bringt ein weiterer Spruch zum Ausdruck: Qui medice vivit, misere vivit (»Wer nur mit oder für Medizin lebt, lebt elend«).21 Eine andere Gruppe von Drei-Wort-Sentenzen kondensiert konkretes medizinisches Wissen aufs Äußerste und knüpft dabei oft an klassisches Bildungsgut an. Dies gilt beispielsweise für den Spruch bis pueri senes (»Die Greise sind zweimal – oder zum zweiten Mal – Kinder«), der sich inhaltlich mindestens bis Platon zurückführen lässt.22 Frühneuzeitliche Ärzte deuteten das latinisierte Kondensat auf eine Analogie zwischen Kindheit und Greisenalter, entsprechend der dreiteiligen symmetrischen Lebenskurve, die bereits Aristoteles postuliert hatte: Demzufolge befindet sich der Mensch in seiner Lebensmitte, also um das 35. Lebensjahr, auf dem Höhepunkt seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, davor und danach lebt er vergleichsweise im Defizit.23 Es gibt mehrere medizinische Dissertationen, die sich ausschließlich dieser Analogie zwischen Anfang und Ende des Lebens widmen, sie auf ganz verschiedene, physiologische und pathologische Bereiche

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Isidor Hispalensis: Etymologiarum sive Originum libri XX (ed. W. Lindsay, 1911, CPL 1186), lib. XI 2, 7; vgl. Marcus Tullius Cicero: Cato maior De senectute 38, 29: sensim sine sensu aetas senescit (wurde in der Frühen Neuzeit ebenfalls als Etymologie interpretiert). Georg Adam Struve: Tractatus exhibens iura ac privilegia senectutis, Von Freyheiten Alter betagter Leute. Jena 1737, S. 4. Vgl. Hans Walther: Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, N. S. II, 9. Göttingen 1986, S. 579 (Nr. 170 a2); Struve: Tractatus exhibens iura ac privilegia senectutis (Anm. 19), S. 4. Leonard Lessius: Hygiasticon, seu vera ratio valetudinis bonae et vitae una cum sensuum, iudicii, et memoriae integritate ad extremam senectutem conservandae. Editio secunda, Antwerpen 1614, S. 2; vgl. auch Jacob Hutter: Tractatio medica qua senectus ipsa morbus sistitur Das ist: Daß das Alter an und vor sich selbst eine Kranckheit seye. Halle 1732, § 35, S. 43; Daniel Wilhelm Triller: Daniel Wilhelm Trillers diätetische Lebensregeln oder Belehrung wie es anzufangen ein hohes Alter zu erlangen. In dessen Sieben und Achtzigsten Jahre aufgesetzet. Frankfurt, Leipzig 1783, S. 6–8. Platon: Nomoi I 14 (646 a); Ps.-Platon: Axiochus (367 b7; ed. Burnet, Platonis opera, Oxford 1900, vol. 5: Spuria). – Bereits der Sophist Antiphon erklärte im späten 5. Jahrhundert: »Greisenpflege ähnelt ja Kinderpflege« (fr. 66 ed. Diels/Kranz 1960, Bd. 2, S. 366). Aristoteles: Rhetorik II 12–14 (1389–90).

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menschlicher Existenz ausdehnen und sich dabei keineswegs nur auf die Senilität24 beschränken. Juristen benutzten die kurze Sentenz übrigens genauso häufig und diskutierten unter diesem programmatischen Stichwort die geistige Zurechnungsfähigkeit und Rechtsfähigkeit alter Menschen im Vergleich zu derjenigen von Kindern.25 Für das nächste Beispiel konnte die Tradition bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgt werden:26 Der Lehrsatz vinum lac senum (»Der Wein ist die Milch der Greise«) verknüpft gleich zwei wesentliche Strömungen: zum einen den gerade schon angesprochenen Vergleich zwischen Kindheit und Greisenalter – dafür steht das Stichwort »Milch«, das sonst mit Säuglingen unmittelbar in Verbindung gebracht wird. Alte Menschen vertragen aber nach Meinung vieler medizinischer Autoritäten keine gewöhnliche Kuh- oder Ziegenmilch, dafür sei ihr Magen zu schwach. Vielmehr solle man ihre innere Wärme mit Wein beleben, damit sie besser verdauen können. Diese Idee verbreitete sich seit der Antike überall.27 Doch schon in der Frühen Neuzeit war sie höchst umstritten – viele Ärzte warnten vor der Trunkenheit der Greise und empfahlen Mäßigung, Verdünnung oder gar reines Wasser als Ersatz. Aber trotz entgegengesetzter Ansichten diente das Schlagwort vinum lac senum den meisten von ihnen als traditionelle Einleitung für ihre Diskussion.28 Vielleicht noch bekannter als die mehr oder weniger medizinspezifische »Milch der Greise« wurde der Topos von der »Krankheit Alter«. Die Sentenz senectus ipsa morbus (»Das Alter selbst ist eine [oder die] Krankheit«) geht auf den römischen Komödienschreiber Terenz zurück, der sie um 190 v. Chr. in einer Komödie als ein offensichtlich schon damals gebräuchliches Sprichwort zitiert.29 Erneut finden wir bei Aristoteles, der vom Alter als einer »natürlichen Krankheit« sprach, die entscheidende Quelle.30 Seit der Spätantike setzten sich Ärzte mit der Frage auseinan-

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Vgl. auch Lucius Aenneus Seneca Junior: Epistolae morales ad Lucillum 4, 2 (»Adhuc enim non pueritia sed, quod est gravius, puerilitas remanet; et hoc quidem peior est, quod auctoritatem habemus senum, vitia puerorum, nec puerorum tantum sed infantum«), auf die Altersdemenz gedeutet bei: Johann Christoph Pohl, Johann Arnold Lebrecht Hagemeyer: De fibra senili. Leipzig 1746, § 9, S. 22. Johannes Peil: De privilegiis senum, quibus illi apud Deum & homines gaudent. Ex omni jure, tam Divino quàm Canonico & Civili collecta & digesta. Wesel 1643, S. 87; Johannes Rebhan, Johannes Paul Ebner: De jure senum senectutisque privilegiis. Straßburg 1663, S. 20f. Hugo Glaser (Gerhard Freiherr van Swieten. Rede über die Erhaltung der Gesundheit der Greise (Wien 1778). Ins Deutsche übertragen und biographisch eingeleitet von Hugo Glaser. Mit Erklärungen von Johannes Haussleiter. Leipzig 1964, S. 70) weist dieses Sprichwort zuerst in einer deutschen Fassung nach bei: Sebastian Franck, Sprichworter, das ist, Schöne, weise und kluge Reden, Frankfurt/M 1541, fol. 120a. Nicht zuletzt deshalb erscheint auch im Korb von Rotkäppchen die Flasche Wein, die der Großmutter wieder aufhelfen soll. Vgl. Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit (Anm. 9), S. 203. Publius Terentius Afer: Phormio, V 575: »senectus ipsast morbu’«. Aristoteles: De generatione animalium V 3f. (783 b–784 b).

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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der, ob man das Alter als eine Krankheit betrachten könnte.31 Während im 2. Jahrhundert nach Christus diese Frage offensichtlich noch unterschiedlich beantwortet wurde, lehnten gelehrte Mediziner unter dem Einfluss von Galen, dem berühmten kaiserlichen Leibarzt, bis weit in die Frühe Neuzeit diese These ab. Zwar gäbe es Analogien zwischen Alter und Krankheit, doch sei letztere ein Vorgang gegen die Natur, während das Senium einen natürlichen Verlauf darstelle. So wird die Sentenz des Terenz im Mittelalter und noch in der Renaissance hauptsächlich von medizinischen Laien zitiert: Luther und Erasmus kennen und benutzen sie völlig unreflektiert; Theologen greifen sie gerne auf, wenn es darum geht, die Hinfälligkeit des Leibes darzustellen. Erst im ausgehenden 16. Jahrhundert beschäftigten sich Ärzte eingehender mit dem Zitat, doch zunächst weiterhin ablehnend – man hielt als Galenist noch Galen die Treue. Doch kurz vor 1700, als das galenistische System der Viersäftelehre allmählich abgelöst wurde, erwärmten sich auch medizinische Schriftsteller, die sich mit dem Alter beschäftigen, für den Gedanken einer »Krankheit Alter«. Er schien nämlich in das neue mechanistische Weltbild, das von einer fortwährenden Abnutzung der Maschine Mensch ausging, gut hineinzupassen. Alles, was die Maschine vom Optimum entfernt, galt als krankhaft. Selbst die Kategorie der Natur bzw. eines natürlichen Verlaufs wurde zweitrangig und verschob sich unter Umständen in Richtung des Pathologischen. Berühmt war eine Dissertation aus Paris mit dem Titel: »Der Mensch ist von Geburt an krank«.32 Wenn das zutraf, dann war natürlich auch das Alter eine Krankheit. Mehrere medizinische Hochschulschriften griffen daher das Terenz-Zitat schon im Titel auf;33 in mindestens 40 weiteren Dissertationen bis 1800 konnte es außerdem nachgewiesen werden, meist mit einem Hinweis auf Terenz, teilweise allerdings ohne Autorangabe, teilweise sogar Hippokrates zugeschrieben. In den meisten Fällen wurde die Sentenz im Vor- oder Nachwort der Dissertation zitiert, als summarischen Hinweis auf das Elend des Alters, das die Medizin besonders herausstellte und für dessen Behandlung sie sich gleichzeitig zunehmend für zuständig erklärte. Diese Beispiele für deutsche und lateinische Sprichwörter bzw. Sentenzen in Dissertationen sollen verdeutlichen, wie flexibel und multifunktional diese nach Herkunft oder Gebrauch eigentlich nicht-medizinischen Textsplitter in medizinischen Fachtexten eingesetzt wurden: teils affirmativ als im Merksatz kondensiertes Wissen, teils aber auch als Ausdruck einer Gegenmeinung, als Einleitung oder Zusammenfassung einer ausführlichen Diskussion, manchmal auch als Andeutung einer an sich non-verbalen Konnotation, sicher auch als Bildungs-

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Zur Diskussion in Antike und Früher Neuzeit vgl. ausführlich Daniel Schäfer: »That senescence itself is an illness ...«. Concepts of Age and Ageing in Perspective. In: Medical History 46 (2002), S. 525–48. Guy Patin, Paul Courtois: Quaestio medica [...] Estne totus homo a natura morbus? Paris 1643. Hutter: Tractatio medica (Anm. 21); Aegidius Glagau: Disputatio medica inauguralis De senectute ipsa morbo. Leiden 1715.

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Daniel Schäfer

nachweis und sich verbrauchendes rhetorisches Argument, dessen Autorschaft zunehmend belanglos wurde.

3.

Exempla in Hochschulschriften

Dieses Ergebnis soll noch an einem anderen Typ von literarischer Kleinform in Dissertationen überprüft werden, nämlich an den Beispielen aus Mythos und Bibel für Langlebigkeit und für die Mittel, sie zu erreichen. Sie werden in medizinischen Hochschulschriften aufgrund ihrer Länge meist nur stichwortartig zitiert – oft soll der Name eines Protagonisten genügen, um die Leser auf die richtige Spur zu bringen. Außerdem lässt sich feststellen, dass keineswegs beliebige Beispiele herangezogen wurden, sondern insbesondere solche, die einen medizinischen Hintergrund erahnen ließen. Berühmte literarische exempla für ein hohes Alter wie etwa Nestor oder der von Cicero ausführlich beschriebene Cato maior finden wir daher in heilkundlichen Texten eher selten, weil ihnen der medizinische Kontext fehlte. Dies gilt auch für Tithonos, den sterblichen Geliebten der rosenfingrigen Eos, der auf Bitten der Titanentochter zwar Unsterblichkeit, nicht aber ewige Jugend erhielt. Daher alterte er, schrumpfte und wurde zuletzt – nach einer von verschiedenen mythographischen Versionen – in eine Zikade verwandelt.34 Tithonos galt bereits in der Antike als Typus des hochbetagten, hinfälligen Alten, und so zitierten ihn beispielsweise auch Erasmus von Rotterdam35 und Jonathan Swift, letzterer in Gestalt der berühmten Struldbruggs, dieser personifizierte Schrecken der Langlebigkeit in Gullivers Reisen.36 Abgesehen von kurzen Erwähnungen bei einigen wenigen juristischen Dissertanten des 17. und 18. Jahrhunderts37 griff lediglich ein Arzt Tithonos aus spezifisch medizinischer Sicht auf, allerdings typischerweise im Grenzbereich zwischen Theologie und Medizin und in einer von vornherein volkssprachlichen, also für ein breiteres Publikum bestimmten Schrift – eben nicht in einer Dissertation.38 Die Person des Tithonos ist also eher eine Ausnahmeerscheinung unter den medizinischen Beispielen für Langlebigkeit, auch wenn sie in literarischen Kreisen

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Vgl. Hans von Geisau: Tithonos. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. München 1979, Bd. 5, Sp. 869. Erasmus von Rotterdam: Ad Gulielmum Copum medicorum eruditissimum de senectute Carmen, in: Idem, Ausgewählte Schriften in 8 Bänden. Darmstadt 1995, Bd. 2, S. 340– 356 (Nr. 26), hier 348. Jonathan Swift: Gulliver's travels. London, Glasgow 1953, S. 234–249 (Buch 3, Kap. 10). Das Zitat war bereits im spätbyzantinischen Kulturkreis bekannt, vgl. Gregorius Palamas: In declamatione I: »Si verum est, mentem Tithono senescere, et bis pueros senes fieri«; zitiert nach Rebhan und Ebner: De jure senum senectutisque privilegiis (Anm. 25), S. 20. John Smith: The Pourtract of Old Age, Wherein is contained a sacred anatomy both of soul, and body and a perfect account of the infirmities of age incident to them both. Being a paraphrase upon the six former verses of the 12. chapter of Ecclesiastes. Second edition corrected, London, 1666 [1676?], S. 19, 177f.

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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durchaus geläufig war. Dagegen finden wir bei Ärzten verhältnismäßig häufig zwei andere Namen aus Mythos und Bibel, auf die im Folgenden noch näher einzugehen ist: zum einen Medea (als eine Art »Alters-Therapeutin«) und zum anderen den König David (als greisen Patienten). An ihnen lässt sich deutlich zeigen, wie einseitig solche mythischen und »historischen« Exempel in die vorhandenen wissenschaftshistorischen Kontexte eingesetzt wurden. Gleichzeitig erhielten sie dort assoziativ eine Signalfunktion, die mit ihrer ursprünglichen Bedeutung nur noch teilweise übereinstimmte. Zwei Verjüngungs-Episoden aus dem Medea-Mythos interessierten Ärzte der Frühen Neuzeit besonders: Erst verhältnismäßig spät wird in medizinischen Schriften die mythische Verjüngung des Iason durch Medea angeführt, obschon sie durch Ovids Metamorphosen in gebildeten Medizinerkreisen zweifellos bekannt war: Medea ließ demnach das Blut des alten Mannes durch eine Wunde an der Kehle ausströmen und ersetzte es durch einen Sud aus bestimmten, auf magische Weise gewonnenen Kräutern, Steinen und Organen langlebiger Tiere.39 Diese blutige Praxis wurde – trotz ihres erstaunlichen Erfolges im Mythos – von Ärzten zunächst negativ konnotiert: In einer Hochschulschrift von 1692 findet sich Medeas Name im Zusammenhang mit der Ablehnung von Bluttransfusionen.40 Erst im 18. Jahrhundert wurden im Zuge der Aufklärung und der Iatromechanik auch Medeas Kochkünste rationalisiert und positiv bewertet: In verschiedenen Hochschulschriften erscheinen sie als Beispiel für die medizinische Notwendigkeit, die verhärteten Fasern des greisen Menschen zu erweichen. Was im Kochtopf mit Fleisch gelänge, solle bei den Alten insbesondere durch warme Bäder erreicht werden – freilich nicht im Sinne einer radikalen Verjüngung, sondern eher als palliative Maßnahme.41 Bemerkenswert ist nun, dass in der frühneuzeitlichen Medizin nicht nur auf diese geglückte Kur der Medea angespielt wurde, sondern auf eine andere, die dem greisen Pelias das Leben kostete und Medeas Rache an ihm vollendete: In seinem Fall sollte nämlich der verjüngende Sud nach Medeas Willen nicht infundiert, sondern umgekehrt der greise Organismus in den Kessel mit dem kochenden Gebräu getaucht werden. Dieses Prozedere gelang Ovid zufolge mit einem alten Widder, der probehalber als Ganzes hineingeworfen wurde und sich in ein Lamm ver-

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Ovid: Metamorphosen VII 159–296; vgl. Lucas Mislei: Dissertatio inauguralis De marasmo senili. Wien 1757, § XLVII (o.S.). Vesti, Stegmann: Disputatio inauguralis (Anm. 14), Th. 31, S. 29f. (die chirurgia infusoria sei problematisch wegen schlechter Fermente der Greise). Johannes Oosterdyk Schacht: Oratio inauguralis qua senile fatum inevitabili necessitate ex humani corporis mechanismo sequi demonstratur, dicta publice ad diem XII. septembris 1729. Utrecht 1729, S. 30; Georg Gottlob Richter, Fr. Chr. Seip: De spe et praesidiis longaevorum, publice proposita Gottingae A. 1752. In: Georg Gottlob Richter: Opuscula medica. 3 Bände, Frankfurt 1780/81, II 40–74, hier § 3, S. 62; Mislei (wie Anm. 39), § XLVII (o.S.).

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wandelte. Pelias hingegen musste wohl aufgrund seiner Größe von seinen eigenen Töchtern zuvor zerstückelt werden und erwachte nicht wieder zum Leben.42 Bereits Cicero ließ innerhalb seines bekannten Traktats De senectute den greisen Cato maior Bedenken gegen eine solche erwiesenermaßen riskante Therapie aussprechen: Er sehne sich nicht nach einem lebensverlängernden »Wiederaufkochen« (recoctio) des alternden Körpers, sondern vielmehr nach einer jenseitigen Begegnung mit den hochverehrten Autoritäten.43 Diese Pejorisierung einer mythisch-magischen Lebensverlängerung setzte sich in der frühen Neuzeit zunächst fort: Medea entwickelte sich seit den Tragödien des Euripides und Senecas zum Prototyp einer mächtigen, kunstreichen Hexe.44 Daher wurde sie von der galenistischen Medizin als diffamierende Chiffre für alchemistische und paracelsistische Methoden verwandt, die auf eine Verjüngung des Alten durch Reduktion mit Hilfe geheimgehaltener spekulativer Pharmaka (occulta) abzielten. So warnte Marsilio Ficino, den viele Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts rezipierten, vor einer unsachgemäßen Anwendung gewisser Schlangenpräparate und drastischer Purgantien (etwa Helleborus niger), die einem alten Menschen eher das Schicksal des Pelias bereiteten als wahre Jugend brächten.45 Doch anders als bei Iasons Bluttransfusion stellten die schulmedizinischen Gegner eine sachbezogene Analogie – etwa zwischen dem magischen Kochprozess des Mythos und der entschlackenden Reinigung des rostenden Körpers in der frühen Iatrochemie – nicht explizit her. Im Vordergrund der Diskussion standen vielmehr die oberflächliche Assoziation zu einer allzu gewaltsamen und daher lebensgefährlichen Kur und implizit auch der Vorwurf von Betrug und Hexenzauber. Offensichtlich fungierten die Künste der Medea – trotz ihres Erfolges – bis etwa 1700 in einem bestimmten wissenschaftshistorischen Kontext als eines der wenigen negativen Beispiele für Lebensverlängerung. Dagegen erscheint im Exempel des greisen David das Gegenteil: Im biblischen Bericht aus 1. Könige 1 heißt es zwar lediglich, dass dem König, der trotz seiner Kleider fror, eine Jungfrau als Pflegerin ausgesucht wurde, die ihn versorgen und mit Hilfe ihres Körpers wärmen sollte. Der Erfolg dieser Maßnahme scheint aber zumindest zweifelhaft gewesen zu sein, denn David, so heißt es wörtlich »erkannte sie nicht«, das heißt, er gewann nicht genügend Vitalität zurück, um mit dem Mädchen Abisag von Sunem Geschlechtsverkehr zu haben. Dennoch wurde diese Methode des nach ihr benannten »Sunamitismus« von vielen frühneuzeitlichen Ärzten als ideale Therapie des alten Menschen gepriesen. Ein wesentlicher Grund für das intensive Aufgreifen dieser

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Vgl. Ovid: Metamorphosen VII 297–349. Marcus Tullius Cicero: Cato maior De senectute 83 (XXIII). Zu Medea als literarische und mediale Chiffre vgl. Inge Stephan: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln 2006. Die frühneuzeitlich-medizinische Konnotation Medeas fehlt allerdings in dieser Darstellung. Marsilio Ficino: Three books of life [De vita]. A critical edition and translation with introduction and notes by Carol V. Kaske and John R. Clark. Tempe, Arizona 1998, II 17, S. 218.

Literarische Kleinformen in der medizinischen Dissertation

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Episode war sicherlich die Autorität der Bibel – es handelt sich schließlich um eine der wenigen in ihr enthaltenen konkreten Darstellungen des Alters. Die positive Deutung dagegen beruhte allein auf dem medizinischen Kontext. Vor allem wurden unmittelbar sachliche Analogien herausgestellt – Galenisten etwa betonten innerhalb des Schemas der Qualitätenlehre die konstitutionelle Kälte der Greise, die David exemplarisch verkörperte und die durch Körperwärme oder durch die jugendliche Ausdünstung gebessert werden sollte. Mit Hilfe dieses und anderer Argumente stieg im Laufe des 16. Jahrhunderts die ungewöhnliche Behandlung der Greise nach dem Vorbild Davids zur seriösen Therapie auf – zumindest in der medizinischen Literatur. Insbesondere unter dem Einfluss verschiedener Texte aus dem Bereich der Medica-sacra-Literatur diskutierten Ärzte und Studenten in Hochschulschriften bis weit ins 18. Jahrhundert hinein über diese therapeutische ultima ratio bei hochgradiger Seneszenz – die meisten davon empfahlen sie recht unkritisch46 unter Verweis auf Autoritäten wie Thomas Bartholinus oder Herman Boerhaave, der sie angeblich dem Amsterdamer Bürgermeister verordnet hatte.47 Manche Ärzte hatten jedoch sittliche Bedenken48 oder befürchteten eine Schädigung des Wärmespenders oder der Wärmespenderin.49 Dementsprechend erhielt das wirkungsmächtige Beispiel König Davids sogar eine forensische Dimension – nach einer französischen Dissertation von 1753 soll in Paris eine alte Frau angeklagt worden sein, die mit ihrer Tochter periodisch in einem Bett schlief und ihr angeblich während dieser Phasen den Lebensdunst wie ein Schwamm regelrecht aussaugte.50 Andere Autoren sahen in der Methode eine bloße Metapher für den verjüngenden Einfluss, den jugendliche Gesellschaft auf alte Menschen haben kann.51

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Als unkritische Befürworter beispielsweise: Vesti, Stegmann: Disputatio inauguralis (Anm. 14), th. 64, S. 46; Christian Warlitz: Valetudinarium senum Salomonaeum medico-sacrum ad Ecclesiastae cap. 12, in quo simul itinerarium sanguinis microcosmicum seu circulus sanguinis, antiquis tectus, detegitur. Leipzig 1708, S. 50f.; Petrus Buteux: Dissertatio medica inauguralis De morbis senectutis. Leiden 1726, § 33, S. 34f.; Johannes Wilhelm Blanck: Dissertatio medica inauguralis De affectibus senum. Duisburg 1730, § 23, S. 25f.; Mislei: Dissertatio inauguralis (Anm. 39), § 48 (o.S.). Vgl. Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Berlin 81860, S. 7; vgl. auch Herman Boerhaave: Institutiones medicae in usus annuae exercitationis domesticos digestae ... Ed. tertia prioribus longe auctior. Leiden 1730, §§ 1053–66, S. 431–37; ausführlich rezipiert beispielsweise von Pohl, Hagemeyer (wie Anm. 24), § XII (vero X), S. 22–24. Georg Gottlob Richter, Johann Samuel de Berger: Dissertatio de sene valetudinis suae custode, publice proposita Gottingae, d. 13. Maji 1757. In: Georg Gottlob Richter: Opuscula medica. 3 Bände, Frankfurt 1780/81, II 220–259, hier § 14, S. 255f. Elias Rudolph Camerarius, M. Theodor Carolus: Valetudinarii senilis lineae generales. Tübingen 1683, cap. I, th. 13, S. 12. Michael Joseph Majault, Joannes Nicolaus Millin de la Courveault: An junioribus, ex seniorum cohabitatione, detrimentum? Paris 1753. Richter, Berger: Dissertatio de sene valetudinis suae custode (Anm 48), S. 252f., 256; Johann Bernhard von Fischer: Abhandlung von dem hohen Alter des Menschen, den Stu-

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Anhand der Hinweise auf Tithonos, Medea und David sollte die variantenreiche Bedeutung solcher meist stichwortartig zitierten Exempel innerhalb der frühneuzeitlichen medizinischen Literatur vergegenwärtigt werden. Diese Beispiele wurden in der Regel hochselektiv eingesetzt, um einem Fachpublikum medizinisches Spezialwissen zu erläutern und zu autorisieren, um Gegner zu diffamieren, und mitunter sogar, um – wie im Falle des Sunamitismus – eine neue Therapieform zu etablieren. Im Rahmen dieser instrumentalisierten Rezeption trat der ursprüngliche Sinn des Beispiels zurück; mitunter konnten sie sogar ganz entgegengesetzt verwandt werden: Medeas gelungene Kur als Abschreckung, Davids mangelhafte Erwärmung als Erfolg. Nach 1650 führte ein zunehmend sorgloser Umgang mit Zitaten und Beispielen zu einer klaren Entwertung des Exempels im Sinne bloßen literarischen Beiwerks. Hinsichtlich seines heuristischen Wertes vermochte es der exakten Beobachtung, der observatio, nicht standzuhalten, die zumindest in Dissertationen eine immer größere Rolle für den deduktiven Erkenntnisgewinn spielte. Der induktive Verweis auf ein ideales Urbild hatte in der Fachliteratur ausgedient. Anders sieht es in der medizinischen Aufklärungsliteratur aus, die Ende des 18. Jahrhunderts eine Blüte erlebte: Hier fanden weiterhin zahlreiche Beispiele zur Unterhaltung und Belehrung eines Laienpublikums ihren Platz, die im Gegensatz zu den Dissertationen nicht selten ausführlich erzählt wurden.52 Aber derartige Literatur ist nicht Thema dieses Beitrags. Aufgrund des reichhaltigen Materials an literarischen Kleinformen ist der These, »dass medizinische Texte – anders als zeitgenössische Literatur – nicht dem ›prodesse et delectare‹ oder vergleichbaren Zwecken dienen, sondern auf Erkenntnisgewinne oder praktische Hilfe zielen«,53 in dieser Form nicht zuzustimmen. Sentenzen und Exempel trugen nicht nur in der populären Aufklärungsliteratur, sondern sogar auch in trockenen Dissertationen zum Vergnügen der Leser und Hörer bei, natürlich bei weitem nicht in dem Maße wie ein frühneuzeitlicher Roman oder ein Poem. Aber sie vereinten unter dem Hauptaspekt fachübergreifender Bildung und Rhetorik, deren Wiedererkennungswert für den Leser nicht zu überschätzen ist, Medizin und Literatur zu einer Gemeinschaft der Gelehrten, die selbst dem heutigen Ideal einer scientific community als Vorbild dienen könnte.

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fen, Krankheiten desselben, und den Mitteln, zu denselben zu gelangen. Aus dem Lateinischen herausgegeben von Theodor Thomas Weichardt. Leipzig 1777, S. 277, 292. Beispielsweise bei Christian August Struve: Der Gesundheitsfreund des Alters oder praktische Anweisung wie man im Alter seine Gesundheit erhalten, sein Leben verlängern und froh genießen könne. Hannover 1805. Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert (Anm. 1), S. 133.

Sandra Richter

Charakter und Figur Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands Abderiten (1781) Theophrasts Charakterologie, ihre Rezeption und ihre Erweiterung um die medizinische Temperamentenlehre erweisen sich als wichtige Bestandteile für die Geschichte diverser Wissensgebiete und ihrer ›Schreibweisen‹. Um nur einige Beispiele herauszugreifen, beginne ich mit der Charakterologie selbst. Von der Charakterologie heißt es häufig, sie beginne im 19. Jahrhundert – eine Einschätzung, die bedenkenlos auf die geschickte Selbstdarstellung ihrer vermeintlichen Neubegründer vertraut: Julius Bahnsen, Ludwig Klages und Emil Utitz, der Herausgeber des Jahrbuchs der Charakterologie (seit 1924), führten sich jeweils als Erfinder einer neuen wissenschaftlichen Charakterologie ein.1 Theophrasts Charakterologie aber ist in der Geistesgeschichte kaum je vergessen gewesen.2 Ihre Rezeption erweist sich spätestens seit der Renaissance als Erfolgsgeschichte. Im 19. Jahrhundert wird die Charakterologie also bloß wiederentdeckt und sowohl wissenschaftlich als auch im Medium der Karikatur aufbereitet.3

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Vgl. zur Charakterologie und ihren Bezugsgebieten Elaine McGirr: Eighteenth-Century Characters. A Guide to the Literature of the Age. Palgrave Macmillan 2007; ab ca. 1770 werden die Diskussionen über die Charakterologie im Rahmen der PhysiognomikDebatte geführt – dazu mit einer gründlichen Forschungsdiskussion Stephan Pabst: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2007; für das 19. und frühe 20. Jahrhundert siehe auch Claudia Schmölders: »Das Vorurteil im Leibe«. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1997; Heiko Christians: Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (2000), S. 84– 110; Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870–1930. Würzburg 2005 (Studien zur Kulturpoetik 6); Marcus Hahn: Association und Autorschaft. Gottfried Benns Rönne- und Pameelen-Texte und die Psychologien Theodor Ziehens und Semi Meyers, in: Deutsche Vierteljahrrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80/2 (2006), S. 245−316. Vgl. dazu etwa Utitz’ hymnisches Lob auf Theophrasts »Charaktere«: »eine Art deskriptive Moral, die an Hand höchst anschaulicher Typen entwickelt wird; sehr humorvolle Schilderungen voll intuitiv-psychologischem Scharfblick. [...] wahre Perlen, Musterbeispiele einer objektivierenden, scharf das Wesentliche herausgreifenden Kasuistik«; Emil Utitz: Charakterologie. Berlin 1925, II, § 19, S. 99f. In diesem Zusammenhang zu Konjunkturen der Theophrast-Rezeption Deborah K.W. Modrak: Theophrastus and Recent Scholarship, in: Journal of the History of Ideas 55/2 (1994), S. 337–345. zur Karikatur im Ausgang von William Hogarth und anderen Huber-

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Vergleichbares gilt für die Anthropologie. Die Anthropologie-Forschung, welche die Dixhuitièmistik seit drei Jahrzehnten beschäftigt, vertritt für den deutschen Sprachraum eine erstaunliche These: die These nämlich, dass die Anthropologie erst um 1750 einsetze, und zwar mit den Hallenser Psychomedizinern.4 Wenn aber, selbst gemäß einer vergleichsweise engen Anthropologie-Definition unter Anthropologie fallen soll, was Körper- und Seelenlehre verbindet, dann ist die Anthropologie viel älter. Sie hat ihre Wurzeln auch bei Theophrast und seiner Rezeption. Beide setzen nämlich auf die Verbindung von Körperlichem und Seelischem. Dabei gleiten sie nicht in eine allzu schlichte Physiognomik ab; vielmehr stellt die Physiognomik Beobachtungen zur Verfügung, aus denen die Charakterologie Schlüsse ziehen kann, aber nicht muß.5 Diese Deutungsoffenheit ließ die Charakterologie auch für Rhetorik, Kritik, Poetik und Ästhetik interessant werden.6 In vielfacher Hinsicht schöpfen diese Wissensgebiete aus der Charakterologie:7 Iulius Caesar Scaliger erklärt den Charakter – mit ausdrücklichem Bezug auf Theophrast – zum ›Prinzip des Handelns‹ (»prin-

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tus Fischer, Florian Vassen (Hrsg.): Europäische Karikaturen im Vor- und Nachmärz. Bielefeld 2006 (Forum Vormärz Forschung; Jahrbuch 2005). Zuletzt Jörn Garber u. Heinz Thoma (Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie um 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24); kritisch dazu Jutta Heinz: Doppelrolle: Die »anthropologische Wende« der Aufklärung, konstruktivistisch gewendet, in: iasl.uni-muenchen. de/rezensio/liste/Heinz34848120246_1013.html (5.5.2006). Vgl. über die Physiognomie-Kritik des Jahrhunderts und den wissenschaftshistorischen Ort der Physiognomie als einer Semiotik des Körpers Andreas Käuser: Die anthropologische Theorie des Körperausdrucks im 18. Jahrhundert. Zum wissenschaftshistorischen Status der Physiognomik, in: Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Rudolf Behrens u. Roland Galle. Würzburg 1993, S. 43–60; jetzt v.a. Pabst (Anm. 1). Zur Körpersprache Barbara Korte: Körpersprache in der Literatur. Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzählprosa. Tübingen u.a. 1993. Die Charakterologie ist selbst in der affekttheoretischen Forschung bislang nur unzureichend entdeckt. Rüdiger Campe erwähnt Theophrast zwar, bezieht sich jedoch nur auf seine Lehre von der »hypokrisis«, der kunsthaften Aufführung; siehe Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990 (Studien zur deutschen Literatur 107), S. 193. – Dazu mehr in Sandra Pott: Der herkulische Charaktertypus und seine Gegenspieler. Christian Weises »Masaniello« im europäischen Kontext, erscheint in: Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit, hg. v. J. Anselm Steiger, Marc Föcking u. Sandra Pott. Amsterdam [i.V.]. Was Theophrast betrifft, so bliebe jedoch nicht nur seine Charakterologie, sondern auch seine Botanik zu erwähnen. Diese inspirierte, so sieht es jedenfalls die jüngere Forschung, mit ihren Überlegungen zur Transformation von Pflanzen auch die KatharsisLehre des Aristoteles; James Highland: Transformative Katharsis. The Significance of Theophrastus’s Botanical Works for the Interpretations of Dramatic Catharsis, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 63/2 (2005), S. 155–163.

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cipium agendi«) einer Figur und legt Regeln für ihre Charakterisierung vor.8 Im 18. Jahrhundert inspiriert die Charakterologie darüber hinaus ein spezifisches »Figurenmodell«,9 nämlich dasjenige des Genies. Auch führt die Charakterologie zur Festlegung von wünschbaren Eigenschaften des idealen Kritikers,10 und sie treibt die Entwicklung der Individualstilistik (etwa seit den 1770er Jahren) voran.11 In der Architekturtheorie hingegen wird der Charakter-Begriff erweitert und vom Menschen auf unbelebtes Gebiet übertragen: auf die ästhetische Qualität von Skulpturen und Bauwerken etwa.12 Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen; doch stehen die Bausteine für das hier vorgesehene Thema jetzt schon zur Verfügung: Es geht um das Verhältnis von Charakterologie, charakterologischem Schreiben und Literatur, vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Charakter und Figur.13 Charakterologisches Schreiben kann zu diesem Zweck anhand eines Merkmalsbündels dargestellt werden, ohne dass der Begriff des charakterologischen Schreibens dadurch vollständig bestimmt wäre. Zu diesem Merkmalsbündel zählen eine Neigung zur Typik, zum Lächerlichen und zur Schematik.14

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Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. II: Buch 3, Kap. 1–94, hg., übers., eingel. u. erl. v. Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 1. Kap., S. 78f. u. 2. Kap., S. 80f. – In der Poetik wird der Charakterologie seit dem 19. Jahrhundert eine neue Aufmerksamkeit zu teil. Paradigmatische Qualität gewinnt dabei die zweite Auflage von Rudolf Gottschalls Poetik. Während die Charakterologie in der Erstauflage aus dem Jahr 1858 noch fehlt, führt er sie in die zweite Auflage ein, und zwar unter Bezug auf Julius Bahnsens Versuch, die Charakterologie neu zu begründen; Gottschall: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit. Breslau 1870, Bd. 1, S. 86f.: »Eine philosophische Anleitung zur Ergründung der Charaktere hat neuerdings Julius Bahnsen in seinen Beiträgen zur Charakterologie gegeben, ein Werk, welches auch für die dichterische Auffassung der Charaktere manche interessante Winke enthält.« Der Begriffsgebrauch folgt Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004 (Narratologie 3), S. 214. – Jannidis schlägt sinnfälligerweise vor, den wertenden Typus-Begriff aufzugeben, der zuvor bestimmte eindeutig festgelegte, wenig individualisierte Figuren kennzeichnete. Beispielsweise bei Georg Friedrich Meier: Abbildung eines Kunstrichters. Halle 1745, S. 25 u. passim. Zur Individualstilistik Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 361–375, der mit Blick auf den Begriff des Charakters und seine literarischen Beschreibung auf La Bruyères »Les Caractères de Théophraste« (1688) verweist; ebd., S. 366. Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806. Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 34, 268), S. 23–26. Siehe auch den Verweis auf die Charakterologie bei Jannidis (Anm. 9), S. 219. – Vorliegende Überlegungen wollen keinen systematischen Beitrag zur Figurentheorie leisten, sondern exemplarisch über den historischen Kontext der Figurdarstellung informieren. Bedauerlicherweise nimmt die Spezialforschung zur Satire sowie benachbarten Gattungen und Darstellungsweisen das Thema der Charakterologie bisher nicht auf; vgl. etwa

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Wie ich zu diesem Merkmalsbündel komme, will ich in einem ersten Schritt am Beispiel ausgewählter Editionen seit 1527 zeigen. Seit diesem Zeitpunkt wird Theophrasts Charakterologie übersetzt, kommentiert und mit der Humoralpathologie amalgamiert. Charakterologisches Schreiben findet hier vor allem als Aneignung antiker Quellen statt (I.). In einem zweiten Schritt will ich einen Blick auf das Wissensgebiet und die Schreibweisen der Charakterologie werfen, wie sie sich um 1700 darstellen – zu einem Zeitpunkt, da das moralische und literarische ›character writing‹ en vogue sind (II.).15 Ein komplexer literarischer Text aus dem Jahr 1781 nimmt diese Schreibweisen auf und bearbeitet sie neu: Wielands Abderiten (III.).16

I.

Theophrast und seine Rezeption

Theophrast, der Schüler, Freund und Nachfolger des Aristoteles, gilt als ›Empiriker‹ der Antike.17 Sein Schriftenverzeichnis zählt 225 Titel, von denen jedoch nur wenige, vor allem die botanischen Werke erhalten sind.18 Andere Schriften lassen sich teilweise aus der Rezeption durch antike Philosophen und Schriftsteller rekonstruieren.19 Den Traktat Charakteres ethikoi verfertigte Theophrast nach 319 v. Chr.20 Mit dem Text leistet Theophrast Besonderes: Er legt den Grundstein für den neuzeitlichen Charakter-Begriff. In der klassischen Zeit bezeichnete das Wort »Charakter« noch keine seelische Eigenart des Menschen, sondern meinte ›Stempel‹ oder ›Präger‹. Erst Theophrast überträgt den Begriff auf die Seele des Men-

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Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179). C. N. Greenough: A Bibliography of the Theophrastan Character in English with several Portrait Characters, Cambridge Mass. 1947; B. Boyce: The Theophrastan Character in England to 1642. Cambridge Mass. 1947. Siehe in diesem Zusammenhang auch die typologisierenden Beobachtungen der satirischen Literatur im weitesten Sinne; Gertrud Gelderblom: Die Charaktertypen Theophrasts, Labruyères, Gellerts und Rabeners, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 14 (1926), S. 269–284. Benjamin Farrington: Greek Science. Its meaning for us. Melbourne u.a.: Penguin 1944, S. 159 u. passim. Über die letzten Quellenfunde informieren die Studien in: Theophrastus. Reappraising the Sources, hg. v. Johannes van Ophuijsen, Marlein van Raalte. New Brunswick, London: Transaction Publishers 1998 (Rutgers University Studies in Classical Humanities 8). Charles B. Schmitt: Theophrastus, in: Catalogus translationum et commentariorum: Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Annotated Lists and Guides, hg. v. Paul Oskar Kristeller in Zusammenarbeit m. F. Edward Cranz. Washington, D.C.: The Catholic University of America Press 1971, Bd. II, S. 239–322, hier S. 245. Zur Geschichte eines der korruptesten Texte der Antike Peter Steinmetz: Theophrast Charaktere. Bd. 1: Textgeschichte und Text. München 1960, S. 10–60; einige Ergänzungen in James Diggle: Theophrastus Characters. Ed. with an introduction, translation and commentary. Cambridge UP 2004, bes. S. 50f.

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schen21 – ein Umstand, der auch mit Theophrasts Interesse an ›wahrnehmungspsychologischen‹ Fragen zu tun haben mag, wie sie sein Traktat über die Sinne (peri aistheseon) prägnant und in Auseinandersetzung mit der ›Psychologie‹ der Antike veranschaulicht.22 Die Übertragung des Charakter-Begriffs auf die Seele des Menschen ruht aber nicht zuletzt auf einer quasi-biologischen Annahme. Theophrast geht davon aus, dass es einen »Samen der Tugenden« gibt, der durch Zucht und Pflege zur Blüte gebracht werden muss.23 Der Mensch gilt also nicht als perfekt, sondern bloß als perfektibel – durch Gewöhnung, Übung und Belehrung.24 In diesem Sinne enthält Theophrasts Traktat über die Charaktere 30 Skizzen, und zwar über Männer mittleren Alters, mit abgeschlossener und problematischer Charakterbildung. Sie heißen beispielsweise »Der Unaufrichtige«, »Der Schmeichler«, »Der Schwätzer«, »Der Gerüchtemacher« und »Der Abergläubische«. Theophrasts Charakterskizzen ›schreiben‹ Charakterologie nach dem ewig gleichen Schema:25 Eingangs steht eine Erklärung des Charakters, der definitorisch zum Charaktertypus verdichtet wird. Anschließend erörtert Theophrast übliche Verhaltensweisen und Handlungen – mit einer einleitenden konsekutiven Wendung ›Der soundso ist ein solcher, dass er...‹. Das heißt also, die Handlungen werden als Konsequenzen des Charakters dargestellt; der Charakter wiederum wird mittels der Handlung charakterisiert. Trotz dieser klaren Binnenstruktur der einzelnen Abschnitte ist ihre Abfolge nicht geklärt. Auch die Funktion des Traktats ist umstritten:26 Zahlreiche Forscher sehen in ihm eine ethische Schrift, obwohl der Text streng genommen keine ethischen Vorstellungen erörtert und die philosophische Systematik zugunsten der illustrativen und satirischen Beobachtung zurücktritt. Andere Erklärungsansätze betrachten die Charktere als Exempel für rhetorische Zwecke, wieder andere als Appendix für eine Theorie des Dramas. Eine letzte Position versucht, den Exempelcharakter und die satirische Anlage der Charaktere zu vermitteln: Sie könnten als amüsante Einlagen zu Theophrasts Vorlesungen gedient haben, was auch ihre Nähe zu Mimus und Kömodie erklärt. So überzeugend diese letztgenannte Einordnung auch klingt – eine verbindliche Entscheidung über die Funktion der Charaktere liegt nicht vor. Festzuhalten ist gleichwohl, dass der Text zwar möglicherweise eine satirische Absicht mit der zeitgenössischen Komödienliteratur gemein hat, aber von einem erheblichen Systematisierungseifer lebt. Bei den Charakteren des Theophrast handelt es sich ent-

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Alfred Körte: Charakter, in: Hermes 64 (1929), S. 69–86, hier S. 77. George Malcolm Stratton: Theophrastus and the Greek Physiological Psychology before Aristotle. London: Allen & Unwin; New York: Macmillan 1917. Körte (Anm. 21), S. 77. Peter Steinmetz: Nachwort, in: Theophrast, Charaktere [Ed. Steinmetz 1960]. Griech./Dt. Übersetzt u. hg. v. Dietrich Klose m. e. Nachwort v. Peter Steinmetz. Stuttgart 1970, S. 87–103, hier S. 97; vgl. auch Jeffrey Rusten: Characters/ Theophrastus. Harvard University Press 2002. Dazu J. W. Smeed: The Theophrastan ›Character‹. Oxford: Clarendon 1985. Diggle (Anm. 20), S. 12–16.

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sprechend nicht um literarische Figuren, sondern um Typen, die aus dem Alltagsleben extrahiert sind. Im Mittelalter waren die Charaktere, soweit sich prüfen lässt, weitgehend vergessen, das heißt der Text war in seinem Zusammenhang unbekannt.27 Erst Giovanni Aurispa brachte von seinen Reisen – wohl kurz nach 1405 – ein Manuskript der Charaktere nach Italien mit, und in der Folge weisen einige Korrespondenzen von italienischen Humanisten Spuren der Charaktere auf.28 Die Charaktere werden zu einem der vielkommentierten Haupttexte frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit. Wie erscheint er im Urteil der frühneuzeitlichen Rezeption? Zwischen 1527 und 1800 liegen mindestens zwanzig lateinische Übersetzungen des Textes vor (Mehrfachauflagen nicht gezählt).29 Sie sind zumeist mit einem

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Schmitt (Anm. 19), S. 245: »Theophrastus was practically unkown to western mediaeval thinkers.« Ebd., S. 246. Die editio princeps stammt von Willibald Pirckheimer. Theophrastoy Charakteres. Cum interpretatione Latina per Bilibaldum Pirckeymerum, iam recens edita. Nürnberg 1527 [MF der Universitätsbibliothek Freiburg]; Theophrastou Charakteres cum interpretatione Latina. Basel 1531 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4493]; Morum characteres/ Theophrastus. Ed. Claudius Auberius, Aristotelis Ethicorum Nicomachiorum libri 10, ex Poione Lambini interpretatione Graecolatini. Basel 1582 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 1739]; Libellus Theophrasti continens notas atque descriptiones morum quorundam vitiosum/ In linguam Latinam & annotationibus illustratus Leonhard Lycius. Leipzig 1561 [Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg Sign. Verb. BV011090548]; zur Edition Dalechampius vgl. Schmitt: Some notes on Jacobus Dalechampius and his translation of Theophrastus; Theophrastu characteres ethikoi. Theophrasti de notis morum liber singularis, cum facetissimus, tum utilissimus. Cum Angeli Politiani Latina interpretatione a Frederico Morello eruditis viris recognita, et octo posterioribus notis, quae antea desiderebantur, ab eodem in hac editione adaucta. Paris 1583 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4499]; Theophrasti Characteres Ethici. Ed. Friedrich Sylburg. Frankfurt 1584 [NStUB Göttingen 8 Auct Gr IV, 4499-a]; Thesaurus Philosophiae moralis, quo continentur Gr. [et] Lat. Epicteti Enchiridion, Cebetis Tabula, Theophrasti Characteres, Pythagoreorum Fragmenta, Cantoro [et] Spondano interprete. Lugduni 1589 [NstUB Göttingen Auct. gr. I 2882]; Isaac Casaubon: Theophrasti Notationes Morvm/ Isaacvs Casavbonvs recensuit, in Latinum sermonem vertit, & Libro Commentario illvstravit. Lugduni 1592 [Bayerische Staatsbibliothek München; Sign. Verb. BV001689119]; Theophrasti Charcteres Ethici. Ex recensione Casaubonia quàm ementadißimè editi studio & opera Ioannis Kirchmanni. Rostock 1604 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4506]; Theophrasti Eresii, pleraque antehac Latine numquam, nunc Graece et Latine simul edita / interpretibus Daniele Furlano, Adriano Turnebo, Ex bibliotheca Jo. Vincentii Pirelli Hanoviae 1605 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV, 4319]; Theophasti Eresi Charcteres Ethici sive morum descriptiones Graece et Latine cum monitis Joannis Angelii Werdenhagen. Lugduni Batavorum 1632 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4510]; Theophrasti Characteres ethici. Ludovici Molinaei Morum exemplar. Dionysii Catonis Disticha; cum expositione brevi Erasmi Roterodami; versione Graeca notisque Josephi Scaligeri; utet Publii Syri Mimi Iambi, cum versione Graeca eiusdem Scaligeri, accedit Cato. Pet. Scriverii. Upsala 1669 [NStUB Göttingen Auct. gr. I 2891]; Theophrasti Characteres Ethici. Graece & latine. Cum notis ac Emendationibus Isaaci Casauboni & Aliorum Accedunt Jacobi Duport Praelectionibus

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Kommentar versehen, der eine Synthese aus vorhergehenden Kommentaren bietet und im Laufe der Zeit stark anwächst. Beispielsweise umfasst der Textapparat in der Ausgabe von Johann Friedrich Fischer, die zu den weitläufig rezipierten Standardeditionen zählt, etwa drei Viertel des Gesamttextes. Hinzu kommen zwischen 1737 und 1800 fünf vollständige deutsche Übersetzungen mit kleinen Kommentaren.30 Sie beschränken sich im Wesentlichen auf Worterklärungen.31 Außerdem drucken einige Periodica den Text ab. Ein prominentes Beispiel dafür findet sich in Wielands Attischem Museum aus dem Jahr 1797. In der Folge dieser regen Rezeptionstätigkeit wird der Text auch Goethe und seinem Freundeskreis bekannt.32

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jam primum Editae. Ed. Peter Needham. Cantabrigae 1712 [StUB Frankfurt a.M. 44/8195]; Theophrasti Characteres Ethici Graece, cum versione latina Isaaci Casauboni et notis Joannis Cornelii de Pauw. Trajecti ad Rhenum 1737 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4527]; Theophrasti Characteres morum. Cum nova versione ineditis Aug[ust] Buchneri notis, supplementis item Varr. Lectt. Ms. et commentationibus Jo[hann] Conrad Schwartz. Coburg 1739 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4529]; Christiani Adolphi Klotzii animadversiones in Theophrasti characteres ethicoi [...]. Jena 1761 (NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4656]; Theophrasti characteres. Recensuit animadversionibvs illvstravit atque iudicem verborvm adiecit Joh[ann] Frider[icus] Fischervs. Accessit Commentarivs Isaaci Casauboni. Cobvrgi 1763 [StUB Frankfurt a.M. 17/3043]; Characterum Ethicorum Theophrasti Eresii capita duo hactenus anecdota [...], Graece edidit, Latine vertit, praefatione et adnotationibus illustravit Christophorus Amadutius. Parma 1786 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4652]. – Siehe auch die Bibliographie in Schmitt (Anm. 19) sowie seinen Beitrag: Some Notes on Jacobis Dalechampius and His Translation of Theophrastus, in: Gesnerus 16 (1969), S. 36–53; vgl. Darüber hinaus Diggle (Anm. 20), S. 52–57. Eine Übersetzung vor 1737 wird erwähnt; ich konnte sie jedoch bislang nicht ermitteln. Einem anonymen Herausgeber zufolge stammt sie von dem kursächsischen Hofprediger am Ende (Danzig 1739); Anon. 1754, S. 2 recto. Theophrasti Characteres Ethici. Das ist Merkzeichen oder eigentliche Beschreibung der Sitten. Jetzt erstmahls aus dem Griechischen Nürnbergischen und Lyonischen Exemplaren verdeutschet [...], in: Theatro honoris & virtutis, S. 257–335; erwähnt in: Spiegel menschlicher Sitten. Aus dem Griechischen des Theophrast. [Übers. v. Gottfried Ephraim Müller]. Dresden, Leipzig 1737 [NStUB Göttingen DD2002 A 300]; Theophrasts Kennzeichen der Sitten. Nebst des Herrn Johann de la Bruyère [...] Moralische Abschilderung der Sitten dieser Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von einem Mitglieder der königlichen deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen. Zwey Theile. Regensburg, Wien 1754 [NStUB Göttingen DD92 A 33738] – mit abweichendem Titelkupfer neu aufgelegt Frankfurt, Leipzig 1772 [NStUB Göttingen DD95 A 354]; Des Theophrast moralische Characktere. Nach der Ausgabe von Johann Friedrich Fischer, enth. In: Zürich 1782; Theophrast’s Sitten-Gemälde für höhere Lehr-Anstalten aufs neue bearbeitet v. Joh[ann] Jakob Heinrich Nast. Stuttgart 1791 [NStUB Göttingen Auct. gr. IV 4539]; Theophrasts moralische Charaktere. Aus d. Griech. Übers. m. Anm. begleitet v. Johann David Büchling. Halle 1791. Diese Erklärungen wiederum entstammen im Wesentlichen den lateinischen Kommentaren, v.a. demjenigen Casaubons. Die Belege zu Goethes Theophrast-Rezeption beziehen sich zwar v.a. auf Theophrasts Farbenlehre, aber Goethe war auch mit den »Charakteren«, vermutlich in der Übertra-

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Bis ca. 1800 gibt es drei wichtige Stationen der Theophrast-Rezeption, wie sich im Blick auf die Kommentarliteratur zeigen lässt:33 erstens die Editio princeps des griechischen Textes und der lateinischen Übersetzung durch Lapo da Castiglionchio, besorgt von Willibald Pirckheimer nach einer Handschrift Pico della Mirandolas – mit einer Widmung an Albrecht Dürer,34 zweitens den umfangreichen Kommentar von Isaac Casaubon (1592). Er wird bis heute als zentrales Dokument für die Theophrast-Rezeption gepriesen – mit gutem Grund, denn noch die lateinischen Kommentare des 18. Jahrhunderts drucken Casaubons Text wie ein zweites Buch neben Theophrasts Charakteren ab. Als dritte Stufe der Rezeption bleibt die Übersetzung in die Muttersprachen zu berücksichtigen: Wie kein zweiter Text erhöht Jean de La Bruyères Übersetzung ins Französische und seine ›Neufassung‹ der Charaktere die Aufmerksamkeit für die Charakterologie (1688).35 Hinzu kommt das Interesse für die englischen ›Character writings‹ (z.B. Joseph Hall, Samuel Butler), für die Charakterschilderungen in den moralischen Wochenschriften (Tatler, Spectator, Guardian)36 sowie für die – stärker biographisch angelegte – Gattung des Porträts in der Tradition Plutarchs.37 Diese Theophrast-Rezeptionen beziehen sich auf abweichende Quellenbestände: Überliefert werden anfangs nur die ersten 13,38 1539 und 23,40 schließlich die ersten 28 Skizzen der Charaktere;41 »Der Pervertierte« und »Der Geizige« kommen erst im ausgehenden 18. Jahrhundert hinzu, nämlich in der Edition von Johannes Chris-

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gung La Bruyères vertraut; siehe Ernst Grumbach: Goethe und die Antike: Eine Sammlung. Berlin 1949, Bd. 2, S. 790–795. Diese Stationen nennt bereits Peter Steinmetz: Nachwort, in: Theophrast, Charaktere. Gr./Dt. Übers. u. hg. v. Dietrich Klose mit e. Nachwort v. Peter Steinmetz. Stuttgart 1970 (nach der Ed. Steinmetz 1960), S. 87–103, hier S. 102f. Pirckheimer 1527 (Anm. 29). F.J. Cazelles: La Bruyère hélleniste, in: Revue des études grecques 35 (1922), S. 180– 197 ; R. Jasinski: Influences sur La Bruyère, in: Revue d’histoire générale de la civilisation, new series, fasc. 31 (1942), S. 193–229; fasc. 32 (1942), S. 289–328 ; P. van de Woestijne: Un traducteur de Théophraste, Jean de La Bruyère, in: Musée Belge 1929, S. 159–169. Die erste englische Theophrast-Übersetzung folgt kurz nach derjenigen La Bruyères: The English Theophrastus. Or, the Manners of the Age. Being the Modern Characters of the Court, the Town and the City, ed. Abel Boyer, London 1702; später erscheint noch The moral characters of Theophrastus. Translated from the Greek. By Eustace Budgell. 2. Ed. London 1714. Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. Tübingen 1991 (Romanica et comparatistica); Jannidis (wie Anm. 9), S. 219. Pirckheimer 1527 (Anm. 29). Anon. Basel 1531; Anon. Basel 1582; Politian 1583; Kirchmann 1604 (Anm. 29). Werdenhagen 1632; Anon. Upsala 1669 (Anm. 29). Needham 1712; de Pauw 1737; Schwartz 1739; Fischer 1763 (Anm. 29). Die deutschen Übersetzungen des 18. Jahrhunderts nehmen durchgängig die ersten 28 Charakterschilderungen auf; ab Nast 1791 (Anm. 30) kommen die fehlenden beiden hinzu.

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tophorus Amadutius,42 die durch Johann Jakob Heinrich Nast auch in Deutschland Verbreitung findet. Nast war Professor der alten Literatur und Beredsamkeit an der Stuttgarter Karlsschule – und der Theophrast-Kommentator, auf den sich Wieland vor allem bezieht.43 Auch werden die Charaktere bis in das ausgehende 18. Jahrhundert mit einem Vorwort abgedruckt, das nicht von Theophrast, sondern vermutlich aus byzantinischer Zeit stammt. Es moralisiert die Charakterskizzen, und diese Tendenz zur Moralisierung prägt die gesamte Rezeption bis ins ausgehende 18. Jahrhundert: Der französische Gelehrte Gilles Ménage (1613–1692) meinte, den lasterhaften Charakterskizzen müssten tugendhafte gefolgt seien, welche offenkundig verloren gegangen sind.44 Noch in der deutschen Rezeption des 18. Jahrhunderts heißt es, Theophrast habe die Charaktere möglicherweise bloß als »Ergänzungsstück« geplant und sei zu früh verstorben, um das eigentliche Werk fertigzustellen.45 Andere vertreten die Auffassung, die Charaktere könnten für sich stehen. Aus den Lastern solle der Leser lernen, auf das Gegenteil, also auf Tugend zu schließen – getreu nach Horaz: »Virtus est vitium fugere« (›Tugend ist, das Laster zu fliehen‹).46 Erst Wieland bestreitet die Autorschaft des Theophrast für das Vorwort entschlossen (indem er Nast radikalisiert);47 Mit einigem Vergnügen entlarvt Wieland die moralisierenden Gegenargumente als unschlüssig. Aus seiner Sicht geht es Theophrast überhaupt nicht um Laster und Tugend, sondern um die Darstellung von »Narren«.48 Sie sind weder gut noch böse, sondern bloß durch eine »Schiefheit der Seele« gekennzeichnet.49 Gleichwohl steht die Einordnung des Textes als Dokument »de moribus« (›von den Sitten‹)50 nicht in Frage. In einer zweiten Rezeptionstendenz, die sich mit Casaubons Kommentar durchsetzt, werden Theophrasts Charaktere in die Tradition der Nikomachischen Ethik gestellt.51 Doch lehren sie, wie Casaubon betont, nicht »more philosophorem« (›nach Art der Philosophie‹), sondern sie beschrei-

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Characterum ethicorum Theophrasti Eresii capita duo hactenus anecdota quae ex codice ms. Vaticano saeculi XI. Graece edidit, Latine vertit praefatione et adnotationibus illustravit J. C. Amadutius. Parma 1786; siehe Schmitt (Anm. 19), S. 253. Nast seinerseits bezieht einige Anregung aus dem Kommentar von Amadutius 1786 (Anm. 42); Nast 1791 (Anm. 30), S. XIII. Noch kolportiert von G. E. Müller 1737 (Anm. 30), S. 14. Anon. 1754 (Anm. 30), S. 4f. G. E. Müller 1737 (Anm. 30), S. 14. Nast 1791 (Anm. 30), S. XXI: Nast meint, dass es unwahrscheinlich ist anzunehmen, Theophrast hätte den Plan tugendhafter Charakterdarstellungen wieder aufgegeben. Christoph Martin Wieland: Theophrasts Karakterschilderungen, in: Attisches Museum 1/3 (1797), S. 71–124, bes., S. 99–105, hier S. 105: »Wenn nun dieser Vorredner Theophrast heißt, so habe ich offenbar Unrecht.« Wieland: Theophrasts Karakterschilderungen (Anm. 47), S. 84. Ebd. Casaubon: In Theophrasti Characteres ethicos Prolegomena, in: Fischervs 1763 (Anm. 29), S. [3]–240, hier S. 6. Casaubon: Prolegomena (Anm 29), S. 6f. u. passim; siehe v.a. Anon. Basel 1582 (Anm. 29); siehe auch Schwartz 1739 (Anm. 29), S. 3 u. passim.

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ben:52 »Morum descriptio« (›Beschreibung der Sitten‹) notiert Casaubon in Anspielung auf Cicero.53 Berechtigte Spekulationen, dass Theophrast auch eine Ethik geschrieben haben könnte, unterstützen diese Auffassung.54 Gleichwohl ist deutlich, dass die Position des Theophrast von derjenigen des Aristoteles abweicht:55 Beispielsweise fasst Theophrast Charakterzüge als »einfache Verhaltensregelmäßigkeiten«; von Wünschen oder Überzeugungen, den intrinsischen Wert einer Handlung anzuerkennen, ist keine Rede.56 Aufgrund der Einsicht in vergleichbare Unterschiede rückt Casaubon Theophrasts Text – im Sinne einer dritten Rezeptionstendenz – in die Nähe der zeitgenössischen Komödie, vor allem derjenigen Menanders. Dieser wiederum war ein Schüler Theophrasts, und vier seiner Komödien tragen Titel aus den Charakteren des Lehrers.57 Auf Grund der Nähe zur Komödie sagt Casaubon, die Charaktere seien ›ein [gewisser] Spiegel der Sitten‹ (»speculum quoddam morum«);58 er spielt auf die Spiegel-Metapher des Terenz an.59 Eine der ersten deutschen Übersetzungen bezeichnet die Charaktere deshalb als Spiegel menschlicher Sitten60 – ein folgenreicher Titel für die Romanliteratur bis hin zu Wielands Goldnem Spiegel.61 Eine vierte Tendenz der Theophrast-Rezeption entspricht der Anlage des Originals: Charakterologie meint Seelenlehre in einem umfassenden Sinne. Sie

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Casaubon: Prolegomena, S. 7. Ebd., S. 8; Markus Tullius Cicero: Topik. Lat.-Dt, Hamburg 1983, c. 22. Erstens kannte die peripatetische Schule auch charakterologische Skizzen aus anderer Hand (Lykon, Ariston). Zweitens wurden die »Charaktere« wesentlich auch durch rhetorische Sammelwerke überliefert – als pädagogische Beispieltexte für eine Auswahl unethischer Dispositionen. Drittens hinterließ Theophrast ethische Fragmente, die möglicherweise im Zusammenhang mit einer Poetik der Komödie standen. Siehe William W. Fortenbaugh: Quellen zur Ethik Theophrasts. Amsterdam 1984 (Studien zur antiken Philosophie), S. 93–96. Die Darstellung folgt William W. Fortenbaugh: Die Charaktere Theophrasts. Verhaltensmäßigkeiten und aristotelische Laster, in: Rheinisches Museum für Philologie NF 118 (1975), S. 62–83; siehe auch Fortenbaugh: Arius, Theophrastus and the Eudemian Ethics, in: On Stoic and Peripatetic Ethics. The Work of Arius Didymus, hg. v. William W. Fortenbaugh. New Brunswick, London: Transaction Books 1983, S. 203–223. Fortenbaugh: Die Charaktere (Anm. 55), S. 62. Siehe auch Anon. 1754 (Anm. 30), S. 6. Casaubon: Prolegomena (Anm. 29), S. 8. »Inspicere tamquam in SPECULUM, in vitas omnium/ Jubeo, atque ex aliis sumere exemplum sibi.«/ ›Ich befehle, gleichsam in den Spiegel zu schauen wie in das Leben aller und sich selbst ein Beispiel an anderen zu nehmen.‹ Terentivs: Adelphoe, ed. R.H. Martin. Cambridge UP 1976, III.4; G. E. Müller 1737 (Anm. 30), [unpag.]. G.E. Müller 1737 (Anm. 30). Zur strukturellen Bedeutung der Spiegel-Metapher des Terenz für den »Goldnen Spiegel« Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 75), S. 241–243; siehe auch meinen Eintrag in dem von Jutta Heinz herausgegebenen Wieland-Handbuch (Stuttgart, Weimar, i.V.).

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schließt Aspekte des Erfahrungswissens, der Agrikultur, Arzneikunde, Diätetik, Hygiene, medizinischen Diagnostik und Meteorologie ein. Ein Beispiel bietet die Darstellung des neunzehnten Charakters, des »Widerlichen«. Er vernachlässigt seinen Körper, hat Lepra und zu lange Fingernägel; aus Rücksichtslosigkeit achtet er nicht auf sich selbst und benimmt sich unflätig.62 Seine psychische Einstellung motiviert sein körperliches Fehlverhalten. Die Charakterologie sucht also nach seelischen Ursachen für körperliche Symptome. In Original und Kommentarliteratur wird die Charakterologie auf diese Weise zu einer ›Erfahrungswissenschaft‹ unter anderen. Charakterologisches Schreiben in der Form von Übersetzung und Kommentar findet sozusagen als ›Empirisierung‹ der Antike statt.63 Dieses Amalgam unterschiedlicher antiker Texte und Wissensfelder öffnet den Weg hin zur physischen oder medizinischen Charakterologie. In diesem Sinne bemerkt eine deutsche Theophrast-Übersetzung aus dem Jahr 1754 treffend, dass die Erwartungen an die Charakterologie nicht mehr nur auf die Sitten, sondern auch auf ihre Erklärung aus den »Bewegungen des Bluts, der Fiebern und Pulsadern« zielen.64

II. Die ›physische‹ oder medizinische Charakterologie Schon um 1700 zerfällt die Charakterologie in zwei Teile: erstens in einen höfischpolitischen, der von La Bruyère und der Klugheitslehre her kommt. In Deutschland tritt Christian Thomasius mit Verve für diese Richtung ein. Im Jahr 1691 handelt der Hallenser Professor der Jurisprudenz von der Erfindung der Wissenschafften anderer Menschen Gemüther zu erkennen. Mit einiger Polemik gegen die Schulgelehrsamkeit setzt er sein Anliegen in Szene: Thomasius will seinem Kurfürsten, den Diplomaten und Landesdienern sowie der studierenden Jugend Techniken an die Hand geben, um »das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen.«65 Ziel dieser Enthül-

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Peter Steinmetz: Theophrast, Charaktere. 2. Bd.: Kommentar und Übersetzung. München 1962 (Das Wort der Antike 7), S. 218–224. Die Aneignung der Antike kennt weitere Tendenzen, die hier jedoch nicht im Vordergrund stehen sollen, etwa den Weg der Eloge: Theophrast wird selbst zum Leitbild eines tugendhaften Charakters. Vgl. Casaubon: Prolegomena (Anm. 29), S. 4: »Fuisse enim illum politissimi, elegantissimi et amoenissimi ingenii virum.« (›Denn jener Mann hatte die kultivitiersten, elegantesten und angenehmsten Anlagen.‹). Siehe auch Anon. Basel 1582, S. 691. – Bald kommt die Eloge auf Casaubon hinzu; Johannes Kirchmann (1604, S. a5 recto) etwa notiert über ihn: »Universa Europa doctiorem non habet alterum.« (›Das gesamte Europa hat keinen gelehrteren [Mann].‹) Anon. 1754 (Anm. 30), S. 3. Christian Thomasius: [...] die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft/ Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen, in: ders., Kleine Teutsche Schriften. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von

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lungstechnik ist es, möglichst schnell und aus wenigen äußeren Daten Aufschluss über den »Haupt-Affect« und die Grade der weiteren Affekte eines Menschen zu geben,66 um seine Einstellungen, Handlungen und Entscheidungen vorhersehen und gegebenenfalls zum eigenen Nutzen manipulieren zu können. Eine solche Charakterologie gilt nach Thomasius als »vornehmste[s] Stück der Politic«; er erhebt sie deshalb über andere, aus seiner Sicht zu allgemeine oder zu spezielle, zu ›obskure‹ und spekulative Charakterologien wie diejenigen des »Huartus,67 Claramontius,68 de la Chambre, Theophrastus, Ludovicus Molinaeus«69 und die Lehren, die »ex Principiis Physicis, Chymicis oder Algebraicis« auf das Gemüt zu schließen suchen.70 Mit seiner Kritik zielt Thomasius auf die zweite Richtung der Charakterologie: die ›physische‹ oder medizinische Charakterologie, wie sie sich auch im Anschluss an die ›Medicina mentis‹ eines Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und des Hamburger Juristen Vincenz Placcius entwickelte. Die medizinische Charakterologie grenzt sich ihrerseits entschieden von Thomasius und der politisch klugen Spontan-Diagnose ab: Herr Thomasius irre allzu oft; man brauche viele »Data« um die »Wahrscheinlichkeit der Erkenntnis zu vergrößern«.71 Diese zweite Charakterologie versteht sich als umfassende und möglichst genaue Wissenschaft, mitunter jedoch nur bescheiden als »Kunst«.72 Sie umschließt nicht nur die Bereiche der Rede, der Mimik, der Gestik und der Kleidung, sondern vor allem auch die Naturkunde: die Humoralpathologie, die Physiognomie, die Geographie, die Astronomie und die Ständelehre. Ihr Ziel ist es, eine Modelltypologie des Menschen zu erstellen und für die Anwendung zu empfehlen. Hier beschränke ich mich auf diese praktische Richtung der Charakterologie, sofern sie über Naturkundliches und Medizinisches handelt. Das Interesse an dieser Ausprägung im 18. Jahrhundert erstaunt, nimmt man den zeitgenössischen Stand medizinischer Erkenntnis wahr: Im Ausgang von Friedrich Hoffmanns Iatromechanik und der Psychomedizin im Gefolge Georg

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Martin Pott. Hildesheim u.a. 1994 (Christian Thomasius; Ausgewählte Werke 22), X., S. 449–490, hier S. 465. Ebd., S. 466. Gemeint ist die ›Begabungspsychologie‹ von Juan Huartes (»Examen de Ingenios«, 1580), über die noch Lessing promovierte. Scipion Claramontius: De coniectandis, cuiusque, moribus & latitantibus animi affectibus. Helmstedt 1665. Thomasius (Anm. 65), S. 474f. Ebd., S. 486. – Die »Lection an sich selbst« (1694) bekräftigt diese Abgrenzung; ebd., XVII., S. 655–696. Julius Bernhard von Rohr: Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, Darinnen gezeiget, In wie weit man aus eines Reden, Actionen und anderer Leute Urtheilen, eines Menschen Neigungen erforschen könne, Und überhaupt untersucht wird, Was bey der gantzen Kunst wahr oder falsch, gewiß oder ungewiß sey. Nebst einer neuen Vorrede, in welcher zwey Journalisten ungebührende Censuren beantwortet werden. 2. Aufl. Leipzig 1715 (1. Aufl. 1714; 3. Aufl. 1721; 4. Aufl. 1732), S. 5. Ebd., S. 1.

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Ernst Stahls hätten die Humoral- und die Temperamentenlehre mit ihren charakterologischen Weiterungen als überwunden gelten können.73 Doch erweist sich die Charakterologie nach wie vor als nützliche Grundlage sowohl für Diagnostik und Therapie als auch für einzelne Anwendungsbereiche wie die Pädagogik und die Lehre vom Nationaltemperament. Seit den 1770er Jahren kommt ein Weiteres hinzu: die Konjunktur der Physiognomik Johann Caspar Lavaters. Sie bezieht ihren argumentativen Kern zwar aus der Theologie, vor allem aus der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Moses I, 21),74 wendet sich gegen die Nützlichkeitserwähnungen eines Thomasius und zielt auf die Beförderung der Nächstenliebe aus der Untersuchung der Gesichtszüge des anderen,75 beruht aber zugleich auf medizinischen Lehren: Der Humoralpathologie gesellt Lavater neuere medizinische Auffassungen bei, etwa die Lehre von der Irritabilität und Sensibilität im Ausgang von Albrecht von Haller.76 Einige Elemente der vielschichtigen Physiognomik Lavaters sind schon in der modelltypologischen, anwendungsorientierten und nicht zuletzt medizinischen Charakterologie angelegt.77 Mein erstes Beispiel stammt von Julius Bernhard von Rohr (1688–1742), einem publizistisch erfolgreichen Kameralisten aus Kursachsen. Er spricht der Medizin und Naturkunde eine bloß relative Entdeckungskapazität für die Charakterologie zu. Der Pastor Johann Georg Leutmann hingegen,78 mein zweites Beispiel, schätzt den Erkenntniswert von Naturkunde und Medizin emphatisch positiv ein.

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Nachstehende Darstellung folgt der Argumentation von Irmtraut Sahmland: Gibt es ein deutsches Nationaltemperament? Die Temperamentenlehre und ihr Beitrag zur Frage der nationalen Identität im 18. Jahrhundert, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52/1 (2002), S. 103–127, bes S. 110–115. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778), in: Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, hg. v. Ernst Staehelin. 2. Bd.: Gott schuf den Menschen sich zum Bilde 1772–1779. Zürich 1943, S. 110–213, hier S. 111. Ebd., S. 113. Zur Charakterisierung der Fragmente Johannes Saltzwedel: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit. München 1993, S. 77–81. Siehe dazu Lavaters Schilderung seiner Begegnung mit dem Berliner Mathematiker und Philosophen Johann Heinrich Lambert. Einerseits klassifiziert er Lamberts Charakter und geht davon aus, dass dieser in einem Verhältnis von Eins zu Eins mit seinem Temperament übereinstimme, andererseits beschreibt er die eigenen nervlichen Reaktionen auf Lambert. Lavater zittert – offenkundig, weil er »Lamberts Nase« hat; Lavater (Anm. 74), S. 120f. Das gesamte Korpus dieser Schriften wäre erst noch zu erschließen; im Folgenden gebe ich daher nur Beispiele. Zu denken wäre außerdem an Texte zur Temperamentenlehre (Sahmland, Anm. 73) sowie an Johann Wolfgang Trier: Kurtze Fragen Von den Menschlichen Neigungen, Von deren Ursprung und Würckungen auf eine besondere Art gehandelt, und zugleich ausgewiesen wird, wie man dieselben so wohl an sich als an andern erkennen können, auch sich sonsten im gemeinen Leben dißfalles zu verhalten habe. Leipzig 1719. Über Leutmann lassen sich keine bio-bibliographischen Daten ermitteln.

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Zuerst zu von Rohrs Abhandlung aus dem Jahr 1714, einem Buch mit insgesamt vier Auflagen bis ins Jahr 1732.79 Von Rohr versteht unter der »Menschen Gemüther [...] ihre Kräffte, so wohl des Verstandes, als des Willens«.80 Das Ziel der Charakterologie besteht aus seiner Sicht darin, »Leibes-Gemüths-Glücks- und Ehren-Güter« zu mehren.81 Zu diesem Zweck geht er – mit Thomasius – von drei »Haupt-Passiones« des Menschen aus.82 Sie heißen »Geitz, Ehr-Geitz und Wollust.«83 Von Rohr erweitert ihre Analyse aber erheblich. Im Vordergrund stehen dabei erstens die Klimalehre und die Aerometrie: Luft und Klima haben aus seiner Sicht auf das Gemüt Einfluss, determinieren es aber nicht.84 Vergleichbares gilt zweitens für die Säfte- und Faserlehre sowie drittens für die Temperamentenlehre, die von Rohr aus der Rezeption des Hippocrates und des Galen übernimmt.85 »Scharff[e] Säfte und »trocken[e]« Fasern führen zwar zu mangelnder Tatkraft, aber Befinden und Handeln des Menschen ist damit nicht letztgültig bestimmt.86 Auch die »Vermischung des Geblütes und derer übrigen flüßigen Theile« erklärt den Menschen nicht restlos.87 Charakterologisches Schreiben meint im Fall von Rohrs ein Abwägen von Möglichkeiten, Charaktermerkmale zuzusprechen und zu deuten – ein Unterfangen, das, dem Titelkupfer zufolge, einer sakralen Kunst gleichkommt: Sie findet in einem eigens zu ihren Zwecken eingerichteten Tempel statt.88 Leutmann hingegen hält alle Möglichkeiten der Zuschreibung und der Erklärung von Charakter für treffend, und er wendet sich begeistert vor allem den As-

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Die Schrift war der Gönnerin Kurfürstin Sophie gewidmet, um eine Stelle zu erwirken. Der Plan schlug jedoch fehl, weil die Fürstin kurz nach Erscheinen der Schrift verstarb. Von Rohr (Anm. 71), S. 1. Ebd., S. 39. Ebd., S. 54. Ebd. – so Thomasius in der »Lection an sich selbst« (Anm. 65). Von Rohr, S. 96: »Daß man aber wie etliche thun, genau bestimmen könne, was die kalte oder hitzige Lufft eigentlich vor Neigungen verursache, solches halte ich ietzund noch nicht wohl vor möglich.« Das Corpus hippocraticum überführt die vorsokratische Temperamentenlehre in ein Viererschema: Den vier Elementen des Empedokles (Feuer, Wasser, Luft, Erde) korrespondieren vier Körpersäfte und vier Körperorgane (Blut/Herz, gelbe Galle/Leber, Schleim/Gehirn, schwarze Galle/Milz). Gesundheit entsteht bei einem ausgewogenen, Krankheit bei einem unausgewogenen Mischungsverhältnis; Sahmland (Anm. 73), S. 107f. Galen baute diese Lehre mit systemischem Anspruch aus und entwickelte die bekannte Typologie der Temperamente (Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker); seine Schüler nahmen außerdem somatische Merkmale (Körperbau, Blutumlauf, Pigmentierung usf.); dazu Erwin Gniza: Der Temperamentsbegriff in der Charakterologie. Diss. Dr. der Kulturwissenschaften an der Technischen Hochschule Dresden. Dresden 1939, S. 20 u. passim. Ebd., S. 85 – mit Bezug auf Friedrich Hoffmann (Praes.)/Thomas Kennedy (Resp.): Dissertatio Inauguralis Physico-Moralis Medica De temperamento fundamento morum & morborum in gentibus. Halle 1705. Von Rohr (Anm. 71), S. 243f. Siehe Abbildung 1.

