Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung: Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur 9783787318780, 9783787320547

Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) ist eine zwitterhafte Gestalt der deutschen Aufklärung: Auf der einen Seite führte

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Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung: Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur
 9783787318780, 9783787320547

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CARMEN GÖTZ Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 30

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

CARMEN GÖTZ

Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Baumgart-Stiftung, München sowie des »Heimatvereins ›Düsseldorfer Jonges‹«.

D 61

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1878-0

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2008. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALTSVERZEICHNIS

Danksagung................................................................................................................ Siglen .........................................................................................................................

XI XII

I. Präludium ..........................................................................................................

1

1. Das Vorhaben – eine Übersicht ................................................................

1

2. Ansatzpunkte ............................................................................................... 2.1 Friedrich Heinrich Jacobi: Aufklärer oder Gegenaufklärer? ........... 2.2 Aufklärung und Empfindsamkeit .......................................................

3 3 12

3. Kontextualisierungen: Eine kurze Geschichte – und Theorie – der Aufklärungszeit .............. 3.1 Anthropologische Grundlegung: Das Begehren nach Transzendierung räumlicher und zeitlicher Endlichkeit ................. 3.1.1 »Pathognostik« als Anthropologie und Kulturphilosophie .. 3.1.2 Die Dialektik der Selbstabsolutheit: heillos und kulturschaffend zugleich ....................................... 3.2 Die Aufklärung als Säkularisierung des Heilsgeschehens? ............. 3.2.1 Das Christentum als historische Antwort auf die conditio humana ......................................................................... 3.2.2 Der Umbruch ins Säkulare ........................................................ 3.2.3 Zum Säkularisierungstheorem .................................................. 3.3 Säkulare Wende und mediale Revolution .......................................... 3.3.1 Verschriftlichung, Individualisierung und die Formation einer neuen Gesellschaft ............................................................ 3.4 Der neue Kultus .................................................................................... 4. Zugänge ........................................................................................................ 4.1 Der Briefwechsel als Quelle ................................................................ 4.1.1 Die Korrespondenz Friedrich Heinrich Jacobis .................... 4.1.2 Die Briefkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts ............... 4.1.3 Ideale Stilisierungen oder Einblicke in die Alltagskultur? Zur realitätsgenerierenden Kraft von Phantasmen ............... 4.2 Der Leitfaden der Analyse: das »Andere der Vernunft« ..................

25 25 30 33 38 38 40 46 56 59 65 71 71 71 76 81 84

VI

Inhalt

II. Gefühl .................................................................................................................

89

1. Spuren der Empfindsamkeit .......................................................................

89

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis .............................................................. 2.1 Gefühl, Freiheit und der Weg zur Transzendenz ............................... 2.2 Kritische Stimmen ................................................................................. 2.3 Die reine Liebe als transzendentes (göttliches) und immanentes (menschliches) Prinzip ...................................................

101 101 104

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie ................................................ 3.1 Freundschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert – Forschungsansätze ................................................................................ 3.2 Die »heilige« Freundschaft und das ständig scheiternde Begehren nach Indifferenz .................................................................. 3.2.1 Christoph Martin Wieland ........................................................ 3.2.2 Johann Wolfgang (von) Goethe ............................................... 3.2.3 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg ........................................ 3.3 Differenz als Freundschaft erhaltendes Prinzip ................................ 3.4 Dialektik und Aporien der Freundschaft – Versatzstücke aus den Romanen ......................................................... 3.5 Dimensionen von Weiblichkeit: Die »schöne Seele«, die Tugend und der Tod ...................................

111

116 116 128 141 154

III. Begehren .............................................................................................................

175

1. Begehren im Briefwechsel Jacobis ..............................................................

175

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis ...................................

178

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang ..... 3.1 Frühe Jahre in Wandsbek bei Matthias Claudius .............................. 3.2 Eine fürstliche Erziehung in Münster: Selbstkontrolle als bürgerliche Obsession ......................................... 3.3 Das Desaster von Celle oder »Die Masken des Begehrens« ............ 3.4 Im Zeichen der bürgerlichen Tugenden: Die Studienzeit in Göttingen und Heidelberg .................................. 3.5 Arbeit und Erlösung .............................................................................. 3.6 Das säkulare Heil des Bürgertums oder Die Tugend und das Opfer ..................................................................

186 186

107

111

158 164

190 210 220 228 231

IV. Leib .....................................................................................................................

235

1. Leib / Körper im Briefwechsel Jacobis ...................................................... 1.1 Die ambivalente Rolle des Körpers ....................................................

235 235

Inhalt

VII

1.2 Gegen die Fleisches- und gegen die »Knochen-Lust« .....................

240

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell des Umgangs mit dem Körper im 18. Jahrhundert .......................................................... 2.1 Jacobi als Kranker ................................................................................. 2.2 Der Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert ...................... 2.3 Hypochondrie im Briefwechsel Jacobis ............................................. 2.4 Die Ursachen der Hypochondrie ........................................................ 2.4.1 Zeitgenössische Diagnosen ....................................................... 2.4.2 Pathologie des Bürgers .............................................................. 2.4.2.1 Einübungsformen hypochondrischer Selbstthematisierung .................................................................. 2.4.2.2 Krankheit als Exkulpation des Bürgers ..................... 2.4.3 Pathologie der Aufklärung ........................................................ 2.4.3.1 Der Körper als Anfechtung von Autonomie ............ 2.4.4 Pathologie der Schriftkultur ...................................................... 2.5 Das Phantasma vom organlosen Körper ........................................... 2.6 Der Einspruch des Körpers? ................................................................

271 272 275 278 282 289 291

V. Natur ...................................................................................................................

293

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis ................................................................

293

2. Natur als Leitbild und Norm der Dichtungstheorie ...............................

306

3. Die »heilige« Natur ....................................................................................... 3.1 Die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur in der Moderne .......................................................................................... 3.2 Säkularisierung, Sakralisierung und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit ....................................................................................... 3.3 Der Erlösungscharakter von Natur in Briefwechsel und Romanen Jacobis ................................................................................... 3.4 Natur als Kultur- und politischer Raum: Einblicke in den ›Alltag‹ 3.5 Die heilige Trias von Natur, Freundschaft und Poesie .................... 3.6 Der empfindsame Garten – auch eine Ästhetik des Unendlichen 3.6.1 Paradiesische Entgrenzungen: Der englische Landschaftsgarten ............................................. 3.6.2 Inszenierungen von (Selbst-)Schöpfung und Selbsterlösung des Menschen .............................................................................. 3.6.3 Die Natur als Ich-Double .........................................................

316

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang ....................................... 4.1 Ueber die Lehre des Spinoza: Gott und Freiheit, Natur und Vernunft

243 243 247 254 265 265 267

316 325 331 337 343 347 350 359 365 367 369

VIII

Inhalt

4.1.1 Gott als Effekt des Freiheitsbegehrens ................................... 4.1.2 Deus contra naturam ................................................................. 4.2 Der »pantheistische Vitzliputzli« oder Neue Wege zum Heil (Herder und Goethe) ............................................................................ 5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung: Deus sive ego oder Was zählt, ist einzig »unser wunderbares Ich « ........

378 382

VI. Phantasie ...........................................................................................................

407

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis ......................

407

2. Enthusiasmus und Schwärmerei ...............................................................

416

3. Schwärmerei und (Aber-)Glaube ..............................................................

434

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung ............. 4.1 Der Streit mit Mendelssohn oder Die Schwärmerei der »Vernunftfeinde« ............................................ 4.2 Der Streit um den »Kryptokatholizismus« oder Die Schwärmerei der Vernunftenthusiasten .................................... 4.2.1 Jacobis Analyse der »Dialektik der Aufklärung« ................... 4.2.2 Die »herrschende Göttinn selbständiger Vernunft« und der Terror ........................................................................... 4.3 Aufklärung contra Aufklärung? ..........................................................

439

460 469

VII. Resümee ............................................................................................................

475

1. Entgrenzung .................................................................................................. 2. Selbst-Schöpfung .......................................................................................... 3. Reinigung ......................................................................................................

476 477 480

Literaturverzeichnis .................................................................................................

482

1. Quellen .......................................................................................................... 1.1 Ungedruckte Quellen ........................................................................... 1.2 Gedruckte Quellen ................................................................................

482 482 483

2. Literatur ........................................................................................................

489

Personenverzeichnis .................................................................................................

523

385 398

441 449 454

»Denn ganz ebenso wie dort sucht auch hier die sterbliche Natur nach Vermögen, immer zu sein und unsterblich.« Platon: Symposion

»Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele Flügel! Und wie konnte sie mit ihren Flügeln an den häßlichen Leim gerathen, der ihr das Gefieder so zusammen klebte, daß an kein Loswerden in dieser Zeit zu denken ist? Dein guter Plato spricht zwar von einem Schrinnen und Jucken an der Stelle der Flügel, welches ein Zeichen des Losklebens seyn soll, und daß sie nun bald sich hervorthun werden. Aber ich glaube fast, der gute Mann hat uns das nur zum Zeitvertreibe erzählt; denn, wenn es wahr wäre, wie lange hätten wir beyde, Du und ich, nicht schon andre als diese ärgerlichen Gänsefedern, womit wir so leidig zu einander kommen.« Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Briefsammlung

»Ihrer medialen Form nach legt Schriftlichkeit die Körper darauf fest, absent zu sein. Sie aktiviert die Aufteilung des Menschen zwischen Geist und Körper, die in den Zeiten Platons gemeinsam mit der Durchsetzung des Alphabets entstand, indem sie den Körper aus dem Spiel nimmt und den Geist verkehren läßt. Mit einem Wort: Schrift funktioniert – was immer Derrida sagt [...] – platonisch.« Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr

DANKSAGUNG

Die Anregung zu der Beschäftigung mit dem Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis geht auf den Medizinhistoriker Prof. Alfons Labisch zurück. Ebenso wie der Philosoph Prof. Rudolf Heinz hat er die Arbeit über viele Jahre begleitet. Sie gaben mir wertvolle Hinweise, gewährten mir den gewünschten Freiraum und waren doch immer zu einem Gespräch bereit. Für diese Unterstützung und ihr nie nachlassendes Interesse möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Vorbildlich war und ist für mich die beide auszeichnende intellektuelle Offenheit. Ein weiterer Dank geht an meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die in einer angenehmen, freundschaftlichen, in der Sache engagierten und offenen Atmosphäre Aspekte der Arbeit mit mir diskutiert haben. Mein besonderer Dank gilt dabei jenen, die darüber hinaus Teile davon Korrektur gelesen haben. Niemals genug danken können werde ich Dr. Fritz Dross, der in der größten Not einfach da war und half. Herrn Prof. Walter Jaeschke, Leiter des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum und Herausgeber der Werke wie auch des Briefwechsels Friedrich Heinrich Jacobis, danke ich für mannigfache Diskussionen – insbesondere zum Begriff der Säkularisierung – sowie für Hinweise, Kritik, Anregungen und Fürsprache. Danken möchte ich ferner Gudrun Schury, M. A., langjährige Mitarbeiterin an der Jacobi-Forschungsstelle, die mich besonders zu Beginn meiner Recherchen – bei der Zusammenstellung des Quellenmaterials, der Korrektur von Transkriptionen und der Datierung von Briefen – sehr unterstützte. Großer Dank gebührt schließlich auch PD Dr. Cornelia Ortlieb für ihr Interesse, ihre Fürsprache und ihre Anregungen. Der »Heimatverein ›Düsseldorfer Jonges‹« hat die Arbeit im Jahre 2005 mit dem »Preis zur Förderung wissenschaftlicher Studien über Düsseldorf« ausgezeichnet. Ohne diesen und die großzügige finanzielle Hilfe der Baumgart-Stiftung (München) hätte die Arbeit in dieser Form nicht erscheinen können. Für die Unterstützung und für die damit dokumentierte Auszeichnung bin ich beiden Stiftern überaus dankbar. Eine besondere Ehre und Freude ist es mir auch, in die Schriftenreihe Studien zum achtzehnten Jahrhundert aufgenommen worden zu sein, wofür ich der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts und dem Felix Meiner Verlag sehr danke.

SIGLEN

AB

Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. Hg. v. Friedrich Roth. 2 Bde. Leipzig 1825–1827

Hamann

Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden u. Frankfurt a. M. 1955–1979

JBW

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Begr. v. Michael Brüggen u. Siegfried Sudhof. Hg. v. Michael Brüggen, Heinz Gockel u. Peter-Paul Schneider bzw. v. Walter Jaeschke (ab 2003). Bisher 8 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981–2006

JWA

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. 7 Bde. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998–2007 (Die Kommentare zu den Bänden 4 bis 7 sind noch nicht publiziert.)

PLS

Walter Jaeschke (Hg.): Philosophisch-literarische Streitsachen. 4 Doppelbde. Hamburg 1990–1995

WW

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. v. Friedrich Roth u. Friedrich Köppen. 6 Bde. Darmstadt 1968 (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1812–25)

Zoeppritz

Aus F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz. Hg. v. Rudolf Zoeppritz. 2 Bde. Leipzig 1869

I. PRÄLUDIUM

1. Das Vorhaben – eine Übersicht Wie ist d er Düsseldorfer Philosoph und Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext seiner Zeit – genauer: in der Phase der Hoch- und Spätaufklärung – zu positionieren? Diese Frage wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert, insofern Jacobi teils zum »Gegenaufklärer« stilisiert, teils als Aufklärer dargestellt wird. Ähnlich umstritten ist auch seine Zugehörigkeit zu Empfindsamkeit und Sturm und Drang: Den einen gilt er als nachhaltiger Kritiker jener Tendenzen, den anderen als ihr exemplarischer Vertreter. Zur Klärung der strittigen Positionierung Jacobis ist eine umfassende Analyse des Briefwechsels, der aufgrund seines Umfangs sowie der Vielzahl und Bedeutung der Korrespondenzpartner hervorragenden Einblick in die Diskussionen der Aufklärungszeit gewährt, bisher unterblieben. Der konsequente Zugang über den Briefwechsel soll eine neue Sichtweise Friedrich Heinrich Jacobis ermöglichen, die zudem durch neuere Tendenzen der Aufklärungsforschung, insbesondere durch jene zur Empfindsamkeit, nahegelegt wird. Dabei wird eine disziplinenübergreifende, tendenziell die gesamte Kulturgeschichte der Aufklärung in den Blick nehmende Untersuchung angestrebt. Als Leitfaden der Arbeit dienen fünf Begriffe, die nach Hartmut und Gernot Böhme das »Andere der Vernunft« bezeichnen: Gefühl, Begehren, Leib, Natur und Phantasie. Dieses Begriffsraster, das wie ein Netz über dem Briefwechsel ausgeworfen wird, um den Diskurs der Zeit einzufangen und gleichzeitig zu systematisieren, gewährt einen exzellenten Zugang zu den in der Spätaufklärung verhandelten Themen und Problembeständen. Ausgehend von dem Leitfaden des »Anderen der Vernunft« gliedert sich die Arbeit in fünf Hauptkapitel. Jedes Kapitel ist einem der zentralen Begriffe und seinem semantischen Umfeld gewidmet und geht zunächst von seinem konkreten Gebrauch in der Quelle aus, um ein möglichst umfassendes Bild der mit ihm verbundenen Bedeutungsdimensionen und Diskussionslagen zu entwerfen. Jeweils im Ausgang von einer solchen detailgenauen Analyse wird dann einem oder mehreren Aspekten, die für das Wirken Jacobis ebenso repräsentativ sind wie für die zeitbestimmenden Diskussionen im allgemeinen, eine ausführliche Darstellung zuteil. Im einzelnen handelt es sich dabei um den Freundschaftskult (Gefühl), die aufklärerische Pädagogik als Teil einer bürgerlichen Disziplinierungsgeschichte (Begehren), die Hypochondrie als Modekrankheit der Aufklärungszeit (Leib), Naturkult und Pantheismus (Natur) sowie die Schwärmerdebatte (Phantasie). In der Vielzahl dieser kulturellen Manifestationen zeigt sich, soviel sei hier schon vorweggenommen, ein gemeinsames Moment: Die durch den Fokus des Briefwech-

2

I. Präludium

sels freigelegte Ansicht des Zeitgeschehens – wie auch des Lebens und Werkes von Jacobi – läßt sich in allen Einzelaspekten begreifen als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses. Säkularisierung ereignet sich in zwei grundlegenden und miteinander verbundenen Dimensionen: einerseits als Absage an und Entfernung vom Christlichen / Religiösen als einer außerweltlichen Transzendenz, andererseits als Eingehen des Christlichen / Religiösen ins Weltliche, d. h. als Sakralisierung des Diesseits. Beide Momente prägen nachhaltig die Hoch- und Spätphase der deutschen Aufklärung, die zusammenfällt mit dem durch den Düsseldorfer Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis zugänglichen Zeitraum. Diese keineswegs neuartige Sicht des 18. Jahrhunderts, die sich durch das imponierende Phänomen sprachlicher Säkularisierung machtvoll aufdrängt, soll hier allerdings in spezifischer Weise akzentuiert werden. Das sich mit der Aufklärung vollziehende – und im Briefwechsel Jacobis offenkundig werdende – Säkularisierungsgeschehen wird genauer gefaßt als Immanent-Werden der Gottesposition und als zunehmende innerweltliche Einlösung der religiösen Heilsversprechen. Die zentralen Heilsversprechen des Christentums sind die Auferstehung und die Vergebung der Sünden, d. h. die Erlösung von Sterblichkeit und Schuld. Das Begehren nach Überwindung von Sterblichkeit / Endlichkeit – und damit zugleich: von Schuld – fungiert hier ferner als anthropologische Grundkategorie. Der Mensch wird wesensmäßig verstanden als ein Mangelwesen, das auf – und zwar vollkommene – Abschaffung des Mangels zielt. Das letzte Ziel kommt daher einer Absolutheitsposition gleich. War das Absolutheitsphantasma einst durch die Position Gottes besetzt und im paradiesischen Himmel auch dem Menschen verheißen, so drängt es mit und seit der Aufklärung nach innerweltlicher Erfüllung und manifestiert sich nicht zuletzt in jenen kulturellen Konstrukten von Aufklärung und Empfindsamkeit – wie etwa Freundschafts- und Naturkult –, die auch für die moderne bürgerliche Gesellschaft bestimmend wurden, ja nachgerade deren Grundlage bilden. Besondere Aufmerksamkeit wird im Rahmen der Analyse dieser Transformationsprozesse und der sie vorantreibenden Phantasmen zudem den Formen medialer Repräsentation gewidmet, d. h. konkret: dem Faktum der ›Verschriftlichung der Kultur‹ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Es wird somit in dieser Arbeit darum gehen, ausgehend von dem Düsseldorfer Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis ein Bild der Aufklärungszeit zu eröffnen, die Spuren des Eingangs der Transzendenz in die Immanenz zu verfolgen und Jacobis Verhältnis zu und Auseinandersetzung mit diesem fulminanten Umbruch, in welchem die Fundamente der modernen Gesellschaft gelegt wurden, aufzuzeigen.

2. Ansatzpunkte

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2. Ansatzpunkte 2.1 Friedrich Heinrich Jacobi: Aufklärer oder Gegenaufklärer? Informiert man sich heute in Lexika und sonstigen Nachschlagewerken über die Person Friedrich Heinrich Jacobis oder findet ihn in der Forschungsliteratur en passant erwähnt, so wird er in der Regel als »Vertreter einer Gefühls- und Glaubensphilosophie«1 – bisweilen auch als »mystischer Philosoph«2 – vorgestellt, zu den »Schwärmer[n]«3 und »Irrationalisten«4 oder unter die »Gegenströmungen«5 zur Aufklärung gerechnet. Isaiah Berlin erklärte ihn gar zu einem der »führenden Köpfe« der »deutsche[n] Gegenaufklärung«.6 Diese Klassifikation des Düsseldorfer Schriftstellers und Philosophen, der unter anderem zwei Romane im empfindsamen Stil verfaßte, als Kant-Kritiker und als Initiator des Spinoza- oder Pantheismusstreites Bedeutung erlangte, ist keineswegs ein Spezifikum unserer Zeit, sondern setzt im Grunde nahtlos die Rezeption schon seiner Zeitgenossen fort, allem voran diejenige der einflußreichen Berliner Aufklärer, denen der »GeheimRath zu Pimplendorf«7 als Vernunftverächter und Feind der Aufklärung galt. Tatsächlich finden sich in Jacobis Werk nicht wenige Passagen, die – meist in Gestalt einer überspitzten Polemik gegen 1

Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973–1997, hier Bd. 8/2, S. 864 sowie Wilhelm Schmidt-Biggemann: Schwärmer / Schwarmgeister. In: Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S. 373–375, hier S. 375. Diese Kennzeichnung Jacobis ist nachgerade traditionell zu nennen; vgl. etwa Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle a. d. S. 1928, S. 325. Der Titel »Glaubensphilosoph« wird dabei nicht selten im Sinne einer Verteidigung des positiven Christentums verstanden. Vgl. hierzu noch Samuel Thomas Soemmerring: Werke. Begr. v. Gunter Mann. Hg. v. Jost Benedum u. Werner Friedrich Kümmel. 23 Bde. Stuttgart u. a. 1990–2004 (Stand: Okt. 2007), hier Bd. 19/I, S. 227. 2 Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806. Berlin 1973, S. 257 u. 830. – Kritisch setzt sich Baum mit dieser, in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte Jacobis wiederholt verwendeten Kennzeichnung auseinander. Vgl. Günther Baum: Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis. Bonn 1969 (= Mainzer philosophische Forschungen; Bd. 9), S. 136–144. 3 Schmidt-Biggemann: Schwärmer / Schwarmgeister, S. 375. 4 Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (= Sammlung Metzler; Bd. 260), S. 134. 5 Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit. Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg 1967 (= Geschichte der Philosophie; Bd. 5), S. 117 f. 6 Isaiah Berlin: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Aus d. Engl. v. Johannes Fritsche. Hg. v. Henry Hardy. Mit e. Einf. v. Roger Hausheer. Frankfurt a.M. 1982 (= Europäische Bibliothek; Bd. 10), S. 239. 7 Brief von Marcus Herz an Immanuel Kant vom 27.2.1786 (Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 29 Bde. Berlin 1900–1997 [Stand: Okt. 2007], hier: Bd. X, S. 409). – Wirkungsmächtig war überdies Hegels Jacobi-Kritik in der Schrift Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie.

4

I. Präludium

den Vernunftenthusiasmus seiner Zeit – kaum einen Zweifel zu ermöglichen scheinen an seinem irrationalistischen, gegenaufklärerischen Impetus.8 Auch ein Vergleich der Jacobischen Positionen mit Grundpositionen der Gegenaufklärung läßt auf den ersten Blick einige Übereinstimmungen sichtbar werden.9 So verwundert es denn auch nicht, daß sich diese Sicht Jacobis als dominanter Zug der Rezeptionsgeschichte bis heute erhalten hat. Sie ist selbst dort noch wirksam, wo Jacobi positiv beurteilt wird, ja gewissermaßen eine Renaissance erlebte, nämlich im Rahmen lebens- und existenzphilosophischer Ansätze:10 Seine Kritik des »kalten« Verstandes und die behauptete Verwurzelung des Menschen in etwas rational nicht Faßbarem wurden hier zwar begrüßt – der Gegensatz zu Vernunft und Aufklärung aber blieb.11 In der neueren Jacobi-Forschung, die ich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – genauer: mit der Publikation der Briefe an seinen Amsterdamer Buchhändler Marc Michel Rey durch De Booy und Mortier, die nachdrücklich Jacobis aufklärerischen

8 Man vgl. etwa Friedrich Heinrich Jacobi: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. In: Deutsches Museum (1788), 1. Bd., S. 153– 184, bes. S. 181; vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Kleine Schriften II: 1787–1819. Hg. v. Catia Goretzki u. Walter Jaeschke. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 5), S. 105–131 [im folgenden JWA 5 mit Seitenzahl], hier JWA 5,1, 129. 9 Vgl. Wolfgang Albrecht u. Christoph Weiß: Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung? In: Christoph Weiß (Hg.): Von ›Obscuranten‹ und ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. v. Christoph Weiß in Zusammenarb. mit Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997 (= Literatur im historischen Kontext; Bd. 1), S. 7–34. 10 Zu nennen wäre hier in erster Linie Otto Friedrich Bollnow: Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis. Stuttgart 1933 (= Göttinger Forschungen, Geisteswiss. Sammlung; Bd. 2); in 2. Aufl. (= Nachdruck der Ausgabe von 1933) Stuttgart 1966 erschienen. Zur Kritik Bollnows vgl. vor allem Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 4 f. Dort heißt es unter anderem: »Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erörterungen Jacobis werden zwar von Bollnow diskutiert, aber nicht in dem Sinne, daß von dem Eigenwert und dem rationalen Gehalt dieser Gedankengänge etwas sichtbar würde, denn dies wird ja gerade durch die Auffassung der Jacobischen Lehre als einer Lebensphilosophie unmöglich gemacht« (ebd., S. 5; vgl. auch S. 7–9 sowie S. 134–136). – Anders als Baum hält Klaus Hammacher an der zentralen Bedeutung des Lebensbegriffs für Jacobis Philosophie fest. Vgl. hierzu dessen Rezension zu Baum in: Zeitschrift für philosophische Forschung 24 (1970), S. 625– 633, hier S. 632. Ausgeführt ist dies in: Klaus Hammacher: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969 (= Kritik und Leben; Bd. 2), bes. Kap. 2. Homann reiht Hammacher vermutlich nicht zuletzt deshalb auch noch unter den »lebensphilosophischen« »Typus von Jacobi-Deutung« ein, den er – ähnlich wie Baum – als dominierend ansieht. Vgl. Karl Homann: F. H. Jacobis Philosophie der Freiheit. Freiburg u. a. 1973 (= Symposion; Bd. 43), S. 16. – Eine nachdrückliche Verteidigung Bollnows nimmt Kahlefeld vor, wobei diese Parteinahme sich allerdings nicht nahtlos in die weiteren Positionen ihres Buches fügt. Vgl. Susanna Kahlefeld: Dialektik und Sprung in Jacobis Philosophie. Würzburg 2000 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie; Bd. 282), S. 20. 11 Vgl. Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 8.

2. Ansatzpunkte

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Zug betonen12 – beginnen lassen möchte,13 zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite findet man Jacobis Leistungen im Rahmen der Herausbildung einer nachaufklärerischen Philosophie, insbesondere seine Rolle als Impulsgeber für den sogenannten »Deutschen Idealismus«,14 zwar explizit gewürdigt, ihn selbst aber nach wie vor als »genuin irrationalist«15 qualifiziert oder einer »anti-rationalen Stoßrichtung«16 überführt. 12

Hammacher bezieht sich zustimmend auf Mortier: »R. Mortier hat in der Introduction zu den Lettres inédites richtig festgestellt (p. 20): ›une importante fraction de la critique allemande a donné trop longtemps une image simplifiée et tendancieuse [sic; C.G.] de la pensée religieuse de Jacobi en voulant voir en lui un précurseur de l’irrationalisme mystique romantique (…)‹, und stellt abschließend fest (p. 41): ›Il est donc faux (…) de tenir Jacobi pour un penseur mystico-religieux, pour un ennemi irréductible de l’Aufklärung. Sa position est nuancée, intermédiaire et se refuse aux classifications tranchées‹.« (J. Th. De Booy u. Roland Mortier [Hg.]: Lettres inédites de F. H. Jacobi. Genf 1966 [= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century; Bd. XLV]; zit. nach Klaus Hammacher: Ein bemerkenswerter Einfluß französischen Denkens. Friedrich Heinrich Jacobis [1743–1819] Auseinandersetzung mit Voltaire und Rousseau. In: Revue internationale de philosophie 32 [1978], Heft 2–3 [= Rousseau et Voltaire 1778–1978], S. 327–347, hier S. 336, Fn. 46. Die zitierten Passagen wurden von mir überprüft.). – Auch die Arbeit von Valerio Verra: F. H. Jacobi. Dall’illuminismo all’idealismo. Turin 1963, ist wohl schon dieser neueren Forschung zuzurechnen. Interessant ist, daß somit die entscheidenden Schritte in Richtung auf eine neue Sicht Jacobis zunächst im romanischen Raum gegangen wurden. Die Gründe hierfür mögen darin liegen, daß in der deutschen Forschung im Rahmen lebensphilosophischer und nationalistischer Strömungen die Aufklärung mit dem französischen Materialismus identifiziert und der »Deutschen Bewegung« (so Nohls Begriffsprägung im Anschluß an Dilthey) gegenübergestellt wurde. 13 Einen sehr guten und umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur vor dieser Zeit geben Baum: Vernunft und Erkenntnis und Homann: Jacobis Philosophie. 14 Vgl. Verra: F. H. Jacobi, vor allem S. 231 ff.; Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Frankfurt a. M. 1971 (= Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts; Bd. 11) (einen Überblick über die Beiträge dieses Tagungsbandes gibt Gerhard Höhn: Ein neues Jacobi-Bild. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 24 [1970], S. 136–140); Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, Mass. u. a. 1987; Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1991 und Dieter Henrich: The Origins of the Theory of the Subject. In: Axel Honneth u. a. (Hg.): Philosophical Interventions in the Unfinished Project of Enlightenment. Cambridge, Mass. u. a. 1992, S. 29–87. Diese Vorreiterrolle Jacobis wurde im übrigen schon von Schelling und Hegel anerkannt; vgl. hierzu Homann: Jacobis Philosophie, S. 221 (Schelling), 232 (Hegel) u. 233 (zusammenfassend): »Damit ist [von Hegel; C.G.] Jacobis Denken wie bei Schelling als Vorstufe der idealistischen Philosophie begriffen«. – Inwiefern Jacobi, wenn er ausschließlich unter dem Blickwinkel seiner Vorläuferschaft für die spekulativen Systeme um 1800 betrachtet wird, Mißdeutungen ausgesetzt ist, hat Kahlefeld am Beispiel der Interpretation von Dieter Henrich unter dem Titel »Das produktive Mißverständnis« dargestellt (Kahlefeld: Dialektik und Sprung, S. 24–27). Vgl. hierzu auch Andreas Lindner: Gefühl und Begriff. Zum Verhältnis Jacobi – Kant. Internet-Publikation unter http://www.diss.fu-berlin.de/2005/106/ index.html, S. 16 f. 15 Beiser: Fate of Reason, S. 47: »It was Jacobi, and not Hamann, who was the genuine irrationalist«. 16 Horstmann: Grenzen der Vernunft, S. 64.