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pekten zu, die ihren Grund »in der Natur« haben.89 Gleich ob Astronomie, Metoskopie (die Lehre von den Linien auf der Stirn), Chiromantie (Handlesekunst), Physiognomik, Geomantie (Staublesekunst), Säfte- und Temperamentenlehre – sie alle haben nach Leutmann ihre Berechtigung. Deshalb findet Leutmanns Charakterologie ihr Herzstück auch in quasi-mathematischen Berechnungen der Charaktere: Wenn ich jede natürliche Inclination des Menschen in 60. grad eintheile, und davon die ersten 20. grad dem vitio defectus [abfallenden/ geschwächten Laster], die folgende 20. grad, nehmlich von 20. bis 40. grad der Tugend, und endlich die letzten 20. grad, von 40. bis 60. grad dem vitio excessus [herausragenden Laster] zueigne, so wird man sehen können, wie weit jedes factum sich zur Tugend, oder zum Laster nahe, ja man wird Tugend und Laster nach ihrer Grösse beurteilen können.90

Das Ziel dieser Berechnungen Leutmanns ist ein doppeltes: zum einen die titelgebende Selbst- und Fremderkenntnis nach dem delphischen »nosce te ipsum« (›Erkenne dich selbst‹). Sie wird auf dem komplexen Titelkupfer eigens veranschaulicht:91 Ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt, trägt sie auf einem Spruchband bei sich, dem der Spiegel des Terenz beigefügt ist. Das Vogel gilt als Christus-Symbol: Er stirbt für seine Kinder. Doch entsteht aus der Wunde ein Gesicht – möglicherweise ein Christ, der sich und andere aus christlichem Handeln und durch Selbstprüfung erkennt. Zu diesem Zweck nutzt er die Instrumente der modernen Wissenschaft: den Globus und das Fernrohr zum Beispiel. Die Charakterologie wird damit zugleich zum Mittel der Kirchenkritik. Leutmann Beispiele für lasterhafte Charaktere entstammen der Geschichte des Katholizismus. Mit Blick auf diese spricht Leutmann der Charakterologie prognostische Kraft zu. Das Schicksal von Papst Sixtus V. (Peretti, Pontifikat 1585–1590), der die hugenottischen Herrscher bannte, liegt auf der Hand bzw. in den Säften und den Sternen: »daß er nemlich ein verdorbener und verhaßter Mensch sein lebtage bleiben« wird.92 Was sich daher erkläre, dass sein dominantes Laster der »Geld-

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Johann Georg Leutmann: Nosce te ipsum et alios Oder die Wissenschafft sich selbst und anderer Menschen Gemüther zu erkennen. Aus Moral- und Physicalischen Grund-Sätzen hergeleitet. Die andere Edition Um die Helffte vermehrte nebst einem Anhang Von Physicalischer Betrachtung der Temperamente. Wittenberg, 2. Aufl. 1723 (1. Aufl. 1719; 3. Aufl. 1724), S. 2. – Bereits erwähnt in Sahmland (Anm. 73), S. 114, Anm. 48. Ebd., S. 27. Für die Darstellung der Charaktere aktiviert Leutmann unterschiedliche Formen aus dem Präsentationsschatz medizinischer Diagramme; vgl. Ian Maclean: Diagramms in the Defence of Galen: Medical Uses of Tables, Squares, Dichotomies, Wheels, and Latitudes, 1480–1574, in: Transmitting knowledge: texts, images and instruments in Early Modern Europe, hg. v. Sachiko Kusukawa u. Ian Maclean. Oxford UP 2006, S. 135–164. Siehe Abbildung 2. Zur medizinischen Bedeutung des ‚nosce te ipsum’ für die Humoralpathologie am Beispiel von Patientengeschichten und Rezeptbüchern Deborah Harkness: Nosce teipsum. Curiosity, the humoural body and the culture of therapeutics in late sixteenth- and early seventeenth-century England, in: Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment, hg. v. R.J.W. Evans, Alexander Marr. Aldershot: Ashgate 2006, S. 171−192. Leutmann (Anm. 89), S. 86.

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Geitz« und die nachgeordneten Laster »Zorn«, »Ehr-Geitz« und »Verstand« seien.93 Das Titelkupfer unterstützt die polemische Absicht. Ein wahrer Christ soll den Antichrist erkennen lernen, dessen Abbildungen an das Titelkupfer von Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus erinnert:94 Mit Pferdefuß, großen Ohren und Panflöte präsentiert sich Leutmanns Titelgestalt als eine Mischung als Pan und Satan. Wie Grimmelshausens Monstrum geht sie virtuos mit diesen Masken um, spielt Rollen, borgt sich jeweils einen neuen Charakter. Den wahren, teuflischen Charakter dieses Wesens zu erschließen, zählt zu den Aufgaben des wahren Christen, den Leutmann im Untertitel des Kupfers anspricht: »Hunc tu Germane caveto«, variiert eine berühmte Horaz-Sentenz. »Hunc tu, Romane, caveto«, ›vor ihm, Römer hüte dich‹, heißt es in der Satire Eupholis atque Cratinus.95 Leutmanns protestantischer Germane soll sich offenkundig vor dem teuflischen Katholiken in acht nehmen. Charakterologisches Schreiben (und Visualisieren) nimmt im Fall Leutmanns also vielerlei Gestalt an: Das abwägende Moment für die Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten der Charakterologie geht verloren. Charakterologie wird zur prognostischen Technik für den Hausgebrauch ebenso wie für den konfessionspolemischen Zweck. Dabei fällt auf, wie schematisch und technisch der charakterologische Stil ist: Die Charakterdarstellung schwankt zwischen Stereotypen wie der pauschalen Zuordnung der Planeten, Attributen wie trocken/feucht, warum/kalt, bösartig/gutartig und der graduellen Verteilung der Laster. Variation wird im Koordinatenkreuz erzeugt. Der Mensch erscheint als Kombination von Hauptund Nebenaffekten. Dieses Zusammenfallen von ›nüchterner‹ Darstellungsform und gleichermaßen ›nüchternem‹ Inhalt ist kein Zufall, wie Nast und Wieland für Theophrast zeigen.

III. Wieland Wielands Theophrast-Kommentar verfolgt vor allem ein Thema: die Darstellung von »Narrheit«. Der Weg dorthin verläuft über das »Lächerliche«, von dem schon Nast spricht.96 Wieland erklärt das Entstehen dieses Lächerlichen aus dem »Mißverhältniß« der Gegenstände und der Vorstellungen von Gegenständen, die eine

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Ebd., S. 79. Siehe Abbildungen in: Simplicissimus Teutsch. Frankfurt am Main: Deutscher-KlassikerVerlag 2005; zur Bedeutung des ›nosce te ipsum‹ für den »Simplicissimus« vgl. Ulrike Zeuch: Abenteuer als Weg zum ›nosce te ipsum‹? Umschlagserfahrung und Selbsterkenntnis bei Grimmelshausen und Wieland, in: Das achtzehnte Jahrhundert 24/2 (2000), S. 176–190, hier S. 176–182. Quintus Horatius Flaccus: Sermones et epistuale. Satiren, V. 85. In: Sämtliche Werke: lateinisch und deutsch / Horaz. München: Heimeran, 1960. Nast 1791 (Anm. 30), S. XXIX: »Das Lächerliche, das man in Theophrasts Charakteren wahrnimmt, wird nicht erst von aussen hineingetragen, sondern es springt aus ihnen von selbst hervor.«

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Figur hat, sowie des Zwecks, den eine Figur verfolgt, und der Mittel, die sie dafür einsetzt.97 Mit anderen Worten: Das Lächerliche liegt im »Kontraste«.98 In Theophrasts Charakteren findet Wieland dieses Lächerliche exemplarisch ausgeprägt: »Ich modle meine Theorie willig nach seiner Praxis«, notiert Wieland.99 In praxi allerdings möchte er Theophrast noch übertreffen: Wieland will lebendiger schreiben, um Theophrasts »Karikatur[en]«, die Nast und er in die Nachfolge des antiken Dramas rücken,100 anschaulicher zu gestalten.101 Ein Beispiel dafür legte er schon im Jahr 1781 vor, lange vor seinem Theophrast-Kommentar: Gemeint sind die Abderiten. Über den Text ist zweierlei bekannt: Erstens informierten Jörg Schönert und später Bernhard Budde darüber, dass es sich um einen satirischen Roman handelt.102 Zweitens erörterte Horst Thomé, dass sich ein auktorialer Erzähler hier als Historiograph des Stadtstaates Abdera vorstelle.103 Das »eigentliche Thema des Romans« sei aber, so Thomé, die »Relativierung des Historischen«.104 Meine These knüpft an beide Interpretationen an; sie lautet: Den Abderiten geht es – wie vielen anderen Texten Wielands – um ein transhistorisches Phänomen, nämlich um einen Kollektivcharakter, um das zu allen Zeiten anzutreffende »Abderitentum«105 oder die Narrheit. Wie es später im Theophrast-Kommentar Wielands (in enger Anlehung an Nast) heißt: »Der Narr ist zu allen Zeiten und bey allen Völkern wesentlich immer derselbe.«106 Dieses Abderitentum oder die

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Wieland: Theophrasts Karakterschilderungen (Anm. 47), S. 85. Ebd. 99 Ebd., S. 87. 100 Nast 1791 (Anm. 30), S. XXIV: Theophrast gehe einen Weg, »den vor ihm, die dramatischen Dichter ausgenommen, wenigstens noch kein anderer Philosoph betreten hatte.« Dazu passt auch Nasts gattungsmäßige Zuordnung des Textes; ebd., S. XXVII: »Seine Sitten-Gemälde halten das Mittel zwischen der plumpen persönlichen Satyre der ältern griechischen Komiker, und den idealischen Charakter-Schilderungen der neuen Sittenmahler.« 101 Ebd., S. 94f. 102 Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik. Mit einem Geleitwort von Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1969, S. 56 u. passim; Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur 155), S. 288–366. 103 Der Stadtstaat wird im Muster der Erzählungen ›von der verkehrten Welt‹ dargeboten; dazu Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lessage bis Döblin. München 1969, S. 66–91. 104 Horst Thomé: Die »Geschichte der Abderiten«, in: Wieland. Epoche – Werk – Wirkung v. Sven-Aage Jørgensen, Herbert Jaumann, John McCarthy, Horst Thomé. München 1994, S. 138–145, hier S. 138. 105 Christoph Martin Wieland: Werke. Herausgegeben von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. Zweiter Band. München: Hanser 1966. Die Geschichte der Abderiten, Schlüssel. 106 Wieland: Theophrasts Karakterschilderungen (Anm. 47), S. 92. Zum Vergleich Nast 1791 (Anm. 30), S. XLV: Theophrast übermittele »[...] getreue Darstellungen und Abdrüke der menschlichen Natur, die in ihren Grundbestimmungen sich unter jedem Himmelsstrich und in jedem Zeitalter gleich bleibt, auch noch für unsere Zeiten brauchbar und belehrend 98

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Narrheit wird vor allem mit Hilfe des Lächerlichen veranschaulicht, des typisch charakterologischen Darstellungsmittels. Bei Wielands Abderiten handelt es sich also auch um einen charakterologischen Roman.107 Im Ergebnis dieses charakterologischen Romans steht zweierlei: zum einen das abderitische Figurenmodell des Texts, welches antike und zeitgenössische Eigenschaften verbindet. Zum anderen dokumentiert der Roman eine Mischung zahlreicher Gattungen und Darstellungsmittel: Das Lächerliche paart sich mit der Komödie Menanders, den Dialogen Lukians, den Schwänken und Schildbürgerstreichen des Lalebuchs, der humanistischen Narrenliteratur, den historischen Kompilationen der Frühen Neuzeit,108 der antiken ebenso wie der zeitgenössischen Charakterologie. Bereits eine quantitative Studie käme zu dem Schluss, dass der Charakter für die Abderiten wichtig ist. Er zählt zu den häufigst genannten Begriffen im Text: Gleich im »Vorbericht« ist von »charakteristischen Züge[n]« die Rede,109 denen es nachzuspüren gilt, und das Inhaltsverzeichnis kündigt Nachrichten über den »Charakter« der Abderiten an: über den »Charakter« des abderitischen Philosophen Demokrit und seiner Mitbürger. Den Abderiten wird ein Nationalcharakter zugesprochen.110 Er trägt Züge der aufklärerischen Schwärmerkritik, wie sie von Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711) beeinflußt ist:111 Bei den Abderiten gewinnt die »Einbildung« nämlich wie beim modelltypischen Schwärmer einen »großen Vorsprung vor der Vernunft«;112 sie

–––––––— sey.« – Dass Aussagen wie diese als Kritik einer wenig aufgeklärten Öffentlichkeit interpretiert werden können, sei nur am Rande bemerkt. Eine von Jürgen Habermas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« ausgehende Forschung hat diesen Aspekt bereits zu Genüge herausgestellt; dazu Carl Niekerk: Wieland und die Irrwege der Aufklärung. Öffentlichkeitskritik in der »Geschichte der Abderiten«, in: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 233–259. 107 Die charakterologischen Bezüge des Romans bemerkte selbst Albert Fuchs in seiner quellenreichen Arbeit über den Text nicht; vgl. Albert Fuchs: Geistiger Gehalt und Quellenfrage in Wielands Abderiten. Paris 1934. Gleiches gilt für Fritz Martinis subtile Untersuchung des Textes. Martini weist zwar vielfach auf Traditionen der Satire und des ironischen Stils hin, versäumt aber den Vergleich mit charakterologischen Texten; ders.: Wieland – Geschichte der Abderiten, in: Der deutschen Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte, hg. v. Benno v. Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1963, S. 64–94. 108 Fuchs (Anm. 107). 109 Wieland: Abderiten (Anm. 105), S. 125. 110 Ebd., S. 261; zur Nationalcharakter-Debatte Sahmland (Anm. 73); siehe auch die v.a. im angloamerikanischen beliebten ‚Charakter studies’ Jeremy Paxmann: The English. Portrait of a People. Penguin 2002; Peter Mandler: The English National Charakter. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair. Yale UP 2006. 111 Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hg. v. Lawrence E. Klein. Cambridge: Cambridge UP 1999 (Cambridge Textes in the History of Philosophy), dort v.a. ders.: A letter concerning enthusiasm to my Lord *****, S. 4–28. 112 Wieland: Abderiten (Anm. 105), S. 129.

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sagen sich zu Gunsten des Ideellen von der Erfahrung los.113 Darüber hinaus gelten sie als geschwätzig, albern und unbesonnen,114 was an Theophrasts Darstellungen des Schwätzers, des Bedenkenlosen und des Gedankenlosen erinnert. Auch haben Abderiten keinen Geschmack, obwohl sie »Enthusiasten für die schönen Künste« sind.115 Vielmehr setzen die Abderiten auf Regelkunst; Rührung gilt ihnen als hauptsächliches Ziel der Dichtung – eine Kritik am zeitgenössischen Rührstück.116 Philosophisch neigen sie zur schulphilosophischen »Speculation«;117 unter dem Aspekt der Religion verhalten sie sich genau so wie Theophrasts abergläubischer Charakter. All das erklärt sich für den Erzähler zum einen aus den »Triebfedern« der Abderiten, aus »Grillen, Launen, Eigensinn, Gewohnheit«.118 Zum anderen sind die Säfte dafür verantwortlich: Das Übel liegt sowohl »im Blute« als auch in der »sehr hitzige[n] Gemüthsart« der Abderiten.119 Hippokrates, der als Figur im Text auftaucht, stellt die Diagnose: »Abderitheit« gilt als Krankheit.120 Sie taucht in Graden auf und ist übertragbar.121 Die Abderiten aber sind so krank, dass sie es nicht einmal merken,122 notiert Hippokrates in ein ärztliches Gutachten, das en passant die nämliche Gattung parodiert: Hippokrates hält vor dem Rat Abderas eine perfekte und ehrerbietige Rede mit einer doppelten Pointe. Der Gesunde, das Volk der Abderiten erweist sich als gefährlich krank, der Kranke jedoch als gesund – und als bester Arzt seines Volkes.123 Für seine Kunst hingegen, so Hippokrates, liegt »die Krankheit der Abderiten [...] zu tief«.124 Er verschreibt nur einige ›Palliativa‹,125 verzichtet deshalb auf seine Entlohnung und überweist das Volk deshalb an den Kollegen Demokrit, wie Hippokrates selbst ein kosmopolitischer Philanthrop.126

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Diese Charakterisierung des Narren wirkt nicht zuletzt auf Goethe und Schiller; Klaus Manger: Naturforschung bei Wieland, in: Von Schillers »Räubern« zu Shelleys »Frankenstein«, hg. v. Dietrich v. Engelhardt, Hans Wißkirchen. Stuttgart, New York 2006, S. 1–17, hier S. 15f. 114 Wieland: Abderiten (Anm. 105), S. 129–130. 115 Ebd., S. 133. 116 Ebd., S. 164. 117 Ebd., S. 135. 118 Ebd., S. 168. 119 Ebd., S. 219 120 Ebd., S. 234f. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd., I, S. 235: »Die gefährlichsten Kranken sind die, die nicht wissen, dass sie krank sind, und diess ist, wie ich finde, der Fall der Abderiten.« 124 Ebd., I, S. 235. 125 Ebd.: »Besorgen sie in großen Mengen Niesswurz, versammeln sie sich auf dem Markt, bitten sie die Götter dem Volk und dem Senat von Abdera zu geben, was ihnen fehlt, teilen sie pro Kopf viel Niesswurz aus – die Übel sind hartnäckig...: sie können nur durch lang anhaltenden Gebrauch der Arznei geheilt werden.« 126 Vgl. zum Kosmopolitismus in diesem Zusammenhang Irmtraut Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und

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Im Ergebnis steht die spannende Deutung einer komplexen historischen Szene: Schon der niederländische Historien- und Mythenmaler Pieter Lastman (1583– 1633) hatte die Szene »Hippokrates besucht Demokrit in Abdera« im Bild festgehalten (1622).127 Es zeigt einen Hippokrates, der sich dem schreibenden Demokrit vorsichtig nähert – nicht ohne Grund: Hippokrates vertraut, den Abderiten zufolge, auf die Humoralpathologie, Aderlässe und Nieswurz. Demokrit hingegen übt sich in der Anatomie, zergliedert Tiere, um ihrem Bau, ihrer »animalische[n] Ökonomie«, ihren »Eigenschaften« und »Neigungen« auf die Spur zu kommen.128 Offenkundig setzt Demokrit, der empirische Naturforscher, damit ›tiefer‹ an als Hippokrates, und Wielands Abderiten erklären Demokrit deshalb für verrückt:129 Sie wollen ihn durch Hippokrates heilen lassen. Aber Demokrit entzieht sich sowohl den Abderiten als auch dem Anliegen des Hippokrates: Er hat sich längst ins Private zurückgezogen, überläßt Euripides und der Komödie das Feld. Die Abderiten sind unrettbar. Was folgt daraus für die Charakterologie und das charakterologische Schreiben? Anders als Theophrast, der einzelne Charaktertypen kennzeichnet, zielt Wieland – erstens – auf einen Kollektivcharakter, den er mit quasi-historischem Anspruch darstellt und als transhistorisches, nicht an eine bestimmte Nationalität gebundenes Exempel, als ›Narrheit‹ ausweist.130 Zugleich handelt er über einzelne herausragende Männer, welche – wie Hippokrates und Demokrit – diesem Charakter als Vorbilder entgegenstehen. Anders als in der Theophrast-Rezeption, die an moralische Lehren in der Charakterologie glaubt, kommt Tugend und Weisheit jedoch keine Wirkungsmächtigkeit zu. Die besagten Männer reisen (wie Hippokrates) ab oder suchen (wie Demokrit) die Einsamkeit des Labors. Auf diese Weise entziehen die Abderiten der Moralisierung der Charakterologie den Boden, ohne ihn vollständig zu verlassen. Denn sie spielen mit der bekannten charakterologischen Topik.

–––––––— Griechentum. Tübingen 1990 (Studien zur deutschen Literatur 108), S. 339; Ulrike Böhmel-Fichera: Der Blick in den Spiegel. Abdera als vertraute Fremde, in: Wieland-Studien 4, Heidelberg: Winter 2005, S. 86–97. 127 Das Bild befindet sich im Palais des Beaux-Arts in Lille. 128 Wieland: Abderiten (Anm. 105), S. 230. – Die Episode, die Wieland hier schildert, ist aus einem Brief des Hippokrates an Damagetos bekannt. Danach suchte Demokrit durch das Zerlegen der Tiere, der Melancholie auf die Spur zu kommen; über den Brief Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übers. v. Christa Buschendorf. Frankfurt/M. 1992 [engl. 1964], S. 19. 129 Wieland spart hier den Umstand aus, dass Demokrit durch Sektionen die Ursache seiner Melancholie zu ergründen hoffte; dazu Sahmland (Anm. 126), S. 118f. 130 Inwiefern diese Narrheit, die schlichte »Schiefheit der Seele« jedoch als »Massenwahn« gekennzeichnet werden kann, bleibt fraglich; vgl. den einschlägigen, aus sozialpsychologischen Ansätzen gespeisten Versuch von Erwin Rotermund: Massenwahn und ästhetische Therapeutik bei Christoph Martin Wieland. Zu einer Neuinterpretation der »Geschichte der Abderiten«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift NF 28 (1978), S. 417–451.

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Theophrasts Charakterdarstellungen sind stark schematisiert; sie bestimmen den jeweiligen Charakter, kennzeichnen ihn aber vor allem indirekt, nämlich durch jene typischen Handlungen und Aussagen, welche der Theophrast-Kommentator Wieland als lächerlich interpretiert. In den Abderiten bedient sich der frühe Wieland – zweitens – derselben Darstellungstechnik: Der Kontrast von Zweck und Mittel trifft auf viele abderitische Handlungen zu, beispielsweise auf ihre Begeisterung für die Kunst. Außerdem profitiert der Roman von der Amalgamierung der Charakterologie mit der Humoralpathologie und anderen wissenschaftlichen respektive pseudowissenschaftlichen Gebieten. Mit Hilfe charakterologischer Stereotypen, die sich auf Eigenschaften, »Triebfedern«, auf Blut, Säfte und die Grade der Laster beziehen, werden die Figuren des Roman auch direkt charakterisiert. »Abderitenheit« erweist sich als Summe dieser Merkmale, wobei bereits wenige Merkmale hinreichend sind, um eine Figur als ›abderitisch‹ zu erkennen. Die Darstellungstechniken Wielands sind folglich – drittens – teilweise gattungsabhängig. Sie entstammen der Charakterologie Theophrasts und den ›character writings‹ der Folgezeit, aber auch jenen Traktaten, wie ich sie am Beispiel von Rohrs und Leutmanns erörterte. Hinzu kommen, für die Abderiten, weitere Gattungen: der gutachterliche Rat des Hippokrates sowie der Dialog der Naturforscher Hippokrates und Demokrit. Darüber hinaus eröffnet der Roman der Charakterologie neuen Spielraum: Tatsächlich erweisen sich die Abderiten durch ihre vielfach verwobenen Handlungen als anschaulicher verglichen mit Theophrasts Traktat. Doch bleibt es nicht bei einem bloßen Bezug auf die Charakterologie und ihre Schreibweisen. Vielmehr charakterisiert Wieland mit den Abderiten auch die Charakterologie selbst; er betreibt – viertens – Meta-Charakterologie: Die Charakterologie versagt am Charakter der Abderiten; auf der Ebene der Figurenhandlung (also in den Figuren des Hippokrates und Demokrits) gibt sie ihren didaktischen und praktischen Anspruch auf. Hinzu kommen Reflexionen über die Reichweite charakterologischer Erklärungen. Der Erzähler beispielsweise bemerkt: »Es ist schwer, von den Absichten eines Menschen aus seinen Handlungen zu urtheilen[.]«131 Er zweifelt an der politischen Charakterologie vom Typus der thomasischen. Die Abderiten gewinnen Züge eines anti-charakterologischen Romans, sofern sie sich gegen das allzu schnelle charakterologische Urteil wenden. Es erstaunt in diesem Zusammenhang, dass eine Auseinandersetzung mit Lavater fehlt. Möglicherweise griff Wieland aber gerade auf die ältere Charakterologie zurück, um prinzipielle Vorbehalte gegen die Gesichtslesekunst zu äußern.132 Trotz oder besser: aufgrund dieses Versagens der Charakterologie auf den Ebenen der Handung und der Darstellung, hält das Nachwort, »Der Schlüssel zur Abderitengeschichte« an der didaktischen Funktion des Romans fest. Die Abderiten-

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Wieland: Abderiten (Anm. 105), II, S. 259. Wieland kritisiert Lavaters »Fragmente« beispielsweise für ihre Idealisierung der alten Griechen und ihrer Kunst; Irmtraut Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Tübingen 1990, S. 324f.

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Geschichte soll der Gegenwart nämlich als »getreuer Spiegel« dienen.133 Wielands Erzähler revitalisiert die charakterologie-typische Spiegel-Metapher. Seine therapeutische Absicht lautet: Der Leser möge sich selbst im Antlitz der Abderiten erkennen – und aus heilsamem Schreck jeden Eindruck vermeiden, aus »Abderitischem Blute« zu stammen.134 Zu diesem Zweck findet er im Roman zugleich positive Vorbilder vor: kosmopolitische Naturforscher wie Demokrit und Hippokrates.135

IV. Epilog Charakterologisches Wissen erweist sich als vergleichsweise ›weiches‹, aber traditionsreiches Wissen, das je spezifische Wissensansprüche und Schreibweisen ausbildet: Bei Theophrast ist der charakterologische Wissensanspruch umstritten; er richtet sich aber vor allem auf die Ethik und systematisiert alltägliche Wahrnehmungen. Ganz anders die frühneuzeitliche Charakterologie: Sie zielt auf den täglichen Gebrauch, kennt aber bereits ganz unterschiedliche Ausrichtungen der Charakterologie. Einmal versteht sie sich als ›ars‹, ein anderes Mal als ›harte Wissenschaft‹ mit prognostischer Qualität, Neigung zur Naturlehre und zu den esoterischen Wissenschaften. Amalgamierung des Wissens ist hier das entscheidende Stichwort. Aus diesen heterogenen Wissensansprüchen folgen die Schreibweisen nicht ohne weiteres. Vor allem die artistische Charakterologie à la von Rohr übt sich im wissenschaftlich abwägenden Schreiben, die prognostische Charakterologie à la Leutmanns hingegen bedient sich der ›trockenen‹ und schematischen Darstellungsformen und -formeln bedenkenlos, aber mit wissenschaftlichem Anspruch. Gleichermaßen wollen sie sich aber von der literarisierten Charakterologie unterscheiden. Das praktische Interesse legt – bis etwa 1780 – eine gewisse Darstellungs- und Wissensgrenze fest. Gerade diese Grenze ermöglicht es, von einer grenzüberschreitenden Variabilität des charakterologischen Schreibens zu sprechen. Seine Merkmale tauchen wie verschiedene lose Enden eines roten Fadens in unterschiedlichen Kontexten und Gattungen auf: Von 1500 bis 1650 eignen sich Humanisten wie Pirckheimer die antike Charakterologie durch Übersetzungen, Wort- und Stellenkommentare an; sie konzentrieren sich auf die Rezeption, Verarbeitung und Amalgamierung von Theophrasts satirischen und moralischen Skizzen mit der Humoralpathologie. Von etwa 1650 bis 1750 differenzieren sich die Charakterologien aus. Sie orientieren sich dabei an der Verwertbarkeit charakterologischen Wissens – unter ande-

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Wieland: Abderiten (Anm. 105), II, S. 454. Ebd. 135 Über dieses Doppelspiel von Kritik ex negativo und positiver Darstellung siehe die erzählanalytische Darlegung von Budde (Anm. 102), S. 308f. 134

Charakter und Figur

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rem für den politischen Zweck; sie popularisieren, didaktisieren, visualisieren und szientifizieren die Charakterologie – mit offenen Grenzen hin zu den sogenannten Pseudo-Wissenschaften. Zwischen 1750 und 1800 hingegen erreicht die Kommentierung des Theophrast ein neues Niveau; zugleich geht damit eine wiederholte Literarisierung der Skizzen einher,136 die sich einer mit der Temperamentenlehre vermischten Charakterologie bedient. Wenn die Charakterologie des 19. Jahrhunderts so entschlossen auf ihre Szientifizierung und Neubegründung sinnt, um sich als wissenschaftliches Gebiet unter anderen zu behaupten, dann erscheint dies beinahe schon als Antithese zur Charakterologie der Vorzeit. Diesen Prozess nachzuzeichnen wäre jedoch die Aufgabe eines eigenen Beitrags.

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Nast 1791 (Anm. 30), S. XXIX.

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Abb. 1: von Rohr: Unterricht von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen (1715), Titelkupfer

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Abb. 2: Leutmann: Nosce te ipsum (1723), Titelkupfer

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Tristram Shandy und die Anthropologia nova – Systematik in Literatur und Medizin

Eine der bemerkenswerten Nebenfiguren des Romans The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman (1759–67) ist Dr Slop.1 Er soll als medizinisch geschulter Geburtshelfer sicherstellen, dass der Protagonist des Romans unbeschadet das Licht der Welt erblickt. In der scheinbar endlosen Zeit, die bis zum Geburtstermin (am Ende des III. Buches) verstreicht, lernt der Leser die Figur Dr Slop kennen. Ein ganz wesentlicher Aspekt der Figur ist – laut Erzähler – ihre Unfähigkeit, Definitionen zu entwickeln: »Doctor Slop was the worst man alive at definitions« (TS 606).2 Die Erwartungshaltung des Erzählers, dass ein Mediziner im Wesentlichen Definitionen bereitzuhalten habe, scheint aus historischer Perspektive berechtigt: Die Medizin des frühen 18. Jahrhunderts steht unter dem Einfluss der Enzyklopädien und befindet sich in einem Prozess der Differenzierung, in dem systematische Zergliederungen des Körpers als Ordnungsmodelle dienen, um Organfunktionen, Gewebstypen sowie Krankheitsverläufe zu definieren.3 Weder Dr Slop noch der Erzähler erfüllen jedoch diesen Erwartungshorizont. Als Leser ist man somit geneigt, die Unfähigkeit, die Dr Slop im letzten Kapitel des letzen Buches vom Erzähler attestiert wird, auch dem Erzähler selbst zu bescheinigen: Tristram Shandy is the worst novel at definitions. Entgegen aller Erwartungen, die mit dem Titel geweckt werden, erfährt der Leser wenig Konkretes über das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Die fiktionale Autobiographie verweigert sich konsequent einer plot-line, stattdessen tritt der performative Akt des Erzählens in den Vordergrund auf Kosten des Erzählten. Nicht erst im letzten Buch wird dem Leser somit gewahr, dass hier nicht die Lebensgeschichte des Protagonisten im Mittelpunkt steht, sondern eine schein-

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Die Figur ist eine Karikatur des Arztes Dr. John Burton, einem bekannten Arzt in Yorkshire, der mehrere Werke zur Geburtshilfe verfasst hat. Sterne hatte Burton aufgrund seiner jakobinischen Überzeugungen des Hochverrats angezeigt. Für eine kurze Würdigung John Burtons aus medizingeschichtlicher Perspektive siehe: P.M. Dunn: Dr John Burton (1710–1771) of York and his obsteric treatise. In: Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 84 (2001), S. F74–F76. Der Rechtsstreit ist ansatzweise in den erhaltenen Briefen Sternes dokumentiert, vgl. Brief vom 7. Dezember 1745 und vom 10. Januar 1756 abgedruckt in Lewis Perry Curtis (Hrsg.): Letters of Laurence Sterne. Oxford 1965. Zitate aus Tristram Shandy werden mit der Sigle TS und der Seitenzahl nach Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy. London 1985 nachgewiesen. Zur Differenzierung, Spezialisierung und Institutionalisierung vgl. u.a. William F. Bynum, Roy Porter (Hrsg.): Companion Encyclopedia of the History of Medicine. Band 1. London 1993, insbesondere S. 81–125.

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bar zufällige Assoziationskette von trivialen Ereignissen.4 Vor dem Hintergrund der Systematisierungs- und Ordnungsansprüche, die die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts kennzeichnen, ist diese Verweigerung ungeheuerlich; denn hier wird die moralische Ökonomie der Aufklärung mit ihren Grundfesten des Rationalismus permanent parodiert.5 Diese Parodie ist zudem besonders offensichtlich, da die Erzählung um Einträge aus Bayles Dictionary (1734–1738) oder aus Chambers Cyclopaedia (1728, zahlreiche Auflagen bis 1786) organisiert ist und somit im Spannungsfeld der Enzyklopädien steht.6 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass dieser Roman trotz seiner parodistischen Ausrichtung keineswegs als Antithese einer enzyklopädischen, wissensordnenden Grundhaltung gelesen werden kann. Die Ansprüche der Systematik werden vielmehr mittels der Parodie kritisch reflektiert, ausdifferenziert, teilweise zurückgewiesen – und dabei notwendigerweise immer auch transportiert. Im Zentrum dieser Reflexion über Systematik steht das Schreiben, genauer: die Möglichkeiten, die das Medium Schrift bietet, Daten und Erkenntnisse zu ordnen. Dabei, und das wird mit der Figur Dr Slop bereits angedeutet, steht die Medizin, insbesondere die biologische und medizinische Anthropologie an zentraler Stelle.7

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Nicht zuletzt diese Willkür des Erzählens hat den Enzyklopädisten Samuel Johnson zu der vernichtenden Kritik veranlasst: »I censured some ludicrous fantastick dialogues between two coach horses and other such stuff, which Baretti had lately published. He joined with me, and said, ›Nothing odd will do long. ›Tristram Shandy‹ did not last.‹« James Boswell: The life of Samuel Johnson, LL.D. comprehending an account of his studies and numerous works. Band 2, London 31799, S. 462. Vgl. zur moralischen Ökonomie Lorraine Daston: Die moralische Ökonomie der Wissenschaft. In: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Hrsg. von Lorraine Daston. Frankfurt/M. 2001, S. 157–184; zu den sich überlagernden Grundhaltungen des Rationalismus im 18. Jh. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. F. Doherty hat nachgewiesen, dass Sterne die zweite Auflage der Übersetzung Bayles aus den Jahren 1734–38 verwendet hat: F. Doherty: Bayle and ›Tristram Shandy‹: »StageLoads of Chymical Nostrums and Peripatetic Lumber«. In: Neophilologus 50 (1974), S. 339–348. ›Tristram Shandy‹ zählt zu den medizingeschichtlichen Meilensteinen in der englischen Literatur. Die Position, die der Roman dabei einnimmt, ist jedoch umstritten. Roy Porter betont, dass ›Tristram Shandy‹ die medizinische Praxis und Theorie der Zeit akkurat widerspiegelt: »The medical details [in ›Tristram Shandy‹] are an accurate reflection of the learning and practice of the day.« Roy Porter: ›The whole secret of health‹: mind, body and medicine in ›Tristram Shandy‹. In: Nature Transfigured: Science and Literature, 1700–1900. Hrsg. von John Christie and Sally Shuttleworth. Manchester 1989, S. 61–84, hier S. 63. Judith Hawley argumentiert hingegen (post-positivistisch), dass Sterne medizinische Texte als fiktionale Texte missinterpretiert: »What is distinctive about Sterne’s practice is that he both plays with ideas and mimics medical vocabulary, and also doctors the books of physicians, reducing their prescriptions to abstractions. Sterne reads and misreads medical texts as works of fiction and constructs his own models of the history of medicine« und »[…] medical literature is the appropriate place to look for explanations

Tristram Shandy und die Anthropologia nova

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Um die Kreativität zu würdigen, mit der hier medizinische Dispute eingefangen werden, soll zunächst eine dieser Debatten – geburtsmedizinische Überlegungen zu einer für das Kind schonenden Geburt – sorgfältig nachgezeichnet werden.8 Auf der Basis dieser Rekonstruktion kann sodann veranschaulicht werden, welche Abgrenzungsbemühungen zwischen literarischen und medizinischen Schreibweisen im Roman artikuliert werden. Dieses Spannungsfeld, in dem sich die literarische und die medizinische Schriftkultur um 1750 bewegen, reflektiert der Roman anhand – erzähltechnischer Kriterien (Hierarchie der Erzählebenen, Ordnung) – stilistischer Kriterien (»sentimentalism«, »Shandeism«) und – ästhetischer Kriterien (Text-Bild-Ordnung).9 Bereits auf der Ebene der Makroerzählung reflektiert der Roman medizingeschichtliche Umwälzungen der Zeit. Entgegen der Versprechung des Titels beginnt der Roman nicht mit dem Leben10 des Protagonisten, er beginnt bereits mit der Zeugung und kreist dann in den ersten drei Büchern um Fragen der Geburtsmedizin, allen voran: Wie kann sichergestellt werden, dass der Protagonist unbeschadet das Licht der Welt erblickt? Diese Debatte wird konkretisiert mittels der

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for his [Tristram’s] state of mind.« Judith Hawley: The Anatomy of ›Tristram Shandy‹. In: Literature & Medicine during the Eighteenth Century. Hrsg. von Marie Mulvey Roberts und Roy Porter. London 1993, S. 84–100, hier S. 84. Überlegungen zu einer für die Mutter schonenden Geburt werden im Roman nur am Rande angestellt: Im Ehevertrag zwischen Elizabeth und Walter Shandy (I.xii) wird ausdrücklich vereinbart. dass Elizabeth ihre Kinder nur in London gebären wird und nicht in der Provinz, da in der Stadt die medizinische Versorgung der Frauen besser ist. Schließlich geht Walter allerdings über diese Klausel hinweg und Elizabeth muss sich dem Willen ihres Mannes fügen, der den auf dem Land praktizierenden Dr Slop für besonders geeignet hält. Allerdings besteht Elizabeth Shandy unter diesen Umständen darauf, dass die erfahrene Hebamme aus dem Ort bei der Geburt ebenfalls anwesend ist. Der Vergleich anhand dieser Kriterien soll nicht über funktionale und rezeptionsästhetische Unterschiede hinwegtäuschen. Während literarische Werke zunehmend ein privates Lesen forderten und förderten, waren medizinisch-anthropologische Schriften Teil einer zunehmenden Professionalisierung und Institutionalisierung der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Insofern ist es problematisch, die Texte losgelöst von ihrem Rezeptionskontext gegenüberzustellen. Insbesondere Untersuchungen, die den »Text als Körper« lesen oder beispielsweise eine Gegenüberstellung von »real bodies« und »Tristram’s anatomy« propagieren, laufen Gefahr, Parallelen auf Gemeinplätze zu gründen wie die These Judith Hawleys, The Anatomy (wie Anm. 7), S. 97: »Even as [Sterne] is reminding us that medical literature is just that, literature, and therefore does not contain real bodies, Sterne is busy writing one of the most physical and lively books ›as ever was engendered in the womb of speculation‹ (II.vii.118).« Auf die problematische Begrifflichkeit »life« im 18. Jahrhundert kann hier nicht explizit eingegangen werden. Vgl. dazu: James Rodgers: ›Life‹ in the novel: ›Tristram Shandy‹ and some aspects of eighteenth-century physiology. In: Eighteenth-Century Life 6,1 (1980), S. 1–20.

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Figuren Dr Slop und Walter Shandy, dem werdenden Vater.11 Letzterer ist besorgt, dass bei der Geburt seines Sohnes die Schädeldecke des Kindes zusammengedrückt und das Gehirn dabei beschädigt werden könnte. Um seine Hypothese zu stützen, führt der Vater zahlreiche Beispiele aus der eigenen Erfahrungswelt an, allen voran Tristrams älteren Bruder Bobby »coming into the world with his head foremost, – and turning out afterwards a lad of wonderful slow parts« (TS 167). Zudem gibt der Vater zu bedenken, dass viele herausragende Gestalten der Geschichte, zum Beispiel Scipio Africanus, Manlius Torquatus, Edward VI., Hermes Trismegistus und natürlich Julius Caesar, per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht wurden.12 In seiner Annahme bestärkt fühlt sich der Vater darüber hinaus durch die Lektüre geburtsmedizinischer und anatomischer Werke: My father who had dipped into all kinds of books, upon looking into Lithopaedus Senonesis de Partu difficili,1 published by Adrianus Smelvgot, had found out, That the lax and pliable state of a child’s head in parturition, the bones of the cranium having no sutures at that time, was such, – that by force of the woman’s efforts, which in strong labourpains, was equal, upon an average, to a weight of 470 pounds averdupoise acting perpendicularly upon it; – it so happened that, in 49 instances out of 50, the said head was compressed and moulded into the shape of an oblong conical piece of dough, such as a pastry-cook generally rolls up in order to make a pie of. – Good God! cried my father, what havoc and destruction must this make in the infinitely fine and tender texture of the cerebellum. [...] But how great was his apprehension, when he further understood that this force, acting upon the very vertex of the head, not only injured the brain itself or cerebrum, – but that it necessarily squeezed and propelled the cerebrum towards the cerebellum, which was the immediate seat of the understanding! 1

The author is here twice mistaken; – for Lithopaedus should be wrote thus, Lithopaedii Senonesis Icon. The second mistake is, that this Lithopaedus is not an author, but a drawing of a petrified child. The account of this, published by Albosius, 1580, may be seen at the end of Cordaeus’s work in Spachius. Mr Tristram Shandy has been led into this error, either from seeing Lithopaedus’s name of late in a catalogue of learned writers in Dr ---,

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Der Roman spiegelt auch die Verschiebung der Geburtshilfekompetenz von Frauen (Laien) zu Männern (institutionell ausgebildeten Medizinern) wider. Vgl. Josephine M. Lloyd: The »Languid Child« and the Eighteenth-Century Man-Midwife. In: Bull. Hist. Med. 75 (2001), S. 641–679; und Donna Landry und Gerald MacLean: Of Forceps, Patents, and Paternity: ›Tristram Shandy‹. In: Eighteenth-Century Studies 23, 4 (1990), S. 522–543. Eingebettet ist diese Verschiebung in die Rivalität zwischen Medizinern unterschiedlicher institutioneller Kontexte, die bereits im 17. Jahrhundert zu beobachten ist und die Differenzierungsbewegungen in der Medizin des 18. Jahrhunderts vorzeichnet. Vgl. Margaret Pelling: Medical Conflicts in Early Modern London. Patronage, Physicians, and Irregular Practitioners, 1550–1640. Oxford 2003. Zur Argumentationsstruktur vgl. auch Jens Martin Gurr. Tristram Shandy and the Dialectic of Enlightment. Heidelberg 1999. S. 66–72.

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or by mistaking Lithopaedus for Trinecavellius, –from the too great similitude of the names.13

In dem fiktiven medizinischen Werk des ebenfalls fiktiven Herausgebers Adrianus Smelvgot findet Walter Shandy die Hinweise, die ihn in seiner Theorie bestärken.14 Das Großhirn des Kindes, so entnimmt Walter Shandy den Anatomiewerken, wird während der Geburt gegen das Kleinhirn gepresst, das somit Gefahr läuft, Schaden zu nehmen. Typisch für den Roman ist dabei die Behauptung, das Kleinhirn müsse als »seat of understanding« gelten; denn »in, or near, the cerebellum, – or rather somewhere about the medulla oblongata, wherein it was generally agreed by Dutch anatomists, that all the minute nerves from all the seven senses concentered, like streets and winding alleys, into a square.« (TS 163). Die anatomische Beschreibung ist zutreffend und findet sich in Standardwerken niederländischer Anatomen wie dem Lexicon Blancardianum, dem einflussreichen Werk Steven Blankaarts, das 1697 als Lexicon medicum Graeco Latinum erschienen war und im 18. Jahrhundert erweitert und in zahlreichen Übersetzungen vorlag. Das Argument jedoch, im Kleinhirn sei der Sitz des Verstandes zu lokalisieren, beruht auf der Interpretation der Figur Walter Shandy. Um das dorsale Kleinhirn zu schützen, schlägt der Vater deshalb vor, das Kind im Mutterleib zu drehen, und versucht, seine Frau von dieser Idee zu überzeugen. But when my father read on, and was let into the secret, that when a child was turned topsy-turvy, which was easy for an operator to do, and was extracted by its feet; ― that instead of the cerebrum being propelled towards the cerebellum, the cerebellum, on the contrary, was propelled simply towards the cerebrum where it could do no manner of hurt. (TS 165)

Walter Shandy betont, dass Dr Slop für die »Operation«, die Drehung des Kindes, besonders geeignet erscheint, da dieser eine Geburtszange erfunden, mit der das Kind schonend im Mutterleib gedreht werden kann:

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TS 164. Die Fußnote bezieht sich auf den 250 Seiten umfassenden im Druck erschienenen Brief John Burtons an William Smellie, in dem genau der gleiche Vorwurf erhoben wird, dass Smellie die Bezeichnung für die Abbildung des versteinerten Kindes zum Namen eines Autors gemacht habe. »[…] and if any Thing can be added to shock human Faith, or prejudice your Character as an Historian or translator, it is your having converted Lithopædii Senonensis Icon, (which you call Lithopædus Senonensis) an inanimate, petrefied Substance, into an Author, after you had been six Years cooking up your Book.« John Burton: A letter to William Smellie, M.D. containing critical and practical remarks upon his treatise on the Theory and practice of midwifery. London 1753, S. 1; siehe auch Hawley: The Anatomy (wie Anm. 7), S. 93. William Smellie beschreibt in seinem drei Bände umfassenden ›A treatise on the theory and practice of midwifery‹ (London 1752–1764) zwar einige Fälle, in denen Kinder ohne Großhirn und Kleinhirn geboren wurden, und zahlreiche Fälle, in denen er mit Instrumenten den Schädel inklusive Groß- und Kleinhirn eines bereits toten Kindes zerstören musste, um eine das Leben der Frau rettende Notgeburt auszuführen, von Schädigungen des Gehirns bei einer ›natürlichen‹ Geburt spricht er jedoch nicht.

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Of all men in the world, Dr Slop was the fittest for my father’s purpose; for though his new-invented forceps was the armour he had proved, and what he maintained, to be the safest instrument of deliverance, yet, it seems, he had scattered a word or two in his book, in favour of the very thing which ran in my father’s fancy; ― though not with a view to the soul’s good in extracting it by the feet, as was my father’s system, ― but for reasons merely obstetrical. (TS 167)

Wenngleich der Ausgangspunkt der Argumentation, die Theorie, dass insbesondere das Kleinhirn des Kindes zu schützen sei, eine literarische Schöpfung ist, spiegelt der Roman mit dieser Debatte in der Tat penibel die Überlegungen zur Geburtsmedizin der Zeit wider. Sie beruhen zum großen Teil auf den Werken des Mediziners John Burton, der als Vorlage für die Romanfigur Dr Slop diente. In seinem Essay towards a complete new system of midwifery (1751) hatte dieser eine selbst entwickelte Geburtszange vorgestellt und detaillierte Anleitungen gegeben, wie Kinder mit den Füßen zuerst zur Welt gebracht werden können: From what has been said, it is evident my Forceps are better than any yet contrived: First, Because the Instrument may be introduced at once, whereby the Operation will be sooner performed. Secondly, As the Wings from a to c, Fig. I. and 5: are within the Pelvis, they can be expanded more or less without putting the Mother to any Pain. Thirdly, The Hand or Fingers, that are within the Vagina, will not only move less than when employed in fixing the other Sort of Forceps, but also will do it in less Time; both which must occasion less Uneasiness to the Woman. Fourthly, As the Joints of these Forceps are within the Pelvis, the Wings will be applied so as to fit any Child’s Head; wherefore the Parts of the Woman will be less extended, than with the old Sort of Forceps. And, Fifthly, This Instrument is less prejudicial to the Child’s Head, because the Wings can be so fixed, at any determinate Degree of Expansion, as not to compress the Head more than necessary; whereas, with the other Forceps, the more you pull, the more you squeeze the Child’s Head.15

Auch Hendrik van Deventers The art of midwifery improv’d (1746) enthält Vorstellungen, die Walter Shandys Überzeugung nahe kommen.16 Es finden sich hier zwar keine Hinweise, dass die Geburt mit den Füßen zuerst für das Kind von Vorteil sei, auf dem Titelblatt wird jedoch die Drehung des Kindes im Mutterleib (ohne den Gebrauch von Instrumenten) als »New Method« gepriesen. Zudem wird in 26 Abbildungen dargestellt, welche Position das Kind im Mutterleib einnehmen kann. Diese Bildreihen vermitteln den Eindruck, es sei eine Leichtigkeit, das Kind zu drehen:

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John Burton: An essay towards a complete new system of midwifery. London 1751, S. 389f. Zur natürlichen Position des Kindes im Mutterleib siehe § 40 des Essays, S. 99ff. In seinem 250 Seiten umfassenden »Brief« an William Smellie widmet Burton zudem einen ganzen Abschnitt der angeblich von Smellie propagierten Drehung des Kindes. Die Drehung wird von Smellie in seinem Werk allerdings nicht grundsätzlich als sinnvoll gepriesen, sie wird nur in problematischen Fällen beschrieben, in denen das Kind bereits im Mutterleib verstorben ist. Hendrik van Deventers ›The art of midwifery improv’d‹ erschien in der englischen Übersetzung bereits im Jahr 1716, Verweise und Zitate beziehen sich hier auf die 4. Auflage von 1746.

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Abb. 1: Hendrik van Deventer: The art of midwifery improv’d (1716), Titelblatt und Abbildung 19 bis 28 [Postures of Infants].Wellcome Library, London 20333/B.

Die Figur Walter Shandy zieht eine mögliche logische Konsequenz aus den Fakten, die die medizinische Literatur der Zeit bereithält: Seine These greift John Burtons Erklärung auf, dass die Schädelknochen des Kindes bei der Geburt weich und die Knochenplatten verschiebbar sind, damit das Kind besser durch den Geburtskanal passt: The lax and pliable Texture of the Parts of the Child, at Birth, greatly contribute to an easy Delivery; for the Bones of the Cranium have little or no Sutures, but are very thin and soft at the Edges, Tab. I. Fig. 3. that they may slip over each other, to contract the Size of the Head, in its Passage through the Pelvis, to which the opening of the Fontanel greatly contributes.17

Burton weist zudem darauf hin, dass die Fontanelle des Kindes bei der Geburt vor unnötigen Quetschungen bewahrt werden muss: [T]he whole spine is curved, and its Head looks down, § 39. so that the Fontanel is just opposite the Fore-part of the Mother’s Belly; and therefore, as the first and greatest Efforts for the Expulsion of the Child are in the Bottom of the Womb, which presses directly on the Back of the Head, as is evident from the Posture of the Fœtus in Utero, § 39 […].18

Auch John Burton bedient sich – wie van Deventer – visueller Darstellungen. Er fügt seinem Werk achtzehn Kupferstiche bei, die unter anderem die Beckenknochen der Mutter zusammen mit den Schädelknochen des Kindes und dessen mögliche Positionen zeigen, darunter u.a. die Steißlage und die »natürliche Position« des Kindes (vgl. Abb. 2 und 3).

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John Burton: An essay (wie Anm. 14), S. 118. Ebd., S. 100.

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Abb. 2 und 3: John Burton: An essay towards a complete new system of midwifery (1751), Tab. 1 und 11. Wellcome Library, London. 16295/B. Abb. 4: James Drake: Anthropologia nova (1717), Tab XV [Basis of the Brain] C = Cerebellum; A und B = Lobes of the Brain (Cerebrum) Wellcome Library, London. 20882/B.

Das Bildprogramm der medizinischen Anthropologie muss also unbedingt in Überlegungen zur Intertextualität von medizinischen und literarischen Schreibweisen herangezogen werden. Die Suggestivkraft einer Abbildung aus Burtons geburtsmedizinischem Werk, die zeigt, wie die Hand eines Arztes oder Geburtshelfers das Kind in der Gebärmutter an den Füßen packt, kann sicherlich kaum überschätzt werden (siehe Abb. 3, Tabelle 11). Auch wenn die Quelle Smelvgot mit der Fußnote des fiktiven Herausgebers im Roman diskreditiert wurde – und die zeitgenössische Geburtsmedizin weder detaillierte Überlegungen zur Anatomie des Gehirns anstellt noch die Drehung des Kindes zum Schutz des Gehirns diskutiert19 – ist die von Walter Shandy entwickelte Theorie keineswegs reine Spekulation. Sie ist eine kreative Verschränkung von Möglichkeiten der Geburtsmedizin mit den anatomischen Studien zum Gehirn. Eine mögliche Inspirationsquelle für Sterne mag das anatomische Lehrbuch Anthropologia nova (1707, 1717, 1727) des Londoner Arztes James Drake gewesen sein, in dem ausführlich die relative Lage von Kleinhirn (Cerebellum), Großhirn (Cerebrum) und Stammhirn (Medulla oblongata) beschrieben wird (vgl. Abb. 4).20

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Weder Smellie, Deventer, Burton noch andere Autoren geburtsmedizinischer Werke diskutieren den Aufbau des Gehirns. Detaillierte Beschreibungen und Darstellungen des Gehirns sind in der makroskopischen Anatomie aufgrund der schwer zu präparierenden Gewebestruktur des Organs erst spät

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Was zunächst wie eine versponnene Idee des Vaters erscheint, ist also die von einer Erzählinstanz mit kritischer Reflexion begleitete Umsetzung des Programms der anatomischen Medizin. Der Roman zeichnet exakt das argumentative Schema der experimentellen Naturphilosophie nach, so wie es John Burton im Vorwort seines Essays darlegt: Reason and Experience [are] the surest Foundation in the Practice of all branches of Physic. For, as Nature discloses herself in an obscure Manner, we must strictly observe her Operations, by which we shall see the Facts; and then a thorough Knowledge of Philosophy and Anatomy will enable us, by such Guides, to penetrate into her secret Principles […] A Knowledge, therefore, derived from Physical Experiments, Nature and the Operations of Medicines, founded upon the causes of Diseases, the Observations of their Symptoms, and the Laws of the Animal Oeconomy, is what constitutes the true Theory; which is no more than practice reduced to rules.21

Walter Shandy folgt eben dieser Anweisung einer induktiven Methode, »practice reduced to rules«, wenn er Naturbeobachtung und Erfahrung aus Operationen und Experimenten zusammenbringt, um daraus allgemeine Regeln, »secret Principles«, abzuleiten. Dabei greift Walter Shandy ein fundamentales Problem der Geburtsmedizin auf: Wenn die Natur so viele verschiedene Positionen des Kindes im Mutterleib zulässt, wie kann dann mit Sicherheit eine »natürliche Position« behauptet werden? Und wenn die Anatomie gezeigt hat, wie verletzlich das Gehirn ist, warum sollte sich dann der Mensch nicht zum Anwalt des Gehirns gegen die vermeintliche Natur machen? Walter Shandys Argumentation ist ganz eindeutig ein Produkt der Aufklärung und markiert die »anthropologische Wende«:22 Er denkt die Geburt vom Kind her, berechnet, ganz Experimentalphilosoph, den Druck, dem der Kopf des Kindes ausgesetzt ist als »weight of 470 pounds averdupoise acting perpendicularly«23 und kommt zu dem Ergebnis, dass die Natur hier irren muss. Es ist deutlich geworden, dass es sich hier nicht um den einfachen Transfer einer medizinischen Debatte handelt. Der Roman geht mittels der Figur Walter Shandy über die Debatte in der Geburtsmedizin hinaus. Er verknüpft diese mit Forschungen zum Aufbau des Gehirns, radikalisiert in der logischen Zusammen-

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entwickelt worden. Eine Ausnahme ist sicherlich Thomas Willis ›Cerebri anatomi‹ (1664), auf den sich Drake z.B. bei der Bezeichnung der Corpora Pyramidalia bezieht. Erfolgreiche Präparationen des Organs, die eine detaillierte Darstellung der Strukturen zuließen, wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als besondere Leistungen gepriesen. Hinzu kommen die mikroskopischen Gewebeuntersuchungen basierend auf Malpighi und Leeuwenhoek, die insbesondere zu Beginn des 18. Jahrhunderts in makroskopische Betrachtung mit einfließen, z.B. auch in James Drake: Anthropologia nova. London 1717, S. ix und 274. Burton: An essay (Anm. 14), S. xiii und xiv. Der Begriff ›anthropologische Wende‹ ist hier mit Bedacht gewählt. Die Literatur ist bei genauerer Betrachtung eine Dokumentation zahlreicher ›anthropologischer Wenden‹, die in der jeweiligen Fokussierung bestimmte Aspekte der conditio humana dominant setzen und sich von den vorausgegangenen Entwürfen absetzen. Bei »averdupoise« handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Wortschöpfung Sternes, ein Kompositum aus »aver« = feudal und »poise« = Gewicht.

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führung beider Erkenntnisstränge die »anthropologische Wende« und postuliert eine eigene Hypothese. Die Figur Walter Shandy begegnet uns somit als Kind der Aufklärung, als anthropologisches Muster einer Zeit, in der sich der Mensch einem erkenntnistheoretischen Programm unterwirft. Die Radikalisierung der induktiven Methode, die sich auf Erkenntnisse einer experimentellen Methode stützt und dabei die Grenze zwischen Mensch als Naturwesen und Kulturwesen auslotet, markiert eine Neugewichtung in der Selbstwahrnehmung des Menschen. Diese Neupositionierung vor dem Hintergrund einer popularisierten Experimentalphysik und Anatomie ist zugleich ein Ertrag der schottischen Aufklärung, die den Menschen, insbesondere seine (Selbst-)Wahrnehmung, problematisiert hatte: Walter Shandy erfüllt als dilettantischer Naturphilosoph die Rolle des Beobachters seines Sohnes, über den er ein entwicklungsphysiologisch- und psychologisches Traktat, die »Trista-paedia«, verfasst. Zugleich werden diese Studien vom Erzähler Tristram, dem Objekt dieser Studien, kritisch kommentiert. Hier spiegelt sich also ein empirischer Sensualismus, der den Menschen als Objekt und Subjekt der Wahrnehmung explizit thematisiert.24 Diese Spiegelung ist in dieser Deutlichkeit nur möglich, weil es sich hier um erzählende Literatur handelt: Der Figur Walter Shandy sind Erzählinstanzen übergeordnet, die es erlauben, die Methoden und Absichten der Figur zu reflektieren. Abgesehen von den bewertenden Kommentaren des Erzählers und der fiktiven Herausgeber (die sich in den Fußnoten manifestieren) wird die von Walter Shandy entwickelte These bereits begrifflich gerahmt: Sie wird als »Shandean hypothesis« gekennzeichnet (also zu einer Privatmeinung abgestempelt), deren epistemologischer Status relativiert wird:25 So far there was nothing singular in my father’s opinion, – he had the best of philosophers, of all ages and climates, to go along with him. – But here he took a road of his own, setting up another Shandean hypothesis upon these cornerstones they had laid for him […] He maintained that the third cause, or rather what logicians call the Causa sine quâ non, […] was the preservation of this delicate and fine-spun web, which was generally made in it by the violent compression and crush which the head was made to undergo, by the nonsensical method of bringing us into the world by that part foremost. (TS 163)

Der Erzähler markiert also eindeutig, wo die Grenze verläuft zwischen gesichertem Wissen »of all ages and climates« und der »Shandean hypothesis«. Diese Grenze

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»This was the era of the ordering of science, when the romance of a rational mind emerged, and the concept of quantification was suddenly to blossom.« Brian J. Ford: Eighteenth-century Scientific Publishing, Thornton and Tully’s Scientific Books, Libraries, and Collectors. A Study of Bibliography and the Book Trade in Relation to the History of Science. Hrsg. von Andrew Hunter, Aldershot 42000, S. 216–257, hier S. 217. Der Hypothesis-Begriff ist seit dem Vorwort Osianders »Ad lectorem de hypothesibus huius operis« zu Kopernikus’ ›De Revolutionibus‹ ein problematischer Begriff in der Wissenschaftsphilosophie. Vgl. Walter G. Saltzer: Osianders Vorwort zu Kopernikus’ De Revolutionibus und der Hypothesis-Begriff. In: Mitteilungen des Zentrums zur Erforschung der Frühen Neuzeit, Heft 3 (1995), S. 60–81.

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zwischen gesichertem Wissen und Hypothesen müssen auch die anatomischen Werke markieren – sie können dabei allerdings nur bedingt auf eine Hierarchie der Erzählebenen zurückgreifen. Interessanterweise tritt der Autor in diesen Werken als Vermittlungsinstanz immer nur dann in den Vordergrund, wenn Meinungen in der Form der problemata kenntlich gemacht und gegeneinander abgewogen werden müssen. Ein Beispiel muss hier ausreichen, um aufzuzeigen, wie derartige Grenzen markiert werden. In Drakes Anthropologia nova werden zwei Theorien zur Farbe des arteriellen Blutes vorgestellt, eine alchemo-paracelsische und eine physikalisch-chemische: The Chymists, perhaps, will readily tell us, that Blood is a Liquor more sulphureos than Milk; and that in this Blood, which resembled Milk so much, the Sulphur was not sufficiently exalted to give the red Tincture which they derive from that Principle. On the other Hand, they who fetch the Colour from the impregnation of the Lungs, may fancy a Defect or Obstruction of the passage of the Air into the Blood in that part, by which means it was defrauded of that Colour or Spirituosity which otherwise it should have had. Either of these Opinions may be true, but they are unprov’d, and therefore neither to be insisted on.26

Der Autor bezieht keine Position (»Either of these Opinions may be true«), er ist bemüht, den dialogischen Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis wiederzugeben und stellt beide Theorien gleichberechtigt nebeneinander, da das beobachtete Phänomen beide Annahmen stützen kann.27 Diese Neutralität der obersten Vermittlungsinstanz kann der englische Roman des 18. Jahrhunderts für sich nicht reklamieren; denn der Erzähler kann die Deutungshoheit über die von ihm erzählte (fiktive) Welt mit ihren Ereignissen nicht zurückweisen. Wo das anatomische Lehrbuch gleichberechtigt Theorien nebeneinander stellen kann, muss der Roman des 18. Jahrhunderts mit seiner Hierarchie der Erzählinstanzen Bewertungen abgeben.28 Paradox erscheint nun mit Blick auf die Abgrenzungsbemühungen, dass sich das Lehrbuch der vermeintlich literarischen Konvention bedient, wenn Phänomene beschrieben werden, die dem Autor irrelevant erscheinen. So isoliert das von Wagstaffe verfasste Vorwort in der zweiten Auflage von Drakes Anthropologia nova den Abschnitt über die Verdauung mit dem Hinweis:

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Drake: Anthropologia Nova (Anm. 19), S. S. 245f. Erst mit der zunehmenden experimentellen Anatomie war es möglich, zwischen ›falschen‹ und ›wahren‹ Theorien zu unterscheiden. Entweder, weil der Erzähler der »Romance« ästhetische Deutungshoheit besitzt, oder, weil er im Fall der »history« Tatsachen benennt, die bedeutsam sind. Gewissermaßen aus gattungstheoretischen/narratologischen Zwängen stellt der Roman ›Tristram Shandy‹ somit das Programm der systematisch ausgerichteten Wissenschaften nicht nur dar, er bewertet es durch die Auswahl, die Verteilung der Theorien auf Figuren und durch die Kommentare des Erzählers und der fiktiven Herausgeber.

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And here the Reader will be informed of many things concerning the manner of Digestion, as well as the various Organs of it, which if they will not serve for his Use, will contribute at least to his Entertainment.29

Sicherlich ist zu überlegen, ob diese Zuschreibungen mit ihren wertenden Konnotationen auch Rückwirkungen auf die englische Literatur des 18. Jahrhunderts gehabt haben.30 So weist Tristram Shandy wie viele Romane der Zeit Unterhaltsamkeit weit von sich und betont, dass die Darstellung der Welt der Erbauung und der Erkenntnis dient. Mehr prodesse und weniger delectare – das scheint der Wahlspruch des englischen Romans der Aufklärung zu sein. Vor diesem Hintergrund müssen ebenfalls die Ordnungsansprüche im Roman und in Lehrbüchern betrachtet werden. Wechselt man von der Teilerzählung der Geburt des Protagonisten auf die Ebene der Makroerzählung – und wendet man dabei den Blick auf das herausragende Stilmittel des Romans, den Shandeism oder sentimentalism – dann tritt uns hier eine radikale Form der Problematisierung von Ordnungsansprüchen entgegen.31 In der Regel hat die Literaturwissenschaft sentimentalism als eine Gegenbewegung zum Rationalismus begriffen, die insbesondere die menschlichen Empfindungen in den Vordergrund stellt.32 Sentimentalism, so wie er in Tristram Shandy entfaltet ist, kann jedoch auch als konsequente Durchführung des empirischen Sensualismus begriffen werden. Jedes Detail ist aussagekräftig – und in der hermetischen Denkweise, in der sich die Natur in der Form des Buches offenbart, ist das Obskure der Schlüssel zu den dahinter verborgenen »secret Principles« oder Regeln. Auch die anatomischen Lehrbücher um 1750 stehen im Spannungsfeld von empirischen Daten und den dahinter liegenden Regeln. Es sei hier noch einmal an die

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Drake: Anthropologia Nova (Anm. 19), S. vi. Ian Watt sieht die Hinwendung zum Realismus und die Abwendung von der Unterhaltungsfunktion als sozioökonomische Ausrichtung des Romans – im Spannungsfeld zwischen ›romance‹ und ›history‹ – vor dem Hintergrund des aufsteigenden Bürgertums. Vgl. Ian Watt: The Rise of the Novel. Berkeley (1957) 2001, insbesondere Kap. X »Realism and the later tradition: a note«, S. 290–301. David Hume hatte in seinem ›Treatise of Human Nature‹ (1739) dieses Programm skizziert und zugleich auf den Einfluss hingewiesen, den diese Philosophen hatten, diese »philosophers in England, who have begun to put the science of man on a new footing, and have engaged the attention, and excited the curiosity of the public.« David Hume: A Treatise of Human Nature. Hrsg. von L.A. Selby-Bigge. Oxford (1888) 1967, S. xxi. In der Forschung ist allerdings mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Hume nicht als Vaterfigur des modernen Empirismus gelten kann. Vgl. u.a. Karl-Heinz Schwabe: Philosophie, ›science of man‹ und ›moral sciences‹ in der Schottischen Aufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Jörn Garber und Heinz Thoma. Tübingen 2004, S. 101–143, hier S. 109f. OED s. v. sentimentalism, 1: »The sentimental habit of mind; the disposition to attribute undue importance to sentimental considerations, or to be governed by sentiment in opposition to reason; the tendency to excessive indulgence in or insincere display of sentiment.« [meine Hervorhebung] Oxford English Dictionary. Hrsg. von John Andrew Simpson. Oxford 1989.

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prototypische Wendung in Burtons Vorwort erinnert: »For, as Nature discloses herself in an obscure Manner, we must strictly observe her Operations, by which we shall see the Facts; and then a thorough Knowledge of Philosophy and Anatomy will enable us, by such Guides, to penetrate into her secret Principles.«33 Während in den Paratexten, vor allem in den programmatischen Einleitungen, die »secret Principles« beschworen werden, reflektieren Aufbau und Stil der Lehrbücher das Bemühen, die empirischen Daten nüchtern und geordnet darzustellen, ohne dabei in spekulative Bereiche vorzudringen. Das Medium Text stößt bei der Wiedergabe der Fakten allerdings an seine Grenze – und es ist ein besonderes Merkmal des 18. Jahrhunderts, dass diese Erfahrung von der Erzählliteratur und der anatomischen Medizin geteilt wird. Die medizinische Literatur greift in dieser Krise auf bereits etablierte gattungstypische Konventionen zurück und legt sich ein formales Korsett an: Der Aufbau zeugt von der Beherrschbarkeit des Gegenüber (Inhaltsverzeichnis; programmatisches Vorwort mit Schwerpunkt auf der Systematik des Buches; systematischer (thematischer) Aufbau des Textes; Marginalien; Index). Doch das formale Korsett, dem sich die Lehrbücher unterwerfen, kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der Gegenstand in weiten Teilen organisatorisch unbeherrschbar bleibt. Ein Blick auf Drakes Anthropologia nova zeigt, wie Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Das Werk ist in vier Bücher unterteilt. Das 1. Buch ist nicht überschrieben und enthält die Haut, die Muskeln des Abdomen, Luft- und Speiseröhre, sowie alle Organe der Leibeshöhle (ausschließlich der Organe des Thorax) und Hinweise zur Geburtsmedizin. Das 2. Buch »Of the Parts of the Thorax, or Middle Venter« beschreibt gesondert die Organe des Thorax, das 3. Buch »Of the Head« enthält die Organe des Kopfes und das 4. Buch, wiederum nicht überschrieben, schließlich den Muskel- und Skelettapparat.34 Falls dieser Unterteilung, die nicht der kanonischen Einteilung nach der Lage im Raum (also caput – pedes) folgt, ein Ordnungsprinzip unterliegen sollte, wird dieses von Drake nicht explizit gemacht. Grundsätzlich lehnt er eine Trennung in »Speculative« und »Practical [Anatomy]« ab und verweist somit implizit auf den Vorrang des empirischen Sensualismus vor der Theorie.35 Der ausführliche, alphabetisch geordnete Index sowie die Nennung der insgesamt 56 Kapitel im Inhaltsverzeichnis relativieren dementsprechend die Einteilung in vier Bücher. Zudem spricht sich Drake gleich zu Beginn des 1. Kapitels gegen systematische Einteilungen jeglicher Art aus und legt einen konsultativen Gebrauch des Werkes nahe.

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Vgl. oben, Anm. 20. Abgesehen von der Nennung der ›Anthropolgia nova‹ im Roman lassen zwei Aspekte des Werkaufbaus den Schluss zu, dass Sterne mit dem Werk vertraut war: die längere Abhandlung zur Geburtsmedizin und die detaillierte Beschreibung »Of the Nose« im 3. Buch, die von William Cowper verfasst ist und die vermutlich als Vorlage für die ausschweifenden Ausführungen zur Nase Tristrams gedient haben. Drake, Anthropologia Nova (wie Anm. 19), S. 1f.

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Anatomists have usually divided the Body into Parts Organical and Inorganical, Similar, and Dissimilar, Spermatick, &c. but to what use, or with how much Instruction, is not very apparent to me, who am apt to think such Distinctions only burthensome to the Memory, and not very edifying. However, there is a Division, which is not to be neglected, which is into such Parts, as will have frequent occasion to be mentioned in the following Discourses, that are capable of a General Definition, which would not be proper so often as the mention of them will particularly recur. It will however be absolutely necessary for the benefit of Learners (for whose sake such Treatises as this are written) that a General Idea be given of them, before they come to read of them separately.36

Die Leseanweisung an den impliziten Leser gibt also eindeutig vor, dass das erste Kapitel »Of the general Constituent Parts of the Body« gelesen werden muss, bevor der Leser weiter fortschreitet. In diesem Kapitel werden definitorisch die funktionellen Gewebstypen und Organe des Menschen erklärt, die von Drake zu eben diesen »general Constituent Parts of the Body« zählen – beginnend mit den Knochen über das Blut bis zum Ohrenschmalz (Cerumen aurium).37 Dann jedoch wird empfohlen, die Abschnitte je nach Interesse zu lesen (»read of them separately«). Typisch für die empfohlene Lektüre sind Querverweise im Text, die den Leser anleiten, zwischen Textpassagen zu springen und die Informationen aus verschiedenen Bereichen zusammenzutragen. Die angeratene Lektüre, die von der Diskrepanz zwischen Ordnungsansprüchen der anatomischen Werke und deren tatsächlicher Organisation als Text zeugt, wird im Roman Tristram Shandy ironisch reflektiert. Um die Heilungschancen des verwundeten Sir Toby ermessen zu können, hat die Witwe Wadman zu anatomisch-medizinischen Werken gegriffen: She had accordingly read Drake’s anatomy from one end to the other. She had peeped into Wharton upon the brain, and borrowed1 Graaf upon the bones and muscles; but could make nothing of it. 1

This must be a mistake in Mr Shandy; for Graaf wrote upon the pancreatic juice, and the parts of generation. (TS 605)

»She had accordingly read Drake’s anatomy from one end to the other.« Was heißt es, ein Anatomiebuch von Anfang bis Ende zu lesen? Von welchem Erkenntnisinteresse könnte eine derartige Lektüre geleitet sein? Und warum wurde Drake von Anfang bis Ende gelesen, während in Whartons Abhandlung nur hineingeschaut (»peeped into«) wurde? Wie gezeigt wurde, ist Drakes Anatomiebuch konsultativ konzipiert. Und mit dieser rezeptionsästhetischen Ausrichtung grenzt sich das anatomische Buch von der Literatur des 18. Jahrhunderts ab, die eine Bewegung von einer Episoden-

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Ebd. Das Kapitel schließt mit der Feststellung »There are divers other Excrementitious Humours, such as the Urine, the Sweat, &c. which need no Description, and shall be spoken of with the Parts to which they belong« (ebd., S. 11). Auch die Einteilung in die »general Constituent Parts« erscheint somit problematisch.

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haftigkeit weg hin zu einer linearen Erzählung vollzieht.38 Tristram Shandy ist auch vor dem Hintergrund dieser Ausdifferenzierung bemerkenswert; denn der Roman bildet die konsultative Lektüre mimetisch ab und bedient sich einer Methode, die den Querverweisen in den anatomischen Schriften ähnelt: Der Leser wird mit metafiktionalen Anreden aufgefordert, Passagen noch einmal zu lesen oder zu überspringen, Prolepsen und Analepsen betten thematische Abschnitte in Kapitel mehr oder weniger glücklich ein und verschiedene Erzählstränge werden parallel geführt. Allerdings zelebriert der Roman auch das Scheitern: Die konsultative Lektüre wird hier verfremdet zu einer saltatorischen: die Assoziationsketten überfordern den Leser, angekündigte Themen bleiben unausgeführt und Erzählstränge »versanden«. Zudem verliert sich der Roman in den (gedanklichen) inneren Räumen der Menschen mit ihren assoziativen Gedankensprüngen. Die assoziative Kette von Gedanken, der Locke’sche »train of ideas« wird im Roman mittels zweier Strategien kommentiert. Zum einen setzt der Erzähler Pausen, indem er eine Assoziationskette mit Hilfe eines metafiktionalen Kommentars abbricht – zum Beispiel mit Worten wie »Now let us go back to my brother’s death« (TS 348). Zum anderen macht der Roman deutlich, dass die Gedankengebäude bisweilen über rein sprachliche Mittel hinausgehen. So sind dem Tod des Pfarrers Yorick zwei schwarze Seiten gewidmet, steht die Abbildung einer Marmorplatte für die Komplexität der Erzählung, wird der gewundene Erzählstrang der ersten fünf Bücher grafisch wiedergegeben und der Leser aufgefordert, Feder und Tinte zur Hand zu nehmen, um auf der folgenden leeren Seite ein Portrait der Figur Mrs. Wadman zu zeichnen. Die Grenze des Mediums Schrift wird hier offensichtlich dokumentiert, aber auch das Bild als Möglichkeit, die Realität wiederzugeben, wird hier kritisch hinterfragt. Ist das vom Leser gezeichnete Portrait von Mrs. Wadman ein Ausweg aus der Sprachlosigkeit des Erzählers? Und ist der gewundene Strich tatsächlich eine sinnvolle Darstellung des Erzählstrangs – oder handelt es sich hier nicht vielmehr um die Parodie eines visuellen clara et distincta? Ganz anders verhält es sich in den anatomischen Werken. Auch hier wird das Bild problematisiert; die unvermittelte Betrachtung der Objekte (also der empirische Sensualismus) gilt zwar als Königsweg, den abstrakten bildlichen Repräsentation wird jedoch ein ontologischer und heuristischer Wert beigemessen: Some inconsiderable People look upon Copper-Plates, in this case, to be useless; but iudicious Persons must be sensible, that in describing Objects not to be seen, the Reader will have a better Idea of them from a true Representation upon a Plate, than only from a bare Description.39

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Die hauptsächliche Kritik am Roman ›Tristram Shandy‹, so wie sie auch Samuel Johnson geäußert hat, bezieht sich auf die Episodenhaftigkeit des Werkes. Auch Ian Watt sieht in der »causal connection operating through time« und in der »cohesive structure« ein Kriterium des Romans gegenüber den Frühformen der Gattung. Vgl. Watt: The Rise of the Novel (Anm. 30), S. 22. Burton: An essay (Anm. 14), S. xvii und xviii.

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Hier wird das Medium Bild nicht gegen das Medium Sprache ausgespielt, Bild und Text ergänzen sich in der Funktion, das Objekt wahrhaft zu repräsentieren. Im Text wird auf die jeweils zugehörige Abbildung verwiesen, die Abbildungen sind jeweils beschriftet und ausführlich erklärt.40 Entscheidend ist vor dem Hintergrund der Abgrenzungsbemühungen der Literatur, dass hier visuelle Darstellungen neben den im Text entwickelten sprachlichen Bildern grundsätzlich gemieden werden, während medizinische und anatomische Texte eine enge Symbiose aus Schrift und Bild eingehen – und dass diese Symbiose im 18. Jahrhundert programmatisch sanktioniert wird. Besonders anschaulich ist diese programmatische Verschränkung in Drakes Anthropologia nova, wo die Abbildungen auf der gegenüberliegenden Seite der Legende eingefügt sind und direkt im Anschluss an das Kapitel folgen, in dem das jeweilige Organ beschrieben wird. Der Roman Tristram Shandy reflektiert das Bildprogramm der medizinischen Anthropologie mit seinen Ordnungsansprüchen und parodiert die Vorstellung einer »true Representation upon a Plate«. Bilder stiften im Roman Verwirrung, sind – im Falle der Marmorstruktur – undurchdringbare Oberfläche oder bleiben Leerstellen, die von der Phantasie des Zuschauers gefüllt werden müssen. Insbesondere an der Grenze zwischen Bild und Text reflektiert der Roman somit gezielte Abgrenzungsbemühungen von literarischem Schreiben und medizinisch-anatomischem Schreiben. Auf der Ebene der Makroerzählung und aufgrund der stilistischen Ausrichtung des »sentimentalism« markiert der Roman ganz deutlich eine der zahlreichen anthropologischen Wenden um 1750, die den Menschen als Objekt und Subjekt der Erkenntnis fasst und Beschreibungsmodelle der Experimentalphysik und der anatomischen Medizin aufgreift. Im Sog der Leitwissenschaft Anthropologie radikalisiert Tristram Shandy somit, wie kaum ein anderer Roman der Zeit, die mit einer derartigen Neuorientierung verbundenen Ideale der sich in dieser Zeit organisierenden Wissensgesellschaften.41 Medizinische und anatomische Studien werden anhand geburtsmedizinischer Überlegungen der Figur Walter Shandy thematisiert und mit der Figur Dr Slop verkörpert, wobei das ihnen zu Grunde liegende argumentative, stilistische und ästhetische Programm kritisch reflektiert wird. Vor dem Hintergrund der systematischen und funktionellen Anatomie, die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts etabliert, kann Tristram Shandy als Reaktion auf und als Gegenentwurf zu dieser Systematik begriffen werden. In dem Maße, in dem

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Auf die besondere Rolle, die visuellen Darstellungsformen als Mittel zur Akzeptanz von Wissen zukommen, kann hier nur am Rande eingegangen werden. Für einen Versuch der Systematisierung vgl. Claus Zittel: Demonstrationes ad oculos: Typologisierungsvorschläge für wissenschaftliche Illustrationen in der Frühen Neuzeit. In: Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Albert Schirrmeister und Mathias Pozsgai. Frankfurt/M. 2005, S. 97–135. Vgl. Holger Zaunstöck, Markus Meumann (Hrsg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Tübingen 2003.

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Medizin und Anatomie systematischer werden, verweigert sich der Roman jeglicher Systematik – gattungstheoretisch, narratologisch und epistemologisch. Diese Verweigerung, oft als »Flucht« in einen »sentimentalism« missverstanden, konkretisiert das Spannungsfeld, in dem sich sowohl medizinisch-anatomische Schriften als auch die Erzählliteratur samt ihrer Rezeption um 1750 bewegen – zwischen einem »naive empiricism« und einem »extreme skepticism«.42 Der realistische englische Roman dieser Zeit darf somit nicht einfach als Entwicklungsstufe der Ökonomisierung begriffen werden, die sich innerhalb der Literatur vollzieht. Es muss auch bedacht werden, dass hier die Gattungskonventionen der anatomischen Schriften zurückgewiesen und karikiert werden. Vergegenwärtigt man sich die Implikationen dieser Karikatur, dann wird offenbar, dass es sich hier nicht nur um ein Spiel mit Konventionen handelt: Tristram Shandy ist die biologisch fundierte Apologie des Menschen im Angesicht einer Systematik, die den Menschen entwirft und dabei Gefahr läuft, mit dem Hinweis auf eine scheinbare Empirie präskriptive Entwürfe unreflektiert als deskriptive Modelle auszulegen. Somit kann Tristram Shandy nicht nur als explizites Beispiel für den Prozess der Abgrenzung von Medizin und Literatur in zunehmend autonome Schreib- und Wissensbereiche gelten. Der Roman verdeutlicht vielmehr auch, dass die Modelle der neuzeitlichen Wissenschaft anthropologische Vorstellungen transportieren, die auf kulturellen – in der Regel unreflektierten – Grundannahmen basieren.