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I. Präludium

Auf der anderen Seite stehen Versuche, Jacobis Konzeption einer »anderen« Vernunft ernstzunehmen und aus dem Dickicht seines teils dialogischen, teils polemischen, letztlich auch eklektischen Stils17 systematisch zu entwickeln. Zu nennen wären hier etwa die Monographien von Klaus Hammacher,18 Günther Baum, Kurt Christ und Birgit Sandkaulen. Gemeinsam ist ihnen die Zurückweisung zweier dominanter Thesen der Rezeptionsgeschichte Jacobis: Die erste besagt, daß Jacobis Philosophie irrational sei, die zweite, daß er Zuflucht im Glauben – im Sinne eines positiv verstandenen Christentums – gesucht und gefunden hätte.19 Auch argumentativ setzen etwa Christ und Sandkaulen an derselben Stelle an, nämlich bei der von Jacobi explizit vorgenommenen Trennung von »adjektiver« und »substantiver« Vernunft oder – wie Jacobi gegen Ende seines Lebens definieren sollte – von »Verstand« und »Vernunft«, wobei wiederum Übereinkunft darin besteht, daß die Grenze zwischen jenen beiden nicht gesetzt, sondern – wie Jacobi auch selbst behauptet20 – gefunden werden muß. Was genau allerdings und auf welchem Wege gefunden werden soll, darin gehen Christ und Sandkaulen dann doch ganz erheblich auseinander. Im Rahmen dieser – teils vorzüglichen, ja herausragenden Forschungen21 – werden Rationalität und Rationalitätskritik Jacobis dargestellt und verteidigt. Auch Susanna Kahlefeld 17

Vgl. Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 1 f. Vgl. z. B. Hammacher: Philosophie Jacobis, S. 96, wo ausdrücklich auf Jacobis Unterscheidung zweier Vernunftarten hingewiesen ist. 19 Vgl. etwa Baum: Vernunft und Erkenntnis S. 9: »Doch gerade die folgenden Untersuchungen haben es sich zur Aufgabe gemacht, zu zeigen, daß Jacobi – weit davon entfernt, in einem bloßen Irrationalismus stecken zu bleiben – das Problem der Vernunft zum Leitbegriff seines Denkens erhoben hat. Nicht ein subjektives Gefühl, kein bloßer Mystizismus, sondern allgemein geltende Vernunfterkenntnis ist nach Jacobis Auffassung das Wesen wahrer Philosophie.« Baum unterscheidet im übrigen drei »Spielarten« der Irrationalismus-These: Lebensphilosophie, Mystizismus und mystischer Platonismus (ebd., S. 144). Zu Jacobis Distanz zum Christentum vgl. ebd., S. 184 ff. – Vgl. auch Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988, S. 164 sowie Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 60 f., 75, 143, Fn. 18 u. ö. In seinem Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Michael Brüggen über Jacobi, Schelling und Hegel weist überdies Klaus Hammacher ganz entschieden die Behauptung zurück, Jacobi sei es um eine »positive Offenbarungs- und Glaubensphilosophie« gegangen (Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 235). – Vgl. im übrigen auch Wolfgang Proß: Das »Notwendige« und das »Überflüssige« – Herders und Jacobis Auffassung des Organischen. In: Gerhard Kurz (Hg.): Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (1750–1850). Düsseldorf 1984, S. 155–170, hier S. 168: Jacobis und Herders philosophische Ansätze verdienten »eine gerechtere Würdigung […] als diejenige, die ihnen außerhalb von Fachzirkeln zukommt, nämlich als zwei Formen von Irrationalismus«. 20 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit. Hg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 1) [im folgenden JWA 1 mit Seitenzahl], hier JWA 1,1, 29. 21 Dies gilt insbesondere für die Arbeit von Birgit Sandkaulen. Vgl. zu dieser auch unten das Kapitel V.4.1. 18

2. Ansatzpunkte

7

hat sich dies zur Aufgabe gewählt.22 Jacobi ist danach kein Kritiker aller Vernunft, sondern lediglich Kritiker einer die Grenze ihres Geltungsbereiches überschreitenden, zudem einer ihrer eigenen Grundlagen nicht bewußten Vernunft, die genau deshalb ständig bedroht ist, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Problematik der Position Jacobis aber persistiert – nicht zuletzt deshalb, weil fraglich bleiben muß, ob der Begriff »Vernunft« für dasjenige wirklich angemessen ist, was als »Jacobis Gegenkonzeption« jeweils zutage gefördert wird.23 Zudem geht es in den genannten Arbeiten vornehmlich um eine Darstellung der philosophischen Position Jacobis und nicht um dessen kulturgeschichtliche Einordnung. Die historische Dimension ist somit allenfalls thematisch im Rahmen der Untersuchung philosophiegeschichtlicher Einflüsse oder der Auseinandersetzung Jacobis mit bestimmten Positionen der vergangenen und der zeitgenössischen Philosophie24 – mithin in einer strikt innerphilosophischen Perspektive – oder im Kontext der genauen Rekonstruktion konkreter historischer Ereignisse wie etwa des Spinozastreits.25 Für das Verhältnis Jacobis zu seiner Zeit ist allerdings von Bedeutung, daß innerhalb dieser Forschungen nicht zuletzt der für Jacobi unverzichtbare Rückgang auf jene »andere« Vernunft – auch und gerade im religiösen Kontext – als Beleg dafür gewertet wird, daß er ein »Sohn der Aufklärung« sei.26 Fokussiert man die

22

Vgl. Kahlefeld: Dialektik und Sprung. Vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn, S. 175–179. Vgl. auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 131 f. – In Anlehnung an den Aufsatz von Birgit Sandkaulen »Oder hat Vernunft den Menschen?« Zur Vernunft des Gefühls bei Jacobi (Zeitschrift für philosophische Forschung 49 [1995], S. 416–429) ließe sich kritisch rückfragen: Wie vernünftig ist das Gefühl bei Jacobi wirklich? – Die Kritik, die Klaus Düsing in seiner Besprechung des Jacobi-Buches von Günther Baum zu entsprechendem Sachverhalt anmeldet (Philosophische Rundschau 18 [1972], S. 105–116, hier S. 114 f.), ließe sich – mutatis mutandis – im Hinblick auf die Thesen von Sandkaulen aktualisieren. 24 Baum: Vernunft und Erkenntnis, spürt etwa den Einflüssen der Philosophie Bonnets, Berkeleys, Humes und Reids auf Jacobis erkenntnistheoretische Position sowie dem Einfluß der »moral sense«-Theorie, vornehmlich in der Fassung Hutchesons, auf Jacobis Ethik nach; vgl. auch die zusammenfassende Aufzählung der »wesentlichsten Einflüsse auf seine philosophische Entwicklung« ebd., S. 147. Klaus Hammacher sieht im Gegensatz zu Baum weniger ein Beeinflussungsverhältnis als eine »weitgehende sachliche Übereinstimmung«, wobei es allerdings auch diese hier und da zu differenzieren gelte (Hammacher: Rezension zu Günther Baum, S. 627; vgl. auch S. 629). Ganz ähnlich äußert sich auch Klaus Düsing in seiner Besprechung des Buches von Baum (Düsing: Rezension zu Günther Baum, S. 106–108 u. 115). – Hammacher stellt zum einen die Einflüsse von s’Gravesande, Hemsterhuis und Kant (Hammacher: Philosophie Jacobis), zum anderen diejenigen von Voltaire und Rousseau (Hammacher: Einfluß französischen Denkens) besonders heraus. – Eine umfangreiche Monographie zum Einfluß Rousseaus auf Jacobi hat Christ vorgelegt (vgl. Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998). 25 Vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn. 26 Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 189. Inhaltlich bezieht sich Baum hier darauf, daß auch Jacobi den Offenbarungsglauben dem kritischen Urteil der Vernunft unterwirft. Zur »Säkularisie23

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I. Präludium

Philosophie, so erweist sich Jacobi tatsächlich in einer zweifachen Weise mit der Aufklärung verknüpft: als vehementer Rationalitätskritiker, dessen Kritik aber im Namen vernünftiger Einsicht selber erhoben wird. Allgemein läßt sich mit Sandkaulen festhalten, daß Jacobi den »Feind« der Aufklärung in ihrem eigenen Inneren aufdeckt. Somit käme Jacobi nicht auf der Seite der »Gegen-Aufklärung«, sondern auf der Seite einer »andere[n] Aufklärung« zu stehen.27 Faßt man die Aufklärungsbewegung unter dem Aspekt ihrer emanzipatorischen Bestrebungen, so rückt zudem im Rahmen des Versuchs, Jacobi im Kontext seiner Zeit zu situieren, das Thema Freiheit in den Blick, das Jacobi mehrfach als das wichtigste Anliegen seiner Philosophie bezeichnet hat.28 Die Freiheit wurde denn auch in der Jacobi-Forschung als zentrales Moment sowohl der Rationalität als auch der Rationalitätskritik Jacobis gesehen.29 Unter dem Leitgedanken der Freiheit stehen ebenfalls die Darstellungen zur spezifisch progressiven (= bürgerlich-liberalen) Konzeption der (wirtschafts-)politischen Schriften Jacobis.30 Freiheit wurde darüber hinaus zum Leitfaden einer Zuordnung Jacobis zu seiner Zeit. Bei Karl Homann bilden die

rung« christlichen Glaubens in Jacobis Philosophie vgl. etwa Bollnow: Lebensphilosophie Jacobis, S. 107 f. sowie Marco M. Olivetti: Der Einfluß Hamanns auf die Religionsphilosophie Jacobis. In: Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi (1971), S. 85–112, hier S. 88 (auch Fn. 9), 97 u. 107. – Im Zusammenhang der Analyse des Einflusses der französischen Aufklärungsphilosophie auf Jacobi hält Straetmans-Benl fest: »Die Begegnung mit dem französischen Materialismus macht Jacobi für immer zum Aufklärer, aber zu einem unglücklichen.« (Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 12 [1977], S. 137–174, hier S. 152.) – Aus marxistischer Perspektive unterscheidet Liepert eine aufklärungsadäquate und eine irrationalistische Seite an Jacobi. Vgl. Anita Liepert: Warum muß es Jacobi sein? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 9 (1972), S. 1154–1161. 27 Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 135. – Vgl. dagegen Christ, der Jacobi »in einer Riege« mit Lavater und Hamann der »Gegenaufklärung« zurechnet, was in einem gewissen Gegensatz zu seiner Betonung der Vernunftkonzeption Jacobis steht (vgl. Kurt Christ: Johann Georg Hamann [1730– 1788]. Eine Portraitskizze nach hypochondrischen Briefen. In: Renate Knoll [Hg.]: Johann Georg Hamann 1730–1788. Quellen und Forschungen. Katalog zu den Ausstellungen von Universitätsbibliotheken anläßlich des 200. Todestages von Hamann und des Fünften internationalen HamannColloquiums in Münster. Bonn 1988 [= Schriften der Universitätsbibliothek Münster; Bd. 3], S. 233– 276, hier S. 253). 28 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 57 sowie die bei Homann: Jacobis Philosophie, S. 180 f. angeführten Stellen. 29 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, aber auch Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 143 u. 181 sowie Kahlefeld: Dialektik und Sprung, S. 16 f. 30 Vgl. Frederick C. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism. The Genesis of Modern German Political Thought. Cambridge, Mass. u. a. 1992; Klaus Hammacher u. Hans Hirsch: Die Wirtschaftspolitik des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi. Amsterdam u. a. 1993 (= FichteStudien-Supplementa; Bd. 1) und Ralf Hillemacher: Die wirtschaftstheoretischen Anschauungen Friedrich Heinrich Jacobis. Thun u. a. 1993 (= Reihe Wirtschaftswissenschaften; Bd. 377).

2. Ansatzpunkte

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»Leitbegriffe« Freiheit, Geschichte und Subjektivität den Rahmen für eine Untersuchung der zeitkritischen Schriften Jacobis und einer Darstellung seiner »Glaubensphilosophie«, wobei auch bei dieser, so Homann, das Verhältnis von Religionsphilosophie und Zeitkritik im Brennpunkt stehen sollte.31 Die erstmals genaue Untersuchung der bislang vernachlässigten politischen Texte sowie eine umfassende Darstellung der Wirkungs- und Forschungsgeschichte Jacobis machen diese Arbeit zu einer wichtigen Grundlage für die Jacobi-Forschung.32 Für das hier zu verhandelnde Thema muß allerdings einschränkend geltend gemacht werden, daß der gewählte Leitfaden keineswegs so stringent durchgehalten ist, wie Homann intendierte. Zudem fokussiert auch er vornehmlich die Philosophie Jacobis: Mit der Einordnung in die Epoche ist also wiederum vor allem eine philosophiehistorische Zuordnung gemeint.33 Auch in Hermann Timms dickleibigem Werk über Gott und die Freiheit wird, wie schon im Titel angezeigt, Freiheit zu einem der Leitbegriffe der Darstellung. Im Zentrum steht hier die Frage nach Jacobis Rolle im Kontext der bedeutenden religionsphilosophischen Erörterungen der Zeit.34 An diese Arbeiten wird anzuknüpfen sein, wobei allerdings durch die hier zugrundegelegte spezifische Auffassung des Zeitgeschehens als eines »schwindenden Jenseits der Götter«35 – also mit besonderem Nachdruck nicht nur (wie üblich) auf dem Übergang von der Transzendenz in die Immanenz, sondern auf dem Eingang der ehemals transzendenten Gottesposition in die Immanenz – auch das Freiheitsmoment eine neue Deutung erfahren wird. Verfolgt man die Frage nach der Einordnung Jacobis in seine Zeit über die skizzierten philosophiehistorischen Forschungen hinaus, so trifft man auf ein vergleichbares Phänomen, denn ähnlich ambivalent, ja widersprüchlich, präsentiert sich die Rezeptionsgeschichte Jacobis unter literaturgeschichtlichen Aspekten: Teils wird

31

Vgl. Homann: Jacobis Philosophie, etwa S. 17, 19 u. 134. Homann unternimmt in seinem Buch eine Generalabrechnung mit der bis dato existierenden Jacobi-Forschung, insofern er deren Jacobi-Deutung als »privatistisch« bezeichnet (ebd., S. 207–223 u. S. 246; zur Definition von »privatistisch« vgl. ebd., S. 206). Als Ausnahmen läßt er einzig Hegel und seine direkten Nachfolger gelten. Der Impetus Homanns wird bereits in seiner Einleitung deutlich: »Als Ergebnis wird sich herausstellen, daß Jacobi als Vertreter einer empfindsamen Seelenkultur, als moralisierender Gefühls- oder Glaubensphilosoph in einem Maße zeitgeschichtlich und damit auch politisch interessiert ist, wie es nach der vorliegenden Forschungsliteratur keineswegs zu vermuten steht.« (Ebd., S. 15.) Der das Werk durchziehende Gestus einer Verurteilung der gesamten bisherigen Jacobi-Forschung (etwa S. 16) wirkt allerdings überzogen, bisweilen auch abstoßend. 33 Vgl. beispielsweise ebd., S. 90 ff. 34 Vgl. Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974. 35 Rudolf Heinz: Vom schwindenden Jenseits der Götter. Programmatische Überlegungen zur Ontologie-Genealogie (1979). In: Ders.: Logik und Inzest. Revue der Pathognostik. 3 Bde. Wien 1997 (= Passagen Philosophie), hier: Bd. 1, S. 131–200. 32

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I. Präludium

Jacobi als Kritiker von Empfindsamkeit und Sturm und Drang dargestellt,36 teils gilt er als exemplarischer Vertreter dieser Richtungen.37 Während literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu den Romanen Jacobis von der Empfindsamkeit ausgehen,38 versuchen philosophische Darstellungen, ihn von der Empfindsamkeit ›reinzuhalten‹.39 Sofern auch diese die Empfindsamkeit zum Ausgangspunkt wählen, wird sie ineins mit Pietismus, englischem Sensualismus, Rousseauismus und Sturm und Drang zur »antirationalistischen Bewegung des Jahrhunderts« gerechnet, deren gemeinsames Merkmal ein mystisch-schwärmerischer Platonismus sei.40 Eine Ausnahme scheint die Dissertation von Friedrich Bechmann über die unterschiedlichen Fassungen und

36

Vgl. Klaus Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 10. Berlin 1974, S. 222–224, hier S. 222: »Sie [= Jacobis schriftstellerische Versuche] bedeuten schon in der Grundkonzeption […] eine tiefgreifende Kritik an der Empfindsamkeit und dem Geniekult der ›Sturm und Drang‹-Bewegung«. – Vgl. auch Friedrich Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt a. M. u. a. 1990 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 20, Philosophie; Bd. 301), S. 5 u. ö. 37 Vgl. Renate Knoll: Empfindsamkeit. In: Diether Krywalski (Hg.): Handlexikon zur Literaturwissenschaft. 2., durchges. Aufl. München 1974, S. 106–111, hier S. 110; Gerhard Sauder: »Bürgerliche« Empfindsamkeit? In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 7), S. 149–164, hier S. 149; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116 (Wegmann rechnet Jacobi unter die »Radikalempfindsamen«) und Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. I u. IV. – Vgl. auch Siegfried Blasche: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Mannheim u. a. 1984, S. 303 f., hier S. 303 sowie Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 168–171, der sich allerdings kritisch auf die ältere Jacobi-Literatur und vor allem auf deren These, daß Jacobi ein Dichter des Sturm und Drang sei, bezieht. 38 Vgl. Knoll: Empfindsamkeit; Friedrich Vollhardt: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Gunter E. Grimm (Hg.): Aufklärung und Empfindsamkeit. Stuttgart 1988 (= Deutsche Dichter; Bd. 3), S. 387– 396 und Stäcker: Aufruhr der Seele. Vgl. auch Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin u. a. 1995, S. 79–100. 39 Vgl. etwa Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 345 und Sandkaulen: Vernunft, S. 420 u. 422 f. – Vgl. auch Hammacher: Philosophie Jacobis, S. 156–158, wobei für Hammacher allerdings geltend gemacht werden muß, daß eine Auseinandersetzung mit neueren Tendenzen der Empfindsamkeitsforschung zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches auch noch nicht stattgefunden haben konnte. Zudem sieht Hammacher sehr deutlich die Ambivalenz von Kritik und eigener »Anfälligkeit« bei Jacobi; die Kritik Jacobis erscheint somit als Selbstkritik, was dem an die Untersuchungen von Sauder und Doktor anknüpfenden Empfindsamkeitsverständnis entgegenkommt. 40 Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 143; vgl. auch S. 150. – Als Ausnahme wäre hier Kahlefeld zu nennen, die sich allerdings merkwürdigerweise auf Timm und Gerhard Sauders revidiertes Empfindsamkeitsbild gleichermaßen bezieht, ohne doch die Diskrepanzen zu benennen (Kahlefeld: Dialektik und Sprung, S. 77–80).

2. Ansatzpunkte

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die Rezeption von Jacobis Roman Woldemar darzustellen.41 Doch kurioserweise bestätigt gerade sein interdisziplinärer Ansatz das Schema, da er für die – mehr literarische – Erstfassung des Romans noch den Einfluß von Empfindsamkeit und Genieästhetik gelten läßt, während die – um vielfältige philosophische Dialoge ergänzten – Spätfassungen in strikter – meines Erachtens zu strikter – Absetzung hiervon gesehen werden.42 Die widersprüchliche Wahrnehmung Jacobis hängt offenbar nicht zuletzt von einer sehr unterschiedlichen Wahrnehmung der Aufklärungszeit und ihrer Strömungen ab. Daher erscheint es ratsam, an diesem Punkt anzusetzen und die neueren Tendenzen der Aufklärungsforschung für den Blick auf Jacobi fruchtbar zu machen. Darüber hinaus gilt es, festgefahrene Disziplinengrenzen zu überschreiten, um eine breiter angelegte, kulturgeschichtliche Betrachtung zu ermöglichen. In diesem Sinne hatte Thomas P. Saine noch vor der großen Wende zur Kulturwissenschaft in einem programmatischen Aufsatz erklärt: »Wir meinen aber, daß neue, wichtige und weiterführende Ergebnisse gerade dann zu erwarten sind, wenn wir versuchen, das Zeitalter der Aufklärung nicht ausschließlich vom Gesichtspunkt der Literatur-, Philosophieoder Wissenschaftsgeschichte usw. zu betrachten, sondern Kulturgeschichte im weitesten Sinne treiben.«43

41

Vgl. Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹. Auch die Dissertation von Thomas Stäcker bewegt sich insofern in einem interdisziplinären Raum, als er sich anheischig macht, den Zusammenhang von Jacobis Romankonzeption und der Eigenart seines Philosophierens offenzulegen, wobei er von einer »dialektische[n] Einheit von Form und Inhalt« ausgeht (Stäcker: Aufruhr der Seele, S. III u. 279). Seine diesbezügliche Zusammenfassung ist aber nicht sehr überzeugend (etwa S. 274, 278 u. 281). Christs Diagnose, es komme in Jacobis Roman Woldemar »bis zuletzt nicht zu einer durchgängig ästhetisch befriedigenden Symbiose« zwischen dem Philosophen und dem Literaten (Christ: F. H. Jacobi, S. 317), scheint mir die Sache weit eher zu treffen. Vgl. auch die von Hammacher vorgenommene, sehr überzeugende Enthüllung eines verbleibenden Widerspruchs (vgl. Klaus Hammacher: Jacobis Romantheorie. In: Walter Jaeschke [Hg.]: Früher Idealismus und Frühromantik. Hamburg 1990 [= Philosophisch-literarische Streitsachen; Bd. 1] [im folgenden PLS 1 mit Seitenzahl], S. 174–189, hier S. 187–189). Zudem ist die Entwicklung der »philosophischen[n] Dimension« (Kap. 3.2), die Stäcker vornimmt, wenig mehr als eine Nacherzählung des Romans mit überdies fragwürdigen Zuordnungen der im Roman vertretenen Positionen zur Autorposition. 43 Thomas P. Saine: ›Was ist Aufklärung?‹ Kulturgeschichtliche Überlegungen zu neuer Beschäftigung mit der deutschen Aufklärung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 93 (1974), S. 522–545, hier S. 526. In diesem Zusammenhang macht Saine überdies auf die Briefwechsel »führender und einflußreicher Intellektueller« als bedeutende Quelle aufmerksam. – Vgl. auch Wolfgang Albrecht, der von »der deutschen Spätaufklärung als einer alle Lebensbereiche umgreifenden reformerischen Bewegung« spricht (Wolfgang Albrecht: Deutsche Spätaufklärung. Ein interdisziplinärer Forschungsbericht bis 1985. Halle a. d. S. 1987, S. 6). 42

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I. Präludium

2.2 Aufklärung und Empfindsamkeit Die frühere Aufklärungsforschung operierte sehr stark mit der Dichotomie von Rationalität und Irrationalität, Vernunft und Gefühl.44 Jene Tendenzen, die sich im zeitgenössischen Kontext explizit als Gegenbewegung zur vernunftorientierten (Früh-)Aufklärung herausbildeten, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, positionierte man – teils ohne Distanz zu den zeitgenössischen Schablonen – jenseits der Aufklärung.45 So wurde beispielsweise die Empfindsamkeit in der älteren Forschung nahezu ausschließlich als Gefühls- bzw. Innerlichkeitskult gesehen und als solcher der rationalen Aufklärung diametral entgegengesetzt. Dagegen betont die Aufklärungsforschung der letzten Jahrzehnte die »Vielgestaltigkeit des 18. Jahrhunderts«46 und bezieht bislang als »Gegenströmungen« gewertete Tendenzen wie Empfindsamkeit und Sturm und Drang in den Aufklärungsprozeß ein.47 »Überspitzt man nur ein klein wenig«, so ist etwa bei Carsten Zelle zu lesen, »und zieht seine schrillen Töne und seine rhapsodischen Formen ab, bleibt vom ›Sturm und Drang‹ nichts als Spätaufklärung übrig.«48 Für die Empfindsamkeitsforschung setzte diese neue Richtung mit 44

Vgl. Holger Dainat u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999 (= Beihefte zum Euphorion; Bd. 32), hierin vor allem Holger Dainat: Die wichtigste aller Epochen: Geistesgeschichtliche Aufklärungsforschung, S. 21–37, bes. S. 31–34. – Mit Blick auf die Empfindsamkeit hält Lothar Pikulik an dieser Dichotomie fest (vgl. Lothar Pikulik: Die Mündigkeit des Herzens. Über die Empfindsamkeit als Emanzipations- und Autonomiebewegung. In: Aufklärung 13 [2001], S. 9–31), indem er die Alterität des Gefühls und dessen Autonomisierung gegenüber der Ratio betont. Fraglos trifft Pikulik damit einen wesentlichen Aspekt des Aufklärungsdiskurses selber. 45 Auch Zelle kritisiert diese Übernahme der »Geste des ›großen Bruchs‹ aus der Selbstdarstellung der Sturm-und-Drang-Generation« (Carsten Zelle: Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung. Zum historischen Ort der Sturm-und-Drang-Ästhetik mit Blick auf Johann Georg Schlossers Versuch über das Erhabene von 1781 [mit einem unveröffentlichen Brief Schlossers im Anhang]. In: LenzJahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 6 [1996], S. 160–181, hier S. 166). 46 Dirk Hempel: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Staatsmann und politischer Schriftsteller. Weimar u. a. 1997 (= Kontext; Bd. 3), S. 7; vgl. auch Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 166, mit Verweis auf Kondylis. 47 Vgl. zusammenfassend und mit den entsprechenden Literaturhinweisen Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart u. a. 1996 (= Lehrbuch Germanistik), S. 58 f.; Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 164–166 sowie Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart u. a. 1995 (= Germanistische Studien; Bd. 77), S. 224–227. Vgl. auch Hans Erich Bödeker u. Ulrich Herrmann (Hg.): Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Göttingen 1987, S. 10. – Zum mit solchen Indifferenzierungen verbundenen Problem der Auflösung des Aufklärungsbegriffs vgl. Martin Fontius: Zur Lage der Aufklärungsforschung im vereinten Deutschland. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 19 (1995), S. 193–205, hier S. 201–204. Möglicherweise als Reaktion auf diese Problemlage tendieren neuere Forschungen auch wieder vermehrt zu Differenzierungen, die allerdings immer die Gefahr des Rückfalls in alte Kategorien mit sich führen (vgl. Alt: Aufklärung, S. 59). 48 Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 166. In diesem Sinne äußert sich auch Roland Krebs

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Gerhard Sauders umfangreichem und inzwischen zum »Klassiker« avanciertem Buch über die Empfindsamkeit ein.49 Aufgrund ihrer grundlegenden Bedeutung sowohl für die Forschung als auch für die weitere Darstellung sollen seine Thesen hier ausführlicher präsentiert werden. Sauder weist in seiner Studie vor allem zwei Klischees der deutschen Empfindsamkeitsforschung zurück: zum einen die These von der gegenaufklärerischen, anti-rationalistischen Ausrichtung der Empfindsamkeit, zum zweiten die Auffassung, daß Empfindsamkeit säkularisierter Pietismus – und zwar vor allem oder gar ausschließlich dies – sei. Beide Thesen hatten das Bild der Empfindsamkeit als eines Gefühlskults, eines Kults der Innerlichkeit, entscheidend geprägt. Entsprechend wurde sie – soweit überhaupt gewürdigt – in der bürgerlichen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als tatenlos und auf die Vereinzelung des Menschen abzielend verworfen. Auch in der marxistischen Geschichtsschreibung wurde die Empfindsamkeit als Flucht des deutschen Bürgers in die Innerlichkeit (»Eskapismusthese«50) verstanden und somit als reaktionär verurteilt. Dagegen erfuhr die Empfindsamkeit – hierin der Jacobi-Forschung unmittelbar verwandt – innerhalb lebensphilosophischer Strömungen und nationalistischer Tendenzen eine erhebliche Aufwertung, insofern die sie kennzeichnende Gefühls- und Seelenkultur als dem »kalten« Rationalismus der »seichten« französischen Aufklärung

in seiner Rezension zu Martin Luserkes »Sturm und Drang«-Buch. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), S. 289–293, hier S. 291. – Zur Identifizierung des Sturm und Drang mit der Spätaufklärung vgl. auch Ehrhard Bahr: Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde. Bd. 2. Von der Aufklärung bis zum Vormärz. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Tübingen u. a. 1998, S. 1–125. Bahr gibt S. 21–26 einen guten Überblick über die Rezeptionsgeschichte des Sturm und Drang unter dem Aspekt der Verhältnisbestimmung zu Aufklärung und Klassik. Zu diesem Thema vgl. ferner Christoph Siegrist: Aufklärung und Sturm und Drang: Gegeneinander oder Nebeneinander? In: Walter Hinck (Hg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Durchges. Neuaufl. Frankfurt a. M. 1989, S. 1–13 sowie Andreas Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980, S. 20–30. – Als Beispiel für die traditionelle Sichtweise vgl. H. A. Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. I. Teil: Sturm und Drang. Leipzig 1923. Die einzelnen Kapitel heißen hier etwa: »Irrationalistische Kulturphilosophie«, »Weltanschauung des Irrationalismus«, »Irrationalistische Kunstauffassung«, »Irrationale Dichtung«, »Die dichterischen Symbole des Irrationalismus«. – Einer der ersten, die entschieden gegen diese »antithetische« Sicht eintraten, war Michelsen. Vgl. Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen 1962 (= Palaestra; Bd. 232), S. 144. 49 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. – Zur Rezeption und allmählichen Durchsetzung seiner Thesen vgl. Friedrich Vollhardt: Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur »Empfindsamkeit«. In: Dainat / Voßkamp: Aufklärungsforschung, S. 49–77, bes. S. 53 f. 50 Sehr dezidiert und kritisch setzt sich Andreas Huyssen mit dieser These auseinander (vgl. Huyssen: Drama des Sturm und Drang, S. 37–44).

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I. Präludium

entgegengesetzte und dem »deutschen Geist« gemäße Haltung deklariert wurde.51 Sauder entzog diesem ideologisch verzerrten Bild der Empfindsamkeit den Boden, indem er die zugrundeliegenden Thesen selbst entkräftete. Die Widerlegung der ersten These impliziert eine Revision nicht nur der Bewertung der Empfindsamkeit, sondern auch derjenigen der Aufklärung: Weder kann für die Empfindsamkeit jene Vernunftfeindlichkeit bestätigt werden, die ihr von der Forschung bisher unterstellt wurde, noch kann die Aufklärung ohne weiteres mit »Rationalismus« gleichgesetzt werden. Die Empfindsamkeit einerseits nämlich integriert das »rationale« Moment, indem sie auf einen Ausgleich von »Kopf« und »Herz« abzielt. Die Aufklärung andererseits sorgt – vor allem in Gestalt des englischen Empirismus und des französischen Sensualismus – für eine »Rehabilitation der Sinnlichkeit«.52 Im Anschluß an Peter Michelsen kann an dieser Stelle sogar noch einen Schritt weitergegangen und ein direkter Zusammenhang von Aufklärung und Gefühlskultur hergestellt werden: »Beide: Empirismus und Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts beruhen auf dem Induktionsprinzip der Aufklärung und gehören ihrem Wesen nach zusammen. Sie entwickeln sich zwar in eine gegensätzliche Selbständigkeit, aber doch nebeneinander und mit deutlichen Ähnlichkeiten im Formalen, weiter.«53 Empfindsamkeit muß daher als »eine andere Welle der Aufklärung«54, als eine »nach innen gewendete Aufklärung«55 verstanden werden. »Die Empfindsamkeit der Aufklärung war keine Tendenz gegen die Vernunft, sondern der Versuch, mit Hilfe der Vernunft auch die Empfindungen aufzuklären.«56 Sauder spürt den Voraussetzungen der Empfindsamkeit bis ins Zentrum der rationalistischen Schulphilosophie und der französischen Enzyklopädisten nach und bestätigt auch auf diese Weise die Verflechtungen der Empfindsamkeit mit den Po-

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Vgl. hierzu auch Hans Robert Jauß: Deutsche Klassik – eine Pseudo-Epoche? In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987 (= Poetik und Hermeneutik; Bd. 12), S. 581–585 sowie vor allem Dainat: Epochen, S. 29 f. 52 Vgl. hierzu auch Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 19. 53 Michelsen: Laurence Sterne, S. 111. 54 Hermann Boeschenstein: Deutsche Gefühlskultur. Bd. I. Bern 1954, S. 7; zit. nach Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. 4., überarb. u. erw. Aufl. Darmstadt 1991 (= Erträge der Forschung; Bd. 81), S. 90; vgl. auch Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 26. 55 Pütz: Aufklärung, S. 90. 56 Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. XV. Vgl. auch Sven-Aage Jørgensen, Klaus Bohnen u. Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik: 1740–1789. München 1990 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begr. v. Helmut de Boor u. Richard Newald; Bd. 6), S. 21 sowie Jochen Barkhausen: Die Vernunft des Sentimentalismus. Untersuchungen zur Entstehung der Empfindsamkeit und empfindsamen Komödie in England. Tübingen 1983 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; Bd. 3).

2. Ansatzpunkte

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sitionen der Aufklärung im engeren Sinne.57 Diese Verwurzelung im Diskurs der Aufklärung dient Sauder dazu, auch das zweite Klischee der deutschen Empfindsamkeitsforschung zurückzuweisen, nämlich – wie Klaus Peter Hansen im Anschluß an Sauder formuliert – »den Mythos der pietistischen Entstehung der deutschen Empfindsamkeit«58. Nur am Rande sei hier erwähnt, daß diese Einflußthese ebenfalls eine Parallele in der Jacobi-Forschung hat.59 Die These von der Empfindsamkeit als säkularisiertem Pietismus basiere, so Sauder, nicht zuletzt auf der Voraussetzung, daß die pietistischen Positionen zum Zwecke der Beweisführung verkürzt dargestellt würden. Im übrigen bewege sich die Identitätsbehauptung von Pietismus und Empfindsamkeit weitgehend auf der Ebene von Analogien. Als weiteres Argument gegen die »Säkularisationsthese« führt Sauder ins Feld, daß es sich bei der Empfindsamkeit um ein gesamteuropäisches Phänomen handelt, während der Pietismus als spezifisch deutsche Erscheinung zu werten sei.60 Der Blick auf die englischen und französischen Einflüsse – in England und Frankreich setzte die Tendenz der Empfindsamkeit früher ein – wurde damit frei. Mit der Zurückweisung der beiden, die germanistische Forschung zur Empfindsamkeit bis in die späten 60er Jahre dominierenden Thesen wurde zugleich die Aussicht darauf eröffnet, daß es sich bei der Empfindsamkeit keineswegs um ein in erster Linie literarisches bzw. ästhetisches Phänomen handelt. In dieser Hinsicht muß ihr sogar, so jedenfalls Gerhard Sauder, die Eigenständigkeit abgesprochen werden. Die Empfindsamkeit hat keine eigene Stilistik entwickelt, sondern blieb auf bestimmte Motive beschränkt. Es gebe demnach auch keine rein empfindsame Literatur, sondern immer nur eine Mischung empfindsamer Tendenzen mit verschiedenen Elementen aufklärerischer Literatur. Einzig auf dem Gebiet der Wirkungsästhetik sei die

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Vgl. die einzelnen Kapitel bei Sauder: Empfindsamkeit (1974): z. B. »Empirismus und Sensualismus« und »Die Enzyklopädie. Diderot. Rousseau«. 58 Klaus Peter Hansen: Neue Literatur zur Empfindsamkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 514–528, hier S. 516. 59 Es wurde der Versuch unternommen, Jacobis Denken auf seine pietistischen Ursprünge zurückzuführen. Vgl. den Hinweis bei Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 61 u. 255 f. Vgl. auch Klaus Hammacher: Über Friedrich Heinrich Jacobis Beziehungen zu Lessing im Zusammenhang mit dem Streit um Spinoza. In: Günter Schulz (Hg.): Lessing und der Kreis seiner Freunde. Heidelberg 1985 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 8), S. 51–74, hier S. 57 u. 66, Fn.; ders.: Jacobis Romantheorie, S. 175, 177 u. 179 sowie Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 148–150 und Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Introduzione, traduzione e commento storico-critico di Serenella Iovino. Padova 2000 (= Biblioteca dell’«Archivio di filosofia«; Bd. 24), S. 58 f., Fn. 41 u. ö. 60 Vgl. zusammenfassend hierzu Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. München 1980 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; Bd. 3), S. 15–99 u. 835–845, hier S. 837, Fn. 23.