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McKeon geht zwar auf die programmatischen Schriften Sprats, Glanvills und Molyneuxs ein, verkennt aber, dass er hier ausschließlich Quellen heranzieht, in denen sich die Mitglieder der Royal Society positionieren. Anstatt diese programmatischen Schriften zu betrachten, wäre es sinnvoller gewesen, die naturphilosophischen Schriften der Mitglieder auf Stil und Form zu untersuchen. Vgl. Michael McKeon: The Origins of the English Novel. 1600–1740. Baltimore 1987, S. 47–52 und S. 118ff. sowie insbesondere Kapitel 2, Abschnitt 2 »›Natural History‹ as a Narrative Model« (S. 68–73).

Gerhard Aumüller, Natascha Noll, Irmtraut Sahmland1

»Trotz der geringen medicinalischen Pflege geschicht es doch, dass einige genesen« – Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung ›Sieh um dich! Alles starr fest, finster, was regt sich dahinter. Etwas, was wir nicht fassen begreifen still, was uns von Sinnen bringt, aber ich hab’s aus.‹ (Georg Büchner, Woyzeck2)

1. Reisen in Irrenhäuser als literarischer Topos und medizinhistorische Dokumente Wenngleich einem anderen Zeitrahmen angehörend und dem Drama als einer anderen literarischen Gattung entnommen,3 wurde doch das Büchner-Zitat diesem Aufsatz über einen Bericht4 über die hessischen Hohen Hospitäler5 mit Bedacht

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Herrn Prof. Dr. R. Hildebrand, Direktor des Anatomischen Instituts Münster, dem unermüdlichen Soemmerring-Forscher, freundschaftlich zugeeignet. Marburger Ausgabe, Historisch-kritische Ausgabe der Sämtlichen Schriften und Werke Georg Büchners Bd. 7.2 (Burkhard Dedner, Hrsg.). Darmstadt 2005, S. 13. Zur Wahnsinnsthematik und der Zurechnungsfähigkeit bei Büchner, s. Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit, bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/M u.a. 1985; ders.: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München 1985; ferner Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991. [Jacob Mauvillon]: III. Nachrichten von den heßischen Samt-Hospitalien etc. besonders dem Kloster Marxhausen. In: Journal von und für Deutschland (Hrsg. Leopold Friedrich Günther von Goeckingk), 1. Jg., Bd. 1, S. 29–36, 1784. Im Hospital Haina waren nur Männer, im Hospital Merxhausen nur Frauen untergebracht, während das Hospital Hofheim beide Geschlechter beherbergte. Grundlegend zur Geschichte der hessischen sog. Hohen Hospitäler, s. Walter Heinemeyer, Tilman Pünder (Hrsg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen (= Veröff. Hist. Komm. Hessen Bd. 47). Marburg 1983; darin: Arnd Friedrich: Die Hohen Samthospitäler in Hessen vom Tode Landgraf Philipps des Großmütigen im Jahre 1567 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 135–160; neuere Darstellungen der Lebenswelt in den Hospitälern s. Christina Vanja: Leben und Arbeiten im Hospital Haina um 1750. In Arnd Friedrich, Fritz Heinrich, Christiane Holm (Hrsg.): Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751– 1829). Das Werk des Goethemalers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur. Petersberg 2001, S. 33–35; sowie dies.: Die Stiftung der Hohen Hospitäler zwischen Mittelalter und Neuzeit. In Arnd Friedrich, Fritz Heinrich, Christina Vanja (Hrsg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte. (= Hist. Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien Bd. 11). Petersberg 2004, S. 17–33.

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Gerhard Aumüller, Natascha Noll und Irmtraut Sahmland

vorangestellt. Denn Büchner ist bekanntlich im Umfeld eines dieser Hospitäler aufgewachsen6 und repräsentiert als Arzt und Anatom zugleich jene Verbindung, die der Verfasser des Berichts über die Hospitäler als ideal für den Fortschritt in der Heilung von Geisteskrankheiten ansieht. Aber Büchner war der Fortschrittsoptimismus eines Spätaufklärers fremd, sein Interesse richtete sich auf eine Tiefendimension von Geisteskrankheiten, die 50 Jahre zuvor noch weitgehend im Verborgenen der menschlichen Seele lag. Der Irrenhausbesuch ist zur Zeit der Spätaufklärung, wie die grundlegende Studie von Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni gezeigt hat,7 zu einem Topos in der Literatur um 1800 geworden, dessen ›von erschrecktem Empfinden gezeichneter »laienhafter« Begegnung Reisender mit der Unvernunft‹ sich abhebt von der objektivierenden, eher unpersönlichen Darstellung von Irrenhäusern durch reisende Ärzte. Während der in Tagebüchern oder Briefen festgehaltene Eindruck eines Irrenhausbesuchs eine offene Form besitzt, die auf ein sehr unterschiedliches Reflexionsniveau deutet, formiert sich bei den Abhandlungen, die zum Gegenstand allein die Besichtigung haben, eine typische Sequenz von ›Elementen: Reise – Ziel der Besichtigung – Lage und Art der Gebäude – Unterbringung und Versorgung – Führung durch die verschiedenen Abteilungen – Vorführung von einzelnen Fällen – wechselnde Empfindungen des Besuchers – allgemeinere Stellungnahmen‹8 wie sie schon ein Jahrhundert zuvor in Johann Beers Narrenspital auftauchen.9 Bei der Problematisierung der Konfrontation der Besucher mit den ›Irren‹ reicht das Spektrum der Themen von der kathartischen Wirkung des Anblicks über die Wertung des Wahnsinns, die bis zur Gleichstellung mit dem Tier reicht, bis hin zu Fragen der Theodizee bzw. Euthanasie. Ohne auf die weitergehende Literarisierung des Topos, etwa bei Matthias Claudius bzw. in einer interessanten Filiation bei Hein-

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Büchners Vater war Assistenzarzt im Hospital Hofheim bei Goddelau, der Großvater dort Hospitalmeister. Allerdings ist ein direkter Kontakt Büchners mit den Hospitalsinsassen nicht dokumentiert; aus den Erzählungen des Vaters, der auch psychiatrische Gutachten verfasste und zum Teil in der ›Zeitschrift für die Staatsarzneikunde‹ publizierte, in denen auch die Clarus-Gutachten zu Woyzeck erschienen, dürfte Büchner mit der Situation im Hospital Hofheim vertraut gewesen sein. Herrn Dr. Manfred Wenzel, Hist.-krit. BüchnerAusgabe, Marburg, danken wir für diesen Hinweis. Zur Geschichte des Hospitals Hofheim s. Christina Vanja: Zwischen Armenfürsorge und Heilkunde, Tradition und Wandel – Das Landeshospital Hofheim. In Irmtraut Sahmland u.a. (Hrsg.): Haltestation Philippshospital. Ein psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel. 1535 – 1904 – 2004. (= Hist. Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien, Bd. 10). Marburg 2004, S. 207–221. Anke Bennholdt-Thomsen: Alfredo Guzzoni: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora 42 (1982), S. 82–110. Bennholdt-Thomsen: Alfredo Guzzoni (wie Anm. 7), S. 88. Zu Beers ›Narrenspital‹, s. Dietrich von Engelhardt: Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock. In: Udo Benzenhöfer, Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992, S. 30–54, hier S. 33.

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rich von Kleist einzugehen und seine Stilisierung, Umformung und Brechung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erörtern (wie sie Bennholdt-Thomsen und Guzzoni so eindrucksvoll dargestellt haben),10 soll in der vorliegenden Untersuchung der Aspekt des journalistischen Aufklärens über Irrenhäuser als frühneuzeitlicher Institution der Sozialversorgung hervorgehoben werden. Gegenstand der Untersuchung ist ein Aufsatz des Kasseler Kadetten-Hauptmanns und Professors der Militärwissenschaften, Jacob Mauvillon,11 dessen Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs im Hinblick auf seine Form, Umsetzung und Wirklichkeitsgehalt näher ins Auge gefasst werden soll. Mauvillons Nachrichten von den heßischen Samt-Hospitalien sind bereits von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni in ihrer Arbeit kurz in einer Anmerkung zitiert worden, dort allerdings als anonymer Beitrag. Ausführlicher wird die Darstellung bei C. Vanja gewürdigt, die sich speziell mit den Reisenden in die hessischen Hohen Hospitäler befasst hat.12 Hier sind alle bereits von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni beschriebenen Textsorten zu finden: vom Tagebuch eines wandernden Handwerksburschen13 bzw. Theologiestudenten14 über den Aufsatz eines angehenden Facharztes15 bis hin zur Reisebeschreibung aufgeklärter Gelehrter16 und einer landesgeschichtlichen Monographie;17 die alle um die Hohen Hospitäler kreisen und dabei sehr unterschiedliche Sicht- und Interpretationsweisen bieten. In ihrer quellenkritischen Studie hat Christina Vanja herausgestellt, dass sowohl ›die ältere Fortschrittsgeschichtsschreibung der Psychiatrie als auch die vielfach äußerst

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Bennholdt-Thomsen, Guzzoni: Irrenhausbesuch (Anm. 7), S. 109, Anm. 92. Biographische Angaben s. Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (= Hist. Forschungen Bd. 20). Berlin 1981. Christina Vanja: Das Tollenkloster Haina. Ein Hospital in Reisebeschreibungen um 1800, In: Von Menschen und ihren Zeichen. Sozialhistorische Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur Neuzeit, Ingrid Matschinegg, Brigitte Rath, Barbara Schuh (Hrsg.). Bielefeld 1990, S. 123–136. Aktuell dies.: Nur »finstere und unsaubere Clostergänge«? – Die hessischen Hohen Hospitäler in der Kritik reisender Aufklärer. In Heiner Fangerau, Karen Nolte (Hrsg.): »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik. S. 23–42, 2006. Wir danken Frau Prof. Dr. C. Vanja, Univ. Kassel, für die freundliche Zusendung ihres Manuskripts und zahlreiche weitere Anregungen. Christian Wilhelm Bechstedt: Meine Handwerksburschenzeit 1805–1810. Köln 1925. Ingeborg Schnack: Einleitung. In dies. (Hrsg.): Ein Schweizer Student in Marburg 1791/95. Tagebuch des Melchior Kirchhofer aus Schaffhausen. Marburg 1988, S. IX– XXX. Stephan August Winkelmann: Über die Behandlung der Gemüth’s Krankheiten. In: Horns Archiv für medizinische Erfahrung. Bd. 5 Berlin 1804, S. 432–449, zitiert nach Vanja, Tollenkloster (wie Anm. 12), S. 128. B. [= Siegmund von Bibra?]: Beytrag, zur Geschichte der Menschheit aus einem Briefe von Gießen in Hessen. In: Journal von und für Deutschland, 4. Jg. (1788), S. 408–408; Mauvillon: Samt-Hospitalien (wie Anm. 4). Carl Wilhem Justi: Das Hospital zu Haina. Versuch einer Darstellung seiner ehemaligen und gegenwärtigen Beschaffenheit. Marburg 1803.

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einseitige Historie psychiatrischer Ausgrenzung und Disziplinierung‹ die topisch gestaltete Literatur zur Stützung eigener Argumente nutzten, ohne die Quelle kritisch zu hinterfragen. Dagegen ermöglichen inzwischen neue methodische Ansätze, insbesondere Konzepte einer Sozialgeschichte der Medizin und der Historischen Anthropologie, multiperspektivische Betrachtungsweisen; die Quelle wird zum komplexen Vorgang. Neben den Reisenden geraten somit auch die Leser und Leserinnen ebenso wie Beschäftigte und Bewohner der besuchten Institution in den Blick. Es stellen sich z.B. Fragen wie diese: Welche literarischen Vorkenntnisse, welche Erkenntnisziele und Maßstäbe für ihre Beurteilung brachten die Reisenden mit, welchen Zweck verfolgten sie mit ihrer Publikation (politische Ziele, Bildung, Unterhaltung etc.) und wie bewegten sie sich in den Irrenanstalten? Wer führte sie dort, mit wem sprachen sie, was erregte ihre besondere Aufmerksamkeit und was nahmen sie letztendlich in ihre schriftliche Darstellung auf. Wer kommt dort zu Wort bzw. was bleibt unbeachtet und unerwähnt. Bezieht man diese Fragestellungen mit ein, zeigen sich die zunächst so klaren Schilderungen in einem anderen Licht.18

Wenn hier in einer mikrologischen Studie Mauvillons Aufsatz noch einmal unter die Lupe genommen wird, so hat das mehrere Gründe: der wesentlichste Grund ist die Tatsache, dass durch einen glücklichen Umstand nicht nur zahlreiche Briefe, die zwischen dem Autor Mauvillon und dem Herausgeber des ›Journals von und für Deutschland‹, Leopold Friedrich Günther Goeckingk, in der Phase der Entstehung des Aufsatzes gewechselt wurden, erhalten sind, sondern auch eine weitere Korrespondenz des Autors mit einem höheren Verwaltungsbeamten, der direkt mit der ökonomischen Situation der Hohen Hospitäler befasst war. Dadurch können die Bedingungen und die Ziele des Aufsatzes durch authentische Kommentare des Autors und des Herausgebers näher umrissen werden und zugleich ein Blick in die Genese jener von Habermas beschriebenen Öffentlichkeit geworfen werden,19 die sich u.a. durch aufklärerische Zeitschriften wie das Journal von und für Deutschland formierte. Ein weiterer, wesentlicher Anreiz liegt in der Person des Autors und der Bedeutung des Journals bzw. seines Herausgebers. Beide waren selber schriftstellerisch aktiv und brachten Erfahrungen vom Schreiben dramatischer und lyrischer Texte mit, ehe sie sich historischen bzw. journalistischen Themen zuwandten. Die Nähe des Autors zum hessischen Hof und seinem freimaurerischen Umfeld,20 seine

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Vanja: Clostergänge (Anm. 12) S. 25. Vgl. Hoffmann: Mauvillon (wie Anm. 11), S. 38, 64 und 338. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. (= Politica Bd. 4), Neuwied 1962; ferner Holger Böning, Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. I. Holger Böning: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart – Bad Cannstatt 1990, hier Anm. S. XXXIX–XLIII. Ausführlich und differenziert hierzu Ortrun Wörner-Heil: »Extreme Familiarität und Gleichheit«. Freimaurerlogen in Kassel von 1766 bis 1794. In Heide Wunder, Christina Vanja, Karl-Hermann Wegner (Hrsg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt. Kassel 2000, S. 229–261, zur Rolle Mauvillons bei den Freimaurern vgl. S. 247–251.

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Tätigkeit als Professor am Collegium Carolinum in Kassel im engen Kontakt zu auch schriftstellerisch bedeutenden Kollegen wie dem Museologen und Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe,21 dem Naturforscher Georg Forster,22 dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring,23 dem Leibarzt Ernst Baldinger24 und dem Hofmaler Johann Heinrich Tischbein (der zudem im »Tollenkloster« Haina geboren und aufgewachsen war)25 geben dem Aufsatz Mauvillons eine Reichweite, die über die vergleichbarer Darstellungen hinausgeht. Außerdem gestattet die außerordentlich dichte archivalische Überlieferung der Hohen Hospitäler eine Überprüfung der im Text vermittelten Angaben und somit die genauere Bestimmung der Auswahlkriterien des Autors für bestimmte Fakten,

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Vgl. auch Annette von Stieglitz: Hof und Hofgesellschaft in der Residenz Kassel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ebd., S. 321–349. Andrea Linnebach (Hrsg.): Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe. Wissenschaft – Kunst – Abenteuer. Kassel 2005, darin: Eberhard Mey: Rudolf Erich Raspe als Professor am Collegium Carolinum, S. 98–104. Raspe verdankte wie Mauvillon wesentlich Schritte seiner Laufbahn der Förderung durch den hannoverschen General Graf Wallmoden. Vgl. auch Hartmut Broszinski: Der Briefwechsel Raspes in der alten Kasseler Landesbibliothek, ebd., S. 145–157. Zur Funktion des Collegium Carolinum s. Eberhard Mey: Der künftige Gelehrte und der Hofmann. Lehrangebot und Studenten am Collegium Carolinum in der Regierungszeit Friedrich II. In: Wunder, Vanja, Wegner: Kassel (wie Anm. 20), S. 191–211. Aus dem umfangreichen Forster-Schrifttum sei hier nur wegen des Bezugs zu Mauvillon genannt Eberhard Mey: Zu Forsters Arbeitsbedingungen als Professor der Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel. In: Georg-Forster-Studien VII (2002), S. 233–265. Soemmerrings Kontakte in Kassel zu Goethe, Jacobi, Forster und anderen sind dargestellt bei Gerhard Aumüller: Zur Geschichte der Anatomischen Institute von Kassel und Mainz I–III. In: Medizinhistorisches Journal 5 (1970), S. 59–80, 145–160, 268–288; ausführlicher und moderner s. Manfred Wenzel (Hrsg.): Samuel Thomas Soemmerring in Kassel (1779–1784). Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Goethezeit. (= SoemmerringForschungen Band IX). Stuttgart Jena New York 1994, darin besonders Ulrike Enke: Soemmerrings erste Professur am Collegium Carolinum in Kassel, S. 75–142. Baldinger wurde als Pfarrerssohn 1738 in Großvargula bei Erfurt geboren, studierte in Erfurt, Halle und Jena Medizin und war ab 1783 Leibarzt in Kassel, ab 1785 Professor der Medizin in Marburg, wo er sich um den Ausbau der medizinischen Fakultät verdient gemacht hat. Er war mit Lichtenberg und Goethe bekannt und Herausgeber mehrerer Fachzeitschriften (»Baldingers Journal vor Aerzte«) und als literatur- und medizinhistorisch Interessierter der mehrbändigen Monographie »Biographien jetzt lebender Ärzte und Naturforscher. Bd. 1–4, Jena 1768/1772. Am 21. Januar 1804 ist er in Marburg gestorben. Zu Baldingers Bibliothek neuerdings Hartmut Broszinski: illiteratissima urbs? Kasseler Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert. In: Wunder, Vanja, Wegner: Kassel (wie Anm. 20), S. 47–70, darin besonders S. 62–64. Vgl. auch Alexander Ritter: Medizinale Fachliteratur in der Aufklärer-Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Zum Buchbestand des medizinisch gelehrten ›freien Schriftstellers‹ Johann Gottwerth, Müller (Itzehoe) (1743– 1828). In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte (künftig: MedGG) 23 (2004), S. 69–104. Marianne Heinz: Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789). Hofmaler, Akademiedirektor und Lehrer der Malerfamilie Tischbein. In: Friedrich, Heinrich, Holm (Hrsg.): Tischbein (Anm. 5), S. 46–56.

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die Präsentation bzw. Inszenierung seiner Aussagen und die literarisch-journalistische Gestaltung des Textes. Und schließlich ist die Übereinstimmung des wirkungsvollsten Bildes aus Mauvillons Darstellung mit einem zeitgenössischen anatomischen Skelett-Präparat so schlagend, dass hier ex post seine Überlegungen zu den körperlichen Folgen der »Raserey« und ihrer Behandlung noch einmal faktisch unterstrichen werden. Der geschilderte multiperspektivische Ansatz26 sollte demnach gestatten, den Stellenwert des Aufsatzes im Werk Mauvillons näher zu bestimmen, seine Motivation für das Schreiben und die Intentionen für eine Rezeption hervorzuheben, den Realitätsgehalt bzw. dokumentarischen Wert der journalistischen Darstellung einzuschätzen und die Rezeption durch die Öffentlichkeit und daraus abzuleitende mögliche Konsequenzen für die Betroffenen herauszufinden.

2. Der Autor und sein Text Jakob Mauvillon wurde als Sohn eines aus Frankreich emigrierten Adligen, Eléazar de Mauvillon, der in Leipzig, später Braunschweig als Französisch-Lehrer arbeitete, am 8. März 1743 in Leipzig geboren. Als Kind hatte er sich durch einen Sturz eine Wirbelsäulenverkrümmung zugezogen, die die ersehnte Militärlaufbahn des jungen Mannes zunächst zu vereiteln schien. Er studierte, legte aber kein formales Abschlussexamen ab. Trotz seiner Körperbehinderung gelang es ihm während des Siebenjährigen Krieges, Fähnrich im hannoverschen Ingenieurkorps zu werden und anschließend am Pädagogium in Ilfeld am Harz zu arbeiten. Durch die Unterstützung des hannoverschen Generals Graf Wallmoden wurde Mauvillon 1771 zum Professor für Militärwissenschaften am Collegium Carolinum, später zum Hauptmann an der Kadettenanstalt in Kassel und gleichzeitig zum WegebauIngenieur ernannt. 1784 wechselte er als Taktik-Lehrer an das Collegium Carolinum in Braunschweig und wurde Major, später Obristleutnant im Ingenieurkorps. Am 11. Januar 1794 ist er in Braunschweig gestorben. Während er sich in seiner Jugendzeit als eher lyrischer und dramatischer Schriftsteller versuchte, liegt seine eigentliche Bedeutung auf (militär)historischem Gebiet als Fachschriftsteller, Journalist und Vertreter des Physiokratismus. Die wichtigsten Werke Mauvillons sind, neben umfangreichen Übersetzungen aus dem Französischen (Raynal, Turgot) und Italienischen (Ariost), ein Lehrbuch

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Die damit verbundene Interdisziplinarität bringt die Gefahr des Dilettantismus mit sich, vgl. Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert: von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical Writing‹. In: Gesnerus 63 (2006), S. 127–143, hier S. 127. Diesen in der vorliegenden, teils medizinhistorischen, teils literaturwissenschaftlichen Studie zu vermeiden, sollte die unterschiedliche Fachrichtung der Verfasser (Anatom, Historikerin, Medizinhistorikerin) gewährleisten; gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch die gewählte Akzentuierung die eine oder andere wichtige Studie nicht erwähnt wird.

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der Militärwissenschaften, das er schon in Kassel verfasste, eine zweibändige Geschichte Ferdinands, Herzogs von Braunschweig und ein gemeinsam mit dem französischen Grafen Mirabeau verfasstes vierbändiges Werk Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen (Braunschweig und Leipzig, 1793–95). Daneben befasste er sich, beeinflusst durch die französische Aufklärung (Rousseau, Mirabeau, Turgot), mit einer Fülle weiterer Themen, auch theologischer (Das einzige wahre System der christlichen Religion, Berlin 1787) und Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau.27 Mauvillon führte einen intensiven Briefwechsel mit dem fürstlich-waldeckischen Kammerrat Georg August Frensdorff (1740–1819),28 insbesondere zu Anfang der 1780er Jahre,29 als er die Vorarbeiten zu einem größeren, allerdings nie publizierten Werk über die Kriege in Flandern (1742–47) begann, das sich mit der Rolle des Fürsten Carl August Friedrich von Waldeck und Pyrmont (1704–1763) als niederländischem General befasste.30 Zur selben Zeit entstand sein Aufsatz über die Samthospitäler, der auch in dieser Korrespondenz eine gewisse Rolle spielt.31

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Übersicht über Mauvillons Veröffentlichungen bei Hoffmann: Mauvillon (Anm. 11), S. 325–328; Periodisierung und kritische Wertung ebd., S. 157–324. Der für Mauvillons Geschlechterverständnis aufschlußreiche Aufsatz war durch das Verhältnis zu seiner Frau bestimmt. Seine Ehefrau Marie Luise Mauvillon, geb. Scipio war die Tochter des waldeckischen Geheimen Regierungsrats Scipio in Arolsen. Ernst Ludwig Scipio, Hofrat und Landrichter in Korbach, war Mitglied einer alten waldeckischen Beamtenfamilie; seine Tochter Ernestine war mit Wilhelm Ernst Friedrich Kleinschmidt verheiratet, der als Kriegskommissar und späterer Amtmann Mauvillon engere Kontakte zum Hofe des mit Landgraf Friedrich II. befreundeten Fürsten Friedrich von Waldeck ermöglichte, vgl. Hermann Steinmetz: Die Waldeckischen Beamten vom Mittelalter bis zur Zeit der Befreiungskriege. In: Geschichtsblätter für Waldeck 45 (1953), S. 90–174, hier S. 126–129. Hessisches Staatsarchiv Marburg (künftig StAM) Best. 118a Akten des Fürstlichen Kabinetts, Nr. 2799; auszugsweise zitiert auch in Hoffmann: Mauvillon (Anm. 11), passim. Frensdorff, der unverheiratet war, wohnte im Schloss in Arolsen und war enger Vertrauter des Fürsten Friedrich von Waldeck. Friedrich wurde auch bei Mauvillons Bemühungen, eine Stelle am kaiserlichen Hof in Wien zu erhalten, eingeschaltet; vgl. Hoffmann: Mauvillon (Anm. 11), S. 103. Frensdorff hatte 1774 nach der Übernahme der Position des Direktors der Wildunger Brunnenbetriebe im nahegelegenen Kloster Haina bei der Einrichtung einer Glashütte (für die Herstellung von Flaschen für das Mineralwasser, das in größeren Mengen im Hospital gebraucht wurde) mitgewirkt und war deshalb sehr mit den Verhältnissen in Haina vertraut; vgl. Heinrich Hochgrebe: Die Glashütte zu Haina. In: »Mein Waldeck«, Beilage zur »Waldeckischen Landeszeitung« Nr. 14 (1972), S. 1–2. StAM 118a, Nr. 2799, Schreiben Mauvillons an Frensdorff vom 12. Nov. 1781; 1783 intensiviert sich die Korrespondenz zu diesem Projekt. Die Intensität seiner Auseinandersetzung mit diesem Thema schildert er nachdrücklich im Brief vom 8. April 1784: »[…] mais vous savez ce que c’est pour un Auteur que son ouvrage. C’est comme pour un Amant sa Maitresse. Il ne songe, et ne peut parler d’autre chose«. In den Briefen an Goecking kommt das Projekt aber nur am Rande zur Sprache. Ebd., Schreiben vom 19. Februar 1784. Er sendet Frensdorff »un paquet que mon Ami Goecking M’a chargé de vous faire tenir. S’il contient des Exemplaires de son Journal comme je présume, j’éspère qu’il Vous plaira. Quant à moi, bien des Choses m’y ont infiniment amusé«.

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Dadurch lassen sich Mauvillons Motivation für das Schreiben des Aufsatzes und seine intendierte Wirkung näher bestimmen.

3. Das Journal von und für Deutschland: Herausgeber, Intentionen, Adressaten, Rezeption Initiator und Herausgeber des Journals von und für Deutschland war der preußische Kanzleidirektor und in Ellrich am Harz ansässige Leopold F.G. (von) Goeckingk.32 1748 im preußischen Gröningen nahe Halberstadt als Sohn eines begüterten Kriegs- und Domänenrats geboren, absolvierte Goeckingk zunächst die Domschule in Halberstadt, danach das Pädagogium in Halle33 und studierte anschließend an der dortigen Universität die Rechte. Dichterisch interessiert und begabt, suchte er den Kontakt zu den Schriftstellern Gleim, Unzer und Georg August Bürger sowie weiteren Mitarbeitern am Göttingischen Musenalmanach und gab selber dramatische Versuche, Sinngedichte und vor allem 1777 Lieder zweier Liebenden heraus, die ihn bekannt machten. Im Januar 1784 erschien dann der erste Band seines Journals von und für Deutschland; ab 1789 wurde die Zeitschrift allerdings von Goeckingks Freund, dem Fuldaer Domherren Siegmund Freiherr von Bibra, dem Neffen des Fuldaer Fürstbischofs herausgegeben, nachdem Goeckingk auf preußischen Druck wegen allzu liberaler Berichte die Redaktion niederlegen musste. Goeckingks Journal-Unternehmung muss im Kontext der Massenschriftstellerei der späteren Aufklärung zwischen 1771–1790 gesehen werden, als die Zahl der schriftstellerisch tätigen Gelehrten sprunghaft von ca. 3000 auf 6000 anstieg.34 Die Herausgabe von Zeitschriften war gegen Ende des 18. Jahrhunderts etwas wie eine Modeerscheinung: Das Bedürfnis nach Aufklärung der Allgemeinheit, die Bildung einer Öffentlichkeit bzw. die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, aber auch die Darstellung des Allgemein-Menschlichen standen hinter dieser Bewegung, nicht zuletzt aber auch die Möglichkeit, auf diese Weise Geld zu verdienen.35 Goeckingks Journal ragt aus der Fülle der Zeitschriften insofern heraus, so

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Fritz Kasch: Leopold F. G. von Goeckingk. Phil. Diss. Marburg 1909, zur Biographie S. 1–15. Dazu knapp Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der frühen Aufklärung (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 25). Tübingen 1989, S. 171. Hoffmann: Mauvillon (Anm. 11). S. 11. Ebd. S. 12; zur Geschichte und Motivation volksaufklärerischen Schrifttums vgl. Böning, Siegert: Volksaufklärung (Anm. 19). Einen älteren Katalog dieser Zeitschriften bietet Doris Kuhles: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik: Bibliographie der kritischen Literatur von den Anfängen bis 1990. 2 Teile. München 1994. Umfassend zu den gelehrten Journalen s. neuerdings Thomas Habel: »Gelehrte Journale und Zeitschriften« der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2006 (= Presse

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J. Breunig,36 als es gezielt eine breite Streuung von Themen und Berichten aus allen Bereichen anstrebte, die möglichst den gesamten Sprachraum erfassten. Es sollte damit zum Sammelplatz und Spiegel der Gedanken, Ideen, Vorschläge und Wünsche der Korrespondenten sein, die sich aus den Kreisen der Gelehrten, der Beamten des höheren und niederen Verwaltungs- und Staatsdienstes, der Professoren und gebildeten Lehrer, Ärzte, Pfarrer und Adligen zusammensetzen. Mauvillon war in Goeckingks Pläne zu dem Journal schon zu Beginn des Jahres 1783 eingeweiht.37 In seiner Korrespondenz mit Goeckingk taucht zunächst sehr knapp seine aktuelle Beschäftigung mit dem flandrischen Krieg (1745–1748) auf, über die er so intensiv mit Frensdorff korrespondiert hatte, und er berichtet über eine Audienz bei Friedrich dem Großen in Potsdam, dem er sein Werk über das »poudre de canon« dediziert hatte: »nachdem ich den größten König in der Welt gesprochen, u. an der Spitze der Potsdamer Garnison manövrieren u. in Gesellschaft des vortrefflichen Capitain von Stamford fünf sehr vergnügte Tage zugebracht hatte.« Mauvillon lernte demnach den dann 1786 zum Obervorsteher der Hohen Hospitäler ernannten F. von Stamford,38 der als Begleiter des hessischen Kronprinzen 1783 am preußischen Hof weilte, bereits damals kennen. Stamford war ein enger Freund Goeckingks, der ihm mehrere Gedichte widmete.39 Schon im August und dann am 22. Oktober 1783 kündigt Mauvillon seinen Beitrag an: »Meinen Aufsatz von Kloster Merxhausen sollen sie zu Anfang k. M. haben, u. sofort alles was ich Ihnen nützliches auftreiben kann« und erneut am 3. November. Am 21. November 1783 liefert er dann sein Manuskript ab: Liebster Freund, Hier überschicke ich Ihnen das was ich Ihrem Journale destinirt habe. Gott gebe, dass es Ihnen erträglicher vorkömmt als mir, sonst werfen Sie es gewiß ins Feuer. Doch aber thun Sie es ohne Rückhalt, sobald sie es für gut finden. Und noch mehr schneiden u. schnitzeln Sie daran so viel Sie nur wollen, um es erträgl. zu machen. Daran thun Sie mir einen Gefallen, das versichere ich Ihnen auf Ehre. Denn so sehe ich doch wohl ein, dass es nicht präsentabel ist.40

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und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 17), darin zu Goeckingk S. 79. Wir danken Thomas Habel, Göttingen, für seine vielfältigen Literaturhinweise. Juliane Breunig: Das Journal von und für Deutschland 1784–1792. Eine deutsche Zeitenwende im Spiegel einer deutschen Zeitung. Phil. Diss. München 1941 (veraltet und tendenziös; Teildruck von Abschnitt II und III der Dissertation), S. 124b. Dies ergibt sich aus den 30 Briefen Mauvillons an Goeckingk in der Handschriftenabteilung der Murhardschen Universitäts- und Landesbibliothek Kassel (künftig MUL Kassel), Sign. 4° Ms. Hist. lit. 37. Herrn Dr. Konrad Wiedemann, Leiter der Handschriftenabteilung der MUL, danken wir für seine Hilfe. StAM Best. 5 (Hessischer Geheimer Rat) Nr. 17884. Eine knappe Biographie des stark philanthropisch ausgerichteten v. Stamford stammt von Otto Kahm: Friedrich von Stamford. Obervorsteher der hessischen Samt-Hospitäler. (= Frankenberger Hefte 5). Frankenberg 1997. Die Abgrenzung Friedrich von Stamfords gegen seinen Bruder, den Capitain Carl von Stamford, ist gelegentlich schwierig. Kasch: Goeckingk (Anm. 32), S. 51 u. 85. MUL Kassel, Nr. 18, 21. November 1783. Die Formulierung lässt eher an Understatement und fishing for compliments als an Kritikempfänglichkeit denken. Da der Aufsatz

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Goeckingk scheint kaum Änderungswünsche geäußert zu haben. Am 7. Dezember schickt Mauvillon noch einige Erläuterungen zu seinem Aufsatz, die wörtlich übernommen wurden und bittet den Herausgeber, die beiden dem Aufsatz angehängten Tabellen ja nicht in gegenwärtiger Form abdrucken zu lassen. Da die Leute hier sehr närrisch sind, so hat mich heute noch die Person die mir sie kommunizirt hat ums Himmels willen gebethen, sie ja nicht abdrucken zu lassen, weil das die Form wäre, worunter er sie von Ambts wegen erhielt. Die Resultate u. Summen könnten daran genommen werden. Seyen Sie also so gütig u. konformiren sich hierin nach diesen Vordersätzen, denn ich habe mein Ehrenwort verpfändet, dass es geschehen würde. Sonst bekomme ich auch mein Tage nichts mehr.41

Möglicherweise verbirgt sich hinter der genannten ›Person‹ der landgräfliche Rat J. D. Grimmell, der damals Beauftragter für die Hohen Hospitäler war und an den jährlichen Visitationen teilnahm. Am 19. Februar 1784 bestätigt Mauvillon den Eingang des ersten Stücks Journals, in dem sein Aufsatz erschien; er habe noch keine Resonanz und werde sich melden, sobald er »Stimmen von Gewicht dazu vernommen« habe. Gleichzeitig macht er einen erneuten Vorstoß, um sich als Mitherausgeber ins Spiel zu bringen und bietet an, das Journal in Kassel zu korrigieren und drucken zu lassen. Weitere Stellungnahmen zu dem Artikel fehlen jedoch. Der Briefwechsel Mauvillons mit Goeckingk aus den Jahren 1783 und 1784 lässt, gerade auch im Vergleich zur gleichzeitigen Korrespondenz mit dem waldeckischen Rat Frensdorff eine Reihe interessanter Schlüsse über die Intentionen des Autors zu. In beiden Fällen geht es gezielt um die Wahrnehmung bzw. Durchsetzung eigener Interessen: bei Frensdorff um den Kontakt zum Fürsten von Waldeck und dessen Kriegstagebücher, um eher persönlich gehaltene Verbindungen zu der Verwandtschaft seiner Frau, über Frensdorff als engagierten Freimaurer und Adressaten seiner Klagen über die unangenehmen Arbeitsbedingungen am Kasseler Hof.42 Die Mitarbeit an Goeckingks Journal wird nur gestreift. In der Korrespondenz mit Goeckingk hingegen ist das große Interesse unübersehbar, sich als Mitherausgeber anzubieten, um so einerseits seine schriftstellerische Produktion leichter an den Mann bringen zu können, andererseits, weil der philanthropische Ansatz Goeckingks seiner eigenen freimaurerisch-philanthropischen Einstellung sehr

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von vorne herein anonym erscheinen sollte, wäre Mauvillon keinerlei Risiko einer scharfen öffentlichen Kritik eingegangen. Leider kann man der Korrespondenz nicht entnehmen, welche Gründe Mauvillon nach Haina und Merxhausen geführt haben. Ebd. Nr. 20, 7. Dezember 1783. Im Brief vom 9. Juli 1784 (StAM Best. 118a, Nr. 2799) an Frensdorff heißt es : »Je suis une très malheureuse Créature, ce la est un point décidé; condamné à ramer dans cette galère le reste des mes jours«; dabei übersendet er offenbar eine Kopie seines Aufsatzes über den predigenden Korbmacher: »Je joins ici une petite nouveauté littéraire très curieuse, que je Vous prie de Lui [d.h. dem Fürsten] présenter aussi, comme une Lecture qui pourra l’amuser aux Eaux« [d.h. in Pyrmont, damals zum Fürstentum Waldeck gehörend].

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entgegen kam. Er erweist sich dabei als umsichtiger Partner, der seine Verbindungen geschickt einzusetzen weiß und sich auch als Autor engagiert. Mauvillon steuerte demnach bereits zum ersten Jahrgang der Zeitschrift außer regelmäßigen Berichten über Getreidepreise gleich drei Artikel bei, die alle mehr oder weniger um das Problem der »Empfindungslosigkeit« kreisen. Sie stellen in seinem thematisch ohnehin breit gefächerten Werk die Ausnahme dar. Die erste Arbeit befasst sich mit den »Rasenden« in den hessischen »Samt-Hospitalien«, die unten eingehender dargestellt wird. Ein weiterer Artikel Mauvillons hat die »Sonderbare Blind- und Taubheit des Herren (Ober-Ross-Arztes) Kersting zu Hannover« zum Gegenstand und schließlich der dritte »einen seltsamen Bußprediger im Waldeckschen«. Eigentümlich und für die heutige Zeit befremdlich ist die völlig fehlende Bereitschaft zur Anonymisierung der dargestellten Krankheitsfälle in diesen Berichten, während der Autor sich an keiner Stelle zu erkennen gibt. Erst die Korrespondenz mit dem Herausgeber Goeckingk offenbart, dass der Verfasser dieser kleinen Aufsätze Mauvillon ist. Sein Biograph Hoffmann umreißt den Stellenwert beider Aufsätze in Mauvillons Schaffen als feuilletonistische Beiträge, »die sich eben durch ihren anekdotenhaften Charakter von allen anderen Veröffentlichungen Mauvillons unterscheiden und wohl an seine journalistische Tätigkeit für den ›Casseler Zuschauer‹ anknüpfen.«43 Dabei bediene der Aufsatz über den ›predigenden Korbmacher‹ noch mehr das Sensationsinteresse des Lesepublikums als die Beschreibung der »heßischen Samt-Hospitalien«, die in der Tat einen erheblich medizinhistorischen Dokumentationscharakter besitzen und zudem durch ihren philanthropischen Ansatz neue Perspektiven in der Behandlung der Geisteskranken aufnehmen. Inwieweit Mauvillon bei seiner Reise allerdings auch die Lebenswelt der Hospitalien vollständig erfasst hat, lässt sich durch die folgende Gegenüberstellung seiner Beschreibung mit einigen realen Krankenbiographien, dem administrativorganisatorischen Umgang der Hospitalverwaltung mit den Kranken wirkungsvoll überprüfen.

4. Inhalt, Intentionen und Umsetzung Mit einer Verbeugungsgeste gegenüber dem Herausgeber des »so herrlich ausgesonnenen Journals« stellt Mauvillon einleitend das »Interesse der Menschheit in Deutschland« als Adressaten für seinen Bericht von »berühmten Hospitälern in Hessen, für Wahnsinnige und andere gebrechliche Personen« heraus und verweist sogleich auf den Nutzen, den »dieses schreckliche aber lehrreiche Schauspiel«44 bedinge, nämlich die Ausrottung des Hochmuts über Verstandesfähigkeiten. Die kathartische Wirkung des Anblicks von Menschen, die durch geringfügige Anlässe, wie »heftige Leidenschaften, Hochmuth, Liebe Schmerz Schrecken u.a.« in

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Hoffmann: Mauvillon (wie Anm. 11), S. 76. Mauvillon: Samt-Hospitalien (wie Anm. 4). S. 30.

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diesen Zustand geraten seien,45 führe dazu, die eigene »übermäßige Empfindsamkeit zu schwächen und stumpfer zu machen, und ein vernünftiges Mitleiden in unserm Herzen zu befördern«.46 Mit einer rhetorischen Wendung, er wolle hier nicht »Moralisieren«, leitet er auf die drei wesentlichen Punkte seiner Darstellung über: die Geschichte, die Struktur und Funktion der Hospitäler und medizinische Probleme. 4.1. Geschichtliches Die Gründung der vier »Hohen Hospitäler« im ehem. Zisterzienserkloster Haina in Oberhessen (für Männer), im Augustinerkloster Merxhausen in Niederhessen (für Frauen), im Benediktinerkloster Gronau nahe St. Goar (später zur Domäne umgewandelt) und in der Pfarrei Hofheim nahe Darmstadt (für beide Geschlechter) unter dem hessischen Landgrafen Philipp im Zuge der Reformation47 wird mit der apologetisch motivierten Legende48 der Verhinderung der Rekatholisierung der Einrichtung durch den ersten »Obervorsteher«, Heinz von Lüder,49 wirkungsvoll verknüpft, um die Besonderheit dieser karitativen Einrichtung als Verdienst des hessischen Fürstenhauses herauszustellen. Die folgende Mischform eines Briefs mit einer Reisebeschreibung zur Lage des Hospitals »Marxhausen«, das paradigmatisch für die übrigen Samthospitäler behandelt wird, leitet über zum ersten Hauptteil der Darstellung zur Struktur und Funktion der Hospitäler.

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Die hier nur angedeutete Diskussion der Ätiologie der Geisteskrankheiten wird dann am Schluss noch einmal aufgenommen, gerät hier aber in eine ganz andere Richtung. Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 30. Ausführliche Angaben zur Gründungsgeschichte der Hospitäler in der unter Anm. 5 aufgeführten Literatur. Der archivalisch nicht gesicherte Vorfall einer Visitation des Klosters Haina durch eine kaiserliche Kommission während der Amtszeit des Obervorstehers Heinz von Lüder (1532–1558) im Rahmen einer Klage des ehemaligen Zisterzienserabts Johann Falkenberg geht auf die Darstellung in der sog. Letzenerschen Chronik zurück, s. Letzenerus, Johannnes: Historische/ Kurtze/ Einfältige vnd ordentliche Beschreibung des Closters und Hospitals zu heina in Hessen gelegen. Auffs newe ubersehen vnd verbessert. Mülhausen [1588]. Ausführliche Diskussion bei Volker Otto Boog: Vom Kloster zum Hospital. Der Niedergang des Klosters Haina und seine Umwandlung in ein Armenhospital – Landesherrliche Reformversuche im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. In Arnd Friedrich, Fritz Heinrich (Hrsg.): Die Zisterzienser und das Kloster Haina. Petersberg 21999, S. 75–80, dort auch frühere Literatur. Zur Rolle der Obervorsteher s. Friedrich: Samthospitäler. In Heinemeyer, Pünder: 450 Jahre Psychiatrie (Anm. 5); zur Bedeutung von Heinz von Lüder und dessen Übernahme von Elementen aus der zisterziensischen »Charta charitatis« in die Hospitalordnung s. Gerhard Aumüller: Ärztliche Versorgung und Leitung der hessischen Hohen Hospitäler im 16. im 17. Jahrhundert. In Arnd Friedrich, Fritz Heinrich, Christina Vanja (Hrsg.): Das europäische Hospital am Beginn der Neuzeit. (= Hist. Schriftenreihe des LWV Hessen, Quellen und Studien, Bd. 11). Petersberg 2004, S. 79–92.

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4.2 Struktur und Funktion der Hospitäler Die aktuelle Belegung des Hospitals betrage insgesamt 130 weibliche Personen, darunter 29 »Irrende«, von denen 5 »Rasende«50 seien, die »wie natürlich« eingesperrt seien, während die »unschädlich Wahnsinnigen« frei herumgehen könnten. Er geht auf die Verpflegung der Hospitalinsassen ein, die in verschiedene Koststufen gegliedert war und verbindet diesen Aspekt mit der Diskussion der angeblich schädlichen Wirkung der »Kartoffelnahrung«, die nach den Vorstellungen des Leiters des »Tollhauses zu Waldheim«, Dr. Creting (recte: Greding51) zur Ausbreitung des Wahnsinns beitrage: »Eine seltsame Meinung, zu der ich nicht die geringste Wahrscheinlichkeit finden kann«, wie Mauvillon schreibt. Während er der differenzierten Personalstruktur der Hospitäler nur geringe Aufmerksamkeit schenkt, etwa den Aufgaben des Hospitalsvogts Fuhrhans, den er als einen »Mann von Einsichten und ausnehmender Gefälligkeit« schildert,52 oder des Küchenschreibers, dem praktisch der gesamte Versorgungsbereich der Hospitäler unterstand,53 geht er relativ ausführlich auf die schwierige finanzielle Situation der

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Bei diesen Patienten mit schwersten (auto)aggressiven Erregungszuständen ist eine retrospektive Zuordnung zu biphasischen (»manisch-depressiven«) bzw. schizophrenen Krankheitsformen nicht mehr möglich; daher wird im Folgenden der unscharfe Begriff der »Rasenden« beibehalten. Ausführliche Angaben zu Johann Ernst Greding und seiner Bedeutung als Psychiater bei Jutta Osinski, Über Vernunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklärung in der Gegenwart und im 18. Jahrhundert (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur Bd. 41). Bonn 1983, S. 79, 111; ferner M. Bondy: Johann Ernst Greding (1718–1775). A contribution to the history of modern psychiatry. In: Med. Hist. 16,3 (1972), S. 293–296. Johann Philipp Fuhrhans geb. 9. Dez. 1742 in Merxhausen, studierte Jura und war ab 1770 Advocat und Procurator, ab 1772 Samtvogt des Hospitals Merxhausen und wurde am 4.10.1782 zum Amtsvogt in Haina ernannt. Er war mit der Tochter Sophie Charlotte des Arztes Dr. Hildebrand in Wolfhagen verheiratet, mit der er ab 1784 11 Kinder hatte. Am 3. März 1801 ist er »nach einem peinlichen Krankenlager« verstorben (Archiv LWV Best. 13 Haina Pers. 177). Die Position des Küchenmeisters (in Haina; in Merxhausen aufgeteilt auf Küchen- und Gegenschreiber) stellte die personale Nahtstelle der Hospitalverwaltung mit der ärztlichen Versorgung dar. Der Küchenmeister hatte regelmäßig die Kranken aufzusuchen und ihre Diät festzulegen bzw. weitergehende Behandlungen durch den Hospitalbader oder eine Visite durch den Hospitalarzt anzuordnen; außerdem sorgte er u.a. für die Zuteilung von Kleidung und Bettwerk. Aus den in den erhaltenen Küchenmeisterrechnungen dokumentierten Einkäufen geht hervor, dass die Küchenmeister sich offenbar in den Grundregeln der klassischen Diätetik auskannten, die auf der hippokratischen Krasenlehre und der Lehre von den sex res non naturales fußte; vgl. dazu Pedro Gil Sotres: Regeln für eine gesunde Lebensweise. In Mirko D. Grmek (Hrsg.): Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, S. 321–355, hier S. 313. Ausführliche Darstellung des Einflusses der antiken Diätetik in der Krankenversorgung der Hohen Hospitäler, s. Christina Vanja: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern. In: Historia Hospitalium 24 (2004–2005), S. 11–23, hier S. 18–19 mit Verweisen auf ältere Literatur.

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Hospitäler nach dem Siebenjährigen Krieg ein (allerdings ohne den Zusammenhang zwischen Kriegsfolgen und Versorgungssituation genauer zu thematisieren). Er nimmt damit eine noch akute Problematik auf, die durch die landgräflichen Visitatoren im Jahr 1773 analysiert worden war und zu einschneidenden Eingriffen in die Hospitalverwaltung wie Sparmaßnahmen durch geringere Aufnahme von Benefiziaten bzw. vermehrte Bereitstellung von käuflichen Pfründnerstellen, Personalreduktion, Verpachtung (»Admodiation«) des Küchenwesens usw. geführt hatte.54 Ein zentraler Punkt seiner Kritik betrifft das Fehlen eines Hospitalarztes: Es seien nur Feldschere mit begrenztem medizinischen Fachverstand vorhanden, und er kommt zu der Feststellung: Wie vielerley Nutzen könnte nicht ein guter Arzt, der zugleich ein guter Anatom seyn müßte, dort stiften! Er könnte nicht nur manchen Menschen von seiner Thorheit oder Raserey kuriren; er könnte auch, da ihm die Sektion der Leichen frey stehen würde, herrliche Entdeckungen machen über den Ursprung des Wahnsinns, und die Mittel ihn zu heilen.55

Bei dieser Feststellung übersieht Mauvillon allerdings, dass die Hohen Hospitäler – etwa im Gegensatz zu der sonstigen dörflich und kleinstädtischen Bevölkerung des Umlandes, ärztlich-medizinisch (unentgeltlich!) vergleichsweise gut versorgt waren. Bereits kurz nach der Gründungsphase der Hohen Hospitäler wurde die Stelle eines der Medizin-Professoren an der Universität Marburg mit einer Dotation als Arzt der Hohen Hospitäler ausgestattet; häufig war damit auch das Amt des landgräflichen Leibarztes verbunden. Überdies hatten die Hospitäler seit der zweiten

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Damals wurden für die Hospitäler in Haina und Merxhausen nach einer extrem kritischen Prüfung des gesamten Rechnungswesens durch den Hessen-Darmstädtischen Rat Stockhausen Ökonomie- und Schuldentilgungspläne ausgearbeitet, die tatsächlich zur langfristigen finanziellen Sanierung der Hospitäler führten (Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen Best. 13, Archiv Haina; StAM Best. 229 I, BI 1a, Oeconomie- und Schuldentilgungsplan 1773. Mauvillon: Samt-Hospitalien (wie Anm. 4), S. 33. Diese Vorstellung stieß bei den Hospitaliten als potientiell Betroffenen verständlicherweise auf wenig Gegenliebe. In einem Gesuch der »Casselerseits« im Hospital Haina aufgenommenen Hospitaliten vom September 1787 an den Landgrafen heißt es: »Die gnädigst emanirte Verordnung, daß alle Hospitalitten von Caßelischer Seite, welche gratis ins Hospital aufgenommen worden sind nach Marburg auf die Anatomie gebracht werden müßen, hat unter selbigen einen solchen Schrecken verbreitet, daß mancher nicht ruhig sterben kann, sondern sich bloß nicht nur bey seinem Leben, sondern Hauptsächlich am Ende seiner Tage, wo er doch auf etwas anders denken sollte, mit einer fürchterlichen Vorstellung wartet, zumal er sich noch täglich dem Vorwurf derer vom Hauß Darmstadt recipirten ausgesetzt sehen muß, daß sie hier blieben, und wir nach Marburg auf die Anatomie gebracht würden; Ongesehen nun von blödsinnigen Menschen keine Überlegung zu fordern ist, als haben wir Ew. Hochfürstl. Durchlaucht hierdurch unterthänigst bitten wollen, die gnädigste Resolution zu ertheilen, daß wir hier auf dem Gottes Acker wie vorher begraben werden dörften, denn ohne uns die Anatomie doch recht wohl bestehen möchte [....]«; StAM Best. 5 Nr. 18029 (bereits von Christina Vanja erwähnt in Vanja: Tollenkloster, Anm. 12).

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Hälfte des 16. Jahrhunderts durchgehend einen Hospitalchirurgus, der nicht nur Verletzungen und Unfallfolgen behandelte, sondern ausweislich der erhaltenen Arztrechnungen auch Hautkrankheiten, Wunden und akute und chronische innere Erkrankungen, (in Haina in Absprache mit dem Küchenmeister, der eine entsprechende Diät verordnete), d.h. es handelte sich keineswegs um medizinisch unerfahrene Quacksalber, sondern oft um außerordentlich geschickte und erfahrene Ärzte lediglich ohne die entsprechende akademische Qualifikation. Zur Zeit des Besuchs Mauvillons war der in Haina tätige Chirurg Möller der Bruder des Küchenmeisters und dokumentiert so bereits die enge Verbindung beider Tätigkeitsfelder.56 Ein akademisch gebildeter Arzt hätte hier kaum wesentlich bessere Therapieerfolge erbracht. Mauvillons Vorschlag zielt daher in eine ganz andere Richtung, nämlich die verbesserte Diagnostik der Ätiologie von Geisteskrankheiten (s.u.) durch fallorientierte Hirnforschung. Eine abschließende Tabelle, möglicherweise als unvollkommener Ersatz für eine ausführliche Darstellung der Verhältnisse im ungleich größeren und bedeutenderen Hospital Haina eingefügt, das Mauvillon 1783 aber nicht besuchen konnte, gibt noch einmal eine Übersicht über die Belegung und den Personalbestand der drei Hospitäler Haina, Hofheim und Merxhausen und erläutert knapp den Zugang bzw. die Einweisung durch einen komplizierten Abstimmungsmodus zwischen den beiden landgräflichen Linien Hessens (Hessen-Kassel und Hessen Darmstadt). Das

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Die Tätigkeit der Wundärzte in Merxhausen ist dargestellt bei Hermann Grebe: Über die Chirurgi und Wundärzte am Hospital Merxhausen (1696–1881). In Heinemeyer, Pünder: 450 Jahre Psychiatrie (Anm. 5), S. 281–296; der während Mauvillons Besuch in Merxhausen tätige Chirurg Jakob Laubinger wird vom Amtschirurgen als »in seinem metier besonders erfahren« geschildert (ebd. S. 287). Als er nach zwölfjähriger Tätigkeit 1788 stirbt, wird nach einem langwierigen Auswahlverfahren sein Sohn Peter Adolf Laubinger sein Nachfolger. Nach dessen frühen Tode (1797) wird dann der im benachbarten Elben tätige Arzt Dr. Georg Schmidt zum Hospitalarzt in Merxhausen bestellt (ebd. S. 288). Inwieweit Mauvillons Argumentation für einen studierten Arzt dafür herangezogen werden kann, ist fraglich. Das relativ hohe Niveau der Chirurgenausbildung, das neben Kenntnissen in der Anatomie die Operations- und Verbandlehre (inclusive Amputationslehre), Grundkenntnisse der Inneren Medizin (Semiotik, Nosologie) und Therapie (insbesondere der Verordnung und Herstellung von Arzneimitteln wie Tees, Pflaster, Umschläge; Verwendung von Simplicia, Composita usw. umfasste, hätte Mauvillon von der Ausbildung der Regimentschirurgen allein in der Anatomie bei Soemmerring in Kassel bekannt sein müssen; vgl. Sigrid Oehler-Klein: Soemmerrings Werk aus seiner Kasseler Zeit. In M. Wenzel (Hrsg.): Soemmerring in Kassel (Anm. 22), S. 143–187, hier S. 144. Ausführliche Darstellung der Chirurgen-Ausbildung im 18. Jahrhundert s. Georg Harig: Chirurgische Ausbildung im 18. Jahrhundert (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Heft 57). Husum 1990, darin z.B. Georg Harig: Aspekte der chirurgischen Ausbildung in Berlin, S. 35–58, hier S. 48–49. In Hessen-Kassel war die Chirurgenausbildung durch die Medizinalordnung von Landgraf Moritz dem Gelehrten seit 1616 eindeutig kodifiziert.

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enorme Konfliktpotential, das sich dahinter verbarg und das er in seinem Brief an Goeckingk (s.o.) vorsichtig andeutete, kommt nicht im Entferntesten zur Sprache.57 4.3 Medizinische Probleme Die Lebensbedingungen der »Rasenden«, insbesondere ihre Unterbringung, ihre Nacktheit und »Unempfindlichkeit« gegen Kälte bzw. ihre fehlende Schamhaftigkeit, die Ätiologie der Geisteskrankheiten und die Heilungschancen sind neben der bereits angeführten Kritik fehlender medizinischer Versorgung durch einen Arzt die wesentlichen medizinischen Aspekte, die in lockerer Verknüpfung thematisiert werden. Einen Zusammenhang zwischen der Unterbringung der »Rasenden« in Merxhausen, wie er sie noch vor sieben Jahren bei einem Besuch gefunden hatte, die aber jetzt geändert worden war, und in Haina, das er bereits vor 20 Jahren besucht hatte, sieht er kritisch: Ich fand aber, als ich vor einigen Jahren in Marxhausen war; dass es hier, tief in die Mauer hineingehende Löcher, (die gar kein Licht hatten) und dabey so niedrig waren, dass die Menschen nicht aufrecht darin stehen konnten. Sie sehen völlig so aus, wie etwas geräumige Gänseställe; oder vielmehr, dass ich es recht sage, keine Beschreibung kann einen angemessenen Begriff von diesen Löchern geben. Der klügste Mensch in so einem Loch eingesperrt, hätte müssen innerhalb 24 Stunden toll werden; wie vielmehr war, für eine darinn eingesperrte rasende Person, alle Hoffnung dahin, jemals zu genesen. Dieß ist geändert worden; die Rasenden sind nun in Behältern, worinn sie sowohl stehen als liegen können, und wo sie das Tageslicht erblicken. 58

Die hier angedeutete Auffassung, dass die körperliche Verfassung einen wesentlichen Einfluss auf die Geisteskrankheit hat, bzw. dass körperliche Ursachen Geisteskrankheiten bedingen können, kommt immer wieder zur Sprache und kulminiert in der Aussage, »daß man viel zu geneigt ist, moralische Ursachen, als die einzigen oder wenigstens Hauptquellen vom Wahnsinn anzusehen. Sie sind vermuthlich nur die Veranlassung dazu, und die körperliche Beschaffenheit die Grundursache, die durch jene nur entwickelt wird.«59 Dass die schreckliche Unterbringungsform in den »Mauerlöchern« aber auch schwerste körperliche Deformationen mit sich bringt, vermutet er allenfalls: In jenen Löchern ereignete sich ein Phänomen, von dem ich nicht weiß, in wie ferne es nicht einigermaaßen mit der Krankheit selbst zusammenhängt. Die beständig huckende

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Nach dem Todes des Stifters, Landgraf Philipp von Hessen (1567), wurden die vier Landeshospitäler zusammen mit der Universität (und Paedagogium) Marburg und dem Marburger Hofgericht als »Samt-Einrichtungen« von allen vier Hauptlinien seiner Söhne verwaltet. Nach Aussterben der Linien Hessen-Rheinfels und Hessen-Marburg gab es zwischen Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel ständig Auseinandersetzungen, z.B. bei der Präsentation und der Ernennung der Obervorsteher als höchster Leitungsbeamten, die auch nach dem Vertrag von 1651 zwischen beiden Linien nicht beendigt wurden. Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 32. Ebd. S. 35.

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Stellung, die diese Personen halten mussten, machte, dass sie nach etlichen Jahren so zusammen wuchsen, dass Knie und Kinn sich berührten und sie gar nicht mehr vermögend waren sich aufzurichten. So viel habe ich bemerkt, dass die huckende Stellung, diejenige, die der noch nicht empfindende Foetus im Mutterleibe hält; die Lieblingsstellung der ganz ihrer Sinnen beraubten ist. Vielleicht kömmt es von der Kälte her, weil sie gemeiniglich keine Faser von einem Kleide an ihrem Leibe dulden. Es ist also leicht möglich, dass die Gelenke nach etlichen Jahren, an jedem Orte, wo man sie hinbrächte, ihre Biegsamkeit verlören und sie in jenen Zustand sich nicht mehr aufrichten zu können, versetzt würden.60

Der Gedanke, dass das wohl eindrucksvollste Bild, das er zeichnet, ein Resultat dieser grauenvollen »Behandlung« der Geisteskranken gewesen sein könnte, scheint ihm nicht gekommen zu sein: Unter andern ziemlich merkwürdigen Gegenständen für den Beobachter, fand ich bey meiner ersten Reise nach Marxhausen ein harmloses weibliches Geschöpf, das gar keine Empfindungen und Gedanken zu haben schien, als die von ganz animalischen Bedürfnissen. Sie war im Hause unangefesselt, konnte aber nicht aufrecht stehen, sondern huckte immer, und wenn sie sich fort bewegen wollte, so geschah es durch einem dem Hüpfen eines Frosches ähnliche Bewegung.61

Zwar ist in diesem Fall nicht nachweisbar, ob die Kauerhaltung der beschriebenen Frau durch einen längeren Aufenthalt in den »Mauerlöchern« erzwungen war, oder ob sie andere Gründe hatte, tatsächlich richtig aber ist die Veränderung der Gelenkkapseln aller beteiligten Gelenke unter der chronischen Fehlhaltung, die ein Aufrichten dann nicht mehr möglich machte.

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Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 31–32. In dieser etwas vagen Beschreibung spiegelt sich das unvollkommene Verständnis vom Bau und der Funktion der Gelenke in der zeitgenössischen Anatomie wider. In dem für die Spätaufklärung maßgeblichen Anatomie-Lehrbuch, an dessen Vorbereitung Mauvillons Kollege Soemmerring zeitgleich in Kassel arbeitete, fehlt ein eigenes Kapitel über die Gelenke. Sie sind teils in der »Knochenlehre«, teils in der »Bänder- und Muskellehre« dargestellt; vgl. Samuel Thomas Soemmerring: Vom Baue des menschlichen Körpers. Knochenlehre sowie zwei Schriften zum knöchernen Schädel aus den Jahren 1826 und 1829. Reinhard Hildebrand (Bearb. Hrsg.) (= Samuel Thomas Soemmerring Werke, Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, Hrsg., Bd. I). Stuttgart Jena Lübeck Ulm 1997, S. 127 § 59; S. 413–415; sowie ebd. Band 2: Bänder- und Muskellehre, R. Hildebrand (Bearb. Hrsg.), Stuttgart usw. 1998, S. 15. Zwar ist von der »Charnier«-Funktion die Rede, aber ein Grundverständnis von der Bedeutung der Geometrie der Gelenkform auf die Gelenkmechanik war noch nicht ausgebildet, und die Gelenkkapsel als wesentliches funktionelles Element wurde noch nicht von den »Bändern« unterschieden. Die eigentliche Gelenklehre und das funktionelle Verständnis für die Bedeutung der Hilfsstrukturen für die Gelenkfunktion wurde erst durch die Untersuchungen der Brüder Weber erarbeitet: Wilhelm Weber, Eduard Weber: Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung. Göttingen 1836. Das von Mauvillon geschilderte Phänomen ist durch eine Kontraktur der Gelenkkapseln in der chronisch eingenommenen Haltung bedingt und an dem in Abb. 2 gezeigten Marburger Sammlungspräparat gut zu erkennen. Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 35.

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Hier deutet sich noch einmal das Problem der Empfindungslosigkeit im Sinne eines – medizinisch gesprochen – »Stupors/Analgesie« an, wie es auch in den Parallel-Artikeln über den ›predigenden Korbmacher‹ und den ›Ober-Rossarzt Kersting‹ als rätselhaftes Phänomen angesprochen wird. Im Falle der weiblichen Geisteskranken ist es dabei weniger die mangelhafte Ansprechbarkeit als vielmehr die offenbare Kälteunempfindlichkeit, die ausbleibende Schmerzwahrnehmung und das völlig fehlende Schamgefühl, für die Mauvillon keinen Erklärungsansatz findet. Bei der Schilderung der Erregungszustände und des Umgangs der als »Aufwärter« bezeichneten Krankenpfleger mit den Patienten rekurriert Mauvillon auf den üblichen Vergleich des Verhaltens mit dem wilder Tiere und ihre Unterordnung unter ihre »Dompteure«.62 In einer kontrastreichen Gegenüberstellung der schweren »Raserei« von fünf »Weibspersonen« mit dem Fall einer Frau, die geheilt wurde und einem Mann in Haina, der nach einer scheinbaren Heilung und Entlassung aus dem Hospital seine Frau ermordete und dann natürlich wieder eingesperrt wurde (»nur ein wenig zu spät für die arme Frau«, wie er sarkastisch-ironisch bemerkt), kommt Mauvillon wieder auf seine ätiologische Diskussion zurück, die ihn als rationalen »Somatiker« erweist.63 Ähnlich ironisch ist die folgende Bemerkung über gelegentliche Schwangerschaften der nicht-stationären Patientinnen: »denn wo schleicht sich Amor nicht hin?«64

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Ausführlich dazu Christina Vanja: Gemütskranke als Naturwesen? Pazifizierungsstrategien im Umgang mit psychisch Kranken in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. In Klaus Garber, Jutta Held, Friedhelm Jürgensmeier, Friedhelm Krüger und Ute Széll (Hrsg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 835–853, hier besonders S. 836. Die Beschreibung der Krankenwärter in Mauvillons Bericht ist oberflächlich und führt zu einem falschen Bild (s.u.); insgesamt ist die Sozialgeschichte des Pflegepersonals in der Psychiatrie nach wie vor ein Desiderat. Vgl. Hubert Kolling: »Zuverlässig, nüchtern, sauber und gewissenhaft...« Zur Entwicklung der psychiatrischen Pflege am Beispiel der Landesheilanstalt Marburg 1876 bis 1930. In Peter Sandner, Gerhard Aumüller, Christina Vanja (Hrsg.): Heilbar und nützlich. Ziele und Wege der Psychiatrie in Marburg an der Lahn. (= Hist. Schriftenreihe des LWV Hessen. Quellen und Studien Bd. 8), S.147–162; sowie Christina Vanja: Aufwärterinnen, Narrenmägde und Siechenmütter – Frauen in der Krankenpflege der Frühe Neuzeit. In: MedGG 11 (1992), S. 9–24. Zum medizinischen Verständnis von Geisteskrankheiten zur Zeit der Aufklärung s. Irmtraut Sahmland: Das medizinische Verständnis von Geisteskrankheiten und ihre Behandlung zur Zeit der Aufklärung. In: Gießener Universitätsblätter Jg. 34/35 (2001/2002), S. 93–107. Denn trotz des strengen Moralkodex, den z.B. die »Renovirte Ordnung derer Vier Hohen Sambt Hospitalien in Heßen« von 1728 festgelegt hatte, wurden immer wieder uneheliche Kinder geboren (selbst der Obervorsteher von Haller in Haina hatte einen »natürlichen« Sohn) oder es wurde öffentliche Kirchenbuße wegen »praematurum concubitum«, »fleischlicher Vermischung« oder »Hurerey« in den Protokollen der Fornikationsprozesse vermerkt: Kirchenbuch der ev. Reformierten Gemeinde Gemünden (zu der Haina gehörte) 1737–1763 und 1764–1828, Archiv der Ev. Kirche für Kurhessen und Waldeck (künftig AEKKW) in Kassel.

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Die Lebenswelt der Rasenden

Ist Mauvillon mit seiner Darstellung tatsächlich in der Lebenswelt der »Rasenden« angelangt, d.h. ist ihm eine Erfahrung der Befindlichkeit der Geisteskranken gelungen oder endet seine Reise an einem vordergründigen oder vorläufigen Punkt, an einer reinen Außensicht der »Rasenden«? Denn das vornehmliche Interesse Mauvillons an den Insassen des Hospitals galt eindeutig den Wahnsinnigen und hierbei vor allem den Rasenden.65 Die zahlreichen anderen »Gebrechlichen«, die den Großteil der Hospitalitinnen ausmachten, spielen in seinem Reisebericht keine Rolle. Aber selbst bei den Rasenden zeigt ein genauerer Blick, dass Mauvillon sehr selektiv bei seiner Beschreibung vorging. Welche Auswahl er traf, also was er für erzählenswert hielt und was nicht, und inwieweit Mauvillon in der Lebenswelt der Rasenden angekommen ist und ob dies überhaupt seine Intention war, wird im Folgenden erörtert. Der Rückgriff auf andere Quellen zur Hospitalsgeschichte von Merxhausen lässt dabei einen anderen Blick auf die Rasenden und ihre Lebenswelt zu, der in Vergleich zu Mauvillons Darstellung gesetzt wird. Mauvillon äußert sich zunächst zur Unterbringung der Rasenden. Im Vordergrund steht dabei die Situation, die er bei seinem vorherigen Besuch vorgefunden hat. Ausführlich beschreibt er die Mauerlöcher und das Phänomen der zusammengewachsenen Personen. Die Veränderungen, die hinsichtlich der Unterbringung stattgefunden haben, werden zwar lobend erwähnt, er handelt sie aber in einem Satz ab: die Rasenden hätten jetzt Behälter, in denen sie stehen könnten und das Tageslicht erblickten. Die vorgefundene Situation tritt damit hinter der Beschreibung besonders drastischer Bilder zurück. Die Darstellung der Wahnsinnigen selbst ist vor allem von Vorstellungen geprägt, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitet waren. Die Hervorhebung der Nacktheit der Rasenden, sowie die ihnen dadurch zugeschriebene Kälteunempfindlichkeit, gehört in das Standardrepertoire des Schreibens über Wahnsinnige.66 Mauvillons Position ist dabei eine naiv-moralische, d.h. er sieht die Scham über die eigene Nacktheit als Ausdruck der Schicklichkeit und des Anstands, also als Sozialisationsinstrument wie auch als kulturell bedingtes Verhaltensmuster nach einem eigenen Moralkodex an.67 Dass bei den ›Rasende‹ für beide Sichtweisen das intrapsychische Substrat fehlte oder nicht eingesetzt werden konnte, interpretierte er rein phänomenologisch als »Unempfindlichkeit« und setzte sie z.B. mit

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Zur stark selektiven Wahrnehmung nicht nur Mauvillons, sondern allgemein in Reiseberichten über die Hohen Hospitäler siehe Vanja: Clostergänge (Anm. 12) S. 28, 32f. MacDonald, Michael: Mystical Bedlam. Madness, Anxiety, and Healing in SeventeenthCentury England, Cambridge 1981, S. 130. Zum Problem der Nacktheit und der Scham siehe grundlegend Jean-Claude Bologne: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls. Weimar 2001; Agnes Heller: Theorie der Schamgefühle. Hamburg 1981, Oliver König: Nacktheit – Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990; und neuerdings Christine Pernlochner-Kügler: Körperscham und Ekel – wesentliche menschliche Gefühle. Münster 2004 (= Philosophie Bd. 51).

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der Unempfindlichkeit der Kranken gegenüber Kälte, Schmerzen, Gerüchen usw. gleich. Gleichzeitig bildete gerade die Nacktheit, oder auch das Zerstören der Kleidung, ein klares Merkmal für das Erkennen von Wahnsinn.68 Dies zeigt sich auch in den Aufnahmeakten für das Hospital Merxhausen. Pfarrer, Amtleute und Amtsphysici, die Gutachten über die um Aufnahme ins Hospital ersuchenden Personen erstellen mussten, weisen bei Wahnsinnigen häufig darauf hin, dass diese keine oder nur unzureichend Kleidung am Körper hätten.69 Mauvillon stellt sogar einen direkten Zusammenhang zwischen Nacktheit und dem Grad des Wahnsinns her, indem er über die besonders große rasende Frau schreibt, dass sie »lange nicht so stupide toll, als die andern schien, dann sie litte einige Kleidung am Leibe«.70 Nacktheit und Unempfindlichkeit gegen Kälte weisen auch in einen anderen Bereich der Darstellung von Wahnsinnigen: jener als Tiere. Auch Mauvillon spricht davon, dass die Rasenden auf Stroh »lagen oder huckten [...], wie das Vieh.«71 Die große Frau kam ihm zwar nicht so »stupide« vor wie die anderen, gleichzeitig erschien sie ihm »weit wüthender [...], und mit der Miene einer recht verbißnen Wuth«. Den Wärter, der zu ihr in den Behälter geht, vergleicht er mit einem Dompteur, der in einen Löwenkäfig geht, wie Mauvillon es in Kassel in der Menagerie gesehen hat. Dabei hat sich die Frau nach der Beschreibung von Mauvillon eigentlich gar nicht tierhaft verhalten, denn der Wärter geht zu ihr in den Behälter »als wie ich zu einem meiner vernünftigsten Bekannten ins Zimmer gehen würde.« Auch scheint sie sich insgesamt nicht besonders ausfallend oder wild verhalten zu haben. Diese Vorstellung wird erst durch die Beschreibung des brüllenden Löwen geweckt, der durch die Peitsche des Dompteurs gebändigt wird. Der Wärter nötigt die Frau zwar aufzustehen, dass er dabei Gewalt angewendet hat, wird von Mauvillon nicht erwähnt.72 Hier zeigt sich – wie bei der Unterbringung – Mauvillons Hang zur Dramatisierung der vorgefundenen Situation. Gerade die Assoziationen Wärter – Dompteur und Rasende – Tier befriedigt einen Voyeurismus, wie er noch Anfang des 18. Jahrhunderts bei Irrenhausbesuchen weit verbreitet war, die vor allem auf Unterhaltung und Belustigung ausgerichtet waren.73 Die Erregung von Mitleid, die Mau-

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MacDonald: Bedlam (Anm. 66), S. 130f. Auch aus medizinischer Sicht gehörte das Zerreißen von Kleidung und nacktes Herumgehen in der Öffentlichkeit zu den Erkennungsmerkmalen für die Manie. Siehe Joachim Hausmann: Die Syndrome »Manie« und »Melancholie« an der Wende zum 18. Jahrhundert – dargestellt an zwei zeitgenössischen Dissertationen, [Diss.] Bonn 1982, S. 47. Von gesellschaftlichen Normen abweichende Nacktheit kann auch heute noch als Zeichen für psychische Verwirrung gelten, vgl. Ruth Barcan: Nudity. A Cultural Anatomy, Oxford 2004, S. 181. Dieses Faktum wird sehr häufig in den Aufnahmereskripten vermerkt. Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 34. Ebd. Ebd. Doris Kaufmann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, 1770–1850, (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Bd. 122), Göttingen 1995, S. 118; ferner Reuchlein: Wahnsinnsthematik

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villon anfangs als Intention seines Berichts angegeben hat, tritt an dieser Stelle in den Hintergrund.74 Reuchlein hat darauf hingewiesen, dass das aufklärerische Schreiben über Wahnsinn eine dualistische Struktur hat: Mitleidenswert erscheint derjenige Wahnsinnige, mit dem eine gewisse Identifikation möglich ist, v.a. der tugendhafte und unverschuldet Unglückliche, aber nicht derjenige, mit dem man sich nicht identifizieren kann, v.a. der Lasterhafte und selbst in Schuld Geratene, der mit Verachtung betrachtet wird.75 Eine moralische Bewertung der Rasenden in diesem Sinne ist bei Mauvillon nicht zu erkennen. Dennoch bilden die einzigen beiden rasenden Frauen, die er ausführlicher beschreibt, einen deutlichen Gegensatz. Neben der großen Frau beschreibt er nämlich eine besonders hübsche.76 Die Untreue ihres Mannes habe zu ihrer Tollheit geführt. Ihr Kind sei ihr daraufhin weggenommen worden. Von diesem Kind rede sie ständig und bei diesem Thema zeigte sie sich auch von Mauvillon ansprechbar. Viel mehr als bei der großen Frau entspricht dieses Beispiel seiner anfangs gemachten Feststellung, nämlich: »Hochmuth über Verstandesfähigkeiten dürfte einen wol nicht leicht anwandeln, wenn man sieht, durch welchen kleinen Zufall man von der Seite her, in den allererbärmlichsten Zustand verfallen kann.«77 Gleichzeitig ging es Mauvillon aber auch darum zu zeigen, wozu es führen kann, seine eigenen Leidenschaften nicht unter Kontrolle zu halten. Da man immer findet, daß eine große Menge dieser Leute durch heftige Leidenschaften, Hochmuth, Liebe, Schmerz, Schrecken u.a. in den Zustand gerathen sind, so ist, glaube ich, nichts fähiger als dieser Anblick, einen vernünftigen Menschen zu bewegen, seinen eignen Leidenschaften einen Zaum anzulegen.78

Dieser Sichtweise entsprechen beide rasende Frauen, die eine erscheint als besonders wütend, der anderen wurde ihre Liebe zum Verhängnis.79 Für Mauvillon steht also die Illustration dieses grundsätzlichen Anliegens des maßvollen Vernünftigseins im Vordergrund. Die ausführliche Erzählung einzelner Fallgeschichten hält er dafür offensichtlich nicht für nötig, und das, obwohl er schreibt: »Von etlichen dieser Rasenden erzählte man mir ihre Geschichte, aber nicht von allen: theils weil man sie nicht wußte, theils auch weil das Uebel bey

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(Anm. 3), S. 59. Reuchlein weist darauf hin, dass eine gewisse Sensationslust häufig auch bei aufgeklärten Irrenhausbesuchern zu erkennen ist, ebd. (Anm. 61), S. 73. Dass gerade die tierhafte Darstellung Mitleid erregen sollte, wie Reuchlein bei der Darstellung von Wahnsinnigen v.a. bei Christian Heinrich Spieß: ›Biographien der Wahnsinnigen‹ (1795/1796) feststellt, ist an dieser Stelle bei Mauvillon nicht zu erkennen. Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 3), S. 76. Reuchlein: Wahnsinnsthematik (Anm. 3), S. 67f. u. 78. Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 33f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Auch hierbei gibt Mauvillon gängige Vorstellungen der Zeit wieder: Anke BennholtThomsen, Alfredo Guzzoni: Der »Asoziale« in der Literatur um 1800, Königstein 1979, S. 167f.

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vielen aus körperlichen Ursachen, wie eine Krankheit, kömmt.«80 Dies überrascht umso mehr, da gerade Fallgeschichten zum Ende des 18. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit bei Schreibern und Lesern erfuhren.81 Wie wenig in die Tiefe Mauvillons Darstellung der Rasenden geht, zeigt auch ein Vergleich mit den Aufnahmereskripten des Hospitals.82 Sie ermöglichen es, die Vorgeschichte der Einweisung von Hospitalitinnen zu rekonstruieren, die zeitgleich mit Mauvillons Bericht in Merxhausen untergebracht waren.83 In den Reskripten befinden sich Stellungnahmen des zuständigen Amtsarztes (Stadt- oder Landphysicus), der damit die offizielle medizinische Sichtweise als Ergänzung der Perspektive Mauvillons präsentiert. Außerdem stellten auch Pfarrer und Amtspersonen Gutachten über die jeweiligen Personen aus, in die auch Aussagen von Angehörigen aufgenommen wurden. Eine summarische Auswertung der Krankengeschichten der Hospitalitinnen, die zur Zeit von Mauvillons Besuch in Merxhausen als »Rasende« untergebracht waren, ergibt folgendes Bild.84 Während Mauvillon sozusagen nur den Endzustand der hospitalisierten Rasenden wahrnahm, offenbaren die Vorgeschichten häufig ein Entwicklungsmuster, das mit Verhaltensauffälligkeiten wie Selbstgesprächen, gestörten Sozialkontakten, Verwahrlosung und aggressiven Äußerungen oder Handlungen beginnt,85 sich zunehmend verstärkt und schließlich wegen befürchteter Gemeingefährlichkeit oder Verelendungsgefahr zur Einweisung in das Hospital, häufig mit Sicherheitsverwahrung (Ankettung) führt. Der weitere »Werdegang« im Hospital ist schwieriger nachzuvollziehen. Gelegentlich geben allerdings die Reskripte auch hierüber Auskunft, wenn sie durch spätere Nachfragen ergänzt wurden, aber auch Verwaltungsakten liefern zusätzliche Informationen. Häufig ist eine

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Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 34. Das bekannteste Beispiel für die Fallgeschichten von Wahnsinnigen ist die Sammlung von Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen. Hrsg. von Wolfgang Promies. Darmstadt 1976. Eine Auseinandersetzung mit individuellem Lebensgang, Krankheitsgeschichte und -ursachen findet auch bei anderen Autoren nicht statt. Siehe Kaufmann: Aufklärung (wie Anm. 73), S. 53 u. 118. Es war allerdings nicht möglich, die beiden von Mauvillon beschriebenen Rasenden eindeutig zu identifizieren. Auch werden elf Rasende – und damit deutlich mehr als die von Mauvillon genannte Anzahl von fünf Rasenden in der Hospitalitinnenliste des Hospitals geführt (StAM, Best. 229, Jahresrechnung 1783). Dabei ist zu bedenken, dass es sich zum Teil um periodisch Rasende handelte, die nur vorübergehend eingesperrt werden mussten, wie auch Mauvillon anmerkt. StAM, Best. 229 I, B III b, Reskr. 19.11.1965, Reskr. 1.12.1767, Reskr. 23.3.1776, Reskr. 26.10.1776, Reskr. 17.3.1778, Reskr. 15.10.1779, Reskr. 16.7.1782. Der Umfang der Reskripte variiert. Hier genannt sind nur die Reskripte, die über das eigentliche Aufnahmereskript der Landgrafen weitere Gutachten und Schreiben enthalten. Zum Umgang mit gesellschaftlichen Außenseitern s. Dietmar Sedlaczek, Thomas Lutz, Ulrike Puvogel, Ingrid Tomkawiak (Hrsg.): »minderwertig« und »asozial«. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Aussenseiter. Zürich 2005.

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Verschlimmerung des Zustandes festzustellen, Besserung ist selten und Heilung wird als große Ausnahme, auch von Mauvillon, angesehen. Mauvillon führte offenbar kaum Gespräche mit den Kranken, sondern bezog seine Informationen von den Bediensteten des Hospitals.86 Zu bedenken ist die kurze Aufenthaltsdauer während eines Hospitalsbesuchs, die eine eingehendere Beschäftigung mit einzelnen Hospitalitinnen unmöglich machte.87 In den Reskripten kommen hingegen Menschen zu Wort, die die Frauen oft schon jahrelang kannten und ihre individuelle Geschichte sowie ihre spezifischen Verhaltensweisen daher detailliert beschreiben konnten. Für die gutachtenden Ärzte war hingegen in der Regel die Befragung wesentlicher Bestandteil der Untersuchung.88 Erst auf dieser Grundlage stellten sie eine Diagnose. Die Eingeschränktheit der Diagnostik allerdings, die sich an eher oberflächlichen Merkmalen wie dem wilden Aussehen und dem starren Blick orientiert, deutet auf eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit der Geisteskrankheit und wird mit unscharfen Begriffen und akademisch verbrämten Worthülsen kaschiert. Gleichwohl ist in vielen Fällen die Empathie der Ärzte und ihre Sorgfalt im Umgang mit den Patienten eindrucksvoll. So ordnet der Physikus im Fall von Elisabeth Engelin, die vom Pfarrer als sehr aggressiv beschrieben wird, 1775 zunächst folgendes an: Da ich aber keine gewisse Kennzeichen einer Raserey /:manie:/ entdecken konnte, obschon gedachte Engelin würcklich und in großem Grade wahnwitzig ware: So riehte ich an, noch einige Zeit auf die Handlungen der Engelin Acht zu haben, damit man meherer Gewissheit erlangen könnte, ob dieselbige eine würckliche Raserey beständig oder zuweilen äußere.89

Erst ein Jahr später diagnostiziert er eine periodische Raserei, obwohl er immer noch »keine würckliche Raserey, währendem Aufenthalt [bei ihm], an dieser habe wahrnehmen können.« Die Diagnose macht er vor allem auf Grund des nun von Schultheißen und Gericht beschriebenen Verhaltens der Engelin: sie habe fast ein Kind getötet und gehe außerdem achtlos mit Feuer um. Eine Absonderung der Engelin von der Gesellschaft und eine »genaue Verwahrung« sind daher nach Meinung des Arztes »höchst nöthig« und führten schließlich 1776 zu ihrer Aufnahme ins Hospital.

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Mit der »schönen Rasenden« hat er gesprochen. Mit welchen Bediensteten er geredet hat, schreibt er nicht. Mit Vogt Fuhrhans hat er sich bei seinem letzten Besuch unterhalten. Wahrscheinlich stammen zumindest einige Informationen vom Aufwärter, der ihn zu den Rasenden geführt hat. Bennholt-Thomsen, Guzzoni: Irrenhausbesuch (Anm. 7), S. 97. Wie lange sich Mauvillon im Hospital aufhielt, ist unklar. Da er aus Zeitmangel die geplante Reise nach Haina nicht schaffte, ist mehr als ein Tag unwahrscheinlich. Dies entspricht auch der Praxis anderer Irrenhausbesucher, deren Aufenthalt meist nur einige Stunden dauerte. Ausführlich dazu s. Irmtraut Sahmland: »Welches ich hiermit auf begehren Pflichtmäßig attestiren sollen« – Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts. In: MedGG Bd. 25, 2006, Stuttgart 2007, S. 9–58. StAM Best. 229 I, B III b, Reskr. 23.3.1776. Auch für die folgenden Zitate.

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Das »Wegschließen« ist hier nicht als sozialdisziplinierender Akt, sondern vielmehr als Maßnahme gegen die potentielle (Gemein-)Gefährlichkeit der Kranken zu sehen. Für Mauvillon wiederum spielt eine Begründung für das Einschließen von Rasenden keine Rolle, sie sind, »wie natürlich«, eingesperrt.90 Ebenso wenig Aufmerksamkeit wie den genaueren Umständen für das Eingesperrtsein schenkt Mauvillon dem täglichen Umgang mit den Rasenden. Hinsichtlich ihrer Versorgung mit Essen äußert er lediglich seine Verwunderung, dass einige der Rasenden schon über zehn Jahre so (über)lebten, und dass, obwohl sie während ihrer »wüthende[n] Periode« den Topf mit Essen in Stücke schlagen und keine Nahrung zu sich nehmen würden. Fragen der Sauberkeit spricht er ebenfalls nicht an. Der häufige Hinweis anderer Irrenhausbesucher auf den kaum erträglichen Gestank, der z.T. als Ausgangspunkt für die Darlegung der mangelnden Sauberkeit dient, fehlt bei Mauvillon. Dabei waren die hygienischen Zustände auch nach den von Mauvillon beschriebenen Verbesserungen katastrophal. Dies zeigt sich deutlich am Anfang des 19. Jahrhunderts, als von Seiten der Hospitalsverwaltung Maßnahmen ergriffen wurden, die die Sauberkeit der Unterkünfte aber auch der Hospitalitinnen selbst verbessern sollten. Diese Maßnahmen setzen zeitgleich mit der Einstellung des ersten studierten Hospitalsarztes (1803: Dr. Hildebrand) ein. In einem Bericht, der von der Visitationskommission der Hospitäler eingefordert worden war, nennt Dr. Hildebrand die Punkte, die seiner Meinung nach verbesserungswürdig sind und macht konkrete Vorschläge.91 Auch den ganz Wahnsinnigen müssten täglich Hände und Gesicht gewaschen, alle vier Wochen außerdem ihre Haare geschnitten werden, damit sich kein Ungeziefer einniste. Außerdem »müßten die Hemden öfterer gewechselt werden, die oft von oben bis unten mit Blut und Koth besudelt sind und wochenlang getragen werden müßen.« Das Stroh soll alle 2 Wochen ausgewechselt werden und jeden Tag von den Aufwärtern gelüftet werden. Zur Verbesserung der Luft sollen an den Fenstern Abzüge und Luftklappen eingebaut werden. Stärkere Kontrollen der Aufwärter/-innen sollen die Durchsetzung der Maßnahmen sichern. Deutlich zeigt sich hier ein völlig anderes Problembewusstsein in Bezug auf die hier allgemein als »Wahnsinnig« bezeichneten, als noch 20 Jahre zuvor bei Mauvillon. Die mangelnden Fähigkeiten der Wahnsinnigen, für sich und ihre Sauberkeit zu sorgen, wird nicht mehr nur als Phänomen betrachtet, sondern als Problem wahrgenommen, das der Lösung bedarf. In diesen Zusammenhang gehört auch die Nacktheit, die nicht mehr als Schamlosigkeit oder als Indiz für die Unempfindlichkeit gegen Kälte gesehen wird. Dies führt längerfristig dazu, dass die Unterkünfte der Rasenden besser beheizt werden und sie besonders reißfeste Kleidung erhalten. Mit anderen Worten, die Zustände, wie Dr. Hildebrand sie beschreibt und wie sie in ähnlicher Weise in den »Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen

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Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 35. StAM Best. 229, I, B I 1a, Pak. 4, Bericht Dr. Hildebrand, Merxhausen, 25. Juni 1806.

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Curmethode auf Geisteszerrüttungen«92 des berühmten Hallenser Mediziners und Neuroanatomen Joh. Christian Reil gegeißelt werden, haben teilweise in dieser Form bereits zur Zeit des Besuchs von Mauvillon in Merxhausen bestanden; sie werden in seinem Bericht aber keineswegs angesprochen. 5.1. Historische Einordnung und Wertung Geht man auf die Ausgangsfragestellung nach dem medizinhistorischen Quellenwert der journalistischen Darstellung und ihren intendierten philanthropischen Zielen einerseits und dem formalen Verfahren der Darstellung durch Mauvillon im Kontext der präsentierten Begleitdokumente andererseits zurück, dann zeigt sich auch hier der Befund, den Christina Vanja bei anderen Reiseberichten feststellt: Der Blick der Berichtserstatter ist von Anbeginn selektiv, ein Interesse an den bestehenden Einrichtungen und ihren Traditionen besteht nur bedingt, schließlich bleiben auch die Insassen als Subjekte unbeachtet, ja sie werden sogar tendenziell entmenschlicht. Erst die Reisenden also propagieren den »ärztlichen Blick« und die »medizinische Deutungsmacht«, die gemeinhin der Gesellschaft bzw. dem Staat und der akademischen Ärzteschaft angelastet wurden, während sich die Hospitäler traditionell als Konvente bzw. »ganze Häuser« verstanden.93

Wie diese ambivalent-reduktive Betrachtungsweise entsteht, lässt sich am Stil und der Darstellungsweise in Mauvillons Artikel exemplarisch ablesen. 5.2. Stilmittel Wenn man bedenkt, dass mit Georg Forster in Mauvillons unmittelbarer Nachbarschaft einer der bedeutendsten Reiseschriftsteller der deutschen Aufklärung wirkte,94 kann man Mauvillons Reisebeschreibung95 nur als Kümmerform ansehen, zumal sie durch die fiktionale Brieffassung96 schon umfangsmäßig auf ein Mini-

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Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803. Vanja: Clostergänge (Anm. 12), S. 39. Vergl. Rotraut Fischer: Reisen als Erfahrungskunst. Georg Forsters »Ansichten vom Niederrhein«. Die »Wahrheit« in den Bildern des Wirklichen« (= Athenäums Monographien Literaturwissenschaft Bd. 94). Frankfurt/Main 1990 bzw. Phil. Diss. Marburg 1987. Zur Bedeutung von ärztlichen Reiseberichten als Quelle s. Thomas Müller: Vergleich und Transferanalyse in der Medizingeschichte? Eine Diskussion anhand von Reiseberichten als Quelle. In: Medizinhist. Journal 39 (2004), S. 57–77. Aus der immensen Fülle zur Reiseliteratur hier nur Christian von Zimmermann (Hrsg.): Wissenschaftliches Reisen – reisende Wissenschaftler. Studien zur Professionalisierung der Reiseformen zwischen 1650 und 1800 (= Cardanus – Jahrbuch f. Wissenschaftsgeschichte Bd. 3), Heidelberg 2002, darin zum Problem der Spezialisierung der Wissenschaften Christian von Zimmermann, Vorwort, S. 13–18. Umfassend dazu Thomas Schnalke: Medizin im Brief. Der städtische Arzt des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Korrespondenz. (= Sudhoffs Archiv Beihefte 37). Stuttgart 1997.

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mum reduziert ist. Bewusst wurde hier deshalb der metaphorische Aspekt der Reisebeschreibung als die Reise in die Lebenswelt der Wahnsinnigen herausgehoben, denn von einer klassisch-apodemischen Form kann nicht die Rede sein. Das Katalogmuster, das der Apodemik zugrunde lag, wurde hier nur vordergründig in einem nicht sehr systematischen Überblick über die Lage, die ökonomische Situation, die Geschichte, die Belegungsdichte und das Personal angewendet.97 Auch erläutert Mauvillon nicht, aus welchem Grund er den wiederholten Besuch der Hospitäler vorgenommen hat: War es die übliche Neugier oder Sensationslust, hatte er einen offiziellen Auftrag, handelte es sich um einen Gelegenheitsbesuch auf einer Durchreise? Auf diese Fragen geht Mauvillon nicht ein, sondern hebt die Einrichtung nur als die Menschheit in Deutschland interessierende Sache hervor (wobei er den Beleg, nämlich die Bedeutung der Einrichtung für die Landbevölkerung, eigentlich schuldig bleibt). Allerdings spiegelt die Brieffassung den typischen Stil Mauvillons authentisch wider; dies lässt sich gut an den auszugsweise zitierten Briefstellen aus Mauvillons Korrespondenz mit Frensdorff und Goeckingk belegen. Tatsächlich unterscheidet sich der Bericht kaum vom legeren, manchmal betulichen Tonfall der Briefe Mauvillons. Letztere sind oft strukturierter, da sie die einzelnen Argumentationspunkte durchnummerieren und Schlussfolgerungen ziehen. Der Text wird in beiden Fällen häufig durch quasi-redaktionelle Bemerkungen (»Doch ich komme in das Moralisiren [...]«; »Ihnen die Geschichte dieser Klöster seit ihrer Secularisirung zu erzählen, ist gar meine Absicht nicht ...«) oder auch rhetorische Fragen (»Ists nicht so?«) unterbrochen, aufgelockert oder es wird ein neuer Erzählstrang aufgenommen. Dadurch entsteht mit dem präsumptiven Leser ein fiktiver Dialog, d.h. es wird ein Rezeptionsraster präformiert, das durch die selektive Darstellung (Konzentrierung auf die Rasenden, die nur einen geringen Teil der Hospitalitinnen ausmachten) und die mehr oder weniger emotionale Akzentuierung einzelner Punkte noch verstärkt wird. Allerdings bewirkt die Konzentrierung auf die Beschreibung der Rasenden zugleich eine Vernachlässigung der weitaus zahlreicheren übrigen Hospitalitinnen, so dass ein insgesamt verzerrtes Bild entsteht. Der Text hat demnach eine lockere, journalistische Faktur, die dem intendierten Lesepublikum angepasst erscheint; auch ist hier das intendierte ›prodesse aut delectare‹ durchaus wahrnehmbar. Dennoch bleibt die Informationsdichte durch die Fülle der angesprochenen Themen relativ hoch, auch wenn sie nicht sehr in die Tiefe geht.

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Zur Frage der Wissensvermittlung und Darstellungsweise in Reisebeschreibungen der Aufklärungszeit s. Winfried Siebers: Darstellungsstrategien empirischen Wissens in der Apodemik und im Reisebericht des 18. Jahrhunderts. In von Zimmermann (Hrsg.): Wissenschaftliches Reisen (Anm. 95), S. 29–50.

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5.3. Ebenen der Darstellung Mauvillons Darstellung ist vielschichtiger als es auf den ersten Blick scheinen mag; dabei ist der Quellenwert der verschiedenen Informationen nicht einheitlich, weil hier gesicherte Beobachtungen mit Meinungen und Intentionen verknüpft sind, die durch Bilder unterschiedlicher Intensität auch verschieden emotional gewichtet sind. Insgesamt bleibt das von Mauvillon gezeichnete Bild wegen der Beschränkung auf die Situation im vergleichsweise kleinen Hospital Merxhausen auch fragmentarisch. Im Folgenden werden etwas schematisch die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung beleuchtet. 5.4. Emotional-affektive Ebene Wie in den meisten vergleichbaren Darstellungen der Manifestation des Wahnsinns spricht auch Mauvillon von der Schrecklichkeit des »Schauspiels« das die »Unglücklichen« und »Leidenden« bieten. Er schildert einerseits die »recht verdrießliche Wuth« der einen »ungeheuer große[n] Weibsperson« die ganz »nackt auf dem Stroh lag oder »huckte[n] «, »wie das Vieh«, weist andererseits aber auch auf die »sehr hübsche« Frau hin, die »toll ward« und der man deshalb ihr Kind weggenommen habe. Er nähert sich dabei einem Topos, wie ihn der aus Haina stammende Maler J.H.W. Tischbein in Form der »Erynnien« idealtypisch als Schönheit des Schrecklichen (Vorstudie zu dem Gemälde »Orest und Iphigenie«) dargestellt hat (s. Abb. 1). Gleich eingangs relativiert Mauvillon die empathisch-positive Gefühlsbetonung der Schrecklichkeit des »Schauspiels« der Wahnsinnigen, indem er es als lehrreich etikettiert. Das emotiv stärkste Bild der Darstellung sind nicht so sehr die Rasenden, die Zwanghaften oder Depressiven, sondern das »harmlose weibliche Wesen von ganz animalischen Bedürfnissen«, das sich wegen seiner Kauerstellung nur durch eine Art froschähnlichen Hüpfens fortbewegen konnte. Auch hier erscheint die Empathie Mauvillons eher oberflächlich, wenn er zu diesem Fall einleitend schreibt »unter andern ziemlich merkwürdigen Gegenständen für den Beobachter« habe er dieses Geschöpf gefunden, »das gar keine Empfindung und Gedanken zu haben schien«. Sie sei »im Hause unangefesselt, konnte aber nicht aufrecht stehen«; wie es zu dieser Zwangshaltung gekommen ist, wird allerdings nicht erläutert. Ebenso scheint er keinen Versuch unternommen zu haben, festzustellen, ob diese Frau tatsächlich »keine Empfindung und Gedanken« gehabt hat. Die emotive Kraft der Bilder wird demnach zugunsten rationalisierender Erklärungsversuche gebrochen. Durch eine unpassende Wortwahl (›Gegenstand‹ anstelle ›Person, Frau‹) oder pejorative Assoziationen (›Vieh‹) wird die positive emotionale Qualität der Bilder stellenweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt: wenn er die großwüchsige Frau deshalb als »nicht so stupide toll« bezeichnet, weil sie »einige Kleidung am Leibe« litte und den Umgang der Wärter mit der »Rasenden« mit dem in einer ›Menagerie‹ vergleicht, den er »in den Verschlag des Löwens hinein gehen, und ihr peit-

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Abb.1: Die Erynnien von J.H.W.Tischbein (1787/88) als Abbild der Schönheit des Schrecklichen1

schen, wie wir etwa unsere Hunde peitschen« gesehen habe, »ohne daß dieß mächtige Thier es gewagt hätte, etwas anderes zu thun als furchtsam zu brüllen«.98 Diese Bedenkenlosigkeit, bestimmte Verhaltens- oder Erscheinungsweisen mit denen von Tieren in Verbindung zu bringen, erinnert an die Assoziationsmuster der frühen Physiognomiker (wie della Porta), wie sie noch bei Lavater rezipiert wurden.99 Ob man tatsächlich von ›Entmenschlichung‹ reden kann und nicht vielmehr ein epochenbedingtes Differenzierungsdefizit100 oder Assoziationsmuster vorliegt, bleibt dahingestellt.

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Mauvillon: Samt-Hospitalien (Anm. 4), S. 34. Peter Reindel: Tischbeins Entwurf zu einer physiognomischen Systematik für den Historienmaler. In Friedrich, Heinrich, Holm (Hrsg.): Tischbein (Anm. 5), S. 75–102, hier Abb. 7, S. 83. Damit werden die Grundfragen der Anthropologie angesprochen, wie sie zeitgleich umfassend von Georg Forster in Kassel bearbeitet wurden, s. Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, dort insbesondere der »Exkurs: Affe und Mensch auf der scala naturae: Zeitgenössische Differenzierungsversuche«, S. 56–73.

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5.5. Rational-kognitive Ebene Weitgehend an der historischen Überlieferung orientiert ist die Darstellung der Gründungsgeschichte der Hohen Hospitäler, ihre Belegung, die knappe Schilderung der Versorgung der Kranken und vor allem die Diskussion der ökonomischen Folgen des Siebenjährigen Krieges. Hier weiß sich Mauvillon als Fachmann: Die an militärischen Modellen orientierte Personalstruktur mit einer stark vertikalen Befehlsgewalt, die logistischen Probleme bei der Versorgung größerer Menschenmassen, die Vielschichtigkeit und damit Anfälligkeit der finanziellen Basis der Einrichtung waren ihm vertraut und werden mit knappen sicheren Strichen gezeichnet. Allerdings bietet er keine eigentliche Analyse der ökonomischen Grundlage der Hospitäler mit ihrer komplexen Versorgung durch Einnahmen aus Zins- und Zehnteinkünften, Forstnutzung, Eisenverarbeitung im Hüttenwerk, Pottascheverkauf, Zuzahlung neu aufgenommener ›Pfründner‹ usw., dem eigenen landwirtschaftlichen Betrieb und dem der zugeordneten Vogteien (Gronau, Frankfurt usw.), sondern schildert nur knapp die deletären Folgen der Verschuldung für die Versorgung der Kranken. Wenig informativ und zuverlässig sind auch Mauvillons spärliche Angaben zu dem Wärter,101 der ihn durch das Hospital führte.102 Wenn er den Umgang des Wärters mit einer Rasenden einerseits als »familiär« bezeichnet und damit die Vertrautheit zwischen beiden andeutet, andererseits aber den Vergleich mit einem Tierbändiger heranzieht, dann geht er am wahren Sachverhalt eindeutig vorbei. Insgesamt ist Mauvillons Darstellung der Wärter durch Desinteresse an ihrer Per-

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Der Begriff Wärter ist die im 18. Jh. übliche Bezeichnung (neben Aufwärter, Krankendiener) und noch wenig mit heutigen Assoziationen des Bewachens verbunden. Das Universallexikon von Zedler gibt folgende Definition: »Wärter, Wärterin, oder Krancken Wärter, und auch zuweilen Wächter genannt, Lat. Custos, heißt nach Gelegenheit eine Manns- oder Weibs-Person, welche darzu gesetzet ist daß sie z. E. auf krancke, unsinnige, schwermüthige, oder andere dergleichen Personen genaue Aufsicht haben, und vor deren Pflege und Wartung besonders besorgt seyn soll. [...]« Art. »Wärter«. In Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 52 (1747), Sp. 500f., hier Sp. 500. Die Aufwärter/-innen in Hospitälern des 18. Jahrhunderts sind bisher kaum untersucht. Grundlegend Christina Vanja: Aufwärterinnen, Narrenmägde und Siechenmütter – Frauen in der Krankenpflege der Frühen Neuzeit. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 11 (1992), S. 9–24; Ilsemarie Walter: Pflege als Beruf oder aus Nächstenliebe? Die Wärterinnen und Wärter in Österreichs Krankenhäusern im »langen 19. Jahrhundert«, Frankfurt / M. 2004. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um Johann Jost Icke, der von 1778 bis zu seinem Tod 1792 Krankendiener im Hospital war. Zuvor war er als Brauknecht (1762–1773) und Holzhauer (1774) im Dienst des Hospitals tätig (StAM, Best. 229, Jahresrechnungen 1762–1792). Nach einem Kleiderregister von 1786, das die Hospitalitinnen unterteilt nach den Aufwärtern und Aufwärterinnen nennt, denen sie unterstehen, sind die meisten Rasenden unter seiner Aufsicht (StAM, Best. 229 I, B IV, Paket 8: Verzeichnis über Bettwerk und Kleidung derer im Hospital Merxhausen befindlichen Armen. De anno 1786).

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son und ihrer Arbeit gekennzeichnet, wie er ja insgesamt den täglichen Abläufen im Umgang mit den Hospitalitinnen wenig Aufmerksamkeit schenkt. Bemerkenswert ist dieses Desinteresse vor allem, da zeitgleich unter Ärzten ein Diskurs über die bessere Ausbildung von Wartpersonal stattfand, der in engem Zusammenhang mit der Verbesserung der Versorgung von Kranken steht, die auch ein Anliegen Mauvillons sind. Kritikpunkte am Wartpersonal sind dessen nicht vorhandene Ausbildung, die schlechte Arbeitseinstellung, die oft mit ihrem niedrigen sozialen Status in Verbindung gebracht wird, sowie darauf aufbauend ihr grober Umgang mit den Kranken.103 Diese Kritikpunkte hätte Mauvillon in Merxhausen durchaus anbringen können. Die Wärter und Wärterinnen stammten meist aus dem direkten Umfeld des Hospitals, wo sie im Fall der Männer z.B. als Brauknecht tätig waren und ohne weitere Schulung eingesetzt wurden.104 Zwar weisen die Hospitalsordnung von 1728 und die Instruktionen die Aufwärter und ihre Frauen an, sorgfältig mit den Hospitalitinnen umzugehen, dennoch gab es häufig Konflikte und Dienstvergehen.105 Die oft pauschal konstatierte Kritik von Ärzten am Wartpersonal ist aber auch mit Vorsicht zu behandeln. In den Hospitalsakten bringen Bedienstete der Verwaltung auch ihre Zufriedenheit mit Aufwärtern und Aufwärterinnen zum Ausdruck und erkennen auch deren schwierige Arbeitssituation – sie wohnten direkt bei den Hospitalitinnen und waren Tag und Nacht verfügbar – an.106 Wie oben dargestellt, lässt Mauvillons Aufsatz – wie die beiden nachfolgenden in Goeckings Journal – im Hintergrund ein besonderes Interesse am Phänomen der

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Hans-Peter Schaper: Krankenwartung und Krankenpflege. Tendenzen der Verberuflichung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Sozialwissenschaftliche Studien 22). Opladen 1987, S. 19f., S. 57; zum Diskurs um eine bessere Ausbildung des Wartpersonals s. auch Horst-Peter Wolff, Adelhaid Kastner: Das Karlsruher Krankenwärterinstitut, In Horst-Peter Wolff (Hrsg.): Studien zur deutschsprachigen Geschichte der Pflege, Frankfurt/M. 2002, S. 48–61. Im Hospital Merxhausen waren in einem Gebäude jeweils zwei verheiratete Aufwärter angestellt, deren Frauen zur Mitarbeit verpflichtet waren, in einem weiteren Gebäude zwei Aufwärterinnen. Von den neun Aufwärtern, die zwischen 1760 und 1810 im Hospital angestellt waren, sind drei vorher als Brauknechte nachweisbar, ein weiterer als Gerichtsdiener (StAM, Best. 229, Jahresrechnungen 1760–1810). Hospitalsordnung 1728, § VIIff., StAM, Best. 229 I, B II a, Paket 2: Instruktion des Aufwärters Sylas Mey zum Sand, 1.3.1737; B II b, Paket 1: Instruktion des Aufwärters Balzer Butzbach, 26.8.1794. Als Beispiel für das schlechte Verhalten eines Aufwärters sei hier nur das besonders gut dokumentierte von Balthasar (Balzer) Butzbach genannt, der v.a. unter Alkoholeinfluss in den Unterkünften grölte und randalierte. StAM, Best. 229 I, B II b, Paket 1: Bericht von Vogt Wachs an Obervorsteher von Stamford, 1.9.1800. Z.B. lobt Vogt Wachs im Bericht über Balthasar Butzbach (s. Anm. 106 [hier 4]) gleichzeitig die gute Dienstversehung des Aufwärters Säumer. An anderer Stelle drückt Obervorsteher von Stamford sein Mitgefühl mit einer in Merxhausen neu eingestellten Aufwärterin aus, die vor ihm wegen der schwierigen Arbeit mit den Hospitalitinnen in Tränen ausgebrochen war. StAM, Best. 229, B IV, Paket 8: Bericht von Obervorsteher von Stamford an die Samt-Commission, 1.9.1789.

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»Unempfindlichkeit« erkennen, die sich im vorliegenden Fall an der Schamfreiheit der nackten Rasenden, der Kauerstellung der »Huckenden« und der scheinbaren Unempfindlichkeit gegenüber Kälte, Schmerzen, Gerüchen usw. konkretisiert. Dieses Interesse ist ganz offensichtlich durch den zeitgenössischen Diskurs der Hallerschen Reiz- und Sensibilitätstheorie gespeist.107 Haller hatte bekanntlich in tierexperimentellen Untersuchungen nachgewiesen, dass nicht etwa die Seele oder das Bewusstsein für die Reagibilität des Körpers, der Organe oder der Muskeln verantwortlich sind, sondern dass Irritabilität und Sensibilität per se wesentliche Eigenschaften des Lebendigen sind, bei Tieren in gleicher Weise wie beim Menschen. Die Mauvillon bewegende Frage war demnach, inwieweit die Sensibilität und Irritabilität von Geisteskranken mit den gesunden Menschen vergleichbar oder identisch sind. Mit der reinen Phänomenologie, etwa der Betrachtung des »harmlosen Wesens« mit »ganz animalischen Bedürfnissen« kommt er nicht weiter. Was also lag näher zu fordern, diese ungelöste Frage durch die Methoden klären zu lassen, die bereits Haller angewendet hatte: die der Anatomie und der Physiologie. Es ist anzunehmen, dass Mauvillon über die gleichzeitig in Soemmerrings Anatomischem Theater durchgeführten Untersuchungen der Leichen von »Schwarzen« informiert war und dass Soemmerring dadurch zum Schluss gekommen war, die von ihm untersuchten Gehirne der ›Schwarzen‹ ließen eine Abgrenzung zu tierischen, insbesondere Affengehirnen zu.108 Was lag näher, als anzunehmen, dass durch die Sektion der verstorbenen Kranken eine ähnliche Abgrenzung zwischen normal und geisteskrank möglich sei? Mauvillon bringt aber noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: den Zusammenhang zwischen Körperhaltung, Empfindungslosigkeit und Embryonalentwicklung. Er geht davon aus, dass die Kauerhaltung, wie er sie bei einigen Geisteskranken beobachtet hat, derjenigen von Embryonen entspricht (was nicht zutrifft), die »empfindungslos« seien (was ebenfalls nicht zutrifft). Dass eine solche Kauerstellung auch ganz andere Ursachen haben kann (z.B. angeborene Herzfehler, Katatonie), konnte Mauvillon noch nicht wissen; ob er den Zusammenhang der chronischen Kauerstellung mit den Gelenkveränderungen der »Huckenden« erkannt hat, muss bezweifelt werden.

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108

Ausführlich dazu Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt 2001, hier besonders S. 52–56. Breitere Diskussion des Empfindungsbegriffs der Aufklärung s. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003. (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 25), hier S. 205–211. Detaillierte Darstellung bei Gunter Mann, Franz Dumont (Hrsg.): Gehirn – Nerven – Seele. Anatomie und Physiologie im Umfeld S. Th. Soemmerrings (= SoemmerringForschungen Band III). Stuttgart, New York 1988; ferner Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin 1997, hier besonders S. 63– 77.

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Gerhard Aumüller, Natascha Noll und Irmtraut Sahmland

Abb. 2: Unmontiertes Skelett eines jungen Mannes, der in dieser Hockerstellung zur Darstellung der kontrakten Gelenkkapseln und -bänder präpariert wurde. (Präparat von Christian Heinrich Bünger, um 1811, Museum anatomicum Marburg).

Das in Abb. 2 dargestellte (männliche) Skelett stammt nach der mündlichen Überlieferung im Institut aus dem Hospital Haina,109 und wurde wahrscheinlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts angefertigt, als die Gelenklehre zum Forschungsgegenstand der Anatomie wurde; es zeigt eine besonders extreme Form (vermutlich) katatoner Stellung durch Beugung in allen großen Gelenken. Lediglich die Arme und Hände sind in Supinationshaltung an den Rumpf herangeführt und liegen den Schultern auf. Diese Stellung unterscheidet sich deutlich von der von Mauvillon als typisch embryonal angesehenen Kauerstellung. Das Krankheitsbild der Katatonie wurde erst im 19. Jahrhundert durch Kahlbaum beschrieben;110 ob es bei dem von Mauvillon dargestellten Fall vorlag, lässt sich natürlich nicht mehr feststellen. 5.6. Intentional-appellative Ebene Was waren der Zweck und das Ziel von Mauvillons Aufsatz? Die Möglichkeit, auf bequeme Weise ein attraktives Autorenhonorar zu erhalten, weitere und größere eigene Arbeiten unterzubringen oder Mitherausgeber der Zeitschrift zu werden? Das Erschließen eines neuen Arbeitsfeldes oder der Entwurf für die Erprobung seiner physiokratischen Vorstellungen und Konzepte? Der Versuch wissenschafts-

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110

K[ornelia]. Grundmann, G[erhard]. Aumüller: Das Marburger Museum Anatomicum. Geschichte und Ausstellungsgegenstände. Marburg 1992. Die Knochenpräparate sind in einem Katalog von 1912 erfasst; schriftliche Angaben zu dem Hockerskelett fehlen allerdings. Karl Ludwig Kahlbaum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Eine klinische Form psychischer Krankheit. Berlin 1874.

Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung

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historisch neues Terrain für die Medizin zu sondieren? Eigene freimaurerischphilanthropische Überzeugungen umzusetzen? Oder gab es Phänomene im Erlebnis mit den Geisteskranken, die den Verfasser belasteten oder schwer lösbar erschienen? Die oben angesprochene vielfältige Spiegelung des Projektes eines Berichts über die Hohen Hospitäler im Zusammenhang mit Mauvillons freimaurerischen Aktivitäten lässt wohl die klare Aussage zu, dass ein wesentliches Anliegen die Verbesserung der Lebenssituation der Wahnsinnigen war. Welchen deletären Einfluss die menschenunwürdige Unterbringung der Rasenden in den »Gänsestallähnlichen« Mauerlöchern auf den Wahnsinn haben musste, geht aus seiner Bemerkung hervor, selbst ein gesunder Mensch müsse unter diesen Bedingungen innerhalb von 24 Stunden wahnsinnig werden. Mauvillons Vorschläge für eine Verbesserung der Situation zielen demnach auf eine angemessene Unterbringung der Kranken mit Licht, Luft, ausreichender Bewegungsfreiheit und Versorgung, auf eine Verbesserung der »medicinalischen Pflege«, d.h. der ärztlichen Betreuung und auf eine Zurückdrängung iatrotheologischer Konzepte als Grundlage für die Behandlung. Er bewegt sich damit in den Bahnen, wie sie auch in anderen Reiseberichten in Irrenhäuser vorgezeichnet sind. Die Besonderheit der Darstellung Mauvillons liegt in der eher positiven Sichtweise der gegenwärtigen Situation, die weit von den düsteren Schilderungen massivster Repression und Disziplinierung etwa John Howards oder auch Johann Christian Reils entfernt sind.111 Georg Reuchlein hat in seiner Monographie über die Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur die philanthropische Haltung der Irrenhausbesucher näher untersucht und kommt zu dem Schluss, dass das aufgeklärt-empfindsame Mitleid im späten 18. Jahrhundert »mitnichten unbedingt, voraussetzungslos und unbegrenzt«112 ist, sondern es »liegt hier ein konsequente und in sich konsistente Haltung vor, die nach genau ausgeprägten und durchaus widerspruchsfreien Kriterien entscheidet, ob ein Wahnsinniger als ›Unglücklicher‹ oder als ›Bösewicht‹ einzustufen ist, und ob er daher Verachtung oder Mitleid verdient und erhält. Das Hauptkriterium dieser Differenzierung besteht dabei in der Moralität oder Amoralität des Leidenden.«113 Mit seiner relativ nüchternen, auf pragmatische Lösungen hin orientierten Darstellung und der expliziten Zurückweisung der moralischen Ursachen des Wahnsinns ist Mauvillon trotz aller Ambivalenz anderen zeitgenössischen Berichten konzeptionell voraus.

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Vgl. Osinski: Vernunft und Wahnsinn (Anm. 51), S. 77–78. Reuchlein: Wahnsinnsthematik (Anm. 3), S. 61. Ebd., S. 65, vgl. auch das von Reuchlein entwickelte Differenzierungsschema zwischen den verschiedenen Varianten und Extremformen, S. 68.

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5.7. Epistemisch/wissenschaftshistorische Ebene Eine wesentliche Aussage bei den ätiologischen Überlegungen Mauvillons zur Genese des Wahnsinns ist die, man sei viel zu geneigt, »moralische Ursachen als die einzigen oder wenigstens Hauptquellen vom Wahnsinn anzusehen«. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war in den Hospitälern durchaus jene christozentrischsoteriologische Sichtweise der Krankheiten des Leibes und der Seele noch virulent, wie sie während der Gründungsphase der Hospitäler dominierte.114 Aus diesem Grunde betonten auch die frühen Hospitalordnungen die Rolle des Hospitalpfarrers (dem zumeist ein Lektor, später auch ein Vorsänger zugeordnet war), der durch häufige Besuche in den Krankenstuben, durch Trostworte aus der heiligen Schrift, Beten, Katechetisieren und Spendung des Abendmahls das Seelenheil der Hospitaliten befördern sollte.115 Auch die übrigen Hospitalbeamten waren zu christlichem Lebenswandel und Frömmigkeit als Vorbilder angehalten, und selbst der Obervorsteher sah streng auf gemeinsames Beten und Gottesdienste: Beides wurde als essentieller Bestandteil der ärztlichen Versorgung angesehen.116

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Ein typisches Beispiel dieser Auffassung liefert die Seelen Ertzney/Für die gesunden vnnd Krancken/inn Todesnöthen. Durch:Vrbanum Regium. Mit viel schönen Trostschriff ten vnd einem ordentlichen Register gemehret. Nürnberg M.D.LXXI: »Leybliche Kranckheit/vnd der leibliche Todt/ist wol erschröcklich/ aber der Seelen Kranckheit vndt Todt ist das aller grausamest/So den menschen mag zustehen. Förcht man straff/kranckheit vnd sterben/vil mehr soll man die sünde/ schuld vnnd Gottes Zoren förchten? Suchet man Leybs Ertzney/ Warumb suchet man nit Ertzney der Seele: Was hülffs einen Menschen/ das er aller Welt güter hette/ vnnd tausent Jar lebete/keine kranckheit hette am Leyb/ vnnd die Seele vergifft were/ mit dem tödtlichen gebrechen der sünden/ vnd ins Teuffels gewalt vnd reich/in Gottes ungnaden lege/ Vnnd im nichts nehers were/ denn das ewige sterben/vnd verdamnuß mit leib vnnd Seele.« Urbanus Rhegius wurde als illegitimer Sohn des Hospitalpriesters Konrad Rieger 1489 in Langenargen (Bodensee) geboren, studierte in Freiburg Theologie, war u.a. Domprediger in Augsburg und wechselte 1521 zum Luthertum. Er starb 1541 als Superintendent in Celle. Seine »Seelenarznei« erschien 1529, also noch vor der Gründung der Hohen Hospitäler und erlebte insgesamt 90 Auflagen. Zur Wirkungsgeschichte des Buches s. H. C. Erik Midelfort: Madness and the Problems of Psychological History in the Sixteenth Century, in: Sixteenth Century Journal, vol. 12,1 (1981), pp. 5–12. Rhegius stand, wie Melanchthon, Landgraf Philipp von Hessen mit seiner theologisch vermittelnden Position nahe und hat damit auch die karitativ motivierte Fundierung der Hospitäler beeinflusst; vgl. Gury Schneider-Ludorff: Die Hospitalstiftung Landgraf Philipps des Großmütigen – Theologisches Programm und politische Legitimation, in Friedrich/Heinrich/Vanja (wie Anm. 5), S. 49–60. 115 Zur Rolle der Seelsorger in Haina Arnd Friedrich: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina. Pfarrer – Lektor – Vorsänger. In Heinemeyer, Pünder: 450 Jahre Psychiatrie (wie Anm. 5), S.161–183. Auf die Intensität der religiösen Unterweisung deuten auch die jährlich in größerer Stückzahl neu angeschafften Katechismen und Gesangbücher in Haina. Der Hainaer Pfarrer hatte auch im rund 40 km entfernten Merxhausen das Abendmahl zu spenden, was einmal jährlich geschah und wofür er eigens entlohnt wurde. 116 Hinweise in der Leichenpredigt auf den Obervorsteher Georg von Milchling; vgl. Johannes Fisler: Bey der trawrigen Begräbnüß / weylandt Deß Gestrengen, Edlen und Vesten /

Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung

223

Es entspricht nicht nur Mauvillons antikirchlicher Tendenz und freimaurerisch geprägter Religionsauffassung, sondern lag im Zuge der Entwicklung der Säkularisierung,117 dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einer »Welt ohne Psychiatrie«118 auch im Bereich der Geisteskrankheiten eine »Ent-Theologisierung« und damit eine deutliche Verschiebung der Auffassung von Geisteskrankheiten als ausschließlich körperlich bedingt und damit medizinisch (und nicht theologisch) relevant einsetzte. Ein zentraler Punkt ist daher für Mauvillon die ärztliche Versorgung der Hospitäler (und dokumentiert damit den Beginn der ›Medikalisierung‹) und hierbei insbesondere die Auffassung über die Bedeutung der Anatomie als Methode der Ätiologie und Pathogenese der Geisteskrankheiten in der Medizin vor der französischen Schule Bichats.119 Die medizinische Versorgungssituation in den »Hohen Hospitälern« war bis ins 18. Jahrhundert durch die personale Dissoziation medikaler Kompetenzen bzw. ärztlich-pflegerischer Funktionen gekennzeichnet, d.h. verschiedene Personen nahmen, teilweise konkurrierend und sich überschneidend Versorgungsaufgaben für die Kranken wahr. Den in Marburg residierenden Hospitalarzt ersetzten vor Ort in der Regel der Hospitalchirurgus und der Küchenmeister (Haina) bzw. Küchenschreiber (Merxhausen) , um die kranke Seele sorgte sich der Pfarrer, und auch der Bader, die Krankenwärter und selbst der Obervorsteher und der Amtsvogt griffen ein, wenn medizinische Hilfe notwendig war oder ein Genesender zur Kur nach Ems oder Wildungen, ein Augenkranker durch einen Fachmann zu behandeln oder bei Sexualdelikten eine Hebamme zu konsultieren war. Ein erster Versuch, medizinische Kompetenz stärker personal zu bündeln, war dann 1797 die Verfügung der Kasseler Räte, die Frankenberger Vogteistelle mit dem Arzt Dr. Duncker zu besetzen. So schreibt Rat Schmerfeld in Kassel in einem

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118

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Georg Milchlings von vnd zu Schönstatt [...]. Marburg 1619, s. Aumüller: Ärztliche Versorgung (Anm. 50), S. 88–90. Umfassend zur Säkularisierung der Wissenschaften Lutz Danneberg, Sandra Pott, Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Berlin–New York 2002. Bd. I–III, besonders darin Bd. I. Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Berlin, New York 2002; sowie Bd. II, Sandra Pott und Jörg Schönert: Einleitung, S. 1–17. S. Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal. Berlin 1999, S. 13. Vgl. Heinz Schott: Heilkonzepte um 1800 und ihre Anwendung in der Irrenbehandlung. In Johann Glatzel, Steffen Haas, Heinz Schott (Hrsg.): Vom Umgang mit Irren, Beiträge zur Geschichte psychiatrischer Therapeutik. Regensburg 1990, S. 17–35. Ausführliche Darstellung bei Carlos Watzka: Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa. (= Mensch und Kulturen. Beiheft zum Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte. Band 1). Köln, Weimar, Wien 2005, hier S. 20–26; zur Nomenklatur der Geisteskrankheiten in der Frühen Neuzeit allgemein s. Michael Kutzer: Anatomie des Wahnsinns. Hürtgenwald 1998; hier S. 60ff. Definitionen der Geisteskrankheiten, S. 71.

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Bericht an den Landgrafen, dass »der Hospitals Medicus Duncker zu gnädigster Rücksicht vorzüglichst qualificirt seye – Daß er denn gleichwohl zum forschenden Arzt zu klinischen Beobachtungen, sowohl zum Besten des Instituts als zur Erweiterung der Heilung und überhaupt der reichhaltigsten Stoff darbietenden SamtHospitalien«120 geeignet sei. In dieser Formulierung scheint ein Nachklang von Mauvillons Forderung nach einem eigenen Hospitalarzt mitzuschwingen. Dabei kommen Aspekte zur Sprache, wie sie im konventionellen Medikalisierungsdiskurs zur steigenden Deutungsmacht der Ärzte (der allerdings zumeist vom 19. Jahrhundert ausgeht) kaum erwähnt werden.121 Die Besonderheit der Hohen Hospitäler lag in der stark hierarchischen Struktur mit dem Obervorsteher (der immer zugleich hessen-darmstädtischer Generalmajor war), an der Spitze, d. h. er hatte quasi-militärische Befehlsgewalt. Die nächstniedrige Beamtenebene wurde durch teilweise akademisch geschulte Personen, den Pfarrer (Theologe), den Amtsvogt (Jurist) und den Küchenmeister (Vorbildung unbekannt) repräsentiert. Ein akademisch ausgebildeter Mediziner stellte damit ein Desiderat dar, der die medikalen Funktionen bündeln und im Rahmen der Entscheidungsabläufe besser koordinieren bzw. sinnvoller einsetzen konnte. Da zudem der Status der Handwerkschirurgen immer stärker eingeschränkt und durch eine verbesserte chirurgische Ausbildung der studierten Ärzte kompensiert wurde, erweiterte sich der Verantwortungs- und Handlungsspielraum der Ärzte immer mehr. Dabei wurde vorausgesetzt, dass die Stelle mit einem forschenden, zu klinischen Beobachtungen fähigen Arzt besetzt werden würde. Noch weiter geht Mauvillon, wenn er fordert, dass der Hospitalarzt zugleich ein guter Anatom sei, der durch die Verbindung klinischer Beobachtung mit autoptischer Sicherung des körperlichen Befundes zu neuen Erkenntnissen zur Entstehung der Geisteskrankheiten kommen soll. Dabei dürfte die enge räumliche Nähe Mauvillons zu dem aufstrebenden Kasseler Anatomie-Professor und Logenbruder S. Th. Soemmerring nicht ohne Bedeutung gewesen sein. Man hat es bei der Forderung nach einem eigenen Hospitalarzt demnach nicht nur mit einem Delegationsvorgang medikaler Kompetenzen und Verantwortlich-

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121

StAM Best. 5 Nr. 18072 Sammt Hospitals Vögte zu Frankenberg, Bericht von Schmerfeld von 5. April 1797. Grundlegend hierzu Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1985; Ute Frevert: Akademische Medizin und soziale Unterschichten im 19. Jahrhundert: Professionalisierungsinteressen – Zivilisationsmission – Sozialpolitik (= Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 4), Stuttgart 1985; ferner Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten: »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens, 1750–1850, Stuttgart 1993; kritisch dazu Mary Lindemann: Wie ist es eigentlich gewesen? Krankheit und Gesundheit um 1800. In Bettina Wahrig, Werner Sohn (Hrsg.): Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850 (=Wolfenbütteler Forschungen Bd. 102), Wiesbaden 2003, S. 191–207, hier S. 192; ebenso Thomas Broman: Zwischen Staat und Konsumgesellschaft: Aufklärung und die Entwicklung des deutschen Medizinalwesens im 18. Jahrhundert, ebd., S. 91–107.

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keiten und einer Etappe zunehmender Szientifizierung der Lebenswelt, sondern auch mit einer Funktionalisierung und Professionalisierung medikaler Entscheidungsabläufe zu tun. 5.8. Rezeption und Wirkungsgeschichte Mit der Forderung, die Entstehung des Wahnsinns nicht in moralischen, sondern in körperlichen Ursachen zu suchen und zur materiellen Abklärung der durch den Wahnsinn hervorgerufenen körperlichen Ursachen einen Arzt und guten Anatomen in den Hospitälern zu beschäftigen, nimmt Mauvillon einen epistemologisch wichtigen Topos der »Sattelzeit« auf, der von der theologisch fundierten karitativen Krankenversorgung weg und direkt auf die naturwissenschaftlich fundierte, empirische Medizin hinführt. Angetrieben von seinem Interesse an der ›Empfindungslosigkeit‹ als einer Ausnahmesituation in der aktuellen Sensibilitäts- und Reizlehre (in der Nachfolge v. Hallers) bietet die Darstellung des Loses der Geisteskranken bzw. Hospitäler in einem Zeitschriftenartikel die Möglichkeit, eigene freimaurerisch-philanthropische Impulse freizusetzen, dem Herausgeber der Zeitschrift einen Dienst zu erweisen und gleichzeitig die Weitsicht und Fürsorglichkeit des Herrscherhauses herauszustellen. Die schriftstellerische Routine gewährleistet dabei eine gewisse Literarizität des Textes durch geschickte Mischung verschiedener Textgenres, dramatische, metaphorische und rhetorische Stilmittel und vermittelt so den Eindruck der Direktheit und Zuverlässigkeit. Bei genauerem Hinsehen, insbesondere bei der Verwendung alternativer Informationsquellen, tritt aber auch die Begrenztheit der Wahrnehmung zu Tage. Die Beschreibung der Rasenden bleibt an der Oberfläche, die Bezugnahme zum Tier bzw. Animalischen liegt allzu nahe und die Anonymität der Präsentation des Berichts verhindert eine direkte Konsultation, Verantwortlichkeit oder Inanspruchnahme des Autors. Die im Brief an Goeckingk ausgedrückten Zweifel an der Qualität des Aufsatzes müssen nicht (nur) ein eitles Understatement gewesen sein, sondern können durchaus ein Eingeständnis der Unvollkommenheit der Darstellung sein. Dementsprechend wird der Artikel in Mauvillons Biographie als Gelegenheitsarbeit apostrophiert, die sich in die Fülle ähnlicher Artikel eingliedere, ohne direkte oder allgemein-verbindliche Konsequenzen zu haben. Dies wird jedoch dem vielschichtigen und relativ dicht gearbeiteten Text nicht vollauf gerecht. So wie Mauvillon in seiner Darstellung der hessischen Samt-Hospitäler ältere Traditionsstränge wie die bei Johannes Letzenerus dargestellten anekdotenhaften Überlieferungen (z.B. der angeblichen Episode Heinz von Lüders und der kaiserlichen Kommission) und auch mündliche Aussagen wie die Kommentare des Amtsvogts Fuhrhans aufnimmt und integriert, so wird auch Mauvillons Beschreibung in den folgenden Darstellungen der Hohen Hospitäler berücksichtigt, wie Christina Vanja gezeigt hat.122 Sie trägt, ähnlich wie der Philippstein in der Klosterkirche

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Vanja: Tollenkloster (wie Anm. 12), S. 129 u. passim. Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des gemeinsam mit Frau Prof. Dr. C. Vanja, Univ. Kassel, durchgeführten

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Gerhard Aumüller, Natascha Noll und Irmtraut Sahmland

Haina, auf lokaler Ebene zur korporativen Identifikationsbildung der »ganzen Häuser« bei. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist eine wohl vom Ende des 18. Jahrhunderts stammende handschriftliche Kopie des Aufsatzes, die den gesamten Text kalligraphisch wiedergibt und noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Haina kursierte. Auch in der umfangreichen Darstellung des Klosters Haina durch den Marburger Theologen Karl Justi ist die Kenntnis des Textes noch präsent und Mauvillon als der Verfasser bekannt. Wenn, wie gezeigt wurde, medizinisches Wissen durch Mauvillon kaum neu konstituiert wurde, so hat doch sein medizinisches Schreiben geholfen, neue Rezeptionsmuster für medizinische Sachverhalte zu formieren.

–––––––— DFG-Projekts: »Die Hessischen Hohen Hospitäler – Die Patienten- und Leitungsstruktur einer frühneuzeitlichen Versorgungseinrichtung« (Az. AU 48/22 und VA 94/2).

Mariana Saad

Medicine, Law, and Literature: Pierre Georges Cabanis’ Journal de la maladie et de la mort de Mirabeau

The works on medical matters composed by Pierre Jean George Cabanis at the end of the eighteenth century explored several literary genres. He wrote theoretical essays like Du Degré de Certitude de la Médecine, pamphlets such as the Note sur le Supplice de la Guillotine, and reports and opinions for his colleagues at the Commission des Hôpitaux de Paris or at the Cinq Cents. His most famous and important book, Rapports du physique et du moral de l’homme, is made up of twelve »mémoires« or essays first written by Cabanis to present his conception of Man to his colleagues at the Institut de France. In all these texts, the medical cases he mentions are taken from literature, the writings of the Ancients, books by other famous doctors or physicians of the time and even journals. Cabanis’s second published book, Le journal de la maladie et de la mort de Mirabeau is particularly remarkable. Cabanis wrote it in April 1791, just after the death of Mirabeau, the famous Tribun du peuple who was his patient. Published after Observations sur les Hôpitaux, a pamphlet denouncing the dangers of large hospitals, the Journal is Cabanis’s only text describing the case of a patient under his care. In itself, this is surprising enough, as Cabanis, who claimed to be a follower of Hippocrates, always emphasized the importance of case studies in the Hippocratic Corpus, but seems to have failed to provide such examples himself. The Journal is exceptional also because of the circumstances surrounding its writing. Cabanis started it when he was facing the accusation, spread by the Jacobins after the death of Mirabeau, of having hastened his patient’s end. The situation became quickly quite dangerous, and Cabanis was compelled to try to defend himself.1 The Journal is a complex object: it is a medical writing, as Cabanis discribes Mirabeau’s illness and the treatment he applied, but it is also a political and legal text as, on the one hand, the lives of Mirabeau, Cabanis and their entourage were shaped by political circumstances and, on the other, because of the accusations Cabanis had to face. In what follows, I will seek to examine to what extent the Journal is a proper report of a medical case in the Hippocratic tradition and how the political and legal circumstances influenced it and I will argue that the coherence of this text is created by the techniques of theatrical writing.

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See Cl. Lehec & J. Cazeneuve, Introduction, ›Oeuvres philosophiques de P. J. G. Cabanis‹, Paris, P.U.F., 1956, tome I.

Mariana Saad

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I.

A medical text

a)

The journal as genre

In the very first pages, Cabanis adresses his readers, explaining why he decided to write the Journal. He then makes the following statement: Pardonnez les détails médicaux où j’entrerai sur la maladie qui vient de ravir à l’humanité l’un de ses plus zélés bienfaiteurs. Quand il n’en résulteroit aucune connoissance utile pour l’art de guérir, des souffrances si funestes seroient encore intéressantes à décrire : et l’on voudroit connoître les particularités du traitement par lequel on a tenté sans succès, d’en prévenir la terminaison déplorable.2

The very rhetorical apologies with which the paragraph begins help to introduce the idea of a detailed medical text describing meticulously a particular illness through each of its stages. Cabanis introduces the idea that there might not be any scientific discovery in the Journal in order to emphasize that his purpose is to give an exact history of the last disease that killed Mirabeau, and that only. In so doing he explains the title of his book: a journal is not only a day to day collection of private events but also a very specific medical genre. The importance given to casebooks is one of the major aspects of what I shall call the Hippocratic revival of the 18th century, especially among the vitalists. The vitalist doctors strongly recommended the study of Hippocrates, and always stressed the importance of the descriptions of diseases contained in Epidemics and On Airs, Waters, Localities, neglecting the other books of the Hippocratic Corpus. Thomas Sydenham, the late 17th-century »English Hippocrates« was seminal in the development of this new interest in Hippocrates as an observer and a historian of diseases. His views were popularized in Europe by Boerhaave, the most famous and influential 18th-century professor of medical matters, who praised Hippocrates and Sydenham as the two main medical authors in his lectures published in 1707.3 Sydenham is one of the rare medical writers whose works Cabanis praises in one of his last books, Révolutions et réforme de la médecine. He shows special enthusiasm for his observations of acute diseases and presents him as a follower of Hippocrates. He repeats several times that Sydenham was above all an observer and makes it very clear that his importance in the history of medicine originated in his observation skills. In Cabanis’s first book, Observations sur les Hôpitaux, published in 1790, a year before Mirabeau’s death, he strongly recommends keep-

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3

Pierre Jean Georges Cabanis: ›Journal de la maladie et de la mort de Mirabeau‹. In: Du Degré de certitude de la médecine, reprint de l’édition de 1803, Slatkine – Editions de la Cité des Sciences, Paris, Genève, 1989, S. 232. On this subject see: Jackie Pigeaud: Aux portes de la psychiatrie, Pinel, l’ancien et le moderne, Paris, Aubier, 2001, S. 26–40; Andrew Cunningham: Medicine to calm the mind. Boerhaave's medical system and why it was adopted in Edinburgh. In: The Medical Enlightenment of the 18th century. A. Cunningham & Roger French, editors, Cambridge University Press, 1990; Reinventing Hippocrates. David Cantor editor, Ashgate, 2002.

Medicine, Law and Literature

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ing a diary where the details of a patient’s illness and the different treatments applied are noted. To improve the running of the hospitals, he suggests several reforms, one he particularly insists upon being: »exiger (des médecins) qu’ils fassent des journaux détaillés de leurs traitemens«.4 This importance given to casebooks is closely related to his position as a vitalist and an admirer of Hippocrates. In Observations, he states that the model of the medical diary has been given once and for all by Hippocrates: »[...] la manière de faire ces journaux est très simple: Hippocrate nous en a laissé le modèle dans les épidémies.«5 Hippocrates, says Cabanis, is without equal: he is a »grand peintre«, whose writings are immortal, whatever weaknesses one may find in his theory. In addition to following Sydenham here, Cabanis also says what he repeated later in Révolutions et réforme de la médecine. Hippocratic doctors understand the need for patient, cautious and meticulous observations. This interpretation of Hippocrates has a direct and important consequence for the practice of medicine: observation is now the most important of a doctor’s skills.6 b)

Observation and Diagnosis

Mirabeau called upon Cabanis after an ophthalmic crisis he suffered during the spring of 1790. However, the Journal goes back much earlier to July 1789 and even to Mirabeau’s youth. In Observation sur les hôpitaux, Cabanis states that a proper casebook must contain a report on the treatments and their effects, a narrative of the patient’s past illnesses, with the indication of his/her age, temperament, country, profession, tastes and habits as well as an account of the atmospheric conditions and their consequences on the body, a table of the diseases that appeared that year, a description of each specific illness and its evolution. The importance given to external and internal circumstances follows the principles of Epidemics and On Airs, Waters, Localities, and has to be understood against the background of the Hippocratic revival already mentioned. Tables giving the atmospheric conditions day by day were introduced at the end of the 1750s in the French Journal de médecine. At the end of the 17th century, the famous Glisson had created other tables divided into six columns: one contained the information on sex, age, temperament, occupation, regimen, the second on the days of the illness, the third on the symptoms, the fourth on the days of the month, the fifth on the therapeutics, and the sixth on the end of the disease.7 In her book on the history of vitalism in France in the 18th century, Roselyne Rey mentions that the ambition of

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5 6 7

Pierre Jean Georges Cabanis: Observations sur les hôpitaux. In: Du Degré de certitude de la médecine. reprint de l’édition de 1803. Slatkine – Editions de la Cité des Sciences. Paris, Genève, 1989, S. 198. Cabanis: Observations (Anm. 4), S. 204. Ebd., S. 179. On this see: Roselyne Rey: Naissance et développement du vitalisme en France de la deuxième moitié du XVIIIe siècle à la fin du Premier Empire. Oxford, 2000, and especially S. 305.

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another famous doctor, Ménuret was to merge the two kinds of tables, which would have enabled him to establish correlations between the climate, the specific characters of each patient and the course of the illness. It is not surprising then that Cabanis takes the time to recall the climatic conditions of the years 1789, 1790 and 1791, as well as the physical circumstances of the everyday life of the representatives. He then indicates that the windows of the new building of the Assemblée Nationale in Paris had to be kept shut in winter and that this affected the stomachs and the eyes of the deputies and the public. After recounting the general context of Mirabeau’s life, he comes to the latter’s first visit as his patient. He shows he was very keen on getting as much information as possible on the previous illnesses of his new patient, and on his general regimen. He collects the details from Mirabeau himself and from his friends, especially Volney whose name is one of the rare ones he mentions: »la santé de Mirabeau parut alors se dégrader au point d’inquiéter ses amis. Volney m’en parla plusieurs fois avec un vif intérêt«.8 And Cabanis adds: »Le malade commença par me faire succinctement l’histoire physiologique de sa vie«.9 Cabanis’s intention is first to identify Mirabeau’s temperament: »On voit clairement qu’il existait une humeur sans caractère bien déterminé, humeur que l’action de la vie tendait à chasser du corps, et qui cherchait à s’échapper par différents émonctoires.«10 This very first analysis of the state of the patient is clearly vitalistic. Like all vitalists, Cabanis refers to »l’action de la vie«, an innate faculty of movement to explain the functions of the human body and the way the organs work. The mention of the humor the body tries to get rid of makes this passage very important, for two reasons: firstly, because the idea we find behind this remark is that the humor is a surplus which supposes the Hippocratic affirmation that health demands balance; and secondly because it shows the survival of the humoral theory alongside the general acceptance of Harvey’s circulation theory. We already find here the theories of health and disease that Cabanis will develop later in the Rapports, for example. It is thus clear that the medical descriptions of the Journal are set in a strong ideological framework. Following his own advice, Cabanis then comes to a detailed account of the symptoms, indicating the time of the observation, and providing details on the treatments and the effects of the remedies. After obtaining a general picture of the habits governing Mirabeau’s life and of his health, Cabanis observes the patient: »Voici maintenant ce que j’apperçus, soit au premier coup-d’oeil, et d’après les réponses qui furent faites à mes questions; soit à la suite de quelques essais de remèdes, et de plusieurs examens réfléchis.«11 The mention to the »coup d’oeil« is a reference to the »clearsighted eye« that characterizes the good medical doctor in the Hippocratic corpus. According to the

–––––––— 8 9 10 11

Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 237f. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 242.

Medicine, Law and Literature

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Hippocratic model the clinic, or the education at the bedside of the patient, is an education of the eye of the physician-to-be. The physician is he whose »clearsighted eye« discovers parallels between the many symptoms and circumstances. The procedure Cabanis describes here is the one he was to follow throughout Mirabeau’s illness. When Mirabeau gets worse and Cabanis is urgently called to his patient’s bedside, he follows that pattern to report his impressions and actions.12 He observes with his »naked eye« several symptoms and analyses them, referring to his experience. According to what he sees and to what he knows of the circumstances of the illness (the entourage had already told him that Mirabeau was unwell), he decides on a medical treatment (bloodletting) observes what the results of the treatment are and introduces new drugs »en route«, according to the evolution of the state of the patient. He is also very keen on keeping a chronology of Mirabeau’s final illness. This chronology becomes more and more precise as the illness follows its course. Cabanis first indicates the season of the year, then the month. There is a new crisis »vers les derniers jours d’octobre, ou vers les premiers de novembre«13 which is still a little vague; a passage on the general condition of Mirabeau during that winter, and then comes the very short period of the final crisis and of his death when Cabanis writes down the date and later, the hour or moment of the day.14 c)

Remedies and Treatments

Cabanis describes in a few sentences the remedies he used during the three crisis in the summer and autumn of 1790 and the winter of 1791, and that are giving good results (»Ce mieux si marqué, dura pendant toute la fin de l’été et dans le commencement de l’automne«,15 »Le malade continuait à se trouver beaucoup mieux«16). As we have seen, the account of the final crisis is very detailed and Cabanis indicates all the decisions he takes at each stage: bloodletting, blistering and sinapisms [poultices of mustard-seed] when he arrives at Mirabeau’s bedside

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15 16

Journal (Anm. 2), S. 270. Ebd., S. 246. Vgl. in Cabanis: Journal (Anm. 2): »dans la nuit du samedi au dimanche 27 mars« S. 256, »le lendemain [dès lors il se sentit frappé à mort«, S. 257], »le lundi« S. 259, »vers les onze heures [du soir]« S. 267, »il n’était pas tout à fait une heure [du matin] S. 270, »Dans tout le courant de la journée« S. 273, »Le soir du mardi« S. 274, »En rentrant [le soir du mardi], je ne le trouvais pas aussi bien« S. 275, »Le jour commençait à poindre [...] Nous étions au mercredi« S. 276 , »La soirée fut bonne« S. 279, »Avant que je me retirasse dans ma chambre« id, »Le mercredi soir, vers les onze heures« S. 284, »A minuit«, S. 285, »Le jour venait de poindre« ebd., »A dater du jeudi matin« S. 289, »je m’aperçus le vendredi matin«, S. 295, »six heures après l’application des vésicatoires« S. 302, »Le malade fut bien toute la soirée« ebd., »Aussitôt que le jour parut« S. 307, »son agonie fut calme. Mais vers les huit heures [...] « S. 310, »il expira dans nos bras, vers les huit heures et demie« S. 312. Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 246. Ebd., S. 247.

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in the early hours of Tuesday 28th, hot drinks and camphor during the following day, more of the same kind of remedies on Wednesday, with some »bouillon« and a glass of wine in the evening, leeches and blistering on Thursday morning, with some musc to make the patient sweat. But Thursday is also the day when Cabanis loses all hope; he knows there is no chance that Mirabeau will get better and that he is going to die, but nevertheless he continues to try new ways to relieve the pain. With the mention of Mirabeau’s inevitable death, the rhythm of the story changes. Cabanis introduces a long digression (5 pages in the 1803 edition) where he gives many details about the friends and family members Mirabeau chose to see during this final illness and about his own desire to discuss his patient’s disease with other colleagues and ask for their advice. He had already said that Mirabeau saw another doctor »vers les derniers jours d’octobre, ou vers les premiers de novembre«17 of 1790, explaining that they could not wait for him to come to Paris from Auteuil where he was living. The same problem arose at the beginning of Mirabeau’s last crisis, when the patient was treated by the doctor Lachèze who could come quickly. Cabanis is keen to emphasize his friendship with Lachèze whom he calls »mon confrère et mon ami particulier«. He also acknowleges the efficient treatment applied by his other colleague in the autumn of 1790. However, from the moment Cabanis arrives at the bedside of his patient in the early hours of Tuesday, no other doctor seems to be treating Mirabeau. Only a surgeon, M. Delarue, and an apothecary appear to be at Mirabeau’s house from Tuesday to Thursday and help Cabanis. But on Thursday, he decides to call two famous doctors for help: M. Antoine Petit, is called in at the instance of Mirabeau’s sister, Madame du Saillant, and of M. de la Mark, an intimate friend, who both think it is worth having another opinion, but he is also Cabanis’s own choice; and M. Jeanroi is recommended by M. Delarue. Cabanis insists that he couldn’t entirely trust his own judgment, as he was too attached to his patient, and that he had wanted to consult other colleagues earlier. But Mirabeau, he says, was reluctant to see another doctor and indeed became angry when he talked about it. The patient reacts again very angrily when he is told that M. Jeanroi has come to examine him and refuses to see M. Petit two hours later. Cabanis reports the dialogue between himself and his patient that Thursday and on Friday morning when he tries again to persuade Mirabeau to receive M. Petit. In both conversations Mirabeau appears to have complete confidence in Cabanis’s talent: on Thursday he says »si je reviens à la vie, vous en aurez tout le mérite ; je veux que vous en ayez toute la gloire«,18 and the following day: »vous savez bien que je n’ai de confiance qu’en vous«.19 Eventually, Mirabeau allows M. Petit’s visit and Cabanis makes it clear that it is the result of his urgent demands.

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Journal (Anm. 2), S. 246. Ebd., S. 292. Ebd., S. 297.

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This episode gives very important new information on the way Cabanis envisages his task. By exposing his doubts and consulting well established colleagues, he follows the usual habit of his profession. Philippe Reider and Vincent Barras, in »Ecrire sa maladie au siècle des Lumières« have studied the importance of what they call the »gestion collective des troubles de santé« during this period.20 Patients are treated by several doctors at the same time, all giving their point of view and discussing each other’s diagnostic and advice. Letters are written to famous doctors, describing symptoms and remedies already used, in the hope of a new diagnosis. The need to consult well-known colleagues that Cabanis says he so urgently felt is linked to the theme of the uncertainty of medicine and of diagnosis that arise many times in the Journal. Cabanis says that he misinterpreted the symptoms three times,21 once because they could be related to another illness and that the treatment applied seemed to show he was right, the two other times because he was trying to persuade himself that Mirabeau’s illness was not that serious and that he could save the nation’s hero and his dear friend. Later, he explains that he was so keen on having M. Petit’s opinion because his own emotions were too strong and he wasn’t able to think properly any more (»Je voulais absolument qu’il vit le malade. J’étais trop ému pour être bien sûr de mon propre jugement«22). The difficulty of medical observation is a very important theme of Cabanis’s later writings, and was already the subject of a book he had finished writing at the time of Mirabeau’s illness but would only publish in 1803: Du Degré de certitude de la médecine. In it he develops from a theoretical point of view what the Journal illustrates: there are two main obstacles to a good diagnosis: the apparent ambivalence of symptoms and a strong imagination that misleads the judgment.23 Reider and Barras showed in the article cited above that it was also usual for the patient to be surrounded by his family and friends who gave their opinion and discussed the doctors’ treatments. The agitation and anxiety at the door of Mirabeau’s bedroom is thus very normal. Cabanis also comments that he receives many letters from »everywhere« suggesting new remedies. What is less common is the attitude of the patient who refuses to see other doctors or to listen to their opinion. Cabanis stresses several times Mirabeau’s trust in his opinion, his indifference towards the much more famous Jeanroi and Petit only emphasizing his strong belief in Cabanis’s qualities. This, obviously, reinforces Cabanis’s position and is part of his defense against the Jacobins’ accusations. Moreover, he establishes a clear distinction between the opinion of the public and that of the best physicians. Every time he mentions public opinion, Cabanis stresses its ignorance on medical

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21 22 23

Philip Reider, Vincent Barras: »Ecrire sa maladie au siècle des Lumières«. In: La médecine des Lumières: Tout autour de Tissot, sous la direction de Vincent Barras et Micheline Louis-Courvoisier. Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 251, 274, 279. Ebd., S. 296. Cabanis: Du Degré de certitude de la médecine (Anm. 2), S. 145–146.

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matters and describes it as driven by its emotions: every one wants to give his or her opinion, every one thinks he or she knows best, or has the best quinquina in town. The public is unable to judge him. In contrast, the highly regarded Antoine Petit approves his decisions and has no better treatment to suggest.

II. A political and legal text a)

Political circumstances

The political events that shape the life of the Nation and give its rhythms to the Revolution are the framework of the events narrated in the Journal. Cabanis stresses several times that Mirabeau’s last days are the only subject of his book. His first sentence is: »En prenant la plume pour décrire les derniers moments de l’homme extraordinaire que la France entière pleure avec moi (...)«.24 Later, he insists: »Aujourd’hui, je me borne à tracer l’esquisse de ses dernières journées; et je ne dois point me permettre de sortir des faits qu’elles présentent.«25 It is true that most of the Journal is about March and the very first days of April 1791. However, no matter what he declares, Cabanis goes beyond the limits he set for himself and mentions previous events in great detail. The Journal opens with the circumstances of its writing and the story begins with a precise account of Cabanis’s first meeting with Mirabeau on July 15th 1789. Cabanis explains he had witnessed the events that led to the fall of the Bastille the day before. He rushed to Versailles to get information on the King’s reaction and to be closer to his friends who, he says, could be in danger. After praising Louis XVI’s wisdom, he says that Mirabeau had seen him talking to »five or six of his colleagues« at the Assemblée,26 and drops the names of his intimate friends present there: Garat le jeune and Volney who were already well-known authors at the time. Cabanis explains then that Mirabeau was interested in talking to him because he already knew his literary works. Through the mention of the names of Garat and Volney and of his intimacy with the two men, as well as the allusion to his writings, Cabanis recalls that he is a member of Madame Helvétius’s Salon, one of the most famous of its time and also one that strongly supported the ideas of reform championed by Cabanis’s friends. Cabanis’s hurry to get to the Assemblée just after the most significant event of the Revolution and his friendship with Garat and Volney provides proof of his commitment to the Revolution. This is merely implied, as Cabanis never addresses the Jacobins’ accusations directly. However, because the episode of July 15th is so remote from Mirabeau’s last illness, it is clear that it was recalled for the sole purpose of providing strong evidence of Cabanis’s genuine revolutionary convictions, and as an essential part of his defence.

–––––––— 24 25 26

Cabanis: Du Degré de certitude de la médecine (Anm. 2), S. 231. Ebd., S. 265. Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 234.

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b)

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Mirabeau’s political testament

At the time of his death, Mirabeau was France’s most popular politician. The Jacobins’ accusations against Cabanis were a way for them to gain popularity. Cabanis alludes to the accusations he has to face, but he never mentions the Jacobins by name. His tactic is to accumulate proofs of Mirabeau’s trust and to insist on their close friendship. He emphasizes that Mirabeau is the one who uses the word friendship to describe their relationship. After the evocation of their first encounter on July 15th, he comments that Mirabeau retraces »our friendship« to that moment. He also quotes the many times when Mirabeau called him a friend or »my friend«. The most important proof of Mirabeau’s complete trust in Cabanis is that he chooses to confide his political testament to his doctor and his close friend, M. de La Marck, only. When Cabanis reports the scene he is careful to stress the secrecy of Mirabeau’s last political confidences: Alors divisant en trois points ce qu’il avait à nous dire, il nous parla pendant près de trois quarts d’heure, d’abord sur ses affaires particulières; ensuite sur les personnes chères qu’il laissait après lui; enfin sur l’état des affaires publiques. Il glissa rapidement sur les premiers articles: il ne pesa que sur le dernier. Cette conversation a été précieusement recueillie, et ne sera pas perdue pour l’histoire: mais comme elle intéresse plusieurs individus, ce n’est pas le moment d’en rendre compte.27

By giving his last comments on political affairs to Cabanis and La Marck, Mirabeau showed his trust and he also gave them considerable power. The allusion to »individuals still alive« and concerned by his confidences emphasizes the importance of what has been said, as well as the need for keeping it secret. Cabanis is well aware of his exceptional position as the political confidant of the Tribun du peuple and the witness of Mirabeau’s last days. At a time when so many people were trying to claim a part of Mirabeau’s moral legacy, he can indicate which relatives Mirabeau received during this final crisis, and he knows what exactly happened when politicians and friends called. He explains in detail how, during his final illness, Mirabeau became very attached to M. de La Marck, and he describes the different stages of this friendship from mutual esteem, based on political opinions and actions, to great affection. He is also very precise about the fact that Mirabeau wanted to see only his sister and her children, and rejected the feigned attentions of the other members of his family who had always fought against his opinions. Cabanis shows twice he wants to scotch rumours that have strong political implications. He says a member of the Société des amis de la Constitution refused to come and inquire about Mirabeau’s health with Barnave; he is falsely discreet in not giving directly his name, but he lets the public guess it through Mirabeau’s comment when he is given the news. Cabanis also emphasizes his patient’s moral qualities by describing his shock and pain when he is told that he has been abandoned by a man whose health he enquired regularly about when

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Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 309.

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he was injured. Cabanis is equally eager to give a precise and faithful account of the visit by the bishop of Lyon and Talleyrand, the former bishop of Autun: M. l’évêque de Lyon et M. l’ancien évêque d’Autun, ses amis, le virent ce jour-là même, l’un le matin, l’autre le soir.Le public connaît le résultat de sa conversation avec le dernier. Celle qu’il eut avec l’évêque de Lyon fut courte. Quoi qu’en aient dit quelques journaux, ce sont les seuls ecclésiastiques qu’il ait reçus pendant sa maladie.28

Cabanis confirms both that Talleyrand and the bishop of Lyon are his patient’s friends and Talleyrand’s version of his last conversation with Mirabeau. He also refutes the allegations of »quelques journaux« that made Mirabeau out to be a pious catholic. He clearly states that the two clergymen who visited him were received by Mirabeau because they were his friends and not because they were members of the Church. By doing so, Cabanis is defending a very important part of Mirabeau’s political legacy, namely his radical position in favour of the Civil Constitution of the Clergy. His angry speeches at the Assemblée against the clerical opposition to the Constitution, in the early months of 1791, were already amongst his most famous. It is important to note here that Antoine-Adrien Lamourette, the bishop of Lyon, was a constitutional bishop (he agreed with the Civil Constitution) and Talleyrand’s sympathy for the Civil Constitution was also well-known. c)

The structure: a legal demonstration

The Journal is structured according to the rules of forensic discourse and divided into two parts: the long flashback that precedes the story of Mirabeau’s last illness, and the stroke of March the 27th and its consequences. This construction is clearly that of a demonstration: a statement of the case followed by proof of Cabanis’ innocence. The book begins with a very exalted passage (two paragraphs) where Cabanis exposes his strong friendship with Mirabeau and his deep sadness now that this great friend is gone. The account of Mirabeau’s health and illnesses from his youth until the night of 27th March 1791 completes the statement: Cabanis gives his diagnosis of Mirabeau’s temperament and the influence of his busy and passionate life on his health. He sets the framework for the tragic events to come and already provides important elements of the defence he will develop later. He explains that until the Revolution Mirabeau could balance intellectual activity and physical exercise. But at the Assemblée he started to work so hard that he scarcely had time even for a walk. Cabanis’ first treatment was to sweat the patient in order to restore the former situation. He insists that Mirabeau felt much better, with the result that he thought he had made the right diagnosis and had taken the right decisions. Writing after Mirabeau’s death, he now knows the disease was much more serious than that, and he then starts to justify himself. He explains twice that neither he nor any other physician could have understood the meaning of the first symptoms of Mira-

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Journal (Anm. 2), S. 306.

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beau’s heart problem. He says that the patient felt oppressed several times and that he also felt pain in the upper part of his stomach, but that Mirabeau explained this was usual in his family, many of whose members suffered from asthma. Cabanis adds that he paid little attention to these feelings of anxiety as he thought they were related to the stress of political life and that he could make the symptoms disappear with the usual treatment against nervous irritation: »Je les considérais comme de simples accidents nerveux, qui n’avaient d’autre cause que l’excessive irritation du système, et que des bains et des calmants devaient dissiper«.29 As baths and purgatives did indeed make Mirabeau feel well again, he had no means of discovering he had been mistaken. In this first justification, Cabanis sticks to the events of the winter of 1790 and describes only what he witnessed and what he thought. He carries on with an incident he was not aware of at the time: Volney, he says, had just told him that Mirabeau fainted during a session at the Assemblée. As already mentioned, Volney was a doctor: Cabanis emphasized that neither Volney nor anybody else at the Assemblée thought Mirabeau was suffering from a heart attack. His lack of discernment was not the consequence of ignorance: the symptoms were simply insufficient and not clear enough: Les médecins éclairés savent combien les maladies de coeur sont obscures (...). J’aurais eu grand tort (rien n’est plus sûr) de supposer le coeur organiquement affecté, d’après les symptômes que je rapporte, et plus grand tort d’employer les remèdes auxquels cette supposition devait me conduire.30

The mention of »médecins éclairés« creates implicitly an opposition between learned physicians and less skilful ones. And it also denies the wider public any competence. This is the first occurrence of two of the main arguments Cabanis uses in the second part. In these last forty pages he alludes several times to the accusations he is facing but never names the Jacobins. He remains rather vague and only mentions »des hommes qui se mêlent de juger au hazard«, »des médecins qu’un peu plus de respect pour eux-mêmes (…) devraient rendre plus reservés dans leurs jugements«31 when he says he was criticised for bleeding his patient at the begining of the crisis. And he again evokes the same groups when he affirms he is not looking for the public’s approval as it is very often influenced by doctors he cannot trust; he only respects the opinion of those colleagues he knows to be »éclairés et droits«. Cabanis interrupts his detailed account several times to justify his therapeutic choices. To defend himself he chooses to develop two themes that converge at the very end in the passage on the dissection. One is that the opening of Mirabeau’s corpse showed him to be right. He uses it first against those who accused him of having put Mirabeau’s life in danger when he bled him: »l’ouverture du cadavre a

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Journal (Anm. 2), S. 251. Ebd., S. 252–253. Ebd., S. 271.