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I. Präludium

Empfindsamkeit bahnbrechend und innovativ gewesen; dies zeigte sich beispielsweise, so Renate Knoll, in einem neuen »Autor-Leser-Verhältnis[]« und einer »Sensibilisierung der Lesererwartung überhaupt«.61 Auf die ideen- und mentalitätsgeschichtlich herausragende Bedeutung der mit der Empfindsamkeit verknüpften wirkungsästhetischen Wende wird noch genauer einzugehen sein. Im außerästhetischen Bereich war die Empfindsamkeit vor allem in moralphilosophischer, anthropologischer, psychohistorischer und sozialgeschichtlicher Hinsicht von Bedeutung, wobei »vor allen möglichen ästhetischen oder psychologischen Aspekten […] der moralische« rangiert.62 Innerhalb der Empfindsamkeit findet jene moralphilosophische Diskussion vor Kant ihren Austrag, in der es um die Vermittlung von individuellen Wünschen (Gefühlen, Leidenschaften etc.) mit legitimen Ordnungsansprüchen der Gesellschaft ging, um eine Vermittlung also von – und letztlich um einen Ausgleich zwischen – Besonderem und Allgemeinem – eines der großen Themen der Romane Jacobis, wie sich noch zeigen wird. Die Empfindsamkeit war somit – zumindest in ihren anfänglichen Intentionen – keine bloße Rückzugsbewegung in die Innerlichkeit.63 Vielmehr verweist dies auf ihre gesellschaftspolitische Dimension, daß sie das problematische Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft im Sinne einer Dialektik von Selbst- und Mitgefühl auf die Tagesordnung setzte und das Ziel einer Harmonisierung der Ansprüche in utopischen Gesellschaftsentwürfen literarisch faßte.64 In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, daß die Kritik an der Empfindsamkeit – in ihren Gestalten etwa als »Empfindelei«, »Affektation« oder egozentrischer Gefühlsrausch des Genies – konstitutiver Bestandteil der Empfindsamkeit selber ist.65 Diese Sicht der Empfindsamkeit bietet, wie sich zeigen wird, zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Jacobi-Forschung. 61

Knoll: Empfindsamkeit, S. 111; vgl. auch Hansen: Neue Literatur, S. 514. Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 205. 63 Inwieweit die Modelle von Eskapismus und Kompensation die geschichtlichen Prozesse allgemein nicht angemessen beschreiben können, wird an späterer Stelle näher thematisiert (vgl. Kapitel IV.2.4.2 u. V.3.4). Ein wesentliches Moment der Kritik ist die immerzu unterstellte Nachträglichkeit: erst der Verlust, dann die Reaktion auf den Verlust (vgl. beispielsweise Odo Marquard: Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse. In: Karl-Georg Faber u. Christian Meier [Hg.]: Historische Prozesse. München 1978, S. 330–362, hier S. 359). Unter den Vertretern der »Eskapismus«-These ist an erster Stelle zu nennen: Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1969, bes. Kap. III u. IV – Zur Kritik an der Kompensations- und an der Eskapismusthese vgl. etwa Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 143; Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 99; Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 57 f. sowie Marianne Willems: Wider die Kompensationsthese. Zur Funktion der Genieästhetik der Sturm-und-Drang-Bewegung. In: Euphorion 94 (2000), S. 1–41. 64 Vgl. zu dieser – durchaus rationalen – Generierung einer Sozialutopie auch Barkhausen: Vernunft des Sentimentalismus. 65 Vgl. Wolfgang Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit. Bern u. a. 1975 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B: Untersuchungen; Bd. 5) sowie 62

2. Ansatzpunkte

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Im Hinblick auf die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausbildende Leitwissenschaft »Anthropologie« ging es in der Empfindsamkeit um eine Sicht des »ganzen Menschen«66, um ein neues, alle Kräfte des Menschen umfassendes Menschenbild – ein Moment, das auch Jacobi immer wieder neu gegen rationalistische Verkürzungen geltend gemacht hat.67 Hand in Hand mit der etwa zeitgleich entstehenden »Erfahrungsseelenkunde« leistete die Empfindsamkeit zudem einen wesentlichen Beitrag zur »Entdeckung der ›Seele‹«68, zur Kolonisierung des Inneren – wobei allerdings, hierauf wird noch zurückzukommen sein, von der »Entdeckung« eines vorgängig Gegebenen keineswegs die Rede sein kann. In sozialgeschichtlicher Perspektive ist die Empfindsamkeit »in die Aufstiegsbewegung des Bürgertums eingebunden«.69 Sie ist jener Raum, in dem bürgerliches Selbstverständnis, in expliziter Absetzung von der höfischen Kultur des Adels, sich entwickelte und Gestalt gewann. Mit dem Ende des »ganzen Hauses«,70 d. h. der Trennung von ökonomischer bzw. öffentlicher und privater Sphäre, bildete sich jene Gefühlskultur aus, die für das aufsteigende Bürgertum handlungsweisend war: »Auf die Empfindsamkeit in Deutschland bezogen bedeutet dies, daß im wesentlichen das Bürgertum die empfindsamen Normen hervorbrachte und als spezifische Regelung des Affekthaushalts begriffen hat.«71 Nicht zuletzt innerhalb der neuen, bürgerlichen Kernfamilie wurden die affektiven Normen entwickelt, erprobt und eingeübt; eine entscheidende Rolle kam hierbei den Frauen zu.72

ders. u. Gerhard Sauder: Nachwort. In: Dies. (Hg.): Empfindsamkeit. Theoretische und kritische Texte. Stuttgart 1976, S. 197–216. – Vgl. auch Hansen: Neue Literatur, S. 518 f. 66 Vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (DFG-Symposion 1992). Stuttgart u. a. 1994 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände; Bd. 15). 67 Dies ist ein durchgängiges Motiv der Dissertation von Thomas Stäcker (vgl. Stäcker: Aufruhr der Seele). 68 Richard Alewyn: Die Empfindsamkeit und die Entstehung der modernen Dichtung. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 26 (1932), S. 394 f., hier S. 394; zit. nach Pütz: Aufklärung, S. 90. 69 Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. XIII. 70 Begriffsprägung und Konzept gehen zurück auf Otto Brunner: Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik« [erstmals 1952]. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2., verm. Aufl. Göttingen 1968, S. 103–127. 71 Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. XVII; vgl. auch S. XX. 72 Zur Diskussion um den »bürgerlichen« Charakter der Empfindsamkeit vgl. ebd., S. 50–57; Hansen: Neue Literatur, S. 516–518 sowie Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. In: Volker Meid (Hg.): Begriffe, Realien, Methoden. Gütersloh u. a. 1992 (= Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy. 15 Bde. Gütersloh u. a. 1988–1993; Bd. 13), S. 202–206, hier S. 204, dort auch zur Rolle der Frauen. – Vgl. zum ganzen Komplex auch Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 90–99 (= »3. Der Wandel der bürgerlichen Familie und die Aufklärung«). – Vgl. auch hier Anm. 238.

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I. Präludium

Angesichts dieser Vielfalt außerliterarischer Aspekte der Empfindsamkeit läßt sich mit Gerhard Sauder festhalten: »Die bisher fast ausschließlich an fiktionalen Texten orientierte Erforschung der empfindsamen Tendenz in Deutschland ließ sich durch die ästhetische Konstitution der Texte verleiten, in Empfindsamkeit selbst ein wesentlich ästhetisches Phänomen zu sehen. Offensichtlich übertrifft aber die sozialgeschichtliche und praxisbezogene Funktion die literarische.«73 Erst durch die Offenlegung dieser außerliterarischen Funktionen von Empfindsamkeit wird auch ihre Rolle innerhalb jenes Prozesses deutlich, in welchem das Verhalten des modernen, bürgerlichen Menschen ausgebildet und trainiert wurde; dieser wurde vielfach als Rationalisierungs-, Disziplinierungs- oder Zivilisationsprozeß beschrieben.74 In einem gewissen Sinne könnte man sagen, daß die Empfindsamkeit Räume jenseits der Rationalität reklamierte, damit aber diese Räume dem rationalen Zugriff allererst eröffnete und zugänglich machte.75 Doch darf auch hier nicht übersehen werden, daß dieses »Jenseits« in dem fraglichen Prozeß eigentlich allererst hergestellt wurde. Im Ausgang von Sauder wird in dieser Arbeit die Empfindsamkeit gesehen als umfassende kultur- und sozialgeschichtliche Tendenz innerhalb des europäischen Aufklärungsprozesses und der »Aufstiegsbewegung des Bürgertums«.76

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Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 205. – In diesem Punkt stimmen sogar die Kontrahenten Sauder und Pikulik überein (vgl. Pikulik: Mündigkeit des Herzens, S. 9 u. 30). 74 Vgl. die entsprechenden Ansätze von Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault. Vergleichende Überblicke geben Alois Hahn: Theorien zur Entstehung der europäischen Moderne. In: Philosophische Rundschau 31 (1984), S. 178–202; Stefan Breuer: Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault. In: Christoph Sachße u. Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986, S. 45–69 und Bryan S. Turner: The Rationalization of the Body. Reflections on Modernity and Discipline. In: S. Lash u. S. Whimster (Hg.): Max Weber. Rationality and Modernity. London 1987, S. 222–241. – Die disziplinierende Funktion der Empfindsamkeit heben besonders hervor: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Sublimierte Sexualität? In: Klaus Peter Hansen (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau 1990 (= PINK; Bd. 2), S. 167–177 und Michael Titzmann: »Empfindung« und »Leidenschaft«: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität / Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Hansen: Empfindsamkeiten, S. 137–165. Zur grundlegenden Bedeutung der empfindsamen Verhaltensnormen bis heute vgl. Klaus Peter Hansen: Einleitung: Emotionalität und Empfindsamkeit. In: Ders.: Empfindsamkeiten, S. 7–13, hier S. 13. 75 Vgl. Michael Bernsen: Körpersprache als Bedingung authentischer Subjektivität. Ein Problem der englischen und französischen Empfindsamkeit. In: Rudolf Behrens u. Roland Galle (Hg.): LeibZeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Würzburg 1993, S. 83– 102. 76 Friedrich Vollhardt bringt diese, an Sauder anknüpfende und unterdessen fraglos dominante Auffassung der Empfindsamkeit folgendermaßen auf den Punkt: »Der Kern der neuen Theorie bildet sich um die ›Gleichung‹ (Aufklärung – Empfindsamkeit – Bürgertum), deren Bedeutung durch allgemeinere, nicht epochengebundene Annahmen über historische Verläufe (Emanzipationsprozeß etc.) entschlüsselt wird.« (Vollhardt: Aspekte, S. 56.)

2. Ansatzpunkte

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Das durch Sauder geprägte Empfindsamkeitsbild hat die Forschung für Jahrzehnte dominiert. Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil es für den kulturgeschichtlichen Ansatz einerseits, für die Jacobi-Forschung andererseits zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet, wurde es hier in dieser Ausführlichkeit präsentiert. Kritik erfuhr Sauder vor allem in zwei Punkten. Insbesondere von Lothar Pikulik wurde und wird der bürgerliche Charakter der Empfindsamkeit in Frage gestellt.77 Seine Einwände zwingen zu einer differenzierteren Sicht nicht zuletzt im Hinblick auf den Begriff des Bürgertums selbst: So können im Einzelfall Elemente eines traditionalen Bürgertums jenen Formen entgegenstehen, die den mentalitätsgeschichtlichen Wandel hin zu einer neuen, bürgerlichen Gesellschaft begleiten. Letztlich aber ist Pikulik vorzuwerfen, daß er dem zeitgenössischen Diskurs verhaftet bleibt, der in der Tat mit binären Oppositionen arbeitete,78 aus denen aber keine dauerhaften Zuschreibungen, sondern nur Einblicke in die Form von Durchsetzungsprozessen gewonnen werden dürfen. Überdies wird die Empfindsamkeit zu wenig als Selbstverständigungsprozeß gesehen, der Kritik mit einschließt. Entsprechend läßt Pikulik nur einen sehr engen, klischeehaft übersteigerten und unreflektierten Typus des Empfindsamen gelten.79 Dem korrespondiert ein Typus des Bürgers, der »auf die Ideologie eines Spießers und Philisters eingeengt« ist.80 Im konkreten Fall scheitern denn auch die Schablonen. So

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Vgl. Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen 1984. Vgl. hierzu Gerhard Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung aus der Perspektive eines Betroffenen. In: Aufklärung 13 (2001), S. 305–338, hier S. 305 u. 309–313; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 95, Fn. 29 sowie Carsten Zelle: Rezension zu Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 138 (1986), S. 141–146. Auch über Pikulik hinaus bleibt die These vom »bürgerlichen« Charakter der Empfindsamkeit umstritten (vgl. Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung, S. 331–333). Eine Rezeptionsgeschichte der Thesen in Form einer Chronologie des Streits (keine Darstellung oder gar Abwägung der in ihm thematischen Argumente) bietet Vollhardt: Aspekte. 78 Carsten Zelle spricht von der »nicht nur von Foucault hervorgehobene[n] große[n] Serie der binären Oppositionen […], die das Jahrhundert der Aufklärung insgesamt kennzeichnet« (Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries [Hg.]: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 55–73, hier S. 66). 79 Dasselbe trifft wohl auch für Mullan zu (vgl. John Mullan: Sentiment and Sociability. The Language of Feeling in the Eighteenth Century. Oxford 1988). – Vgl. zu diesem Verständnis der Empfindsamkeit auch Sauders Auseinandersetzung mit Richard Alewyn: Gerhard Sauder: Die andere Empfindsamkeit. Richard Alewyns Kritik an den Thesen von Gerhard Sauder. In: Klaus Garber u. Ute Széll (Hg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. München 2005, S. 103–112, hier S. 106, 109. 80 Zelle: Rezension, S. 144. – Vgl. hierzu Pikuliks Rückgang auf ein traditionelles Bürgertum (Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult, S. 93 ff.), insbesondere aber seine Aussage: »Über Werthers Bürgerlichkeit ließe sich noch reden, wenn er Anlagen zu einem Haus- und Familienvater

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I. Präludium

wird etwa das Beispiel Jacobi zeigen, daß »Leistungsethik« und »Gefühlskult« sich sehr wohl in einer Person vereinen, ja in einer gewissermaßen dialektischen Verschränkung sich wechselseitig bedingen können. Kritisiert wurde Sauder auch für seine teilweise strikte Zurückweisung der pietistischen Einflüsse. Vor allem Hans-Georg Kemper hat in umfangreichen Untersuchungen den vielfältigen und massiven Einfluß des Pietismus geltend gemacht.81 Die Differenzen scheinen mir insofern nicht unüberbrückbar, als Sauder sich in erster Linie gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der »Säkularisationsthese« und die damit einhergehende monokausale Herleitung der Empfindsamkeit erklärt hat. Sauders Texte belegen, daß er den Einfluß des Pietismus auf die Empfindsamkeit – im Sinne eines idealen Nährbodens für die empfindsame Tendenz – keineswegs in Abrede stellt.82 Kemper seinerseits hält nicht etwa an einem überkommenen Kausalitätsmodell fest, sondern hinterfragt dieses explizit und schlägt stattdessen vor, Pietismus und Empfindsamkeit als zeitgleiche Produkte von Kräften anzusehen, die dem Aufklärungsprozeß selber zugrunde liegen.83 Tatsächlich ist m.E. aber gegen Sauder geltend zu machen, daß er sowohl die Differenz zum Pietismus als auch die rationalitätsverpflichtete Seite der Empfindsamkeit überzeichnet. Zwar weist er völlig zurecht die verkürzte und sträflich monokausale Formel von der Empfindsamkeit als säkularisiertem Pietismus zurück, die zudem in unzulässiger Weise beide Strömungen aus dem historischen Gesamtkontext isoliert. Diese Korrektur war entscheidende Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer Quellen der Empfindsamkeit, für die Erkenntnis ihres Zusammenhangs mit der Aufklärung und für die Offenlegung der der Empfindsamkeit eigenen Rationalität. Doch nimmt Sauder in dem Bestreben, die aufklärungsadäquate Seite der Empfindsamkeit zu belegen, zum einen eine problematische Quellenauswahl vor, zum anderen blendet er bestimmte zentrale Phänomene aus. So zieht er vor allem Exponenten der Aufklärungsphilosophie wie Mendelssohn, Spalding, Sulzer und Eberhard, sofern sie sich zur Rolle der »Empfindungen« geäußert haben, bei der Darstellung der theoretischen Gehalte der Empfindsamkeit heran. Dagegen finden die offenkundigen kultisch-liturgischen Elemente, auf die noch genauer einzugehen sein hätte, wenn er mehr von seinem Antipoden Albert besäße, der sich anschickt, mit Lotte einen Hausstand zu gründen« (ebd., S. 95 f.). 81 Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997; zur expliziten Kritik an Sauder vgl. S. 7–11. – Vgl. zur Weiterexistenz der These auch den »Brockhaus« (1988 und 1997) sowie die Literaturgeschichte von Ernst und Erika von Borries: Aufklärung und Empfindsamkeit, Sturm und Drang. München 1991 (= Deutsche Literaturgeschichte im DTV; Bd. 2). Vgl. auch Pikulik: Mündigkeit des Herzens, S. 27. 82 Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. In: Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 94 f., hier S. 94. 83 Vgl. Kemper: Deutsche Lyrik, Bd. 6/I, S. 12 f. – Zur Auseinandersetzung Sauders mit Kemper vgl. Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung, S. 321–324.

2. Ansatzpunkte

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wird, kaum Beachtung. Meines Erachtens kann der Gesamtheit der Phänomene aber nur Rechnung getragen werden, wenn man sie als Ausdruck eines langfristigen Säkularisierungsprozesses begreift, der Aufklärung und Empfindsamkeit gleichermaßen umfaßt und innerhalb dessen bereits der Pietismus – ebenso wie im übrigen die Physikotheologie – als frühe Stufen zu begreifen sind. Die pietistischen Wurzeln der Empfindsamkeit stehen auch nicht im Gegensatz zu ihrer Auffassung als gesamteuropäisches Phänomen, da Puritanismus und Pietismus durchaus als Geschwister anzuerkennen sind. Voraussetzung für eine solche Sichtweise ist allerdings mindestens, Säkularisierung nicht nur im Sinne einer »Entzauberung« (Max Weber), d. h. eines Verlusts an Transzendenz, sondern auch im Sinne einer (erneuten) Verzauberung, d. h. als Sakralisierung des Diesseits zu verstehen.84 Generell muß dabei der Frage hinreichende Beachtung geschenkt werden, wie Umgestaltungs- und Durchsetzungsprozesse unter mentalitätshistorischen Aspekten funktionieren, d. h. in welcher Weise sich etwas (radikal) Neues überhaupt durchzusetzen vermag. Dies soll hier auf mikrogeschichtlicher Ebene untersucht werden. Was Sauder überdies nicht hinreichend thematisiert hat – und in der Tat auch erst nach seinen wegweisenden Arbeiten aufgrund eines Paradigmenwechsels ins Blickfeld der Forschung geriet –, ist die eminente Bedeutsamkeit des medialen Wandels für die Aufklärung im allgemeinen und für die Empfindsamkeit im besonderen.85 Diesem Aspekt gehen neuere Arbeiten zur Empfindsamkeit nach. Nikolaus Wegmann betont in seinem diskursanalytischen Ansatz die sich insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollziehende »Verschriftlichung der Kommunikation«86 vor allem im Hinblick auf eine radikale Veränderung der Kommunikationsstrukturen, deren Bedeutung für den sozio-kulturellen Wandel im ganzen er aufzeigt. Lothar Müller geht in medientheoretischer Hinsicht weiter, indem er die Tatsache hervorhebt, daß die Diskursivierung des Inneren, die »Versprachlichung und Verschriftlichung der Seele«, wie sie die Empfindsamkeit kennzeichnet, nicht als bloße Entäuße-

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Vgl. hierzu Heinz-Horst Schrey: Einführung. In: Ders. (Hg.): Säkularisierung. Darmstadt 1981 (= Wege der Forschung; Bd. 424), S. 1–48, hier S. 6–12. Vgl. auch Sölle: »[…] jede Säkularisation hat ihre Sakralisation« (Dorothee Sölle: Die Übernahme des Säkularisierungsbegriffs in die Literaturwissenschaft [1973]. In: Schrey: Säkularisierung, S. 90–105, hier S. 97). Sie hat es auch als Forderung formuliert: »Was genetisch Säkularisierung heißt, müßte funktional als Sakralisation beschrieben werden.« (Ebd., S. 103.) 85 Zu diesem neuen Interesse an der Mediengeschichte, das nicht zuletzt als Effekt der medialen Wende der Gegenwart zu verstehen ist, vgl. Bernd Witte: Literaturwissenschaft heute. »Oralität« und »Literalität« als Kategorien eines Paradigmenwechsels. In: Anne Bentfeld u. Walter Delabar (Hg.): Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Opladen 1997, S. 59–74. Einen Überblick über die diesbezügliche Forschungsliteratur findet man etwa bei Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Frankfurt a. M. 1998, S. 73–94, hier S. 73. 86 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 15.

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I. Präludium

rung eines vorgängig Gegebenen zu verstehen ist, sondern der Gegenstand selbst in diesem Prozeß allererst hervorbracht wird.87 Diese an Foucault anschließende, grundlegende Erkenntnis, »daß Diskurse […] das in ihnen verhandelte Wissen nicht vorfinden, sondern erzeugen« und daher angemessen »nur als soziale Praktiken zu verstehen« sind,88 teilt auch Albrecht Koschorke, der in seiner Habilitationsschrift überzeugend dargelegt hat, in welchem Ausmaß »Empfindsamkeit als Schriftkultur«89 verstanden werden muß. Seine Ausführungen fußen nicht zuletzt auf der grundlegenden, medientheoretischen Annahme, daß Medien Inhalte (Bedeutungen) nicht nur transportieren, sondern auch transformieren und produzieren: Sie »eröffnen oder verschließen die Zugänge zu den verfügbaren Ressourcen an Wahrnehmbarkeit ebenso wie an Sinn und sind damit über ihre Vehikelfunktion hinaus nichts weniger als transzendentale Instanzen«.90 Erst aufgrund der »sinnmiterzeugende[n]« Kapazität von Medien vermögen diese zu »interessante[n] Gegenstände[n] geistes- und kulturwissenschaftlicher Arbeit« zu werden.91 Auf diesem Wege kann dann die radikale Wirksamkeit des Medienwandels aufgedeckt werden. Die Ausbildung der Schriftkultur in der Empfindsamkeit bedingt, so führt Koschorke aus, einen Wandel des Affektsystems, der Selbstkonzepte und der sozialen Interaktionsformen.92 In besonderer Weise manifestiert sich dies in einer neuen Konzeption des Körpers, ja in der Substitution des Körpers selbst durch Schrift. »Die Schrift […] unterhält eine enge Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend / Entkörperung / Seele«.93 Aufgrund der mit ihr verknüpften umfassenden Wandlungsprozesse kann, so Koschorke, die Empfindsamkeit auch und gerade, wenn man sie im Ausgang von dem Aspekt der Medialität deutet, »als ein Schlüsselelement des gesamten Aufklärungsprozesses aufgefaßt werden«.94 87

Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 267–290. 88 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 10. Vgl. hierzu mit Blick auf die historische Semantik und unter Verweis auf Ralf Konersmann auch Ernst Müller: Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Ders. (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Hamburg 2005 (= Archiv für Begriffsgeschichte: Sonderheft; [4.] 2004), S. 9–20, hier S. 15. 89 So lautet der ursprüngliche Titel seiner Habilitationsschrift (FU Berlin 1996). – Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 190: »Empfindsamkeit und bürgerliche Literalisation sind Komplementärphänomene des gleichen Prozesses.« Ebd., S. 196 heißt es: »Empfindsame Literatur wäre demzufolge so etwas wie ein mediales Probehandeln unter den existentiellen Bedingungen der Schriftkultur.« 90 Ebd., S. 464. Vgl. auch ebd., S. 191: »Aber Medien sind niemals bloße Substitute. Sie verändern, indem sie zu ersetzen scheinen.« 91 Krämer: Medium als Spur, S. 73 f. 92 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 12 u. ö. 93 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 196. 94 Ebd., S. 11.

2. Ansatzpunkte

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Ebenfalls im Umfeld dieser neueren, medientheoretischen und -historischen Ansätze ist die Arbeit von Tanja Reinlein anzusiedeln, die dem »Brief als Medium der Empfindsamkeit« am Beispiel verschiedener Briefwechsel (Gellert, Gleim, Klopstock) nachgegangen ist, wobei ihre Auswahl durchgängig von dem Motiv der Betrachtungsmöglichkeit auch geschlechterdifferenzieller Verhältnisse geleitet ist. Das Moment der bedeutungs-, ja realitätsgenerierenden Kraft des Mediums erfährt bei ihr durch die im Anschluß an Erika Fischer-Lichte nunmehr anthropologisch verstandene – und damit nicht auf Fiktivität oder bloße Scheinhaftigkeit fixierte – Kategorie der »Inszenierung« eine bereichernde begrifflich-konzeptuelle Ausgestaltung, an die partiell angeknüpft werden kann.95 Die hier anhand der Empfindsamkeitsforschung entwickelten Fäden sollen im folgenden aufgegriffen und in einen neuen, für die Arbeit maßgebenden theoretischen Rahmen gestellt werden. Ziel ist es zum einen, die von Sauder weitgehend ignorierten quasi-religiösen Elemente einer Deutung zu unterziehen, und dabei zum anderen das konstitutive Moment der Medialität, das Koschorke offengelegt hat, theoretisch-interpretativ einzubringen. Damit wird einerseits an ältere Forschungsdiskussionen – etwa zur Säkularisierung – angeknüpft, um sie andererseits mit neueren Paradigmen der Forschung zu vermitteln. Ausgangspunkt der nunmehr darzustellenden Theorie soll eine starke anthropologische Aussage sein, die eine nicht minder starke geschichtsphilosophische Hypothese nach sich zieht. Ein derartiger Ausgangspunkt kann als durchaus unzeitgemäß gelten, da sowohl generelle Aussagen über das Wesen des Menschen96 als auch solche über den geschichtlichen Prozeß in seiner Totalität unterdessen – teils im Rahmen der Abkehr von der Metaphysik überhaupt, teils im Rahmen der (postmodernen) Kritik am Herrschaftsanspruch einer Einheitsvernunft – als obsolet verworfen wurden.97 95

Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 455), S. 35 f. – Das Interesse an geschlechterdifferenten Freundschaftsverhältnissen und die Betonung des Inszenierungscharakters ist ebenfalls kennzeichnend für die Studie zu Wielands Freundschaften von Brigitte Schnegg: Gleichgestimmte Seelen. Empfindsame Inszenierung und intellektueller Wettstreit von Männern und Frauen in der Freundschaftskultur der Aufklärung. In: WerkstattGeschichte 28 (2001), S. 23–42. 96 Vgl. etwa Gernot Böhme: Humanität und Widerstand. In: Dietmar Kamper u. Christoph Wulf (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Frankfurt a. M. 1994, S. 250–270. Böhme hält fest, daß die zeitgemäße »historische Anthropologie« davon ausgeht, »daß der Mensch ein Wesen ist, das kein Wesen hat« (S. 253). Allerdings bestimmt er gleichzeitig den Menschen als »das Wesen, das nein sagen kann« (S. 250). In der Zurückweisung einer »Wesensdefinition des Menschen« geht es wohl vor allem darum, weder zu eng begrenzte Inhalte festzulegen, noch neue »Menschheitsideale« aufzustellen (S. 268). 97 Programmatisch war hier vor allem Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. 2., unveränderte Neuaufl. Wien 1993 (= Edition Passagen; Bd. 7). Die französische Originalfassung stammt aus dem Jahre 1973.

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I. Präludium

Eingedenk der durchaus ernst zu nehmenden Einsprüche gegen die hegemoniale Tendenz von Metaerzählungen wie auch unter Berücksichtigung von Fragerichtungen und Methoden, die allererst im Rahmen dieser Kritik entwickelt wurden, wird in der vorliegenden Untersuchung der Gegenstand gleichwohl durch eine explizite Metaerzählung gleichsam eingeklammert.98 Die Wahl jenes übergreifenden Deutungsrahmens ergab sich aus der Erkenntnis und Erfahrung, daß bestimmte Phänomene durch ihn in einer Weise erhellt werden konnten, wie es andere Deutungsschemata nicht vermochten. Dabei ist allerdings wichtig, daß zum einen die Entfaltung der zu untersuchenden Phänomene an einem Leitfaden geschieht, der selber nicht aus den Grundannahmen der Meistererzählung stammt, und daß zum anderen dem Schriftund Konstruktionscharakter der Quellen Rechnung getragen wird. Darüber hinaus unterscheidet sich die hier favorisierte »große Erzählung« in wesentlichen Momenten von den herkömmlichen, insofern ihr ein Happy-End gänzlich fremd ist.99 Von einer ›Weltgeschichte als Heilsgeschehen‹,100 von einer neuen Theodizee, die durch ihre dialektische Methode und ihren Totalitätsanspruch nichts ungerechtfertigt ließe und dann angesichts des Holocaust notwendig scheiterte,101 kann somit so wenig die Rede sein, daß vielmehr stattdessen, wie noch zu sehen sein wird, von einer ›Unheilsdialektik‹ gesprochen werden könnte, und zwar einer, die es zuläßt, dasselbe Unheil im geschichtlichen Geschehen wie auch in jedem auf dieses sich richtenden Verstehen – das ja immer Aneignungscharakter hat – notwendig und unhintergehbar am Werke zu sehen.

98

Zum Ende der »großen Erzählungen« oder »Meta-Erzählungen« (Lyotard) vgl. Christoph Conrad u. Martina Kessel: Geschichte ohne Zentrum. In: Dies. (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994, S. 9–36, hier S. 9 f. u. 15 sowie Gabriel Motzkin: Das Ende der Meistererzählungen. In: Joachim Eibach u. Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002, S. 371–387. 99 Vgl. hierzu auch den Metaphysikvorwurf an die im folgenden erst vorzustellende philosophische Theorie von Rudolf Heinz (»Pathognostik«) in Rudolf Heinz u. Peter Tepe: Pathognostik versus Illusionstheorie. Essen 1994 (= Illusionstheorie – Ideologiekritik – Mythosforschung; Bd. 5), S. 90 f., 102, 104–110 u. ö. 100 Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953). Stuttgart u. a. 2004. 101 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Gegen die postmoderne Fragmentierung der Geschichte – für eine neue »große Erzählung«. Thesen. In: Divinatio 13 (2001), S. 91–106, hier S. 96.

3. Kontextualisierungen

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3. Kontextualisierungen: Eine kurze Geschichte – und Theorie – der Aufklärungszeit 3.1 Anthropologische Grundlegung: Das Begehren nach Transzendierung räumlicher und zeitlicher Endlichkeit »Ein finsteres Geheimniß liegt eben schwer auf uns allen: das Geheimniß des Nichtseyns, des Daseyns durch Vergänglichkeit, des Vermögens mit und durch lauter Unvermögen – das Geheimniß des Endlichen.«102 »Auch will er diese Rückkehr, nehmlich Befreyung von denen ihm anklebenden Banden des Nicht-Ich; – und es ist Niemand, der es nicht wüßte und erfahren hätte, wie – Alle Strümpfe die Tendenz haben, ihre Schranken aufzuheben um die Unendlichkeit auszufüllen: höchst unbesonnen! da sie wohl wissen können, daß es unmöglich ist, Alles, und zugleich Eins und Etwas zu seyn.«103

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich seiner Endlichkeit und Sterblichkeit bewußt ist. Von dieser wesentlichen anthropologischen Bestimmung soll hier ausgegangen werden. Der Körper / Leib ist dabei (wenn nicht gar Ursprungs-, so doch wenigstens) exponiertester Manifestations- und Erfahrungsort einer raum-zeitlichen Grenze. In dem reflexiven Verhältnis zu seiner Körperlichkeit / Leiblichkeit (»Hoc est corpus meum«) wird der Mensch seiner Endlichkeit und Sterblichkeit gewahr. Auf den heilsuchend-heillosen Versuch, die Grenze zu transzendieren, ist sein Handeln ausgerichtet.