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fait voir si j’avais eu tort«32 he ripostes. He turns again to the same argument, at the end, when he is pressed to give the »poudres de James« to Mirabeau, a drug he is convinced will be fatal to his patient. He says he took the decision not to use the drug together with Dr Petit and comments: »l’ouverture du cadavre prouva combien nous avions raison«.33 The second recurring argument is that the ignorant public is unable to understand the complex knowledge required to cure a disease. He affirms: »je suis convaincu que le public est incapable d’apprécier le traitement d’un simple rhume«, and it is clear he is thinking of the same ignorant crowd when he mentions »quelques personnes (qui) s’étaient mis dans la tête que les poudres de James pouvaient rendre la vie à Mirabeau«.34 This means that neither the public nor many insufficiently learned doctors are able to judge him. The theme of the trial appears when Cabanis writes that he would only rely on »la conviction de ma raison et le témoignage de ma conscience«.35 The use of this forensic vocabulary presents Cabanis as the accused giving evidence and the judge who has to make a reasoned statement. When Mirabeau’s body is opened up after his death, Cabanis describes the organs and especially the heart. He indicates that several well regarded physicians attended the dissection and mentions the names of the famous M. Petit and M. Vicq-d’Azir. He then praises their »grand esprit de sagesse« which emphasizes that their conclusions did not add to the criticisms he had already to face, but on the contrary backed him up. He affirms that the dissection proved his first diagnosis to be right and stresses that his colleague Lachèze agrees with him. And he continues with the following declaration: »J’atteste avec candeur, qu’en retrouvant la même série de symptômes, je porterois encore le même jugement, et que j’emploierois les mêmes moyens de curation.«36 The use of the verb »attester« (to testify) shows that this is a legal statement and that Cabanis is responding to his judges (who are quite difficult to identify, but who correspond in fact to public opinion). The sentence repeats what he has already said: the dissection proved him right. And as the scientific quality of the witnesses who attended this dissection has already been asserted, their level of expertise guarantees the results.

III. Literature Written by Cabanis to prove his own innocence, the Journal blurs the limits between different forms of discourse. External elements are inserted throughout the book: the story of Cabanis’s first encounter with Mirabeau, accounts of his feel-

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Ebd., S. 271. Journal (Anm. 2), S. 305. 34 Ebd., S. 290, S. 304. 35 Ebd., S. 291. 36 Ebd., S. 316. 33

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ings, remarks on the crowd waiting for news outside Mirabeau’s house. In short, Cabanis introduces literature into his Hippocratic casebook. a)

Cabanis, the narrator-organizer of the story

Straightaway, at the very beginning of the book, Cabanis points to the presence of literature in the Journal: En prenant la plume pour décrire les derniers moments de l’homme extraordinaire que la France entière pleure avec moi, je n’ai pas besoin de solliciter l’indulgence publique pour le désordre d’un récit trop cruel à mon coeur.37

The word récit (story) clearly indicates that the Journal has been written afterwards and implies the organisation of the facts reported by a narrator. It already appears that Cabanis is not following the rules of the classical medical casebook which is a candid account of scientifically established facts as they happen. Oddly enough, he says his story is muddled and asks for the audience’s indulgence, when the Journal, as already shown, is divided into two parts and faithfully follows the chronology. But the mention of a lack of order in the organisation of the story has at least two functions: firstly, it justifies the long flashback at the beginning of the book, when Cabanis recollects his visit to Versailles on 15th July 1789; secondly it allows Cabanis to present himself as a narrator of extreme sensibility. Cabanis’s position is indeed complex. As the witness of Mirabeau’s last days, he is the source of the story and he is answerable for its veracity. He emphasizes his position as a witness, who tells the story retrospectively after he has lived through it, in a sentence which juxtaposes three short clauses all following the same construction using the verb voir (to see) in the same tense and ends with a fourth clause where he »testifies« (»j’atteste«) what the true nature of Mirabeau was: »Je l’ai vu de très-près; je l’ai vu assez longtemps; je l’ai vu dans toutes les situations: et j’atteste que jamais il ne fut d’être moins haineux ...«.38 But as the internal narrator, Cabanis has also the power to organise the story he is telling and to choose which events to narrate and which to forget. The reasons why he goes back to July 1789 have already been discussed. But however keen he might be to prove his intimacy with Mirabeau, he nonetheless avoids saying that he was one of his ghost writers. After Cabanis’s death, his widow published, under the title Travail sur l’éducation publique trouvé dans les papiers de Mirabeau, four discourses on the reform of education which she claimed were by her husband.39 It is today well-known that Mirabeau had a pool of collaborators who wrote his discourses and prepared his arguments. The very existence of this text makes Cabanis one of them and proves that he was close to Mirabeau before his last illness and that he was seeing him more often than he says in the Journal. Cabanis never alluded to his participation in Mirabeau’s political activities, and they are

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Journal (Anm. 2), S. 231. Ebd., S. 284. Pierre Jean Georges Cabanis: Oeuvres complètes. Bossange Frères. Tome II, Paris, 1823.

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only known through Madame Cabanis’s note on the manuscript of Travail ... indicating it is the work of her husband, and her decision to include it in the Oeuvres Complètes. It is true that Mirabeau’s popularity and prestige were ruined when his secret dealings with the king were uncovered, which might have prevented Cabanis from insisting on his relationship with him. However, this explanation does not work for at least two reasons: firstly, because Mirabeau’s collaborators always concealed their work for him from the public, and so Cabanis is acting just like another member of that group; secondly, because when the Journal was republished in 1803, Cabanis changed nothing in his praise of the »grand homme« and he even added a long footnote at the end where he emphasized that his opinion was still what it had been in 1791 and that he was convinced of Mirabeau’s genuine love of liberty.40 The renewal of his loyalty to Mirabeau’s memory at a time when the »tribun du people« was far from appearing as one of the most glorious figures of the Revolution shows the value Cabanis placed in his friendship with Mirabeau and the importance he gave to his own subjectivity in the Journal. Throughout the book, Cabanis insists on the strength of his emotions. His feelings of sorrow and melancholy are at the origin of the Journal that he started to write to releave himself of them: »ce sont des tableaux dont je ne saurais soulager mon imagination, qu’en les retraçant encore; ce sont des sentiments dont je suis oppressé, que j’ai besoin de répandre; c’est ma juste douleur dont je cherche à me nourrir.«41 Later on, as Mirabeau falls ill and it becomes obvious that his condition is very serious, one of the first things Cabanis mentions is his own anxiety. He is »plein de la plus cruelle agitation« when he is told of Mirabeau’s sufferings on Monday evening; after he reaches his patient’s bedside, in the early hours of Tuesday morning, he describes the symptoms succinctly and then states: »Mon émotion qui fut extrême, et qu’il me fut impossible de déguiser (...)«.42 As Mirabeau’s state gets worse, Cabanis explains that his ideas are so confused that he cannot trust himself any more because of the strength of his feelings. On Saturday morning, he is convinced Mirabeau is dying, and he is in such despair that he waits anxiously for Petit to give his diagnosis because he feels he is too nervous to be sure of the accuracy of his own impressions: »M. Petit devait arriver à huit heures. Je voulais absolument qu’il vît le malade. J’étais trop ému pour être sûr de mon propre jugement; et je ne voulais pas me laisser d’éternels remords.«43 It is important to note that Cabanis always mentions his anxiety and his friendship with Mirabeau simultaneously. He very often talks of his great sadness or despair just after or before referring to Mirabeau calling him his friend,44 and he

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Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 317. Ebd., S. 232. Ebd., S. 270. Ebd., S. 296. Ebd., S. 271, 274, 296, 297: »Qu’on me pardonne de citer ici ces exagérations de l’amitié«.

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opens the book with the mention of »l’amitié la plus tendre et la plus noble«. Cabanis emphasizes his attachment to Mirabeau, a feeling that made his work as a physician difficult, he says, but that also makes him a very special character, chosen by the exceptional Mirabeau at an extraordinary moment. It is also a way of giving essential information on his point of view and orientation as the internal narrator. b)

A Hero and a Tragedy

Cabanis’s insistance on his own feelings might give the impression that he is the hero of this story. However, this is not the case. The Journal is made of many paradoxes and one of them is that it follows Aristotle’s rules of tragedy as they were understood after the Renaissance. The Journal is indeed a story that arouses feelings of pity and fear with an inevitable sad ending: the death of a hero of extraordinary stature, Mirabeau. Critics have pointed out the Renaissance preference for a virtuous protagonist in tragedy, a recommendation of Aristotle that became a requisite. In the 17th and 18th centuries, while critics argued a lot over the characteristics of the genre, they never really questioned that law. Cabanis follows the conceptions of the age and emphasizes Mirabeau’s exceptional virtue. In the first sentence of the book, he already describes him as »extraordinaire«, and he develops the idea in the following sentence using several superlative expressions: Mirabeau’s life is »une vie si précieuse à la patrie«, his character is »cette réunion si rare de talents divers«, his friendship, »la plus tendre et la plus noble«. He later mentions that Mirabeau spent several nights without sleeping because he was working on some important debates.45 His last illness is closely linked to the debate on »l’affaires des mines«: feeling not very well, Mirabeau forced himself to attend the Assemblée Nationale meeting and spoke five times. Mirabeau appears so devoted to the public’s cause that he takes no care of his own health. Cabanis calls this episode Mirabeau’s swan song and affirms that from that moment his patient felt his death was imminent:46 his commitment to the Revolution has hastened his death. These exceptional moral qualities reach a higher degree in the last hours of Mirabeau’s life. Cabanis emphasizes the impression of sublime grandeur conveyed by Mirabeau’s attitude in the face of death: Jusques-là, son courage était resté dans les bornes de la fermeté, de la résignation, de la patience. A ce moment, il prit un caractère plus imposant et plus élevé. L’aspect de sa fin qu’il voyait approcher, donnait à ses pensées quelque chose de plus grave, de plus profond, de plus vaste; à ses sentiments, quelque chose de plus affectueux, de plus abandonné, de plus sublime.47

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Journal (Anm. 2), S. 240f. Ebd., S. 257: »il se sentit frappé décidément à mort«. Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 287.

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Mirabeau’s elevated moral feelings can only arouse admiration, one of the three emotions, with pity and fear, that tragedy should bring out of the public according to Aristotle. Cabanis tempers however the astonishment when he reports his discussions with his patient who wants him to hasten his death. Mirabeau has become unable to speak during his agony; he writes on a piece of paper »Dormir« but Cabanis refuses to give him the lethal dose of opium he is asking for. One might think that Mirabeau shows here a weakness that is in contradiction with the high moral traits described before. But here again Cabanis follows one of the most important requisites of tragedy: verisimilitude. The anecdote balances the heroic admiration and makes Mirabeau more believable, a hero who refuses to suffer for too long. It has been a law of the genre since Aristotle that astonishment is closely connected to the pity and fear evoked by the events depicted in the play. These two emotions are indeed everywhere in the Journal: distress characterizes both Cabanis’s reactions and those of Mirabeau’s entourage and the public at the door of the famous patient. Cabanis mentions how his anxiety develops as Mirabeau works harder and does not take his advice seriously. He repeats many times the words fear, anxiety, worry to describe his feelings.48 His distress becomes extreme during Mirabeau’s agony, and Cabanis shudders and weeps in face of the eminent death of his friend: »des sanglots que je ne pouvais plus retenir« (p. 308). Mirabeau’s friends and his close family express the same feelings. Cabanis describes a crowd of close friends who gather in Mirabeau’s house to get the latest news: »Les parents, les amis, les connaissances plus particulières de Mirabeau, remplissaient sa maison, sa cour, son jardin, où leur foule se renouvelait d’heure en heure«.49 The paradox of this mass of intimate friends and relatives shows the exceptional popularity of Mirabeau and his moral qualities as a friend it also emphasizes the gravity of this illness and its terrible political consequences. The friends and acquaintances Cabanis mentions are all politicians. The nature of the fear aroused by Mirabeau’s illness is clearly indicated in a passage about the public’s anxiety: Dès le premier jour, la maladie de Mirabeau était devenue un véritable intérêt public. le mardi soir, on accourrait déjà de tous côtés, pour savoir de ses nouvelles. L’idée qu’il avait couru le plus grand péril, commençait à faire sentir combien cette tête était précieuse.50

The perspective of Mirabeau’s death is extremely destressing because it involves the expectation of a great danger: the very future of the revolution is put at risk. Cabanis mentions several times the fear of the people whose reactions accompany Mirabeau’s agony like the comments of the chorus in a classical tragedy. Kept

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49 50

Vgl. in Cabanis: Journal (Anm. 2) : »il riait de mes craintes« S. 255, »inquiet de son état« S. 260, »mon émotion fut extrême«; »graves inquiétudes« S. 270, »continuelles angoisses de ma situation« S. 304. Ebd., S. 282. Ebd., S. 280.

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outside the house where the tragedy is taking place, the people listen and act without intervening directly in the plot. Cabanis tells Mirabeau about »l’intérêt extraordinaire qu’on prenait à sa maladie; de l’empressement avec lequel le peuple demandait partout de ses nouvelles, et venait en savoir à sa porte (...)«,51 and he later mentions »le peuple qui assiégeait la porte«.52 The verb »assiéger« (to besiege) with its bellicose connotations emphasizes the great number of people waiting for news, as it indicates they have no direct access to the tribun du peuple. It might also translate Cabanis’s irritation in face of the many letters of advice he receives daily and that are a clear indication of the importance of the public’s fear; these letters, like the comments and recommendations Cabanis says the newspapers publish daily, reinforce the identification of the public with the antic tragic chorus, one of whose main functions was to give advice. The tragedy also appears in the way the Journal is written. In the first part, where he recalls the circumstances of his meeting with Mirabeau, Cabanis uses the narrative mode (what Gérard Genette calls »récit d’événements«53), but after Mirabeau’s last stroke, he resorts increasingly to dialogue. Several conversations between himself and Mirabeau, with the apothecary, or with M. Petit are reported in direct speech. Cabanis adds detailed didascalies which give details of the speakers’ tone and behaviour. People enter and leave Mirabeau’s room; they retreat to another corner of the house or move away from the patient’s bed to comment on his illness and to be free to give their opinion without Mirabeau hearing them; each of their moves is clearly indicated, as in the passage in which Cabanis and Petit discuss their prognostics: »Nous nous retirâmes dans une pièces voisine (...) Quand nous repassâmes dans la chambre du malade.«.54 Cabanis reports the conversations he took part in and identifies the speaker with short annotations: »me dit-il, dit-il, lui répondis-je«.55 The second part of the Journal is a play and Mirabeau’s bedroom is the main stage of the action. The dialogues, the many indications are an attempt to imitate life. In the Renaissance, Tasso emphasized that the goal of mimesis in a written text is not only to persuade the readers that the plot is about true events but also that »they are present and they see and hear them«.56 This is what Cabanis has done, with the purpose of capturing his audience and persuading his readers of his innocence. Conclusion I wish to point out, in closing, that the Journal is a striking case of medical writing at a time when doctors were scholars and not what we nowadays call scientists, and

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Ebd., S. 298. Ebd., S. 304. Gérard Genette: Figures III, Seuil, Paris, 1972, S. 186. Cabanis: Journal (Anm. 2), S. 301. Ebd., S. 302f. Kirsti Minsaas: Poetic Marvels. Making sense of Aristotle. Essays in Poetics, S. 166.

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were aware of the cultural legacy that sustained their knowledge. This book enables us also to understand the capital importance of sensibility for Cabanis and to see how he built his own conception of it by taking from both the vitalist approach and the Greeks. Above all, the Journal’s complexity brings to light the close connections between medicine, literature, philosophy and politics in Cabanis’s works. It opens up a new path for the reading of a large section of Enlightenment writings as it addresses the crucial question of the use of genre and style in fields other than literature. It shows how the narrative, in history and in science, is part of the elaboration of knowledge.

Karen Nolte

»Zum Besten der Menschheit, und zur Ehre der Kunst« Ärztliche Autorität in Fallberichten über Gebärmutterkrebsoperationen um 1800*

Einleitung Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822) hatte sich um 1800 als Vertreter der operativ ausgerichteten Geburtshilfe einen Namen gemacht. Allerdings waren seine Auffassung, dass der gelehrte Geburtshelfer sich dadurch von Hebammen und »alten Weibern« unterscheiden müsse, indem er aktiv in den Geburtsvorgang eingreife, und seine Vorliebe für die Zangengeburt fachlich umstritten.1 Seine führende Rolle in der ärztlich-akademischen Geburtshilfe um 1800 ist schon gründlich untersucht worden.2 Weit weniger bekannt und erforscht ist seine ebenfalls maßgebliche Praxis und Forschung in der operativen Therapie von Gebärmutterkrebs in dieser Zeit. Im frühen 19. Jahrhundert war Osiander jedoch in Fachkreisen als derjenige Arzt bekannt, der das Feld der operativen Therapie von Gebär-

–––––––— * Diese Studie ist Teil des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojektes »Wege zu einer Alltagsgeschichte der Ethik. Vom Umgang mit Schwerkranken (1500– 1900)«, welches von Michael Stolberg geleitet wurde. Für Anregungen und Kritik danke ich Michael Stolberg und Tilmann Walter. 1 Vgl. Jürgen Schlumbohm: »Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften«. Praxis der Geburtshilfe als Grundlegung der Wissenschaft, ca. 1750–1820. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750–1900. Hrsg. von Hans Erich Bödecker, Peter Hanns Reil, Jürgen Schlumbohm, Göttingen 1999, S. 275–297; Hans-Christoph Seidel: Eine neue »Kultur des Gebärens«. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 1998. 2 Vgl. Jürgen Schlumbohm: Der Blick des Arztes, oder: wie Gebärende zu Patientinnen wurden. Das Entbindungshospital der Universität Göttingen um 1800. In: Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998. Hrsg. von Jürgen Schlumbohm et al., S. 170–205; Schlumbohm 1999 (Anm. 1); Jürgen Schlumbohm: »The Pregnant Women are here for the Sake of the Teaching Institution«. The Lying-In Hospital of Göttingen University, 1751 to c. 1830. In: Social History of Medicine 14 (2001), 1, S. 59–78; Seidel (Anm. 1); Isabelle von Bueltzingsloewen: Die Entstehung des klinischen Unterrichts an den deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts und das Göttinger Accouchirhaus. In: Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850. Göttingen, Kassel, Braunschweig. Hrsg. von Jürgen Schlumbohm und Claudia Wiesemann, Göttingen 2004, S. 15–30; Heike Winkelmann: Entbindungswissenschaft und Entbindungskunst bei Friedrich Benjamin Osiander, in: Medizinhistorisches Journal 18 (1983), S. 306–312; Wilhelm Engenolf: Friedrich Benjamin Osiander, ordentlicher Professor der Arzneiwissenschaft und Direktor der Königlichen Hannoverschen Entbindungsanstalt und des Instituti Clinici der Universität Göttingen von 1792–1822. In: Vorarbeiten zur Geschichte der Göttinger Universität und Bibliothek 22, Göttingen 1937, S. 31–58.

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mutterkrebs eröffnet hatte. Dabei spaltete er mit seiner chirurgischen Heilmethode den Kreis seiner Kollegen in eifrige Befürworter und strikte Gegner. Wie der vorliegende Beitrag zeigen wird, stand die Selbstdarstellung des Göttinger Geburtshelfers als erfolgreicher Operateur in signifikantem Widerspruch zu den tatsächlichen Heilungsverläufen der meisten operierten Patientinnen. Die folgende Analyse der Debatte um Friedrich Benjamin Osianders Heilmethoden des Gebärmutterkrebses versteht sich als Fallstudie ärztlicher Strategien zur Herstellung wissenschaftlicher Wahrheit über Heilerfolge im Bereich der operativen Therapie. Einen zentralen wissenschaftlichen Bezugsrahmen stellen Michael Stolbergs Forschungen zur ärztlichen Autorität in der Frühen Neuzeit dar. Diese zeigen auf, welche Faktoren dazu beitrugen, dass studierte Ärzte sich erfolgreich als Experten etablieren konnten, obwohl ihr medizinisches Handeln sich nicht durch überlegene Heilmethoden auszeichnete.3 Auch sind die Forschungen Steven Shapins über die »Social history of truth«4 und das »Self-fashioning« der »New Scientists«5 in der Frühen Neuzeit sowie Lorraine Dastons Überlegungen zur Geschichte von wissenschaftlicher Objektivität und Wahrheit6 grundlegend für die vorliegende Studie. Demnach wird wissenschaftliche Wahrheit durch soziale Praktiken hergestellt und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit eng an den sozialen Status der Wissenschaftler gebunden. Diese sozialen Praktiken, das »Self-fashioning« Osianders, d.h. seine Strategien ärztlicher Autorisierung werden in diesem Beitrag in den Blick genommen. Der folgende Beitrag wird den Widerspruch zwischen therapeutischer Praxis und Außendarstellung Osianders in seiner »Scientific Community« näher beleuchten. Als Quellen werden neben seinen Fachpublikationen, den veröffentlichten Reaktionen und Auseinandersetzungen mit seinen wissenschaftlichen Thesen zur operativen Heilung von Gebärmutterkrebs auch seine unpublizierten Fallbeschreibungen in den Tagbüchern des Königlich Großbritannischen Hannoverschen Ent-

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Vgl. Michael Stolberg: Formen und Strategien der Autorisierung in der frühneuzeitlichen Medizin. In: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, hg. V. Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Winfried Schulze, Münster 2003, S. 205–218; Michael Stolberg: Frühneuzeitliche Heilkunst und ärztliche Autorität. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hrsg. von Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 111–130. An dieser Stelle sei auch auf das DFG-Forschungsprojekt »Ärztliche Autorität in der Frühen Neuzeit« an der Universität Würzburg, Institut für Geschichte der Medizin hingewiesen. Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, London 1994. Zur »New Science« vgl. u.a. Allen G. Debus: Man and Nature in the Renaissance, Cambridge 1978; Charles Webster: The great instauration. Science, medicine and reform 1626–1660, Oxford et al. 2002; Steven Shapin: The Scientific Revolution, Chicago, London 1996. Vgl. Lorraine Daston: Objectivity versus Truth. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis. Hrsg. von Hans Erich Bödecker, Peter Hanns Reill, Jürgen Schlumbohm, Göttingen 1999, S. 17–32; Lorraine Daston: Eine Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität. In: Akteure – Mechanismen – Modelle. Zur Theoriefähigkeit makro-sozialer Analysen. Hrsg. von Renate Mayntz, Frankfurt am Main, New York 2002, S. 44–60.

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bindungshospitales zu Göttingen sowie dessen Aufnahmebücher für den Zeitraum von 1792–1822 herangezogen.7 Ein besonderes Augenmerk gilt der Darstellungsform in diesen Texten. So wird herausgearbeitet, was in den Beschreibungen Osianders hervorgehoben, was verschwiegen wird und in welchem Verhältnis wissenschaftliche Perspektive und subjektive Wahrnehmung der Kranken zueinander stehen. Besonders das Genre der medizinischen Fallbeschreibung eignet sich für diese Herangehensweise, da der Arzt und Autor die ›Geschichte‹ im exemplarischen Sinne für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse verwendete, gleichzeitig jedoch Einblick in die soziale Praxis ärztlichen Handelns gab. Schließlich gilt es herauszustellen, wie genau ›Erfolg‹ hergestellt werden konnte, auch wenn faktisch die Heilung einer schweren Krankheit nicht gelang.

›Gebärmutterkrebs‹ um 1800 Im zeitgenössischen medizinischen Diskurs um 1800 wird Gebärmutterkrebs neben Brustkrebs und Schwindsucht als die tödliche Krankheit schlechthin und besondere Herausforderung für die Medizin beschrieben.8 Im Folgenden wird der im frühen 19. Jahrhundert gebräuchliche Begriff ›Gebärmutterkrebs‹ bzw. ›Mutterkrebs‹ verwendet.9 Ein weiterer Krankheitsbegriff wird in den Quellen um 1800

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Die ›Tagbücher‹ und die Aufnahmebücher lagern in der Bibliothek der Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin des Fachbereichs Humanmedizin der Georg-AugustUniversität Göttingen. Ich danke Jürgen Schlumbohm, der mich darauf hinwies, dass zwischen den Fallbeschreibungen über Geburten auch solche über Gebärmutterkrebsoperationen zu finden sind und mir kollegial genaue Angaben zu einigen Fällen überließ. Gedankt sei an dieser Stelle auch Claudia Wiesemann, die mir zu diesen Quellen bereitwillig Zugang gewährte. Vgl. u.a. Johann Christian Gottfried Jörg: Handbuch der Krankheiten des Weibes, Leipzig 1821; Adam Elias von Siebold: Ueber Gebärmutterkrebs, dessen Entstehung und Verhütung: ein Beitrag zur Diätetik des weiblichen Geschlechts und zur Beherzigung für Frauen und Gatten, Mütter und Erzieherinnen, Berlin 1824; Friedrich Ludwig Meissner: Die Frauenzimmerkrankheiten nach den neuesten Ansichten und Erfahrungen zum Unterricht für praktische Aerzte, Bd. 2, Leipzig 1845; zur Geschichte des Gebärmutterkrebses im 19. Jahrhundert vgl. auch Karen Nolte: Carcinoma uteri and »Sexual Debauchery« – Morals, Cancer and Gender in the 19th Century, erscheint im April 2008. In: Social History of Medicine. Eine Differenzierung, wie sie heute vorgenommen wird – in Zervixkarzinom und Korpuskarzinom – war in den von mir untersuchten Schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert noch nicht auszumachen. Erste Differenzierungen nach dem Sitz des Krebses in der Gebärmutter manifestierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Gustav Veit (1852– 1917) unterschied basierend auf den einflussreichen Erkenntnissen der zellpathologischen Untersuchungen Rudolf Virchows (1821–1902) erstmals in den 1860er Jahren zwischen Gebärmutterhals- und Gebärmutterkorpuskarzinom. Vgl. James V. Ricci: One Hundred Years of Gynaecology, Philadelphia 1945, S. 214. Vgl. auch Gustav Veit: Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane. Puerperalkrankheiten. In: Handbuch der speciellen

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erwähnt: ›Scirrhus uteri‹, eine verhärtete Geschwulst der Gebärmutter.10 Die Bezeichnungen ›Gebärmutterkrebs‹ respektive ›Mutterkrebs‹ und ›Scirrhus uteri‹ sind nicht immer genau voneinander unterschieden. Der Scirrhus der Gebärmutter wurde gewissermaßen als Vorstufe der Krebserkrankung interpretiert.11 Im frühen 19. Jahrhundert stellen die medizinischen Erklärungsmodelle für die Entstehung von Gebärmutterkrebs eine Gemengelage frühneuzeitlicher humoralpathologischer und nervenphysiologischer Interpretationsmuster dar. So konnte in ein und derselben wissenschaftlichen Abhandlung Gebärmutterkrebs ätiologisch als Folge von örtlichen Stockungen der Säfte, die zu einer skirrhösen Verhärtung und schließlich zu Krebs führten, beschrieben und zugleich der Krebs auf die nervöse Überreizung des weiblichen Unterleibs durch leidenschaftliche Fantasien zurückgeführt werden. Dass der eklektische Umgang mit verschiedenen Körperkonzepten von den Zeitgenossen kaum als Widerspruch oder Problem wahrgenommen wurde, hat bereits Michael Stolberg mit seinen körper- und medizinhistorischen Forschungen zum 18. Jahrhundert herausgestellt.12 Die Möglichkeiten, Gebärmutterkrebs zu diagnostizieren und zu therapieren, waren um 1800 begrenzt. Nicht selten wurde die Diagnose Gebärmutterkrebs erst post mortem bei einer Sektion bestätigt. In einem Artikel von 1807, dessen Autor unbekannt ist, wird betont, dass, wenn »scirrhöse Desorganisationen, entweder im innern Körper, oder auf der Oberfläche desselben gebildet werden […], von der Ausrottung kein bleibend guter Erfolg zu erwarten« sei, und den Ärzten nichts übrig bleibe »als zu beobachten und palliativ zu bessern«.13

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Pathologie und Therapie, sechster Band, zweite Abtheilung, zweites Heft. Hrsg. von Rudolph Virchow, Erlangen 1867, S. 414–435. Vgl. Jacob Wolff: Die Lehre der Krebskrankheit von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. II. Teil, Jena 1911, S. 917f. Vgl. insbesondere Jörg: Handbuch der Krankheiten des Weibes (Anm. 8), S. 446: »Immer geht der Scirrhus dem Krebse voraus und öfterer dauert es nicht allein Monate, sondern sogar Jahr bis sich jener in diesen verwandelt.« Die Umwandlung konnte durch äußere Einflüsse, z.B. große Hitze bzw. Kälte beschleunigt werden. Vgl. Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Wien, Weimar, Köln 2003. Zur Wahrnehmung von Krebs vgl. insbesondere S. 183–189. Anonymus: Horn’s Bemerkungen über den Krebs des Uterus. In: Allgemeine medizinische Annalen des neunzehnten Jahrhunderts 1807, S. 433–436, hier S. 433. Zum vor- und frühmodernen Verständnis von »palliativer« Therapie vgl. Michael Stolberg: »Cura palliativa?« Begriff und Diskussion der »palliativen« Krankheitsbehandlung in der vormodernen Medizin (1500–1850). In: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 7–29.

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Operative Therapie von Gebärmutterkrebs Doch nicht alle Mediziner ließen die Feststellung, dass diese Frauenkrankheit unheilbar sei, auf sich beruhen. Daher gab es um 1800 bereits im Göttinger Accouchierhaus Versuche, Geschwülste an der Portio14 operativ zu entfernen.15 Studierte Geburtshelfer versuchten dieses Terrain der Heilkunde zu besetzen, das ebenfalls von Chirurgen und Wundärzten beansprucht wurde. Schon seit den Anfängen der akademischen Geburtshilfe, sahen sich die Lehrstuhlinhaber in der Geburtshilfe mit dem Anspruch der Chirurgen konfrontiert, operative Geburtshilfe auszuüben.16 Friedrich Benjamin Osiander hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert erste, nach eigener Einschätzung erfolgreiche, Versuche unternommen, bei Patientinnen das »Krebshafte« vaginal »auszuschneiden«.17 1803 stellte er im Journal der practischen Heilkunde seine Heilmethode folgendermaßen vor: Ich wagte daher endlich, was vor mir meines Wissens niemals ein Arzt oder Wundarzt gewagt hatte, solche Uebel auf eben die Weise, wie den Lippen- und Brustkrebs zu heilen, nehmlich das Krebshafte der Gebärmutter bis auf das Gesunde auszuschneiden; und eben so, nicht krebshafte aber lebensgefährliche Zufälle erregende Steatome18 der Gebärmutter selbst so[lc]her Größe, dass sie über fünf Viertel Pfund wogen, durch den Schnitt auszurotten. [...] so achte ich es für Pflicht, dies zum besten der Menschheit um so mehr bekannt zu machen, als die meisten Aerzte diese Uebel für unheilbar halten, und diese an sich neue Operationen nicht jeder Wundarzt übernehmen kann, noch gern übernehmen wird [Hervorhebungen im Original].19

Osiander betonte seinen Mut und seine besondere Geschicklichkeit, mit der er sich von den Wundärzten abzuheben glaubte. Auch beanspruchte er für sich, der erste Arzt zu sein, der eine Operation bei Gebärmutter-Geschwülsten gewagt habe – mit diesem Originalitätsanspruch installierte er sich sogleich als Autorität auf diesem

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Portio=Teil der Gebärmutter, der in die Vagina hineinragt. Vgl. Friedrich Benjamin Osiander: Heilung des Mutterkrebses und krankhafter Auswüchse aus der Gebärmutter. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 16 (1803), H. 3, S. 133–135. Vgl. hierzu Seidel: Eine neue »Kultur des Gebärens« (Anm. 1), S. 132–155; vgl. hierzu auch Schlumbohm: »Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften« 1999 (Anm. 1). In Erlangen wurde die Geburtshilfe in der Chirurgie der Medizinischen Fakultät ausgeübt bevor das Entbindungshospital eingerichtet wurde. Daher gingen die Ansprüche der Chirurgen soweit, dass diese die Notwendigkeit eines eigenständigen Entbindungshospitals und eines Lehrstuhls für Geburtshilfe in Frage stellten, vgl. Marion Maria Ruisinger: Eine schwere Geburt. Die Etablierung der Entbindungskunst an der Universität Erlangen (1743–1828). In: Von Gebärhaus und Retortenbaby. 175 Jahre Frauenklinik Erlangen. Hrsg. von Astrid Ley und Marion Maria Ruisinger, Nürnberg 2003, S. 33–47. Vgl. Osiander: Heilung des Mutterkrebses (Anm. 15); vgl. auch Friedrich Benjamin Osiander: Bericht ohne Titel. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 12 (1816), S. 121–126 und Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 222–224. Hierbei handelt es sich um gutartige Geschwülste (umgangssprachlich auch »Fleischgeschwulst«). Osiander: Heilung des Mutterkrebses (Anm. 15), S. 134.

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Gebiet der Heilkunde.20 Er trat für die Teilexstirpation21 des Uterus’ ein und empfahl, lediglich die »krebshafte« Geschwülste auszuschneiden, da er die Gefahr, bei einer Hysterektomie22 das Bauchfell zu verletzten, als zu groß einschätzte.23 Dennoch versuchten seine Kollegen sich in den folgenden Jahren an der vollständigen Exstirpation des Uterus bei krebskranken Frauen. In Italien wagte 1812 der Chirurg G. Paletta diesen gefährlichen Eingriff; seine Patientin starb kurz darauf an Peritonitis.24 Ein Jahr später entfernte der Göttinger Chirurg Conrad Johann Martin Langenbeck (1776–1851), der eigentlich für seine Augenoperationen berühmt war,25 einen nach seiner Einschätzung krebsbefallenen Uterus vaginal. Seine Patientin überlebte den Eingriff und starb 26 Jahre später eines natürlichen Todes. Zwölf Jahre nach der Operation untersuchten Ludwig Julius Caspar Mende (1779– 1832)26 und Adam Elias von Siebold (1775–1828)27 die von Langenbeck Operierte und bestätigten, dass die Gebärmutter fehlte, die Patientin also die Hysterektomie überlebt hatte. Doch äußerten beide Frauenärzte Zweifel, ob die Patientin jemals an Gebärmutterkrebs erkrankt war, fehlte es doch an Beweisen: Weder war der herausoperierte Uterus in Weingeist aufgehoben worden, noch konnte man dazu den Assistenten, der bei der Operation zugegen gewesen und inzwischen verstorben war, befragen.28 1822 veröffentlichte Johann Nepomuk Sauter (1766–1840) eine Fallbeschreibung über die von ihm selbst vorgenommene »gänzliche Exstirpation der carcinomatösen Gebärmutter«: Die operierte Patientin überlebte die Operation zwar zunächst und schien zu genesen, doch letztlich starb sie vier Monate später. Sauter legitimierte sein gewagtes Vorgehen mit den für die Patientin unerträglichen Schmerzen und ihrem ausdrücklichen Einverständnis zu diesem lebensgefährlichen Eingriff der Operation.29 Sauter gehörte zu den Befürwortern der chirurgischen

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Stolberg stellt die Behauptung der Originalität als wesentliche Strategie zur Herstellung der »personalen Autorität« im Kontext ärztlicher Strategien der Autorisierung heraus, vgl. Stolberg: Formen und Strategien der Autorisierung (Anm. 3). Exstirpation = Entfernung eines umschriebenen Gewebeteils, wobei der Defekt der Spontanheilung überlassen bleibt, vgl. Roche Lexikon Medizin, München et al. 1984, S. 486. Operative Entfernung der ganzen Gebärmutter. Vgl. Friedrich Benjamin Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 130 (1808), S. 1289–1304. Peritonitis = Bauchfellentzündung Vgl. Ernst Gurlt: Konrad Johann Langenbeck. In: Allgemeine Deutsche Biographie (Bd. 17), Leipzig 1883, S. 664–668. Professor für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Göttingen und Direktor des dortigen Entbindungshospitals, Nachfolger Friedrich Benjamin Osianders. Professor für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Würzburg und Berlin. Vgl. Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 227. Vgl. auch Max Langenbeck: De totius uteri extirpatione, Göttingen 1842. Max Langenbeck beschreibt hier die Operation seines Vaters Conrad Johann Martin Langenbeck. Johann Nepomuk Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter ohne selbst entstandenen oder künstlich bewirkten Vorfall vorgenommen und glücklich

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Therapie von Gebärmutterkrebs – er pries Osiander als Pionier dieser Heilmethode: Osiander ist der Held, der Feld mit Glück eröffnet hat; Er hat durch seine geglückten Operationen hierin die allgemeine Aufmerksamkeit rege gemacht, und hat zu allgemeinen Verhandlungen Anlaß gegeben; zwar fiel das Urtheil vieler nicht günstig für das große Meisterstück aus, doch der Stoß ist gegeben...30

Adam Elias von Siebold nahm Osianders Behauptung, eine Heilmethode gegen Gebärmutterkrebs gefunden zu haben, skeptisch auf: Die Operation am Uterus sei zum einen »weit schwerer und gefährlicher zu unternehmen« als von Osiander dargelegt und zum anderen sei keineswegs entschieden, »ob mit der entfernten Gebärmutter allein auch alle Krankheit im Körper beseitigt« sei. Niemals könne man sich darüber »beruhigen, dass die Kranke vollkommen geheilt sei«.31 Doch hielten seine Zweifel an der Methode des Göttinger Kollegen von Siebold keineswegs davon ab, die Operation bei einer seiner Patientinnen »der unbefangenen Prüfung wegen« zu versuchen. Diese Operierte überlebte die »Exstirpation« ihrer Gebärmutter nicht mehr als zehn Tage.32 Bei fünfzehn um 1800 in Europa durchgeführten Operationen, starben die meisten Operierten schon innerhalb weniger Tage.33 Vor dem Zeitalter der Bakteriologie hatten also Frauen, an denen radikale Uterus-Exstirpationen durchgeführt wurden, eine schlechte Prognose. Auch waren Patientinnen vor der Entwicklung einer wirksamen Anästhesie schwer von der Notwendigkeit einer Operation zu überzeugen.34 In der Geschichte des Scheiterns der operativen Therapie von Gebärmutterkrebs trat erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit den ersten erfolgreichen Totaloperationen eine Wende ein.35

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vollführt. Mit näherer Anleitung wie diese Operation gemacht werden kann, Konstanz 1822, S. 99. Zur medizinhistorischen Bedeutung der Sauter’schen Operation vgl. auch Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 228. Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm. 29), VII–VIII. Adam Elias von Siebold: Eine vollkommene Exstirpation der scirrhösen, nicht prolabirten Gebärmutter, verrichtet und beschrieben vom Herausgeber. In: Journal für Geburtshülfe, Frauenzimmer- und Kinderkrankheiten 4 (1824), 3, S. 507–560, hier S. 510–511. Ebd. Vgl. Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 227–234. Eine zeitgenössische Beschreibung der Operationsversuche findet sich auch bei Carl Gustav Carus: Lehrbuch der Gynäkologie, Leipzig 1820, S. 356–363. Vgl. Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 229–237. Bereits zeitgenössische Chroniken der Operationsversuche legen Zeugnis über den nahezu sicheren Tod der Operierten ab. Erstmals führte der Breslauer Gynäkologe, Wilhelm Alexander Freund (1833–1917), im Jahre 1878 eine erfolgreiche Totalexstirpation eines Uterus bei Zervixkarzinom durch – diese radikale Operation war insbesondere wegen der Gefahr starker Blutungen sowie der Peritonitis sehr gefürchtet. Der Wiener Gynäkologe, Ernst Wertheim (1864–1920), entwickelte zwanzig Jahre später, 1898, Freunds Operationsmethode weiter, indem er die

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›Grobe‹ Hebammen – ›geschickte‹ Operateure Im Folgenden wird analysiert, mit welchen Strategien sich akademische Geburtshelfer als Experten für Frauenkrankheiten zu etablieren versuchten und sich dabei von den »unwissenden Hebammen«, die mit Erfolg eine Gebärmutter herausgeschnitten hatten, abgrenzten. In einer Ausgabe der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen36 von 1787 berichtete Heinrich August Wrisberg (1739–1808)37 von einem Fall, bei dem eine Hebamme eine »umgestülpte« Gebärmutter, welche sie für ein »Gewächs« hielt, mit einem Brotmesser abgeschnitten habe.38 Johann Nepumuk Sauter, der diesen Fall später noch einmal schilderte, schrieb den glücklichen Verlauf dieser Operation nicht der Kunstfertigkeit der Hebamme zu: »Die Natur siegte über diese verwegene Dummheit, und die Frau lebte geheilt nachher noch viele Jahre.«39 Auch Adam Elias von Siebold berichtete 1804 in seiner Zeitschrift Lucina von einer »Exstirpation der Gebärmutter, aus Unwissenheit von einer Hebamme verrichtet«, deren nähere Umstände ihm ein Accoucheur aus dem Kanton Graubünden in der Schweiz mitgeteilt hatte.40 Eine Hebamme hatte dieser Schilderung zufolge bei einer Gebärenden einen prolabierten Uterus, den sie für die Nachgeburt hielten, mit dem Barbiermesser »rund um« abgeschnitten und die darauf folgende starke Blutung mit Eiszapfen gestoppt. Die auf diese Weise Operierte »genas ohne die mindeste Arzeney blos durch Ruhe und Milchdiät«. Von Siebold resümierte: »Hier that die Natur Wunder!«41 Ähnlich berichtete der Arzt Carl Struve42 über den von Heinrich August Wrisberg geschilderten Fall. Er hatte 1799 die Gelegenheit, die von der Hebamme Operierte, im Göttinger Entbindungshospital persönlich zu untersuchen. Er bemerkte, dass

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Hysterektomie durch die Entfernung der Adnexe, der Lymphknoten sowie des den Uterus umgebenden Bindegewebes erweiterte. Vgl. Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 235–237, vgl. auch Hans Ludwig: 100 Jahre Operation nach Wertheim. In: Gynäkologie 35 (2002), S. 1157–1158. Publikationsorgan der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 1802 in Göttingische gelehrte Anzeigen umbenannt. Heinrich August Wrisberg war ein Schüler Georg Roederers (1723–1763) und leitete als sein Nachfolger von 1763–1785 das Göttinger Entbindungshospital. Vgl. Heinrich Martius: Die Universitäts-Frauenklinik in Göttingen von ihrer Gründung 1751 als Accouchirhospital am Geismartor bis zum Jahre 1951, Stuttgart 1951, S. 14–16. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 81 (1787), S. 810. Vgl. auch Heinrich August Wrisberg: Commentatio de uteri mox post partum naturalem resectione peracta non lethali. In: Commentationes Societas Regiae Scientiarum Gotti 8 (1786), S. 101f. Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm. 29), S. 13. Adam Elias von Siebold: Eine Exstirpation der Gebärmutter, aus Unwissenheit von einer Hebamme verrichtet, mitgeteilt von Doctor Bernhard. In: Lucina. Eine Zeitschrift zur Vervollkommnung der Entbindungskunst 1 (1804), 3, S. 401–407. Ebd., S. 402. Struve war Stadtphysikus von Neustadt-Eberswalde.

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eine rohe, unwissende Wehmutter den nach der Geburt vorgefallenen Uterus, welchen sie für ein Gewächs hielt, mit einem gewöhnlichen Brodmesser abschnitt, und der gütigen Natur die Heilung dieser Operation überließ, die auch die Wunde vernarbte.43

Die Gegenüberstellung des Vertrauens auf die Heilkräfte der ›Natur‹ der Hebammen und der Wissenschaft als Kulturtechnik folgten bipolaren Geschlechterkonzeptionen, wie sie sich in der Zeit der Aufklärung formierten.44 In seiner »Gedrängte[n] Uebersicht des Geschichtlichen der GebärmutterExstirpation« ließ Johann Nepumuk Sauter keinen Zweifel aufkommen, dass die Geschichte der erfolgreichen Gebärmutterentfernung erst mit den Operationen wissenschaftlich gebildeter Ärzte begann: Schon die ältere Geschichte weiset Beispiele auf, wo aus Unwissenheit die vorgefallene Gebärmutter vor dem Leib der Frau abgeschnitten wurde, und wo die Natur heilte; da es aber hier nicht die Absicht ist, über diese Mißgriffe, und Dokumente der Unwissenheit eine Geschichte zu schreiben, so läßt man sich in keine weitere Forschung und Ausführung ein.45

Seine Geschichte der Exstirpation der Gebärmutter begann er mit der ersten Operation, die Friedrich Benjamin Osiander in Göttingen vornahm. Osiander berichtete 1808 vor den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ausführlich von einer Operation, die er am 1. Mai 1801 bei einer Witwe vorgenommen hatte: Er hatte einen kindskopfgroßen »carcinomatosen Schwamm« entfernt und bei der mit Fäden herabgezogenen Gebärmutter das »krebshafte« Gewebe ausgeschnitten. Nach der Operation hatte er mit »Bleywasser und Essig« benetzte Schwämme in die Vagina eingebracht und »sobald sich Eiterung auf den Schwämmen zeigte, […] diese durch eiterbefördernde Mittel vermehrt«. Das Auftragen von eiterfördernden Mitteln auf frische Operationswunden erscheint aus heutiger Sicht widersinnig zu sein. Dieses therapeutische Handeln Osianders steht im Kontext frühmoderner Körperkonzepte, die neben dem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte auch die Wirkung von »Krankheitssamen«, die mit der Nahrung aufgenommen werden konnten, als ursächlich für die Entstehung von Krankheiten beschrieben. Diese »Verunreinigungen« sollten unter anderem durch gezielt erzeugte Eiterflüsse »ausgetrieben« werden.46 Bei zu starker Eiterung wandte Osiander eine »Mischung aus dem Extract grüner Walnußschalen, Honig und rothem Quecksilberpräcipitat« an, die ebenfalls mit einem Schwamm auf die

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Carl Struve: Einige Ideen über die Extirpation Uteri, als das vielleicht einzige Heilmittel des Gebärmutter-Krebses. In: Journal der practischen Heilkunde 16 (1803), 3, S. 123– 133, hier S. 126. Vgl. auch Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm. 29), S. 13f.; von Siebold: Eine vollkommene Exstirpation der scirrhösen, nicht prolabirten Gebärmutter (Anm. 31). Vgl. Schlumbohm: »Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften« (Anm. 1), S. 290. Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm.29), S. 12. Vgl. Michael Stolberg: Der gesunde Leib. Zur Geschichtlichkeit frühneuzeitlicher Körpererfahrung. In: »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hrsg. von Paul Münch, München 2001, S. 37–57, besonders S. 44–49.

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Operationswunde aufgetragen wurde.47 Die Operierte genas seinen Angaben zufolge binnen vier Wochen »völlig«. Nach drei Jahren – so Osiander – brach der Krebs allerdings von neuem aus, so dass er die Frau ein zweites Mal »abermals mit glücklichem Erfolg« operierte.48 Die erneute Erkrankung der von ihm operierten Patientin wertete Osiander offensichtlich nicht als Misserfolg oder Indiz dafür, dass seine Heilmethode nicht funktionierte. Adam Elias von Siebold warf Osiander und anderen Verfechtern der operativen Heilmethode vor, den Krebs nicht ursächlich geheilt zu haben, da die Krankheit häufig nach der Operation erneut ausbreche.49 In seinen beiden ersten Publikationen zu den von ihm ausgeführten Teilexstirpationen des Uterus betonte Osiander, dass all seine Operationen »glücklich« ausgegangen seien. Christoph Wilhelm Hufeland ließ Osianders Bericht von 1803 eine regelrechte Lobeshymne folgen: Heil den würdigen Männern, die diesen wichtigen Fortschritt der heilbringenden Kunst bewirkten, und für eins der scheußlichsten, und leider bisher unheilbaren, Uebel der Menschheit Hülfe fanden! Sie verdienen eine Ehrensäule neben Ed[ward] Jenner.50

Osiander in der öffentlichen Kritik Osianders Ruhm wurde jedoch durch einige Misserfolge getrübt, die 1819 öffentlich bekannt wurden: Im Dezember dieses Jahres konsultierten ihn zwei am Unterleib erkrankte Frauen aus Leipzig, bei denen Gebärmutterkrebs diagnostiziert worden war. Die Operationsmethode des Göttinger Professors war mittlerweile so bekannt geworden, dass er mitunter von Ärzten und Kranken anderer Städte zu Rate gezogen wurde. Bei beiden Patientinnen hatte Osiander die Diagnose Gebärmutterkrebs seines Leipziger Kollegen verworfen. Bei der ersten Patientin stellte er eine »sackförmige Ausbeulung der Urinblase, wie bei einem Blasenbruch« fest und schlug sogleich die Punktion der Blase vor. Nach dem Ablassen des Urins – so Osiander – sei der Tumor verschwunden und er habe einen »kleine[n] und gesunde[n] umgebogene[n] Uterus« getastet.51 Nach kurzer »Erleichterung« ihres Leidens starb die Operierte drei Tage später. Bei einer zweiten »äußerst abgezehrten« Leipziger Patientin punktierte Osiander einen mit Flüssigkeit gefüllten Tumor, den er als »krankhaft angeschwollenen Eyerstock« ausmachte – auch sie starb einige

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Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (Anm. 23), S. 1292f. Ebd., S. 1293. von Siebold: Eine vollkommene Exstirpation der scirrhösen, nicht prolabirten Gebärmutter (Anm. 31), S. 510f. Struve: Einige Ideen über die Extirpation Uteri (Anm. 43), S. 135. Friedrich Benjamin Osiander: Veranlassung zu einer Reise nach Leipzig und Erzählung der daselbst verrichteten chirurgischen Operationen im December 1819, Tübingen 1820, S. 11–15.

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Tage nach dem Eingriff.52 Der Leipziger Arzt der Patientinnen verbreitete aufgrund dieser Ereignisse zwei Schriften,53 deren Inhalt sich nur aus dem rekonstruieren lässt, was Osiander selbst darüber schrieb. In diesen öffentlich vorgebrachten Vorwürfen wurde seinen Schilderungen zufolge behauptet, »dass es nicht wahr sey, daß [...er] jemals das Krebsichte ausgeschnitten und den Mutterkrebs kuriert habe«.54 Der öffentlich Angegriffene betonte, dass seine Operationen und der unmittelbar darauf folgende Tod der Frauen in keinem kausalen Zusammenhang zueinander stünden. Im Gegenzug warf er dem Kollegen vor, ihn viel zu spät konsultiert und durch falsche Therapie – wie der Gabe von Quecksilber – den Tod der Patientinnen verschuldet zu haben. Der Göttinger Frauenheilkundler wollte sein Buch nicht als Verteidigungsschrift verstanden wissen, reagierte jedoch auf die Kritik seiner Kollegen, indem er selbst seine Geschicklichkeit und seinen Mut pries und seine Kollegen in ihrer Kompetenz herabsetzte: Ich halte vielmehr dafür, die leidende Menschheit könne sich glüklich schätzen, wenn mir die Vorsehung noch eine Zeitlang Kräfte verleihet, das auszuüben, was Tausende nicht können, und was ich mir nur durch eine Beharrlichkeit in der Behandlung eines Uebels erworben habe, wofür jeder Arzt als vor dem Ekelhaftesten, Gefährlichsten und meist Undankbarsten zurük schauert, und dessen chirurgische Behandlung unter allen Operationen die größte Dexterität [abgeleitet von dem französischen »dextérité«, Geschicklichkeit] erfordert, da sie nicht anders, als ohne Hülfe der Augen verrichtet werden kann. [...] Die Verläumder, die Kunstverächter, die Spötter, die Neider werden es wahrlich nicht seyn, bei denen sie Hülfe finden.55

Auch aus Konflikten mit anderen Medizinern, lässt sich ersehen, dass Friedrich Benjamin Osiander auf öffentliche Kritik mit heftiger Polemik reagierte. Seine Gegenstrategie bestand darin, die Kritiker in ihrer fachlichen Kompetenz herabzusetzen und auch Aspekte herauszustreichen, die ihren sozialen Status schwächen sollten.56

Operation als wissenschaftliches Experiment Friedrich Benjamin Osianders Schule zeichnete sich einerseits durch die praktischempirische Ausrichtung von Forschung und Lehre aus, andererseits musste er sich als gelehrter Arzt von den ›empirici‹, den Hebammen und Handwerkschirurgen, abgrenzen. Zu diesem Zweck betonte Osiander die theoretische Fundierung seiner »Entbindungskunst«, d. h. die im gründlichen Studium erworbenen physiologi-

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Osiander: Veranlassung zu einer Reise nach Leipzig (Anm. 51), S. 18–20. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25f. Vgl. Eberhard Wolff: Antijudaismus als Teil der Judenemanzipation. Die Auseinandersetzung des Göttinger Geburtshelfers Friedrich Benjamin Osiander mit seinem Schüler Joseph Jacob Gumprecht um 1800. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 17 (1998), S. 57–100.

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schen und pathologischen Kenntnisse.57 Auf dem Gebiet der operativen Therapie des Gebärmutterkrebses mussten Osiander und seine Kollegen erst durch viele Operationsversuche Erfahrungen sammeln. Der entscheidende Unterschied zu dem Vorgehen der Hebammen war die systematische Sammlung, Aufzeichnung und Auswertung von Erfahrungen. Um diese wissenschaftlich begründete Empirie von der Alltagserfahrung der Laienheiler und -heilerinnen abzugrenzen, bediente Osiander sich der seit dem 17. Jahrhundert gängigen Methode des Experiments, um seinen Operationsversuchen einen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen. Im Folgenden wird anhand der Analyse seiner Fallbeschreibungen in den »Tagbüchern« des Göttinger Entbindungshospitals herausgearbeitet, welcher Praktiken und rhetorischen Strategien Osiander sich bediente, um wissenschaftliche ›Wahrheit‹ herzustellen. Um die Chancen auf einen erfolgreichen Verlauf seiner zu Lehr- und Forschungszwecken durchgeführten Uterusexstirpationen zu erhöhen, kamen für Osiander nur heilbare an Gebärmutterkrebs erkrankte Frauen in Betracht.58 Nach zeitgenössischen Vorstellungen konnte jedoch erst mit Sicherheit eine Krebserkrankung diagnostiziert werden, wenn die Krebsgeschwüre aufgeplatzt waren und einen »jauchigen« Ausfluss absonderten59 – vor diesem Hintergrund sind die Zweifel zu deuten, die stets einige seiner Kollegen an der tatsächlichen Heilung der Osianderschen Patientinnen äußerten. Jürgen Schlumbohm weist darauf hin, dass der Direktor des Göttinger Entbindungshospitals, bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert begann, jeder Krankengeschichte ein festes Schema der schriftlichen Dokumentation zugrunde zu legen.60 Die genaue Beobachtung und ihre Dokumentation war ein Ausweis der Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens. Am 23. August 1813 nahm Osiander die 28jährige Anna Heinze, Gattin eines Schäfers, in das Entbindungshospital auf. Sorgfältig nahm er ihre Krankengeschichte auf: Sie war die Tochter gesunder Eltern, als Kind und auch als Erwachsene war sie mehrmals an Krätze erkrankt, »ihr Monatliches« bekam sie mit 15 Jahren, von ihren drei Kindern gebar sie das erste »ehe sie copuliert wurde«, alle drei Geburten waren leicht, und alle Kinder hatte sie gestillt.61 Während der dritten Schwangerschaft bekam sie den »weißen Fluß«, der auch nach der Niederkunft nicht aufhörte – der »weiße Fluß« gehörte nach zeitgenössischen Vorstellungen zu den Ursachen für Gebärmutterkrebs.62 Bevor Osiander zur

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Zum wissenschaftlichen Selbstverständnis Osianders vgl. Schlumbohm: »Die edelste und nützlichste unter den Wissenschaften« (Anm. 1), S. 284–290. Vgl. Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft (Anm. 23), S. 1298f. Vgl. u.a. Jörg: Handbuch der Krankheiten des Weibes (Anm. 8), S. 455f. Vgl. Schlumbohm: Der Blick des Arztes (Anm. 2), S. 170–191. Fallbeschreibung: Anna Heinze. In: Tagbuch des Königlich Großbritannischen Hannoverschen Entbindungshospitales zu Göttingen, Band XIV, S. 51–60 und 71f., hier S. 51f. Mit dem »weißen Fluß« wurde im frühen 19. Jahrhundert ein Krankheitsbild bezeichnet, das es heute nicht mehr gibt. Beschrieben wurde diese Krankheit als unkontrollierte Ab-

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körperlichen Untersuchung schritt, notierte er, was die Patientin ihm über ihre Krankengeschichte berichtet hatte: »Seit dem Frühling habe sie viel Blut verloren, ihr Puls ist klein und mäßig geschwind, sie hat Apetiti hat beschwerlichen Stuhlgang, aber den Urin kann sie laßen.«63 Osiander untersuchte die Patientin vaginal, doch offenbar, ohne in die Vagina hineinzusehen, wie aus folgender Beschreibung zu ersehen ist: Die Beschaffenheit dieses Mutterkrebses ist folgende: Der ganze Umfang des äußeren Muttermundes ist [sic] dass man 3 Finger bequem in seine Öffnung einbringen kann; sein Rand rund, aber hart, knorpelartig, im linken Winkel vernarbt [...], die Vorderlippe tiefer herab stehend als die hintere und leicht erreichbar, nach dem Gefühl von der hier verzeichneten Beschaffenheit [Osiander hat hier eine Zeichnung eingefügt]. Aus dem Muttermund steht kein fungus hervor, die ganze Gebärmutterhöhle aber ist mit Blumenkohlartigen Auswüchsen gefüllt.64

Ein Problem bei der Sicherung einer eindeutigen Diagnose war das weibliche Schamgefühl, über das studierte Frauenärzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv nachdachten. Als besonders peinlich für die Frau und den Arzt wurde die vaginale Untersuchung wahrgenommen, daher sollte die Frau möglichst vor den Blicken des männlichen Arztes geschützt werden. Sie sollte so wenig Kleidungsstücke wie möglich ablegen und der Arzt war gehalten, sie in stehender Position zu untersuchen. Nicht alle Ärzte teilten die Ansicht, dass Frauen nur mittels »Getast«, nicht jedoch mit Hilfe der in Frankreich wiederentdeckten und fortentwickelten Specula durch das »Gesicht« untersucht werden sollten.65 Osiander hielt sich offenbar an die Regel, nur tastend, nicht blickend seine Patientinnen zu untersuchen. Wenn Befunde nur tastend erworben werden durften, konnten die Zeugen die Operation selbst nicht aus der Nähe beobachten, gleichwohl war es ihnen erlaubt vor und nach dem operativen Eingriff eine Untersuchung mittels »Getast« durchzuführen. Auch konnten sie mit eigenen Augen das »Herausgeschnittene« begutachten sowie bezeugen, dass die Operation stattgefunden hatte.

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sonderung von Schleim der »Gebärmutterwände« und der »Scheide«. Besonders viel Ausfluss beobachteten die Mediziner vor der Menstruation, während der Schwangerschaft, bei »Reizung der Geschlechtstheile«, bei viel Bewegung, bei großer Hitze und nach dem Genuss von heißen Getränken. Der Schleim war mal milchig-schleimig, mal wässrig, mal blutig, mal gelblich oder grünlich. Der Geruch des Ausflusses konnte wechseln von geruchlos zu mild oder scharf riechend bis hin zu unangenehm stinkendem Geruch. Der weiße Fluss galt wie der Skirrhus als mögliches Vorstadium des Gebärmutterkrebses. Vgl. Jörg: Handbuch der Krankheiten des Weibes (Anm. 8), S. 347–370. Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 52. Ebd., S. 53. Vgl. Seidel: Eine neue »Kultur des Gebärens« (Anm. 1), S. 403–414; Hans Peter Duerr: Intimität. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 2, Frankfurt am Main 1990, S. 49f. Das Tabu des Blickens war möglich spezifisch für den deutschsprachigen medizinischen Diskurs um 1800 – Moscucci arbeitet heraus, dass im englischsprachigen Diskurs eher die Penetration durch das Speculum »skandalisiert« wurde, vgl. Ornella Moscucci: The Science of Woman. Gynaecology and Gender in England, 1800–1929, Cambridge et al. 1990, S. 112–127.

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»Augenzeugenschaft« Ein wichtiges Mittel zur Erzeugung dieser wissenschaftlichen Erfahrung im Experiment war unter anderem die Augenzeugenschaft.66 In den Göttingischen gelehrten Anzeigen wurde den Vorwürfen Osiander gegenüber, mit der Versicherung seiner wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit begegnet – hierbei spielen die Augenzeugen eine Schlüsselrolle: »Er hat, wie ihm wohl öffentlich vorgeworfen worden, von Anfang an nie ein Geheimnis aus seiner Operationsart gemacht, ja niemals solche Operationen ohne fremde Zeugen unternommen, sie jedes Jahr in seinem Collegio gelehrt, wiederholt öffentlich vor seinen Zuhörern verrichtet...«67 Auch Osiander selbst benannte in seinen publizierten Berichten über seine Operationen stets die anwesenden Ärzte als Zeugen.68 Als zweiten Beweis für die Wissenschaftlichkeit und Glaubwürdigkeit seines Vorgehens zeigte er den Mitgliedern der Göttinger Akademie der Wissenschaften das »abgeschnittene, noch in Weingeist aufbewahrte, Stück, so wie mehrere andere von solchen Operationen«.69 Mit dem Vorzeigen eines Objekts als Beweis für eine gelungene Operation, vollzog sich eine Distanzierung von der Operierten, indem lediglich das »Herausgeschnittene« Gegenstand der Betrachtung wurde. Nach heutigem Verständnis würde man von der Herstellung wissenschaftlicher Objektivität sprechen – Daston verweist in ihrer Geschichte der Objektivität allerdings darauf, dass der substantivische Begriff mit dem heutigen Verständnis erst um 1850 im wissenschaftlichen Diskurs auftauchte.70 Auch in der Fallbeschreibung über die Operation Anna Heinzes führte Osiander Ärzte mit fachlichem Ansehen an, die ihm als Zeugen zur Verfügung standen: »D. 24. – 25. – 26. untersuchten verschiedene Herrn von meinem Auditorio die Kranke; namentlich der Herr Leib-Chirurgus Freys von Rotenburg, der eines Collegii privatiss. Obstetricii wegen sich gegenwärtig hier aufhält und das Institut besucht.«71 Diese Zeugen waren konstitutiv für Osianders wissenschaftlich glaubhaftes Vorgehen, denn auch seine Kollegen Karl Gustav Himly (1772–1837)72 und

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Vgl. Shapin: The Scientific Revolution (Anm. 5), S. 88. Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft (Anm. 23), S. 1298f. Vgl. Osiander: Heilung des Mutterkrebses (Anm. 15) , S. 134. Hier benennt Osiander den Leibmedicus Althof aus Dresden, den Leibmedicus Wardenburg aus Polen, Dr. Fischer aus München und seinen Göttinger Kollegen Dr. Langenbeck als Zeugen für die von ihm vermutlich 1801 durchgeführte Uterus-Exstirpation. In dem Bericht in der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wird betont, dass Osiander »niemals solche Operationen ohne fremde Zeugen unternommen, sie jedes Jahr in seinem Collegio gelehrt, wiederholt öffentlich vor seinen Zuhörern verrichtet« habe. Osiander (Anm. 23), S. 1299. Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft (Anm. 23), S. 1292. Vgl. Daston: Objectivity versus Truth (Anm. 6). Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 53. Der Chirurg Karl Gustav Himly war seit 1792 Direktor des akademischen Hospitals der Universität Göttingen.

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Conrad Johann Martin Langenbeck aus der Medizinischen Fakultät zu Göttingen zweifelten noch daran, dass er eine Heilmethode gegen Gebärmutterkrebs gefunden hatte. Sie äußerten in der Öffentlichkeit die Vermutung, dass es nicht der »Mutterkrebs« gewesen sei, von dem Osiander seine Patientinnen befreit habe. Auch Langenbeck, der wenig später selbst eine Gebärmutter-Exstirpation durchführte, trat – so Osiander – noch für die Therapie von Gebärmutterkrebs mit einer »Salbe von Schweinefett und Arsenic« ein, welche er »durch eine Hebamme in die Genitalien habe bringen lassen«.73 Osiander betonte im Weiteren nicht ohne Pathos: ... so habe ich zum Besten der Menschheit, und Ehre der Kunst für nöthig geachtet Hr. Ritt. Blumenbach als unpartheyischen Zeugen zu bitten, den Zustand der kranken Heinzin vor d[er] Op[eration] zu untersuchen und so Gott die Heilung eben so gelingen läßet, wie bei der vorigen Patientin, am Ende ein sicherer und unverdächtiger Zeuge von dem ganzen Vorgang seyn zu können.74

Bei dem »Zeugen« handelte es sich um Johann Friedrich Blumenbach (1752– 1840), der zur selben Zeit Professor für Anatomie an der Universität Göttingen war.75 Auch während der Operation waren »viele Studenten« sowie vierzehn Leibchirurgen – darunter Samuel Thomas von Soemmering (1755–1830)76 und Wilhelm H. Hennemann (1786–1843)77 – anwesend. Vor der Operation ließ Osiander nochmals »einige Herren untersuchen« und schnitt darauf die »Blumenkohlartigen Stücke aus«, wofür er nach eigenen Angaben eine Stunde brauchte. Anschließend versorgte er die Operationswunde mit einem arzneigetränkten Schwamm. In einem anderen Fall, ließ Osiander seinen Sohn Johann Friedrich Osiander (1787–1855)78

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Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 54. Ebd. Johann Friedrich Blumenbach war aufgrund seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Naturgeschichte, Anatomie und Physiologie, die in viele Sprachen übersetzt wurden, international anerkannt. Auch als aufklärerischer und naturphilosophischer Denker verschaffte er sich Ansehen. Zwar reiste er für einen Gelehrten seiner Zeit sehr wenig, doch stand er mit bedeutenden Gelehrten seiner Zeit in Briefkontakt. Samuel Thomas Soemmerring war ein bedeutender Anatom des 18. und 19. Jahrhunderts und vielseitiger Gelehrter, hatte 1774 bis 1778 Medizin in Göttingen bei Wrisberg studiert. Er lehrte und forschte 1779–1784 in Kassel, 1784–1804 in Mainz und 1804–1819 in München. In München gehörte er der Bayrischen Akademie der Wissenschaften an. Soemmerring gilt aufgrund seines empirischen Vorgehens, seiner betont rationalen Argumentationsweise und exakter Beobachtung als typischer Vertreter einer Medizin der Aufklärung. Hennemann studierte in Halle und Göttingen Medizin, war praktischer Arzt in Schwerin, später Hofmedicus und Leibarzt des Großherzogs Paul Friedrich. Er galt als geschickter Operateur und hatte zahlreiche Artikel in dem Hufelandschen ›Journal der practischen Heilkunde‹ publiziert. Vgl. August Hirsch: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und aller Völker, Wien , Leipzig 1886, Band 3, S. 155. Johann Friedrich Osiander hatte 1804–1808 Medizin bei seinem Vater in Göttingen studiert und wurde ebenfalls Geburtshelfer, vertrat nach dem Tod Friedrich Benjamin

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in Gegenwart der Studenten mit der »Exstirpations Scheere« bei Theresia Artmann einen »fungus carcinomatosus« herausschneiden. Osiander schilderte den weiteren Verlauf dieser Operation wie folgt: »[D]a die […] durchgeschnittenen infarcirten Gefäße sehr bluteten, so mußte von dem feineren Schneiden abgestanden werden.«79 Die starke Blutung konnte mit drei Schwämmen gestillt werden, die mit einem blutstillenden Wirkstoff getränkt waren und in die Vagina eingeführt wurden. Allerdings fiel die Patientin »7–8 Mal« in Ohnmacht. Vier Tage später unternahm Osiander selbst einen zweiten Versuch den »fungus« zu entfernen, der ebenfalls wegen einer starken Blutung abgebrochen werden musste. Nach zwei weiteren Tage verstarb die Operierte im Entbindungshospital.80 Diese Patientin, Gattin eines Tagelöhners, hatte, bevor sie das Entbindungshospital aufsuchte, sich von einer Hebamme untersuchen lassen. Diese hatte sie darauf hingewiesen, »daß die Gebärmutter nach hintenzu knupperig sey«.81 Daraufhin konsultierte die Patientin noch zwei Ärzte und dann erst Osiander. An dieser Schilderung lässt sich ablesen, dass Frauenkrankheiten durchaus in das Arbeitsgebiet von Hebammen fielen und Osiander mitunter erst dann aufgesucht wurde, wenn andere Ärzte erfolglos therapiert hatten.

Beobachten und Aufschreiben Die Fallbeschreibung über die Operation Anna Heinzes stellt eine detaillierte Schilderung dessen dar, was Osiander während der Untersuchung und des chirurgischen Eingriffs beobachtet hatte. Er schrieb das Beobachtete so plastisch auf, dass die Leser und Leserinnen durch die inneren Bilder, welche durch die Schilderung evoziert werden, wie die zur Operation geladenen Leibchirurgen zu Augenzeugen des Geschehens werden.82 Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Zeichnungen, mit denen Osiander seine Ausführungen illustrierte. Dabei konzentrierte er sich auf das zu operierende Körperteil bzw. auf die Geschwülste, während die Patientin mit ihren Bedürfnissen und ihrer Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet wurde. Hierin unterscheidet sich Osianders Beschreibung der Operation von vergleichbaren, wenig später veröffentlichten Fallbeschreibungen seiner Kollegen Johann

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Osianders vorübergehend den verwaisten Lehrstuhl, arbeitete ansonsten als niedergelassener Geburtshelfer. Fallbeschreibung: Theresia Artmann. In: Tagbuch des Königlich Großbritannischen Hannoverschen Entbindungshospitales zu Göttingen, 1811–1812, Band XIII, S. 95 und S. 102., hier S. 102. Vgl. Fallbeschreibung: Theresia Artmann (Anm. 79), S. 102. Vgl. ebd., S. 95. Jens Lachmund hat diese Schreibweise zutreffend als »virtuelle Zeugenschaft« charakterisiert: Der Autor gibt dem Leser das Gefühl, dabei zu sein. Vgl. Jens Lachmund: Der abgehorchte Körper – zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung, Opladen 1997, S. 86.

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Nepumuk Sauter83 und Adam Elias von Siebold.84 Beide Ärzte ließen die Perspektive der Patientin in ihren Fallgeschichten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, einfließen. Bemerkenswert an Sauters medizinischer Fallbeschreibung ist, dass der Arzt seine Patientin als aktiv Handelnde in die »Geschichte« einführte, ihre Krankheitswahrnehmung ausführlich schilderte und sie schließlich als treibende Kraft in der Entscheidung für den lebensgefährlichen chirurgischen Eingriff charakterisierte. Der aktive Part der »frohen« und »unerschrockenen« Patientin wird um so mehr hervorgehoben, als Sauter sich selbst als ängstlich, zögerlich und voller Skrupel darstellte. Sauter und von Siebold betonten, dass ihre Patientinnen der Operation in dem Wissen, dass diese tödlich verlaufen könnte, zugestimmt hatten.85 Auch Osiander wies in seinen publizierten Fallgeschichten von Operationen bei Patientinnen außerhalb der Klinik darauf hin, dass er sich zuvor deren Zustimmung eingeholt habe.86 Im Entbindungshospital hatte die Patientin, vermutlich mit der Aufnahme in die Anstalt, ihr Einverständnis zu allen Maßnahmen gegeben. In den Fallgeschichten wird jeweils erwähnt, wenn eine Patientin ein »Armutszeugnis« abgelegt hatte. Deshalb musste sie wie die im Haus Gebärenden für die kostenlose Unterbringung und Therapie als Gegenleistung der Forschung und Lehre zur Verfügung stehen.87 Osianders Fallbeschreibung unterschied sich von denen seiner Kollegen dadurch, dass er die subjektive Wahrnehmung seiner Patientinnen offenbar nur dann beschrieb, wenn sie seinen »experimentellen« Aufbau störten. Der Professor reagierte auf das im Folgenden beschriebene Verhalten Anna Heinzes offensichtlich verärgert: Nach der Operation klagte die Operierte, eine ohnehin empfindliche Person, über viele Schmerzen im Uterus, und war ungedultig, unruhig und meynte sie müsse sterben. Auf ernstliches Ermahnen aber ruhig zu liegen, blieb sie endlich völlig ruhig.88

Er ließ sich hier offenbar zu einer Bemerkung über die Patientin hinreißen, weil sie mit ihrem Verhalten nicht seinen Erwartungen entsprach. So hatte er in seinem Vortrag vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften betont, dass die Operation

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Vgl. Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm. 29). Vgl. von Siebold: Eine vollkommene Exstirpation der scirrhösen, nicht prolabirten Gebärmutter (Anm. 31). Vgl. hierzu Karen Nolte: Zeitalter des ärztlichen Paternalismus? – Überlegungen zu Aufklärung und Einwilligung von Patienten im 19. Jahrhundert. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25 (2006), S. 59–89. Vgl. Osiander: Veranlassung zu einer Reise nach Leipzig (Anm. 51), S. 11 und S. 19; vgl. auch Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft (Anm. 23), S.1291. Vgl. zu den Aufnahmebedingungen und dem Umgang mit den Patientinnen im Göttinger Entbindungshospital Jürgen Schlumbohm: »Verheiratete und Unverheiratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin«: Die Patientinnen des Entbindungshospitals der Universität Göttingen um 1800. In: Struktur und Dimensionen, Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Gerhard, Stuttgart 1997, S. 324– 343. Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 55.

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Karen Nolte

»nach Aussage aller Frauen, welche sie aushielten, lange nicht so schmerzhaft [sei], als man es sich vorstellt, und die Heilung gehe über alle Erwartung schnell vor sich.«89 Anna Heinzes subjektives Schmerzempfinden widersprach dieser wissenschaftlichen Erfahrung; dies ließ sie in Osianders Augen zu einer »ohnehin empfindlichen Person« werden. Durch ihre Unruhe gefährdete sie den Erfolg der Operation, weshalb sie zum Stillliegen ermahnt wurde. Im Weiteren berichtete der Göttinger Professor, dass die Operierte fortwährend über Schmerzen klage, die Höhle des Uterus sich nicht anfüllen wolle und die Härte des Uterus nicht in dem erwarteten Maße abnehme. Nachdem zunächst die Eiterung »gut« gewesen sei, seien schließlich große Mengen wässrige Flüssigkeit aus den Genitalien geflossen. Anna Heinze blieb insgesamt 2 Monate im Entbindungshospital, bis Osiander die »Hoffnung auf[gab,] sie zu retten«.90 Doch sein Plan, sie noch vor ihrem Tod zu entlassen, scheiterte: Ich wollte sie nach Hause schaffen, aber niemand wollte sie wegen der herumschweif [enden] Cosaken fortführen u[nd] auf d[en] Postwagen konnte sie nicht fahren, und vom Haus wollten die Ihrigen, die ich benachrichtigte sie nicht abholen.91

In der Phase der zunehmenden Verschlechterung des Gesundheitszustands der Patientin und ihres Sterbens wurden keine Zeugen oder Studenten mehr erwähnt – auch die »Leichenöffnung« fand ohne diese statt. Zwar sollte Johann Friedrich Blumenbach »am Ende ein sicherer und unverdächtiger Zeuge von dem ganzen Vorgang«92 sein, aber offenbar sollte er nur einen erfolgreichen Verlauf bezeugen. In dem oben erwähnten Vortrag vor den Mitgliedern der Göttinger Akademie der Wissenschaften wies Osiander darauf hin, dass eine Gebärmutter-Operation im Entbindungshospital nur bei guten Heilungschancen durchzuführen sei. Endete diese unter Zeugen begonnene Therapie dann doch mit dem Tod der Operierten, so war dies nicht nur dem Ruf des Operateurs und der universitären Klinik wenig zuträglich. In diesem Kontext ist das Bestreben Osianders, die Sterbende »wegzuschaffen«, bevor sie in der Anstalt starb, zu deuten. Schließlich musste er in den Jahresberichten über das Göttinger Entbindungshospital genauestens über die Zahl der dort Gestorbenen Rechenschaft ablegen.93 Nachdem jedoch die Todkranke nicht entlassen werden konnte, wurde sie im Entbindungshospital palliativ therapiert: »Sie wurde tägl[ich] ausgespült [...], ihr stärkende Mittel und gute Fleischbrühen, auch tägl[ich] Wein von m[einem] Tische gegeben, wozu sie einen ganz besonderen Gelust hatte.«94 In dem gleichen Jahr starb die 27jährige Charlotte Diefholz laut Aufnahmebuch ebenfalls nach einer Operation nach carcinoma uteri; ihre Krankengeschichte ist nicht überliefert.

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Osiander: Vortrag vor der Versammlung der königlichen Gesellschaft (Anm. 23), S. 1393. Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 71. Ebd. Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 54. Diese Jahresberichte wurden jeweils in den ›Göttingischen gelehrten Anzeigen‹ publiziert. Fallbeschreibung: Anna Heinze (Anm. 61), S. 71.

»Zum Besten der Mehrheit, und zur Ehre der Kunst«

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1816 verkündete Osiander dem Fachpublikum nochmals, eine Heilmethode für Gebärmutterkrebs gefunden zu haben. Begleitend zur teilweisen Exstirpation der Gebärmutter wendete er »aqua laurocerasi« an – eine blausäurehaltige95 Arznei: Und diese Anwendung übertraf alle Erwartung. Die angeschwollene und verhärtete Gebärmutter wurde in kurzem weicher, kleiner, und erhielt nach und nach ihre natürliche Form und Größe. Die Blutungen hörten ganz auf, und die natürliche Ordnung der Menstruation trat wieder ein.96

Die Todesfälle, die zwischen der letzten Publikation im Jahr 1808 und der Erfolgsmeldung von 1816 lagen, wurden nicht erwähnt. Zwei Jahre später operierte Friedrich Benjamin Osiander Maria Eggers, die von ihrem Mann, einem »Husaren« in das Entbindungshospital gebracht worden war. Die »Herren Zuhörer« waren Zeugen, dass Osiander den Polypen, der in die Vagina ragte, herausschnitt. Die Operierte starb noch im gleichen Monat zu Hause. Die genauen Umstände ihres Sterbens sind nicht beschrieben.97 Das Dienstmädchen Philippine Fuchs wurde 1820 operativ von einem »scirrhösen Tumor« befreit, ihre Wunde heilte »vollends«. Ihre Krankengeschichte bricht ab, so dass ihr weiteres Schicksal nicht überliefert ist. Die Todesfälle im Entbindungshospital wurden nicht öffentlich verhandelt. Erst 1820 sah Osiander sich veranlasst, zu den Todesfällen zweier von ihm in Leipzig operativ behandelten Patientinnen öffentlich Stellung zu beziehen.

Schlussfolgerungen Friedrich Benjamin Osiander bediente sich einiger für den Ärztestand typischen Strategien, um sich als Autorität auf dem Feld der operativen Frauenheilkunde zu installieren. Von bleibender Wirkung war seine Behauptung, der erste Arzt gewesen zu sein, welcher mit Erfolg eine Exstirpation des krebshaften Gewebes an der Gebärmutter vorgenommen hat. Schon in zeitgenössischen medizinhistorischen Darstellungen zur Gebärmutterkrebsoperation wurde er als »Held« und »Pionier« gewürdigt.98 Auch spätere Handbücher zur Geschichte der Gynäkologie nennen

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Bei Blausäure handelt es sich um Kirschlorbeerwasser, welches auch als Schmerzmittel eingesetzt wurde. Osiander: Bericht ohne Titel (Anm. 17), S. 123–126. Fallbeschreibung: Maria Eggers. In: Tagbuch des Königlich Großbritannischen Hannoverschen Entbindungshospitales zu Göttingen, 1816–1818, S. 144. Vgl. u.a. Sauter: Die gäntzliche Extirpation der carcinomatösen Gebärmutter (Anm. 29), S. 19–29. und von Siebold: Eine vollkommene Exstirpation der scirrhösen, nicht prolabirten Gebärmutter (Anm. 31), S. 513. Obwohl Adam Elias von Siebold zu den Kritikern an Osianders Methode gehörte, würdigte er ihn als denjenigen, dem der Verdienst zukomme, das Feld eröffnet zu haben.

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Karen Nolte

Friedrich Benjamin Osiander als denjenigen Arzt, der das Feld der operativen Therapie von Gebärmutterkrebs eröffnet habe.99 Seinen ersten, umstrittenen Versuchen, den Gebärmutterkrebs operativ zu entfernen, verlieh er Glaubwürdigkeit, indem er auf das Konzept des wissenschaftlichen Experiments zurückgriff. Diese Form des wissenschaftlichen Experiments war in der Frühen Neuzeit, wie Stolberg in seinen Überlegungen zur ärztlichen Autorität schreibt, im Bereich der Medizin weniger üblich.100 Während Operateure wie Langenbeck nur einen Zeugen nannten, führte Osiander stets eine größere Anzahl von Augenzeugen an, die seine Glaubwürdigkeit stützen sollten. Bei seiner Operation von Anna Heinze im Jahre 1813 waren ganze 14 chirurgische Leibärzte sowie seine Studenten zugegen. Daraus lässt sich andererseits schließen, dass Osiander mit seinem Vorgehen unter einem besonderen Legitimationsdruck stand. Die subjektiven Wahrnehmungen der Patientin, die in den medizinischen Fallbeschreibungen anderer Operateure ausführlich beschrieben wurden, blendete Osiander in seinem wissenschaftlichen Aufschreibesystem weitgehend aus. Lediglich die Schmerzen der Operierten, die als einzige subjektive Äußerung in die Beschreibung des Verlaufs der Therapie von Bedeutung waren, wurden von Osiander notiert und klassifiziert. Aufmerksamkeit verdient des Weiteren, dass Osiander das »Herausgeschnittene« in Weingeist aufbewahrte und als sichtbaren Beweis seinen Kollegen von der Göttinger Akademie der Wissenschaften vorführte. Osiander strebte auf diese Weise eine »Objektivierung« seiner experimentellen Operationen an, wobei nicht mehr die geheilte Patientin als sichtbarer Beweis von vorrangiger Bedeutung war, sondern vielmehr ein Objekt an ihre Stelle trat. Der Heilerfolg war infolgedessen nicht mehr im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, sondern vielmehr die wissenschaftlich-systematische Methode, die Osiander für die operative Therapie des Gebärmutterkrebses etablierte.

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Vgl. Isidor Fischer: Geschichte der Gynäkologie. In: Ein Handbuch der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Hrsg. von Josef Halban, Ludwig Seitz , Berlin, Wien 1924, S. 1–202, hier S. 154f.; Ricci: One Hundred Years of Gynaecology (Anm. 9), S. 222f. Vgl. Stolberg: Formen und Strategien der Autorisierung (Anm. 3), S. 208.

Tom Kindt und Tilmann Köppe

Literatur und Medizin Systematische und historische Überlegungen anhand programmatischer Texte des europäischen Naturalismus* »The trouble is, as so often in philosophy, it is hard to improve intelligibility while retaining the excitement.« (Donald Davidson)

Die Frage nach der Beziehung von Literatur und Medizin hat in den Text- und Sozialwissenschaften seit einiger Zeit Konjunktur. Die Gründe für diese Entwicklung liegen insgesamt nicht auf der Hand – offensichtlich ist jedoch, dass sich der Erfolg jener Fragestellung nicht zuletzt aus den vielen unterschiedlichen Deutungen erklärt, die sie zulässt. Konjunktur hat hier, das macht bereits ein flüchtiger Blick in jüngste Forschungsberichte, Überblicksartikel und Sammelrezensionen deutlich,1 nicht ein klar charakterisiertes Thema, sondern eine Vielzahl recht diverser Projekte. Unter der Überschrift ›Literatur und Medizin‹ werden so unterschiedliche Unternehmungen zusammengefasst wie die motivgeschichtliche Beschäftigung mit der Darstellung von Ärzten und Krankheiten in literarischen Werken, die soziologische Rekonstruktion der Beziehungen zwischen dem Sozialsystem Literatur und der Institution Medizin, die Erforschung des therapeutischen Potenzials der Produktion oder Rezeption von literarischen Texten, die Untersuchung unterschiedlicher Modi und Formen der Organisation und Tradierung medizinischen Wissens, die Auseinandersetzung mit literarischen Hervorbringungen von Ärzten oder Kranken, usf.2 Eine solche Situation mag als chaotisch beklagt oder als inspirierend begrüßt werden – unstrittig dürfte sein, dass sie diejenigen, die dem Verhältnis von Lite-

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Für Hinweise zu einer früheren Version des Beitrags danken wir Simone Winko, für die Einrichtung des Textes Manuel Werder. Vgl. etwa Walter Erhart: Medizin – Sozialgeschichte – Literatur. In: IASL 29 (2004), S. 118–128; Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert: Von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical Writing‹. In: Gesnerus 63/1,2 (2006), S. 127–143; Dietrich von Engelhardt: Geleitwort. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Hrsg. von Bettina von Jagow, Florian Steger. Göttingen 2005, Sp. 1–6; Bettina von Jagow, Florian Steger (Hrsg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005; Florian Steger: Literatur und Medizin. In: KulturPoetik 5 (2005), S. 111–118; Peter Stulz, Frank Nager, Peter Schulz: Vorwort. In: Literatur und Medizin. Hrsg. von Peter Stulz, Frank Nager, Peter Schulz. Zürich 2005, S. 9f.; Klara Obermüller: Der Mensch in seiner ganzen Schwäche. Gedanken zum Verhältnis von Literatur und Medizin. In: ebd., S. 233–244. Einen repräsentativen Überblick über das Spektrum der Beiträge zum Thema vermitteln die Inhaltsverzeichnisse der 1981 gegründeten Zeitschrift ›Literature and Medicine‹.

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ratur und Medizin nachgehen wollen, dazu veranlassen sollte, sich näher zum Gegenstand ihres Interesses zu äußern. Bevor wir uns im Folgenden mit der Analyse der Relation von Literatur und Medizin in programmatischen Texten des europäischen Naturalismus beschäftigen, wollen wir darum zumindest grob umreißen, worum genau es in unserer Untersuchung gehen wird. Aus Platzgründen und Mangel an Vorarbeiten, auf die wir uns stützen könnten, werden wir uns in unserer Vorbemerkung auf kurze Erläuterungen zu den Begriffen des Wissens, der Literatur und der Medizin beschränken (1). Vor dem Hintergrund unserer skizzenhaften Begriffsklärungen wollen wir dann anhand zweier bekannter Manifeste des Naturalismus dessen Sicht des Verhältnisses von Literatur und medizinischem Wissen exemplarisch herausarbeiten. Genauer gesagt, geht es uns um die Untersuchung der These, literarische Werke könnten einen Beitrag zur Gewinnung medizinischen Wissens leisten (2). Im folgenden Abschnitt werden wir einige Hinweise zur Diskussion und Evaluation der rekonstruierten Positionen liefern (3). Den Abschluss unserer Überlegungen wird ein Hinweis zu ihrer Stellung innerhalb der gegenwärtigen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Dichtung und Wissen(schaft) bilden (4).

1. Wenn wir im Folgenden von ›Literatur‹ sprechen, dann wird es uns stets um literarische Werke gehen. Wir werden den Ausdruck ›Literatur‹ also weder im Sinne der Sozialgeschichte oder der Empirischen Literaturwissenschaft zur Bezeichnung eines gesellschaftlichen Handlungssystems verwenden3 noch in der Nachfolge formalistischer bzw. strukturalistischer Positionen zur Bezugnahme auf (eine Menge von) Texteigenschaften nutzen.4 Durch einen solchen Hinweis allein wird natürlich keine hinreichende Klarheit über die Verwendung des Literaturbegriffs hergestellt – denn das Konzept des literarischen Werks wird kaum weniger heterogen bestimmt und verwendet als das der Literatur und macht mithin seinerseits einige explikative Bemerkungen erforderlich.5 Der Ausdruck ›literarisches Werk‹ soll im vorliegenden Zusammenhang

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Vgl. zu dieser Position etwa Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, Jörg Schönert (Hrsg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein strukturalfunktionaler Entwurf. Tübingen 1988; sowie Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1989; Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1991 [Neuausgabe der zweibändigen Erstausgabe von 1980/82]. Vgl. hierzu die Titelliste in Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. 3. Auflage. München 1993, S. 65. Eine Übersicht über die Debatten zum Begriff der Literatur bietet jetzt Jürn Gottschalk, Tilmann Köppe (Hrsg.): Was ist Literatur? Paderborn 2006. Wir sprechen hier und im Folgenden mit Bedacht von literarischen Werken – denn als Mitglieder der Klasse der Literatur betrachten wir Werke und nicht Texte, vgl. zu dieser

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im Sinne eines Erläuterungsvorschlags verstanden werden, der auf Überlegungen der Philosophen Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen zurückgeht.6 Wir beschränken uns auf fiktionale literarische Werke und fassen im Anschluss an Lamarque und Olsen ›Fiktionalität‹ und ›Literatur‹ als »institutional concepts« auf. Ein institutioneller Begriff »is defined within a practice involving authors (as producers), texts, and readers«.7 Konkret heißt dies, dass wir einen Text genau dann als literarisches Werk verstehen wollen, wenn ihm zum einen die Absicht zugrunde liegt, im Sinne der Regeln der fiktionalen und der literarischen Praxis behandelt zu werden, und zum anderen die übergeordnete Absicht, dass entsprechende Einstellungen ihm gegenüber nicht zuletzt aufgrund der Wahrnehmung jener ersten Intention zustande kommen. Ob es sich bei einem Text um ein fiktionales literarisches Werk handelt, folgt nach dieser Position nicht aus seinen formalen Merkmalen – entscheidend ist vielmehr, ob ihm eine Rolle in der institutionellen Praxis Literatur zukommt, deren Handlungen und Hervorbringungen durch ein Menge historisch variabler Konzepte und Konventionen konstituiert und reguliert werden.8 Den Begriff ›Medizin‹ wollen wir im Kontext unserer Untersuchung recht weit verstehen. Er umfasst die Wissenschaft vom gesunden und kranken Menschen und umgreift Körperliches wie Seelisches sowohl in individueller als auch in sozialer

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Unterscheidung zuletzt Paisley Livingston: Texts, Works, Versions (with Reference to the Intentions of Pierre Menard). In: ders.: Art and Intention. A Philosophical Study. Oxford 2005, S. 112–134. Vgl. insbesondere Stein Haugom Olsen: The Structure of Literary Understanding. Cambridge 1978 und Peter Lamarque, Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994. Lamarque, Olsen: Truth, Fiction, and Literature (Anm. 6), S. 255; zur Institution der Fiktionalität vgl. ebd., Kap. 2; zur Literatur ebd., Kap. 10. – Statt »fiktionales literarisches Werk« sagen wir nachstehend auch kurz »literarisches Werk« oder »Literatur«. Vgl. ebd. 256. Ein institutioneller Literaturbegriff, wie er hier zugrunde gelegt wird, ist nicht zu verwechseln mit einem ›pragmatischen‹ Literaturbegriff, wie er etwa in Titzmann: Strukturale Textanalyse (Anm. 4), S. 65f.; Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Hrsg. von dens. Stuttgart, Weimar 1997, S. 10f.; oder Michael Titzmann: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Hrsg. von Roland Posner et al. Berlin, New York 2003, Sp. 3031, vorgeschlagen wird. Problematisch an dieser Form der Begriffsbestimmung ist (unter anderem), dass sie uninformativ ist; einschlägige Kritikpunkte finden sich bereits in Monroe C. Beardsley: Review of ›The Theory of Literary Criticsm‹. A Logical Analysis by John M. Ellis. In: Comparative Literature 28 (1976), S. 177–180. – Der vorgeschlagene Literaturbegriff soll im vorliegenden Zusammenhang lediglich der Erläuterung des Literaturverständnisses dienen, das sich in Europa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Gemeinhin werden mit der institutionellen Definition von Literatur allerdings weitergehende Ansprüche verknüpft, vgl. dazu Stein Haugom Olsen: The Concept of Literature: An Institutional Account. In: From Text to Literature. New Analytic and Pragmatic Approaches. Hrsg. von dems., Anders Petterson. Houndmills, New York 2005, S. 11–35, S. 20f.

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Perspektive. Wie die Literatur des Naturalismus, deren poetologische Grundlagen wir im Folgenden analysieren wollen, werden wir uns auf dem weiten Feld des Medizinischen vor allem dem Phänomenbereich widmen, der sich aus dem Schnittpunkt des Seelischen und des Sozialen ergibt und in der gegenwärtigen akademischen Fächeraufteilung zumeist der Individual- oder Sozialpsychologie bzw. der Psychiatrie zugeschlagen wird. In diesen Bereich fallen Aspekte der Interaktion zwischen Individuen, wie Personenwahrnehmung, interpersonale Attraktivität oder Vorurteile, auf andere Personen gerichtete Emotionen (wie beispielsweise Neid oder Eifersucht) und dergleichen Dinge mehr. Etwas mehr Aufwand erfordert die Bestimmung des hier einschlägigen Wissensbegriffs. In der philosophischen Erkenntnistheorie wird ›Wissen‹ zumeist als gerechtfertigte, wahre Meinung verstanden.9 Das heißt: Wenn wir von einer Person sagen, sie wisse, dass ein bestimmter Sachverhalt der Fall ist, dann sagen wir damit erstens, die Person habe die Meinung, der Sachverhalt sei der Fall, zweitens, der Sachverhalt bestehe tatsächlich (die Meinung sei also wahr), und drittens, die Person verfüge über gute Gründe für ihre wahre Meinung. Jede dieser Bedingungen trägt bestimmten Intuitionen über den Wissensbegriff Rechnung: Wenn ich nicht einmal der Meinung bin, dass ein bestimmter Sachverhalt der Fall ist, dann kann ich erst recht nicht wissen, dass der Sachverhalt der Fall ist (daher die Meinungsbedingung). Wenn der Sachverhalt gar nicht der Fall ist, ich aber dennoch der Meinung bin, er sei der Fall (wenn also die Wahrheitsbedingung nicht erfüllt ist), so sprechen wir von einer falschen Meinung oder von einem Irrtum, und auch dies ist nicht mit Wissen vereinbar. Schließlich gehört zu einer Meinung, dass derjenige, der sie hat, Rechenschaft darüber ablegen kann, weshalb er die Meinung hat, d.h. was für ihre Wahrheit spricht. Von jemandem, der durch bloßes Raten zu einer wahren Meinung über einen Sachverhalt kommt, würden wir nicht sagen, er wisse um die Wahrheit der Meinung.10 Im Einzelnen freilich ist die Bestimmung des Wissensbegriffs in der Philosophie umstritten; vor allem ist geltend gemacht worden, dass die genannten drei Bedingungen zwar notwendig, nicht jedoch hin-

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Vgl. z.B. Keith Lehrer: Theory of Knowledge. Second Edition. Boulder, Oxford 2000, S. 11– 18 u.ö.; Michael Williams: Problems of Knowledge. A Critical Introduction to Epistemology. Oxford 2001, S. 16–27 u.ö.; Peter Baumann: Erkenntnistheorie. Stuttgart, Weimar 2002, S. 33–40 u.ö. ›Meinung‹ heißt hier so viel wie ›Überzeugung‹ (belief); es handelt sich um eine propositionale Einstellung, der die subjektive Wahrscheinlichkeit 1 zugeordnet wird, vgl. Franz von Kutschera: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin, New York 1982, S. 2. Genau genommen ist es sogar höchst unwahrscheinlich, eine Meinung auch nur zu haben, wenn man nichts zur Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit sagen kann. In aller Regel haben wir in solchen Fällen epistemisch ›schwächere‹ Einstellungen wie Vermutungen, Mutmaßungen o.ä., d.h. Einstellungen, denen wir nicht die subjektive Wahrscheinlichkeit 1 zuordnen; zum Zusammenhang von Meinungen (Überzeugungen) und Begründungen vgl. Robert Brandom: Knowledge and the Social Articulation of the Space of Reasons. In: Philosophy and Phenomenological Research 60 (1995), S. 895–908; Williams: Problems of Knowledge (Anm. 9), S. 20.

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reichend für Wissen sind.11 Diese Diskussionen brauchen uns hier aber nicht zu interessieren. Neben der Philosophie gibt es noch andere Disziplinen, die den Ausdruck ›Wissen‹ verwenden, und zwar in von der philosophischen Diskussion deutlich abweichender Weise. Als Beispiel kann hier die Wissenssoziologie dienen. Bei Peter Berger und Thomas Luckmann wird ›Wissen‹ definiert als »Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben«.12 Offensichtlich ist es zunächst das Fehlen der Wahrheitsbedingung, das den wissenssoziologischen Wissensbegriff vom philosophischen unterscheidet: Auch Berger und Luckmann sprechen einer Person dann Wissen zu, wenn diese Person eine bestimmte Meinung hat, die sie für wahr hält, aber diese Meinung muss ganz offensichtlich nicht wahr sein, um einen Fall von Wissen darzustellen. Wie es mit der Rechtfertigungsbedingung steht, ist nicht ganz klar: Es spricht einiges dafür, dass man, um einer Meinung gewiss zu sein, über weitere Meinungen verfügen muss, die für die Wahrheit der Meinung sprechen; insofern scheint die Rechtfertigungsbedingung ›implizit‹ in der Berger-Luckmann’schen Bestimmung des Wissensbegriffs enthalten zu sein. Von diesen Unterscheidungen ausgehend können wir, wenn wir den Begriff des ›medizinischen‹ bzw. ›psychologischen Wissens‹ bestimmen wollen, offenbar in zweierlei Weise vorgehen: Entweder, wir legen den philosophischen ›engen‹ Wissensbegriff zugrunde; dann handelt es sich bei manchem, was an gut begründeten und akzeptierten Meinungen über psychologische Sachverhalte kursiert, durchaus nicht um Wissen, denn wir können wohl davon ausgehen, dass jedes Meinungssystem neben wohlbegründeten wahren Annahmen auch wohlbegründete falsche Annahmen – also Irrtümer – enthält. Oder, und dies ist die zweite Option, wir legen den wissenssoziologischen ›weiten‹ Wissensbegriff zugrunde. In diesem Fall können wir alle gut begründeten Meinungen über psychologische Sachverhalte unter dem Etikett »psychologisches Wissen« begreifen, denn was unter den ›weiten‹ Wissensbegriff fällt, muss die Wahrheitsbedingung ja nicht erfüllen.13 Wir werden im Folgenden beide Wissensbegriffe gleichermaßen im Auge behalten.

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Vgl. die in Anm. 9 genannte Literatur. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 17. Auflage. Frankfurt/M. 2000, S. 1. Ähnlich bestimmt Michael Titzmann »kulturelles Wissen« als »die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt«, Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61, S. 48. Der ›weite‹ Wissensbegriff, der das Haben einer gerechtfertigten Meinung, nicht jedoch das Erfülltsein der Wahrheitsbedingung als konstitutiv für Wissen ansieht, hat den Vorteil, dass er einen einheitlichen Ausdruck abgibt für die Meinungen, die man in wissenschaftlichen Kontexten akzeptieren darf – sie seien wahr oder falsch. – Die Aussage, man dürfe in wissenschaftlichen Kontexten falsche Meinungen akzeptieren, mag anstößig klingen; immerhin ist es erklärtes Ziel der Wissenschaft, die Wahrheit über bestimmte

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2. Mit dem Naturalismus wollen wir uns nun der literarischen Strömung zuwenden, die in der Moderne wohl am nachdrücklichsten für die Idee einer Verwissenschaftlichung literarischer Werke eingetreten ist. Unsere Rekonstruktion der naturalistischen Ansichten über den Beitrag, den Dichtung zum Erwerb psychologischen Wissens leisten kann, wird sich auf Texte einer unter Vertretern der literarischen Strömung beliebten Gattung stützen – auf poetologische Manifeste.14 Im vorliegenden Zusammenhang werden wir uns auf exemplarische Analysen von Abhandlungen Émile Zolas und Wilhelm Bölsches beschränken, in denen zwei – wie sich zeigen wird – für eine theoretische Diskussion instruktive Spielarten der These vertreten werden, dass Literatur zum Erwerb psychologischen Wissens beitragen könne.15 Aus systematischen Erwägungen beginnen wir mit einigen

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Sachverhalte ans Licht zu bringen (vgl. Susan Haack: Defending Science – Within Reason. Between Scientism and Cynism. Amherst 2003, S. 135f. u.ö.). Nun ist Wahrheit aber keine manifeste Eigenschaft von Sätzen (oder Meinungen oder Propositionen): Ob eine Meinung wahr ist oder nicht, können wir ihr nicht unmittelbar ansehen. Um zu entscheiden, ob wir eine Meinung akzeptieren können oder nicht, müssen wir daher prüfen, was dafür spricht, dass die Meinung wahr ist, oder anders gesagt: Wir müssen prüfen, ob es Gründe gibt, die für die Wahrheit der Meinung sprechen (vgl. Hugh Lacey: Is Science Value Free? Values and Scientific Understanding. London, New York 1999, S. 45; Williams: Problems of Knowledge [Anm. 9], S. 21). Und es ist durchaus möglich, dass wir (auf der Basis des uns verfügbaren Wissens) gute Gründe haben, eine Meinung als wahr zu akzeptieren, obwohl die Meinung tatsächlich falsch ist. Vgl. hierzu allgemein Erich Ruprecht (Hrsg.): Literarische Manifeste des Naturalismus: 1880–1892. Stuttgart 1962; Manfred Brauneck, Christine Müller (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Stuttgart 1987; Theo Meyer (Hrsg.): Theorie des Naturalismus. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1997. Verbreiteter als die von Zola und Bölsche in unterschiedlichen Spielarten vertretene Position, die auch in frühen Manifesten von Julius und Heinrich Hart oder Max Kretzer anklingt, war unter deutschsprachigen Naturalisten die These, dass es dichterisches Schreiben und wissenschaftliches Forschen klar zu unterscheiden gelte; als bekannteste Exponenten dieser Sichtweise sind Gerhart Hauptmann, Karl Bleibtreu und Conrad Alberti zu nennen; Arno Holz ist keiner dieser beiden naturalistischen Fraktionen eindeutig zuzurechen. Aus Platzgründen müssen wir hier auf Einzelnachweise verzichten, vgl. zur Modellierung des Verhältnisses von Dichtung und Wissenschaft in der naturalistischen Poetik allgemein Manfred Brauneck: Vorwort. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente (Anm. 14), S. XVI–XIX; Meyer (Hrsg.): Theorie des Naturalismus (Anm. 14), S. 10–16; Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1930. Stuttgart, Weimar 1998, S. 27–32; Theo Meyer: Naturalistische Literaturtheorien. In: Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. 1890–1918. Hrsg. von York-Gothart Mix. München 2000, S. 31–36. Im Verlauf der 1890er Jahre büßte die Idee einer Verwissenschaftlichung der Literatur in den naturalistischen Debatten richtungsübergreifend an Geltung ein, an ihre Stelle trat nach und nach die Forderung nach einer dichterischen Hinwendung zum Sozialen, vgl. Brauneck: Vorwort (Anm. 15), S. XVIII. Zur Diskrepanz zwischen den poetologischen

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exegetischen Hinweisen zu der später erschienenen Arbeit Bölsches, bevor wir anschließend auf die Abhandlung Zolas zu sprechen kommen. Wilhelm Bölsches 1886 entstandene Abhandlung Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik16 stellt die erste anspruchsvolle Programmschrift des deutschsprachigen Naturalismus dar, der sich selbst zu dieser Zeit noch als ›konsequenter Realismus‹ verstand.17 Die Vorstellung der Studie im literarischen Verein Durch, dessen Gründung im selben Jahr als Geburtsstunde des Naturalismus in Deutschland gilt, wird – so ist den Protokollen der Vereinssitzungen zu entnehmen – mit ›lebhaftem Beifall‹ bedacht.18 Der Grund für diese Resonanz dürfte nicht zuletzt darin liegen, dass Bölsche in seinem Manifest eine für die naturalistische Strömung insgesamt typische Sicht des Verhältnisses von Dichtung und wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt, die er im Vorwort zu seiner Studie in der Forderung zusammenfasst, dass die Poesie »Fühlung mit den Naturwissenschaften« (GP, S. 1) aufnehmen müsse. Ein anschaulicheres Bild der Zielsetzung des Buches vermittelt eine 1888 im Kunstwart erschienene Selbstanzeige Bölsches. In den Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie habe er sich mit einigen verbreiteten Fehldeutungen des Realismus befasst – es sei ihm aus diesem Grund vor allem darum gegangen, den einfachen Satz, den für die Gegenwart insbesondere Zola betont hat: daß die realistische Bewegung vor allem Anschluß der Poesie an die so eminent vorwärts entwickelte Naturwissenschaft, Verständigung mit dieser auf dem für Beide gleich wichtigen Gebiete der Psychologie bedeute, einer eingehenden Prüfung und Klarstellung zu unterziehen.19

Bölsches Selbstanzeige bestimmt den Gegenstand der Abhandlung angemessen, gibt deren Fragestellung aber nur unzureichend wieder – denn untersucht wird in den Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie keineswegs, ob eine Ausrichtung der Literatur an den Wissenschaften sinnvoll sei, sondern allein, wie sie im Einzelnen auszusehen habe. Es geht Bölsche in seinen Überlegungen, kurz gesagt, nur um ›Klarstellung‹, nicht jedoch um ›Prüfung‹. Die Grundgedanken dieser ›Klarstellung‹ sind simpel: Die von Bölsche geforderte Orientierung der Literatur an den Wissenschaften ist eine an deren Resultaten, nicht an deren Methoden. Ein Dichter, dem es nicht um »ein Fabuliren für Kinder«, sondern um »gewissenhafte Poesie« (GP, S. 5) gehe, müsse in seinen literarischen Hervorbringungen die Gesetze der Wirklichkeit zu respektieren su-

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Reflexionen und der literarischen Praxis im Naturalismus vgl. Meyer: Naturalistische Literaturtheorien (Anm. 15), S. 32. Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Mit zeitgenössischen Rezensionen und einer Bibliographie der Schriften Wilhelm Bölsches. Hrsg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1976 [zuerst 1886]. Fortan: GP. Vgl. hierzu etwa Fähnders: Avantgarde und Moderne (Anm. 15), S. 18. Vgl. Ruprecht (Hrsg.): Literarische Manifeste des Naturalismus (Anm. 14), S. 143. Wilhelm Bölsche: Selbstanzeige: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. In: Der Kunstwart 1 (1887/88), S. 28.

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chen. Hierzu sei es erforderlich, sich über den je aktuellen Stand der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie und Psychologie, genau zu informieren. Der Dichter habe, kurz gesagt, »die Gesammtfülle des modernen naturwissenschaftlichen Materials als wahre Prämisse seiner Kunst« (GP, S. 10) zu verstehen. Zur Veranschaulichung dieser Forderung arbeitet Bölsche die Grundlagen heraus, von denen eine literarische Beschäftigung mit Fragestellungen wie Willensfreiheit, Tod oder Liebe auszugehen habe. Von einer entsprechenden Neuausrichtung der Literatur verspricht sich Bölsche nicht allein einen Wandel der Gestaltung literarischer Texte; der Anschluss der Poesie an die Wissenschaften hat seines Erachtens überdies Konsequenzen für die Wahl der Gegenstände von Literatur: So betont Bölsche zum einen, dass Texte im Sinne des Naturalismus sich »nicht muthwillig auf Gebiete begeben« dürfen, »die der Fackel des Forschers noch verschlossen sind« (GP, S. 20). Zum anderen vertritt er die Auffassung, dass konsequent realistische Literatur »das gesicherte Gleichmass [...], den Zustand des Normalen, die Gesundheit« (GP, S. 49) darzustellen habe, da in diesen die Fluchtpunkte der Evolution der Wirklichkeit zu sehen seien. Auch wenn Bölsche in den Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie immer wieder auf die »Wechselbeziehungen zwischen naturwissenschaftlichem Denken und poetischem Schaffen« (GP, S. 39)20 zu sprechen kommt, tritt er in der Abhandlung doch insgesamt für eine Beziehung zwischen Dichtung und Wissenschaft ein, die im Wesentlichen als bloße literarische Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse charakterisiert ist. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies in einer Passage der Untersuchung, in der Bölsche die Parallelen zwischen seiner Sicht des konsequenten Realismus und Émile Zolas Idee des ExperimentalRomans aufzuzeigen versucht.21 Voraussetzung von Dichtung im naturalistischen Sinne sei, so Bölsche hier, die umfassende Kenntnis psychologischer Gesetze, so dass eine »mathematische Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen« gelingen könne: »Ich habe das Wort ›mathematisch‹ gebraucht. Ja, eine derartige Dichtung wäre in der That eine Art Mathematik, und indem sie es wäre, hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzen Namen eines psychologischen Experiments zu bezeichnen.« (GP, S. 25) Unter poetischen Experimenten versteht Bölsche demnach, dass man die Figurenensembles literarischer Werke im Einklang mit wissenschaftlich gesicherten psychologischen Gesetzen agieren lässt – Wissen ist dieser Auffassung zufolge Voraussetzung, nicht jedoch Ergebnis von Dichtung. Eine Idee des literarisches Experiments und damit der Beziehungen zwischen Literatur und Medizin, die sich von derjenigen Bölsches erkennbar abhebt, wird im wichtigsten Referenztext der Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie

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Am Ende der Abhandlung bringt Bölsche etwa die Hoffnung zum Ausdruck, dass Dichtung und Wissenschaft einander endlich »auf freundlichem Boden« begegnen mögen: »Beide reichen sich dann die Hand in dem Bestreben, den Menschen gesund zu machen«, GP, S. 65. Vgl. hierzu auch GP, S. 7 und 62.

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entfaltet – in Émile Zolas 1880 erschienener Schrift Le roman expérimental.22 Zola entwickelt hier das Programm des ›Romans der Zukunft‹, der nicht nur vom Stand der Wissenschaften vom Menschen ausgeht, sondern der sich darüber hinaus selbst wissenschaftlicher Methoden bedient und den wissenschaftlichen vergleichbare Ergebnisse hervorbringt. Obgleich stellenweise polemisch und in seinem programmatischen Charakter gewiss überzeichnet, enthält Zolas »Experimentalroman« recht detaillierte Aussagen zum Verhältnis von psychologischem Wissen und Literatur. Der Autor des Experimentalromans verfolgt bestimmte Ziele und er bedient sich einer bestimmten Methode. Zu den Zielen gehört erstens die Gewinnung von psychologischem Wissen.23 Zola geht davon aus, dass in den Bereichen des menschlichen Empfindens und Handelns Gesetze wirken; wiederholt spricht er vom ›Determinismus der Erscheinungen‹ (»le déterminisme des phénomènes«, RE, S. 16) oder davon, dass es ›zwischen den Handlungen eines Menschen und ihrer Ursache eine notwendige Beziehung gibt‹ (»il y a un rapport nécessaire entre les actes et leur cause«, RE, S. 17). Insofern ist es konsequent, wenn es heißt, die Erkenntnisbemühungen des Schriftstellers seien darauf gerichtet, den ›Mechanismus der Leidenschaft‹ zu erforschen, der ›gemäß den Naturgesetzen funktioniert‹ (»le mécanisme de la passion […] fonctionne selon les lois fixées par la nature«, RE, S. 19). Zweitens verfolgt der Schriftsteller das weitergehende Ziel, ›das Leben zu beherrschen, um es zu lenken‹ (»se rendre maître de la vie pour la diriger«, RE, S. 28). Die Erkenntnisse des Schriftstellers haben insofern einen ›praktischen Nutzen‹.24 Um diese Ziele verwirklichen zu können, bedient sich der Romanschriftsteller der ›experimentellen‹ Methode. Zunächst geht er von den Ergebnissen der Wissenschaften aus; er hat sich vollkommen auf das von der Wissenschaft eroberte Gebiet zu stützen.25 Sein Verfahren setzt sich sodann aus zwei Elementen zusammen: Der Romanschriftsteller ist »observateur« und »expérimentateur«: L’observateur chez lui donne les faits tels qu’il les a observés, pose le point de départ, établit le terrain solide sur lequel vont marcher les personnages et se développer les phé-

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Émile Zola: Le roman expérimental. In ders.: Les Œuvres Complètes. Notes et Commentaires de Maurice Le Blond, Bd. 41. Paris 1928 [zuerst 1880]. Fortan: RE. Zola spricht von der »connaissance de la vie passionnelle et intellectuelle« (RE, S. 12). Etwas später heißt es lapidar: »Le romancier part à la recherche d’une vérité.« (RE, S. 16) »Quand les temps auront marché, quand on possédera les lois, il n’y aura plus qu’à agir sur les individus et sur les milieux, si l’on veut arriver au meilleur état social«, RE, S. 28. »Voilà donc ce que doit être l’hypothèse, pour nous romanciers expérimentateurs; il nous faut accepter strictement les faits déterminés, ne plus hasarder sur eux des sentiments personnels qui seraient ridicules, nous appuyer sur le terrain conquis par la science, jusqu’au bout […]«, RE, S. 48. Offenbar meint Zola hier, der Romanschriftsteller dürfe in seinem Werk keine Aussage machen oder nahe legen, die einer wissenschaftlich etablierten Aussage widerspricht. An anderer Stelle heißt es, der Schriftsteller müsse als Irrtümer erkannte Aussagen zurücknehmen (vgl. ebd.). – Dabei ist unklar, wie ein Romanschriftsteller einen solchen ›Irrtum‹ zurücknehmen soll, wenn dieser in einen Roman Eingang gefunden hat.

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nomènes. Puis, l’expérimentateur paraît et institue l’experience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans une histoire particulière, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que l’exige le déterminisme des phénomènes mis à l’étude. (RE, S. 16)

Der Künstler geht zunächst von einer Hypothese aus, wie sich die Dinge im Bereich des ›Gemüts- und Seelenlebens‹ (vgl. RE, S. 12) verhalten könnten. Das Experiment ist dann dazu da, diese Hypothese zu verifizieren.26 Der Experimentalroman selbst ist schließlich die Aufzeichnung des Experiments: [U]n roman expérimental […] est simplement le procès-verbal de l’expérience, que le romancier répète sous les yeux du public. En somme, toute l’opération consiste à prendre les faits dans la nature, puis à étudier le mécanisme des faits, en agissant sur eux par les modifications des circonstances et des milieux, sans jamais s’écarter des lois de la nature. (RE, S. 16f.)

In den Beiträgen Bölsches und Zolas finden sich mithin zwei systematisch zu unterscheidende Weisen, auf die Literatur zum Erwerb psychologischen Wissens beitragen kann: Ein erster Fall (Bölsche) liegt vor, wenn ein Autor über psychologisches Wissen verfügt und dieses Wissen in seinem Roman verarbeitet. Der Roman kann dann für den Leser zur Quelle von psychologischem Wissen werden. Dies wollen wir im Folgenden die ›schwache‹ Form des Erwerbs von Wissen aus Literatur nennen. Ein zweiter Fall (Zola) liegt vor, wenn der Roman nicht nur eine Rolle bei der Übermittlung des aus anderen Quellen stammenden Wissens spielt, sondern auch für den Autor eine Quelle von Wissen ist. In diesem Fall ist der Roman im eigentlichen Sinne ein Medium der Gewinnung von Wissen.27 Dies wollen wir die ›starke‹ Form des Erwerbs von Wissen aus Literatur nennen.

3. Beide Formen des Erwerbs von Wissen aus Literatur sind nicht ohne Probleme. Wir beginnen mit wenigen Bemerkungen zur Position Bölsches, der ›schwachen‹ Erwerbsthese, und konzentrieren uns anschließend auf die ›starke‹ Erwerbsthese Zolas.

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»L’artiste part du même point que le savant; il se place devant la nature, a une idée a priori et travaille d’après cette idée. Là seulement il se sépare du savant, s’il mène son idée jusqu’au bout, sans en vérifier l’exactitude par l’observation et l’expérience«, RE, S. 47. Bei diesen zwei Formen des Erwerbs von Wissen aus Literatur handelt es sich um analytische Unterscheidungen. Dass man beide Formen unterscheiden kann, bedeutet nicht, dass diese Formen stets getrennt auftreten. Es spricht, mit anderen Worten, zunächst einmal nichts dagegen, dass ein Autor ein literarisches Werk benutzt, um psychologisches Wissen zu übermitteln und um zugleich anhand oder mit Hilfe des Romans Wissen zu gewinnen.

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Damit man von einer Person sagen kann, sie verfüge über Wissen, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Der wissenssoziologische (›weite‹) Wissensbegriff besagt, dass ich genau dann weiß, dass p, wenn ich mit guten Gründen annehmen kann, dass p tatsächlich der Fall ist.28 Für viele der Propositionen, aus denen unser Meinungssystem besteht, gilt nun aber, dass wir uns nicht persönlich vergewissert haben, ob es tatsächlich gute Gründe für die Wahrheit der Propositionen gibt. Wir sind von ihrer Wahrheit deshalb überzeugt, weil wir uns auf einen Informanten verlassen. Ein Beispiel: Wenn ich einen Passanten auf der Straße frage, wie spät es sei, und er mir nach einem Blick auf seine Uhr eine Uhrzeit nennt, so bilde ich mir in der Regel die Meinung, es sei so spät wie mein Informant gesagt hat. Einer verbreiteten Auffassung zufolge habe ich gute Gründe dafür, von der Wahrheit meiner Meinung über die Uhrzeit auszugehen: Ich kann voraussetzen, dass der Passant meine Frage verstanden und eine zuverlässige Untersuchungsmethode angewandt hat, um eine Antwort auf die Frage zu finden (d.h. er hat auf seine Uhr geblickt), und dass er mir das Ergebnis seiner Untersuchung aufrichtig mitgeteilt hat. Müsste ich dagegen davon ausgehen, dass mein Informant inkompetent oder unaufrichtig ist, so würde ich aufgrund seiner Aussage nicht wissen, wie spät es ist.29 Wendet man diese zwei Minimalbedingungen des erfolgreichen Wissenstransfers auf die (fiktionale) literarische Kommunikation an, so zeigen sich verschiedene Probleme: Kann ich als Leser wirklich davon ausgehen, dass der Autor (also mein Informant) kompetent ist? Und kann ich davon ausgehen, dass er mir seinen Kenntnisstand aufrichtig (und das heißt auch: ohne ihn zu ergänzen oder in irgendeiner sonstigen Weise zu verfälschen) mitteilt? In verschiedenen Forschungsbeiträgen wird darauf hingewiesen, dass diese Fragen verneint werden müssen: Es gehört zu den grundlegenden Regeln der Fiktionalitätsinstitution, dass Autoren als fiktional kenntlicher Werke von der Verpflichtung zur Aufrichtigkeit entbunden sind und dass sie darüber hinaus über alles schreiben können, was ihnen in den Sinn kommt. Man kann folglich eine Auffassung, die man anhand eines fiktionalen literarischen Werkes gewonnen hat, nicht rechtfertigen, indem man darauf verweist, man verlasse sich auf einen (zuverlässigen) Informanten. Dies gilt grundsätzlich, d.h. auch dann, wenn der Autor eines fiktionalen literarischen Werkes in einem bestimmten Fall de facto sowohl kompetent als auch aufrichtig ist: Solange

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Das Kürzel »p« steht für »Proposition« und meint den Inhalt eines dass-Satzes. Vgl. zur Übermittlung von Wissen durch »testimony« u.a. W.V. Quine, J.S. Ullian: The Web of Belief. Second Edition. New York 1978, S. 50–63; John Hardwig: The Role of Trust in Knowledge. In: The Journal of Philosophy 88 (1991), S. 693–708; Tyler Burge: Content Preservation. In: The Philosophical Review 102 (1993), S. 467; Robert Nozick: The Nature of Rationality. Princeton 1993, S. 178f.; Robert Audi: Epistemology. London, New York 1998, S. 136 u.ö.; Peter Baumann: Die Autonomie der Person. Paderborn 2000, S. 59– 92; Baumann: Erkenntnistheorie (Anm. 9), S. 277–283; Bernard Williams: Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy. Princeton, Oxford 2002, S. 78f., 111 u. 293; zum Begriff des ›Informanten‹ vgl. Edward Craig: Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff. Frankfurt/M. 1993, S. 44–46 u. 52–80 u.ö.

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wir über keine vom literarischen Werk unabhängigen Informationsquellen verfügen, die uns vom Gegenteil überzeugen, müssen wir (als ›default position‹) davon ausgehen, dass wir eine dem Werk entnommene Aussage nicht durch einen Verweis auf das Zeugnis eines Informanten rechtfertigen können.30 Aus diesen wenigen Bemerkungen dürfte deutlich geworden sein, dass bereits die ›schwache‹ Erwerbsthese nicht ohne Probleme ist. Man kann nicht ohne weiteres davon ausgehen, fiktionale literarische Werke seien Medien der Übermittlung von (medizinischem oder sonstigem) Wissen. Wer die ›schwache‹ Erwerbsthese vertritt, muss die eben skizzierten Probleme jedenfalls zu lösen wissen.31 Wenden wir uns nun Zola zu. Dessen Theorie des Experimentalromans ist bereits bald nach ihrem Erscheinen kritisiert worden.32 Anstatt diese Einwände im Einzelnen zu untersuchen, wollen wir zunächst versuchen, die Theorie des Experimentalromans etwas genauer zu beleuchten. Kann ein Roman wirklich im Sinne der ›starken‹ Erwerbsthese einen Beitrag zur Gewinnung psychologischen Wissens leisten? Zunächst einmal empfiehlt es sich zu präzisieren, wie Zolas Aussage zu verstehen ist, im Bereich menschlichen Denkens, Empfindens und Handelns wirkten Gesetze. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, man könne menschliches Handeln erklären, indem man auf Gesetzmäßigkeiten verweist. Oft machen wir uns das

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Vgl. z.B. Mary J. Sirridge: Truth from Fiction? In: Philosophy and Phenomenological Research 35 (1975), S. 469; Richard Kamber: Liars, Poets and Philosophers. The Assertions of Authors in Philosophy and Literature. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 17 (1977), S. 336; Catherine Wilson: Literature and Knowledge. In: Philosophy 58 (1983), S. 490f.; Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 181; Jerome Stolnitz: On the Cognitive Triviality of Art. In: British Journal of Aesthetics 32 (1992), S. 197f.; Daniel Jacobson: Sir Philip Sidney’s Dilemma. On the Ethical Function of Narrative Art, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 54 (1996), S. 331; Catherine Wilson: Epistemology of Fiction. In: Encyclopedia of Aesthetics. Hrsg. von Michael Kelly. Volume 2. New York, Oxford 1998, S. 183f.; Christopher New: Philosophy of Literature. An Introduction. London, New York 1999, S. 120; Haack: Defending Science (siehe Anm. 13), S. 209 u. 214 u.ö.; zum Problem eines zuverlässigen und aufrichtigen Informanten, dem man dennoch nicht glauben kann, vgl. Jonathan Adler: Transmitting Knowledge. In: NOÛS 30 (1996), S. 99–111. Eine Reihe weiterer Probleme kann hier nicht näher diskutiert werden; vgl. zusammenfassend Eileen John: Art and Knowledge. In: The Routledge Companion to Aesthetics, Hrsg. von Berys Gaut, Dominic McIver Lopes. London, New York 2001, S. 329–340; Noël Carroll: The Wheel of Virtue. Art, Literature, and Moral Knowledge, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 60 (2002), S. 3–26, hier S. 4–7; Berys Gaut: Art and Knowledge. In: The Oxford Handbook of Aesthetics. Hrsg. von Jerrold Levinson. Oxford 2003, S. 436–450. Vgl. beispielsweise Irma von Troll-Borostyani: Die Wahrheit im modernen Roman. In: Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines Begriffs in der deutschen Literatur. Hrsg. von Wolfgang Kayser. Hamburg 1959, S. 129–135; für zwei jüngere Stellungnahmen zur erkenntnistheoretischen Problematik in Le roman expérimental vgl. John Hospers: Meaning and Truth in the Arts. Hamden 1964, S. 145–154; Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart, Bad Cannstatt 1975, S. 70f.

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Verhalten anderer Menschen verständlich, indem wir es auf moralische Prinzipien, Rationalitätsstandards oder sonstige Regelmäßigkeitsannahmen zurückführen.33 Einschlägige Beispiele finden sich in der Literatur zuhauf: It’s queer how out of touch with truth women are. They live in a world of their own, and there had never been anything like it, and never can be. It is too beautiful altogether, and if they were to set it up it would go to pieces before the first sunset.34 Mais encore l’éducation qui contrarie l’enfant, en le gênant le fortifie. Les plus lamentables victimes sont celles de l’adulation. Pour détester ce qui vous flatte, quelle force de caractère ne faut-il pas?35 Il arriverait, si nous savions mieux analyser nos amours, de voir que souvent les femmes ne nous plaisent qu’à cause du contrepoids d’hommes à qui nous avons à les disputer; ce contrepoids supprimé, le charme de la femme tombe.36 M. Chélan avait été imprudent pour Julien comme il l’était pour lui-même. Après lui avoir donné l’habitude de raisonner juste et de ne pas se laisser payer de vaines paroles, il avait négligé de lui dire que, chez l’être peu considéré, cette habitude est un crime; car tout bon raisonnement offense.37

Diese Romanausschnitte enthalten generelle probabilistische Hypothesen über menschliches Verhalten.38 Mit ihnen werden Aussagen darüber gemacht, welche

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Vgl. Richard Brandt, Jaegwon Kim: Wants as Explanations of Actions. In: The Journal of Philosophy 60 (1963), S. 425–435; Carl G. Hempel: Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the Philosophy of Science. New York, London 1965, S. 251–258 u. 463–477 u.ö. Dies ist nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit dem Hempel’schen Erklärungsschema; vgl. z.B. Sylvain Bromberger: Why-Questions. In: Readings in the Philosophy of Science. Hrsg. von Baruch A. Brody. Englewood Cliffs 1966, S. 66–84; Wesley Salmon: Scientific Explanation and the Causal Structure of the World. Princeton 1984. Joseph Conrad: Heart of Darkness. In: The Collected Works of Joseph Conrad. The Medallion Edition 1925–1928. Volume 6. London, Tokyo 1995 [zuerst 1899], S. 59. André Gide: Les faux-monnayeurs. In: Œuvres Complètes d’André Gide, établie par Louis Martin-Chauffier. Bd. 12. Paris 1937 [zuerst 1925], S. 168. Marcel Proust: À la recherche du temps perdu: La prisonnière, èdition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié. Paris 1988 [zuerst 1923], S. 914. Stendhal: Le rouge et noir. Romans et nouvelles, texte étabil et annoté par Henri Martineau. Bd. 2. Paris 1952 [zuerst 1830], S. 394. Eine generelle probabilistische Hypothese kann mehr oder minder explizit in einem Roman stehen; in der Regel bedarf es der Interpretation, um eine solche Hypothese zu identifizieren und zu formulieren, vgl. Noël Carroll: A Philosophie of Mass Art. Oxford 1998, S. 307–309; skeptische Positionen in Bezug auf die Konturen und Ergebnisse entsprechender Interpretationsverfahren beziehen Sirridge: Truth from Fiction? (Anm. 30) und Stolnitz: On the Cognitive Triviality of Art (Anm. 30); so kann man beispielsweise bezweifeln, dass es ein Verfahren gibt, das zu hinreichend eindeutigen Formulierungen ›gesetzesartiger‹ Hypothesen führt; problematisch ist insbesondere die Frage des Geltungsbereichs (der Quantifikation) der Hypothesen (»Gilt das in der Hypothese Ausgesagte für alle oder nur für einige Individuen?«) sowie der Modalisierung (»Trifft die generelle

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Handlungen oder Ereignisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten werden, gegeben dass bestimmte andere Handlungen oder Ereignisse als Ausgangsbedingungen vorliegen.39 Von »Hypothesen« zu sprechen empfiehlt sich insofern, als der Ausdruck ›Gesetze‹ suggeriert, man habe es mit einer Theorie zu tun, die auf der Basis des vorhandenen Wissens als empirisch bestätigt gelten kann; wo von »Hypothesen« die Rede ist, ist dagegen deutlich, dass eine endgültige Bestätigung noch aussteht.40 Gleichwohl kann man sagen, dass solche Hypothesen »Gesetzmäßigkeiten« zum Ausdruck bringen: Man kann aus den Ausgangsbedingungen und der generellen Hypothese ableiten, welche Handlung oder welches Ereignis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird.41 An dieser Stelle bleibt zu klären, welche Rolle ein Roman bei der Gewinnung genereller probabilistischer Hypothesen spielen kann. Die soeben zitierten Beispiele aus verschiedenen Romanen belegen zunächst einmal lediglich, dass in literarischen Werken entsprechende Hypothesen vorkommen. Kann man darüber hinausgehend sagen, ein Roman sei (im Sinne der ›starken‹ Erwerbsthese) eine Quelle von Wissen über Gesetzmäßigkeiten im Bereich menschlichen Handelns? Unproblematisch erscheint zunächst die Auffassung, Romane spielten eine Rolle bei der Genese von Wissen über Gesetzmäßigkeiten im Bereich menschlichen

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Hypothese Aussagen über eine Möglichkeit, einen Sachverhalt oder eine Notwendigkeit?«). Lamarque und Olsen bezweifeln ferner, dass die von einem literarischen Werk nahe gelegten generellen Aussagen auf Sachverhalte außerhalb des Werkes übertragen werden sollten; stattdessen meinen sie, solche Aussagen dienten (in erster Linie oder aber ausschließlich) der ›Organisation‹ der (thematischen) Inhalte des betreffenden Werks, vgl. Lamarque, Olsen: Truth, Fiction, and Literature (Anm. 6), S. 408f.; für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Position vgl. Peter Kivy: Philosophies of Arts. An Essay in Differences. Cambridge 1997, S. 120–139; vgl. auch Eileen John: Reading Fiction and Conceptual Knowledge. Philosophical Thought in Literary Context. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 56 (1998), S. 331–348, hier S. 341 u.ö.; Katherine Thomson-Jones: Inseparable Insight: Reconciling Cognitivism and Formalism in Aesthetics. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 63 (2005), S. 375–384, hier S. 380f. u.ö. Die Hypothesen können nicht nur zur Voraussage künftiger, sondern auch zur Erklärung vergangener Handlungen oder Ereignisse herangezogen werden, vgl. Hempel: Aspects of Scientific Explanation (Anm. 33), S. 248f. Vgl. Hempel: Aspects of Scientific Explanation (Anm. 33), S. 231. Die Frage, was ›Bestätigung‹ hier heißen kann, müssen wir ausklammern, vgl. ebd., S. 234. Die Qualifikation »mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit« ist unter anderem deshalb erforderlich, weil man im Bereich menschlichen Handelns oft nicht alle Ausgangsbedingungen angeben kann, aus denen sich in Kombination mit einer generellen probabilistischen Hypothese eine Aussage über ein künftiges Ereignis ableiten lässt; hinzu kommt, dass generelle Hypothesen im Bereich menschlichen Handelns oft statistische Wahrscheinlichkeiten zum Ausdruck bringen, die sich auf lange Sicht einstellen (vgl. Hempel: Aspects of Scientific Explanation [Anm. 33], S. 237f. u. 252); der Einzelfall kann daher eine Ausnahme darstellen; vgl. auch L. Jonathan Cohen: The Probable and the Provable. Oxford 1977, S. 247f.; Nicolas Rescher: Scientific Explanation. New York, London 1970, S. 163 u.ö.

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Handelns, nicht jedoch bei deren Rechtfertigung.42 Der Roman weist uns demnach auf mögliche Gesetzmäßigkeiten hin, ohne belegen zu können, dass es sich um tatsächliche Gesetzmäßigkeiten handelt – also Gesetzmäßigkeiten, die in unserer Welt bestehen.43 Es liegt mithin an uns, die entsprechenden Hypothesen entweder zu bestätigen und zu akzeptieren oder zu verwerfen. Solange wir über eine solche Bestätigung nicht verfügen, konstituieren die Hypothesen weder psychologisches Wissen im Sinne des ›engen‹ noch des ›weiten‹ Begriffs von Wissen, denn sowohl der philosophische als auch der wissenssoziologische Wissensbegriff gehen davon aus, dass man Gründe für die Wahrheit einer Annahme anführen können muss, damit man über Wissen verfügt. Solche Gründe, so die verbreitete Auffassung, enthält uns der Roman vor. Gleichwohl kann der Roman offenbar als heuristisches Instrument dienen. Er kann uns mit neuen Kandidaten für psychologische Wissensbestände versorgen und damit unsere Chancen verbessern, auf eine gut bestätigte generelle probabilistische Hypothese über menschliches Verhalten zu stoßen.44

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Zur Unterscheidung von Genese und Rechtfertigung einer Auffassung vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung. 10., verb. und verm. Auflage. Tübingen 1994; vgl. auch Peter Mew: Facts in Fiction. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 31 (1973), S. 329– 337. Dies ist die Auffassung, die in der Forschung zumeist vertreten wird, vgl. die in Anm. 32 genannten Arbeiten. – Vorsicht ist geboten bei der oben gebrauchten Rede von »möglichen Gesetzmäßigkeiten«. Man kann in diesem Kontext (mindestens) drei verschiedene Bedeutungen von »möglich« unterscheiden (vgl. Keith DeRose: Epistemic Possibilities. In: The Philosophical Review 100 [1991], S. 581–605; Stephen Yablo: Is Conceivability a Guide to Possibility? In: Philosophy and Phenomenological Research 53 [1993], S. 1– 42). Im ersten, epistemischen Sinne bedeutet »mögliche Gesetzmäßigkeit« lediglich, dass man zum gegebenen Zeitpunkt nicht in der Lage ist, das Bestehen der Gesetzmäßigkeit auszuschließen; mit der Aussage »Bei X handelt es sich um eine mögliche Gesetzmäßigkeit« macht man demnach in erster Linie eine Aussage über gewisse Lücken im eigenen Wissenssystem. Im zweiten Sinne kann man mit ›möglich‹ auf eine empirische Möglichkeit verweisen, d.h. darauf, dass ein bestimmter Sachverhalt in unserer Welt vorkommen kann. Im dritten Sinne kann man mit ›möglich‹ lediglich eine logische Möglichkeit (logische Widerspruchsfreiheit) meinen. Wenn oben gesagt wird, der Roman weise auf mögliche Gesetzmäßigkeiten hin, ohne diese bestätigen zu können, so ist »möglich« im epistemischen Sinne zu verstehen. – Eddy Zemach weist darauf hin, dass fiktionale Welten mögliche Welten sind; eine in einer fiktionalen Welt bestehende Gesetzmäßigkeit wäre dementsprechend eine (logisch) mögliche Gesetzmäßigkeit, vgl. Eddy M. Zemach: Real Beauty. University Park 1997, S. 196. Mit der Feststellung, dass etwas logisch möglich ist, ist uns in den meisten lebensweltlichen Kontexten aber nicht geholfen. Vielleicht ist es logisch möglich, dass Schweine fliegen können – was aber wäre mit dieser Feststellung gewonnen (vgl. Hugh Mellor: The Possibility of Life after Death. In: Thinking about Death. Hrsg. von Peter Cave und Brendan Larvor. London 2004. Zitiert nach: URL: http://poeple.pwf.cam.ac.uk/dhm11/SwinburneReply.html [07.12.2005])? Was uns in der Regel interessiert, ist die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt empirisch möglich oder sogar wahrscheinlich ist. Der Roman ist, mit den Worten John Careys, eine »idea-bank«, vgl. John Carey: What Good are the Arts? London 2005, S. 213. – Es ist wichtig zu sehen, dass man mit der

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Wer diese Position ›überwinden‹ will, müsste zeigen, auf welche Weise Romane generelle probabilistische Hypothesen bestätigen können. Im Rahmen der Diskussion der ›schwachen‹ Erwerbsthese (Bölsche) haben wir bereits angedeutet, dass die Tatsache, dass wir es mit einer fiktionalen Quelle zu tun haben, uns verbietet, die Aussage des Dichters ohne weiteres (d.h. ohne weitere Bestätigungsinstanzen hinzuzuziehen) für bare Münze zu nehmen. Hier stellt sich die Frage, ob nicht der Roman selbst eine Bestätigung der von ihm nahe gelegten Auffassungen liefern kann. In diesem Fall müssten wir nicht schlicht glauben, was der Autor uns sagt, sondern wir könnten die fragliche Hypothese sozusagen an Ort und Stelle, d.h. anhand des literarischen Werks, überprüfen. Ob so etwas möglich ist, können wir hier nicht mit der gebotenen Ausführlichkeit diskutieren. Offensichtlich ist, dass Romane psychologische Hypothesen als Bestandteil detaillierter narrativer Szenarien präsentieren. Dass etwa ›jede klare Darlegung Anstoß erregt‹, wird in Stendhals Le rouge et le noir nicht schlicht behauptet, sondern durch einige Episoden der Lebensgeschichte Julien Sorels veranschaulicht: Das detailliert geschilderte Klosterleben führt uns vor Augen, wie es jemandem ergeht, der trotz geringen Ansehens die Wahrheit sagt vor Leuten, die sich für etwas Besseres halten. Aber handelt es sich dabei um die Art der Bestätigung, die erforderlich ist, um eine generelle probabilistische Hypothese über Sachverhalte in unserer Welt zu begründen? Man kann bezweifeln, dass fiktive Szenarien geeignet sind, eine Hypothese über nicht-fiktive Sachverhalte zu begründen.45 Ob die Hypothese zutrifft oder nicht, hat zunächst einmal nichts mit der Frage zu tun, ob Stendhals Roman anschauliche fiktionale Beschreibungen enthält, sondern hängt davon ab, ob der fragliche (nicht-fiktive) sozialpsychologische Sachverhalt besteht. Und wenn das oben Gesagte zutrifft, dann bietet der Roman (bzw. das Zeugnis des Autors) keine Gewähr dafür, dass der Sachverhalt besteht. Wir müssen also, um uns von der Wahrheit einer Hypothese zu überzeugen, auf weitere, vom literarischen Werk verschiedene Rechtfertigungsinstanzen zurückgreifen. Häufig genügt unsere Erinnerung: Wir haben dann die Möglichkeit, die Plausibilität eines fiktiven Szenarios (oder bestimmter Annahmen, die wir anhand eines solchen Szenarios gebildet haben) auf der Basis unseres Hintergrundwissens zu beurteilen.46 David Lewis beschreibt diesen Fall so:

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Aussage, Literatur spiele lediglich bei der Genese, nicht jedoch bei der Rechtfertigung von Auffassungen eine Rolle, kein (abschätziges) Werturteil ausspricht: »The question ›What alternative novel possibilities are there?‹ is the first step in human progress, in generating new theories, new inventions, new ways of making, acting, cooperating, thinking, and living. To ask this question requires a willingness to break with tradition, to venture out into unknown territory. To answer requires the ability to think up new und fruitful possibilities; that is, it requires imagination«, Nozick: The Nature of Rationality (Anm. 29), S. 174. Vgl. erneut Stolnitz: On the Cognitive Triviality of Art (Anm. 30). Für die Unterscheidung verschiedener Plausibilitätsbegriffe im Umgang mit Fiktionen vgl. Margaret MacDonald: The Language of Fiction. In: Contemporary Studies in Aesthetics. Hrsg. von Francis J. Coleman. New York 1968, S. 262–276, hier S. 275.

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[F]iction can offer us contingent truths about this world. It cannot take the place of nonfictional evidence, to be sure. But sometimes evidence is not lacking. We who have lived in the world for a while have plenty of evidence, but we may not have learned as much from it as we could have done. This evidence bears on a certain proposition. If only that proposition is formulated, straightway it will be apparent that we have very good evidence for it. If not, we will continue not to know it. Here, fiction can help us. If we are given a fiction such that the proposition is obviously true in it, we are let to ask: and is it also true simpliciter? And sometimes, when we have plenty of unappreciated evidence, to ask the question is to know the answer. Then the author of the fiction has made a discovery, and he gives his readers the means to make that same discovery for themselves.47

Wenn wir die Schilderungen des Klosterlebens plausibel finden, so liegt das daran, dass die Schilderungen gut zu unserem Hintergrundwissen passen. Das Plausibilitätsurteil fällen wir deshalb, weil uns der Roman zu bestätigen scheint, was wir ohnehin wussten. Das heißt jedoch nicht, dass wir im Umgang mit dem literarischen Werk nichts Neues lernen könnten: Was wir vor der Lektüre nicht wussten, ist, dass die Kombination verschiedener Ansichten über soziale Ungleichheit, Wissensgefälle, Aufrichtigkeit und dergleichen mehr eine neue Einsicht rechtfertigt, die sich als solche noch nicht in unserem Meinungssystem gefunden hat. Wir haben, mit anderen Worten, auch vor unserer Lektüre bereits über die Ressourcen verfügt, die die Einsicht‚ dass ›jede klare Darlegung Anstoß erregt‹ hätten rechtfertigen können; aber erst der Roman führt diese Meinungen zusammen. Der Roman ist mithin eine Art Katalysator: Er setzt einen Urteilsprozess in Gang, der ohne ihn nicht stattgefunden hätte. Er bietet das Setting für ein Gedankenexperiment.48

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David Lewis: Postscripts to ›Truth in Fiction‹. In ders.: Philosophical Papers. Bd. 1. New York, Oxford 1983, S. 278f. (mit »true simpliciter« meint Lewis »wahr über die Wirklichkeit«; »contingent truths about this world« sind empirische Wahrheiten, wie sie hier in Rede stehen); vgl. auch Colin Lyas: The Relevance of the Autor’s Sincerity. In: Philosophy and Fiction. Hrsg. von Peter Lamarque, Aberdeen 1983, S. 17–37. Attraktiv an dieser Lösung ist, dass man sich, um ein fruchtbares Gedankenexperiment durchführen zu können, weder darauf verlassen muss, dass der Autor des Werkes kompetent, noch darauf, dass er aufrichtig ist. Dass die Schilderungen des Romans plausibel sind, muss man dem Autor nicht schlicht glauben, sondern man bemüht sein Vorwissen, um ein entsprechendes Urteil zu fällen. – Die Frage, ob (wissenschaftliche oder philosophische) Gedankenexperimente zu gerechtfertigten, wahren Meinungen führen können, wird kontrovers diskutiert (einen Überblick über die Geschichte und Gegenwart der Debatte gibt Ulrich Kühne: Die Methode des Gedankenexperiments. Frankfurt/Main 2005). Strittig ist insbesondere (1) ob Gedankenexperimente ohne empirischen ›Input‹ empirisches Wissen hervorbringen können; (2) wie die Rechtfertigung dieses Wissens zu verstehen ist; (3) ob es sich um Wissen handelt, über das derjenige, der das Experiment ausführt, zuvor noch nicht verfügte, vgl. John D. Norton: Are Thought Experiments Just What You Thought? In: Canadian Journal of Philosophie 26 (1996), S. 333–366; Tamar Szabó Gendler: Galileo and the Indispensability of Scientific Thought Experiment. In: British Journal for the Philosophy of Science 49 (1998), S. 397–424; zwei Versuche, den Erkenntnisfortschritt von Gedankenexperimenten als ›Aktivierung‹ (bzw. ›Umwandlung‹) bereits vorhandener Wissensressourcen zu beschreiben finden sich in Thomas S. Kuhn: A Function for Thought Experiments. In ders.: The Essential Tension. Chicago,

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4. Schließen wollen wir unsere Anmerkungen nicht mit einer Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, sondern mit einem kurzen Hinweis zu ihrer Stellung in den derzeit ebenso lebhaften wie vielstimmigen Kontroversen zum Thema ›Dichtung und Wissen‹.49 Im Zusammenhang dieser Debatten mag eine Untersuchung der Frage nach dem möglichen Beitrag von Literatur zum Wissenserwerb, wie wir sie in ihren Umrissen entworfen haben, ungewöhnlich erscheinen. Dieser Eindruck jedoch trügt. Durch die Auseinandersetzung mit der im Ausgang von naturalistischen Programmschriften gestellten Frage haben wir uns vielmehr einer These gewidmet, die in nicht wenigen jüngeren Überlegungen zum ›Literatur und Wissen‹-Thema stillschweigend vorausgesetzt oder sogar ausdrücklich behauptet wird. Bei der Annahme, dass in literarischen Werken »wissenschaftliche Traditionen transformiert und konserviert«50 werden, der Rede von der »Wissensform«51 der Literatur bzw.

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London 1977, S. 240–265; C. Mason Myers: Analytical Thought Experiments. In: Metaphilosophy 17 (1986), S. 109–118; zur neueren Diskussion um Gedankenexperimente vgl. u.a. Tamar Szabó Gendler: Thought Experiments Rethought – and Reperceived. In: Philosophy of Science 71 (2004), Sp. 1152–1163; John D. Norton: On Thought Experiments: Is There More to the Argument? In: Philosophy of Science 71 (2004), Sp. 1139–1151; James Robert Brown: Peeking into Plato’s Heaven. In: Philosophy of Science 71 (2004), Sp. 1126–1138; zum Zusammenhang von Literatur und Gedankenexperimenten vgl. Tamara Horowitz: Newcomb’s Problem as a Thought Experiment. In: Thought Experiments in Science and Philosophie. Hrsg. von Tamara Horowitz und Gerald J. Massey. Savage 1991, S. 306; Roy A. Sorensen: Thought Experiments. New York, London 1992, S. 222–224 u.ö.; Zemach: Real Beauty (Anm. 43), S. 198–200 (die Bezeichnung von Gedankenexperimenten als »Catalysts« findet sich ebd., S. 198); Carroll: The Wheel of Virtue (Anm. 31). Vgl. etwa Richter, Schönert, Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft (Anm. 8); Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930 (Anm. 8), S. 107–127 und Joseph Vogl (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002; Christine Maillard, Michael Titzmann (Hrsg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart, Weimar 2002; Gabriele Brandstetter (Hrsg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Freiburg i.Br. 2003; Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004; Christine Maillard (Hrsg.): Littérature et théorie de la connaissance 1890–1935 – Literatur und Erkenntnistheorie 1890–1935. Straßburg 2005. Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur. In: Akzente 25 (1978), S. 141; vgl. zu dieser These auch Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976; Bernhard Giesen: Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne. Frankfurt/M. 1991. Zu finden beispielsweise in vielen Beiträgen in Danneberg, Vollhardt (Hrsg.): Wissen in Literatur (Anm. 49) und Maillard, Titzmann (Hrsg.): Literatur und Wissen(schaften)

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der »Wissenspoetologie«52 einer Epoche handelt es sich lediglich um unterschiedliche Formulierungen der Auffassung, die wir anhand der Manifeste von Zola und Bölsche als eine der Grundideen der naturalistischen Poetik untersucht haben – der Auffassung, dass Literatur zum Wissenserwerb beizutragen vermag. Dass unser Beitrag gleichwohl in einer gewissen Distanz zum Mainstream der Debatte steht, ergibt sich nicht aus unserer Fragestellung, sondern aus unserem Vorgehen. Dabei waren und sind uns im Besonderen zwei Punkte wichtig: (1) Anders als vielen Teilnehmern der Diskussion erscheint es uns nicht allein notwendig, verschiedene Spielarten des Verhältnisses von Literatur und Wissen typologisch zu unterscheiden; wir halten es überdies für sinnvoll, sie einer systematischen Prüfung zu unterziehen. (2) Im Rahmen entsprechender Rekonstruktionen und Evaluationen sollte u.E. von einem Wissensbegriff ausgegangen werden, der sich durch den Einbezug der Wahrheits- und Begründungsbedingung von dem in der Literaturwissenschaft gemeinhin zugrunde gelegten Konzept abhebt.53

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(Anm. 49) oder mit besonderer Deutlichkeit in Horst Thomé: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, S. 15f. und Horst Thomé: Wissensgeschichte und Textauslegung, in: Geschichte der Germanistik 23/24 (2004), S. 18. Vgl. etwa Vogl: Für eine Poetologie des Wissens (Anm. 49) und Vogl: Poetologien des Wissens (Anm. 49); Brandstetter (Hrsg.): Erzählen und Wissen (Anm. 49); Brandstetter, Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik (Anm. 49). Vgl. dazu jüngst Gideon Stiening: Am »Ungrund« oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹? In: KulturPoetik 7 (2007), S. 234–248; Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410.

Barbara Beßlich

Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld Ärztlicher Blick und gesellschaftliche Differentialdiagnostik im analytischen Drama des Naturalismus

Der Literaturkritiker Leo Berg beschrieb 1892 in einer poetologischen Studie zum Naturalismus seine Gegenwart als Zeitalter der ›medizinischen Tragödie‹, und er fügte hinzu: »Kein Wunder! In einer Zeit, in welcher die Medizin die geglaubteste Wissenschaft und der Arzt die geweihteste Person ist.«1 Diese Sakralisierung der Medizin unterläuft metaphorisch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal die Säkularisierung der Wissenschaften und fügt Religion und Medizin rhetorisch zusammen, freilich nicht mehr aus einer christlichen Intention heraus,2 sondern in der kompensatorischen Absicht, Sinnstiftungsdefizite einer wissenschaftlichen Weltsicht mit auratisierender Eloquenz zu nivellieren. Naturalistische Dramen handeln von medizinischen Themen und betonen Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (Wilhelm Bölsche); sie literarisieren den Darwinismus, problematisieren die Willensfreiheit und erörtern die erbbiologische Bedingtheit des Menschen. Dabei bedienen sich naturalistische Dramen oft der analytischen Form, bei der das wesentliche Ereignis der Bühnenhandlung vorausliegt und erst im Verlauf des Dramas allmählich ersichtlich wird.3 Die Bedeutung dieser analytischen Form für eine gleichsam diagnostische Ästhetik wurde bisher in der Forschung vernachlässigt. Meine These ist, dass in solchen analytischen Dramen des Naturalismus der Leser in die Situation eines Arztes gerät, der in produktiver Konkurrenz zu den dramatischen (Arzt-)Figuren eine Anamnese erhebt und eine Diagnose stellt.4 Die Wirkungsästhetik solcher Anamnesen der

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Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst. München 1892, S. 132. Vgl. auch ders.: Die Krankheit in der modernen Poesie. In: Ders.: Zwischen zwei Jahrhunderten. Gesammelte Essays. Frankfurt / M. 1896, S. 368–375. Zur Säkularisierung der Medizin und ihrer Reflexion in der Literatur vgl. Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Berlin, New York 2002 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, 1). Zu diesem Dramentyp in der Literatur der Neuzeit vgl. Matthias Sträßner: Analytisches Drama. München 1980. Bernhard Greiner: Analytisches Drama, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller. Hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 81ff. Aus der älteren Forschung vgl. Werner Schultheis: Dramatisierung von Vorgeschichte. Beitrag zur Dramaturgie des deutschen klassischen Dramas. Assen 1971; Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970; Dietrich Dibelius: Die Exposition im deutschen naturalistischen Drama. Heidelberg 1935. Zur medizinischen Technik der Anamneseerhebung vgl. Jürgen Dahmer: Anamnese und Befund. Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik. Stuttgart, New

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Schuld und Diagnosen des Determinismus als einer medizinischen Schreibweise im Naturalismus möchte ich im Folgenden analysieren. In einem ersten Teil soll erläutert werden, was unter einer medizinisch-diagnostischen Ästhetik des analytischen Dramas im Naturalismus zu verstehen ist und inwiefern diese medizinische Schreibweise naturalistischer Dramen durchaus kritisch reagiert auf Diskussionen in der zeitgenössischen Medizin. Dann schließen sich zwei Fallstudien an, und zwar zuerst zu Gerhart Hauptmans Dramenerstling Vor Sonnenaufgang (1889) und dann zu seinem Drama Das Friedensfest (1890).5

I. Zur diagnostischen Ästhetik des analytischen Dramas im Naturalismus Das deutsche naturalistische Drama stellt die Charakterdarstellung vor den Primat der Handlung, denn in einer Welt, in welcher der Mensch sich – wie Hippolyte Taine formuliert – durch race, milieu und moment bedingt sieht, relativieren sich die Handlungsmöglichkeiten.6 Handlung kommt in das analytische Drama des Naturalismus erst von außen: Ein Bote aus der Fremde löst in einem zeitgenössischen, festgefügten Milieu zumeist Verwirrung aus und bringt das Geschehen in Gang.7 Geringe Personenzahl und detaillierte Bühnenanweisungen reduzieren und konzentrieren das Geschehen. Auch wenn der Naturalismus sich in seiner Mitleidsethik das soziale Engagement für die Arbeiterschaft zum Programm gemacht hat, sind die Charaktere der deutschen naturalistischen Dramen fast nie Arbeiter, sondern zumeist (Klein-)Bürger oder Bauern in sozialer Verunsicherung, da sie

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York 92002. Zum Stand der Anamneseerhebung um 1900 vgl. Jacob Wolff: Der praktische Arzt und sein Beruf. Vademecum für den angehenden Praktiker. Stuttgart 1896; Otto Bollinger: Wandlungen der Medizin in den letzten 50 Jahren. München 1908; vgl. hierzu Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens. Göttingen 1981. Weitere analytische Dramen des deutschen Naturalismus, die sich in diesem Zusammenhang zur Untersuchung anböten, wären ›Meister Oelze‹ (1892) von Johannes Schlaf und ›Der Strom‹ (1903) von Max Halbe. Vgl. hierzu die dramenästhetischen Überlegungen von Arno Holz und Gerhart Hauptmann: »Die Menschen auf der Bühne sind nicht der Handlung wegen da, sondern die Handlung der Menschen auf der Bühne wegen« (Arno Holz: Das Werk, Bd. X: Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente. Berlin 1925, S. 224f.). »Handlung: es ist mit diesem Worte etwas Äußerliches gemeint, was auf derbe Sinne wirkt. [...] Die Handlung im ›Hamlet‹: wen interessiert sie. Das Seelendrama allein ist es, was tief ergreift. [...] Soll man die Menschen von heut aus dem Drama verbannen, weil sie im Sinne früherer Theatraliker eine ›Handlung‹ nicht ermöglichen? Menschen von heute ergeben das Drama von heut« (Gerhart Hauptmann: Die Kunst des Dramas. In: Theorie des Naturalismus. Hrsg. von Theo Meyer. Stuttgart 1973, S. 288–290). Vgl. zu diesem Strukturmodell Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880– 1950). Frankfurt / M. 1965, S. 65f.

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sich mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sehen. Das Proletariat und die soziale Frage sind lediglich Gesprächsobjekte der Figuren.8 Veristische Dokumentation von Soziolekten und Dialekten, breite und detaillierte Regieanweisungen sowie die Zunahme außersprachlicher Kommunikation in Mimik, Gestik und Pantomime stehen im Dienst der mimetisch genauen Wirklichkeitsabbildung. Die approximative Deckung von Dramenzeit und dramatisierter Zeit trägt oft zur Illusionssteigerung bei. Die Vorgeschichte der Figuren reicht im naturalistischen Drama prägend in die präsentierte Gegenwart hinein und zeichnet die dramatischen Gestalten als unfrei für die Zukunft und von ihrer Vergangenheit geknebelt; insofern fungiert die analytische Form, bei der das zentrale Ereignis der Bühnenhandlung zeitlich voraus liegt und diese präformiert, im Sinne der naturalistischen Anthropologie. Die Vergangenheit wird über erinnernde Erzählungen in die dramatische Gegenwart episch integriert.9 »An die Stelle des konventionellen Tragik-Begriffs rückt die scientifische Tatsache der Determiniation«.10 Damit steht auch die Bedeutung von »Schuld« zur Disposition, denn inwiefern ein determinierter Mensch noch schuldig werden kann, ist fraglich. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, wie Hans Merian 1891 in einer poetologischen Studie zum Naturalismus den Begriff der Schuld durch den der Krankheit ersetzt: Wo immer wir eine Einzelerscheinung unseres Lebens genauer ins Auge fassen, treten sofort die tausend und aber tausend das Individuum mit der Gesellschaft (Milieu) und der Vergangenheit (Abstammung – Darwinismus) verbindende Fäden und Beziehungen zutage. Unsere Weltanschauung ist also einerseits eine soziale, andererseits eine evolutionistische. Nach dieser Auffassungsart muß der moderne Bösewicht als ein Kranker erscheinen. 11

Die analytische Technik des naturalistischen Dramas, als diagnostische Ästhetik begriffen, funktioniert analog zum Prozess als Verfahrensmuster und vereint genauso retro- und prospektive Dimensionen.12 Während aber am Ende des Prozesses ein strafendes Urteil steht, folgt auf die medizinische Diagnose eine Therapieemp-

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Zu dieser fremdwahrnehmenden Problematik vgl. Klaus-Michael Bogdal: Maschinen, Helden. Maschinenhelden. Zur Metaphorik des literarischen Arbeiterbildes um die Jahrhundertwende. In: Willkommen und Abschied der Maschinen. Bestandsaufnahme eines Themas. Hrsg. von Erhard Schütz unter Mitarbeit von Norbert Wehr. Essen 1988, S. 69–86. Max Halbe verteidigte diese episierenden Tendenzen und plädierte für eine Verwischung der Gattungsgrenzen: »Wir gestatten dem Roman seine Gespräche, und wir gestatten nicht minder dem Drama seine Erzählungen. Wie weit der Dichter es mit solcher ›Durchbrechung der Form‹ treiben will, ist seine Sache. Gewinnt in einem Roman die Dialogform das Übergewicht oder umgekehrt im Drama das epische, so nenne man meinethalben den Roman ein Drama und das Drama einen dialogisierten Roman.« (Max Halbe: Berliner Brief. In: Die Gesellschaft 5 [1889], S. 1174–1177, hier S. 1176). Günther Mahal: Naturalismus. München 1975, S. 95. Hans Merian: Lumpe als Helden. Ein Beitrag zur modernen Ästhetik. In: Die Gesellschaft 7 (1891), S. 70. Vgl. Sträßner: Analytisches Drama (Anm. 3), S. 227, dort Anm. 32.