102 [Friedrich Heinrich Jacobi:] Eduard Allwills Briefsammlung herausgegeben von Friedrich Heinrich Jacobi mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Erster Band. Königsberg 1792, S. 309 (= Zugabe. An Erhard O**, S. 281–318); vgl. auch Friedrich Heinrich Jacobi: Romane I. Eduard Allwill. Hg. v. Carmen Götz u. Walter Jaeschke. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 6) [im folgenden JWA 6 mit Seitenzahl], hier JWA 6,1, 237. 103 Jacobi an Fichte (Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Unter Mitarb. v. Catia Goretzki hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 [= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 2] [im folgenden JWA 2 mit Seitenzahl], hier JWA 2,1, 204). – Jacobi hat das Fichtesche System mit einem Strickstrumpf verglichen. In diesem Bild stellt das reine Ich den Faden dar. Vgl. hierzu auch den Brief an C. K. W. von Dohm vom 13.12.1797 (Zoeppritz, Rudolf [Hg.]: Aus F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz. 2 Bde. Leipzig 1869 [im folgenden Zoeppritz nebst Band- und Seitenzahl], hier Zoeppritz I, 200 f.).

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I. Präludium

Grundlegende Motive der philosophischen Anthropologie aufnehmend104 und – trotz aller expliziten Kritik an demselben – im Banne des Existentialismus stehend,105 beschreibt Jacques Lacan in seinen frühen Schriften106 die Entwicklung des Menschen wie folgt: Aufgrund der »spezifischen Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt«107 erfährt der Säugling den »qualvollen Charakter des organischen Lebens«,108 der sich (subjektiv) in Form von Angst, Kälte und Schwindel manifestiert. Er lebt in beständiger Todesverfallenheit und in völliger Abhängigkeit von den Pflegepersonen. Zu einem vor-ichhaften Bewußtsein109 dieses zutiefst nothaften Zustandes gelangt der Säugling zum Zeitpunkt der Entwöhnung (Ablaktation), welche jene ursprünglichere Entwöhnung, die die Geburt darstellt, erst in zeitlichem Verzug offenkundig werden läßt: »Diese, die Entwöhnung im engen Sinn, gibt den ersten und angemessensten psychischen Ausdruck für die dunklere Imago einer früheren, schmerzlicheren und lebenswichtigeren Entwöhnung: jene verfrühte Trennung, die das Kind bei der Geburt von der Gebärmutter löst und eine Not erzeugt, die keine mütterliche Sorge ausgleichen kann.«110 Das Begehren nach Überwindung der Todesverfallenheit durch Rückgängigmachen der Geburt (letztere verstanden als Trennung von der Mutter) findet seinen Niederschlag in der »Mutterimago«.111 Als »Rückkehr zum Mutterschoß« ist sie gleichbedeutend mit einem »Todeshunger«.112 Im auf die Phase tatsächlicher Entwöhnung folgenden Spiegelstadium konstituiert sich dann das Ich erstmals und zwar in Gestalt eines Ideal-Ich. Denn das sein Spiegelbild erblickende und als solches erkennende Kind nimmt jenes, so Lacan, als eine

104 Dies geht bis zur Übernahme bestimmter Begriffe, wie etwa »Innenwelt« und »Umwelt«, in deutscher Sprache. Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Ders.: Schriften. 3 Bde. Hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger. Olten u. a. 1973–1980, Bd. I, S. 61– 70, hier S. 66 f. – Vgl. auch zum Aspekt der ›Kultur‹ als der menschlichen ›Natur‹: Jacques Lacan: Die Familie. In: Ders.: Schriften. Bd. III, S. 39–100, hier bes. S. 41, 45 f. u. 48. 105 Zur Kritik am Existentialismus vgl. Lacan: Spiegelstadium, S. 69. Hauptkritikpunkt ist ihm, daß diese Philosophie »die Illusion der Autonomie – der sie sich überläßt – verkettet mit den konstitutiven Verkennungen des Ich (moi)«. Damit schreibe sie die Verkennung fort, ohne sie als solche zu durchschauen. – Zur gleichwohl vorhandenen Affinität zum existenzphilosophischen Denken vgl. Hanna Gekle: Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären. Frankfurt a. M. 1996, S. 94. 106 Ich beziehe mich also auf den »frühen« Lacan, vor seiner »strukturalistischen Kehre« im Jahre 1953. Zur Unterscheidung bestimmter Phasen im Werk Lacans vgl. Gekle: Tod im Spiegel, S. 21–29 sowie Madan Sarup: Jacques Lacan. New York u. a. 1992, S. 101. 107 Lacan: Spiegelstadium, S. 66. – Vgl. auch ders.: Familie, S. 51, wo davon die Rede ist, daß »der Mensch als eine Frühgeburt angesehen werden« muß. 108 Ebd., S. 50. 109 Vgl. ebd., S. 48–50. 110 Ebd., S. 51. 111 Ebd., S. 52. – Die Imago ist daher immer Effekt eines Mangels und damit Ausdruck eines Begehrens; vgl. ebd., S. 47–49. 112 Ebd., S. 52 f.; vgl. auch S. 57.

3. Kontextualisierungen

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Ganzheit und Unversehrtheit wahr; diese Erfahrung wird zur Geburtsstätte einer letztlich phantasmatischen Vorstellung von Einheit und Dauerhaftigkeit, Präsenz und Omnipotenz: »das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.«113 Das Ideal-Ich rückt als Garant der Wiedergewinnung verlorener Einheit an die Stelle der Mutterimago. Es ist grundlegend gekennzeichnet von der Verkennung der eigentlichen Todesverfallenheit. In Lacans Menschwerdungsgeschichte spielt der Körper eine herausragende Rolle. Zum einen offenbart er als frühgeburtlicher die Todesverfallenheit, mithin die Sterblichkeit des Menschen, in exzeptioneller Weise. Zum anderen ist das Körperbild im Spiegel zentral für die Ichkonstitution selbst. Damit ist der Körper nicht nur Erfahrungsort der zeitlichen Endlichkeit, d. h. der Sterblichkeit, sondern auch in seiner räumlichen Umgrenztheit Manifestations- und ggfs. Ursprungsort der endlichen Subjektivität;114 letzteres jedoch – Lacan zufolge – von Beginn an in einer diese selbst totalisierenden Weise. Die Frage ist allerdings, ob dieses Totalitätsphantasma tatsächlich ein Effekt des als Ganzheit wahrgenommenen gespiegelten Körpers darstellt oder nicht vielmehr nur deshalb möglich wird, weil das Spiegelbild, der Doppelgänger, zugleich Ich und Anderer ist und gerade damit die Identität von Innen und Außen, von Ich und Welt sich erlösend – wenngleich phantasmatisch – herzustellen vermag.115 Diese Sichtweise würde ebenfalls der dialektischen Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins Rechnung tragen, der gemäß der Selbstbezug des Ich auf sich nicht unmittelbar erfolgt, sondern vermittelt durch das Ich als ein Anderes. Mit dem Ich wäre somit zugleich Welt gesetzt, wobei ihr – begehrtes, aber notwendig phantasmatisches – Verhältnis

113

Lacan: Spiegelstadium, S. 67. – Die bedeutsame Frage, ob der zerstückelte Körper tatsächlich – wie Lacan meint – eine Vorgabe ist oder nicht vielmehr erst ein Effekt des Vollkommenheitsphantasmas, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Gekle: Tod im Spiegel, S. 95. 114 Vgl. hierzu Gerda Pagel: Jacques Lacan zur Einführung. 3. verb. Aufl. Hamburg 1999 (Zur Einführung; Bd. 202), S. 24: »Im faszinierenden Spiel zwischen Leib und imaginierter Leiblichkeit entwirft das Subjekt sein Ich als psychische Einheit.« – Die englische Sprache hält diesen Zusammenhang von Körper und Identität buchstäblich präsent in dem Wort »no-body«. 115 Vgl. hierzu auch Gekles genaue Lektüre der Ovidschen Narziß-Mythe (vgl. Gekle: Tod im Spiegel, S. 36–38).

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I. Präludium

das einer ungetrennten Getrenntheit wäre. Im Hegelschen System entspräche dies der Position einer restlos »vermittelten Unmittelbarkeit«. Meines Erachtens wird erst auf diese Weise glaubhaft, daß sich die Spiegelung des Körpers mit einem narzißtischen Absolutheitsphantasma, das auch gefaßt werden kann als »Illusion des Einssein-Wollens mit sich selbst als einem Anderen«, verbindet.116 Damit aber gäbe der gespiegelte Körper nicht nur »in gewisser Weise das Modell aller Objekte« ab,117 sondern auch das Modell jeglicher Intersubjektivität, wiewohl – Lacan zufolge – im narzißtischen Spiegelstadium weder Objekt noch Anderer eigentlich existieren.118 Dieser Ambivalenz entspricht eine weitergehende, von der Lacans frühe Schriften grundlegend gekennzeichnet sind: Auf der einen Seite geben die ursprünglichen Imagines und Komplexe die Matrix ab für die weitere psychische Entwicklung: sie sind persistierend, brechen auf jeder Stufe erneut hervor und müssen daher wiederholt verarbeitet werden. Auf der anderen Seite kommt es im Laufe der Entwicklung zu einer vollständigen Auflösung bzw. Überwindung derselben, sofern sie sich nicht in Traum oder Krankheitssymptom in regressiver Form zeigen.119 Diese Ambivalenz läßt sich nur teilweise im Sinne einer Hegelschen Dialektik, d. h. als »Aufheben« im dreifachen Wortsinn beschreiben. Letztlich verbleibt eine Uneindeutigkeit, die ihren Grund möglicherweise in dem Subjektivismus der Psychoanalyse selber und ihrer damit einhergehenden strikten Trennung von Normalität und Krankheit hat.120 Daß die ›normale‹ menschliche Kulturschaffung, d. h. das gesamte Weltverhältnis des Menschen, von den grundlegenden Imagines angetrieben ist, gerät daher nur sehr unzureichend in den Blick. 116 Gerda Pagel: Lacan: Einführender Überblick über einen schwierigen Denker und Erörterung einiger Kritiken und Kontroversen. In: Bernhard H. F. Taureck (Hg.): Psychoanalyse und Philosophie. Lacan in der Diskussion. Frankfurt a. M. 1992, S. 32–59, hier S. 38; vgl. Pagel: Lacan zur Einführung, S. 30 f. – Vgl. hierzu auch die auf die Herleitung des Vollkommenheitsphantasmas abzielenden kritischen Nachfragen von Gekle: Tod im Spiegel, S. 95 u. 99. 117 Lacan: Familie, S. 59. 118 Vgl. ebd., S. 60. – Gekle hat in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Lacan ebenfalls auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, die Position des Anderen bereits im Spiegelstadium angelegt zu sehen (vgl. Gekle: Tod im Spiegel, S. 98). 119 In Lacans frühen Schriften geschieht diese ›Auflösung‹ mit dem Austritt aus dem narzißtischen Zustand und dem Eintreten in einen intersubjektiven Raum, der gegenseitige Anerkennung ermöglicht. In seinen späteren Schriften entspricht dem der Übergang vom imaginären in den symbolischen Raum: in den der Sprache. Dieser Ort der Sprache erscheint vielfach als Heils- und Erlösungsgarant, da das Subjekt in ihm aus den imaginären Verstrickungen befreit wird, ja gewissermaßen immer schon befreit ist. M. E. setzt Lacan damit tendenziell an die Stelle des phantasmatischen (autonomen) Cogito das nicht weniger phantasmatische (dezentrierte) Non-Cogito als das Eigentliche, Wahre und Rettende, wenngleich er in gegenläufiger Tendenz die Dialektik des Begehrens gleichwohl aufrechterhält. Vgl. zu letzterem etwa Pagel: Lacan zur Einführung, S. 100–102 u. 106 sowie S. 52 f. 120 Vgl. die Kritik von Rudolf Heinz an der Psychoanalyse, unter anderem in Rudolf Heinz: Philosophische Einführung in die Pathognostik. In: Ders.: Lectiones pathognosticae. Institutionen

3. Kontextualisierungen

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Lacans Uneindeutigkeit zugunsten einer Eindeutigkeit auflösend soll hier davon ausgegangen werden, daß das Welt- und Anderen-Verhältnis des Subjekts von dem fundamentalen Narzißmus, selbst alles sein zu wollen, um jegliche Differenzerfahrung zu tilgen, letztlich gekennzeichnet bleibt. Der Mensch ist, Zeit seines Lebens, im Raum dieses Imaginären gefangen. Daß diese Struktur dennoch produktiv ist und es nicht zur Katastrophe des Todes kommt, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist das Begehren nach der Einheit immer in sich gebrochen, da es zugleich als Selbstbehauptung und Selbstauflösung sich realisieren muß. Zum anderen wird die Entwicklung vorangetrieben durch den fortgesetzten Wandel der Repräsentationsformen: Das Spiegelbild ist nur der Prototyp jenes gespiegelten Ich als eines Doppelgängers, der prothetisch ist und den Heilszustand vorgibt.121 Liest man Lacan nun vor dem Hintergrund einer so verstandenen Fortdauer des narzißtischen Begehrens, so sind seine Ausführungen äußerst erhellend: »Das Streben des Subjekts nach Wiederherstellung der verlorenen Einheit seiner selbst nimmt von Anbeginn an die zentrale Stellung im Bewußtsein ein. Es ist die Energiequelle seines mentalen Fortschritts […] Wenn die Suche nach seiner affektiven Einheit beim Subjekt die Gestalten zutage fördert, die ihm seine Identität repräsentieren, so wird die intuitivste dieser Gestalten in diesem Stadium vom Spiegelbild geliefert. Was das Subjekt in ihm begrüßt, ist die ihm inhärente Einheit. Was es im Spiegelbild wiedererkennt, ist das Ideal der Imago des Doppelgängers. Was es in ihm akklamiert, ist der Triumph der rettenden Strebung.«122 Das hier favorisierte Modell einer Kontinuität des narzißtischen Begehrens in der Individualgeschichte des Menschen einerseits und einer Ausweitung der Narzißmustheorie auf die menschliche Kulturschaffung im allgemeinen andererseits verdankt sich grundlegenden Theoremen der »Pathognostik« oder »(Rationalitäts-)Genealogie« genannten Philosophie von Rudolf Heinz, die nunmehr in Kürze skizziert werden soll.

einer Art kritischer Psychoanalyse. Düsseldorf 1999, S. 11–34, hier S. 21–23 u. 29 f.; zur Kritik an Lacan ebd., S. 31 f. – Vgl. auch ders.: Hinführung zur Pathognostik für Psychoanalytiker der höheren Stände. In: Ders.: Lectiones pathognosticae, S. 41–63, hier S. 44 sowie ders.: Programmatischer Vorschlag zu einer Ausweitung der Psychoanalyse auf Objektivität. In: Ders.: Pathognostische Studien II. Psychopathologie – Logik – Sinne / Affekte – Musik – bildende Kunst. Essen 1987 (= Genealogica; Bd. 17), S. 9–30. 121 Vgl. auch Lacan: Spiegelstadium, S. 64 u. 66, jeweils zur Funktion des Bildes bzw. der Imago. – Vgl. auch Pagel: Lacan zur Einführung, S. 31: »Das Spiegelstadium stellt die Matrix aller identifikatorischen Prozesse dar.« 122 Lacan: Familie, S. 59.

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3.1.1 »Pathognostik« als Anthropologie und Kulturphilosophie Die Philosophie von Rudolf Heinz entwickelte sich aus einer marxistisch inspirierten Kritik der Psychoanalyse, deren Resultat sich wiederum kritisch auf den Marxismus zurückwenden läßt.123 Kern dieser Kritik ist die Zurückweisung des psychoanalytischen Krankheitsbegriffs, demzufolge Krankheit eine bloß subjektive Zutat zu einer an sich unverdächtigen Welt der Objekte ist. Bevorzugte Beispiele für die Erläuterung seiner These sind die Anorexie und die Brückenphobie. Innerhalb des psychoanalytischen Erklärungsmodells liegt der Angst, eine Brücke zu betreten oder gar zu überqueren, eine in der Individualgeschichte des jeweiligen Subjekts (Kranker / Patient) aufzuspürende Fehlentwicklung zugrunde (frühkindliches Trauma, letztlich der nicht untergegangene Ödipuskomplex). Für die Therapie bedeutet dies, daß die Ursache der Fehlsteuerung aufgesucht und eine nachträgliche Verarbeitung initiiert werden muß. Die Schuld – hier: an dem Gebrauchsstreik des Brückenphobikers – ist demnach einzig auf seiten des Subjekts zu verorten. In strikter Abkehr von diesem psychoanalytischen Krankheitsmodell behauptet Heinz, daß der Kranke in der Krankheit (Symptomatik) die Schuldhaftigkeit der Dinge selbst aufdeckt. Diese Marxismusaffine Wende zur Objektivität impliziert nun zugleich eine Kritik am Marxismus, da unter dieser Maßgabe das Unheil nicht bloß und nicht erst in den Produktionsverhältnissen, sondern schon in den Produktivkräften, im Akt der Produktion selber, beschlossen liegen muß.124 Welcher Art ist nun jenes Unheil, das im Kern aller menschlichen Produktion, insbesondere aber in dem die Moderne kennzeichnenden naturwissenschaftlich-technischen Progreß steckt und das der Kranke in seiner Krankheit aufdeckt? Um diese Frage zu beantworten, muß zunächst auf dasjenige zurückgegangen werden, was aller menschlichen Kulturproduktion – diese verstanden als Gesamtheit menschlicher Hervorbringungen – zugrundeliegt. Heinz sieht den Urgrund menschlichen Handelns in dem Begehren nach Überwindung des ›irdischen Schandkörpers‹, mithin in 123

Einen guten Einstieg in die Heinzsche Philosophie ermöglichen neben den oben bereits zitierten Lectiones pathognosticae folgende Texte: Rudolf Heinz: Dialogue Interieur über Pathognostik versus Psychoanalyse. In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 4 (1987), S. 7–25; ders.: Programmatischer Vorschlag; ders.: Psychoanalyse – und wie anders? In: Ders.: Pathognostische Studien III. Psychoanalyse – Krisis der Psychoanalyse – Pathognostik. Essen 1990 (= Genealogica; Bd. 20), S. 287–289. – Vgl. überdies Heinz / Tepe: Pathognostik versus Illusionstheorie, darin insbesondere den Beitrag von Karl Thomas Petersen: Tote Kekse krümeln nicht. Narzißmus – Todestrieb – Dingphantasma, S. 95–100. 124 Vgl. hierzu Heinz: Philosophische Einführung, S. 29 f.: »[…] die im Symptom ja schon betroffene todestrieblich organisierte Objektivität muß unumwegsam zur primären Referenz werden, sofern des Objekts Produktionsgrund im Voraus dasjenige ausmacht, was ihm angeblich verunklärend pathogen projektiv ex post vonseiten des Subjekts angetan wird: seine vermeintliche ödipal symptomatisch hypersymbolische Überformung.« Vgl. auch ebd., S. 23.

3. Kontextualisierungen

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dem Begehren nach Unsterblichkeit / nach Transzendierung der Endlichkeit. Im Anschluß an zentrale Theoreme der Psychoanalyse bezeichnet Rudolf Heinz dieses grundlegende Begehren als Ödipuskomplex, Narzißmus oder Todestrieb. Narzißmus bedeutet dabei die Absolutsetzung des Subjekts: Ich, Mensch, als Eins und Alles, als Gott mithin. Das narzißtische Begehren setzt notwendig einen Prozeß der Indifferenzierung in Gang, der in letzter Konsequenz entropisch ist und somit auf den Tod (des Subjekts) selber hinausläuft. Der Ödipuskomplex ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als ein spezifischer Aspekt jenes narzißtischen Indifferenzbegehrens: das Begehren nämlich, sich selbst an den eigenen Ursprung zu setzen (Phantasma der Selbstschöpfung). Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Dingproduktion zu? Die Dinge sind nichts anderes als Körperdouble, d. h.: der ›schändliche‹, weil sterblich-endliche, Körper soll in (die tote) Dinglichkeit hinein abgeschafft werden. Der »übergeordnete […] Zweck aller Kultur selbst« ist folglich dieser: »durch Dinglichkeit nämlich die Verderbnis des menschlichen Körpers, letztlich den Tod, aufzuschieben, ja mit höchster Lust prämiert, abzuschaffen«.125 Der Irrwitz dieses Programms besteht nun darin, die Sterblichkeit durch Mortifizierung überwinden zu wollen: eine offensichtlich höchst gewalthafte Veranstaltung. Der Kranke enthüllt diese letzte Funktion der Dinge etwa dadurch, daß er sie an die eigene Stelle treten läßt: sie ›verlebendigt‹ und sich selbst aufhebt, wegschafft, tötet. Damit deckt der Kranke das Phantasma der Produktion – nicht zuletzt die ihm inhärente Gewalt – auf, indem er es an sich selbst wirklich vollstreckt. Normalität und Krankheit unterliegen mithin derselben Phantasmatik. Sie unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Strategien: Verdeckung vs. Offenlegung, Diskrimination vs. Fusion: »D. h. Krankheit leistet zwar so etwas wie selbst gnostischen Widerstand gegen den Unbewußtheitsverschluß des jeweils in ihr thematischen Objektivitätsausschnitts; doch da sie auf ihrem überschwänglichen Kurs der Rückaneignung desselben nicht umhin kommt, dessen Kriegsextrem (Absolutsetzung) anzugehen und sich zueigen machen zu wollen, verfällt sie in einem diesem Extrem selbst in der Form des Selbstopfers und des daraus sich ergebenden Leidens. Krankheit – das ist das in die Fühlbarkeit des Subjekts ver-setzte (sich absolutgebende) Kriegsextrem der entsprechenden (dinglichen) Objektivität.«126

125 Rudolf Heinz: Krankheit und Devianz. In: Ders.: Pathognostische Studien IV. Von der Psychoanalyse zur Pathognostik. Übergänge und Ausflüge. Essen 1998 (= Genealogica; Bd. 25), S. 44– 51, hier S. 47. 126 Rudolf Heinz: Was ist Pathognostik? In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 1 (1984), S. 10–17, hier S. 11.

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I. Präludium

Das Körper-Ding-Verhältnis ist somit das zentrale Strukturmodell der Pathognostik, wobei Körper immer mehr meint als die bloße Fleischlichkeit / Materialität: Insofern sich das Begehren des Menschen auf die Überwindung von Sterblichkeit und Endlichkeit richtet, steht der Körper immer auch für das einzelne, endliche, begrenzte Subjekt. Gemäß der pathognostischen Grundthese sind es somit die vom Menschen geschaffenen Dinge, die einen quasi göttlichen Status, die Position des erfüllten Begehrens, erlangen: deus est machina, ließe sich somit formulieren. Nicht ganz eindeutig ist bei Heinz das Verhältnis von »Ding« und »Medien«. Teils werden die Medien analog verstanden, d. h. das Ding wird als Körper- und das Medium als Gedächtnisprothese aufgefaßt.127 Teils scheinen die »Medien« unter den Dingbegriff subsumiert werden zu können.128 Letzteres ist für die Anwendbarkeit der Theoreme auf das ausgehende 18. Jahrhundert von großer Bedeutsamkeit, da diese Zeit insbesondere gekennzeichnet ist von der Expansion der Schriftmedien. Die Dingproduktion im engeren Sinne rückt, so legt gerade die Auseinandersetzung mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nahe, erst allmählich mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der westeuropäischen Gesellschaften und erreicht (in Deutschland) womöglich erst in der Wirtschaftswunder- und Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt, während sie in der postindustriellen Medienwelt erneut abgelöst zu werden scheint. Damit wäre möglicherweise die Anfang der 1970er Jahre innerhalb des sozialgeschichtlichen Forschungsparadigmas von Christian Enzensberger gestellte Frage, »ob sich das Phänomen der Empfindsamkeit nicht auch wahrscheinlich machen läßt als direkte, klassenspezifische Auswirkung einer neuen Pro-

127 Zu dem für die Pathognostik grundlegenden Modell vgl. Rudolf Heinz: Überlegungen zu einem Tagungsprojekt über Psychose. In: Ders.: Zerstreuungen. Aufsätze, Vorträge, Interviews zur Pathognostik. Wien 1993, S. 109–121, hier S. 113. 128 Vgl. etwa Rudolf Heinz: Der Einsatz der Seinsfrage – nach Heidegger. In: Ders.: Zerstreuungen, S. 17–36, hier S. 21. – Der Heinz-Schüler Christoph Weismüller hat unlängst – genau umgekehrt – den Medienbegriff als den umfassenderen Begriff konzipiert. Unter dem Aspekt der Repräsentation ist dies höchst plausibel. Allerdings kommt man auf diesem Wege unweigerlich in terminologische Schwierigkeiten, indem »Medien« bisweilen im weiteren Sinne jegliche Form der Selbstvermittlung des Menschen (im Hegelschen Sinne selbstredend) bezeichnen, bisweilen aber auch bloß im engeren und alltagssprachlichen Sinne etwa Schrift- oder Bildmedien meinen. Vgl. Christoph Weismüller: »Es geht um’s Ganze. Die Darstellung der Probleme des Erscheinenden. Richard Wagners Präkonzeption des Musikdramas Lohengrin.« Vortrag auf der Veranstaltung »Richard Wagner: Unangenehme Fragen an eine europäische Moderne«, 18.10.2003 im museum kunst palast, Düsseldorf. Vgl. auch ders.: Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit. Würzburg 2001, S. 9 f. Vgl. im übrigen auch schon Gisela Berendt u. Christoph Weismüller: Vorrede. In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 1 (1984), S. 5. – Einen aktuellen Überblick über Medienbegriffe und -konzepte gibt Reinlein: Brief als Medium, S. 27–33.

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duktionsweise und neuer Produktionsverhältnisse«,129 erst innerhalb des medienhistorischen und -theoretischen Paradigmas angemessen zu beantworten. Die »Ausweitung der Psychoanalyse auf Objektivität«130 und die philosophische Fundierung zentraler Begriffe der Freudschen Psychoanalyse wie Ödipuskomplex, Narzißmus und Todestrieb geben ein brauchbares Instrumentarium zur Deutung kulturgeschichtlicher Phänomene an die Hand. Überdies ergeben sich Anknüpfungspunkte für die neuere, medientheoretisch und medienhistorisch ausgerichtete Forschung zur Empfindsamkeit.131 Aufgrund einer gewissen Nähe zu anderen ideenund kulturhistorischen Untersuchungen, die ebenfalls von der Psychoanalyse – und dabei insbesondere von der Narzißmustheorie – ausgehen, sei hier noch betont, daß gerade die für die Pathognostik kennzeichnende Objektivitätswende und das Begreifen individueller und kollektiver Prozesse im Ausgang vom Todestrieb die Deutung der historischen Entwicklungen im Sinne revidierbarer Irrwege132 nicht nahelegt.

3.1.2 Die Dialektik der Selbstabsolutheit: heillos und kulturschaffend zugleich »[…]; allgegenwärtig --- und nirgend wo; alles --- und nie etwas --- verdammter zwiefacher Mensch!«133

In Anlehnung an die soeben dargestellten pathognostischen Theoreme möchte ich von dem narzißtischen Begehren134 nach der vollständigen Identität von Ich und Nicht-Ich ausgehen, demzufolge sich menschliches Dasein – sehr schematisch ge129

Zit. nach Vollhardt: Aspekte, S. 57. 130 Heinz: Programmatischer Vorschlag zu einer Ausweitung der Psychoanalyse auf Objektivität. 131 Heinz beschreibt beispielsweise die Ersetzung des Körpers durch die Schrift, die ja auch Koschorke diagnostiziert hat, als Symptom der Hysterie. Vgl. Rudolf Heinz: Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie. Vol. I. Wien 1994, S. 23 u. 25. Die Substitution des Körpers durch die Schrift steht letztlich für die »Erfüllung« der Menschheitspassion, den sterblichen Körper »insgesamt kulturell-dinglich progredient abzuschaffen« (ders.: Einsatz der Seinsfrage, S. 31). 132 So etwa bei Horst E. Richter: Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Reinbek bei Hamburg 1979 oder auch bei Hartmut u. Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1983. 133 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. Mit einem Nachwort v. Heinz Nicolai. Stuttgart 1962 (Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands »Teutschem Merkur«), S. 95 (Merkur: 246); vgl. JWA 6,1, 67. 134 Heinz spricht selten vom »Begehren«. Der Begriff »Begehren« wird hier im Anschluß an Lacan verstanden als ein aus einer fundamentalen Differenz resultierender Wunsch, der beständig und vergeblich darauf ausgeht, den unaufhebbaren Mangel zu beseitigen. Innerhalb der Lacanschen Theorie hat das Begehren allerdings seinen spezifischen Ort, der sich darstellt »als ein eng verschlun-

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I. Präludium

sprochen – verstehen läßt als auf Verschmelzung respektive Aneignung ausgehende Bewegung vom endlichen Ich zum Nicht-Ich oder der ›Welt‹. »Der Narzißmus ist nicht eine pathologische Form des Subjekts. Er ist als Transzendenzwunsch des Subjekts konzipiert, ein Subjekt, das Welt werden will.«135 »Welt« ließe sich unter Rekurs auf das in der Soziologie verwendete triadische Schema differenzieren in die Welt der Subjekte (Mitmensch) und die der Objekte (Natur).136 Die einzelnen Positionen dürfen dabei jedoch nicht als ontologische Einheiten, als vorgegebene, deutlich abgrenzbare Entitäten verstanden, sondern müssen als immer schon in der Vermittlung existierende, aneinander allererst entstehende Pole gedacht werden.137 Die Bezugnahme zwischen den einzelnen Positionen der Triade ist mithin derart, daß in ihr der Bezug und die Bezugspunkte allererst hergestellt werden. Es gibt gewiß kein vorgängiges, autonomes Ich, das seine Weltbezüge bewußt festlegt. Vor allem die diachrone Perspektive offenbart den unvermeidlichen Konstruktcharakter jedes Modells: Subjektivität und Identität sind in einem spezifischen, uns geläufigen Sinne allererst Resultate der Moderne. Der mittelalterliche und frühneuzeitliche Mensch war in einer Weise in den ihn umgebenden Kosmos, in die göttlich sanktionierte Ordnung eingebunden, daß die begehrte Transzendierung immer schon durch die kulturelle Ordnung selber gewährleistet war. Auch der Körper war hiervon betroffen, wie Albrecht Koschorke am Beispiel der Durchlässigkeit des vormodernen Körpers, seines beständigen Austauschs mit der ihn umgebenden Umwelt, eindringlich gezeigt hat. Dem gegenüber steht der Bürger der Moderne, dem solche Durchlässigkeiten als Bedrohung der Integrität seines Selbst erscheinen.138 Somit ist zwei-

genes Netzwerk von Sprache, Wunsch und Intersubjektivität« (Pagel: Lacan zur Einführung, S. 61; vgl. auch S. 68 f.). In dieser besonderen Lacanschen Bedeutung soll der Begriff hier nicht verwendet werden. – Zu unterscheiden ist ferner der Begriff »Begehren« im Sinne eines Aspekts des »Anderen der Vernunft«; »Begehren« in diesem letzteren Sinne ist – grob gesprochen – alles das, was dem Begehrungsvermögen entstammt (vgl. das Kapitel III in dieser Arbeit). 135 So Vittoria Borsò kommentierend zu Foucaults Revision der Freudschen Traumdeutung und Narzißmus-Theorie (Vittoria Borsò: Foucault und Binswanger – der Traum, der Tod und der Andere. In: Rudolf Heinz u. Wolfgang Tress [Hg.]: Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie. Wien 2001 [= Passagen Philosophie], S. 117–128, hier S. 118). Vgl. auch: »Das Subjekt wird jedoch dabei selbst zur Welt; es will dort sein, wo der Andere ist.« (Ebd., S. 122) 136 Vgl. Alfons Labisch: Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Zum Wesen ärztlichen Handelns in der Moderne. In: Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift 45 (1992), S. 816–825, hier S. 818 sowie ders.: »Gesundheit« im Wandel der Zeiten. Zur Geschichte und Theorie des Problems »Medizin in der Gesellschaft«. In: Bundesvereinigung für Gesundheit e. V. (Hg.): Gesundheit. Strukturen und Handlungsfelder. Neuwied 1999, I 1, S. 1–60, hier S. 23–28. Labisch bezieht sich hierbei auf die philosophische Anthropologie von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen sowie auf die Soziologie von Norbert Elias. 137 Vgl. Heinz: Philosophische Einführung, S. 24 und ders.: Hinführung zur Pathognostik, S. 53. 138 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 46 f. Koschorke sieht die »kontagiöse Verschlungenheit« als das »Lebensprinzip der traditionalen Gesellschaft« an (ebd., S. 52).