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fehlung. Die Interpretation und Analyse des im medizinischen Sinne Vorgefallenen ist Mittel zum Zweck der ›Heilung‹. Das Sujet der möglichen, erhofften oder angestrebten Besserung ist also Teil dieser besonderen Ästhetik des analytischen Dramas im deutschen Naturalismus. Diese auf Veränderung und Verbesserung zielenden Implikationen der diagnostischen Ästhetik entsprechen der gesellschaftskritischen und auf Reform bedachten Poetik des Naturalismus, die aus organologischen Vorstellungen heraus den Dichter zum Arzt der Gesellschaft, und die naturalistische Dichtung zur sozialen Medizin erklärte. Irma von Troll-Borostyani parallelisierte in diesem Sinn 1891 »die naturalistische Dichtkunst [...] mit der Thätigkeit des Arztes [...]. Der Vergleich ist richtig. Nur vergesse man nicht, daß des Arztes Aufgabe nicht bloß das Erkennen der Krankheit ist, sondern auch deren Heilung.«13 Auch Gerhart Hauptmanns dramatische Figuren interpretieren die medizinische Funktion der naturalistischen Dichtung ähnlich; so erklärt Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang: »Was Zola und Ibsen bieten, ist Medizin.«14 In den hier zu Analyse anstehenden Dramen sind darüber hinaus Mediziner zentrale Charaktere, welche die diagnostisch-analytische Form des Dramas in ihrem Handeln performativ spiegeln. Die Arzt-Figuren Hauptmanns bilden wirkungsästhetisch für den Leser die Folie, um deren Diagnosen eine eigene entgegenzustellen. Im Drama Das Friedensfest wird darüber hinaus der Arzt (Dr. Fritz Scholz) zum hilflosen Patienten und demonstriert so die Problematik unbedingten Vertrauens auf die medizinische Diagnose. Der Arzt Dr. Schimmelpfennig medizinalisiert in Vor Sonnenaufgang metaphorisch die gesellschaftlichen Reformbestrebungen: »Die Menschheit liegt in der Agonie, und unsereiner macht ihr mit Narkoticis die Sache so erträglich als möglich.« (V, 116) Konsens der germanistischen Forschung ist es, dass sich die analytischen Dramen von Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Max Halbe mit der biologischen Determiniertheit des Menschen beschäftigen.15 Im Unterschied zu Forschung

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Irma von Troll-Borostyani: Die Liebe in der zeitgenössischen deutschen Litteratur. In: Die Gesellschaft 7 (1891), S. 1016–1022, hier S. 1022. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. München 352004, S. 52. Zitate aus ›Vor Sonnenaufgang‹ werden künftig aus dieser Ausgabe eingeklammert mit römischer Akt- und arabischer Seitenzählung angegeben. Zum Literaturgespräch in ›Vor Sonnenaufgang‹ vgl. Dieter Martin: Ein Buch für Schwächlinge. ›Werther‹-Allusionen in Dramen des Naturalismus. In: ZfdPh 122 (2003), S. 237–265. Wie problematisch solche Biologisierungen und Medizinalisierungen des Gesellschaftlichen sind, hat 50 Jahre später Thomas Mann im ›Doktor Faustus‹ reflektiert, als er die Nebenfigur des jungkonservativen Matthäus Arzt um die Jahrhundertwende agieren lässt, »den die anderen den ›Sozialarzt‹ nannten, denn das soziale war seine Passion« (Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt/M. 1967, S. 161). Vgl. zum Determinismus in ›Meister Oelze‹ Dieter Kafitz: Struktur und Menschenbild naturalistischer Dramatik. In: ZfdPh 97 (1978), S. 225–255; Helmut Scheuer: Johannes Schlaf: Meister Oelze. In: Dramen des Naturalismus. Interpretationen. Stuttgart 1988, S. 149–177; Klaus Müller-Salget: Autorität und Familie im naturalistischen Drama. In: ZfdPh 103 (1984), S. 502–519; Hauke Stroszek: Das »scheinbare Drüberhin und Dranvo-

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bin ich aber der Ansicht, dass viele dieser analytischen Dramen zwar vorführen, inwieweit die Figuren von ihrer erblichen Determination und Präformierung überzeugt sind, aber es wird dem genauen Leser und aufmerksamen Zuschauer zugleich die Möglichkeit eröffnet, in einer Gegendiagnose festzustellen, dass viele dieser biologischen Determinismusannahmen auf falschen Voraussetzungen beruhen, und zwar nicht retrospektiv von heute aus betrachtet, sondern aus dem Wissen der Zeit heraus. Damit ergibt sich einerseits ein Unterschied zwischen den skandinavischen und deutschen Dramen des Naturalismus und andererseits innerhalb der deutschen naturalistischen Literatur eine wichtige Differenz zwischen essayistischer Theorie und dramatischer Praxis. Während Zola etwa in Madeleine Férat oder Ibsen in Die Frau am Meer regelrechte Theorien der Vererbung in die fiktionale Praxis umsetzen,16 präsentieren die hier zur Debatte stehenden deutschen Dramen die erbbiologischen Determinismusvorstellungen weitaus skeptischer und konfrontieren sie mit Vorstellungen sozialer Bedingtheit. Während Ernst Haeckel definiert, »der menschliche Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Tiere«,17 Wilhelm Bölsche in den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie die »Thatsache der Willensunfreiheit« des Menschen für eindeutig erklärt,18 und Conrad Alberti die »jahrhundertealte Legende vom freien Willen des Menschen« als zerstört betrachtet,19 nimmt sich die deutsche dramatische Praxis dem Problem der Willensfreiheit differenzierter und ambivalenter an. Das analytische Drama stellt damit

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bei« des Dialogs. Johannes Schlafs ›Meister Oelze‹. In: Deutsche Dichtung um 1890. Hrsg. von Robert Leroy, Eckart Pastor. Bern 1991, S. 417–451; zum Determinismus in Halbes ›Der Strom‹ vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Max Halbe: ›Der Strom‹. Das zweite Testament. Ästhetische Erbschaft und technische Moderne. In: Dramen des Naturalismus (s. o.), S. 213–241. Zum Determinismus in ›Vor Sonnenaufgang‹ und ›Das Friedensfest‹ vgl. über die in den folgenden Abschnitten detaillierter diskutierten Studien hinaus Werner Bellmann: Gerhart Hauptmann: ›Vor Sonnenaufgang‹. Naturalismus – soziales Drama – Tendenzdichtung. In: Dramen des Naturalismus (s.o.), S. 7–46. Zur Vorstellung der »Impregnation« bzw. Telegonie bei Ibsen und Zola vgl. Barbara Beßlich: Mütter im Visier. »Versehen« und Telegonie in Weiningers ›Geschlecht und Charakter‹ – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 (2004) S. 19–36. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Volksausgabe. Stuttgart 1903, S. 55. Zu Haeckel vgl. Katharina Grätz: Wissenschaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste »Welträtsel« und ihr Text. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg. Tübingen 2002, S. 240–255; Kai Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels. In: Zeitschrift für Germanistik 15 (2005), S. 61–75. Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik. Leipzig 1887, S. 34. Zu Bölsche vgl. Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993. Conrad Alberti: Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Leipzig 1890, S. 58.

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die Thesen der naturalistischen poetologischen Essayistik auf die Probe.20 Im dramatischen Einzelfall erweisen sich die deterministischen Phänomene sehr viel widersprüchlicher als in der literarischen Theorie. Die Figuren Hauptmanns werden, so meine These, regelrecht zu Opfern falscher erbbiologischer Prämissen. Dies zu ermitteln, wird zur Aufgabe des Lesers, der eine Familienanamnese der Figuren erhebt und so etwaige Fehldiagnosen des biologischen Determinismus relativieren kann. Die erbbiologischen Primärhypothesen und Verdachtsdiagnosen der Figuren werden vom Leser nach einer gründlichen Anamnese durch eine gesellschaftliche Differentialdiagnostik korrigiert. Es geht bei der analytisch-dramatischen Technik des deutschen naturalistischen Dramas somit um etwas anderes als um die Aufdeckung Ibsenscher Lebenslügen im Sinne eines prozessualen »Gerichtstag halten | über sein eigenes Ich«.21 Die Form des diagnostisch-analytischen Dramas ermöglicht es, die Vorstellung von der Determiniertheit des Menschen nicht bloß darzustellen, sondern die Art dieses Determinismus wirkungsästhetisch zur medizinisch-gesellschaftlichen Diskussion zu stellen. Nicht nur der Dichter, sondern auch der Leser beobachtet, vergleicht, kommt zu einem begründeten Urteil, ganz nach den medizinisch-wissenschaftlichen Vorgaben Claude Bernards, aber es handelt sich eben oft um ein begründetes Urteil, das denen der dramatischen Figuren widerspricht. Damit gelangt der Leser zu einer bestimmten anamnetischen Autorität, wie sie in der medizinischen Literatur der Jahrhundertwende für den Arzt gefordert wurde. So stellte etwa Jacob Wolff in seiner Studie Der praktische Arzt und sein Beruf. Vademecum für den angehenden Praktiker 1896 das anamnetische Patientengespräch als eine hierarchisch geordnete Angelegenheit dar, bei welcher der Arzt durch präzise Fragen, einen »scharfen Blick«, Kombinationsgabe und Erfahrung zu einer Diagnose gelange.22 Während in heutigen medizinischen Lehrbüchern empfohlen wird, das Patientengespräch mit offenen Fragen beginnen zu lassen, um so die Möglichkeit eines falschen Verdachts zu minimieren, verlangte die Ratgeberliteratur für Ärzte um 1890 eine zielgenaue Fragetechnik. Während das Arzt-Patienten-Verhältnis zu

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Damit ist die naturalistische Dramatik den induktiven Forderungen John Stuart Mills weitaus näher als die poetologischen Schriften des deutschen Naturalismus. Zu solchen theoretischen Verpflichtungen auf Mill und Claude Bernard vgl. etwa Franziska von Kapff-Essenther: Die Wahrheit im modernen Roman. In: Die Gesellschaft 2 (1886), S. 227–229. Ibsens Formel zitiert etwa bei Roy C. Cowen: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche. München 1973, S. 60. Claude Bernard erläuterte die Phasen seiner experimentell-induktiv begriffenen Medizin als Wissenschaft, die für Zolas roman expérimental entscheidend wurde, folgendermaßen: »In jeder experimentellen Erkenntnis gibt es drei Phasen: die Beobachtung, den Vergleich, das begründete Urteil.« Claude Bernard: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (Paris 1865). Übertragen von Paul Szendrö und biographisch eingeführt von Karl E. Rotschuh. Anhang: Zur Bibliographie des Schrifttums von und über Claude Bernard, von Rudolph Jsanneck. Leipzig 1961 (Sudhoffs Klassiker der Medizin, 35), S. 29; Jacob Wolff: Der praktische Arzt und sein Beruf. Vademecum für den angehenden Praktiker. Stuttgart 1896, S. 91.

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Beginn des 19. Jahrhunderts noch als Patronage-Verhältnis gekennzeichnet war, in dem der Patient den Arzt beinahe als seinen Diener betrachtete, führte die Professionialisierung und Spezialisierung des Ärztestandes im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch zum Idealbild des Autorität ausstrahlenden Arztes.23 Die verwissenschaftlichte Medizin erhob Anspruch auf das Wissensmonopol über Gesundheit und Krankheit.24 Die Form des hierarchisch geführten Patientengesprächs war Teil dieses neuen Berufsbildes. Das analytische Drama des deutschen Naturalismus stellt der biologischen Verdachtsdiagnose der Protagonisten und Arztfiguren nun wirkungsästhetisch die gesellschaftliche Differentialdiagnose gegenüber, die der Text bereithält und der Leser erschließen kann. Diese Diagnoseverdopplungen führen dazu, dass Hippolyte Taines Formel von der Bedingtheit des Menschen durch race, milieu und moment nicht mehr additiv begriffen wird, sondern in unterschiedlichen Gewichtungen und Reihungen interpretiert wird. Damit bedienen sich die naturalistischen Dramen mit der diagnostischen Ästhetik zwar einer medizinischen Schreibweise, nutzen diese aber, um sie inhaltlich gegen aktuelle Thesen der Medizin um 1900 (etwa Auguste Forels Annahme von der Erblichkeit des Alkoholismus) auszuspielen. Die von der Medizin bereitgestellte Technik der ärztlichen Anamnese wird in den Dramen als Darstellungsform vorgeführt und funktionalisiert, um allgemeine biologische Determinismushypothesen zu hinterfragen. Der eindeutigen Diagnose als ärztlichem Ziel steht im poetischen Text die Ambiguität unterschiedlicher Deutungsangebote gegenüber.

II. Mangelnde anamnetische Nachfrage in Vor Sonnenaufgang (1889) Hauptmanns soziales Drama Vor Sonnenaufgang präsentiert die Familie des schlesischen Bauern Krause, in die der Reichtum kam, als sie ihre kohlefündigen Felder verkaufte. Trunksucht und Langeweile bestimmen nun Krauses tatenloses Dasein. Krauses ältere Tochter Martha, die mit dem Ingenieur Hoffmann verheiratet ist, ist ebenfalls alkoholsüchtig. Frau Krause, die zweite Frau des Bauern, hat ein Verhältnis mit dem Verlobten ihrer Stieftochter Helene, und Bauer Krause nähert sich im Vollrausch dieser jüngeren Tochter Helene in inzestuöser Absicht. In diesem

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Vgl. hierzu Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens. Göttingen 1985 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 68), S. 153; Ulrich Brand: Ärztliche Ethik im 19. Jahrhundert. Der Wandel ethischer Inhalte im medizinischen Schrifttum. Ein Beitrag zum Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung. Freiburg 1977 (Freiburger Forschungen zur Medizingeschichte, 5). Vgl. auch Volker Roelcke: Medizin – eine Kulturwissenschaft? Wissenschaftsverständnis, Anthropologie und Wertsetzungen in der modernen Heilkunde. In: Phänomen Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften. Hg. von Klaus E. Müller. Bielefeld 2003, S. 107–130.

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Milieu wirkt Helene Krause, die jüngste Tochter, wie ein Fremdkörper. Helene war von ihrem 10. bis 17. Lebensjahr in Pension in Herrnhut und ist erst seit vier Jahren wieder in Witzdorf. Sie aus dem schlesischen Sodom und Gomorrha zu erretten, erscheint mit alttestamentarischem Nachnamen, Alfred Loth, der nationalökonomische Bote aus der Fremde, der nach Witzdorf kommt, um eine sozialkritische Studie über die Lage der schlesischen Kohlearbeiter zu verfassen. Der Gesinnungsethiker Loth hatte zusammen mit dem Pragmatiker Hoffmann studiert. Loth ist ein leidenschaftlicher Abstinenzler und Idealist, der seine sozialreformerischen Ideen mit rigorosen Vorstellung von der erbbiologischen Bedingtheit des Menschen verbindet. Loth verliebt sich in Helene, als er aber vom Alkoholismus ihres Vaters und ihrer Schwester erfährt, verläßt er sie, weil er eine Verbindung mit der Tochter eines Alkoholikers nicht mit seinen erbhygienischen Vorstellungen vereinbaren kann.25 Das Drama endet mit Helenes Selbstmord, nachdem sie erfahren hat, dass Loth sie verlassen hat. Hauptmanns fünfaktiges Prosa-Drama wahrt einerseits die Einheit von Ort, Zeit und Handlung und höhlt zugleich doch die Konventionen der geschlossenen Form aus. Das Gegeneinander von Dialekt und Hochsprache signalisiert bereits den problematischen Status der Sprache, die den Figuren nicht mehr genügt, um sich auszudrücken. Handlung kommt in dieses festgefahrene Milieu lediglich von außen, als Loth in Witzdorf erscheint. Hauptmanns Dramenerstling inszeniert das analytisch-dramatische Verfahren virtuos: Der Leser wird zu Beginn (gemeinsam mit der Familie Krause) mit Loths politischer Biographie als Rätsel konfrontiert, das sich aber im Verlauf der ersten zwei Akte klärt. Weitere analytisch-dramatischen Rätsel, die Leser und Protagonist im Verlauf der Handlung entschlüsseln müssen, sind der alkoholbedingte Tod des ersten Kindes von Martha Krause, das Verhältnis von Frau Krause und Kahl, das vormalige angedeutete Verhältnis von Helene und Hoffmann und schließlich die Identität von Schimmelpfennig, deren Aufdeckung sehr bewusst vorbereitet wird: Schon im ersten Akt wird Loth auf den bemerkenswerten Arzt von Witzdorf aufmerksam gemacht, ohne dass dessen Name genannt wird. Im zweiten Akt schwärmt der Arbeiter Beibst vom Arzt, wieder ohne Namensnennung. Erst im dritten Akt wird gegenüber Loth der Name Schimmelpfennigs genannt, und im fünften Akt stößt Loth mit Schimmelpfennig schließlich zusammen. Ästhetisch geschärft durch diese analytisch-dramatische Variationen, wird der Leser sofort aufmerksam für die analytisch-dramatische Situation, in die Loth selbst gerät. Mit einem klaren Wissenvorsprung vor dem Protagonisten beobachtet der Leser Loth, der nichts vom Alkoholismus in der Familie Krause weiß, sich in Helene, die Tochter des Alkoholikers Krause, verliebt und gleichzeitig überzeugt ist, dass er nur eine ›erbgesunde‹ Frau heiraten kann. Erst im fünften Akt wird Loth vom befreundeten Arzt Dr. Schimmelpfennig eröffnet: »Du wirst Helene

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Loth erläutert seine erbbiologischen Absichten: »Ich bin absolut fest entschlossen, die Erbschaft die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen.« (I, 35).

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Krause, glaub’ ich, nicht heiraten können« (V, 116). Der Mediziner Schimmelpfennig erläutert Loth seine erbbiologische Verdachtsdiagnose von dieser »Potatorenfamilie« (V, 118) und ihrem »vererbte[n] Übel« (V, 119). Loth und Schimmelpfennig erweisen sich aber als schlechte Diagnostiker, und der Leser wird in die Situation versetzt, Loths Diagnose zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Loth flieht aus Witzdorf wie sein alttestamentarischer Namensvetter aus Sodom und Gomorrha, aber nicht nach göttlicher Weisung, sondern aus mangelndem medizinischem Überblick.26 Denn Loth nimmt fälschlicherweise an, dass Helene erblich vorbelastet ist. Bei genauer anamnetischer Rekonstruktion der Familiengeschichte, kann der Leser ermitteln (und Rolf Christian Zimmermann hat dies beeindruckend vorgeführt, ohne allerdings die Folgen für eine diagnostische Ästhetik des analytischen Dramas zu berücksichtigen27), dass der Alkoholismus in diese Familie nicht mit den Genen, sondern mit dem Reichtum und der Langeweile kam. Der Großvater Helenes väterlicherseits hatte als Bauer und Fuhrknecht gearbeitet und war gesund. Die verstorbene Mutter Helenes war ebenfalls gesund. Helenes Vater griff erst in dem Moment zur Flasche, als er durch den Verkauf seiner Felder seiner gewohnten Tätigkeit enthoben war. Genau in dem Moment verließ Helene ihre Familie mit zehn Jahren, als sie mit dem Geld der Eltern in Pension nach Herrnhut geschickt wurde. Aus Langeweile und sozialer Verunsicherung griff Bauer Krause zum Alkohol; hier beleiht Hauptmann zeitgenössische Forschungen von Gustav Bunge.28 Martha verließ nicht wie Helene Witzdorf, sondern blieb in der sich verändernden familiären Umgebung. Auch wenn man, wie die zeitgenössischen Forschungen von Gustav Bunge und Ernst Haeckel, die Hauptmann rezipierte, um 1890 von der Vererbbarkeit des Al-

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Schimmelpfennig hat die Lösung unwissend parat gestellt: »Ich kann dir als Arzt sagen, daß Fälle bekannt sind, wo solche vererbten Übel unterdrückt worden sind, und du würdest ja gewiß deinen Kindern eine rationelle Erziehung geben« (V, 119). Inwiefern Schimmelpfennig intertextuell die Figur des Teiresias aus ›König Ödipus‹ von Sophokles beleiht, untersucht Hans Delbrück: Gerhart Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹. Soziales Drama als Bildungskatastrophe. In: DVjs 69 (1995), S. 512–545. Aus Teiresias dem blinden Seher wird hier ein sehender Blinder, der die Lösung ausspricht, ohne sie anwenden zu können. Delbrück konzentriert sich in seiner Studie allerdings auf inhaltliche Parallelen und geht nicht auf die strukturelle Intertextualität im analytisch-dramatischen Verfahren ein. Rolf Christian Zimmermann: Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹. Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie menschlicher Blindheit? In: DVjs 69 (1995), S. 494–511. Gustav Bunge: Die Alkoholfrage. Ein Vortrag. Leipzig 1887, S. 8. Vgl. hierzu Thomas Bleitner: Naturalismus und Diskursanalyse. Ein sprechendes Zeugnis sektiererischen Fanatismus. Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹ im Diskursfeld der ›Alkoholfrage‹. In: Praxisorientierte Literaturtheorie. Annäherung an Texte der Moderne. Hrsg. von Thomas Bleitner. Bielefeld 1999, S. 133–156; Raleigh G. Whitinger: Gerhart Hauptmann’s ›Vor Sonnenaufgang‹. On alcohol and poetry in German naturalist drama. In: The German Quarterly 63 (1990), S. 83–91.

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koholismus als erworbener Eigenschaft ausging,29 ließ sich dies nicht auf die Personenkonstellation in Vor Sonnenaufgang applizieren, denn als Bauer Krause die Trunksucht »erwarb«, war Helene längst gezeugt und geboren. Wenn irgendetwas in dieser Familie den Alkoholismus induziert, ist es wohl eine Determiniation des Milieus, nicht eine erbbiologische Festlegung. All dies erkennt Loth aber nicht, weil er nicht die entscheidenden anamnetischen Fragen an Helene richtet. Dr. Schimmelpfennig ist noch nicht lange genug in Witzdorf, um die gesamte Familiengeschichte zu kennen. So wird es zur Aufgabe des Lesers, Symptome zu beobachten und zu sammeln, Verbindungen zu ziehen und schließlich die Differentialdiagnose zu erwägen, dass soziale Missstände und nicht erbbiologischer Determinismus den Alkoholismus in der Familie Krause bedingen. Der Leser gerät in eine produktive diagnostische Konkurrenz zu den Figuren, registriert deren eingeschränkte Erkenntnis und schärft seine Differenzierungsfähigkeit zwischen erblichen und sozialen Bedingtheiten des Menschen.

III. Der Glaube an den Determinismus als determinierender Faktor in Das Friedensfest (1890) Auch in Hauptmanns zweitem Drama, Das Friedensfest (1890), sind die Figuren durch die Vorstellung von ihrer erbbiologischen Disposition gefesselt. Das dreiaktige Prosadrama stellt in tektonischer Dichte die Zusammenführung der Familie Scholz an Weihnachten, dem Friedensfest, dar. Das Friedensfest entpuppt sich aber, so der Untertitel des Dramas, als Eine Familienkatastrophe. Wieder geht die Handlung, wie schon in Vor Sonnenaufgang von außen aus: Frau Buchner und ihre Tochter Ida wollen den zukünftigen Schwiegersohn beziehungsweise Verlobten Wilhelm Scholz mit seiner Familie versöhnen. Während Frau Buchner und ihre Tochter als gesunde und integre Charaktere vorgestellt werden, erscheint die Familie Scholz als heillos zerrüttet, missgünstig, nervös und zum Verfolgungswahn neigend. Die Überzeugung von der Unentrinnbarkeit dieser erbbiologischen und sozialen Präformation drückt Wilhelms Bruder Robert folgendermaßen aus: »Wir sind alle von Grund aus verpfuscht. Verpfuscht in der Anlage, vollends verpfuscht in der Erziehung. Da ist nichts mehr zu machen.«30 Wilhelm hat seine Familie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Im Verlauf der Handlung stellt sich analytisch-dramatisch aufgeschlüsselt heraus, dass Wilhelm

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Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Leipzig 1866, Bd. 2, S. 186. Vgl. dazu Günter Schmidt: Die literarische Rezeption des Darwinismus. Das Problem der Vererbung bei Emile Zola und im Drama des deutschen Naturalismus. Berlin 1974 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philologischhistorische Klasse, Bd. 117, Heft 4), S. 115. Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe. Bühnendichtung. Berlin 1920, I. Akt, S. 36. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im fortlaufenden Text mit römischer Aktzahl und arabischer Seitenzahl zitiert.

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vor sechs Jahren in einem Streit mit seinem Vater, dem Arzt Dr. Fritz Scholz, die Hand gegen diesen erhoben hat.31 Daraufhin verließen Wilhelm und der Vater die Familie und ließen die Mutter und die Geschwister Auguste und Robert zurück. An diesem Weihnachtsabend findet die gesamte Familie zusammen, auch der Vater kehrt überraschend zurück. Der zweite Akt präsentiert den kurzen Augenblick der Versöhnung am Heiligen Abend, der freilich bald wieder den alten Streitereien weicht. Die Versöhnung an Weihnachten währt nur kurz, am Ende scheinen die alten Konflikte und Bedingtheiten wieder die Personen zu beherrschen. Der kranke Vater bricht zusammen und stirbt. Der triadische Aufbau mit dem katastrophischen Rahmen und der seltsam unwirklichen, labilen und dilatorischen Idylle in der Mitte erinnert wohl nicht von ungefähr an Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili. Während Kleist in Auseinandersetzung mit Rousseau nach der zerstörerischen Kraft der Zivilisation fragt und ihr einen scheinbar paradiesischen Urzustand entgegensetzt, inszeniert Hauptmann ein Drama der Willensfreiheit. Während im ersten und dritten Akt deterministische Vorstellungen die Figuren beherrschen, scheinen sie sich im zweiten Akt über ihre Bedingtheiten hinwegzusetzen und eine selbstbestimmte Versöhnung einzugehen. Das Thema der Willensfreiheit und der Begriff des »Willens« ziehen sich leitmotivisch durch das Drama. Frau Buchner versucht, im ersten Akt Frau Scholz zu überzeugen, »daß wir Menschen mit dem festen, ehrlichen Willen« (I, 22) in der Lage sind, uns selbst zu bestimmen. Aber sie wird von Frau Scholz unterbrochen, die ihr weinerlich entgegnet: Der Wille, der Wille! Geh mer nur da mit! Das kenn ich besser. Da mag man wollen und wollen und hundertmal wollen, und alles bleibt doch beim alten. [...] Gott ja, der Wille, der Wille! – ja, ja, alles gutter Wille – Dein Wille ist sehr gutt, aber ob Du damit was erreichen wirst – ? (I, 22f.)

Und auch Wilhelm scheint zwischenzeitlich zu verzweifeln, wenn er aufstöhnt: »Es steckt etwas in uns Menschen .. der Wille ist ein Strohhalm« (II, 56). Desillusioniert gesteht er sich fatalistisch die scheinbare Unentrinnbarkeit der Lage ein: »Daß es so kommen mußte, war ja .. es war ja so lächerlich selbstverständlich.« (III, 88) Selbst die einst von der Macht der Willenskraft überzeugte Frau Buchner, bekennt angesichts des erneut aufgebrochenen Streites gegenüber Wilhelm: »An Ihrem Willen wird es nicht fehlen, aber nun .. nun habe ich so mancherlei .. nun habe ich so viel gesehen hier und – erfahren.« (III, 89) Die Figuren scheinen überzeugt von der Willensunfreiheit des Menschen und ergeben sich dementsprechend

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Dieses verhüllte Familiengeheimnis wird trotz intensiver Gespräche nicht völlig aufgelöst. Was genau zu verstehen ist unter der Formulierung »die Hand, die sich gegen den eigenen Vater erhebt« (I, 22), ob damit etwa auch eine Mordabsicht verbunden war, bleibt offen. Diesen semantischen Leerstellen spürt Hauke Strozeck nach, allerdings mit oft sehr weitgehenden Spekulationen; vgl. Hauke Stroszeck: »Sie haben furchtbar, furchtbar gefehlt«. Verschweigung und Problemstruktur in Gerhart Hauptmanns ›Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe‹. In: Euphorion 84 (1990), S. 237–268.

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fatalistisch in ihr Schicksal; eine Handlungsweise, die sich mit Karl Valentins Sentenz beschreiben läßt: »Wollen hätt’ er schon mögen, aber dürfen hat er sich nicht getraut.« Im Gespräch der beiden Brüder im letzten Akt entwickelt sich der zentrale antagonistische Schlagabtausch über die Willensfreiheit. Während Wilhelm ein letztes Mal gegen die erbbiologische Determiniertheit beteuert: »Jeder Mensch ist ein neuer Mensch«, entgegnet ihm sein Bruder Robert kühl: »Das möchtest Du gern glauben. Laß gut sein! Da verlangst Du zu viel von Dir. Die fleischgewordene Widerlegung bist du ja doch selbst.« (III, 99) Ob Robert mit diesem Urteil recht hat, muss der Leser am Ende des Dramas prüfen. Robert scheint Wilhelm mit seiner Meinung über die Verkorkstheit der Familie Scholz so weit überzeugt zu haben, dass Wilhelm von einer Verbindung mit Ida absehen will, um sie nicht in dieses erbbiologisch präformierte Elend hinabzuziehen. Als der Vater stirbt, scheint Wilhelm ebenfalls zusammenzubrechen und hierin die Bestätigung der biologischen Verelendung zu sehen. Aber die letzte Szene des Dramas zeigt jenseits der Sprache eine andere Sicht der Dinge. Hauptmann verlegt in die Gestik den willentlichen Aufbruch Wilhelms aus der ihn knebelnden Vorstellung seiner biologischen Verpfuschtheit: Wilhelm will auf’s neue ausbrechen, wird abermals durch Ida beschwichtigt, kämpft seinen Schmerz nieder, sucht und findet Ida’s Hand, die er krampfhaft in seiner drückt, und geht Hand in Hand mit dem Mädchen aufrecht und gefaßt auf das Nebengemach zu. (III, 105)

Mit dieser Szene endet das Drama. Anstatt sich von Ida zu trennen, bleibt Wilhelm an ihrer Seite. Während der Rest der Familie sich ihren Affekten hingibt, nimmt Wilhelm »aufrecht und gefaßt«, selbstkontrolliert, seine Zukunft in Angriff. Ob er damit Erfolg haben wird, bleibt offen.32 Aber die labile Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben jenseits der biologischen Determiniertheit steht am Ende des Dramas. Einen Hinweis auf die mögliche Erfolgsaussicht von Wilhelms Unterfangen kann der Leser zudem aus den ausführlichen Regieanweisungen ziehen, welche die Figuren einführen. Ein Zusatz zu den dramatis personae betont, »soweit möglich, muß in den Masken eine Familienähnlichkeit zum Ausdruck kommen« (9). Damit wird der gemeinsame erbbiologische Ursprung markiert. Aber die drei Geschwister erweisen sich eben nicht als gleichermaßen vorbelastet, sondern werden in ganz unterschiedlicher Weise eingeführt. Während Auguste in der charakterologischen Regieanweisung »ein pathologisch offensives Wesen« (I, 14) attestiert wird, und Roberts Augen »zuweilen krankhaft« (I, 29) leuchten, wird Wilhelm dem gegenüber ganz anders vorgestellt. Auguste und Robert wurden als »auffallend mager«, »scharf«, schmallippig (I, 14), beziehungsweise »schmächtig« und »hager« (I, 29) beschrieben. Wilhelm fällt schon optisch aus dieser Beschreibung heraus: Wilhelm wird präsentiert als »mittelgroß, kräftig, wohlaussehend« (I, 41).

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Zu diesem offenen Dramenschluss vgl. Karl S. Guthke: Gerhart Hauptmanns Menschenbild in der ›Familienkatastrophe‹ ›Das Friedensfest‹. In: GRM 12 (1962), S. 39–50.

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Der Auftritt Wilhelms ist der lebende Beweis für die erfolgreiche soziale Emanzipation aus biologischer Vorbelastung. Damit wird die Determination des Milieus durchaus anerkannt und stark gemacht.33 Wilhelm war sechs Jahre nicht im Milieu seines Elternhauses, und es scheint ihm enorm gut getan zu haben. Während die zu Hause lebende Auguste »eine Atmosphäre von Unzufriedenheit, Mißbehagen und Trostlosigkeit« (I, 15) um sich verbreitet, hat sich Wilhelm kraft seines Willens aus dem Milieu gelöst und sein Leben selbstbestimmt in Angriff genommen. Die Rückkehr in die Familienkatastrophe schwächt ihn zusehends, aber am Ende scheint die vage Hoffnung auf ein Leben jenseits der biologischen Determination zu stehen. Damit schreibt bereits Hauptmanns zweites Drama 1890 die entscheidenden Prämissen des Naturalismus fundamental um: Die theoretische Vorannahme der absoluten Willensunfreiheit des Menschen wird in der induktiven dramatischen Erprobung zunehmend relativiert und in Frage gestellt. Der Leser kann die subjektiven Vorstellungen der Figuren von ihrer Determiniertheit konfrontieren mit deren Erscheinungsbild und Handeln. Die Willensunfreiheit ist in diesem Drama ideologische Proklamation einer Figur (Robert), die sich für eine andere Figur (Wilhelm) als falsch erweist. Helmut Scheuer hat darauf hingewiesen, dass in der mangelnden Selbsterkenntnis der Figuren Hauptmanns ein zentraler Unterschied zum Drama Ibsens auszumachen ist.34 Dieser Erkenntnisvorsprung des Lesers vor den Figuren lässt sich meines Erachtens funktional deuten als zentrales Element der diagnostischen Ästhetik des deutschen naturalistischen Dramas, das den Leser als Arzt inszeniert. Der Leser muss gegen Roberts fatalistische Diagnosen Wilhelms Auftritt, Sprechen und Handeln genau beobachten, um zu diagnostizieren, dass das Drama den biologischen Determinismus nicht etwa affirmativ darstellt, sondern in Roberts Figurenrede als lebenszerstörende Ideologie vorführt. Der Glaube an den Determinismus droht in diesem Drama katastrophale Konsequenzen zu haben, aus denen sich Wilhelm am Ende mit großer Mühe befreien kann.

IV. Genie und Determination im deutschen Naturalismus So haben die deutschen analytischen Dramen des Naturalismus, und insbesondere die Gerhart Hauptmanns, schon bereits sehr früh eine determinismusskeptische Bremse eingebaut, welche die basale naturalistische Vorstellung von der Bedingt-

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In dieser Auffassung unterscheide ich mich von Ernst Weber, der eine generelle Kritik von Determinismusvorstellungen (sozialen wie biologischen) im Friedensfest annimmt; vgl. Ernst Weber: Naturalismuskritik in Gerhart Hauptmanns frühen Dramen ›Das Friedensfest‹ und ›Einsame Menschen‹. In: Literatur für Leser 25 (2002), S. 168–188. Helmut Scheuer: Gerhart Hauptmanns ›Das Friedensfest‹. Zum Familiendrama im deutschen Naturalismus. In: Robert Leroy, Eckart Pastor (Hrsg.): Deutsche Dichtung um 1890 (Anm. 15), S. 399–416.

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heit des Menschen durch race, milieu und moment relativiert, hinterfragt, skeptisch beleuchtet und in neuen Rangfolgen anordnet. Während die prägende Kraft des Milieus durchaus bestätigt wird, scheint die biologische Determination in Konfrontation mit einer regelrechten Willensmetaphysik gebracht zu werden. Das hat literarhistorisch wohl auch mit einer langen und persistenten Tradition des Genie-Gedankens in Deutschland zu tun,35 der auch im Naturalismus nicht verschwand, sondern sich unter anderen Bedingungen fortsetzte. Wie sich dann das Genie wieder zum Beherrscher seiner erbbiologischen und sozialen Bedingtheit aufschwingt, ist ein anderes Kapitel der deutschen Literaturgeschichte, das aber schon in den 1890er Jahren bei naturalistischen Autoren zu beobachten ist, etwa bei Karl Bleibtreu, der 1893 gegen die Vorstellung von der kompletten erbbiologischen Determiniertheit das Genie unter naturalistischen Bedingungen perspektiviert. In einem Essay über Taine erläutert Bleibtreu: Allein mit der Vererbung ist es auch wieder ein eigen Ding. Neueste englische Forscher haben ihre landläufige Auffassung geradezu geleugnet und der Geburt einen unbekannten dritten Faktor untergeschoben, der ganz außerhalb der nachweisbaren materiellen Vererbung liege. Das klingt freilich bedenklich metaphysisch. Doch gelang es bisher nicht, das Entstehen des Genies nachweisbar aus Vererbung und Milieu klarzulegen.36

Auch die diagnostische Ästhetik des analytischen Dramas im Naturalismus steht nicht etwa im Dienst einer biologischen Determinismusthese, die die zeitgenössische Medizin bloß bestätigen würde, sondern gibt dem Leser Instrumente in die Hand, die deterministischen Primärhypothesen und Verdachtsdiagnosen der Figuren zu hinterfragen und ihnen nach konzentrierter Beobachtung und ätiologischer Forschung eine begründete Differentialdiagnose entgegenzustellen. Schwache und irrende Arztfiguren, wie Dr. Schimmelpfennig in Vor Sonnenaufgang und Dr. Scholz in Das Familienfest, führen keineswegs den »Arzt [als] die geweihteste Person« vor,37 sondern verweisen in ihren Fehldiagnosen auf die Kehrseite einer professionalisierten medizinischen Expertenkultur, die zwar den Anspruch auf eine umfassende anthropologische Kompetenz erhebt, aber diesen durchaus nicht immer einlösen kann. Die medizinische Schreibweise von Anamneseerhebung und Diagnostik wird literarisch vorgeführt, wirkungsästhetisch verdoppelt und ihr Anspruch auf Eindeutigkeit zurückgewiesen. Innerhalb des zeitgenössischen Diskurses um die Deutungsmacht des Arztes formulierte der Mediziner Paul Julius Möbius apodiktisch: »Kein Mensch wird verstanden, wenn das ärztli-

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Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Darmstadt 1988, Bd. 2, S. 172–188. Dies erläutert Bleibtreu im Folgenden am Beispiel Napoleons und Goethes: »Weshalb eine resolute bigotte Korsin und ein schwacher leichtsinniger Papa unter einer Menge liederlicher unfähiger anmaßender Söhne und Töchter einen Genie- und Willensriesen, den wahren Übermenschen erzeugten – warum eine heitre intelligente Frau Rat in konventioneller Ehe mit einem schwarzgalligen zänkischen Philister neben einer kränklichen mürrischen Tochter einen Dichter-Olympier gebar, das ist und bleibt rätselhaft.« (Karl Bleibtreu: Taine. In: Die Gesellschaft 9 [1893], S. 899f.). Vgl. Leo Berg (Anm. 1).

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che Urteil fehlt.«38 Die naturalistischen Dramen Gerhart Hauptmanns stellen genau dies in Frage: Der Mensch wird dort missverstanden, weil das ärztliche Urteil fehlgeht.

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Paul Julius Möbius: Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze. Leipzig 1901, S. 55.

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»Going Beyond the Facts« John B. Watson, der kleine Albert und die Propaganda des Behaviorismus Was ist der Behaviorismus?1 Sucht man in einschlägigen Lexika und InternetEnzyklopädien nach einer Antwort auf diese Frage, stößt man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit neben dem Verweis auf die Konditionierungsexperimente Pavlovs auf folgendes berühmte Zitat: Give me a dozen healthy infants, well-formed, and my own specified world to bring them up in and I'll guarantee to take any one at random and train him to become any type of specialist I might select – doctor, lawyer, artist, merchant-chief and, yes, even beggarman and thief, regardless of his talents, penchants, tendencies, abilities, vocations, and race of his ancestors.2

Das Zitat stammt aus John B. Watsons erster umfangreicher Einführung in den Behaviorismus mit dem prägnanten Titel Behaviorism und fasst tatsächlich das Programm des klassischen Behaviorismus3 treffend zusammen. Das Programm lautet:

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Eine Frage, die besonders die Protagonisten des Behaviorismus selbst immer wieder umzutreiben scheint. Zumindest sind die Publikationen J.B. Watsons und B.F. Skinners, die erklären wollen, was er denn nun wirklich ist, der Behaviorismus, Legion. Keine andere psychologische Schule kann einen nur annähernd vergleichbar umfangreichen Korpus an Manifesten, Grundsatzprogrammen und Pamphleten vorweisen wie der Behaviorismus. John B. Watson: Behaviorism. Chicago 1924, S. 128. Dazu, dass Watsons ›These‹ nicht ganz so neu und spektakulär ist wie häufig dargestellt sowie zu den Ursprüngen der ›nature or nurture‹-Debatte und zur Fiktionalität der Pädagogik vgl. Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. Die Nomenklatur der verschiedenen behavioristischen Strömungen und historischen Entwicklungsstufen ist nicht immer ganz eindeutig. Als ›klassischer‹ Behaviorismus werden in der Regel die behavioristischen Konzeptionen, welche John B. Watson in den 1910er und 20er Jahren entwickelt, bezeichnet. Die daran anknüpfende amerikanische Experimentalpsychologie der 30er und 40er Jahre zerfällt in zwei Strömungen, die beide als Neobehaviorismus bezeichnet werden. Für die erste dieser Strömungen, für die verkürzend die Namen Clark Hull und Edward C. Tolman genannt werden können, hat sich die Bezeichnung formaler oder auch methodologischer Behaviorismus durchgesetzt, während die zweite Strömung als metaphysischer bzw. radikaler Behaviorismus in die Psychologiegeschichte eingegangen ist. Protagonist dieser zweiten Strömung ist B.F. Skinner, der besonders nach dem zweiten Weltkrieg durch unzählige populärwissenschaftliche Veröffentlichungen und die Verfassung eines utopischen Romans (Walden Two) zur Ikone des Behaviorismus wurde. Die Unterscheidung zwischen methodologischem und metaphysischem Behaviorismus geht auf C.A. Mace: Some Implications of Analytical Behaviorism, in: Aristotelian Society Proceedings 49 (1948/49), S. 1–16 zurück. Während der metaphysische oder radikale Behaviorismus die Existenz von Bewusstsein im

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John B. Watson. Was nämlich das Zitat charakterisiert (die häufige – für eine psychologische Schule, die subjektiven Prozessen jegliche Relevanz aberkennt, erstaunlich häufige – Verwendung des Personalpronomens der 1. Person Singular, der aggressive Tonfall, die dramatischen Aufzählungen und die Hybris des gottähnlichen, alles kontrollierenden Wissenschaftlers), kennzeichnet nahezu alle Schriften Watsons. Der klassische Behaviorismus wird weniger von wissenschaftlicher Erkenntnis als von kriegerischer Rhetorik getragen. Es sind weniger experimentell gewonnene Daten und sorgfältig ausformulierte Theorien als vielmehr die Performativität seiner Texte (und Protagonisten), die dem Behaviorismus die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicherten und dafür sorgten, dass der Behaviorismus neben der Psychoanalyse zur bekanntesten psychologischen Schule werden konnte.4 Die Popularisierung des Behaviorismus vollzieht sich allerdings nicht, wie es für die Popularisierung wissenschaftlicher Themen und Erkenntnisse typisch wäre, in einem zweiten Schritt, nach der Formulierung und Validierung einer Theorie, der Bildung einer Schule usw., vielmehr sind der Behaviorismus und seine Popularisierung identisch. Bereits die frühesten Ansätze der behavioristischen Theoriebildung Watsons legen mindestens genau so viel Wert auf die propagandistische Ausgestaltung des Textes wie auf die Formulierung seiner Thesen. Dass der Behaviorismus und seine Popularisierung identisch sind, bedeutet auch, dass die Merkmale des Populären – Allgemeinverständlichkeit und Affektivität5 – von Beginn an kennzeichnend für den Behaviorismus sind (und nicht erst nachträglich durch popularisierende Vereinfachungen hinzutreten). Die Verschiebungen zwischen Selbst- und Fremddarstellung des Behaviorismus sind entsprechend minimal. So führen die (heutzutage meist kritischen) Kommentare zum Behaviorismus z. B. in der Regel das eingangs notierte Zitat an, vergessen jedoch meist zu erwähnen, dass es mit dem folgenden (die Hybris Watsons leicht einschränkenden) Satz fortfährt: »I am going beyond my facts and I admit it, but so have the advocates of the

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Sinne psychischer Prozesse, die von Subjekten beeinflusst werden können, leugnet, erkennt der methodologische Behaviorismus die Existenz und Relevanz der subjektiven Psyche an, bezieht sie jedoch nicht in seine Forschungen ein, da ihre Äußerungen nicht objektiv (wie z.B. äußerlich wahrnehmbares Verhalten) seien. Vgl. zur Nomenklatur des Behaviorismus G.E. Zuriff: Behaviorism. A Conceptual Reconstruction. New York 1985. Eine umfassende Geschichte des Behaviorismus bietet John A. Mills: Control. A History of Behavioral Psychology. New York, London 1998. Natürlich bleibt nicht nur anderen psychologischen Schulen mit dem Behaviorismus verwandten Grundannahmen eine vergleichbar hohe Aufmerksamkeit versagt, sondern auch den meisten Vertretern des Behaviorismus selbst (so z.B. dem in Fußnote 3 erwähnten formalen Behaviorismus): Wenn man von dem Behaviorismus spricht, meint man den Behaviorismus Watsons und Skinners. Vgl. zur Bestimmung von Hyper-Konnektivität (Allgemeinverständlichkeit) und Affektivität als die kommunikationstheoretischen Kennzeichen des Populären Urs Stäheli: Das Populäre als Unterscheidung – Eine theoretische Skizze. In Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 146–167, hier S. 159–162.

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contrary and they have been doing it for many thousands of years.«6 Eigentlich ist es erstaunlich, dass dieser Satz so häufig ausgelassen wird, äußert sich Watson in ihm doch als bekennender Propagandist: im Kampf gegen die Feinde, gegen die ›advocates of the contrary‹ ist ein ›going beyond the facts‹ in jedem Fall gerechtfertigt (zumal, wenn gegen ›many thousands of years‹ an Unglauben angekämpft werden muss). Dass sich die eigene Argumentation ein wenig ›jenseits der Fakten‹ bewegen kann, setzt allerdings voraus, dass überhaupt erst einmal Fakten festgestellt wurden. Welche Fakten aber spricht Watson an dieser Stelle an? Auf der Basis welcher Fakten lässt sich eine solche Behauptung aufstellen wie die eingangs zitierte, eine Behauptung, die unterstellt, dass der behavioristische Wissenschaftler aus einem Kind allein durch die Kontrolle von dessen Umwelt den Erwachsenen zu formen vermag, der ihm beliebt? Evidenz gewinnt Watsons Behauptung dadurch, dass sie implizit auf die Reflexologie Pavlovs und die in diesem Zusammenhang ausgeführten ebenso zahlreichen wie berühmten Experimente einerseits und andererseits auf die von ihm selbst durchgeführten ebenso einzigartigen wie berüchtigten Experimente an dem ›kleinen Albert‹,7 welche das Setting der Konditionierungsexperimente Pavlovs bzw. Bechterews auf den Menschen übertrugen, verweist. Über die hyperbolische Rhetorik Watsons hinaus sind es vor allem die in der kontrollierten Umgebung der Konditionierungsexperimente geschaffenen Fakten und Bilder,8 die die Basis für Watsons größenwahnsinnig anmutende Äußerungen liefern. Erst die Technik der Konditionierung ließ Watsons Behaviorismus populär werden und stellte darüber hinaus seinen Behauptungen die wissenschaftliche Reputation des Nobelpreisträgers Pavlov an die Seite. Bevor ich auf die Inszenierung des Experiments am kleinen Albert zu sprechen komme, möchte ich

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Watson: Behaviorism (Anm. 2), S. 128. Allerdings ist die Kritik daran, dass unzureichend zitiert wird, inzwischen selbst so populär, dass sich dieser Hinweis inzwischen auch unter http://en.wikipedia.org/wiki/John_B._Watson finden lässt. In die Literaturgeschichte gingen diese Experimente mit Thomas Pynchons Gravity's Rainbow ein. Die Experimente an Little Albert sind das Vorbild für die Konditionierung des Hauptprotagonisten des Romans Tyrone Slothrop. Die Suche nach den Gründen für diese Konditionierung bildet einen der Hauptplots, die Beschreibung der epistemischen und genealogischen Hintergründe des entsprechenden Experimtaldispositivs eines der Hauptthemen des Romans. Vgl. Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow [1973]. London 1995, S. 84: »Back around 1920, Dr. Laszlo Jamf opind that if Watson and Rayner could successfully condition their ›Infant Albert‹ into a reflex horror of everything furry, even of his own Mother in a fur boa, then Jamf could certainly do the same thing for his Infant Tyrone, and the baby’s sexual reflex. […] Shoestring funding may have been why Jamf, for his target reflex, chose an infant fardon. Measuring secretions, as Pavlov did, would have meant surgery. Measuring ›fear‹, the reflex Watson chose, would have brought in too much subjectivity (what’s fear? How much is ›a lot‹? Who decides, when it’s on-thespot-in-the-field, and there isn’t time to go through the long slow prodess of referring it up to the Fear Board?) […] But a hardon, that’s either there, or it isn’t. Binary, elegant. The job of observing it can even be done by a student.« Vgl. die Abbildungen unten.

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daher zunächst kurz auf den (fehlenden) Zusammenhang zwischen den Forschungen Pavlovs und der Entwicklung der behavioristischen Theorie eingehen.

Watson, Pavlov und die Konditionierung der behavioristischen Theorie Für Watsons Projekt einer ›Psychologie ohne Bewußtsein‹9 liefern Pavlovs Entdeckungen zur Neurophysiologie des Hundes und seiner Konditionierbarkeit genau die Bausteine,10 an denen es dem Behaviorismus zuvor noch mangelte. Allerdings werden sie weniger als sachliche Argumente aufgegriffen, aus denen eine Modifikation der psychologischen Theorie Watsons zu folgen hätte. Aufgegriffen werden Pavlovs Forschungen vor allem in performativer Hinsicht: Watson kann nun auf die Evidenz der Konditionierungsexperimente Pavlovs auf der einen und dessen physiologischem Vokabular als quasinaturwissenschaftlichem Fundament auf der anderen Seite verweisen, um seinem Behaviorismus die Popularität zu verschaffen, die ihm zuvor versagt blieb. Dass die Integration des Konditionierungsmechanismus in die Architektur der behavioristischen Ideologie zu keiner nennenswerten Veränderung ihrer Grundkonzeptionen führt, erhellt zunächst aus einer einfachen Tatsache: Watson erwähnt die Forschungen Pavlovs erstmals 1916,11 sein erstes behavioristisches Manifest formuliert aber bereits 1913 alle diejenigen grundlegenden Ansichten, die auch Jahrzehnte später noch das Fundament des Behaviorismus bilden.12 Das Manifest Psychology as the Behaviorist Views it ist eine Kampfansage Watsons an die Psychologie seiner Zeit. Im ersten Absatz heißt es: Psychology as the behaviorist views it is a purely objective experimental branch of natural science. Its theoretical goal is the prediction and control of behavior. Introspection

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Vgl. Klaus-Jürgen Bruder: Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt / M. 1982. Die Untersuchungen Pavlovs zu den Gehirntätigkeiten des Hundes sind in der westlichen Neurophysiologie erstaunlicherweise nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis genommen worden. Umso mehr Aufmerksamkeit haben Pavlovs Hunde dagegen aus der Psychologie und der Populärkultur erhalten. In John B. Watson: The Place of the Conditioned-Reflex in Psychology, in: Psychological Review Vol. XXIII No. 2 (1916). Zur Rezeption Pavlovs in den USA vgl. Gabriel Ruiz, Natividad Sánchez, Luis Gonzalo de la Casa: Pavlov in America: A Hetorodox Approach to the Study of his Influence, in: The Spanish Journal of Psychology Vol. 6 No. 2 (2003), S. 99–111. Im englischsprachigen Raum stellt Pavlov seine Theorie erstmals im Jahre 1906 vor. Vgl. I.P. Pavlov: The scientific investigation of the psychical faculties or processes in the higher animals (The Huxley lecture, Delivered at Charing Cross Hospital on Oct. 1st, 1906). In: The Lancet Vol. 168 (1906), S. 911–915. Eine ausführlichere und übergreifende Darstellung der Forschungen Pavlovs liefern drei Jahre später Robert M. Yerkes and Sergius Morgulis: The Method of Pawlow in Animal Psychology. In: The Psychological Bulletin 6 (1909), S. 257–273.

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forms no essential part of its methods, nor is the scientific value of its data dependent upon the readiness with which they lend themselves to interpretation in terms of consciousness. The behaviorist, in his efforts to get a unitary scheme of animal response, recognizes no dividing line between man and brute.13

Die wissenschaftlichen Feinde Watsons sind leicht auszumachen: zum einen die ›klassische‹ psychologische Schule der Introspektion eines Wilhelm Wundt14 und zum anderen die an den Pragmatismus anschließende funktionalistische Psychologie, den z. B. Watsons universitärer Förderer James Rowland Angell vertrat. Zwar teilen diese beiden Richtungen mit dem Behaviorismus den Anspruch, eine durch experimentalwissenschaftliche Methodik an die Naturwissenschaften anschlussfähige Psychologie zu betreiben, werden diesem Anspruch aber nach Watsons Ansicht keineswegs gerecht, weil ihr Interesse an den inneren Zuständen, an dem Bewusstsein der erforschten Individuen seiner Ansicht nach wissenschaftlicher Objektivität diametral entgegensteht, da »die Beziehung zwischen dem Verhalten und dem Bewusstsein experimentell unbestimmbar«15 sei. Auch die Bemühungen des Funktionalismus, das von außen beobachtbare Verhalten als Fokus seiner Beobachtungen zu bestimmen, geht für Watson nicht weit genug, da im Funktionalismus das Bewusstsein in der Anpassung des Verhaltens eines Individuums an seine Umwelt, als Vermittler zwischen Reiz und Reaktion eine zentrale Rolle spielt.16 Für Watson ist jegliche Form von Bewusstsein aber nicht mehr als eine mentale Repräsentation des Stimulus & Response-Schemas und daher in ›a purely objective experimental branch of natural science‹ absolut vernachlässigenswert. Was einzig zählt, sind demzufolge 1. die Beschreibung der Umwelt und des zugeführten Stimulus als Parameter und 2. die Beobachtung des Verhaltens. Derart kann der ursprüngliche Beobachtungsgegenstand der Psychologie, die Funktion namens Bewusstsein (S=f(R)), die im Funktionalismus noch zwischen Umwelt und Verhalten vermittelte, einfach gestrichen bzw. aus der Funktion ein Gleichheitszeichen werden. Das Verhältnis zwischen Stimulus und Response wird zu einer Gleichung, deren Variablen durch den Wissenschaftler exakt angegeben werden können, da sie äußerlich beobachtbar sind. Watson fordert also letztlich die Streichung der Psyche aus der Psychologie. Zurück bleibt ein Logos in vollkommener Reinheit und Transparenz (S=R). Eine Konsequenz dieser Logik ist dann natürlich, dass die Distinktion zwischen Mensch und Tier aufgegeben werden kann. Wo kein Bewusstsein ist, braucht auch nicht zwischen dem Bewusstsein eines Menschen und dem einer Ratte unterschie-

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John B. Watson: Psychology as the Behaviorist Views it. In: Psychological Review 20 (1913), S. 158–177 (zitiert nach http://psychclassics.yorku.ca/Watson/views.htm). Vgl. zur Introspektion und Wundts psychologischer Methodik Kurt Danziger: The History of Introspection Reconsidered. In: The Journal of the History of the Behavioral Sciences 16 (1980), S. 241–262. Watson: Psychology as the Behaviorist Views it (Anm. 13). So z.B. bei Watsons Lehrer James R. Angell. Vgl. hierzu Bruder: Psychologie ohne Bewußtsein (Anm. 9), S. 144–164 (= Kapitel VII Angell. Die funktionalistische Abstraktion vom Sozialen).

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den zu werden. Das ist insofern günstig, als Watson seit seiner Dissertation 1903 über Animal Education: The Psychical Development of the White Rat bis zum Zeitpunkt der Verfassung seines Manifests ausschließlich mit Ratten und eben nicht mit Menschen experimentiert hatte. Watsons Experimente zum Lernverhalten der Ratte wurden von seinen Lehrern Dewey und Angell zwar mit Wohlwollen aufgenommen, aber nur mit magna cum laude bewertet, da die versuchte Übertragung der an Ratten gewonnenen Versuchsergebnisse auf die menschliche Psychologie sie nicht zu überzeugen vermochte. Entsprechend konsterniert droht Watson in seinem Manifest: Should human psychologists fail to look with favor upon our overtures and refuse to modify their position, the behaviorists will be driven to using human beings as subjects and to employ methods of investigation which are exactly comparable to those now employed in the animal work.17

Abgesehen von der Tatsache, dass in diesem Satz noch implizit ethische Bedenken bezüglich des Experimentierens mit Menschen formuliert werden, die Watson später allzu bereitwillig über Bord werfen sollte, macht dieses Zitat deutlich, dass Watson eine eher merkwürdige Auffassung des wissenschaftlichen Experimentierens vertritt. Watson kommt es lediglich darauf an, seine Ansichten zu exemplifizieren, um die Humanpsychologen endlich zu überzeugen. Ergebnisoffenheit und die Fähigkeit zur Produktivität, die einem Experimentalsystem in erster Linie zukommen müssten, wenn es denn neues Wissen erzeugen soll, können da nur stören. Watsons Verständnis vom Experimentieren ist dasjenige eines reinen Demonstrierens, welches nur bestätigen soll, was zuvor behauptet wurde. Auffassungen modifizieren sollen nur die anderen. Dass die projektierten Experimente mit Menschen andere Ergebnisse zu Tage fördern als Watsons Experimente mit Ratten, ist nicht vorgesehen. Der Unterschied zwischen Tier- und Menschenversuch ist lediglich einer der performativen Überzeugungskraft. Vorerst ließ sich die Drohung, mit Menschen zu experimentieren, jedoch kaum in die Tat umsetzen, denn die Untersuchungsmethoden, auf die sich Watson bezieht, bestanden darin, Ratten in so genannten Problemkäfigen mit immer wieder neuen Aufgaben und Hindernissen zu konfrontieren und zu beobachten, wie lange sie zur Bewältigung solcher Aufgaben benötigten und auf welche Weise sie die Hindernisse überwanden; solche Methoden ließen sich also kaum auf Experimente mit Menschen übertragen. Erst die Konditionierungsversuche Pavlovs (bzw. Bechterews) machen es möglich, diese methodische Lücke zu schließen.18 Die Konditi-

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Watson: Psychology as the Behaviorist Views it (Anm. 13). Der Russische Neurologe und Psychiater Wladimir Michailowitsch Bechterew (1857– 1927) ›übertrug‹ die Konditionierung des Speichelreflexes, die Pavlov bei Hunden erfolgreich durchzuführen gelernt hatte, auf den Menschen (vgl. Wladimir Michailowitsch Bechterew: Objektive Psychologie. Drei Bände. Jena 1907–1912; sowie ders.: Grundzüge der Reflexologie des Menschen, Jena 1918). Bechterews Methode wird bei Watson folgendermaßen beschrieben: »[A] simple way to produce the reflex is to give a sound stimulus in conjunction with a strong electro-tactual stimulus. Bechterew's students use

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onierung macht es möglich, das Bewusstsein des Menschen zu umgehen, denn man kann, wie Watson 1916 in seinem Aufsatz The Place of the Conditioned Reflex in Psychology ausführt, mit ihr experimentieren, ohne mit den Versuchspersonen in verbalen Kontakt treten zu müssen: We give no more instruction to our human subjects than we give to our animal subject. Nor do we care what language our subject speaks or whether he speaks at al. We are thus enabled to tap certain reservoirs which have hitherto been tapped only by the introspective method.19

Endlich schien Watson gelungen, was er bereits seit nahezu fünfzehn Jahren forderte, die Schaffung einer ›Psychologie ohne Bewußtsein‹, in der die Methode der Introspektion durch eine rein objektive Methode der Verhaltensbeobachtung verdrängt ist. Zunächst blieb das Projekt jedoch weiterhin zumindest für die wissenschaftliche Öffentlichkeit reine Theorie, denn Watson spricht zwar davon, bereits einige Konditionierungsexperimente an Studenten vorgenommen zu haben, führt diese jedoch nicht aus und präsentiert auch keine Ergebnisse, so dass kaum davon auszugehen ist, dass seine ersten Versuche erfolgreich waren: »For almost a year Dr Lashley and I have been at work upon the production and control of these reflexes. We are not ready to give a detailed report of the results. Our efforts have been confined rather to the general features of the method.«20 Zu einer Praxis, die nicht nur präsentabel war, sondern nach Watsons Auffassung alles bestätigte, was er schon immer behauptet hatte, wurde die Konditionierung erst 1920 mit den Experimenten am kleinen Albert.

Die Konditionierung des kleinen Albert Das Experiment an dem neun Monate alten Albert B. führte Watson zusammen mit Rosaline Rayner – seiner ehemalige Studentin, zur Zeit des Versuchs aktuellen Geliebten und zukünftiger Ehefrau – am Johns Hopkins-Krankenhaus aus, während er an der gleichnamigen Universität Professor für Psychologie war.21 Beschrieben hat Watson sein berühmtes Experiment in mehreren Texten, gerne auch

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19

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the reflex withdrawal of the foot: the subject sits with the bare foot resting on two metal electrodes. The movements of the foot are recorded graphically upon smoked paper« (Watson: Place of the Conditioned-Reflex (Anm. 11), S. 95 f.). Nachdem eine Zeit lang der elektrische und der akustische Stimulus dem Probanden gleichzeitig zugeführt worden sind, genügt dann im besten Fall das Geräusch, um einen entsprechenden Reflex im Fuß herbeizuführen. Ebd., S. 101. Die Sprachlosigkeit der menschlichen Versuchsobjekte lässt sie von Tieren ununterscheidbar werden. Vgl. ebd: »The range of subjects upon which the motor reflex method may be used is wide. We have tried it out in all upon eleven human subjects, one dog and seven chickens.« Ebd., S. 95. Vgl. zur Biographie Watsons Kerry W. Buckley: Mechanical Man. John Broadus Watson and the Beginnings of Behaviorism. New York, London 1989.

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in nicht-wissenschaftlichen Magazinen wie dem Harper’s Magazine22 oder im Cosmopolitan,23 besonders signifikant jedoch noch im Jahr des Versuchs in dem Aufsatz Conditioned Emotional Reactions und acht Jahre später, also 1928, in seinem Buch Psychological Care of the Infant and Child. Im Erscheinungsjahr dieses Buches war Watson allerdings nicht mehr als Wissenschaftler tätig. Er war bereits im Jahr des Experimentes vom Rektor der Universität zum Rücktritt aufgefordert worden, jedoch nicht – wie zu vermuten wäre – wegen seiner Experimente an Kindern, sondern wegen seiner Affäre mit Rosaline Rayner.24 Allerdings stellte er nach seiner Entlassung seine Publikationstätigkeit keineswegs ein, sondern publizierte soviel wie nie zuvor. Auch die Tätigkeit, die er nach seiner Entlassung ausübte, unterschied sich von seinen universitären Aktivitäten nicht allzu sehr, nämlich lediglich dadurch, dass er seine Propagandatätigkeit nicht mehr ausschließlich in eigener Sache betrieb. 1924 wurde er zum Vizepräsidenten der Thompson-Company, einer Werbeagentur. Was aber war neben der propagandistischen Ausschlachtung das konkrete Ziel des Experiments? 1920 formuliert Watson in Conditioned Emotional Reactions, seiner ersten Beschreibung des Experiments, vier Fragen, auf die der Versuch Antwort geben sollte: I. Can we condition fear of an animal, e.g., a white rat, by visually presenting it and simultaneously striking a steel bar? II. If such a conditioned emotional response can be established, will there be a transfer to other animals or other objects? III. What is the effect of time upon such conditioned emotional responses? IV. If after a reasonable period such emotional responses have not died out, what laboratory methods can be devised for their removal?25

Als guter Werbeagent wusste Watson natürlich, dass alleine der Einsatz der Druckerpresse zur Popularisierung seines Behaviorismus ungenügend sein würde. Daher filmte er die verschiedenen Stufen seines Konditionierungsexperimentes und produzierte den ersten Film in der Geschichte der Psychologie, so dass er seinen diversen Schilderungen26 des Experiments spektakuläre Abbildungen bei-

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John B. Watson: The Heart or the Intellect. In: Harper’s Magazine, February 1928, S. 345–352. John B. Watson: What about your Child? In: Cosmopolitan, October 1928, S. 76 f., 108, 110, 112. Für die Universität bedrohlich und skandalträchtig war v. a. die Tatsache, dass sowohl Watsons damalige Frau Mary Ickes, deren Bruder später Innenminister Roosevelts werden sollte, als auch Rosaline Rayner aus politisch sehr einflussreichen Familien stammten. John B. Watson, Rosaline Rayner: Conditioned Emotional Reactions. In: Journal of Experimental Psychology 3/1 (1920), S. 1–14, hier S. 3. Die Schilderung des Experiments am kleinen Albert lautet in Watsons Psychological Care of Infant and Child folgendermaßen: »Fear of all other objects is home-made. Now to prove it. Again I put in front of you the nine-months-old infant. I have my assistant take his old playmate, the rabbit, out of its pasteboard box and hand it to him. He starts to reach for it. But just as his hands touch it I bang the steel bar behind his head. He whim-

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geben konnte. In dem Buch Psychological Care of the Infant and Child sind es unter anderen die folgenden: Am Rande sei hier nur erwähnt, dass die Antworten auf die scheinbar so offen gestellten Fragen drei Jahre vor dem Experiment in Watsons Aufsatz Emotional Reactions and Psychological Experimentation bereits vollständig ausformuliert vorlagen,27 dass Watson zwar immer wieder auf Experimente mit anderen Kindern hinweist, ohne diese genau zu dokumentieren, das Experiment mit Albert tatsächlich aber das einzige gewesen ist, welches im großen und ganzen die gewünschten Ergebnisse hervorbrachte, und dass sich die Angst keineswegs, wie Watson behauptet, auf alles Fellartige ausdehnte,28 sondern Albert auf verschiedene Objekte mit Fell oder Haaren unterschiedlich und teilweise durchaus positiv reagierte.29

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pers and cries and shows fear. […] No longer do I have to rap the steel bar behind his head to bring out fear. He makes the same reaction to it that he makes to the sound of the steel bar. He begins to cry and turn away the moment he sees it. I have started the process of fear building. And this fear of the rabbit persists. If you show the rabbit to him one month later, you get the same reaction. There is good evidence to show that such early built in fears last throughout the lifetime of the individual. […] We call them conditioned fears, and we mean by that › home-made fears.‹ […] But this fear of the rabbit is not the only building-stone we have laid in the child's life of fear. After this one experience, and with no further contact with animals, all furry animals, such as the dog, the cat, the rat, the guinea-pig, may one and all call out fear« (John B. Watson (with the Assistance of Rosalie Watson): Psychological Care of Infant and Child. London 1928, S. 50 f.). John B. Watson, J.J.B. Morgan: Emotional reactions and psychological experimentation. In: American Journal of Psychology 28 (1917), S. 163–174. Liest man diesen Aufsatz, könnte man tatsächlich meinen, die Experimente mit Albert dienten lediglich der Bestätigung der dort vorgebrachten Thesen. Die Hauptthesen des Aufsatzes lauten erstens, dass Angst, Wut und Liebe die drei grundlegenden Emotionen des Menschen sind, und zweitens, dass die Gegenstände, auf die sich diese Emotionen beziehen, durch die Technik der Konditionierung nicht nur beeinflusst, sondern sogar vollständig bestimmt werden können. Als Ziel ihrer Studien geben Watson und Morgan die Entwicklung eines experimentalen Verfahrens an, welches es erlaubt, »the human emotions under experimental control« (ebd., S. 174) zu bringen. Vgl. besonders den Aufsatz John B. Watson, Rosaline R. Watson: Studies in Infant Psychology. In: Scientific Monthly 13 (1921), S. 493–515. Vgl. zu weiteren ›Verschiebungen‹ Ben Harris: Whatever Happened to Little Albert? unter: http://htpprints.yorku.ca/archive/00000198/01/BHARRIS.HTM vom 28.03.2006. Harris beschreibt über die kosmetischen Eingriffe, die Watson selbst in seinen verschiedenen Beschreibungen vornahm, hinaus insbesondere diejenigen Veränderungen, welche die Autoren einschlägiger Einführungen in die Psychologie in ihren Darstellungen des Experiments vorgenommen haben.

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Abb. 1–4: Die Konditionierung des Infant Albert

Ins Zentrum möchte ich im Folgenden die Transformation des Behaviorismus von einer psychologischen Theorie individuellen Verhaltens zu einer Technologie sozialer Kontrolle stellen. Letztlich ist diese Transformation allerdings nur eine der Oberfläche. Zwar ist bei Watson von Gesellschaft in seinen Texten bis zu seinem universitären Ausschluss kaum die Rede, folgt man aber den Grundannahmen des Behaviorismus, scheint eine Ausweitung des Fokus von dem Individuum auf die Gesellschaft nur konsequent, denn erstens wurde ja schon in Watsons erstem Manifest als Ziel des Behaviorismus »the prediction and control of behavior« ausgegeben, zweitens impliziert die Abstraktion vom Bewusstsein im S/R-Schema, dass es tatsächlich nur das eine Verhalten gibt, die behavioristische Programmierung

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folglich auf jedes Individuum in gleichem Maße zugreifen kann, da es zwischen verschiedenen Individuen ja keinerlei Unterschied gibt und schließlich bedeutet Gesellschaft drittens für den Behavioristen nicht mehr als eine soziale Umwelt, welche die Umwelt, die der Problemkäfig für die Ratten darstellt, lediglich an Komplexität übertrifft, aber letztlich gegenüber einer solchen experimentalen Umgebung keinerlei Mehrwert besitzt. Die einzige Schwierigkeit, die sich dem Projekt einer Konditionierung der Gesellschaft in dieser Logik entgegenstellt, ist, dass der Behaviorismus weder die Gesellschaft als ganze noch einzelne Gruppen mit der Konditionierung adressieren kann, sondern lediglich auf das einzelne Individuum, das sich zusätzlich auch noch in einem möglichst zarten – d. h. von anderen Faktoren als der behavioristischen Konditionierung unbeeinflussten – Alter befinden sollte, zugreifen kann. Was bleibt nun dem Behavioristen übrig, für den eben dieser Zugriff mit dem Verlust des Zutritts zum universitären Labor und den Versuchsobjekten im Kinderkrankenhaus nicht mehr gewährleistet ist? Er kann nur hoffen, durch eine umfassende Publikations- und Propagandatätigkeit die Gesellschaft als Umwelt der Individuen so mit Reizen zu überfluten, dass z.B. Eltern durch die so veränderte Umwelt dazu konditioniert werden, ihre Kinder zu konditionieren. Entsprechend klingt im Jahr 1924 Watsons erste umfassende Behandlung des Behaviorismus in Buchform mit den folgenden Sätzen aus: I am trying to dangle a stimulus right in front of you, a verbal stimulus which, if acted upon, will gradually change this universe. For the universe will change if you bring up your children, not in the freedom of the libertine, but in behavioristic freedom – a freedom which we cannot even picture in words, so litte do we know of it. Will not these children in turn, with their better ways of living and thinking, replace us as society and in turn bring up their children in a still more scientific way, until the world finally becomes a place fit for human habitation?30

Watsons Forderung der Behaviorisierung oder – euphemistischer – der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft über den Umweg einer Verwissenschaftlichung der Erziehung fällt in den 20er Jahren bereits auf sehr fruchtbaren Boden. Sei es im Taylorismus, sei es durch eine neue gegründete Wissenschaft wie die Euthenik, die sich die Gestaltung und Kontrolle sozialer Gruppen und insbesondere ihrer Produktivität durch die ›wissenschaftliche‹ Manipulation ihrer Umwelt zum Ziel gesetzt hatte,31 oder sei es durch den Pragmatismus in der Gestalt Deweys und seiner Forderung nach einer Experimentalisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche und seinem Konzept der »progressive education«, die den Lehrer nicht mehr als Pädagogen, sondern als Psychologen begreift, dessen Aufgabe es sei, »to transform a living personality into an objective mechanism«,32 so dass »our schools […] on a

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32

Watson: Behaviorism (Anm. 2), S. 248. Vgl. z.B. Ellen H. Richards: Euthenics. The Science of Controllable Environment. A Plea for Better Conditions As a First Step Toward Higher Human Efficiency (Public Health in America). Boston 1910. John Dewey: Psychology and Social Practice. In: Psychological Review 7 (1900), S. 105–124, hier S. 112.

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Abb. 5: Werbung für Psychological Care of Infant and Child

psychological basis as great factories«33 geführt werden können: seit der Jahrhundertwende wurde von verschiedenen Seiten immer wieder eine Reform der Gesellschaft gefordert, die sich den Objektivitätsansprüchen naturwissenschaftlichen Denkens zu verpflichten hätte. Als Erfüllung dieser Tradition sieht sich Watsons Behaviorismus, wenn er mit Psychological Care of the Infant and Child seine Erziehungstheorie und dem Experiment am kleinen Albert den naturwissenschaftlichen Beweis dieser Pädagogik vorlegt. Allein auf den Reiz eines Buches mag der Werbeagent jedoch nicht vertrauen und schaltet daher dem Reiz einen weiteren Reiz in Form folgender Werbeanzeige vor:

Die Geschichte vom kleinen Albert Die Beschreibung des ›Angst-Experiments‹, das Watson am kleinen Albert vorgenommen hat, nimmt mit beinahe 40 Seiten nicht nur einen Großteil des 160 Seiten umfassenden Psychological Care of the Infant and Child (1928) ein, Albert ist vielmehr sogar das einzige Kind, welches erwähnt wird. Watsons Erfahrungen im Krankenhaus und damit die vielen anderen Kindern, die seiner wissenschaftlichen Fürsorge ausgeliefert waren, werden im Text zwar mehrfach angeführt und sollen

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Ebd., S. 118.

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die Allgemeingültigkeit der vertretenen Thesen belegen, konkret benannt bzw. beschrieben werden allerdings weder sie selbst noch die Experimente, die an ihnen durchgeführt worden sind. Einzig der kleine Albert bleibt übrig und so wird er zum von Watson selbst geschaffenen Fall, dessen Exemplarizität jedes weitere Argument überflüssig zu machen scheint. Die Beschreibung des Experiments und die Schilderung von Watsons Entdeckungen haben gegenüber der ersten Veröffentlichung in Conditioned Emotional Reactions (1920) allerdings einige signifikante Veränderungen erfahren. »America’s greatest child psychologist has set these discoveries down in readable, practical form.«34 Das Verlaufsprotokoll hat sich in eine Erzählung, genauer in eine IchErzählung verwandelt. Berichtet wird nun nicht mehr aus der Perspektive des Babys, sondern aus der Sicht des Experimentators und damit ist die Forderung, eine Psychologie zu betreiben, die die Phänomene ohne jeglichen Bezug auf Subjektivität beschreibt, nicht mehr nur inhaltlich formuliert, sondern auch auf der Seite der Form umgesetzt. Obwohl diese Erzählung deutlich länger ist als der ursprüngliche Bericht, sind doch einige, nicht ganz unwichtige Informationen verschwunden. So ist z.B. keine Rede mehr davon, dass Albert »one of the best developed youngsters ever brought to the hospital« war und sich vor allem durch besonders stoische und unemotionales Verhalten auszeichnete.35 Albert ist nun einfach ein ganz normales Kind. Weiterhin nicht mehr erwähnt wird die Tatsache,

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Abb. 6: Dr. Watson mit Maske

34 35

So heißt es in der oben abgebildeten Werbung. Watson, Rayner: Conditioned Emotional Reactions (Anm. 25), S. 1. Vgl. ebd., S. 1 f.: »He was on the whole stolid and unemotional. His stability was one of the principal reasons for using him as a subject in this test. We felt that we could do him relatively little harm by carrying out such experiments as those outlined below.«

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dass Albert nicht nur mit einem Kaninchen, sondern ebenso mit »a white rat, a rabbit, a dog, a monkey, with masks with and without hair, cotton wool, burning newspapers, etc.«36 konfrontiert wurde. Hinzugekommen ist dafür merkwürdigerweise eine Boa constrictor, der gegenüber Albert keinerlei Angst zeigte (und die natürlich als Beweis dafür dienen soll, dass tatsächlich jegliche Angst konditioniert und nicht angeboren ist). Dass Watson seinen persönlichen Auftritt mit Maske lieber aussparen wollte, mag man angesichts des folgenden Bildes noch verstehen: Weniger verständlich ist allerdings, dass all die eben genannten pelzigen Objekte nicht nur nicht erwähnt werden, sondern Watson sogar bestreitet, Albert je mit ihnen konfrontiert zu haben, so dass der Eindruck entsteht und entstehen soll, die eine konditionierte Angst übertrage sich auf alle ähnlichen Objekte: I have started the process of fear building. And this fear of the rabbit persists. If you show the rabbit to him one month later, you get the same reaction. There is good evidence to show that such early built in fears last throughout the lifetime of the individual. […] But this fear of the rabbit is not the only building-stone we have laid in the child’s life of fear. After this one experience, and with no further contact with animals, all furry animals, such as the dog, the cat, the rat, the guinea-pig, may one and all call out fear.37

Was Watson weiterhin in seinem Buch zu berichten vergisst, ist, dass Albert von seiner Mutter aus dem Krankenhaus genommen wurde, bevor eine Dekonditionierung durchgeführt werden konnte. Im Bericht von 1920 dagegen heißt es: »Unfortunately Albert was taken from the hospital […]. Hence the opportunity of building up an experimental technique by means of which we could remove the conditioned emotional responses was denied us.«38 Leider ist auch das nicht die ganze Wahrheit, denn das ›unfortunately‹ in Watsons Statement ist ebenfalls gelogen. Nach Watsons eigenen Aussagen in demselben Text war er bereits einen Monat vorher darüber informiert, dass Albert nach Hause geholt werden würde.39 Watson hätte also wenigstens einen Monat Zeit gehabt, eine Dekonditionierungstechnik wenigstens zu erproben, schätzte das Risiko, dass Albert B. aufgrund seiner Exprimente ein Leben in Angst führen könnte, jedoch offensichtlich so gering ein, dass er es vorzog, statt einer Dekonditionierung weitere Testreihen durchzuführen.40

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Ebd. S. 2. Watson: Psychological Care (Anm. 26), S. 51. Watson, Rayner: Conditioned Emotional Reactions (Anm. 25), S. 12. »It was desired to make the time test longer. In view of the imminence of Albert's departure from the hospital we could not make the interval longer than one month.« Ebd., S. 10. Allerdings hatte Watson – wenn er es schon nicht für nötig hielt, sich mit der Frage, ob eine Dekonditionierung überhaupt möglich ist, vor der Konditionierung auseinanderzusetzen – wenigstens einige interessante Vorschläge zu möglichen Dekonditionierungstechniken. Interessanterweise entspricht einer dieser Vorschläge exakt der Methode, mittels der Pynchons Tyrone Slothrop in Gravity's Rainbow konditioniert wurde. Der zweite Vorschlag lautet nämlich: »By trying to ›recondition‹ by showing objects calling out fear responses (visual) and simultaneously stimulating the erogenous zones (tactual). We should try first the lips, then the nipples and as a final resort the sex organs.« Ebd., S. 12.