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erlei an dem skizzierten und notwendig schematischen Modell immer zu bedenken: einerseits die idealtypische, gewiß auch der Perspektive der Moderne geschuldete Überzeichnung der triadischen Positionen und andererseits die historische – und kulturelle – Variabilität ihrer Beziehungsgestaltung. Jenseits der geschichtlich differierenden Ausgestaltung des Beziehungsgeflechts läßt sich aber – in abendländischer Filiation und etwa auf der Linie neuplatonischmystischer Vereinigungsimaginationen – als Ziel einer Bewegung vom endlichen Ich zur ›Welt‹ jene narzißtische Absolutheitsposition identifizieren, in welcher Ich und Welt, Eins und Alles, verschmelzen und sich zugleich – um des Genusses willen – als getrennte erhalten.139 In (zumindest) christlichem Verständnis wäre dies die Gottesposition: Gott als Person, Subjektivität und als allumfassende Objektivität (omnipotent, omnipräsent, omniscient etc.).140 Heinz spricht daher im Hinblick auf das in Rede stehende Begehren von der »menschlichen Gottesleidenschaft«, der »Menschheitspassion der Selbstabsolutheit«, dem »Phantasma der causa sui«.141 Die in letzter Konsequenz intendierte Position kann zudem als diejenige absoluter Freiheit angesehen werden, insofern sie vollkommene Autonomie, d. h. Tilgung jeglicher Heteronomie, zu realisieren verheißt. Es treibt den Menschen demgemäß die Sehnsucht nach der »schieren Unbedürftigkeit: Autonomie / Autarkie / Absolutheit« um.142 Was jedoch als in der Gottesposition – widersinnigerweise – erfüllt gedacht ist, erweist in seiner Variante als säkulares Menschheitsprogramm seine Fatalität. Das Problem nämlich besteht darin, daß Ich nicht zugleich Eins (endliche Subjektivität) und Alles (die ganze Welt) sein kann. Die durch das Begehren nach der Absolutheitsposition in Gang gesetzte Bewegung zur Totalität der Welt, zur Transzendierung der Endlichkeit, ist zugleich ein Prozeß der Indifferenzierung, in dessen Verlauf das endliche Ich sich auflöst, verschwindet.143 In Anlehnung an Rudolf Heinz kann daher 139

Interessant ist, daß der späte Schelling diese Position des Eins und Alles – als »das semantische Idol, das absolute Existenzschema« – in der allgemeinen Struktur unseres prärationalen Weltbezugs wurzeln läßt. Die Figur ist damit zwar anders hergeleitet, auch vom Willen nach Gottesbegründung getragen, aber ebenso basal in der spezifisch menschlichen Existenzweise verankert (vgl. Wolfram Hogrebe: Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert. Kritik der idealistischen Vernunft. Schelling, Schleiermacher, Schopenhauer, Stirner, Kierkegaard, Engels, Marx, Dilthey, Nietzsche. München 1987, S. 74). 140 Vgl. hierzu Lacans Begriff des »Realen« gemäß Pagel: Lacan zur Einführung, S. 57. Die Bedeutung des »Realen« verändert sich jedoch in der Theorie Lacans; vgl. Gekle: Tod im Spiegel, S. 27–29. – Dieser traditionellen Gottesposition entspräche in der Hegelschen Philosophie die vollendete, die zu sich selbst gekommene Vernunft (An-und-Für-sich-Sein), oder das »absolute Wissen« (nicht zuletzt als das Wissen davon, im anderen seiner selbst bei sich zu sein). 141 Heinz: Philosophische Einführung, S. 14, 19 u. 33. 142 Heinz: Hinführung zur Pathognostik, S. 49. 143 Vgl. hierzu auch Borsò im Hinblick auf das Foucaultsche Verständnis des Traumgeschehens: »Infolge des Freiheitsbegehrens, das am Ursprung der Kosmogonie seiner Existenz steht, sucht das Ich im Traum die Einheit mit den Dingen. Es wird zu Welt und irrealisiert sich dabei als Dasein.«

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I. Präludium

die für das Menschsein konstitutive Tendenz als »Todestrieb« bezeichnet werden.144 Der Todestrieb ist die notwendige, nicht hintergehbare Begleiterscheinung des Begehrens nach der narzißtischen Absolutheitsposition oder des Begehrens nach absoluter Freiheit. Man kann nicht vom endlichen Ich zur Totalität übergehen, ohne zugleich als dieses endliche Ich unterzugehen. Doch ist der Tod nicht eigentlich intendiert, intendiert ist vielmehr die Unmöglichkeit des Eins und Alles, Ich und Welt. Das Ich darf nicht wirklich verschwinden, sondern muß als die die absolute Erfülltheit genießende Instanz bewahrt bleiben. Mit der Auflösung des endlichen Ich bräche somit auch die narzißtische Absolutheitsposition selber in sich zusammen. Die Vernichtung wäre eine totale. Am Ende des Todestriebs, der den Tod nicht will, steht einzig der Tod.145 Das narzißtische Begehren nach der Absolutheitsposition offenbart sich somit als ein letztlich unauflösliches Dilemma, das im Konkreten – d. h. auch in der konkreten Individualgeschichte und in konkreten historischen Phänomenen, wie sich zeigen wird – eine heillose Dialektik von Selbstauflösung und Restitution des Selbst zur Folge hat. In einem gewissen Sinne könnte man sagen, daß genau darin das Leben besteht, verstanden als die Kraft der Produktivität. Paradox ließe sich formulieren, daß es ohne Todestrieb keine menschliche Kulturschaffung geben würde, diese wiederum verstanden im weitesten Sinne, d. h. als die Gesamtheit menschlicher Hervorbringungen.146 Damit fallen im übrigen auch Eros und Thanatos zusammen.147 Sehr zutreffend ist daher hier von »Transdeszendenz«, einer »Aufstiegs- und Fallbewegung« die Rede (vgl. Borsò: Foucault und Binswanger, S. 122). 144 Vgl. hierzu in Kürze Rudolf Heinz: »Todestrieb«. In: Anthropologica. Bulletin der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie und Psychosomatik (RAAP) 4 (1998), Heft 1, S. 21– 27, hier S. 24 f. Heinz greift auf Freuds Begriff des Todestriebs zurück, den dieser erst in seinem Spätwerk als dualistisches Pendant des Lebenstriebs (Libido) eingeführt hat und der innerhalb der psychoanalytischen Tradition vielfach auf Kritik gestoßen ist. Auch Lacan hatte – im Zusammenhang mit der Mutterimago – diesen Begriff bereits verwandt, um das Streben nach Rückkehr in den Mutterschoß, d. h. nach Rückgängigmachen der Geburt, terminologisch zu fassen. – Im Unterschied zu meiner eigenen Darstellung operiert Heinz selbst nicht mit solchen Entgegensetzungen wie »Ich« und »Nicht-Ich«, »Subjekt« und »Objekt«. Für ihn ist dagegen die Dingproduktion, verstanden als Versuch einer Abschaffung des sterblichen Körpers in die tote Dinglichkeit hinein, grundlegend. 145 Die biblische Geschichte vom Sündenfall, von der später noch die Rede sein wird, erweist sich hier schon als Offenbarung jener Unheilsdialektik, die menschliches Dasein unausweichlich prägt: Wer sein will wie Gott, ist des Todes. Vgl. ebenso 2. Mose 33,20: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.« – Auch die im Begriff des Todestriebs enthaltene Ambivalenz – der Tod als größtes Unheil und als Weg zum Heil – ist traditioneller Bestandteil christlicher Theologie (vgl. Meredith Lee: Klopstock’s Temple Imagery. In: Lessing Yearbook XIII [1981], S. 209–226, hier S. 220). 146 Gemeint ist dies etwa in jenem Sinne, wie im Rahmen der philosophischen Anthropologie – besonders explizit bei Arnold Gehlen – die Kultur des Menschen seine Natur ist. – Vgl. zum seinsschaffenden Charakter des Todestriebs auch Heinz: Hinführung zur Pathognostik, S. 51. 147 Diesen »undualistisch[en]« Ansatz vertritt auch Rudolf Heinz, wobei er allerdings, indem er

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Die endliche Subjektivität und das Transzendierungsbedürfnis sind zudem Ursprungsort einer zweifachen Schuld. Zum einen kann – gemäß der spinozistischen Formel »omnis determinatio est negatio«148 – ein bestimmtes Sein nur existieren durch Nicht-Sein. Schuld wäre hiernach im Sinne Heideggers zu verstehen als »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit«.149 Jedem Sein ist somit notwendig immer schon ein Mangel eingeschrieben. Zum zweiten gibt das für Menschsein konstitutive, todestrieblich bestimmte Begehren nach der narzißtischen Absolutheitsposition menschlichem Dasein einen imperialen Zug, der in der Philosophiegeschichte in so harmlosen Begriffen wie »perfectibilité« (Rousseau) oder »Exzentrizität« (Plessner) seinen Niederschlag gefunden hat.150 Verschleiert wird damit dessen Destruktivität, denn die Bewegung zum »Anderen« (Nicht-Ich, Welt) läuft in letzter Konsequenz auf die Vernichtung des Ich und / oder des »Anderen« hinaus.151 Auch hiermit ist der konstitutive Zusammenhang von Endlichkeit / Sterblichkeit und Schuld angezeigt. Die Aufklärungszeit mit ihren Entdeckungsund Eroberungsreisen, mit ihrem Weltaneignungsprogramm, das auch dann zur Vernichtung des »Anderen« führte, wenn es nicht zu Krieg oder Völkermord kam, ist somit geradezu ein Musterfall dieses basalen Imperialismus. die narzißtische Position vornehmlich unter dem Aspekt des »Alles« sieht, einen Trieb zur Sanktion der Erfüllung, da diese der Tod wäre (also: damit überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts), unterstellen muß (vgl. Heinz: Philosophische Einführung, S. 14 sowie ders.: Hinführung zur Pathognostik, S. 50). Dagegen wäre die Verhinderung des Todes als Differierungsbewegung dem Narzißmus selbst immanent, wenn man diesen als Zugleich-Eins-und-Alles-sein-Wollen begreift, was in der Heinzschen Wendung »ungetrennt und unvereint« aber gleichwohl auch mitgedacht zu sein scheint (vgl. Rudolf Heinz: Psychopathologie und Grenzfindung. In: Anthropologica. Bulletin der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie und Psychosomatik [RAAP] 1 [1995], Heft 1, S. 25–30, hier S. 27 u. 30; vgl. auch ders.: Entsühnung. In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 1 [1984], S. 78 f., hier S. 79). 148 In dieser Form geht die Formel auf Hegel zurück. Vgl. JWA 1,1, 22 u. 100 sowie der Kommentar JWA 1,2, 400 f. (zu 22,24), wo sich auch die Hinweise auf Spinoza und Hegel finden lassen. 149 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 14., durchges. Aufl. Tübingen 1977, S. 283. – Vgl. hierzu auch Sartres Bestimmung des Menschen als eines Seienden, »dem es in seinem Sein um das Nichts des Seins geht« (Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 1962, S. 63). – Vgl. hierzu auch Feuerbachs Bestimmung des Bösen als eines Prinzips, »vermöge dessen und in dem ein Etwas sich selbst, seine Besonderheit bejaht, in dieser Bejahung seiner selbst aber ein andres verneint« (zit. nach Christine Weckwerth: Ludwig Feuerbach zur Einführung. Hamburg 2002 [= Zur Einführung; Bd. 254], S. 20). 150 Nach Plessner ist alles Leben gekennzeichnet durch »Positionalität«, der Mensch durch eine »exzentrische Positionalität« (vgl. Hellmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin u. a. 1928, S. 311). 151 Vgl. hierzu auch Gerda Pagels Auslegung der Narziß-Mythe im Kontext der Darstellung des Lacanschen Spiegelstadiums: »Das Eins-sein-Wollen mit sich selbst ist letztlich nur in der Vernichtung des einen – sich selbst – oder des anderen – des idealisierten Bildes – möglich.« (Pagel: Lacan, S. 35.)

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Im Sinne einer mythischen Selbstaufklärung des Menschen wäre danach die biblische Geschichte vom Sündenfall zu lesen: In dem Moment, wo der Mensch begehrt (was nicht sein ist), offenbart er sich als ein Wesen, dem etwas mangelt, also als endlich, sterblich. Er wird somit »des Todes sterben«,152 eine Todesart, »in der der Mensch um seinen Tod weiß, ihm geistig gegenübertritt und ihn damit vorauslebt«.153 Der Mensch erkennt mithin diese seine Endlichkeit / Sterblichkeit und versucht, sie zu verbergen, wegzuschaffen: das Feigenblatt vor der Scham als Sinnbild, die Reproduktionsorgane als die – neben der Nahrungsaufnahme – exponierteste Anmahnung der Gewordenheit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit. Ineins damit ist der Mensch schuldhaft in sein Dasein verstrickt. Er ist mit sich selbst entzweit. Sein nicht hintergehbares Begehren, den Mangel zu beseitigen – und zwar total zu beseitigen, d. h. alles zu haben und zu sein – läßt ihn notwendig übergriffig werden: gewaltsam eindringend, die Rechte des Anderen verletzend. Demgegenüber stellt sich der verlorene paradiesische Zustand als ein Zustand vollkommener Mangellosigkeit und Selbstgenügsamkeit dar: Keine Differenzerfahrung trübt das Dasein, kein Begehren drängt über das Gegebene hinaus. In jüdisch-christlicher Tradition begründet die »Fundamentalschuld der Sterblichkeit«154 somit die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. In der Heilssuche geht es um eine Überwindung der Endlichkeit, durch welche man sich zugleich von Schuld befreite: »dem allgemeinen Gehalte nach« besteht mithin »die fundamentale Menschheitspassion« in nichts anderem, als »letztlich den Tod und davor alle weiteren schuldbedingenden Abhängigkeiten abzulegen«.155

3.2 Die Aufklärung als Säkularisierung des Heilsgeschehens ? 3.2.1 Das Christentum als historische Antwort auf die conditio humana Im Christentum erscheint der erlösungsbedürftige Mensch156 eingeklammert von einer vor- und einer nachgeschichtlichen Heilssituation: dem Zustand paradiesischer Unschuld, die den Tod nicht kannte, korrespondiert die ewige Glückseligkeit im

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1. Mose 2,17. Bernhard Blume: Orpheus und Messias: zur Mythologie der Unsterblichkeit in Klopstocks Dichtung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 21–34, hier S. 30. 154 Rudolf Heinz: Pathognostische Äquivalente zu »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«. In: Kaum Halbjahresschrift für Pathognostik 2 (1986), S. 22–26, hier S. 26. – Daß im Mythos selber die Sterblichkeit als Folge (Strafe) der Verschuldung dargestellt ist, spricht nicht gegen die vorgeschlagene Deutung. Eine mythische Erzählung ist keine philosophische Deduktion; sie ist verschlüsselt und bedarf der Auslegung. 155 Heinz: Philosophische Einführung, S. 16. 156 Vgl. hierzu Röm. 8,19 ff. 153

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Himmel. Der Weg dorthin (zurück) ist bereitet durch den Opfertod Jesu Christi. An ihn knüpfen sich die zentralen Heilsversprechen des Christentums: die Auferstehung und die Vergebung der Sünden, d. h. die Erlösung von Sterblichkeit und Schuld. Das christliche Verständnis des Heilsgeschehens als Erlösung auch von der Schuld durch die Überwindung des Todes in der Auferstehung setzt voraus, »daß der Tod des Menschen zugleich das Integral seines Unheils, also seiner Endlichkeit, seiner Schuld und seiner Zwiespältigkeit ist«.157 Im Christentum tritt an die Stelle der Gesetzestreue als Heilsweg des Judentums der Glaube, der sich manifestiert in der Nachfolge Christi, nicht zuletzt als einer Opfergestalt (»agnus dei«): initiatorisch in der Taufe, gelebt im Liebesgebot, mit welchem das Selbstopfer idealiter auf Dauer gestellt ist. Die Bindung der Erlösung an das Opfer ist konstitutiv für religiöse Symbolbildungen. Schon in den archaischen Kulturen stand das Opfer im Zentrum der religiösen Riten.158 Es erscheint wie eine hypostasierte, symbolisch verdichtete Repräsentation der (todestrieblichen) Bewegung des Begehrens, die ebenfalls den Charakter des Daueropfers trägt und die ihrem letzten Ziel gemäß als Heils- oder Erlösungsbewegung verstanden werden muß. Das religiöse Opfer wäre dann eine punktuelle Vorwegnahme des Heils, ein symbolisches Stillstellen der de facto endlosen – und heillosen – Spirale.159 Allerdings liegt auch hierin schon das ganze Elend beschlossen: Im Falle des Menschen- oder Tieropfers ist die Parierung des Todes immer durch den Tod erkauft, immer selber todbringend. Durch den Opfervorgang tritt das Heil (scheinbar) in die Verfügungsgewalt des Menschen: Es erscheint so disponibel – vielleicht in eben der Weise, wie jenes Kind den Verlust der Mutter dadurch bewältigt, daß es spielerisch ein Objekt wiederholt verschwinden und wiedererscheinen läßt: ein Spiel von Tod und Auferstehung.160 Während die Opferhandlung heidnisch-archaisch darauf gerichtet war, die Götter milde zu stimmen und auf diese Weise die Not des Daseins, d. h. die Mangel- und Dif-

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Martin Seils: Heil und Erlösung IV. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause u. a. 36 Bde. Berlin u. a. 1977–2004, Bd. 14, S. 622–637, hier S. 631. 158 Vgl. Ulrich Barth: Säkularisierung I. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29, S. 603–634, hier S. 628. Vgl. ebenso Michael Oppitz: Opfer im Ritus. In: Kamper / Wulf: Anthropologie, S. 370– 392, hier S. 375: »Das Opfer ist der zentrale Akt des Ritus«. Gemäß der Opfertheorie von H. Hubert und M. Mauss hat das Opfer die Funktion, zwischen den Sphären des Sakralen und des Profanen zu vermitteln (ebd., S. 372). 159 Deshalb ist »das Opfer […] das Heilige schlechthin, lateinisch sacrificium, heiliges Tun, griechisch hiereúein« (Walter Burkert: Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt. München 1984, S. 18; zit. nach Nan Mellinger: Fleisch. Ursprung und Wandel einer Lust. Eine kulturanthropologische Studie. Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 84). 160 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. 18 Bde. London u. Frankfurt a. M. 1947–1968, hier Bd. 13, S. 11–15, bes. S. 11 f. u. 14, wo vom »Bemächtigungstrieb« die Rede ist. – Vgl. Pagel: Lacan zur Einführung, S. 64.

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ferenzerfahrung zu mäßigen,161 verheißt das Selbstopfer des Gottes im Christentum endgültige Erlösung, wiewohl eine ins Jenseits bzw. ans Ende aller Tage transferierte. In beiden Fällen bedarf es einer ständigen Wiederholung, die Teilnehmen erfordert und Teilhabe allererst garantiert. Im Christentum ist diese Teilnahme ins Symbolische verschoben, zugleich aber ins Drastische überhöht: Nicht wird lediglich das dem Gott Geheiligte verzehrt, sondern er selbst wird inkorporiert. Damit ist das Begehren nach dem Einswerden (Identität) mit dem Göttlichen, das ebenfalls in der Menschwerdung Gottes in Christus Gestalt gewinnt, im Christentum in radikaler Weise offengelegt – und zwar bei Übernahme des jüdischen Monotheismus: An die Stelle rivalisierender, mit unterschiedlichen Potenzen ausgestatteter Götter tritt der all-einige, omnipotente Gott. In der Person Gottes realisiert sich das unendliche Subjekt als die Quadratur des Kreises; durch Christus ist dem (einzelnen!) Menschen der Weg zu dieser Heilsfigur geebnet.

3.2.2 Der Umbruch ins Säkulare Die im Christentum schon angelegte (Prinzip der Subjektivität), und seit der Renaissance – mit ihrer Hinwendung zum diesseitigen Menschen – sich zunehmend verweltlichende Wende der Heilsgeschichte erfährt innerhalb der europäischen Aufklärung – radikal theoretisch, in Ansätzen aber auch schon praktisch – ihre endgültige Transposition ins Säkulare.162 In dieser Verlagerung der Transzendenz – hier verstan-

161 Vgl. Oppitz: Opfer im Ritus, S. 375: »Opfer sind oft Vorschuß-Devisen eines transzendentalen Handels«. 162 Vgl. hierzu Hegels Philosophie der Religion, wonach einzig das Christentum das Absolute angemessen als Subjektivität, als Selbstbewußtsein – und zwar in den für Hegel grundlegenden Bestimmungen desselben – faßt. Auch weiß es bereits – allerdings nur in der Form der Vorstellung – von der Identität des menschlichen und des göttlichen Geistes; deshalb ist das Christentum innerhalb der Hegelschen Religionsphilosophie die »vollendete Religion«. Allerdings begreift es die Identität noch nicht adäquat, denn in der Form der Vorstellung erscheint sie als Identität eines bestimmten Menschen – Jesus von Nazareth – mit Gott. Die neuzeitliche Philosophie dagegen erfaßt diese Identität im Begriff, d. h. sie vermag den allgemeinen Charakter dieser Identität zu begreifen: menschlicher und göttlicher Geist sind eines Wesens. Vgl. hierzu Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. 3 Tle. Hamburg 1993–1995, hier Teil 3: Die vollendete Religion. Neu hg. v. Walter Jaeschke (= Philosophische Bibliothek; Bd. 461) sowie Walter Jaeschke: Kunst und Religion. In: Friedrich Wilhelm Graf u. Falk Wagner (Hg.): Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Stuttgart 1982 (= Deutscher Idealismus; Bd. 6), S. 163–195. – Vgl. im übrigen Heinrich Schmidinger: Christliche Anthropologie und postmoderne Dekonstruktion der Subjektphilosophie. In: Eduard Beutner u. Ulrike Tanzer (Hg.): Literatur als Geschichte des Ich. Würzburg 2000, S. 303–313, hier S. 305 f.

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den im Sinne der einstmals transzendenten Gottesposition – in die Immanenz gründet die moderne Kultur und Gesellschaft.163 In nuce ist sie versinnbildlicht in Rousseaus Lehre vom Menschen im Naturzustand als einer enttheologisierten, säkularen Geschichte des Sündenfalls. Wie der paradiesische Mensch lebt auch der ›edle Wilde‹ Rousseaus in einem vormoralischen Zustand (»Naturgüte«), auch er ist – wie der Mensch im Paradies – sich selbst genug, kennt kein Begehren, das nicht umgehend befriedigt werden kann und kennt somit weder einen Mangel noch eine aus diesem resultierende Übergriffigkeit: »Der natürliche Mensch ist sich selbst alles. Er ist die ungebrochene Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder seinesgleichen eine Beziehung hat.«164 Daß er in diesem Zustand vollkommener Selbstgenügsamkeit gottähnlich ist, lassen die Träumereien eines einsamen Spaziergängers ahnen: »Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein, und solange dieser Zustand währt, ist man, wie Gott, sich selbst genug.«165 Folgt man den Ausführungen Rousseaus, so verläßt der Mensch erst in jenem Moment den Naturzustand, wo sich Subjektivität konstituiert, und zwar als Reflexivität, die sich herstellt über den Anderen. Den endgültigen Sündenfall markiert schließlich die Entstehung 163

Vgl. Horst Stuke: Aufklärung. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, S. 243–342, hier S. 245: »Nach der heute vorherrschenden Definition bezeichnet ›Aufklärung‹ als Epochenbegriff jene in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzende und im 18. Jahrhundert kulminierende europäische Geistesbewegung, durch die in einem alle menschlichen Lebensbereiche von Grund auf verändernden Säkularisationsprozeß die ›moderne Welt‹ heraufgeführt und eine umfassende ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) eingeleitet wird.« 164 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. Hg., eingeleitet u. m. Anm. versehen v. Martin Rang. Stuttgart 1976, S. 112; vgl. ders.: Émile ou de l’éducation. In: Jean-Jacques Rousseau: Oeuvres complètes. Edition Pléiade. Hg. v. B. Gagnebin u. M. Raybond. 5 Bde. Paris 1959–1995, hier Bd. 4, S. 249: »L’homme naturel est tout pour lui: il est l’unité numérique, l’entier absolu, qui n’a de rapport qu’à lui-même ou à son semblable.« Der Zusatz »ou à son semblable« geht dabei schon über die Ausführungen im 2. Discours hinaus, in welchem der Naturmensch als autark-autonomer Einzelgänger erscheint. 165 Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. In: Ders.: Schriften. Hg. v. Henning Ritter. 2 Bde. München u. a. 1978, Bd. 2, S. 637–760, hier S. 699; vgl. ders.: Les Rêveries du promeneur solitaire. In: Rousseau: Oeuvres complètes, Bd. 1, S. 993–1099, hier S. 1047: »De rien d’extérieur à soi, de rien sinon de soi-même, et de sa propre existence, tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu.« – Interessanterweise wiederholt sich diese Geschichte in gewisser Weise abermals in der Psychoanalyse Freuds bzw. Lacans. Vgl. Pagel: Lacan zur Einführung, S. 57: »Es [= das Reale] bezeichnet vielmehr die Erfahrung des Seins in seiner primären Undifferenziertheit und Positivität, wie sie nach Freud dem Subjekt im Anfangsstadium eignet. […] In ihm fallen Innen und Außen, Phantasie und Realität, Ich und Anderer zusammen.« Dieser Zustand einer Totalerfüllung scheint sich als Erinnerungsspur ins Gedächtnis eingeschrieben zu haben. Damit wäre der Anfang im Sinne der Phylogenese (Paradies, Naturzustand) nun an den Anfang im Sinne der Ontogenese verlegt – oder umgekehrt: letzterer als Ursprung des ersteren aufgedeckt.

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I. Präludium

des Privateigentums. Rousseau formuliert ihn plakativ: »Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft.«166 Grenzziehung einerseits (»mir«) und – ineins damit – der imperiale Charakter der Transzendierung von Grenze andererseits (Besitznahme) symbolisieren somit für Rousseau den Übergang vom Natur- in den gesellschaftlichen Zustand, in welchem der Mensch erst schuldig und seiner Sterblichkeit bewußt wird. Die Trennung von der »Mutter« (sic!) Natur, die um ihr Kind so fürsorglich bemüht war, daß ihm nichts mangelte, ist danach die Quelle alles Unheils, aller Verderbnis. Diese neue Heils- und Unheilsgeschichte ist Ausdruck des säkularen Umbruchs jener Zeit. Die christlichen Antworten auf die grundlegenden, in der conditio humana selbst gründenden Daseinsprobleme verlieren in den Wandlungsprozessen vornehmlich des 18. Jahrhunderts – mithin in der Aufklärungszeit – ihre Selbstverständlichkeit. In dieser Zeit, in der die als göttliche Ordnung legitimierte ständische Gliederung der Gesellschaft zusammenbricht, in der die göttliche Offenbarung durch die Bibel, ja Gott selbst, fraglich wird, in der das sich herausbildende bürgerliche Individuum auf sich selbst zurückgeworfen (Trennung von privater und öffentlicher Sphäre) und die »transzendentale Obdachlosigkeit« (Lukács) als nihilistische Vision sich am Horizont der Geschichte abzeichnet, müssen neue Lösungsmodelle gesucht werden.167 Dies impliziert zumal, daß das Problem der Sterblichkeit / Endlichkeit des 166

Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (= 2. Discours). In: Rousseau: Schriften, Bd. 1, S. 165–302, hier S. 230; vgl. ders.: Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In: Ders.: Oeuvres complètes, Bd. 3, S. 109–237, hier S. 164: »Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.« »Bürgerliche Gesellschaft« heißt in diesem Fall lediglich: Zivilisation (vs. Naturzustand). 167 Die vorliegende Arbeit erhebt keinen Anspruch darauf, die Kausalitäten für diesen fulminanten Umbruch zu klären – zu vielfältig und langfristig wirksam sind die Einflußfaktoren. Vgl. hierzu die Darstellung in Werner Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 12 f. Erklärungen laufen daher leicht Gefahr, sich in einen Zirkel zu verstricken. Im Grunde geht schon die auch von mir unterstellte Reihenfolge, die eine Kausalität anzuzeigen scheint, fehl. – Eine die Erträge der Forschung differenziert berücksichtigende Darstellung entscheidender Einflußfaktoren findet sich bei Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs: Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt? Perspektiven der Forschung. In: Dies. (Hg.): Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (= problemata; Bd. 124), S. 11–50, hier S. 30–34 u. 42 f. In ihrem Resümee (S. 43) sprechen die Autoren von einem »Gefüge von Prozeßsträngen mit differierenden Anfängen und Enden« – eine Sichtweise, der ich mich gerne anschließe, zumal sie die Möglichkeit eröffnet, einem dieser Stränge (etwa der ›Verschriftlichung der Kultur‹) besondere Beachtung zu schenken, ohne damit zugleich schon zu meinen, einen Schlüssel mit universaler Erklärungskraft in der Hand zu halten. – Vgl. auch Siegfried J. Schmidt: Modernisierung, Kontingenz, Medien: Hybride Beobachtungen. In: Gianni Vattimo u. Wolfgang Welsch (Hg.): Medien – Welten Wirklichkeiten. München 1998, S. 173–186; Schmidt bietet – unter Rückgriff auch auf Luhmannsche Kategorien – eine kompakte Beschreibung der Wandlungsprozesse (ebd., S. 176–179).

3. Kontextualisierungen

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Menschen neu verhandelt werden muß. Die Virulenz der Unsterblichkeitsfrage in der Literatur der Zeit ist hierfür ein prägnantes Symptom.168 Wenn, wie hier angenommen, die Überwindung der menschlichen Sterblichkeit bzw. Endlichkeit das Movens aller Kulturproduktion ist, dann müssen in einer Zeit, in der die alten, transzendenten Heilsversprechen der Religion fraglich geworden sind, neue innerweltliche Wege zum Heil gefunden werden. Die Neugestaltung der europäischen Gesellschaften im Rahmen des »Aufklärung« genannten Säkularisierungsprozesses, der zugleich als »Sattelzeit«169 der die Moderne prägenden bürgerlichen Kultur und Gesellschaft bezeichnet werden kann,170 müßte dann in grundlegender Weise und in allen gesellschaftlichen Bereichen von dem Moment der Endlichkeitskompensation her zu verstehen sein. In dieser radikalen Umbruchzeit muß sich das »schwindende […] Jenseits der Götter«171 zeigen in Formen intramundaner Erfüllung von Unsterblichkeit, als Suche und Sucht nach innerweltlicher Transzendierung der Endlichkeit, nach neuen Orten von Indifferenz, Mangellosigkeit, Vollkommenheit. Als exponierteste Anmahnung der Sterblichkeit / Endlichkeit muß von diesen Umbrüchen der Körper / Leib in besonderer Weise betroffen sein. Dies muß um so mehr gelten, wenn dieser Umbruch zugleich ein medialer ist und das Diktum von Irmela Schneider bestand hat: »Immer dann, wenn neue Medien entstehen, müssen Funktion und Rolle des Körpers neu verhandelt werden.«172 168

Vgl. Blume: Orpheus und Messias, S. 33: »Im Anfang des 18. Jahrhunderts hatte sich die Frage so weit zugespitzt, daß Young beispielsweise erklären konnte, wenige Epochen seien so tief in religiöse Auseinandersetzungen geraten wie die Gegenwart, wobei sich alle Fragen auf die eine reduzieren ließen: Ist der Mensch unsterblich oder nicht?« Blume beruft sich auf Rudolf Unger: Der Unsterblichkeitsgedanke im 18. Jahrhundert und bei unseren Klassikern (1929). In: Ders.: Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethezeit. Berlin 1944, S. 9–36, hier S. 11. Dort heißt es: »Man hat berechnet, daß allein in den acht Jahren zwischen 1751 und 1758 nicht weniger als 54 selbständige Schriften in Deutschland erschienen sind, die diesen Gegenstand behandeln.« (Bei Rehm ist allerdings der Zeitraum 1751–1784 angegeben; vgl. Rehm: Todesgedanke, S. 251.) Vgl. auch Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 211 f., insbesondere: »Indeed, after 1750 articles on the immortality of the soul flourished with an urgency unknown in previous decades (suggesting that the individual’s need to take moral and intellectual charge of his own progression upwards towards God became a new obsession in a theological setting that was increasingly non-Christocentric).« – Gemäß Rehm findet in der Aufklärung eine Todesverdrängung statt; an seine Stelle rückt »die Frage der Unsterblichkeit« (Rehm: Todesgedanke, S. 247; vgl. auch S. 251 u. 257). »Unsterblichkeitsproblem statt Todesgedanke – immer wieder bestätigt sich das.« (Ebd., S. 258.) Vgl. auch den die Darstellung der Aufklärungsphilosophie fokussierenden Aufsatz von Werner Schneiders: Aufklärung als memento mori? In: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), S. 83–96, bes. S. 87–91. 169 Reinhard Koselleck: Einleitung. In: Brunner / Conze / Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. XIII–XXVII, hier S. XV. 170 Vgl. hierzu auch Bödeker / Hinrichs: Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt?, S. 41. 171 Heinz: Vom schwindenden Jenseits der Götter. 172 Irmela Schneider: Anthropologische Kränkungen – Zum Zusammenhang von Medialität und Körperlichkeit in Mediendiskursen. In: Barbara Becker u. Irmela Schneider (Hg.): Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit – Identität – Medien. Frankfurt u. a. 2000, S. 13–39, hier S. 16.