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Zum Verhältnis von Normalisierung und Disziplinierung im Behaviorismus Dass es der behavioristischen Kundenwerbung zugute kommt, wenn man solche Details ausspart, versteht sich. Wozu aber werden all diese Glättungen, Streichungen und Überzeugungsstrategien außerdem eingesetzt? Was ist das Ziel behavioristischer Erziehung? Das Ziel behavioristischer Erziehung ist die Produktion normaler Kinder. Was ist ein normales Kind? Zwar führt Watson ausgedehnte Testreihen an, die er angeblich im Krankenhaus durchgeführt habe, »[t]o determine what a normal baby should do«.41 Viel mehr aber als die Tatsache, dass Kinder ohne jegliche Instinkte auf die Welt kommen, also alle Fähigkeiten und Verhaltensmuster durch die Eltern und die Umwelt der Kinder gebildet werden, lässt sich als Ergebnis dieser Tests nicht feststellen. Diese Bestimmung des Kindes als tabula rasa hat zur Folge, – und das ›should‹ in dem Zitat deutet bereits darauf hin – dass die normalisierende Erziehung, die Watson fordert, auf Normen angewiesen ist, die von außen gesetzt werden müssen und eben nicht, wie es für die Normalisierung im Sinne Foucaults42 bzw. den flexiblen Normalismus im Sinne Links43 charakteristisch wäre, auf einen Normbereich rekurrieren kann, der durch die Beobachtung und Verdatung der zu normalisierenden Subjekte, also nachträglich und gleichsam von innen, gewonnen wird. Letztlich stellt sich die behavioristische Erziehung, so progressiv sie sich auch gebärden mag, also als Disziplinierung im Gewand der Normalisierung dar.44

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Watson: Psychological Care (Anm. 26), S. 21. Vgl. zur Normalisierung als eines der »Sicherheitsdispositive«, als wesentliche Regulierungskraft moderner Gesellschaften Michel Foucault: Geschichte der Gouvernmentalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Frankfurt/M. 2004, insbesondere die 3. Vorlesung, z. B. S. 98: Bei der Normalisierung »haben wir […] eine Ortung des Normalen und des Anormalen, eine Ortung der verschiedenen Normalistäskurven, und der Vorgang der Normalisierung besteht darin, diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang zu setzen und auf diese Weise zu bewirken, daß die ungünstigsten auf die günstigsten zurückgeführt werden. […] Die Norm ist ein Spiel im Inneren der Differential-Normalitäten. Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab, oder die Norm setzt sich ausgehend von dieser Untersuchung der Normalitäten fest und spielt ihre operative Rolle.« Vgl. zur Konzeption des flexiblen Normalismus Jürgen Link: Versuch über den Normalismus Wie Normalität produziert wird. Opladen, Wiesbaden 1999. Kurz zusammengefasst findet sich der Unterschied der verschiedenen (historisch aufeinander folgenden) Formen des Normalismus ebd., S. 92: »Der Protonormalismus legt seine Normen ex ante fest und ist bereit, sie den Individuen aufzuzwingen [...], der flexible Normalismus errechnet die Normen ex post aus statistischer Erhebung und überlässt es den Individuen, ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über Statistik selbst zu adjustieren.« Im Grunde ist Watsons angeblich so moderner, experimentalwissenschaftlicher Behaviorismus auf dem Niveau, auf dem sich bereits gewisse Institutionen der Disziplinarmacht des späten 18. Jahrhunderts befanden, denn auch für diese ist eine Mischung von Disziplinierung und Normalisierung kennzeichnend. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und

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Die Norm und das Normale überlagern sich insofern, als zwar die Tatsache, dass eine experimentelle Beobachtung stattgefunden hat, als Grundlage für die Formulierung des Erziehungszieles angeführt wird, über diese Tatsache hinaus jedoch keine Ergebnisse genannt werden können, die dieses Erziehungsziel dann näher bestimmen könnten. Dass das gewünschte pädagogische Resultat, das normale Kind als Norm willkürlich gesetzt wird, verbirgt sich unter dem Schleier ergebnisloser Versuchreihen. Dieser Logik entsprechend werden die Normen, denen das behavioristische Subjekt zu genügen hat, auch nicht explizit genannt. Zumindest sind die Aussagen Watsons zu dem gewünschten Endprodukt seiner Erziehungsmethoden eher spärlich. Fest steht zunächst aber auf jeden Fall: »And spoiled most children are. Rarely does one see a normal child, […] a child […] that is constantly happy.«45 Und was macht Kinder glücklich? Nur ein nützliches, ein produktives Kind ist ein glückliches Kind: »If you expected a dog to grow up and be useful as a watch-dog, a bird-dog, a foxhound, useful for anything except a lapdog, you wouldn’t dare treat it the way you treat your child.«46 Angriffsfläche behavioristischer Erziehung ist das Kind aber nicht nur hinsichtlich seiner späteren Verwendbarkeit und Produktivität im Arbeitsmarkt, sondern vor allem hinsichtlich seiner biologischen Produktivität. Entsprechend ist auch das letzte Kapitel, der Höhepunkt der Watsonschen Erziehungslehre dem Thema What shall I tell my Child about Sex? gewidmet. Doch bereits in den Kapiteln zuvor, die sich mit allerlei praktischen Fragen rund um die Kindererziehung beschäftigen, wird schnell deutlich, wer das biopolitische Feindbild ist: »Great care must be taken in washing the sex organs – although they must be thoroughly and gently cleaned – any continued handling of them may start masturbation on the child’s part.«47 Auf den Onanisten, also einen der großen Vorgänger der Großfigur des Pathologischen, des Anormalen,48 kommt der Text immer wieder in den unter-

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Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt / M. 1977, S. 236. Dort schreibt Foucault mit Bezug auf die »Kunst der Bestrafung«: »Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ›Natur‹ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ›wertenden‹ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber den Anormalen gezogen […]. Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.« Watson: Psychological Care (Anm. 26), S. 17 f. Ebd., S. 74. Ebd., S. 99. Vgl. zur Pathologisierung der Masturbation Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Frankfurt / M. 2003, insbesondere die Vorlesung vom 5. März 1975. Foucaults Vorlesungen versuchen zu zeigen, »daß der Anormale des 19. Jahrhunderts der Nachkomme dieser drei Figuren des Monsters, des Unverbesserlichen und des Masturbators ist« (ebd. S. 82). Dem Masturbator kommt in dieser Genealo-

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schiedlichsten Zusammenhängen zu sprechen. So werden klassische Topoi aufgerufen wie z. B. der dringende Hinweis an die Eltern, darauf zu achten, dass sich die Hände des Kindes vor dem Einschlafen über der Bettdecke befinden. Es wird nachgewiesen, dass Daumenlutschen »closely akin to masturbation«49 sei. Dem Kind soll immer wieder erklärt werden, dass Masturbation nicht nur nicht notwendig sei, sondern »that it is a kiddish trick […that] it makes you unfriendly; makes you withdraw from other people’s society «.50 Dass die Masturbation eine so große Gefahr darstellt, dass ihrer Thematisierung in Watsons Buch derart viel Raum zugestanden wird, liegt dabei durchaus in der Logik des Behaviorismus, denn nicht nur die Angst, auch die Liebe ist nichts anderes als Produkt von Konditionierung: »The touch of the skin takes the place of the steel bar, the sight of the mother’s face takes the place of the rabbit in the experiments with fear.«51 Folgt man diesem Gedankengang, ist Masturbation nichts anderes als die Konditionierung zur Liebe des eigenen Geschlechts. Und mit Liebe zum eigenen Geschlecht ist natürlich, wenn auch keineswegs logisch, nicht eine Form narzisstischer Persönlichkeitsstörung angesprochen, sondern Homosexualität: »If it is persisted in too long and practised too often it may make heterosexual adjustment difficult or impossible. This is as true for young women as for young men.«52 Als letztgültigen Beweis, dass Homosexualität nicht angeboren, sondern anerzogen ist, führt Watson – und hiermit darf er endlich wieder zu seinen Ursprüngen als Wissenschaftler zurückkehren – Experimente mit Ratten an. Wachsen Ratten nämlich normal, d.h. gemischtgeschlechtlich, auf, überwinden sie jegliches Hindernis, das der Experimentator ihnen in den Weg setzt, und ignorieren jegliche Bestrafung, die der Experimentator ihnen verabreicht, um zum anderen Geschlecht zu gelangen. Wenig überraschend fährt der Text fort: »[I]f the males are brought up only with other males they will not take any punishment to get at the female. In other words, the female is no stimulus to a male so brought up.«53 In noch anderen Worten: Monoedukation ist gefährlich. Fasst man die Erziehungsziele des Behaviorismus zusammen, ergibt sich ein wenig spektakuläres Bild: Das Kind soll, wie es die Werbung und Watsons Schlusswort verheißen, ein »problem solving child« sein. Die Probleme, die das Kind zu lösen hat, sind aber natürlich nicht die eigenen, sondern diejenigen der Gesellschaft. Ein normales Kind muss sowohl zur Produktion wie zur Reproduktion taugen. Spektakulär am behavioristischen Erziehungsprojekt ist einzig die Dar-

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gie des Anormalen insofern eine besondere Rolle zu, als er »gegen Ende des 19. Jahrhunderts die anderen Figuren überlagern und schließlich alle wesentlichen Probleme, die um die Anomalie kreisen, in sich versammeln« wird (ebd., S. 85). Zieht man diesen Hintergrund in Betracht, ist die zentrale Rolle, die das Thema der Masturbation in Watsons normalisierender Erziehungslehre spielt, also kaum überraschend. Ebd., S. 113. Ebd., S. 146. Ebd., S. 68. Ebd., S. 146 f. (kursiv im Original). Ebd., S. 149 (kursiv im Original).

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stellungsform. In dem Schauspiel, welches anhand des Experiments54 am kleinen Albert inszeniert wird, fallen Mittel und Zweck zusammen.55 Es dient der Veranschaulichung und Beglaubigung behavioristischer Theorie genauso wie der Produktion des normalisierten/disziplinierten Subjekts. Das experimentelle Spektakel, das vor Augen stellen soll, dass der Mensch nicht mehr ist als eine Reflexmaschine, bringt den Menschen als diese Reflexmaschine allererst hervor und wird sich derart zur eigenen Voraussetzung, in der Darstellung und Dargestelltes zusammenfallen.

Das Subjekt des behavioristischen Experiments Das Versuchsobjekt ›Mensch‹ und das normalisierte Kind sind aber nur die eine Seite dessen, was das Experiment bzw. der Text, der das Experiment vorstellt, produziert. Auf der anderen Seite des Experiments produziert sich der Experimentator, der Wissenschaftler und er produziert sich im Kampf gegen die Institutionen eben der Gesellschaft, der er ein nützliches Subjekt zuzuführen verspricht: »Because of the frequency with which we use them, ›don’t‹ and words like it soon become the ruling forces in the life of every child. The power of the State, Church, and Society is built upon this simple principle. They all teach us to live a life of fear.«56 Dass kritisiert wird, dass Staat, Kirche, Gesellschaft und Eltern mit ihren ›don’ts‹ die Kinder zu einem Leben in Angst konditionieren, erscheint aus dem Munde desjenigen, dessen wissenschaftliches Meisterstück ein Experiment zur Konditionierung von Angst ist, merkwürdig. Es ist allerdings nur dann merkwürdig, wenn man davon ausgeht, dass sich der Vorwurf auf die Tätigkeit des Konditionierens selbst und nicht auf den Agenten dieser Tätigkeit richtet. Das ist aber keineswegs der Fall, ganz im Gegenteil, denn »the behaviourist advocates the early building in

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Watsons ›Experimente‹ genügen natürlich in keiner Weise den Anforderungen, die an moderne Experimente zu stellen sind, nämlich als »Maschinerie zur Herstellung von Zukunft« zur »differentiellen Reproduktion« fähig zu sein (vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsystem und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001, S. 84 f.). Sie dienen nicht der Erkenntnis, sondern lediglich der Demonstration des bereits Behaupteten. Für Überraschungen und Ergebnisoffenheit ist in Watsons Experimentalanordnung kein Raum. Sie ist daher kaum als wissenschaftlich zu bezeichnen, denn »[s]obald man genau weiß, was dabei herauskommt, ist sie kein Forschungssystem mehr« (ebd.). Eher noch gleichen Watsons Versuche und ihre Inszenierung den für das 18. Jahrhundert typischen spektakulären Demonstrationsexperimenten, die Barbara Maria Stafford in Artful Science. Enlightenment Entertainment and the Eclipse of Visual Education (London 1999) beschreibt. So auch eine der Definitionen des Spektakels bei Debord. Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S. 17: »Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht aus der bloßen Tatsache hervor, daß seine Mittel zugleich sein Zweck sind. Es ist die Sonne, die in dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es bedeckt die ganze Oberfläche der Welt und badet endlos in eigenen Ruhm.« Watson: Psychological Care (Anm. 26), S.55.

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of appropriate common-sense negative reactions […] but as an objective experimental procedure – never as punishment.«57 Das Problem ist also nicht das Konditionieren, sondern lediglich die Frage, wer der Herr der Konditionierung ist. Und die Antwort kann nur lauten, dass einzig der Wissenschaftler das Recht und die Macht besitzen darf, den Kindern Angst zu machen, dass nur die Wissenschaft der Souverän der Normalisierungstechnologie als ›objective experimental procedure‹ sein darf, da das Konditionieren ansonsten ja nichts anderes wäre, als das, was es eben ist, nämlich eine Bestrafung.58 Watsons Text verfolgt also zwei Ziele, die sich beständig überlappen, sich gegenseitig stützen und begründen, einander Voraussetzung sind, zwei Ziele, von denen eines explizit und konstativ benannt wird und das andere zwar stets implizit vorausgesetzt, dabei aber in der Performanz des Textes beständig erst erzeugt werden zu müssen scheint. Es geht gleichzeitig um die Produktion normaler, nützlicher und produktiver Kinder und um die Produktion eines souveränen, naturwissenschaftlichen Subjekts. Anders formuliert geht es um die Festschreibung dessen, was Foucault in der Ordnung der Dinge als Gegenstand der Humanwissenschaften definiert hat: um die Festschreibung des Menschen als empirisch-transzendentale Dublette, des Menschen als »schwieriges Objekt und souveränes Subjekt«,59 wobei das ›und‹ insofern trügerisch ist, als der Mensch niemals beides gleichzeitig sein kann, sondern vielmehr genau in dem Raum erscheint, der sich zwischen seiner Beschreibung als Objekt und seiner Setzung als Subjekt, zwischen dem Menschen als Objekt des Wissens und dem Menschen als Subjekt der Wissenschaft aufspannt. Eben dieses Verhältnis bildet sich in extremem Maße in der behavioristischen Experimental- und Theorieanordnung ab: die schwierigen Objekte, die zu normalisierenden Kinder auf der einen und das souveräne Subjekt, der normalisierende Behaviorist auf der anderen Seite. Der Raum aber, der sich zwischen dem schwierigen Objekt und souveränen Subjekt erstreckt, ist nicht unendlich dehnbar und das Band, das beide verbindet, ist zum Zeitpunkt der Formulierung des Behaviorismus durch die besonders seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weiter fortgeschrittenen Vermessung und Formalisierung des Menschen und seiner Vermögen bereits zum Zerreißen gespannt. Die phantasmatische Verabschiedung jeglicher Subjektivität aus der Psychologie, die Reduktion menschlichen Verhaltens auf biologistische Funktionen wie auch die Radikalisierung des wissenschaft-

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Ebd, S. 59 (kursiv im Original). In dem Experiment als Bestrafung bzw. der Bestrafung als Experiment fallen zwei Machttypen, nämlich die (makrophysich strafende) Souveränitätsmacht und die (mikrophysisch überwachende) Disziplinarmacht zusammen. Dass eine solche Kombination auch nach dem Übergang von der Souveränitäts- zur Disziplinargesellschaft nicht ungewöhnlich, sondern für bestimmte moderne Institutionen wie z.B. die Psychiatrie, welche in der Behandlung ihrer Patienten Disziplinardispositiv und Familienmodell zusammenbringt, typisch sind, zeigt Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973–1974. Frankfurt / M. 2005 (besonders die Vorlesungen 5 und 6). Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt / M. 1974, S. 375.

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lichen Blicks und des Machtgefälles zwischen Experimentator und Versuchsperson, die der Behaviorismus vornimmt, extrapolieren schließlich die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt der Humanwissenschaften derart, dass beide nicht mehr vermittelbar sind. Der Mensch verschwindet, aber nicht im Meer wie Foucaults berühmtes »Gesicht im Sand«,60 sondern in den Unterwerfungsverhältnissen einer »Psychologie, die Mittel und Wege gefunden hat, in den Diensten fortzuleben, die sie der Technokratie erweist«.61

Abb. 7: Das souveräne Subjekt der Wissenschaft und sein Erbe (links: Watsons Sohn Jim, rechts: Watsons Enkel Scott)

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Ebd., S. 462. Jacques Lacan: Die Wissenschaft und die Wahrheit. In: ders.: Schriften II. Weinheim, Berlin 1986, S. 231–257, hier: S. 237.

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Die Topik des Unvorstellbaren Anthropotechnik und Biopolitik in medizinischer Science Fiction

Die bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Literatur und Wissenschaft vorherrschende Annahme, literarische Fiktionen könnten das positive Wissen der Naturwissenschaften lediglich nachträglich aufgreifen, illustrieren oder allenfalls satirisch kommentieren – diese Annahme basiert weniger auf einem zwangsläufig gegebenen qualitativen Vorsprung der Wissenschaft vor der Literatur, als auf dem strukturellen Sachverhalt, dass fiktionale Texte sich zumeist auf eine nicht nur narrativ generierte, sondern zumeist durch sozialgeschichtliche Referenzen verbürgte Vorzeitigkeit beziehen. In dieser narrativen Vergangenheit sind bestimmte wissenschaftliche Einsichten immer schon gegeben und erzeugen, so lange die entsprechende Literatur einem – hier nicht epochenspezifisch verstandenen – Realismus verpflichtet bleibt, eine unhintergehbare Matrix der Beschreibung der entsprechenden literarischen Welt. Im Sonderfall medizinischen Wissens betrifft das, wie die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, Körperkonzepte, Krankheitsbilder, Therapieformen sowie die vielfältigen Spielarten der sozialen Interaktion zwischen Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten zu verschiedenen Zeiten. Wenn es zutrifft, dass dieser nachträgliche, abbildende Charakter der Literatur auf der Vergangenheitsform realistischen Erzählens beruht, dann könnte man in einem Umkehrschluss die Frage nach dem Bild der Medizin in denjenigen fiktionalen Texten stellen, die das erzählte Geschehen, selbst wenn sie sich nach wie vor des narrativen Imperfekts bedienen, in die Zukunft verlegen. Und diese Frage versteht sich nicht allein als bloße Modifikation der Perspektive, sondern reagiert vielmehr auf eine spezifische Eigenheit medizinischen Wissens, die man als Zukunftsorientierung dieses Wissens bezeichnen kann: Medizinisches Wissen speist sich zwar aus dem Archiv diagnostischer Befunde und therapeutischer Erfahrungen der Vergangenheit. Anders als etwa Physik und Chemie, denen es um eine möglichst exakte Beschreibung gegebener Naturgesetze geht, wohnt der Medizin aber – solange sie sich immer auch als therapeutische Praxis und nicht als bloße Grundlagenforschung versteht – das Bestreben inne, die Kenntnis dieser Gesetze zu einer Modifikation von Befindlichkeiten einzusetzen und damit anstelle gesicherter Erkenntnis offene Ausgänge zuzulassen: bezüglich des Zustands des einzelnen Patienten, hinsichtlich dessen die Therapie bei aller Routine stets einen ungewissen, experimentellen, ergebnisoffenen Anteil beibehält; und bezüglich des Fortlebens eines Kollektivs, dessen Lebenserwartung und hereditäre Disposition seit dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt medizinischen Interesses steht. Anders gesagt: Medizin hat als praktische Wissenschaft nie nur eine beschreibende, sondern stets auch eine gestaltende Dimension. Der Weiterentwicklung medizinischen Wissens

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wohnt ein Versprechen inne, den Menschen ein sichereres und besseres Leben zu ermöglichen, und in Gestalt dieses impliziten Sprechakts kennt die Medizin einen Index, der auf den zukünftigen Menschen verweist.1 Dennoch bleibt das jeweils aktuelle Wissen der Medizin der Gegenwart seines Entstehens verbunden, und es stellt sich die Frage, wie der zukunftsgerichtete Index innerhalb der Kommunikation medizinischen Wissens überhaupt zur Darstellung kommen kann. Wie kann man über ein Wissen, das man noch nicht hat, sprechen? Es muß dies ein Sprechen sein, das zur gleichen Zeit an die Parameter gegenwärtigen Wissens anschließt (um überhaupt als Wissen kenntlich zu sein), dabei aber einen Möglichkeitsraum entwirft, in dem bisher Ungedachtes angesiedelt werden kann. Es handelt sich, mit einem Wort, um ein Sprechen, das Vertrautes mit Unvertrautem verbindet – und genau diese Doppelstrategie steht im Blick, wenn im Obertitel dieses Beitrags von einer ›Topik des Unvorstellbaren‹ die Rede ist. Wie der Untertitel des Beitrags ankündigt, wird hier vorgeschlagen, dass es das für die Beschreibung der Zukunft zuständige literarische Genre der ›Science Fiction‹ ist, das eine dieser Doppelstrategie angemessene Schreibweise zu entwickeln vermag. Dass es sich bei Science-Fiction-Texten um solche mit einer doppelten Absicht handelt, suggeriert bereits das Kompositum des Genrenamens, das die beiden ansonsten entlang der Grenzlinien der ›zwei Kulturen‹ strikt getrennten Sphären von Wissenschaft und Fiktion verbindet.2 Als ›Science Fiction‹ bezeichnet man diejenigen Texte, die in Anschluß an die Utopien des 17., die Reiseliteratur des 18. sowie die Technikphantasien des frühen 19. Jahrhunderts bei Verne, Laßwitz und Wells entstehen.3 Dieser Genealogie bleiben Science-Fiction-Romane in ihren klassischen Erzählmustern über Weltraumreisen (bei Stansilav Lem) oder Maschinenwelten (bei Isaac Asimov) verpflichtet; im Unterschied zu ihren Vorläufern stehen nun aber nicht mehr politische, kulturelle oder psychologische Aspekte im Mittelpunkt der Erzählungen, sondern die anthropologische Dimension der Relation des Menschen zu zukünftigen Technologien. Nun ist die Medizin in diesem Ensemble zukünftiger Technologien beileibe nicht die populärste. Wenn es aber zutrifft, dass ihr stets ein Versprechen auf eine bessere Zukunft des Menschen innewohnt, dann wird sie dennoch zu einem zentralen Korrelat der eben erwähnten anthropologischen Dimension des Bezugs zwischen Mensch und Technik. Die Medizin ist diejenige Technik, die sich ganz un-

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Zur Epistemologie des Zukunftsentwurfs in den Wissenschaften vom Leben vgl. François Jacob: Das Spiel der Möglichkeiten. Von der offenen Geschichte des Lebens. München 1983. Zum Vorläufer der seit der Kontroverse zwischen C.P. Snow und F.R. Leavis sogenannten Two Cultures-Debate am Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Thomas Huxley und Matthew Arnold wie zu den verschiedenen Versuchen, die Relation zwischen Wissenschaft und Literatur zu konzeptualisieren, vgl. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28 (2003), S. 181–231. Vgl. Roland Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870–1914. Rekonstruktionen und Analyse der Anfänge der Gattung. Wien 1996.

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mittelbar auf die Funktion und Gestalt des Menschen richtet, sie ist, mit einem Wort von Peter Sloterdijk, eine »Anthropotechnik«.4 Und als solche wird sie in der Science Fiction-Literatur zu einem zentralen Strukturelement bei dem Versuch, den zukünftigen, medizinisch modifizierten Menschen narrativ vorwegzunehmen. Die Rede von einer derartigen strukturellen Komplizenschaft zwischen Medizin und Science Fiction kann dabei zunächst die Identifikation medizinischer Motive in Science Fiction-Texten meinen – man denke beispielsweise an das waghalsige Operationsexperiment in Nathanael Hawthornes The Birthmark, die Vision einer vollautomatischen Telemedizin in E.M. Forsters The Machine Stops, die Ganzkörpertherapie in Clifford D. Simaks Time is the Simplest Thing oder die Vorwegnahme computergesteuerter Psychochirurgie in Michael Crichtons The Terminal Man. Science Fiction-Literatur stellt in diesen Fällen ein »Gedankenexperiment«5 dar, das neben den medizinischen Experimenten der Wissenschaft Bestand hat, insofern sie die Möglichkeiten der Medizin innerhalb eines zwar fiktiven, im Rahmen der Fiktion aber auf bestehende Forschungsdiskussionen gründenden und obendrein narrativ konsistenten Raums durchspielt. Science Fiction erzählt von den Möglichkeiten einer zukünftigen Wissenschaft, ohne aber der Beweislast oder Verbindlichkeit der Wissenschaft zu unterliegen.6 Dies ist aber weniger ein Mangel, als ein Verweis auf die Tatsache, dass auch die Gewinnung wissenschaftlichen Wissens in Gestalt von Hypothesen einerseits, Folgenabschätzung andererseits, einen immanenten Bedarf an Gedankenexperimenten und Fiktionen kennt. Es steht hier also gar nicht die Konkurrenz zwischen Fiktion und Wissenschaft zur Debatte, ebensowenig wie die Gültigkeit von Zukunftsszenarien. Zu fragen ist nach der literarischen Dimension medizinischer Wissensbildung: den rhetorischen, narrativen, formalen und stilistischen Spezifika des Schreibens über die Zukunft des Menschen zwischen Literatur und Medizin. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, dass auch einer der emphatischsten Vertreter eines solchen wissenschaftsanalogen Anspruchs literarischer Texte, Emile Zola, in Gestalt von Claude Bernards Introduction à la médecine expérimentale von 1865 unmittelbar an die medizinische Theorie seiner Zeit anschließt bzw. behauptet, diese mit literarischen Mitteln fortführen zu können: Entgegen des stets auf den individuellen Körper beschränkten medizinischen Experiments sei der roman expérimentale ein Instrument der Erkundung von sozialer Dynamiken auf der Matrix kollektiver Vererbungszusammenhänge. Dieser

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Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M. 1989, S. 45. Vgl. Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Frankfurt/M. 1979 sowie grundlegend Thomas Macho, Annette Wunschel (Hrsg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M. 2004. Vgl. Ann Cranny-Francis: The ›science‹ of science fiction. A sociocultural analysis. In: J.R. Martin, Robert Veel (Hrsg.): Reading Science. Critical and Functional Perspectives on Discourses of Science. London/New York 1988, S. 63–80.

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Anspruch ist früh methodisch hinterfragt worden.7 Als Anspruch, im Medium fiktionaler Narrationen seien medizinische Methoden vom Einzelnen auf das Kollektiv übertragbar, bleibt er aber interessant: Er löst das implizite Versprechen der Medizin, den zukünftigen Menschen gestalten zu können, in einer Weise ein, die zugleich verdeutlicht, dass diese Gestaltung des Menschen nie nur das Individuum, sondern auch das Kollektiv betrifft. Medizinisches Wissen erzeugt nicht nur Therapien einzelner Krankheiten, sondern gewinnt seine Zukunftsdimension vor allem als Wissen über Vererbungsprozesse, durch das die Medizin zu dem zentralen Steuerungsinstrument der »Biopolitik« des 20. Jahrhunderts wird.8 Die These, die ich im Folgenden belegen möchte, lautet daher, dass medizinische Science Fiction als Kommunikationsmedium9 über die Zukunft sowohl des einzelnen Menschen als auch der Menschheit als Ganzem fungiert. Unter einem Kommunikationsmedium sei dabei, mit Niklas Luhmann, ein Bezugspunkt in der Kommunikation über Medizin verstanden, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die jeweiligen Beiträge zu dieser Kommunikation akzeptiert werden. Diese Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikation als Wissen ist im Fall von Zukunftsszenarien besonders prekär, da die Empirie als Prüfstein für Gültigkeit entfällt. Dieser Ausfall muss durch immanente Plausibilisierung kompensiert werden, und Science-Fiction-Texte sind mithin gerade nicht frei, beliebige Zukunftsbilder zu entwerfen. Vielmehr sind sie nur imstande, zukünftige wissenschaftliche Innovationen nur dann als solche kenntlich zu machen, wenn sie bei deren Darstellung auf vertraute Mittel und Wissensbestände zurückgreifen. Die Zukunft des Wissens, die per se unvorstellbar ist, kann narrativ nur dann in Kontinuität zum gegenwärtigen Wissen vorgestellt werden, wenn die Schreibweise dieses Wissens diese Kontinuität abbildet. Der Name, den dieser Anspruch an Vertrautheit und Kontinuität auf dem Feld von Darstellungen und Schreibweisen hat, lautet ›Topik‹, dasjenige rhetorische System, das für die inventio neuer Sachverhalte das Figuren- und Tropenarchiv der Tradition aufruft.10 Diese Verbindung von alt und neu, von Zukunft und Vergangenheit (und nicht zuletzt: von Rhetorik und Science Fiction) soll hier daher als Topik des Unvorstell-

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Vgl. zu Zolas literarischem Experimentbegriff mit Verweis auf die reichhaltige Forschung zuletzt Michael Gamper: Normalisierung/Denormalisierung, experimentell. Literarische Bevölkerungsregulierung bei Emile Zola. In: Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 149–168. Zum Konzept der Biopolitik vgl. die Ausführungen in Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/M. 1976, S. 159–190; bzw. Ders.: In: Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975/76). Frankfurt/M. 1999, S. 276–305; sowie Martin Stingelin (Hrsg.): Biopolitik und Rassismus. Frankfurt/M. 2003. Zum Konzept symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien vgl. das zweite Kapitel in Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1996 (S. 190–412). Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M. 1976.

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baren analysiert werden.11 Die Annahmewahrscheinlichkeit von Zukunftsszenarien medizinischen Wissens wird in Science-Fiction-Texten dadurch gesichert, dass diese Texte sich vertrauter Erzählschemata bedienen und auf diese Weise die Einheit der Unterscheidung von Vergangenem und Zukünftigem, von Wirklichem und Möglichem, von Science und Fiction inszenieren. Science Fiction, die die Möglichkeit einer medizinisch modifizierten Menschheit ausgestaltet, kann dies leisten, indem sie ihre Möglichkeitsräume an Wirklichkeitspostulaten und ihre Zukunftsbilder an deren Kommunizierbarkeit misst. Diese Perspektive auf die Einheit der Unterscheidung zwischen traditionellen Darstellungsformen und zukünftigem Wissen kennt dabei in der Geschichte medizinischer Science Fiction drei Spielarten, die ich hier überblicksartig vorstellen möchte: Erstens als Unterscheidung zwischen dem natürlichen Menschen und dem technisch geschaffenen, der die Frage nach der Grenze des Menschlichen aufwirft. Zweitens als Unterscheidung zwischen der Individualitätssemantik des alteuropäischen ánthropos und der biopolitischen Dimension der modernen Medizin. Und drittens als Unterscheidung zwischen dem behaupteten moralischen Mehrwert der Naturverbliebenheit und dem dehumanisierenden Gespenst der Technik. Derjenige Roman, der diesen Themen der Science Fiction zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Weg ebnet, ist nicht zufällig auch derjenige, der den Einsatz der Medizin als zukünftiger ›Anthropotechnik‹ beschreibt: Die Schaffung eines künstlichen Menschen durch den jungen Arzt Viktor Frankenstein in Mary Shelleys gleichnamiger gothic novel von 1818 erzählt, wie sich die Medizin auf zweifache Weise von ihrem traditionellen Selbstverständnis emanzipiert: erstens von der Anerkennung des Alleinherrschaftsanspruchs Gottes über das Leben; zweites von einem bloß nachträglichem Verständnis der Medizin als Reaktion auf Krankheitszustände. Das Zukunftspotential, das Shelleys Science Fiction avant la lettre der Medizin zuschreibt, liegt darin, selbst zukunftsprägend, nämlich schöpferisch, zu werden. Und diese Zukunft besteht bei Shelley, und das ist entscheidend, nicht in einer beliebigen Vision medizinischer Wundertaten, sondern in der Kombination der avancierten Wissenschaft – in diesem Fall des Galvanismus’ – mit der alchemistischen Topik der Transformation von Materie.12 Die Romanerzählung entfaltet aber vor allem die Konsequenzen dieser Verknüpfung von alter und neuer Wissenschaft. Indem sie verfolgt, wie das Geschöpf

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Vgl. in diesem Sinne auch schon Hans-Edwin Friedrich: Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Ein Referat zur Forschung bis 1993. Tübingen 1995, S. 303: »SFTexte kombinieren [...] in avancierten Texten avantgardistische Themen mit traditionellen Erzählmustern.« Vgl. auch Manuela Rossini: Künstliche Reproduktion (in) der Science/Fiction: neue Technologien – alte Geschichten? In: figurationen 2 (2003), S. 65–83, hier S. 66: »die meisten von uns beziehen sich auf vertraute Geschichten und Mythen der zumeist abendländischen Kultur, mit denen wir dem (noch) Unvertrauten eine vertraute Bedeutung geben.« Vgl. die Hinweise in Timothy Morton (Hrsg.): Mary Shelley’s Fankenstein. A Sourcebook. London, New York 2002.

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des genialen Frankenstein diesen für sein Tun zur Rechenschaft zu ziehen beabsichtigt, kontrastiert sie zwei Grenzfälle des Menschlichen: in Gestalt des schöpferischen Wissenschaftlers den Über-Menschen, der die Grenzen seiner Zunft hinter sich lässt; in Gestalt des Geschöpfes den Unter-Menschen, der mit seinem bloß physiologischen Funktionieren nicht zufrieden ist. Diese Kontrastierung umkreist als Markierung zweier extremer Abweichungen das semantische Zentrum des ›normalen‹ Menschen und in Gestalt dieser doppelten Abgrenzung nach ›oben‹ und nach ›unten‹ auch das Problem seiner Grenze, seiner Abgrenzbarkeit, seiner differentia specifica: Nach oben verlässt Viktor Frankenstein das Spektrum des Normalen durch seine Genialität, die aber genrespezifisch in wahnsinnsnahe Selbstüberschätzung umschlägt.13 Frankenstein ist der erste Mad Scientist und ist darin von seinem noch humanistisch-gefassten literaturhistorischen Zeitgenossen und – mit Blick auf den Homunculus – Kollegen Faust unterschieden. Nach unten bleibt Frankensteins Geschöpf ausgegrenzt, das nicht nur ohne Namen, sondern in der Folge auch ohne das Vermögen zu lieben und entsprechende soziale Einbindung bleibt. So, wie Frankenstein der erste Mad Scientist ist, ist das Monster die erste literarische Figur, die die Dimension der Gefühle als entscheidendes Kriterium für die Menschlichkeit künstlicher Geschöpfe einführt, die vom Turing Test bis Steven Spielbergs Artificial Intelligence relevant bleibt. Entscheidend an diesem Topos ist aber seine medizinische Aussage: Die anatomische Medizin, die Frankenstein studiert, vermag nicht den ganzen Menschen zu rekonstruieren. Und dieser Mangel besteht nicht zuletzt darin, dass der Arzt Frankenstein zunächst nur einen, isolierten Menschen schafft, dessen Mangel an Menschlichkeit in eben dieser Einsamkeit besteht. Die Bedeutung von Mary Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus als Basiserzählung über den künstlichen Menschen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.14 Die Geschichte des ungeliebten Geschöpfs, das sich gegen seinen Schöpfer wendet, ist die zentrale Allegorie pessimistischer Szenarien einer technologischen Zukunft des Menschen geworden. Das gilt auch für die Entstehung des Science-Fiction-Genres im engeren Sinne am Ende des 19. Jahrhunderts. Einer der Protagonisten bei der Etablierung dieses Genres, H.G. Wells, hat auch dasjenige Buch verfasst, das das Frankenstein-Paradigma auf mehrfache Weise fortführt: The Island of Dr. Moreau von 1893 weitet die Schaffung eines künstlichen Menschen auf eine ganze Kolonie aus und kompensiert damit von vornherein den grundlegenden Mangel der Asozialität von Frankensteins Geschöpf. Auch Wells greift aber für seine Zwecke aktuelle wissenschaftliche Debatten auf, in seinem Fall die Darwinsche Evolutionstheorie auf der einen Seite, die sogenannte ›VivisektionsDebatte‹ in der Medizin des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts auf der anderen. Beide Diskurse, Evolution und Vivisektion, verweisen darauf, dass die medizini-

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Vgl. Joachim Schummer: Historical roots of the »mad scientist«. Chemists in nineteenthcentury literature. In: Ambix 53 (2006), S. 99–127. Vgl. John Turney: Frankenstein’s Footsteps. Science, Genetics, and Popular Culture. New Haven, London 1998.

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sche Semantik des Menschen nunmehr vor allem durch die Abgrenzung zum Tier konstituiert wird: Während die Evolutionstheorie den genealogischen Übergang vom Tier zum Menschen rekonstruiert,15 sind es in der Vivisektionsdebatte kritische Töne, die davor warnen, dass die sadistischen Praktiken in den physiologischen Laboren zu einer Verrohung der Ärzteschaft und der Übertragung der experimentellen Praktiken auf lebende Menschen führe.16 Den literarische Beweis für diese Bedenken ebenso wie für die Möglichkeit der Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Tier führt nun das Forschungsprojekt des Dr. Moreau: Nachdem er London wegen eines illegalen Blutaustausch-Experiments verlassen musste, siedelt er sein Labor auf eine einsame Insel um, auf der er versucht, aus verschiedenen Tieren vernünftige Wesen herzustellen. Bald schon ist das Eiland von eigentümlichen Mischwesen bevölkert, die unter Moreaus gottähnlicher Führerschaft leben. Seinem schiffbrüchigen Gast Edward Prendrick, dem Erzähler des Romans, trägt Moreau sein Forschungsprojekt entsprechend in einem Amalgam von alter Gelehrtensprache und modernem Wissenschaftsdiskurs vor: »Hi non sunt homines, sunt animalia qui nos habemus – vivisected. A humanising process«.17 Auch Wells Roman bietet damit ein zweiseitiges medizinisches Zukunftsszenario: Einerseits beschreibt er die Möglichkeit eines medizinischen Eingriffs in die Evolution als visionäres Projekt.18 Andererseits aber schließt auch hier die Darstellung der avancierten Medizin an traditionelle Paradigmen an: Formal folgt The Island of Dr. Moreau eins zu eins dem Utopie-Genre, insofern sie die Geschichte einer neuen Zivilisation auf einer isolierten Insel mit den Augen eines unbeteiligten Besuchers schildert. Und inhaltlich reproduziert Wells’ Science Fiction die archaischen Ängste des Menschen vor dem Animalischen, und zumal seiner unheimlichen Verwandtschaft mit letzterem: Obwohl das Gesetz der Insel das Gehen auf allen Vieren und das Trinken von Blut verbietet, fallen die künstlich geschaffenen Wesen immer wieder in ihren vorigen Zustand zurück und sammeln sich schließlich zu einer Revolte, der ihr Schöpfer und Herr schließlich zum Opfer fällt. Umgekehrt bemerkt Prendrick, der nach der Katastrophe in die Zivilisation zurückkehrt, dass Moreaus Experiment nicht auf physiologische Eingriffe reduziert werden kann: »I too must have undergone strange changes. […] My hair grew long, and became matted together. I am told that even now my eyes have a strange brightness and a swift alertness of movement.«19

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Vgl. zum Darwinismus als Metanarrativ des späten 19. Jahrhunderts Gilian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. London u.a. 1983. Vgl. Barbara Elkeles: Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1996. H.G. Wells: The Island of Dr. Moreau. Hg. von Robert M. Philmus. Athens, London 1993, S. 43. Vgl. Patrick Parrinder: Shadows of the Future. H. G. Wells, Science Fiction and Prophecy. Liverpool 1995. Wells, S. 82. (Anm. 18).

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Die Medizin der Zukunft konfrontiert den Menschen also mit nichts anderem als seiner animalischen Vergangenheit, die »triumphs of vivisection«,20 von denen Moreau schwärmt, werden auf ein ehernes Naturrecht zurückgeworfen. Der Topos vom Mad Scientist, den Moreau verkörpert, und das narrative Schema der Utopie, das Wells aufgreift, spiegeln in dieser Perspektive die Tatsache wider, dass das Bild einer zukünftigen Medizin nur gezeichnet werden kann, wenn es an herkömmliche Inhalten und Formen anschließt und mithin als neue die alte bleibt. Dieser Befund wäre möglicherweise nicht weiter aufsehenserregend, wenn man sich eine enge literaturhistorische Sicht der Dinge zu eigen machte und auf den zwangsläufigen Anschluss literarischer Texte an tradierte Schemata verwiese. Er gewinnt jedoch an Gewicht, wenn man die Genrebezeichnung ›Science Fiction‹ wendet und einen Blick in wissenschaftliche Texte wirft, die sich der Zukunft der Medizin widmen. Derartige Zukunftsprognosen haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Konjunktur, eine der berühmtesten ist J.B.S. Haldanes Cambridger Vortrag Daedalus, or, Science and the Future von 1923.21 Haldane zeichnet hier ein Bild der gesamten wissenschaftlichen Entwicklungen der Zukunft und verwehrt sich gegen luddistische Dystopien. Vor allem aber deutet er einen Paradigmenwechsel an, der für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist: Nachdem im 19. Jahrhundert die technischen Wissenschaften Physik und Chemie die zukunftsträchtigeren gewesen seien, seien die entscheidenden Entwicklungen der Gegenwart von der »application of biology to human life«22 zu erwarten. Die Medizin sei diejenige Wissenschaft, von der die entscheidenden sozialen, kulturellen und moralischen Veränderungen ausgehen würden, mit denen das 20. Jahrhundert konfrontiert werde. Für diesen Status der Medizin als Zukunftswissenschaft findet Haldane ein sprechendes Bild: Gegenüber der allegorischen Leit- und shelleyschen Titelfigur des technischen Fortschritts, Prometheus, führt er Daedalus ins Feld, der vor seinen Flugexperimenten auf Kreta ein Projekt entworfen hatte, das Haldane als »experimental genetics«23 bezeichnet: Jedes Jahr sollten 50 Jünglinge und Mädchen für gesteuerten und selegierten Nachwuchs sorgen. Haldane weist darauf hin, dass Daedalus trotz dieses ungeheuren Eingriffs in die Natur im Unterschied zu Prometheus nicht die Rache der Götter auf sich gezogen habe. Daedalus demonstriert damit die Emanzipation der Wissenschaft von den Göttern – in vergleichbarer Weise, wie sie oben schon für die Schaffung künstlicher Menschen behauptet werden konnte. Anstelle der Gottesstrafe ziehen Daedalus’ Nachfolger allerdings regelmäßig den Zorn ihrer Mitmenschen auf sich: Bis in Haldanes (und zumal in

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Ebd., S. 45. Vgl. die Anthologie, die auch eine deutsche Übersetzung von Haldanes Vortrag enthält, von Ludger Weß (Hrsg.): Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt. Nördlingen 1989. J.B.S. Haldane: Daedalus, or, Science and the Future [1923]. In: Krishna R. Dronamraju (Hrsg.): Haldane’s Daedalus Revisted. Oxford 1995, S. 23–50, hier S. 35. Ebd., S. 37.

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unsere) Tage gilt die Ablösung der menschlichen Reproduktion vom Zufall als Skandal. Haldane schreibt: »But if every physical and chemical invention is a blasphemy, every biological invention is a perversion.«24 Haldane bemüht sich statt dessen um den Versuch einer wertfreien Zukunftsprognose für die Medizin. Dem Augenmerk auf die Schreibweise dieser Prognose kann ihre enge Nähe zur literarischen Science Fiction nicht verborgen bleiben: Haldane bezieht sich zunächst explizit auf H.G. Wells: »The very mention of the future suggests him.«25 Besonders auffällig ist dann aber die Art und Weise, auf die Haldane das konkrete Bild einer medizinisch modifizierten menschlichen Gesellschaft zeichnet: Das Bild einer Menschheit, die ihre Nachkommen durch sorgfältige Vorauswahl weniger geeigneter Eltern, die als Ei- und Samenspender für ›ektogenetische‹ – also außerhalb einer natürlichen Gebärmutter vollzogenen – Schwangerschaften26 dienen entwickelt Haldane in fiktiver Rede, oder, wie er selbst ankündigt, »by introducing a myth«: »I reproduce some extracts from an essay on the influence of biology on history during the 20th century which will […] be read by a rather stupid undergraduate member of this university to his supervisor during the first term 150 years hence.« 27 Haldanes ›Science Fiction‹ über die Zukunft der Medizin wählt sich damit eine ihrerseits fiktive Textsorte, einen imaginären Studentenessay, der die imaginierte Zukunft retrospektiv rekonstruiert. Damit gleicht sich die wissenschaftliche ›Science Fiction‹ exakt demjenigen narrativen Imperfekt an, das auch die literarische Science Fiction prägt und, mehr noch, überhaupt nur die Erzählbarkeit der Zukunft ermöglicht. Das narrative Imperfekt kompensiert die faktische Unvorstellbarkeit der Zukunft durch ihre Verlagerung in eine gewesene Vergangenheit. In diesem narrativen Futur II tritt die Vergangenheit in das Zukunftsszenario ein, und nichts anderes bedeutet der bei Haldane ebenso wie bei Shelley oder Wells prominente Anschluß an mythologische Figuren: Wenn literarische wie wissenschaftliche Zukunftsprognosen, der gesamte Bereich der Science Fiction also, auf den Mythos im doppelten Sinn – als Referenz auf mythologische Figuren wie als Erzählung von einer Vergangenheit – rekurrieren, dann kompensieren sie die Unvorstellbarkeit der Zukunft durch den Wiedereintritt des bereits Vertrauten. Oder anders: Dass die Zukunft der Medizin bei Haldane wie Wells auf die gleichen Topoi zurückgreift, ermöglicht allererst die Vorstellbarkeit dieser Zukunft. Diese formale Kontinuität der Schreibweise über die Zukunft des medizinischen Wissens in Literatur und Wissenschaft wird aber begleitet von einer Entwicklungstendenz, die den Inhalt dieses Wissens betrifft: Von Shelley über Wells zu Haldane läßt sich ein stufenweises Anwachsen der Reichweite der fraglichen medizinischen Experimente feststellen: Während Frankenstein noch ein einzelnes Individuum schafft, erzeugt Dr. Moreau bereits eine ganze Kolonie. In Haldanes Vision

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Ebd., S. 36. Ebd., S. 41. Vgl. hierzu Rossini (Anm. 12), S. 8. Haldane (Anm. 23), S. 39.

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schließlich erstreckt sich das eugenische Experiment auf die gesamte Menschheit. Innerhalb der medizinischen Zukunftserzählungen lässt sich mithin einen Tendenz von der vereinzelten Anthropotechnik zur großangelegten Biopolitik feststellen. Oder, um es noch einmal mit den Worten eines literarischen Textes zu formulieren, der Haldanes auf 1951 datierte Prognose bereits 1935 im fiktiven Szenario einer Brave New World umsetzt: »The principle of mass production at last applied to biology.«28 Die grundlegende Tendenz, die wissenschaftliche wie literarische Science Fiction-Texte damit beschreiben, besteht in einer zunehmend sozialen und politischen Dimension der zukünftigen Medizin. Eine Weiterentwicklung medizinischen Wissens wird in allen diesen Narrativen mit einer Ausdehnung der Reichweite der resultierenden medizinischen Praxis verbunden, an deren Ende eine nicht mehr partielle, sondern universelle Neugestaltung der Menschheit durch medizinische Techniken steht. Diese Tendenz zur Universalisierung findet einerseits einen formalen Niederschlag in der Schreibweise von Science Fiction. So erzählt Alfred Döblins in jeder Hinsicht monumentaler ›Zukunftsroman‹ Berge, Meere und Giganten von 1924 nicht nur von den wissenschaftlichen und weltpolitischen Bewegungen bis ins 27. Jahrhundert hinein. Das narrative Schema des Romans reagiert insofern auf diese Großdimension, als anstelle psychologisch-realistischer Individualschicksale nurmehr die Fluktuation von Menschenmassen erzählt wird. Der Roman kennt keine Handlung im herkömmlichen Sinne mehr, sondern zeichnet das Bild einer zukünftigen Gesellschaft, in der bevölkerungspolitische Entscheidungen versuchen, globaler Naturkatastrophen und menschlicher Flüchtlingsströme Herr zu werden. Die Rolle der Medizin verschiebt sich entsprechend in eine makroskopische Dimension, aus deren Perspektive Forschungsergebnisse und ihre Anwendung in ihren kollektiven Wirkungen protokolliert werden: »Mit dem Aufkommen der künstlichen Lebensmittelsynthese im sechsundzwanzigsten Jahrhundert trat ein beispielloser allgemeiner Umschwung ein. Es erfolgte eine Veränderung aller Lebensverhältnisse, zugleich die Nötigung, zu strengen ja strengsten Herrschaftsformen zurückzukehren. […] Jahrzehntelang lagen in den Laboratorien von Chicago und Edinburg Versuchsanordnungen fertig, deren Ausführung katastrophale Wirkungen auf das Zusammenleben der Menschen üben mußte.«29 Und auch das Schlussszenario des Romans, in dem Wissenschaftler aus organischen, animalischen und menschlichen Bestandteilen gigantische ›Menschentürme‹ zum Schutz der Zivilisation vor den Naturgewalten erschaffen, zeigt die biopolitischen Züchtungsphantasien medizinischer Zukunftsszenarien in gigantomanischer Verzerrung.30

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Aldous Huxley: Brave New World. New York 1965, S. 4. Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten. Berlin 1924, S. 76 Ebd., S. 479ff. Zu Döblins Zukunftsroman vgl. Hannelore Qual: Natur und Utopie. Weltanschauung und Gesellschaftsbild in Alfred Döblins Roman ›Berge Meere und Giganten‹. München 1992 sowie das einschlägige Kapitel in Torsten Hahn: Fluchtlinien des Politischen. Das Ende des Staates bei Alfred Döblin. Köln, Weimar, Wien 2003.

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Döblins Versuch, die bevölkerungspolitischen Folgen des medizinischen Fortschritts durch eine narrativ innovative Form zu spiegeln, bleibt innerhalb der Science-Fiction des 20. Jahrhunderts aber eher ein Sonderfall. Vielmehr gelten Science-Fiction-Texte ja gemeinhin gerade nicht als avancierte Kunst, sondern konstituieren vielmehr denjenigen Bereich der populären Literatur, innerhalb dessen zukünftiges Geschehen mit herkömmlichen Mitteln erzählt wird. Daher wird nun abschließend am Beispiel der weiteren Entwicklung von Science-FictionRomanen über die künstliche Reproduktion des Menschen zu zeigen sein, dass in dieser Kopplung von unvertrauten Inhalten mit vertrauten Formen das entscheidende Potential der Science Fiction liegt. Literarische Texte, die die Möglichkeit einer künstlichen Reproduktion des Menschen mit den Mitteln der modernen Medizin zum Gegenstand haben, durchziehen das gesamte 20. Jahrhundert. Bereits ein Jahrzehnt vor Haldanes Prognose veröffentlicht Hans Heinz Ewers seinen düsteren Roman Alraune, in dem der Mythos eines künstlichen Wesens, das aus der Verbindung des Samens eines Gehenkten mit der Mutter Erde entsteht, in die Laboratorien der modernen Medizin überträgt: Alraune ist hier der Name eines Mädchens, das durch künstliche Befruchtung zur Welt kommt. Diese Entstehungsgeschichte, so suggeriert der Roman in seinem Verlauf, bleibt aber keineswegs folgenlos für die Fähigkeiten und den Charakter des Kindes: Seinen Altersgenossen früh überlegen, wird es aufgrund des Fehlens jeglichen Moralempfindens zu einer gewissenlosen Egoistin und schließlich Mörderin, das sich an seinem Schöpfer, dem avancierten Arzt van Brinken, rächt. Ewers Roman reinszeniert auf diese Weise nicht nur den FrankensteinTopos. Er insuniert auch auf kaum verblümte Weise, dass einem nicht durch die Liebe zweier Eltern entstandenem Kind die entsprechende Liebesfähigkeit und Menschlichkeit mangelt. Die kühle Rationalität künstlicher Reproduktion findet sich im reproduzierten Wesen widergespiegelt.31 Dieser Topos findet sich in Huxleys bereits erwähnter ›Menschenfarm‹ von 1935 ebenso wieder, wie in Beispielen des jüngeren Subgenres ›Medical Thriller‹, die die enormen Entwicklungen in Medizin, Molekularbiologie und Humangenetik als Matrix für Kriminalerzählungen wählen. So sind die Kinder, die in Charles Wilsons Roman Embryo von 1999 einer künstlichen Gebärmutter entsteigen, ebenso gefühlskalt und gewissenlos, wie ihre Vorgängerin Alraune: »They were cold

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Vgl. Hans Heinz Ewers: Alraune. Die Geschichte eines lebendigen Wesens. München 1911; zu Ewers Roman aus literaturhistorischer Sicht den Beitrag von Lothar Müller. In: Marianne Weill: Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen. Berlin 1996, S. 91–105, sowie mit Blick auf den vorliegenden Problemzusammenhang Katja Sabisch: Von Pudeln, Prostituierten und Professoren. Die Versuchsperson im Vivisektionsdiskurs zwischen Medizin, Recht und Literatur. In: Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 169–192; und Heiko Stoff: Alraune, Biofakt, Cyborg. Ein körpergeschichtliches ABC des 20. und 21. Jahrhunderts. In Simone Ehm, Silke Schicktanz (Hrsg.): Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse, Berlin 2006, S. 35–50.

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even as little babies. They resisted touch and would fight against being held«.32 Der Topos vom künstlichen Menschen, der zwar organisch und intellektuell überlegen, dem emotionalen surplus der menschlichen Natur aber stets unterlegen sei, ist mithin nicht nur ein stabiler Bestandteil, sondern geradezu das Produkt von Science Fiction-Romanen über medizinische Reproduktionsexperimente.33 Sie etablieren einen semantischen Raum, in dem der Mensch durch Exklusion einer Technik, die die fragliche Grenze – zum Tier einerseits, zur Maschine andererseits – zu überschreiten droht, rekonstituiert wird. Die Prognose künftigen medizinischen Wissens kann in der Science Fiction mithin unter Hinzuziehung einer spezifischen Topik gelingen, wenn nicht gar durch einen einzigen Grundtopos, der zugleich den basalen Mythos avancierter Medizin bildet: der Topos vom Menschen als Schöpfer seiner selbst. Je nach Bewertung kann dieser Topos in seiner aktiven Semantik zur Utopie einer schönen neuen Welt führen, in der geniale Wissenschaftler die Vorgaben der Natur optimieren. In seiner passiven Lesart führt die Vorstellung einer Fabrikation von Menschen allerdings zur Dystopie einer Menschheit, die aller ihrer aus dem 18. Jahrhundert ererbter anthropologischer Adelsprädikate – Individualität, Autonomie, Freiheit – verlustig gegangen ist. Zumal die Szenarien zur Humangenetik in Medical Thrillern jüngeren Datums zeichnen das Bild des zukünftigen Menschen, der sich seiner Einzigartigkeit und zufälligen Entstehung nicht mehr gewiss sein kann.34 Der Klon ist dabei diejenige Ikone der Medizin der Zukunft,35 die die Utopie einer Kreation von Übermenschen mit der Dystopie einer uniformen Menschheit in sich verbindet. Der Topos vom Menschen als Schöpfer seiner selbst produziert damit Erzählungen, die der Vorstellung eines technisch optimierten Paradieses die Apokalypse einer instrumentalisierten Menschheit entgegenhalte. Dass dieses Narrativ dabei nicht mehr ist, als der Frankenstein-Topos, hat John Turney zurecht festgestellt. Insofern aber gezeigt werden konnte, dass es gerade die Konstanz und Popularität des Topos ist, der seine Funktion als Zukunftsbild ermöglicht, stellt diese Feststellung keinen Einwand dar. Vielmehr erlaubt der Frankenstein-Topos medizinische Zukunftsszenarien so zu gestalten, dass die radikalen wissenschaftlichen Neuerungen dennoch mit eingespielten Leseerwartungen und kollektiven Überzeugungen konvergieren. Auf diese Weise erhöhen die populären Topoi der Science Fiction – die vielfachen Anspielungen an antike und christliche Schöpfungsmythen, die Kontrastierung einer kriminellen Wissenschaftsmafia mit heroischen Einzelkämp-

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Charles Wilson: Embryo. New York 1999, S. 227. Zur experimentellen Dimension der Sexualmedizin insgesamt vgl. Nicolas Pethes, Silke Schicktanz (Hrsg.): Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction. Frankfurt/New York 2008. Vgl. etwa John Darnton: The Experiment. New York 2000 [dt. unter dem Titel Zwillingspark]. Vgl. Dorothy Nelkin, Susan Lindee: DNA Mystique. The Gene as a Cultural Icon. New York 1995.

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fern, die Revolte der künstlichen Geschöpfe gegen ihre Schöpfer36 – die Annahmewahrscheinlichkeit fiktiver Kommunikation über Wissenschaft. Science Fiction-Texte eignen sich hierzu deshalb so gut, weil sie einerseits als literarische Fiktionen ein ausgewiesenes Medium für die Erprobung möglicher Zukünfte darstellen, andererseits als populärliterarische Produkte nicht strikt unter den ästhetischen Code fallen. Gerade die medizinische Science Fiction des 20. Jahrhunderts spielt immer wieder mit den Grenzen des Literatur- und des Wissenschaftssystems: Auf der einen Seite integrieren sie ausführliche Laborbeschreibungen, Dokumentationen medizinischer Prozeduren im Fachjargon, wissenschaftliche Darstellungsformen wie Graphen oder bibliographische Anhänge sowie, im Fall von Robin Cook, Cover-Fotos, auf denen der Autor im weißen Arztkittel posiert. Auf der anderen Seite haben Romane wie etwa Michael Crichtons Terminal Man wissenschaftliche Anschlusskommunikation provoziert, die die Unterstellung eines Zusammenhangs zwischen Anfallsleiden und Gewalttätigkeit in Crichtons Roman kritisierte.37 Für eine funktionsgeschichtliche Analyse fiktionaler Texte bedeutet das, dass die Beteiligung der Populärliteratur an Bildern des Wissens nicht zwangsläufig auf Augenhöhe mit der betroffenen Wissenschaftsdisziplin erfolgen muss. Entgegen der These von Katherine N. Hayles, die neuen, posthumanen Reproduktionstechnologien brächten eine Diffusion althergebrachter Semantiken mit sich, die die alinearen literarischen Experimente, etwa eines William Burroughs, spiegelte,38 langt eine Analyse populärer Science Fiction bei dem exakt entgegengesetzten Befund an: Die hier vorgestellten Romane kopieren die Unbestimmtheit der medizinischen Zukunft weniger, als dass sie sie durch ein lineares Narrativ und eine vertraute Topik kompensieren und damit, so die hier vertretene These, vorstellbar machen.39 Die Topik, die die medizinische Science Fiction prägt, ist weniger Ausweis mangelnder Originalität als der Versuch, der Diskontinuität der Epistemologie durch diskursive und rhetorische Kontinuität zu begegnen. Das ganz Neue, auf das die Medizin den Menschen vorbereitet, kann nur als alte Geschichte erzählt werden.

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Vgl. zur christlichen Ikonographie der Klon-Debatte Rossini (Anm. 12), S. 1 sowie grundsätzlich S. 5: »die Mehrheit der Mainstream Science/Fiction beschreibt neue Technologie, erzählt aber alte Geschichten«. Die fachmedizinische Kritik an Crichtons Roman rekonstruiert Irma J. Ozer: Images of epilepsy in literature. In: Epilepsia 32 (1991), S. 798–809. Katherine Hayles: How we Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago 1999. Vgl. Corina Caduff: Experiment Klon. In: Macho, Wunschel (Anm. 6), S. 230–241; sowie Nicolas Pethes: Terminal Men: Biotechnical Experimentation and the Reshaping of »the Human« in Medical Thrillers. In: New Literary History 36 (2005), S. 161–185.

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AUMÜLLER, GERHARD, Prof. Dr. med., Studium der Medizin und Anthropologie in Mainz, Marburg und Würzburg. 1974 Habilitation für Anatomie in Heidelberg. Ab 1977 Leiter der Abteilung für Reproduktionsbiologie bzw. Institutsdirektor am Institut für Anatomie und Zellbiologie, Marburg. Von 2001 bis 2006 Beauftragter für das Fach Medizingeschichte, Mitglied im Vorstand der Historischen Kommission für Hessen. Neben Fachpublikationen Arbeiten zur Medizin- und Musikgeschichte Hessens, darunter: Aumüller, G., Mennel, H.-D.: Der Psychiater Franz Tuczek und die Etablierung der universitären Psychiatrie in Marburg. In: 125 Jahre Soziale Psychiatrie in Marburg. (Hrsg.: P. Sandner, G. Aumüller, C. Vanja), Marburg 2001, S. 92–114; Aumüller, G., Grundmann, K., Krähwinkel, E., Lauer, H.H., Remschmidt, H. (Hrsg.): Die Marburger Medizinische Fakultät zur Zeit des Nationalsozialismus, München 2001; Aumüller, G., Männliche Krankheitserfahrung im 16. Jahrhundert. Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen (1504–1567) und seine Ärzte. Hess. Jb. f. Landesgesch., Bd. 56, 2006, S. 19–48. BEßLICH, BARBARA, PD Dr., Akademische Rätin am Deutschen Seminar der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Narratologie, Kulturkritik. Veröffentlichung zum Thema des Sammelbands: Mütter im Visier. ›Versehen‹ und Telegonie in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 (2004), S. 19–36. DANNEBERG, LUTZ, Dr. phil., Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt Universität, Berlin. Publikationen u.a.: Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation (Berlin 1989); Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis (Berlin/New York 2003). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Philologisches Seminar und naturwissenschaftliches Labor, Geschichte der Hermeneutik, Theorie und Methodologie der Textinterpretation, Kontrafaktische Imaginationen in der Wissensgeschichte, Epistemologien der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens. DE ANGELIS, SIMONE, PD Dr., Oberassistent am Institut für Germanistik, Abteilung Komparatistik der Universität Bern. Beziehungen Literatur und Wissen(schaften), Geschichte der Naturforschung, Anthropologien, Darstellungsformen des Wissens, Kulturwissenschaft. Veröffentlichungen zum Thema des Sammelbands: Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ›Wissenschaft vom Menschen‹ in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2008 (Historia Hermeneuti-

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ca. Series Studia 6); Unbewusste Perzeptivität und metaphysisches Bedürfnis. Ernst Platners Auseinandersetzung mit Haller in den Quaestiones physiologicae (1794). In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seine Wirkungsgeschichte, Bd. 19 (2007): Ernst Platner (1744–1818); Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie. Akten der Internationalen und interdisziplinären Arbeitstagung, 16.–18. Februar 2006 München. Hrsg. von Gideon Stiening u. Guido Naschert, Hamburg: Felix Meiner, S. 247–276; Sanatio and Salvatio: »Body« and Soul in the Experience of Dante’s Afterlife. In: John C. Barnes and Jennifer Petrie (Hrsg.): Dante and the Human Body. Eight Essays. Proceedings of the Public Dante Lectures Series, University College Dublin 2003–2004. Dublin: Four Courts Press, 2007, S. 91– 118. KINDT, TOM, Dr. phil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte: Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart, Theorie der Literatur, Geschichte der Germanistik. Letzte Buchveröffentlichungen: Narratology beyond Literary Criticism (2005, Mithrsg.); Ungeheuer Brecht (2006 mit Frank Thomsen und Hans-Harald Müller); The Implied Author (2006, mit Hans-Harald Müller); Leo Perutz’ Romane (2007, Mithrsg.); Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne (2008). KÖPPE, TILMANN, Dr. des., Junior Fellow an der School of Language and Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, philosophische Ästhetik. Buchveröffentlichungen: Was ist Literatur? (2006, Mithrsg.); Neuere Literaturtheorien (2008, mit Simone Winko); Literatur und Erkenntnis (2008); Moderne Interpretationstheorien (2008, Mithrsg.). KRAUSE, MARCUS, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Poetologien des Wissens, Diskursgeschichte der Psychologie, Literatur der Romantik, American Renaissance und Postmoderne. Veröffentlichungen zum Thema: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005 (Hrsg. mit Nicolas Pethes); Ultraparadox. Zur Schwerkraft des Menschenexperiments bei Pavlov und Pynchon. In: Christina Bartz, Marcus Krause (Hrsg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007, S. 221–241; Vom literarischen Mysterium zum psychoanalysierten Hollywood-Mythos: Die Verwandlungen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In: Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hrsg.): Mr. Münsterberg und Dr. Hyde. Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments. Bielefeld 2007, S. 33–56. NOLL, NATASCHA, M.A., Doktorandin an der Emil von Behring-Bibliothek für Geschichte und Ethik der Medizin, geb. 1978 in Büdingen/Hessen. Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Religionswissenschaft und Europäischen Ethnologie in Marburg und Alicante/Spanien, Magisterabschluss 2004. Von 2005 bis 2007 Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Die Hessischen Hohen Hospitäler – die Pati-

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enten- und Leitungsstruktur einer frühneuzeitlichen Versorgungseinrichtung« (Marburg/Kassel) in Marburg. NOLTE, KAREN, Dr. phil, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Medizingeschichte, Psychiatriegeschichte; Körpergeschichte; Geschlechtergeschichte, Wissenschaftsgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; Publikationen (Auswahl): Zeitalter des ärztlichen Paternalismus? – Überlegungen zu Aufklärung und Einwilligung von Patienten im 19. Jahrhundert, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25/2007, S. 59–98; zusammen mit Lena Behmenburg et al. (Hrsg.): Wissenschaf(f)t Geschlecht. Machtverhältnisse und feministische Wissensproduktion, Ulrike Helmer Verlag: Königstein i.T. 2007; Wege zu einer »Patientengeschichte« des Sterbens im 19. Jahrhundert, in: BIOS 19/2006, Heft 1, S. 36–51. PETHES, NICOLAS, Dr. phil., Professor für Europäische Literatur und Mediengeschichte an der FernUniversität in Hagen. Forschungsschwerpunkte zur Gedächtnistheorie, zur Mediengeschichte der Literatur, zur literarischen Anthropologie und zur Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen zum Themengebiet des Sammelbands: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007; Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005 (Mithrsg.); Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung in Recht, Medizin und Literatur.« In: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hrsg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 63–92; Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28 (2003), Nr. 1, S. 181–231. RICHTER, SANDRA, Dr. phil., Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart, Visiting Senior Research Fellow King’s College London. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche und vergleichende Literatur von 1650 bis in die Gegenwart, Literatur und Wissen, Wissenschaftsforschung, Rhetorik/Poetik/Ästhetik. Veröffentlichung zum Themengebiet des Sammelbands: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2002. SAAD, MARIANA, Dr. phil., Attachée scientifique à l’Ambassade de France à Londres, Visiting Research Fellow at the History Department of Sussex University. Research: the »médecin-philosophe« and political figure of the French Revolution, the relationship between philosophical ideas, literature, medical knowledge and practice in late 18th century and early 19th century France. Publications: PhD thesis on P.J.G Cabanis (1756–1808), various articles on Idéologie and history of medicine, (co-editor) special issue on »Melancholy and the material unity of Man – XVIIth and XVIIIth century« of the Swiss journal Gesnerus (2006), »Monisme, matérialisme et physiologie: l’héritage d’Helvétius dans la pensée des Idéologues.« In: Matérialismes du XVIIIe siècle (P.U.F., Paris 2006); »La mélancolie entre le

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cerveau et les circonstances. Cabanis et la nouvelle science de l’homme« in: Gesnerus Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences, Vol. 63; »Sentiment, sensation, sympathie: P.J.G. Cabanis, W. von Humboldt et Adam Smith«, in: Triangulären Transfer: Grossbritannien, Frankreich und Deutschland um 1800, Germanisch-Romanische Monatsschrift, Band 56, Heft 1, Heidelberg. SAHMLAND, IRMTRAUT, Prof. Dr. phil., geb. 1955. Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft in Gießen, Promotion 1986. Seit 1984 im Fach Medizingeschichte, 1998 Habilitation für Geschichte der Medizin in Gießen, dort von 1999 bis 2005 Hochschuldozentin. Zwischen 1999 und 2003 Lehrbeauftragte an der Universität Marburg. Von 2005 bis 2007 Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Die Hessischen Hohen Hospitäler – die Patienten- und Leitungsstruktur einer frühneuzeitlichen Versorgungseinrichtung« (Marburg/Kassel) in Kassel. Seit 2006 apl. Professorin für Medizingeschichte an der Universität Marburg. Wichtige neuere Publikationen: »Welches ich hiermit auf begehren Pflichtmäßig attestieren sollen« – Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Bd. 25, 2006, Stuttgart 2007, S. 9–58; Briefkultur und psychische Krankheit. Patientenbriefe im Landeshospital Hofheim (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts), in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Bd. 13, 2007, S. 67–99; Das Hessische Hohe Hospital Haina in der frühen Neuzeit, in: Elisabeth in Marburg. Der Dienst am Kranken. Katalogbuch zur Ausstellung, Kassel 2007, S. 94–133 SCHÄFER, DANIEL, apl. Prof. Dr. med. Dr. phil., Akademischer Oberrat am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Studium der Humanmedizin, Germanistik und Geschichte der Medizin in Freiburg (1984–1995), Habilitation in Geschichte und Ethik der Medizin (Köln, 2002). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Alters, des Todes, der Gynäkologie und Geburtshilfe, der Gesundheit im 20. Jahrhundert; Medizin und Literatur. Publikationen: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Campus Verlag Frankfurt/M. 2004; Langlebige Beispiele. Überlegungen zur Funktion und Gestaltung historischer Exempla für ein hohes Alter in der diätetischen Literatur der frühen Neuzeit. In: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 22, S. 188–203 (2003); Medical Representations of Growing Old in the Renaissance? The Influence of Non-Medical Texts. In: Growing Old in Early Modern Europe: Cultural Representations. Ed. by Erin Campbell. Aldershot, Ashgate, 2006, S. 11–19. SPRANG, FELIX, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg, Forschungsschwerpunkte: Wissenskulturen der frühen Neuzeit, frühneuzeitliches Theater im Spiegel moderner Performance Theory, Denkformen der volta in der englischen Lyrik. Publikationen: »Trite and fruitlesse Rhapsodies? The rise of a new genre in the light of national identity: vernacular science writing«. In: Anglia 124, 3 (2006). S. 449–473; Londons Fountaine of Arts and Sciences. Bildliche und theatrale Vermittlungsinstan-

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zen naturwissenschaftlichen Denkens im frühneuzeitlichen London (Anglistische Forschungen 381) Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008. STEIGER, JOHANN ANSELM, Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg, Leiter der dortigen Sigmund von Birken-Arbeitsstelle sowie der Arbeitsstelle für Geschichte des Wissens und der Literatur (am Department Sprache, Literatur, Medien II), Vorsitzender des Arbeitskreises für Barockforschung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1992 Promotion in Heidelberg, 1994 Habilitation in Leipzig, von 1995 bis 2001 Vertretungsprofessuren in Saarbrücken, Hamburg und Oldenburg, 2001 Berufung nach Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Reformation, lutherische Theologie und Frömmigkeit der Barockzeit, Aufklärung, Auslegungsgeschichte, Editorik.

Namensregister

Afer, Publius Terentius gen. Terenz Africanus, Constantinus , 138f., 154, 159 Albert, 301, 303, 307–-310, 312–314, 318 Alberti, Conrad, 270, 289 Alberti, Leon Battista, 56, 75f., 79, 95f. Angell, James Rowland, 305f. Ariosto, Ludovico, 78, 80, 95 Aristoteles, 17, 28f., 33, 50, 52, 54f., 65, 68f., 70, 81, 91, 137f., 146, 148–150, 154, 241–243 Asklepios / Aeskulap, 101, 115, Augustinus, 14, 16, 100 Aurifaber, Johannes, 113 Avicenna, 33, 77, 79, 84, 87, 94, 119f. Baldinger, Ernst, 193 Barnave, Antoine, 235 Barras, Vincent, 7, 233 Basilius der Große, 103 Bayle, Pierre, 172 Bechterew, Wladimir M., 303, 306 Beers, Johann, 190 Bennholdt-Thomsen, Anke, 190f. Berg, Leo, 285, 298 Bernard, Claude, 11, 290, 323 Bibra, Siegmund Freiherr von, 191, 196 Bichat, Marie François Xavier, 223 Blankaart, Steven , 175 Bleibtreu, Karl, 270, 298 Blumenbach, Johann Friedrich, 259, 262 Boerhaave, Herman, 143, 228 Bölsche, Wilhelm, 270–272, 274, 280, 283, 285, 289 Braungart, Georg, 73, 89, Büchner, Georg, 189f. Bunge, Gustav, 293 Bürger, Georg August, 196 Burton, John, 171, 175–179, 182, 185 Burton, Robert, 93f. Cabanis, Pierre Jean Georges, 227–244, 337 Cantor, David, 228

Cardini, Roberto, 75, 96 Carus, Titus Lucretius (dt. Lukrez), 90–92 Cazeneuve, Jean, 227 Chambers, Ephraim, 172 Cicero, Marcus Tullius, 14, 21f., 67, 75f., 137, 140, 142, 154 Clarke, Jennifer, 80 Claudius, Matthias, 190 Crisciani, Chiara, 33, 79 Cunningham, Andrew, 42, 46, 70, 228 D’Azir, Vicq, 238 D’Este, Leonello, 76, 79 Da Cremona, Gerardo, 77 Da Tharanta, Valesco, 77 Da Verona, Guarino Guarini, 79 Da Villanova, Arnau, 86 Daston, Lorraine, 3, 172, 246, 258 David (König), 108, 141–144 De Mauvillon, Eléazar, 194, 198 De Talleyrand-Périgord, Alexandre Angélique, 236 Delarue, M., 232 Della Porta, Giambattista, 216 Deventer, Hendrik van, 176–178 Diethelm, Oskar, 133 Drake, James, 178f., 181, 183f., 186 Du Saillant, Caroline, 232 Euripides, 80f., 142, 164 Ficino, Marsilio, 142 Forel, Auguste, 291 Forster, Georg, 3, 193, 213, 216 Foucault, Michel, 315f., 319f., 324 French, Roger, 32f., 52, 77, 228 Frensdorff, Georg August, 195, 197f., 214 Galenus, 9, 33, 53–55, 58, 61–68, 81f., 87, 91f., 119f., 139, 142f., 158f. Garat, Dominique Joseph, 234 Garland, Robert, 81

Namensregister

342 Gasto, Flaminius, 100, 118–120, 123, 125 Genette, Gérard, 243 Gerhard, Johann, 116, 126f. Giedke, Adelheid, 73f., 82 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig, 196 Glisson, Francis, 229 Goeckingk, Leopold Friedrich Günther, 189, 192, 196–199, 204, 214, 225 Goethe, Johann Wolfgang, 6, 8, 11, 67, 82, 90, 151f., 163, 193, 282, 289, 298, 335 Grafton, Anthony, 76, 79, 96 Grégoire, Pierre, 119 Gregor der Große, 39, 100 Grmek, Mirko D., 81, 86, 201 Haage, Bernhard D., 74 Haeckel, Ernst, 289, 293f. Halbe, Max, 288–291 Haller, Albrecht von, 157, 206, 219, 225, 335 Harvey, William, 59, 64, 69f. Hauptmann, Gerhart, 270, 286, 288–299 Helvétius, Madame, 234 Hennemann, Wilhelm H., 259 Herberger, Valerius, 100, 115, 117–125 Herophilos, 61, 119 Herr, Michael, 111, 130 Himly, Karl Gustav, 258 Hippocrates, 8, 160, 229–231 Hippokrates, 53, 79, 81, 83, 86, 119f., 139, 163–166, Hispalensis, Isidor, 20, 137 Hohndorf, Johann, 102f. Howards, John, 221 Huberinus, Caspar, 113 Hume, David, 182 Iason, 141f. Ibsen, Henrik, 288–290, 297, 335 Ignatius von Antiochien, 109 James, 238 Jeanroi, M., 232f. Johnson, Samuel, 172, 185 Jung-Stilling, Johann Heinrich, 116 Kahlbaum, Karl Ludwig, 220 Karlstadt, Andreas (Carlstadio im Zitat), 102–104 La Marck, Auguste-Marie-Raymond, 235 Lachèze, Jean-Claude, 232, 238 Lamourette, Antoine-Adrien, 236

Langenbeck, Conrad Johann Martin, 250, 258f., 264 Lavater, Johann Caspar, 157, 165, 216 Lehec, Claude, 227 Link, Jürgen, 315 Locke, John, 185 Louis-Courvoisier, Micheline, 7, 233 Luther, Martin, 45, 46f., 99–115, 122, 125– 129, 139 Maior, Cato, 136, 140f. Makarios, 103 Manuzio, Aldo, 81 Martialis, Marcus Valerius (Martial), 76 Mauvillon, Jacob, 189, 191–226 Maximus, Valerius, 81 McKeon, Michael, 187 Medea, 81, 141f., 144 Mende, Ludwig Julius Caspar, 250 Ménuret, Jean-Joseph, 230 Merian, Hans, 287 Michaelis, Johann Conrad, 135f. Minsaas, Kirsti, 243 Mirabeau, Gabriel de Riqueti, 195, 227–243 Möbius, Paul Julius, 298f. Nestor, 140 Nutton, Vivian, 46, 63f., 81 Osiander, Friedrich Benjamin, 245–247, 249–251, 253-264 Osiander, Johann Friedrich, 259 Ovid, 75f., 84f., 90f., 92–95, 141f. Paracelsus, 1, 65, 119, 132, Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim), 145f., 148–152, 154, 156 Pavlov, Ivan P., 301, 303f., 306, 336 Pelias, 141f. Pelling, Margaret, 174 Peri, Massimo, 74f., 83, 87 Petit, Antoine, 232–234, 238, 240, 243 Petrarca, Francesco, 8, 54, 75 Pigeaud, Jackie, 6, 58, 228 Platon, 29, 90, 137 Platter, Felix, 136 Porter, Roy, 2, 171–173 Pott, Sandra, 3f., 8f., 131, 144, 146, 154, 194, 223, 265, 285, 337 Prinz Auguste-Marie-Raymond, 235 Raspe, Rudolf Erich, 193 Rayner, Rosaline, 303, 307f., 313f.

Namensregister Regoliosi, Mariangela, 75f. Reider, Philippe, 233 Reil, Johann Christian, 213, 221 Reuchlein, Georg, 189, 208f., 221 Rey, Roselyne, 229 Rhegius, Urbanus, 222 Rist, Johann, 115f. Rörer, Georg, 113 Rotterdam, Erasmus von, 135, 140 Rousseau, Jean-Jacques, 195, 295 Sappho, 74, 76 Sauter, Johann Nepomuk, 250–253, 261, 263 Savonarola, Michele, 77–79, 84f., 92–94 Schlaf, Johannes, 286, 288f. Scribonius Largus, 117, 119 Sennert, Daniel, 78, 82f., 92–94, 96 Sevilla, Isidor von, 15, 20f., 25f., 137 Shuttleworth, Sally, 172 Siraisi, Nancy G., 33, 45, 55, 59, 77–79 Skinner, Burrhus Frederic, 301f. Smellie, William, 175f., 178 Soemmering, Samuel Thomas von, 259 Sophokles, 81, 293 Stamford, Friedrich von, 197, 218 Stegmann, Ambrosius, 136, 141, 143 Sunem, Abisag von, 142 Swift, Jonathan, 140 Sydenham, Thomas, 228f. Taine, Hippolyte, 286, 291, 298 Tasso, Torquato, 97, 243 Tatian, 102 Temkin, Owsei, 59, 81 Tertullian, 102, 113

343 Tischbein, Johann Heinrich, 189, 193, 215f. Tithonos, 140, 144 Triebs, Michaela, 133f. Troll-Borostyani, Irma von, 276, 288 Unzer, Johann August, 3, 8, 196 Valentin, Karl, 296 Valleriola, François, 77, 90, 92–94 Van Foreest, Pieter, 78, 83, 92f. Vanja, Christina, 189–193, 200–202, 206f., 213, 217, 222, 225, 335 Vechner, Matthäus, 120 Vergil, 91f. Volney, Constantin François, 230, 234, 237 Von dem Werder, Diederich, 78, 95 Von Ephesos, Ruphos, 85 Von Guzzoni, Alfredo, 190f., 209, 211 Von Kleist, Heinrich, 191, 295 Von Samosata, Lukian, 96, 162 Von Siebold, Adam Elias, 247, 250–254, 261, 263 Von Waldeck und Pyrmont, Carl August Friedrich, 195, 198 Wack, Mary Frances, 82, 85 Wanckel, Andreas, 113 Watson, John B., 301–320 Wear, Andrew, 33, 63, 77, 83 Willis, Thomas, 178 Wolff, Jacob, 248, 286, 290 Wrisberg, Heinrich August, 252, 259 Wundt, Wilhem, 305 Zola, Émile, 11, 270–274, 276, 283, 288– 290, 294, 323f., 335