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I. Präludium

Wenn es in dieser Arbeit darum gehen soll, Jacobi in seiner Zeit zu situieren, so kann dies nur gelingen, wenn zunächst der Versuch unternommen wird, diese Zeit philosophisch auf den Begriff zu bringen. Auf der Grundlage der eben skizzierten anthropologischen Prämissen, historischen Verläufe und mythischen Modelle soll dies geschehen. Demzufolge ist mit dem Endlichkeitsbewußtsein des Menschen – dieses in einem doppelten Sinne verstanden, d. h. als Bewußtsein zeitlicher und räumlicher Endlichkeit – ein Begehren nach Transzendierung der Grenzen, das letztlich auf totale Entgrenzung zielt, immer schon mitgesetzt.173 Erfüllungsort dieses Begehrens ist die Gottesposition, verstanden als narzißtische Absolutheitsposition, als Position der Selbstabsolutheit. In der Aufklärungszeit wird diese einstmals jenseitige Position ins Diesseits transponiert, wobei es fraglos zu spezifischen Modellierungen und Brechungen kommt – auch kommen muß.174 In der »Sattelzeit«, in welche der Briefwechsel Jacobis einen repräsentativen Einblick gewährt,175 wird die Gründungsakte der modernen bürgerlichen Gesellschaft verfaßt. Ihr Prinzip, so lautet die These, ist der Eingang der einst transzendenten Gottesposition in die Immanenz, ihr Programm das einer Selbstschöpfung des Menschen, die seine Selbsterlösung impliziert.176 Dies bedeutet etwa auch, daß die »Erwartung innerweltlicher Erlösung«, die für die Aufklärungszeit – vor allem aber für Rousseau, den großen Mythenerzähler der Moderne – so kennzeichnend ist, keineswegs, wie etwa Walter Rothholz meint, ein »Bewußtseinssubstrat« ist, das »neben der sozialgeschichtlichen und politisch173

Daß das Bewußtsein der Endlichkeit den Gedanken der Unendlichkeit impliziert, versteht sich. Ob dies auch das Begehren nach Unendlichkeit einschließt, ist zumindest fraglich. De facto aber scheint es so zu sein. Es müßte darüber hinaus auch de jure so sein, wenn Endlichkeitserfahrung per se Mangelerfahrung wäre. Geht man davon aus, daß die Todeserfahrung nicht unbedingt die des eigenen Todes sein muß – ja vermutlich zuallererst auch nicht ist – wäre dies plausibel: Den Tod eines nahestehenden Menschen wird man immer als Verlust, Entzug etc. erleben. – Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es neben der Erfahrung von Endlichkeit nicht immer schon die Erfahrung von Unendlichkeit gibt. 174 Vgl. hierzu etwa Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. 2., ergänzte Aufl. Frankfurt a. M. 1973 (= Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft), S. 52. 175 Wilhelm Vosskamp spricht von »der ›Epochenschwelle‹ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts« (Wilhelm Vosskamp: Europäische Literatur und nationalgeschichtliche Funktion – eine Replik auf H. R. Jauß. In: Herzog / Koselleck: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, S. 587–589, hier S. 587). 176 In der Literatur, dem Ort der »mythischen Selbstaufklärung des Menschen« (Rudolf Heinz), ist dieses neue Programm dargestellt. Vgl. hierzu etwa die Schiller-Deutung Kaisers (Gerhard Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Anton Rauscher [Hg.]: Säkularisierung und Säkularisation vor 1800. München u. a. 1976 [= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B: Abhandlungen], S. 91–120, hier S. 107) sowie Rainer Gruenter: Über die Liederlichkeit der Gefühle. Brief an Richard Alewyn. In: Ders.: Vom Elend des Schönen. Studien zur Literatur und Kunst. Hg. v. Heinke Wunderlich. München u. a. 1988, S. 123–137, hier S. 130.

3. Kontextualisierungen

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institutionellen Entwicklung des Ancien Regime« herläuft, um gar noch die »Gründe und sachlichen Ziele der französischen Revolution [zu] unterlaufen«,177 sondern – ganz im Gegenteil – ein wesentliches Movens gerade der sozialen und politischen Umgestaltung selber darstellt. Auch diesen Zusammenhang gilt es zu thematisieren. Daß er in der Regel so wenig gesehen wird, hat seinen Grund: Die treibenden Momente der Kulturschaffung zeigen sich unverhüllt in Umbruchzeiten, in (psychischer) Krankheit oder in bestimmten, ›kasernierten‹ Räumen der Gesellschaft, wozu etwa auch der Bereich der Kunst zu zählen ist. Ansonsten kann eine (menschliche) Gesellschaft offenbar nur dann funktionieren, wenn diese Momente verdeckt oder ins Makrounbewußte gesellschaftlicher Strukturen eingegangen sind. Um diese für die gesellschaftliche Produktivität notwendige Unbewußtheit zu gewährleisten, existiert ein Mechanismus der Verdeckung des grundlegenden Begehrens, und zwar interessanterweise sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf derjenigen der sie analysierenden Wissenschaft.178 Allerdings gelangen die treibenden Kräfte – die kulturschaffende Phantasmatik – auch immer wieder zum Vorschein: insbesondere im Kontext bedeutsamer technischer Innovationen.179

177

Walter Rothholz: Jean-Jacques Rousseaus bürgerliche Republik. In: Herfried Münkler (Hg.): Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung. Baden-Baden 1996, S. 127–138, hier S. 131. – Immerhin aber diagnostiziert Rothholz ebenfalls das »Projekt einer innerweltlichen Erlösung«. 178 Vgl. etwa zur Nicht-Thematisierung des Zusammenhangs von Politik und Religion innerhalb soziologischer Theorien Jürgen Gebhardt: Wie vor-politisch ist ›Religion‹? Anmerkungen zu Eric Voegelins Studie »Die politischen Religionen«. In: Münkler: Bürgerreligion und Bürgertugend, S. 81–102, hier S. 84. Rudolf Heinz spricht von der »herrschende[n] Philosophie, die den Verschluß des Makrounbewußten mitbefestigt« (Rudolf Heinz: Shame and Scandal in the Family. Die Psychoanalyse als Wegbereiterin ihres eigenen Untergangs. In: Ders.: Logik und Inzest, Bd. 1, S. 201–282, hier S. 231). 179 Die moderne Medizin ist hierfür sicher eines der herausragendsten Beispiele. Vgl. etwa die Arbeiten von Alfons Labisch, der den historischen Manifestationen des Unsterblichkeitsbegehrens unter dem leitenden Gesichtspunkt des intramundanen Wertes der Gesundheit und insbesondere mit Blick auf die Herausbildung der modernen Medizin gefolgt ist. Vgl. Alfons Labisch: Gesundheit: die Überwindung von Krankheit, Alter und Tod in der Neuzeit. In: Richard van Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Wien u. a. 1998, S. 507– 536. In diesem Prozeß wurde der Körper in der Moderne zum Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens und politischen Handelns. Vgl. ders.: Homo hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 1992.

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I. Präludium

3.2.3 Zum Säkularisierungstheorem Das somit für die Arbeit grundlegende Konzept der Säkularisierung verweist zum einen auf das Aufklärungsgeschehen selbst, das geprägt ist von der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbildes, der intramundanen Begründung des modernen Staates und der aufklärerischen Religionskritik.180 Zum anderen hebt der Begriff der Säkularisierung ab auf die Transformation der christlich-religiösen Inhalte in säkulare Gestalten. Diese Bedeutungsdimension des Begriffs findet sich erstmals bei Hegel ausgesprochen181 und steht für einen Rezeptionsstrang des Säkularisierungstheorems, der von Hegel und den »Rechtshegelianern« über Max Weber und Ernst Troeltsch bis hin zur Theologie und Religionssoziologie des 20. Jahrhunderts reicht. Säkularisierung wird in allen diesen Theorien verstanden als »›Transposition‹ von Glaubensformen und Verhaltensweisen von der religiösen auf die weltliche Sphäre«.182 Bei Hegel ist es das christliche Prinzip der Freiheit, das sich im modernen (bürgerlichen) Staat realisiert,183 worin zugleich die sich im historischen Prozeß durchsetzende und ausgestaltende Vernunft zu sich selbst kommt, d. h. in der Objektivität sich ganz erfüllt.184 Folgt man weiter dem Hegel-Schüler Carl Ludwig Michelet, so bleibt auf diese Weise das Christentum »nicht bloß Religion, weil das ihm zugrunde liegende Prinzip zum Prinzip der Welt und des Staates geworden ist.«185 Die Verweltlichung des Christentums ist somit als dessen konsequente Realisierung zu begreifen.186 In ebensolcher Weise faßt auch Richard Rothe das Eindringen der christlichen Prinzipien in die weltlichen Institutionen als eine Entsäkularisierung des Staates auf, die Rothe als letztes und eigentliches Ziel der Geschichte und der Religion sieht: »In demselben Verhältnis, in welchem der Staat sich entsäkularisiert, säkularisiert sich die Kirche, tritt sie zurück, die nur ein provisorischer, immer ungenügender werdender 180

Vgl. Barth: Säkularisierung, S. 611–620. Wobei der Begriff »Säkularisierung« offenbar erst von seinem Schüler Michelet verwendet wurde (vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart u. a. 2003, S. 476). 182 G. Marramao: Säkularisierung. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde., Darmstadt (Lizenzausgabe des Verlags Schwabe, Basel) 1971– 2007 (Stand: Okt. 2007), Bd. 8, Sp. 1133–1161, hier Sp. 1152. Diese Transpositionsthese ist besonders weit getrieben bei Emanuel Hirsch; vgl. hierzu seine These, »daß das ganze neuere Geistesleben eine Säkularisierung des im Christentume beschlossenen geistigen Gehaltes darstellt« (Emanuel Hirsch Die idealistische Philosophie und das Christentum. Ges. Aufs. Gütersloh 1926, S. 87; zit. nach Hans-Wolfgang Strätz u. Hermann Zabel: Säkularisation, Säkularisierung. In: Brunner / Conze / Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5 S. 789–829, hier S. 823). 183 Vgl. Strätz / Zabel: Säkularisation, Säkularisierung, S. 812 f. 184 Vgl. Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976 (= Beiträge zur evangelischen Theologie; Bd. 76), S. 316 u. 313 f. 185 Strätz / Zabel: Säkularisation, Säkularisierung, S. 813. 186 Vgl. Barth: Säkularisierung, S. 604. 181

3. Kontextualisierungen

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Notbau für den christlichen Geist ist für die Zeit, bis jene seine eigentliche Behausung ausgebaut ist«.187 Michelet und Rothe sehen somit »die Moderne als Realisierung christlicher Substanz«.188 Die christliche Substanz scheint hier in dem von Hegel geltend gemachten dreifachen Wortsinn »aufgehoben«: 1. als bloße Religion, die sich nur in der Transzendenz wahrhaft erfüllt weiß, vernichtet; 2. in ihrer eigentlichen Substanz, d. h. als Freiheit und Subjektivität, bewahrt und 3. in eine höhere, ihrer eigentlichen Bestimmung adäquatere Sphäre hinaufgehoben. Max Weber und Ernst Troeltsch haben das Säkularisierungstheorem entscheidend weitergeführt und dabei vor allem die zentrale Rolle des Protestantismus im Säkularisierungprozeß herausgestellt. Weber hat die Entwicklung der modernen, bürgerlichen, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmenden Werteordnung aus dem Geist des Protestantismus hergeleitet und als Prozeß der Rationalisierung und Entzauberung der Welt beschrieben. Nach Weber sind es die bürgerlichen Tugenden, die jene Orientierung in der Lebensführung gewährleisten sollten, welche zuvor von den Erlösungsreligionen geleistet wurde. Ernst Troeltsch, dessen Untersuchungen Weber als wichtige Ergänzungen seiner eigenen Analysen ansah, hat insbesondere die Doppelbewegung von Säkularisierung und Sakralisierung bzw. »Vergeistlichung des Weltlichen« akzentuiert: »Das natürliche Sittengesetz des Weltlebens bekommt die übernatürliche Seele der christlichen Weltüberwindung, und die Arbeit im Beruf wird vom Fürsten und Soldaten bis zum Dienstknecht und Henker als ein Liebesdienst konstruiert, den der einzelne als weltlicher Berufsmensch seinen Mitmenschen aus christlicher Selbstverleugnung leistet. Damit ist die christliche Ethik allerdings säkularisiert, aber auch das Säkulum vergeistlicht«.189 Die These von der herausragenden Rolle des Protestantismus im Säkularisierungsgeschehen teilen Weber und Troeltsch mit Hegel. Während der philosophisch-spekulative Ansatz Hegels dabei allerdings das Prinzip der Reformation fokussiert, sind es in den empirisch verfahrenden Gesellschaftsanalysen Webers und Troeltschs bestimmte historische Entwicklungsformen des Protestantismus, nämlich Calvinismus, Puritanismus und die nordamerikanischen protestantischen Sekten,190 die in entscheidendem Maße zur Säkularisierung in der Moderne beigetragen haben sollen. Über diese inhaltliche Differenz hinaus fehlt bei Weber und Troeltsch vor allem die apo187

Richard Rothe: Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung. Wittenberg 1837, S. 85; zit. nach Strätz / Zabel: Säkularisation, Säkularisierung, S. 813. 188 Ebd., S. 814. 189 Ernst Troeltsch: Luther, der Protestantismus und die moderne Welt (1907/08). In: Ders.: Ges. Schr. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1920, S. 210; zit. nach Strätz / Zabel: Säkularisation, Säkularisierung, S. 820. 190 Vgl. Marramao: Säkularisierung, Sp. 1141.

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diktische und optimistische Form des Hegelschen Ansatzes, was sich als Modifikation (zumindest) der zweiten und dritten Bedeutungsdimension von »aufheben« lesen läßt: Zum einen wird weder von Weber noch von Troeltsch behauptet, daß es sich um die eigentliche, wahre Substanz des Christentums handelt, die in der modernen, bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft »aufgehoben« ist. Vielmehr ist deren These lediglich, daß bestimmte, für das Christentum zentrale Werte und Funktionen durch innerweltliche Wertsetzungen abgelöst werden. Zum zweiten sehen sowohl Weber als auch Troeltsch191 die durchaus problematische Seite dieser »Entzauberung« der modernen Welt, zumal Weber das Scheitern der bürgerlichen Werte – im Hinblick auf ihre Funktion als Orientierung in der Lebensführung – konstatiert.192 Die Frage nach der Funktion steht auch im Zentrum der Religionssoziologie des 20. Jahrhunderts, die sich unter anderem dem Problem zugewandt hat, ob die Säkularisierung gleichzusetzen sei mit einem Verlust an Religiosität oder lediglich mit einer Entkirchlichung oder auch Entchristlichung.193 Orientiert an zentralen Funktionen der Religion, vor allem der Sinngebung,194 zeigen die soziologischen Studien beispielsweise von Peter L. Berger auf, daß sich in der modernen Gesellschaft neue Formen von Religiosität herausgebildet haben. An die Stelle des »homogenen Kosmos der traditionellen Religion« sei der »Supermarkt der ›Lebensstile‹ und der ›Sinnvermittler‹«195 getreten. Das Verdienst dieser soziologischen Untersuchungen besteht nicht zuletzt darin, dem modernen Heiligen im Profanen selbst nachgespürt zu haben. Sie lassen allerdings auch deutlich werden, daß der Begriff der Religiosität sich, so gedeutet, aufzulösen droht in ein »anything goes« der Sinnsuche und Sinnerfüllung.196 Damit ist zugleich auf das grundlegende Problem der »Transpositions«These verwiesen: »Ist das Auftreten des jüdisch-christlichen Glaubens oder einer entsprechenden Praxis in Gestalt einer verallgemeinerten rationalen Erklärung tatsächlich eine Transposition oder handelt es sich dabei um etwas nach Herkunft und Begriff

191

Ebd. Vgl. hierzu Manfred Hettling u. Stefan-Ludwig Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333–359, hier S. 353 f. u. 357. – Zum Bruch Webers mit der idealistischen und der materialistischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts vgl. Marramao: Säkularisierung, Sp. 1138. 193 Vgl. hierzu im übrigen auch – in historischer Perspektive Differenzierungen anmahnend – Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 1997 (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte; Bd. 130). 194 Vgl. Barth: Säkularisierung, S. 621 sowie Marramao: Säkularisierung, Sp. 1153. 195 Ebd. 196 Vgl. Barth: Säkularisierung, S. 621 f. 192

3. Kontextualisierungen

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wesensmäßig anderes, das nur formal einige der ›Funktionen‹ des vorausgegangenen religiösen Phänomens übernommen hat?«197 An dieser Stelle ist vor allem der Kritik von Hans Blumenberg am Säkularisierungstheorem Rechnung zu tragen, der unter anderem Walter Jaeschke sich anschloß, um sie am Beispiel der bedeutenden und einflußreichen Subthese, daß nämlich die moderne Geschichtsphilosophie säkularisierte Eschatologie sei, detailliert zu entfalten.198 Im folgenden soll also – im Durchgang durch diese kritischen Einwände – das Festhalten am Säkularisierungstheorem begründet werden. Dabei wird dasselbe zwangsläufig präzisiert und modifiziert werden müssen. Blumenberg stellt sich vehement gegen die Säkularisierungsthese und kritisiert sie teils auf allgemein-theoretischer, teils auf konkret-historischer Ebene, letzteres, indem er auf Widersinn, Unplausibilität oder Überflüssigkeit bestimmter, den Geschichtsverlauf betreffende Thesen insistiert. Auf der allgemeinen Ebene, die hier ausschließlich thematisiert werden soll, geht es Blumenberg vor allem darum, das Eigenrecht der Neuzeit, deren »Legitimität«, stark zu machen, wogegen der Begriff der Säkularisierung per se die Komponente der »Illegitimität« impliziere. Letzteres deshalb, weil die Religion, wann immer eine christliche Substanz in den (weltlichen) Säkularisaten identifiziert wird, als der Ursprungsort und daher als die einzig legitime Gestalt, das Säkularisat selbst dagegen als eine Art ›Abfall‹ vom Eigentlichen, als »Entfremdung von der ursprünglichen Bedeutung und Funktion«199 erscheinen müsse. Letztlich bleibe also die begriffsgeschichtlich am Anfang stehende juristische Bedeutung einer (wider-)rechtlichen Enteignung auch im ideengeschichtlichen Sinne von »Säkularisierung« erhalten.200 Insofern hält Blumenberg als drei Komponenten 197

Marramao: Säkularisierung, Sp. 1152. – Zur hier ausgesparten Auseinandersetzung der Theologie mit dem Säkularisierungsphänomen vgl. insbesondere Schrey: Einführung. 198 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1999, S. 35 ff. sowie Jaeschke: Suche. Was zum Beweis dieser Subthese erwiesen werden müßte, resümiert Jaeschke in seinem Artikel »Säkularisierung«. In: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow u. Karl-Heinz Kohl (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. V. Stuttgart u. a. 2001, S. 9–20, hier S. 19. In seiner Monographie zeigt Jaeschke, daß man die Entstehung des geschichtlichen Denkens der Neuzeit nicht als Säkularisierung des Weltreichgedankens erklären kann, da dieser selber (wenngleich zwischenzeitlich theologisch in Anspruch genommen) säkularen Ursprungs sei und zudem für die wirkliche Genese des geschichtlichen Denkens keine Rolle spiele. – Ich danke Walter Jaeschke an dieser Stelle für die ausführlichen Diskussionen zum Säkularisierungstheorem, die mich immer wieder neu zwangen, meinen Standpunkt zu erklären und zu rechtfertigen. 199 Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 18; vgl. auch S. 25, wo von der »Uneigentlichkeit seiner ursprünglichen Realität« die Rede ist. 200 Hiermit wird, so Lübbe, die »Eigenschaft der Illegitimität zum Proprium des Säkularisierungs-Begriffs« (Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg u. a. 1965, S. 29). Vgl. im übrigen auch ders.: Das Theorem der säkularisierten Gesellschaft. In: Schrey: Säkularisierung, S. 51–66.

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des Säkularisierungsbegriffs fest: »Identifizierbarkeit des enteigneten Gutes, Legitimität des primären Eigentums an ihm und Einseitigkeit seines Entzuges«.201 Blumenbergs Kritik an gewissen Implikationen des Säkularisierungsbegriffs, insbesondere an der unterstellten Illegitimität der Neuzeit, hat gewiß ihre Berechtigung und ist insofern zum unhintergehbaren Meilenstein in der Diskussion um das Säkularisierungtheorem geworden.202 Die Notwendigkeit der Kritik erhellt um so mehr, wenn man sich die historische Situation, in der sie formuliert wurde, vergegenwärtigt: Sie war geprägt von einer Dominanz der Säkularisierungsthese bis in die Feuilletons hinein, was allein schon einem differenzierten – und in diesem Sinne kritischen – Gebrauch derselben nicht eben zustatten gekommen sein dürfte.203 So moniert Blumenberg insbesondere auch die Unbestimmtheit des Säkularisierungsbegriffs.204 Einen recht anschaulichen Eindruck von der schier grenzenlosen Suche nach den religiösen Vor- oder Urbildern vermitteln die ansonsten sehr schätzenswerten, kenntnisreichen und soliden Arbeiten des Germanisten Gerhard Kaiser. Dabei scheint sich der Sinn solch pedantischen Nachweisverfahrens bisweilen in dem Nachweis selber zu erschöpfen, was bei erheblicher Akkumulation von Belegen zur Sinnflucht führt.205 Dergleichen Fixierung auf Ursprung und Herkunft rügt auch Dorothee Sölle: »Das Woher wird wichtiger als das Wozu, die Genese aufschlußreicher als die Funktion.«206 201

Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 32. Delekat spricht gar von einer »objektive[n] Kulturschuld« (F. Delekat: Über den Begriff der Säkularisation. Heidelberg 1958, S. 60; zit. nach Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 33). – Vgl. auch Jaeschke: Suche, S. 330: »Wo das Säkularisierungstheorem die Interpretation vorzeichnet, kann nur die Illegitimität des Säkularisats resultieren; die Metamorphose ist notwendig im Unrecht gegenüber der Substanz, das Entsprungene notwendig im Unrecht gegenüber dem Ursprung.« Vgl. auch ebd., S. 322. – Kaiser kommentiert die letzten beiden der von Blumenberg angeführten Komponenten folgendermaßen: »Ich halte sie für relevant nur im Rahmen einer Apologie, sei es der Theologie und der Kirche, sei es des Saeculums.« (Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. XXII.) Zu dem apologetischen Charakter der Darstellung und Kritik Blumenbergs vgl. ebd., S. XXI f. u. XXXII f. 202 Vgl. Gideon Stiening: Verweltlichung der Anthropologie im 17. Jahrhundert? Von Casmann und Magirus zu Descartes und Hobbes. In: Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin u. a. 2002 (= Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit; Bd. 2), S. 174– 218, bes. S. 176–186. 203 Vgl. Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 20–23 u. ö.; gewisse Parallelen drängen sich übrigens zu Sauders Argumentation gegen die These von der Empfindsamkeit als »säkularisiertem Pietismus« auf. 204 Vgl. z. B. Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 12, 18 u. 30. Vgl. auch Jaeschke: Suche, S. 17 f. 205 Vgl. insbesondere Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung. Vgl. auch ders.: Pietismus und Patriotismus, S. XXV, XXVII u. ö. Kaiser bestimmt das Interesse seines Buches denn auch folgendermaßen: »[…] so ist im folgenden allein nach durchgehenden Entwicklungen und direkten Strukturübertragungen vom Pietismus zum Patriotismus gefragt« (S. 1). Hier steht also die Frage nach Ursprung und Herkunft tatsächlich im Zentrum. 206 Sölle: Übernahme des Säkularisierungsbegriffs, S. 103.

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Andererseits muß man m. E. auch Blumenberg eine Fixierung attestieren – nur unter anderen Vorzeichen: Gemäß den oben angeführten drei Komponenten des Säkularisierungsbegriffs steht auch für ihn der Nachweis der Herkunft im Zentrum. Nur um ihn kann es einem recht verstandenen Begriff von Säkularisierung gehen. Anders als seinen Verfechtern ist ihm nun allerdings daran gelegen, die unterstellte Herkunft zu leugnen, die Beweise zu entkräften. In seiner Gegenführung macht sich seine Fixierung auf zwei Ebenen bemerkbar: Zum einen ist schon die strikte Verknüpfung von Herkunfts- und Illegitimitätsnachweis fragwürdig und ergibt sich meines Erachtens keineswegs zwingend aus seinen Beispielen und Argumenten. Zum zweiten zeigt sich seine Fixierung darin, daß er vor übertriebenen Deutungen von (vermeintlichen) Herkunftsthesen207 und überzogenen Ansprüchen an die Beweisführung nicht zurückscheut. Damit fällt die Gegenführung bisweilen demselben Verdacht anheim, das Unternehmen ad absurdum zu führen, der schon die Verfechter der Säkularisierungsthese ereilte. Das von Blumenberg ebenfalls verwendete Verfahren, den Gegner auf eine bewältigbare Größe zurecht zu schreiben, um dann leichtes Spiel zu haben, wurde von Kaiser zu Recht kritisiert.208 Zu den mich nicht überzeugenden Argumentationsmustern gehört auch der ein oder andere Fall eines Insistierens auf Nicht-Identität. »Säkularisierung« impliziert ja nicht nur ein sich durchhaltendes Identisches – sei es substantial oder funktional gedacht –,209 sondern ebenfalls den Wandel, die Annahme einer differenten historischen Gestalt, deren Hauptunterschied zum Vorgängermodell die Zentrierung auf den Menschen und der Übergang in die Immanenz darstellt. Ansonsten läge im Extremfall ja gar keine Säkularisierung vor, sondern alles wäre beim Alten geblieben. Somit kann nicht jeder Hinweis auf Differenzen als Argument gegen die Säkularisierungsthese herangezogen werden. Zu den geradezu notwendigen Differenzen gehört beispielsweise, daß die Erlösung – oder: Versöhnung – in die Welt und in die (menschliche) Geschichte hineinverlegt wird.210 Überdies vermag sich historische Wirkungs207 Vgl. etwa seine Ausdeutung des Begriffs der »göttlichen Bindung« (Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 31). – Auf Unterschieden zu insistieren, ist eines und sicher richtig, sich den Argumenten anderer nachhaltig verschließen ein anderes (vgl. hierzu etwa ebd., S. 39–45). 208 Vgl. Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. XXIV: »Blumenberg setzt sich die Bedingungen, unter denen er recht behalten muß, selbst, indem er solche Beispiele der Nichthaltbarkeit einer substantialistischen Säkularisationsthese auswählt, denen offensichtlich Kurzschlüsse zugrunde liegen.« Vgl. auch ebd., S. XXVI: »Wieder vereinfacht Blumenberg das Säkularisierungsproblem, um recht zu behalten, indem er es aufs bloß Begriffsgeschichtliche bringt, wo das Ergebnis freilich überaus mager bleiben muß.« In diesem Sinne auch ebd., S. XXXIII. – Auch Jaeschke scheint mir bisweilen das allererst zu kreieren – oder doch zu extrahieren –, was dann Gegenstand der Kritik ist. 209 Vgl. Jaeschke: Suche, S. 329. 210 Vgl. z. B. ebd., S. 300–302, 305; S. 313 ist es – mit Hegel – selbst gesagt. Vgl. hierzu auch Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. 172. – In meinem Sinne argumentiert auch Kondylis: Aufklärung, S. 56 f. Fn. 10.

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I. Präludium

mächtigkeit auch allen Differenzen zum Trotz einzustellen. In diesem Sinne hält Kaiser fest: »Die genetischen und die heilsgeschichtlichen Kategorien sind also geeignet, sich gegenseitig auszuschließen, und sie haben das getan; sie sind daneben aber auch eine logisch freilich widerspruchsvolle, geistesgeschichtlich dagegen sehr weittragende Symbiose eingegangen.«211 Die grundsätzliche Berechtigung der Kritik Blumenbergs am Säkularisierungstheorem, insbesondere an der Unterstellung von Illegitimität, zu der es im Rahmen theologischer Darstellungen ein konkretes Interesse gibt, soll hier also nicht bestritten werden.212 Doch soll gleichwohl darauf bestanden werden, daß bestimmten Phänomenen und Bedeutungsdimensionen ohne das Konzept der »Säkularisierung« nicht angemessen Rechnung getragen werden kann. Dies ist im übrigen auch das Ergebnis neuester, Differenzierungen anmahnender und präsentierender Überlegungen zu diesem nunmehr schon betagten Theorem.213 Und ebenso wie neuerdings die Erprobung am ›Material‹ auf die Tagesordnung gesetzt wurde, so soll auch nicht schon an dieser Stelle, sondern erst im Verlaufe der gesamten Arbeit die Brauchbarkeit des Säkularisierungskonzepts demonstriert werden. Zwei Momente desselben gilt es allerdings schon hier auf der Linie der Blumenbergschen Kritik zu modifizieren – auch wenn dieselbe, jedenfalls unter dem Label »Säkularisierung«, nicht eigentlich einer Modifikation Platz gewährt. Zum einen soll nicht davon ausgegangen werden, daß die Religion – historisch und kulturell spezifiziert: das Christentum – die ursprüngliche, eigentliche und daher rechtmäßige Ausdrucksform der sich historisch durchhaltenden Substanz darstellt. Es geht mir auch weder um eine »Rückkehr zum Ursprung« noch um »Anerkennung von Bedingtheiten«214 – insofern übrigens auch nicht um die Behauptung einer genetischen Abkunft, einer (Mono-)Kausalgenese gar, die dann selbstredend beweispflichtig wäre –, sondern um die Aufdeckung eines Dritten, das sowohl der religiösen als auch der säkularen Erscheinungsform zugrundeliegt.215 Aus diesem Grunde kann – nebenbei

211

Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. 172. – Die Abwesenheit einer bestimmten Terminologie kann man – aus verwandten Gründen – ebenfalls nicht als Gegenargument gelten lassen (vgl. Jaeschke: Suche, S. 307 u. 328 f.). 212 Gegen solche – unweigerlich restaurativen – Tendenzen der Theologie wendet sich Jaeschke vor allem, interessanterweise mit dem Fazit, daß sie nicht nur das Neue, ihren Gegner, sondern auch das Überkommene, sich selbst also, verraten (vgl. ebd., S. 329 f.). 213 Vgl. Sandra Pott u. Jörg Schönert: Einleitung. In: Danneberg: Apologetik, S. 1–17. – Zur detaillierten – allerdings aufgrund ihrer Überkomplexität auch unübersichtlichen – Darstellung der Diskussion des Säkularisierungstheorems in der germanistischen Literaturwissenschaft seit den sechziger Jahren vgl. Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Berlin u. a. 2002 (= Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit; Bd. 1), S. 18–29. 214 Jaeschke: Suche, S. 330 (mit Bezug auf Blumenberg). 215 Insofern wäre der Nachweis, daß eine bestimmte Denkform nicht exklusiv biblischen Ur-

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bemerkt – die Säkularisierung selbst auch ihren Kausalgrund nicht in diesem Dritten haben. Säkularisierung ist ein langfristiger, überaus vielschichtiger und multifaktoriell bedingter Prozeß. Es ist daher hier keineswegs eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen dieses Prozesses intendiert, sondern nur die Darstellung einiger Verlaufsformen. Im Gegensatz also zum Säkularisierungsbegriff, wie Blumenberg ihn versteht, wird die Religion hier, in diesem Sinne Hegels Religionsverständnis verwandt, nicht als Ursprung, sondern als eine historisch und kulturell bestimmte Ausdrucksgestalt der »Substanz« aufgefaßt, die bei Hegel »Geist« heißt und als Subjektivität und Freiheit begriffen wird, die hier dagegen näherhin als das grundlegende Begehren nach Erlösung im Sinne einer restlosen Transzendierung der Endlichkeit begriffen werden soll.216 Die Säkularisierung, verstanden als Emanzipation des Menschen aus den religiösen Bindungen, wäre demnach durchaus als Rückgewinnung, ja Rückaneignung des dem Menschen ursprünglich Entspringenden zu verstehen, wobei allerdings diese Feuerbachsche Deutung des Prozesses nicht – mit diesem – auch schon als endlich erreichter Heilszustand gefeiert werden soll. Dazu besteht wahrlich kein Anlaß. Vielmehr wird an dieser Stelle gerade auch auf den problematischen Konsequenzen der Immanenzwerdung vehement insistiert, ohne damit doch den vormaligen Zustand als den per se besseren auszeichnen zu wollen.217 Die Abständigkeit aber der Heilsfigur hatte durchaus auch vorteilhafte Seiten, denn wenn – wie angenommen – das Begehren unerfüllbar ist, respektive nur im Tode seine Erfüllung fände, wenn die narzißtische Absolutheitsposition somit ein unmögliches Konstrukt darstellt, dann ist es womöglich weniger fatal, sie lediglich zu imaginieren und zu projezieren, als sich um ihre innerweltliche Realisierung zu bemühen, zumal der Mensch zwar als sprungs, sondern etwa auch in der griechischen Philosophie anzusiedeln ist (ebd., S. 303 f.), nicht ein Argument gegen, sondern geradezu für die von mir vertretene Auffassung bezüglich des Geschehens im Säkularisierungsprozeß. 216 Die von mir präferierte Variante der Säkularisierungsthese kann als Teilannäherung an Blumenbergs eigene Lösung interpretiert werden. Ich halte es allerdings für fraglich, ob im Hinblick auf die die Säkularisierungsthese veranlassenden Phänomene bloß von einer »Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten […], deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten«, die Rede sein darf (Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 75). Dies scheint mir zu wenig. Auch die Vorgängigkeit eines Sinnverlustes scheint mir den historischen Ablauf nicht angemessen zu treffen. Fraglich ist zudem, ob im Falle eines vorausgesetzten, basalen Begehrens eine rigorose Trennung von Inhalt und Funktion, wie Blumenberg sie vorschlägt (ebd., S. 74), wirklich durchführbar ist. – Zur Kritik an Blumenbergs Lösungsmodell, dem »funktionale[n] Säkularisierungsbegriff«, vgl. ebenfalls Jaeschke: Suche, S. 38 f. 217 Jede Art von Heilsglaube, sei er nun innerhalb der säkularen Formen oder in deren – wie immer gearteter – Überwindung zu finden, ist mir demnach vollkommen fremd – nicht zuletzt deshalb, weil die Identifizierung eines »Eigentlichen«, »Ursprünglichen« oder »Wahren« hinter den »Verformungen« einen lebensphilosophischen Zug hat, der zu einer gewaltsamen Installierung des Heils – und somit zum Faschismus – tendiert.

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I. Präludium

(Selbst-)Schöpfer an die Stelle Gottes tritt, sich aber dennoch allererst zu Gott, d. h. unsterblich und unendlich, machen muß, vorzugsweise als Ding, als Maschine, und – damit verbunden – auch das göttliche Werk der Herstellung einer paradiesischen Welt allererst zu vollbringen hat. Aufgrund der Unmöglichkeit des Konstrukts – es gebärt das Tote, um den Tod zu überwinden – würde sich unter säkularen Bedingungen seine Destruktivität erst recht entfalten müssen – allerdings auch seine Produktivität.218 Daher ist bei aller Kontinuität die Differenz zwischen einer Projektion ins Außerweltliche und einer innerweltlichen Konstruktion deutlich zu sehen. Das andere Moment der Modifizierung des Säkularisierungtheorems – respektive: der Modifizierung seiner Handhabung – besteht darin, nicht bloß einzelne Elemente – historische Phänomene – in einem dekontextualisierten Zustand zu analogisieren oder gar historisch-genetisch aufeinander zu beziehen219 – eine solche Vergleichsform kann allenfalls hier und da gewählt werden, wenn nicht mehr als eine ähnliche Symbolform oder strukturelle Analogie hervorgehoben werden soll.220 Vielmehr gilt es, einen Zusammenhang zu stiften, der nicht in einer sich durchhaltenden religiösen, sondern in einer sich durchhaltenden – und inhaltlich sehr konkret bestimmbaren – anthropologischen »Substanz« liegt. Wenn es, wie hier angenommen wird, eine solche »Substanz« in Form des oben beschriebenen Begehrens gibt, so wäre es geradezu widersinnig, diese nicht in jeder historischen und kulturellen Gestalt auf die ein oder andere Weise anwesend zu denken.221 Einer so gefaßten Säkularisierungsthese geht es mithin auch weniger darum, die Anwesenheit der religiösen Substanz noch in den säkularen Gestalten und somit die anhaltende Wirkungsmächtigkeit des Religiösen zu erweisen, sondern umgekehrt: lediglich am Beispiel dieser Kontinuität die »Vernunft in der Religion«222 zu identifizieren, d. h. sie als Ort einer mythischen Selbstaufklärung des Menschen zu erkennen. 218

Gentechnik und virtuelle Welten dürfen wohl als die neuesten Hervorbringungen derselben

gelten. 219

Vgl. die von Blumenberg angeführten Beispiele (Legitimität der Neuzeit, S. 12, 18 u. 20–23). Resümierend ist dann zu lesen: »Die gegebenen Beispiele verbinden historisch zeitdifferente Phänomene in der Weise, daß sie das spätere als Resultat der Säkularisierung des früheren behaupten, jenes aus diesem hervorgehen lassen.« (Ebd., S. 23.) – Zur »genetische[n] Bedingtheit« vgl. ebd., S. 39 sowie Jaeschke: Suche, S. 16, Fn. 10. Insbesondere Jaeschke besteht auf dem genetischen Nachweis (ebd., S. 23). 220 Zur Kritik an der »struktuellen Analogie« vgl. Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, S. 104 f. 221 In der Entwicklung und Darstellung solcher Zusammenhänge kann es aber keinesfalls um einen historisch-empirisch oder logisch stringenten Beweis gehen. Dagegen wäre möglicherweise auf eine Variante philosophischer Spekulation zu rekurrieren. Vgl. hierzu auch Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. XXIV: In Blumenbergs Argumentation »wird – in der Polemik gegen den Substantialismus – diesem stillschweigend ein statischer Substanzbegriff unterstellt, als ob nicht die höchste Ausformung des Substanzdenkens gerade das prozessual-dialektische Denken Hegels wäre.« 222 Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986 (= Spekulation und Erfahrung, Abt. II: Untersuchungen; Bd. 4).

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Dasselbe gilt für jene kultisch-liturgischen Elemente der Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die in der Empfindsamkeit kulminieren, im Briefwechsel Jacobis sichtbar werden und die in der Vergangenheit oftmals als irrational qualifiziert oder schlicht ignoriert wurden. Diese sollen daher hier – vergleichbar vielleicht auch hierin Hegels Lesart der Religion – nicht als bloßes Überbleibsel einer vergangenen Zeit, als bloße Schlacken, von denen man sich erst allmählich zu befreien wußte, gelesen werden, sondern als Ausdruck eines grundlegenden, historisch konstanten Begehrens einerseits und als Ausdruck seiner nunmehr innerweltlich imaginierten Einlösung andererseits – seiner »Einweltlichung« also.223 Anders formuliert: In den Erscheinungsformen des Sakralen offenbart sich das »Wesen« des Menschen, dasjenige nämlich, was den Menschen um- und antreibt. Etwas erhält den Status des Heiligen deshalb zugesprochen, weil sich mit ihm Erlösungs- respektive Heilsvorstellungen verknüpfen. Letztere sind im Kern immer: Wege zur Transzendierung der Endlichkeit – in ihren mannigfaltigen Gestalten und Dimensionen. Dies soll im folgenden dargestellt werden und zwar unter maßgeblicher Betrachtung einer das ausgehende 18. Jahrhundert nachhaltig bestimmenden, im weiteren Sinne technischen Revolution: Gemeint ist der Übergang von einer weitgehend noch auf mündlichen Kommunikationsformen basierenden Kultur hin zu einer Kultur, die durch das Medium der Schrift im Kern und auf breiter Ebene geprägt ist.224 Ein Zusammenhang zwischen dem wie dargestellt aufgefaßten Säkularisierungsgeschehen einerseits und der ›Verschriftlichung der Kultur‹ andererseits drängt sich allein schon deshalb auf, weil die Schrift recht eigentlich jenes – erstmals technisch massenhaft (re)produzierbare – Medium darstellt, das eine innerweltliche Transzendierung der Grenzen von Raum und Zeit ermöglicht. Dies wurde bereits von den Zeitgenossen gesehen und sogar den Kindern schon vermittelt, wie etwa das Kapitel »Bücherwelt« in Karl Philipp Moritz’ Kinderlogik zeigt: »Und die Seelen der Menschen können sich nun, in jeder Entfernung durch die Bücher miteinander unterreden und sich untereinander belehren; ja, durch die Bücher können sogar die Toten um ihre Meinung befragt werden.«225 Diese medial induzierte Transzendierung raum-zeitlicher

223

Jaeschke: Suche, S. 314. Ich werde mir erlauben, in diesem Sinne im folgenden von einer ›Verschriftlichung der Kultur‹ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu sprechen, obwohl ich mir bewußt bin, daß die Kulturtechnik der Schrift bedeutend früher in der Menschheitsgeschichte entwickelt wurde, das Alphabet sich zu Platons Zeiten ausbildete und durchsetzte und die Kunst des Buchdrucks auch bereits seit 300 Jahren existierte. Für das 18. Jahrhundert maßgeblich ist die quantitativ signifikante und qualitativ richtungweisende Zunahme der Relevanz von Schrift in intra- wie intersubjektiven Kommunikationsprozessen. 225 Zit. nach Wolfgang Grams: Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklärung und Romantik. Opladen 1992 (= Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur), S. 144; vgl. auch das weitere Zitat ebd. sowie S. 146. 224

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Endlichkeit ist möglicherweise die entscheidende Basis und ein treibendes Moment für die Umgestaltung westeuropäischer Gesellschaften im Rahmen des Aufklärungsprozesses. Und noch eine weitere, grundlegende Affinität von Säkularisierung und Medienrevolution kann geltend gemacht werden, dann nämlich, wenn man die Einsicht Sybille Krämers, daß »[n]icht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung […] der produktive Sinn von Medientechnologien» ist,226 vor dem Hintergrund des (Selbst-)Schöpfungsanspruchs des modernen Menschen liest. Die damit skizzierte basale Rolle der Medien sollte aber keineswegs bloß im Sinne einer technischen Ermöglichung ausgelegt werden, sondern durchaus auch im Sinne einer über diese immer weit hinausschießenden Produktion von Phantasmen, wobei im Hinblick auf die Frage nach dem Wie der Durchsetzung, der Wirkungsmächtigkeit neuer Orientierungen, der Status des Mediums als einer unbewußten Macht von großer Bedeutung sein mag: »Medien«, so Sybille Krämer, »sind an der Entstehung von Sinn und Bedeutung auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist und als eine nicht-diskursive Macht sich ›im Rücken der Kommunizierenden‹ zur Geltung bringt.«227 Insofern läge hier, in der Allianz aus medientheoretischen Annahmen und Foucaultschem Machtbegriff, vielleicht ein Potenzial beschlossen, das die Nachfolge der Hegelschen »List der Vernunft« angetreten könnte. Damit ist nun einer der bedeutenden neueren, oben bereits entwickelten Fäden der Empfindsamkeitsforschung aufgenommen: die These von der konstitutiven Bedeutung der Medialität.

3.3 Säkulare Wende und mediale Revolution Es gibt plausible Gründe anzunehmen, daß geschichtlicher Wandel an Umbrüche im »Medienwesen« gekoppelt ist,228 wobei hier allerdings nicht nur an technische Innovationen im engeren Sinne (Erfindung des Buchdrucks), sondern auch an Veränderungen im Transport und Nachrichtenverkehr (Ausbau der Handelswege, Postwesen)

226

Krämer: Medium als Spur, S. 85. Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Kulturen des Performativen. Sonderband der Zeitschrift Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (1998), S. 33–57, hier S. 39. Bei Reinlein ist entsprechend ein »nichtintentionaler Inszenierungsüberschuß durch das Medium selbst« ins Auge gefaßt (Reinlein: Brief als Medium, S. 37). 228 Vgl. etwa Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 9–23, hier S. 11. 227

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oder in der Kommunikationsstruktur (Zentralisierung der Verwaltung) gedacht werden muß.229 Wie auch immer man jedoch zu dieser Annahme stehen mag, für die säkulare Wende der Aufklärungszeit gilt in jedem Fall, daß sie sich vor dem Hintergrund eines revolutionären Umbruchs in der Medienwelt ereignet. Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens fanden weitreichende,230 die Schriftmedien explosive Verbreitung in bis dahin nicht bekannten Ausmaßen. Statistischer Beleg hierfür ist der sprunghafte Anstieg der Buchproduktion,231 der mit einer inhaltlichen Verschiebung von religiöser zu belletristischer Literatur232 sowie einer zunehmenden Ablösung der Gelehrtensprache Latein durch die jeweiligen Nationalsprachen verbunden war. Mit der Expansion des Buchmarktes, der in den Bereichen Handel und Produktion zudem einem bedeutsamen Wandel unterlag,233 ging eine signifikante Zunahme der Periodika (Zeitungen und Zeitschriften) einher, die nicht zuletzt durch die neu und zahlreich entstehenden Lesegesellschaften und Leihbibliotheken verbreitet wurden.234 Diese Veränderungen reflektieren nach Rolf Engelsing eine »Leserevolution«235, deren Hauptmerkmal die Ablösung intensiver Wiederholungslektüre religi-

229

Vgl. ebd., S. 9 f. sowie Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 15. Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 393–395. Auch Maurer führt im Hinblick auf die »neue mediale Situation« vor allem »das Verkehrswesen, das Postwesen, das Briefwesen« an (Michael Maurer: Freundschaftsbriefe – Brieffreundschaften. In: Klaus Manger u. Ute Pott [Hg.]: Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2006 [= Ereignis Weimar-Jena; Bd. 7], S. 69–81, hier S. 71). 230 Vgl. – aus der inzwischen umfangreichen Forschungsliteratur zu diesem Thema – Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 26). – Vgl. auch die zurückhaltende Einschätzung bei Fischer / Haefs / Mix: Einleitung, S. 18. 231 Grundlegend hierzu: Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974, bes. S. 183, Fn. 2 sowie ders.: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973, S. 53 ff. – Vgl. auch Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 44. – Zum Problem der genauen statistischen Erfassung vgl. Rolf Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen 1973, S. 112 sowie Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 38, 44 f. u. 52. 232 Vgl. Engelsing: Bürger als Leser, S. 183 u. 186 sowie Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 38 f. 233 Vgl. zusammenfassend Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 16 f. – Fischer / Haefs / Mix sprechen für diese Zeit von einer »Komplexitätssteigerung des Sozialsystems ›Medien‹« (dies.: Einleitung, S. 15). 234 Vgl. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 45. – Zur Geschichte und Funktion der Lesegesellschaften allgemein vgl. Otto Dann (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. München 1981. Inzwischen liegt auch eine Reihe von Lokalstudien zu Lesegesellschaften vor, etwa für Menslage, Mannheim, Marburg und Bamberg. Vgl. auch Reinhard Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: Roger Chartier u. Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 419–454, hier S. 447– 453. 235 Vgl. Engelsing: Sozialgeschichte, S. 139 ff.

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öser Erbauungsliteratur durch extensive Lektüre darstellt.236 Die Extensivierung der Lektüre spiegelt sich auch in der Lesesucht-Kritik des ausgehenden 18. Jahrhunderts.237 Insbesondere die Mitglieder jener, die Formierung der modernen bürgerlichen Kultur und Gesellschaft entscheidend vorantreibenden »gebildeten Stände«238 definierten sich maßgeblich positiv über Schrift. Nur in den Prozessen des Lesens und Schreibens verstand man sich als vollkommen bei sich selbst – und das heißt: als autonom, frei. Zudem fand in Büchern und Zeitschriften die Propagierung, Diskussion und der imaginäre Probelauf der neuen, aufklärerisch-bürgerlichen ›Ideologie‹ statt. Schließlich entstanden auch jene sozialen Orte, in denen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft »quasi unter Laborbedingungen durchgespielt«239 wur236

Vgl. ebd., S. 122 u. 128; vgl. auch ders.: Bürger als Leser, S. 182 ff. Nach Engelsing sind es die Zeitung (ders.: Sozialgeschichte, S. 133 ff.) und bestimmte Werke religiösen Inhalts wie Klopstocks Messias (ders.: Bürger als Leser, S. 192), die in der Übergangszeit eine zentrale Rolle spielten. Es versteht sich, daß die These von Engelsing idealtypisch gedacht ist und keineswegs ausschließt, daß es nach 1800 noch Formen intensiver Lektüre gab (vgl. ders.: Sozialgeschichte, S. 128 ff.). – Vgl. kritisch auch Roger Chartier: Ist eine Geschichte des Lesens möglich? Vom Buch zum Lesen: einige Hypothesen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 250–273 sowie Wittmann: Leserevolution, der allerdings die These keineswegs grundsätzlich in Frage stellt (vgl. etwa S. 422 f. u. 453). 237 Vgl. Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. In: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser. Hamburg 1977 (= Schriften des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens; Bd. 1), S. 89–112 sowie Helmut Kreuzer: Gefährliche Lesesucht. Bemerkungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, 1975. Heidelberg 1977 (= Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts; Bd. 1), S. 62–75. Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 393–430 (= Kap. VII. Lesesucht und Zeichendiät). 238 Hans Erich Bödeker: Die »gebildeten Stände« im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert: Zugehörigkeit und Abgrenzungen. Mentalitäten und Handlungspotentiale. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989 (= Industrielle Welt; Bd. 48), S. 21–52. – Diese proklamierten die – sich letztlich historisch durchsetzende – bürgerliche ›Ideologie‹, wenngleich ihr in sozialgeschichtlicher Hinsicht für diese Zeit noch kein eigener Stand zugesprochen werden kann. Vgl. hierzu Hansen: Neue Literatur, S. 517: »Die Problematik der Sozialgeschichte sollte die Geisteswissenschaft nicht davon abhalten, eine Mentalität bürgerlich zu nennen, die ihrem Geist nach bürgerlich ist, auch wenn zunächst keine dazu passende soziale Konfiguration ermittelt werden kann.« Vgl. auch Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987, S. 8 f.: »Der Begriff des ›Bürgerlichen‹ wird hier im Sinne der seit dem 17. Jahrhundert sich herausbildenden Schicht neuer Bürgerlicher verwendet, die sich aus Kaufleuten, frühen Kapitalisten, Beamten und der ›Intelligenz‹, d. h. Gelehrten, Schriftstellern, Geistlichen, zusammensetzt, die dem altständischen Bürgertum nicht mehr zuzurechnen sind und ihre Identität entsprechend nicht mehr über das ständische Geburtsprinzip bilden, sondern über eine gemeinsame ›Ideologie‹, deren wesentliche Bestandteile individuelle Leistung, Bildung, Vernunft, Tugend und Humanität sind.« 239 Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, S. 70.

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den – Freundschaftszirkel und Dichterbünde, Geheimgesellschaften und Sozietäten –, im kommunikativen Kontext der Schriftmedien.240 Das in diesen neuen Sozialformen entworfene und erprobte Ideal einer aus vergesellschafteten Individuen bestehenden und somit auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhenden Gesellschaft war die eine Seite zweier sich wechselseitig bedingender, mit der ›Verschriftlichung der Kultur‹ wenn nicht in Gang gesetzter, so doch entscheidend forcierter Prozesse: dem Prozeß der neuen Gesellschaftsbildung korrespondierte – notwendig – der Prozeß zunehmender Individualisierung. Der Bezug der Menschen untereinander war nicht, wie in der Vormoderne, durch Geburt und ständische Strukturen (z. B. Zünfte) immer schon geregelt, sondern es galt, separierte,241 sich als prinzipiell autonom verstehende Individuen aufeinander zu beziehen, d. h. eine Gemeinschaftsform zu entwerfen und zu erproben, die der Individualisierung Rechnung trägt.

3.3.1 Verschriftlichung, Individualisierung und die Formation einer neuen Gesellschaft Der von Max Weber identifizierte Ausgangspunkt von Säkularisierung kann ebenfalls als ›Treibstoff‹ der durch Schriftlichkeit vorangetriebenen Individualisierung verstanden werden. Die Heilsungewißheit des Calvinismus und der Wegfall einer institutionalisierten Beichte führte zu einem Dauerrechtfertigungszwang, der in Form von »Ego-Dokumenten«242 einen Ort exzessiver Selbstthematisierung hervorbrachte. Das Tagebuchschreiben243 floriert im England des 17. Jahrhunderts innerhalb des calvi240 Vgl. Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982; Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt a. M. 1986 sowie Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1986. – Vgl. auch Hans Erich Bödeker: Aufklärung als Kommunikationsprozeß. In: Aufklärung 2 (1988), Heft 2, S. 89–110. 241 Koschorke spricht sehr schön von der »Trockenlegung des Zwischenraums zwischen den Individuen« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 43), womit er vor allem auf Verhaltensmodellierung und Änderung der Lebensgewohnheiten im Zivilisationsprozeß anspielt. In der »Sittenreform des 18. Jahrhunderts« sieht Koschorke den »Anspruch, Distanz ebenso wie Affinität zwischen Menschen modellhaft neu zu organisieren« (ebd., S. 15). Diese »Reform« muß gewiß vor dem Hintergrund »der Ablösung ständischer durch individualistische Sozialformen« (S. 23) gesehen werden. Vgl. auch ebd., S. 40. 242 Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996 (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 2). 243 Zur Funktion des Tagebuchs im Prozeß der Verschriftlichung und Individualisierung vgl. auch Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode. Tübingen 1999.

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nistisch geprägten Puritanismus, wo es – nicht zuletzt als Ersatz für die fehlende Vermittlung einer Institution – dem Gespräch des einzelnen mit Gott dient. Als solches war es Bekenntnis im doppelten Sinne: Glaubensbeteuerung und Rechenschaftsbericht noch über die kleinsten und alltäglichsten Vorkommnisse. »The Puritan diary, then, was written with an eye towards God. By noting ›God’s ways towards us‹ as well as ›our ways‹, the diarist was constantly trying to discover evidence of the hand of God as it touched his life.«244 Denn nur auf diese Weise war es dem einzelnen – gemäß der calvinistischen Gnadenlehre – möglich, Anhaltspunkte dafür zu finden, ob er zu den Erwählten gehört oder nicht. Das Heil konnte weder durch sporadische Beichten gesichert, noch durch gute Werke verdient werden. Vielmehr stand von vornherein fest, ob man zu den von Gott Erwählten zählt. Hinweise auf Erwähltheit ließen sich aber im Leben jedes einzelnen finden, und so wurde das gesamte Leben – Denken, Handeln und Fühlen – zum Untersuchungsgegenstand. Auch der seit dem 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum sich entwickelnde Pietismus, dessen Wurzeln in den Puritanismus reichen, pflegte – ausgehend von dem motivierenden Ideal persönlicher Heiligung – eine umfassende und unablässige Introspektion, deren Ergebnisse nicht zuletzt zum Zwecke eines Rechenschaftsberichts in Selbstzeugnissen schriftlich fixiert wurden. Diese religiös motivierte, exzessive Selbstthematisierung setzt nun ihrerseits Prozesse mit in Gang – bzw. führt sie per se mit sich –, die nicht primär intendiert waren: Die Selbsterforschung ist immer zugleich auch Selbstkontrolle und Selbstkonstitution. Wie sehr die religiös motivierte Selbstthematisierung mit Kontrollprozessen verflochten ist und wie weitgehend diese wiederum selbstkonstituierend wirken, darauf hat vor allem Alois Hahn im Anschluß an Max Weber aufmerksam gemacht.245 Schon die Beichte hatte – so Hahn – im ausgehenden Mittelalter ihre Gestalt insofern verändert, als in zunehmendem Maße die inneren Motive des Handelns – und nicht mehr, wie bis dahin üblich, die äußeren Handlungen – bekenntnisrelevant wurden. Aber erst mit der Reformation sowie im Kontext der Gegenreformation wurde jene gesamtbiographische Perspektive eingeführt, in der das ganze Leben im Zusammenhang dargestellt und gerechtfertigt werden mußte.246 Im Puritanismus erreichte diese totalisierende Tendenz, in welcher die restlose Selbsterforschung in den Dienst um-

244

Andrew Wear: Puritan Perceptions of Illness in Seventeenth Century England. In: Roy Porter (Hg.): Patients and Practitioners. Lay Perceptions of Medicine in Pre-industrial Society. Cambridge u. a. 1985, S. 55–99, hier S. 59. 245 Vgl. überdies Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Ders. u. a.: Technologien des Selbst. Hg. v. Luther H. Martin, Huck Gutman u. Patrick H. Hutton. Frankfurt a. M. 1993, S. 24– 62. 246 Vgl. Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 408–434, hier S. 418.

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fassender Selbstkontrolle (›self-control‹) trat, ihren vorläufigen Höhepunkt, wie Lewin Schückings Resümee seiner Quellenanalyse eindrucksvoll belegt: »Wir kennen diese ›Selbsterforschung‹ aus dem Leben des katholischen Laien, wo sie […] vielfach ein besonderer religiöser Akt geworden ist, der sich auf die Sündenfeststellung zum Zweck der Beichte beschränkt. Hier aber, wo das ganze Dasein unter religiöse Gesichtspunkte gestellt und jedes Abendgebet zur Beichte wird, entsteht daraus ein auch für den Alltag gültiges Lebensprinzip. […] Man rechnet sozusagen nicht alle Ostern oder alle Monate ab, sondern man führt seelisch Buch auch über die kleinsten moralischen Ausgaben und zieht den Schlußstrich darunter täglich.«247 Schon hieraus ergibt sich, in welchem Ausmaß das ganze Leben damit rationaler Kontrolle unterworfen wurde. Da nun zudem ein gottgefälliges Leben als Zeichen der Erwähltheit galt, wirkte die Kontrolle in hohem Maße disziplinierend, denn die »ethische Diziplinierung folgt […] zwanglos aus dem Schluß, daß Hoffnung auf Erwähltheit nur derjenige haben kann, dessen Leben Zeichen dieser Begnadigung aufweist«.248 Vorbild war dabei die asketische und systematische Lebensführung der Mönche, die von einem »außerweltlichen Lebensideal für eine religiöse Sondergruppe« zu einem »allgemeinen, jeden Laien verpflichtenden Anspruch«249 wurde. Idealbild ist nun der affektkontrollierte, selbstbeherrschte Mensch, den Hahn im Anschluß an Weber prototypisch im kapitalistischen Unternehmer und im Bürokraten verwirklicht sieht.250 »Vater der modernen Selbstdisziplin«251 aber ist der Puritaner.252 Was somit als religiösen Zwecken dienende Selbsterforschung begann, endete in radikaler Selbstkontrolle. Hierzu nochmals Hahn: »Das Insistieren auf Selbsterforschung und Selbstkontrolle entspringt ursprünglich einer Problematisierung der Heilsgewißheit. Das Resultat ist eine generelle Rationalisierung der Lebensführung.«253 Doch dieser Prozeß führte noch etwas weiteres mit sich. Infolge der Ob247

Lewin Schücking: Die Familie im Puritanismus. Studien über Familie und Literatur in England im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig u. a. 1929, S. 12. 248 Alois Hahn: Religiöse Wurzeln des Zivilisationsprozesses. In: Hans Braun u. Alois Hahn (Hg.): Kultur im Zeichen der Sozialwissenschaften. Festschrift für F. H. Tenbruck. Berlin 1984, S. 229–250, hier S. 241. 249 Hahn: Soziologie der Beichte, S. 419. 250 Vgl. Hahn: Religiöse Wurzeln, S. 229 u. 231. 251 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. 6. Aufl. Tübingen 1972, S. 117 Fn. (Zitat nach Hahn: Soziologie der Beichte, S. 419; bei Weber ist in Fn. 4 vom »Vater der modernen militärischen Disziplin« die Rede.) 252 Norbert Elias gilt dagegen der Höfling als Urgestalt des zivilisierten und disziplinierten modernen Menschen (vgl. Hahn: Soziologie der Beichte, vor allem S. 423 f. u. 426). 253 Ebd., S. 421.

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jektivierung und Diskursivierung der eigenen Empfindungen, Handlungen etc. entstand ein immer ausgeprägteres Selbstgefühl, ein Bewußtsein für das eigene Ich, das aber in diesen Prozessen eigentlich als solches erst hervorgebracht wird. »Subjektivität und Individualität« erfahren, so Hahn, »in den Prozessen, die sie kontrollieren, eine eigentümliche Differenzierung und Steigerung«.254 Subjektivität ergibt sich danach erst als Folge sozialer Kontrollprozesse.255 »Der ursprüngliche religiöse Geltungsgrund […] verallgemeinert sich […] zur Matrix moderner Subjektivität.«256 Was von Hahn nicht gesehen wurde, war der Beitrag der Medialität selber zum Prozeß der Ichkonstitution. Die Objektivierung und Diskursivierung des Selbst kann – mit Blick auf seine mediale Repräsentation – in gedanklicher, sprachlicher oder schriftlicher Form geschehen. Auf der Ebene des Gedächtnisses kommt es zu keiner Repräsentation für andere: der Gedanke kann nicht über die Sinne rezipiert werden. Mit der Verlautlichung tritt der Gedanke in den intersubjektiven Raum ein: er wird für andere wahrnehmbar zumindest über den Gehörsinn, doch ist er noch von flüchtiger Gestalt.257 Erst durch die Repräsentation des Selbst in der Schrift wird die Gestalt des Ich auch dauerhaft fixiert. Hiermit verknüpft sich eine neuartige Phantasmatik: Die Beständigkeit (Permanenz) der Schrift suggeriert eine ebensolche Beständigkeit biographischer Zusammenhänge. »Die Idee eines Selbst, das im Denken oder im Gedächtnis fortdauert, das gelegentlich ans Tageslicht geholt und geprüft wird, kann ohne den Text nicht existieren. Wo kein Alphabet ist, da kann weder ein Gedächtnis sein, das als Vorratskammer betrachtet wird, noch ein ›Ich‹ als dessen berufener Wächter. Das Alphabet macht beides möglich, Text und Selbst – wenn auch nur allmählich –, und sie

254 Ebd., S. 409. – Vgl. hierzu auch Friedhelm Guttandin: Genese und Kritik des Subjektbegriffs. Zur Selbstthematisierung der Menschen als Subjekte. Marburg a. d. Lahn 1980 (= Reihe Metro; Bd. 5), S. 32: »Reflexivität und Selbstbeherrschung seitens individualisierter Menschen waren in diesem Sinne Aspekte der Konstitution eines Selbst.« Vgl. auch ebd., S. 56. Den Zusammenhang von Subjektkonstitution, Selbstthematisierung und Selbstkontrolle zeichnet Guttandin unter anderem anhand der Klosterordnung Benedikts, der Praktiken der Inquisition und der Glaubenslehre Luthers nach. 255 Vgl. Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung. In: Ders. u. Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis, Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt a. M. 1987, S. 9–24, hier S. 20. – Vgl. hierzu auch den Foucaultschen Machtbegriff: »Macht ist der eine Integrationszusammenhang produktiver Disziplin, der die Subjektivität und Individualität der Menschen nicht unterdrückt, sondern allererst hervorbringt.« (Hinrich Fink-Eitel: Foucault zur Einführung. Hamburg 1989 [Zur Einführung; Bd. 48], S. 78.) 256 Christian Barthel: Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 116. 257 Dies bedeutet im übrigen nicht, daß hier behauptet werden soll, Denken sei sprachunabhängig; vielmehr heben diese Distinktionen lediglich auf die jeweils kulturdominierende (und -konstituierende) Medialität / Repräsentationsform ab.

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wurden schließlich zu sozialen Konstrukten, auf die wir all unsere Wahrnehmungen als schriftkundige Menschen gründen.«258 Was hier für die Zeit der Durchsetzung des Alphabets formuliert ist, hat auch für das ausgehende 18. Jahrhundert Gültigkeit. Insbesondere Albrecht Koschorke hat auf die Gleichzeitigkeit von Subjektkonstitution und Verschriftlichung aufmerksam gemacht und festgehalten, daß »subjektive Identität sich überhaupt erst im Spiegel der Beständigkeit der Schrift als pädagogisch-autobiographische Konstruktion herstellt«.259 Tatsächlich scheint die Schrift somit in phylogenetischer Perspektive auf ähnliche Weise als Produzent des Phantasmas eines autonomen, in sich abgeschlossenen, omnipotenten Ich zu wirken wie das Spiegelbild des Körpers in ontogenetischer Perspektive. Die Schrift ist Spiegel des Ich, aber nicht des zerstückelten, sondern des ganzen, vollkommenen: als Imago bzw. historisch wirksames Konstrukt. Auch hier gilt also: Das Ideal-Ich »setzt sich scheinbar autonom und negiert, daß das, was sich im Spiegelbild des Ich präsentiert, nur das Produkt einer Re-Präsentation ist.«260 In der Tat drängen sich eine Reihe von strukturellen Analogien zwischen Individual- und Menschheitsgeschichte auf,261 die insbesondere in krisenhaften Umbruchprozessen offen zutage zu treten scheinen. Beide geschichtlichen Prozesse sind 258

Ivan Illich u. Barry Sanders: Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität. Hamburg 1988, S. 84; vgl. auch S. 10. – Vgl. ebenfalls Aleida Assmann: Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95–110, hier S. 108; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 326 sowie Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, S. 58 ff. Grundlegend hierzu auch Eric A. Havelock: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. New Haven u. a. 1986. – Nur vor diesem Hintergrund einer Quasi-Äquivalenz von Schrift und Identität wird auch begreiflich, warum in einem Traum Christian Fürchtegott Gellerts ein von einem Kind versehentlich umgestoßenes Tintenfaß, das die gerade geschriebenen Zeilen verwischt, eine panische Angst auslöst (vgl. Bernd Witte: Die Individualität des Autors. Gellerts Briefsteller als Roman eines Schreibenden. In: The German Quarterly 62 [1989], S. 5–14, hier S. 11). Der Traum zeichnet die Vision eines Selbstverlustes, der als blanker Horror des Bürgers auch im Briefwechsel Jacobis omnipräsent ist. 259 Albrecht Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Schings: Der ganze Mensch, S. 605–628, hier S. 627. – Vgl. auch den von Hahn und Willems benutzten Begriff der »Biographiegeneratoren« (Alois Hahn u. Herbert Willems: Zivilisation, Modernität, Theatralität: Identität und Identitätsdarstellungen. In: Ders. u. Martin Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen u. a. 1998, S. 193–213, hier S. 210 f.; zit. nach Reinlein: Brief als Medium, S. 41 u. 54). 260 Pagel: Lacan zur Einführung, S. 27. 261 Dies sei trotz aller Skepsis gegenüber Unternehmungen gesagt, die den parallelen Verlauf von Individual- und Menschheitsgeschichte belegen wollen. Vgl. hierzu auch Günter Dux: Denken vom Vorrang der Natur. Die Naturalisierung des Geistes. In: Rüdiger Bubner, Burkhard Gladigow u. Walter Haug (Hg.): Die Trennung von Natur und Geist. München 1990, S. 161–180, hier S. 178. – Koschorke hat diesbezüglich in einer langen Fußnote eine radikale »Entallegorisierung« der psy-

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scheinbar an neue, die Spiegelfunktion übernehmende Repräsentationsformen geknüpft und gehen einher mit einer sich verändernden Subjektstruktur. Beide können nach dem Modell des »Komplexes« begriffen werden,262 in welchem die Not der ursprünglichsten Entwöhnung – das Faktum der Endlichkeit – erneut aufbricht, erneut bewältigt werden muß und zwar in einer Form, die eine Reorganisation des Affekthaushalts, des Objektbezugs und der sozialen Beziehungen mit sich führt.263 Dies scheint für das ausgehende 18. Jahrhundert zuzutreffen. Überaus prägnant spricht Alfons Labisch daher von der »religiösen ›Entbindung‹«, die er in ihrer ganzen Zwiespältigkeit markiert: »Befreit von außerweltlichen Mächten, aber entblößt auch von außerweltlicher Gnade«, wobei hier »Gnade« eben genau mit der Verheißung »ewige[n] Leben[s]« verküpft ist.264 In vor dem Hintergrund dieser basalen Krise geradezu simpel und hilflos anmutender Weise scheint sich – wie auf eine Gedächtnisspur zwecks Rettung zurückgreifend – das bewährte ontogenetische Muster der Reorganisation auf phylogenetischer Ebene zu wiederholen: Umgestaltung der familialen Beziehungen, Bildung der Sozialbeziehungen auf der Ebene des Geschwisterverhältnisses, das nach Lacan aufgrund des Charakters der Ähnlichkeit die entscheidende »Rolle bei der Entstehung der Gesellschaftlichkeit« spielt und dessen affektive Besetzung den »Archetyp der Sozialgefühle« vorgibt.265 Diese Neuorganisation, als Antwort auf die Wiederkehr der Ur-Entwöhnung, scheint sich in krisenhaften Umbruchzeiten mit jenen »Sehnsüchte[n] der Menschheit« zu verbinden, in denen die Mutterimago gemäß Lacan immer schon erschienen ist: »metaphysische Fata Morgana der universalen Harmonie, mystischer Abgrund der affektiven Verschmelzung, soziale Utopie einer totalitären Bevormundung, alle Formen des Heimwehs nach einem vor der Geburt verlorenen Paradies und der dunkelsten Strebungen zum Tod.«266 Als nicht halluzinatorisch Reales (im Sinne Lacans), sondern abständige Phantasie (im Sinne Freuds) initiiert der Wunsch auch auf phylogenetischer Ebene

choanalytischen Theorie angeregt; m. E. schießt er mit dieser (freilich auf nachvollziehbaren Gründen beruhenden) Kehrtwendung über das Ziel hinaus (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 457 f., Fn. 55). 262 Vgl. Lacan: Familie, S. 47. 263 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. – Vgl. hierzu im übrigen wiederum die von Alfons Labisch modellhaft verwandte Triade menschlicher Grundkontrollen mit den Bezugspunkten »Ich«, »Natur« und »Mitmensch«. 264 Labisch: Gesundheit, S. 508 f. u. 512. 265 Lacan: Familie, S. 54–57. – Lacan meint hiermit, an psychoanalytische Untersuchungen anknüpfend, vor allem die kindliche Eifersucht, macht jedoch zugleich deutlich, daß diese gegenüber der Identifikation, auf die es in diesem Stadium maßgeblich ankomme, eine sekundäre Rolle spiele. 266 Lacan: Familie, S. 53. Sehr schön belegt dies Rehm: Todesgedanke, S. 325 f. – An Lacans »Liste« bleibt für das 18. Jahrhundert allerdings problematisch die »soziale Utopie einer totalitären Bevormundung«.

3. Kontextualisierungen

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ein Probehandeln, das realitätsgenerierende Kraft zu entfalten vermag.267 Die Empfindsamkeit stellt sich dar als eine Art verdichtetes Konglomerat all jener Momente.268

3.4 Der neue Kultus Der Autonomieanspruch ist die treibende Kraft jener Emanzipationsbewegung, die die Aufklärung darstellt; als dessen Kehrseite identifizierten Hartmut und Gernot Böhme das im narzißtischen Größenwahn befangene aufklärerische Vernunftsubjekt.269 Insbesondere bei den exzessiv Lesenden und Schreibenden findet das Autonomieideal seine höchste Ausformung. Im 18. Jahrhundert kristallisiert das Ideal-Ich zur quasi-göttlichen Gestalt des autonomen, nur seinem schöpferischen Genie verpflichteten Schriftstellers.270 Er ist der neue Messias, der im Medium der »heiligen Poesie«, die als Kultstätte an die Stelle der Kirche tritt, das säkulare Evangelium verkündet.271 In ihnen, den Schriftmedien selbst, sowie im Rahmen ihrer Produktion, Distribution und Rezeption, wird der neue Kultus zelebriert, werden die neuen, innerweltlichen Formen des Heils, der Erlösung, der Unsterblichkeit, aber auch des Opfers, entworfen und durchgespielt. Friedrich Gottlieb Klopstock, der erste deutschsprachige Berufsschriftsteller, inkarniert wie kein anderer diese Nahtstelle.272 An ihm wird deutlich, wie historische 267

Vgl. Pagel: Lacan zur Einführung, S. 60. Zur diesbezüglich fundamentalen Bedeutung der Phantasie – sowohl in anthropologischer als auch in soziologischer Hinsicht – bei Freud und Gehlen vgl. Gerda Pagel: Narziß und Prometheus. Die Theorie der Phantasie bei Freud und Gehlen. Würzburg 1984 (= Studien zur Anthropologie; Bd. 8). 268 Eine faszinierende Liste von Kernanliegen der Empfindsamkeit, ohne daß von ihr die Rede ist, ergibt sich übrigens nicht nur im Ausgang von Lacan, sondern auch im Ausgang von der Foucaultschen Traum- respektive Imaginationstheorie. In bezug auf diese schreibt nämlich Borsò: »Der Überschreitungswunsch kristallisiert sich von jeher in Themen der Unsterblichkeit, des Überlebens, der reinen Liebe und der unmittelbaren Kommunikation.« (Borsò: Foucault und Binswanger, S. 122.) 269 Vgl. Böhme / Böhme: Andere der Vernunft. 270 Vgl. hierzu auch Rüdiger Bubner: Einleitende Betrachtungen. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 7–24, hier S. 22 sowie Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 167. – Vgl. auch Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang. In: Grimminger: Deutsche Aufklärung, S. 327–340 u. 875 f. Zum neuen Verständnis der Autorschaft und zur sozialgeschichtlichen Stellung der Autoren in jener Zeit vgl. im selben Band S. 133–185 u. 849–862 Wolfgang von UngernSternberg: Schriftsteller und literarischer Markt, dort S. 158–185 zur »Situation der Autoren«. – Vgl. im übrigen Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 1988, S. 4–6 u. ö. 271 Vgl. Gruenter: Über die Liederlichkeit der Gefühle, bes. S. 128, 133 u. 137. 272 Vgl. Kevin Hilliard: Einleitung. In: Ders. u. Katrin Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit e. Klopstock-Bibliographie 1972–1992 von Helmut Riege. Berlin u. a. 1995, S. 1–6,

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Umgestaltungs- und Durchsetzungsprozesse zu funktionieren scheinen: Das Neue erscheint zunächst im Mantel des Alten – und zwar durchaus hinter dem Rücken der agierenden Subjekte. Klopstock ist der Dichter des Messias: der Religion, des Heiligen, des Göttlichen selbst. Doch war die »heilige Poesie«273 als dichterische Gestaltung des genuin religiösen Stoffes explizit legitimiert als einzig in seinem Dienste antretende Überbietung desselben,274 so geriet de facto die Gestaltung selbst schon an die Stelle des Erlösungswerkes.275 Das Medium ist die Botschaft – und in diesem Fall sogar die »Frohe Botschaft«.276 Die sich diensteifrig gerierende Kunst setzt sich noch in diesem Akt selbst autonom, heilig, göttlich. Aus der Poesie des Heiligen wird die geheiligte poiesis, aus der kirchlichen Gemeinschaft die »Gemeinschaft von Dichter, Text und Lesenden«.277 Der religiöse Stoff tritt hinter der durch die Sprachgewalt hier S. 4–6. Vgl. auch ders.: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. London 1987 (= Bithell Series of Dissertations; Bd. 12), S. 5. – Gerhard Kaiser macht diesen Übergangsstatus von Klopstock sehr schön deutlich (vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. 2., durchges. Aufl. Kronberg i. Ts. 1975 [= Monographien Literaturwissenschaft; Bd. 20], etwa S. 283– 301). 273 Zur parallelen Entwicklung in England vgl. Marjorie Hope Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. Ithaca 1959, S. 284–289. 274 Zum Begriff der »Überbietung« vgl. Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997 (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 144), S. 7, 133 u. ö. 275 Vgl. Max Wehrli: Sacra Poesis: Bibelepik als europäische Tradition. In: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich u. a. 1969, S. 51–71, hier S. 70. Dort heißt es auch: »Die ›heilige Poesie‹, von der Klopstock sprach, war im Grunde eine Usurpation.« Dies bedeutet im übrigen auch, daß die Autonomisierung und Sakralisierung der Kunst selbst nicht erst, wie Jacob meint, ein Effekt der (späteren) Hypostasierung des Genies ist, durch welche vermeintlich mit dem ursprünglichen Konzept »heiliger Poesie« gebrochen wird (vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 13). Gleichwohl ist Jacob natürlich zuzustimmen, wenn er – auf die explizite theoretische Rechtfertigung des Unternehmens durch Klopstock Bezug nehmend – den ambivalenten Charakter und die verbleibende Heteronomie hervorhebt (ebd., S. 139). Im übrigen soll auch keineswegs die nachfolgende Steigerung und Ausgestaltung der Immanenz bestritten werden. Differenzierungen und Entwicklungsmomente sind also gleichwohl geltend zu machen. Vgl. hierzu ebd., S. 134, Fn. 53 sowie das Beispiel Hölderlin bei Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 223 f. – Sandra Pott folgt übrigens demselben Phänomen im Rahmen von Wissenschaft: Die Säkularisierung findet just in jenen Prozessen statt, durch die die Akteure laut eigenem Bekunden die Religion stärken oder gar retten wollten. Vgl. Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, S. 16. Vgl. auch ebd., S. 26, das auf Kemper zurückgehende Bild vom trojanischen Pferd. 276 Vgl. Gruenter: Über die Liederlichkeit der Gefühle, S. 124. – Übrigens gibt es die Botschaft Gottes nicht nur in der christlichen Variante – als Klopstocks Messias –, sondern ebenso in der ›heidnischen‹: in der Gestalt eines Teutschen Merkur, der von Jacobi und Wieland nach dem Vorbild des Mercure de France konzipiert worden war. 277 Jacob: Heilige Poesie, S. 133 f.; vgl. auch S. 161. – Vgl. hierzu auch das knappe – und gerade in dieser Verkürzung die Substitution auf den Punkt bringende – Resümee von Meredith Lee bezüglich einer autobiographischen Anmerkung Goethes: »Koranfest – bibelfest – klopstockfest.« (Meredith Lee: Displacing Authority: Goethe’s Poetic Reception of Klopstock. Heidelberg 1999 [= Neue Bremer Beiträge; Bd. 10], S. 180.)

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bewirkten Erhebung der menschlichen Seele zum Göttlichen zurück.278 Die Ketten der irdisch-endlichen Existenz werden durch die Poesie himmelwärts gesprengt.279 Die Dichtung Klopstocks wird so zum Vehikel der Gottwerdung des Menschen. Und sie wird es vielleicht noch auf eine andere Weise: »Die Lyrik vor Klopstock«, so Gerhard Kaiser, »ist weithin allegorisch. Sie sagt einen dem Gedicht vorgegebenen Gedanken oder Gedankengang aus, der in dichterische Gleichnisse und Bilder übersetzt ist. Klopstocks Gedichte sagen nichts aus als sich selbst.«280 Diese Selbstreferenzialität ist nun recht augenfällig ein Moment jener Autonomie, die nicht nur wesentliches Bestimmungsmerkmal des Genies, sondern auch ein solches des modernen Menschen ist, der sich aus vorgegebenen Ordnungen emanzipiert. Die Identität von Medium und Botschaft offenbart sich bei Klopstock aber auch dort, wo man den Blick auf das große Thema seiner Dichtung lenkt: die Unsterblichkeit, an welche den Menschen zu »erinnern«, er zum höchsten Ziel des Dichters proklamiert.281 Auf der einen Seite ist es die Poesie selbst, die unsterblich ist – und mit ihr der Dichter: »Zweierlei gilt es: Unsterbliches zu schaffen und selbst dabei unsterblich zu werden.«282 Die Beständigkeit der Schrift wird von Klopstock hierbei eigens als Argument ins Feld geführt.283 Auf der anderen Seite ist die Unsterblichkeit ebenfalls Gegenstand seiner Dichtung: »das eigentliche Thema dieser unsterblichen Geschichte [= des Messias] [war] die Unsterblichkeit selbst. Zum mindesten in den letzten zehn Gesängen; die zehn ersten handeln vom Gegenthema, dem Tode; beide gehören zusammen wie komplementäre Farben. Keineswegs ist der Messias, wie man immer wieder einmal liest, ein episches Gedicht vom Leben Jesu, sondern die Darstellung seines Todes und seiner Auferstehung.«284 Auch über diesen ›Plot‹ im engeren Sinne hinaus geht es im Messias zentral um Formen raum-zeitlicher Transzendierung. So steht etwa die Darstellung Gottes und des göttlichen Vermittlungswesens bei Klopstock – im Unterschied etwa zu Miltons Paradise Lost – im Zeichen der Sprengung jener raum-zeitlichen Struktur, die grundlegend für das Epos ist.285 Das

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Vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 140 f. sowie ebd., S. 164: »Klopstocks Programm Heiliger Poesie will alle drei in der Deutschen Metaphysik [von Christian Wolff; C.G.] gezogenen Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft im Verhältnis zur göttlichen überspielen.« 279 Vgl. Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 214 sowie ebd., S. 221: »Poetic reflection itself becomes a means by which man can overcome his earthly bounds.« 280 Kaiser: Klopstock, S. 283. 281 Vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 146. 282 Blume: Orpheus und Messias, S. 26. 283 Vgl. ebd., S. 22. 284 Ebd., S. 27; vgl. auch S. 29 u. 31. – Vgl. hierzu auch Schneiders: Aufklärung als memento mori?, S. 84: »[…] im Neuen Testament [ist] der Tod und die Auferstehung des Gottessohnes das zentrale Ereignis der gesamten Welt- und Heilsgeschichte«. Danach hätte Klopstock das zentrale Moment des Christentums auch im Messias ins Zentrum gestellt. 285 Vgl. Kaiser: Klopstock, S. 215–234.

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Gottesbild ist entsprechend modelliert: »›Unendlichkeit‹ und ›Ewigkeit‹ sind die Leitbegriffe der Klopstockschen Gottvatervorstellung und die häufigsten Attribute, mit denen Gottvater geschmückt wird.«286 In seinen überaus populären Oden (1771)287 zeigt Klopstock dann den Weg zur innerweltlichen Unsterblichkeit auf. Liebe und Freundschaft auf der einen, Natur auf der anderen Seite werden von ihm heiliggesprochen. In der Verschmelzung mit dem Mitmenschen (als Geschwister!) und im Einswerden mit der Natur – jene beiden Dimensionen also, in welche sich »Welt« ausdifferenzieren läßt – werden die Grenzen der endlichen Subjektivität transzendiert; in ihnen erfährt der Mensch seine Unsterblichkeit. Klopstock war nicht der Erfinder oder Konstrukteur dieser neuen Heilsräume.288 Wohl aber liefen in seiner Person und in seinem Werk die diesbezüglichen historischen Entwicklungslinien zusammen. Er gestaltete diese Räume mit einem kaum zu überbietenden Selbstbewußtsein und in einer für die deutsche Sprache neuartigen Ausdruckskraft.289 Zudem propagierte er das Konzept einer »Gelehrtenrepublik« als Modell einer neuen, ständische, konfessionelle und Landesgrenzen transzendierenden Gemeinschaft. Klopstock wurde zum Vorbild für eine ganze Generation von Schriftstellern.290 Die Autoren der Empfindsamkeit wie auch jene des Sturm und Drang beriefen sich 286

Ebd., S. 119. Zur Ode als höchster Form der Dichtkunst, da sie sich »erhabenen« Gegenständen widmet, vgl. Lee: Displacing Authority, S. 48 f. 288 Als Vorläufer von Klopstocks Modell »heiliger Poesie« wäre etwa John Miltons Paradise Lost anzusehen, das 1732 in Bodmers Übersetzung erschien (2. Aufl. 1742) sowie Immanuel Jakob Pyras Der Tempel der wahren Dichtkunst (1737). Letzterer war auch – gemeinsam mit Samuel Gotthold Lange – Verfasser jener Freundschaftlichen Lieder (1745), die dem Freundschaftskult Klopstocks vorausgingen. Vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 55 sowie Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle a. d. S. 1936 (= Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe; Bd. 21), S. 152–180 und Isabella Papmehl-Rüttenauer: Das Wort HEILIG in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zum jungen Herder. Weimar 1937. – Zum unterschiedlichen Konzept »heiliger Poesie« bei Pyra und Klopstock vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 125 u. ö. 289 Vgl. hierzu auch Hans-Wolf Jäger: Klopstock – Goethe. Faszination und ironische Distanz. In: Ders.: Vergnügen und Engagement, S. 141–168, hier S. 141 f. u. 153. Die neuartige Metrik untersucht detailliert Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973 (= Studien und Quellen zur Versgeschichte; Bd. 4). – Auf Klopstocks Schlüsselposition im Säkularisierungsprozeß hat schon Gerhard Kaiser in seiner wegweisenden Studie Klopstock. Religion und Dichtung aufmerksam gemacht. Doch ist dem Verdikt der Forschung, daß Klopstocks Programm »heiliger Poesie« gescheitert sei, entgegenzuhalten, daß es gerade in seinem Scheitern erst eigentlich gelungen ist – wenn man es nämlich als ein notwendiges Übergangsstadium im Prozeß der Durchsetzung der Moderne sieht. Zum Überblick über die Forschungsdiskussion vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 4–10. 290 Vgl. Jäger: Klopstock – Goethe, S. 145 f., 168 u. ö. sowie Hilliard: Einleitung, S. 2–4. – Zu Goethe vgl. überdies Lee: Displacing Authority, zur allgemeinen Rezeption Klopstocks ebd., S. 8 sowie Kap. 3, zu seiner epochemachenden Bedeutung gemäß Goethe ebd., S. 11. – Zum Göttinger 287

3. Kontextualisierungen

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gleichermaßen auf ihn. Auch Friedrich Heinrich Jacobi gehörte zum Kreis der Verehrer, wie ein früher Brief an seinen Bruder Johann Georg offenbart: »Dem göttlichen Klopstock muß bey seinem Leben schon ein Mausoleum gebaut werden. Er ist das erhabenste, und vielleicht das unbegreiflichste Genie, so ie gewesen.«291 Einer der Klopstock-Anhänger, der junge Goethe, setzte dem Verehrten ein Denkmal, das in genialer symbolischer Verdichtung die entscheidenden Komponenten versammelt – übrigens bezeichnenderweise in jenem Werk, in welchem die Leiden des Protagonisten an die Passion Christi gemahnen:292 Unter dem Eindruck eines überwältigenden Naturereignisses finden Werther und Lotte im Namen Klopstocks zusammen.293 Sein Name wird zum Synonym für die Verschmelzung der gleichgestimmten Seelen im Angesicht der Natur und im Medium der Poesie. »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«294 Wie in Auszeichnung dieser Bibelstelle erscheint Klopstock im Werther in der Gestalt des Erlösers: Seine im Blick Lottes angezeigte »Vergötterung« ist buchstäblich als Vergottung zu verstehen. Bodmers Äußerung, Klopstock sei »unter den Poeten, was der Messias unter den Menschen«,295 wäre demnach noch zu kurz gegriffen, denn Klopstock ist in der Poesie – und durch diese wirkend über sie hinaus – der Erlöser selbst. Ist das Medium die »Frohe Botschaft«, so nimmt folgerichtig der Poet die Position des »Mittlers« ein, die einst Jesus Christus vorbehalten war.296 Indem Goethe Klopstock an diese Position setzt, folgt er im übrigen der Selbststilisierung des Dichters Klopstock Hainbund vgl. unter anderem Annette Lüchow: ›Die heilige Cohorte‹. Klopstock und der Göttinger Hainbund. In: Hilliard / Kohl: Klopstock, S. 152–220. Im Darmstädter Kreis, der »Gemeinschaft der Heiligen«, entstand 1771 die erste gedruckte, 47 Stücke umfassende Sammlung von Klopstocks Oden und Elegien. Vgl. Klopstocks Oden und Elegien. Mit einem Nachwort u. Anmerkungen hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Stuttgart 1974 (Faksimiledruck der bei Johann Georg Wittich in Darmstadt 1771 erschienenen Ausgabe). – Die Beziehung Klopstocks zu seinen »Jüngern« wird übrigens nach familialem Muster konstruiert, denn er wird von der jungen Generation mit »Vater« angesprochen. – Im übrigen gilt die Vorbildfunktion Klopstocks in gewisser Weise auch und gerade da noch, wo der durch ihn initiierte Autonomieanspruch sich gegen ihn selbst zu kehren beginnt. 291 Brief vom 18.5.1768 (Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Begr. v. Michael Brüggen u. Siegfried Sudhof. Hg. v. Michael Brüggen, Heinz Gockel u. Peter-Paul Schneider bzw. v. Walter Jaeschke [ab 2003]. Bisher 8 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981–2006 [Stand: Okt. 2007], [im folgenden JBW mit Band- und Seitenzahl], hier JBW I,4, 315). 292 Vgl. etwa Sölle: Übernahme des Säkularisierungsbegriffs, S. 97 sowie Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung, S. 103. 293 Daß die Präsenz Klopstocks in Goethes Werther über diese Szene und die in ihr enthaltene Anspielung auf Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier weit hinausgeht, hat Meredith Lee überzeugend gezeigt: »As we shall see, Klopstock’s poetry functions as a subtext out of which Werther constitutes significant moments of his love relationship to Lotte.« (Lee: Displacing Authority, S. 169.) 294 Matth. 18,20. 295 Zit. nach Jäger: Klopstock – Goethe, S. 142; vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 111. 296 Vgl. Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 217 sowie ebd., S. 222: »The poet is revealed as a mediating figure, a priest in the metaphorical temple.«

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zum Liturgen oder Priester vor der Lesergemeinde.297 Durch ihn und die ihm folgenden Schriftsteller, die sich selbst nach kirchlichem Vorbild als »Gemeinde« sahen,298 geschah das Missionswerk: Die neuen kulturellen Konstrukte fanden in den »gebildeten Ständen« rasche Verbreitung und wurden – zumindest in Ansätzen sowie zweifellos langfristig – mentalitätsbildend, sozial und politisch relevant.299 Im Briefwechsel Jacobis, der einen repräsentativen Einblick sowohl in die Gelehrtenrepublik des ausgehenden 18. Jahrhunderts als auch in die Kultformen der Empfindsamen gewährt, läßt sich die Ausbildung, Durchsetzung, aber auch die kritische Diskussion dieser Konstrukte und des auf ihnen basierenden Selbst- und Gemeinschaftsbildes nachvollziehen. Aufzuzeigen, in welchem Umfang und in welcher Weise Jacobi in den bahnbrechenden Wandlungsprozeß seiner Zeit eingebunden war, ist eines der Grundanliegen dieser Arbeit. Für die Bearbeitung einer solchen Themenstellung empfiehlt sich eine Quellenbasis, die einen möglichst umfassenden Einblick in die Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu vermitteln imstande ist. Hierzu scheint sich der Briefwechsel – zumindest für den ersten Zugriff einer Entfaltung des Panoramas der Aufklärungszeit – in hervorragender Weise zu eignen.300 Eine strikte Beschränkung auf die Briefe ist damit allerdings nicht intendiert. Vielmehr werden gewisse Merkmale, die sich auf der Grundlage des Briefwechsels als wesentlich herauskristallisiert haben, gegebenenfalls unter Zugriff auf die politischen, literarischen und philosophischen Schriften dargestellt, vertieft und erörtert, denn naturgemäß steht in den Werken je ein spezifischer Problempunkt im Zentrum, der darum in diesem Kontext auch eine reichere Ausgestaltung oder Zuspitzung erfährt.

297

Vgl. Angelika Beck: »Der Bund ist ewig«. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jahrhundert. Erlangen 1982 (= Erlanger Studien; Bd. 36), S. 52–68. – Vgl. auch Sölle: Übernahme des Säkularisierungsbegriffs, S. 100: »Nicht der Theologe, sondern der Dichter ist der wahre Priester.« So auch Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung, S. 106: »Der Dichter ist Priester, denn die Kunst ist die neue Religion des Menschen, der bestimmt ist, den Gott aus sich hervorzubringen.« 298 Vgl. Jäger: Klopstock – Goethe, S. 150 u. 153. Vgl. auch Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung, S. 100: »[…] und in der Tat hat sich um Klopstock eine literarische Gemeinde mit Sektenstruktur versammelt.« 299 In diesem Sinn schreibt etwa auch Wittmann: Leserevolution, S. 427: »Es wäre jedoch ein Fehler, dem regelmäßig lesenden Publikum in Deutschland von etwa 300.000 Personen, also etwa 1,5 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung, eine nur marginale gesamtgesellschaftliche und kulturelle Rolle zuzuweisen. Denn dieses zunächst so kleine Ferment neuer Leser verursachte folgenreiche kulturelle und auch politische Kettenreaktionen.« 300 Zur allgemeinen Charakteristik und Definition des Briefes als Quellengattung vgl. Irmtraut Schmid: Briefe. In: Friedrich Beck u. Eckart Henning (Hg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 3., überarb. u. erw. Aufl. Köln u. a. 2003, S. 111– 118, hier S. 111. Einen umfassenden Überblick über die Gattung vermittelt Nickisch: Brief. Einen Einblick in die unterdessen produzierte Literaturfülle zum Thema ermöglicht die im Internet zu findende »Bibliographie zur Briefforschung« (www.textkritik.de/briefkasten/forschungsbibl_a_ f.htm). [Letzter Besuch: 31.10.2007]

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Während bislang vornehmlich die Philosophie und / oder die Dichtung Jacobis im Zentrum der Forschungsinteressen stand, diese dann im Ausgang von den Werken entwickelt und die Briefe nur in ergänzender Funktion herangezogen wurden,301 soll hier – entsprechend der kulturgeschichtlichen Fragestellung – genau umgekehrt vorgegangen werden: Ausgangspunkt und primäre Quellengrundlage bildet die Düsseldorfer Korrespondenz Friedrich Heinrich Jacobis. Im folgenden soll diese Quelle näher charakterisiert werden.

4. Zugänge 4.1 Der Briefwechsel als Quelle 4.1.1 Die Korrespondenz Friedrich Heinrich Jacobis Der Briefwechsel Jacobis gibt aufgrund seines Umfangs, der Bedeutung seiner Korrespondenzpartner und der Wirkungsmächtigkeit des Düsseldorfer Schriftstellers und Philosophen einen hervorragenden Einblick in die zeitbestimmenden Diskussionen. Von dieser Einschätzung wird im folgenden ausgegangen. Zugleich erfährt sie auch durch die Arbeit selbst eine nachdrückliche Bestätigung. Die Untersuchung wird sich allerdings auf die frühe Zeit, d. h. auf die Düsseldorfer bzw. Pempelforter Phase Jacobis beschränken, die am 28. September 1794 mit der Flucht Jacobis vor den französischen Revolutionstruppen nach Norddeutschland endet. Diese Beschränkung ergibt sich teils aus pragmatischen, teils aus inhaltlichen Erwägungen. Zunächst einige Bemerkungen zu den ersteren. Allein unter quantitativen Gesichtspunkten handelt es sich um eine sehr breite Quellenbasis. Aus der Düsseldorfer respektive Pempelforter Zeit sind ca. 1850 Briefe von und an Friedrich Heinrich Jacobi überliefert. Zudem ist eine große Zahl von Briefen erschlossen. Viele Briefe umfassen mehrere Seiten, ja haben bisweilen sogar Abhandlungscharakter. Eine Untersuchung, die tendenziell die gesamte Bandbreite der Kultur dieses Zeitraums zu berücksichtigen sich anschickt, muß daher, um bewältigbar zu bleiben, sich zeitlich beschränken. Für eine Eingrenzung des Untersuchungszeitraums spricht zudem, daß aufgrund des Stands der historisch-kritischen Briefedition der Bayerischen

301 Eine gewisse Ausnahme bildet die Arbeit von Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie von La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005. Nenon hat der Briefkultur ein eigenes Kapitel gewidmet, geht aber in ihrer Arbeit sowohl hinsichtlich des thematisierten Gegenstandsbereiches als auch hinsichtlich der theoretischen Anlage in eine ganz andere Richtung.

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Akademie der Wissenschaften302 vor allem der frühe Zeitraum – unterdessen der Zeitraum von 1762 bis 1786 – vorbildlich erschlossen ist. Für die daran anschließende Zeit muß auf eine Vielzahl von Publikationsorten, in einem nicht geringen Umfang auch auf Handschriften zurückgegriffen werden, deren Aufbewahrungsorte über den gesamten deutschen Sprachraum verstreut sind, ja bisweilen sogar außerhalb desselben liegen. Es ist einzig dem außerordentlichen Entgegenkommen der Mitarbeiter der Jacobi-Forschungsstelle zu verdanken, daß durch den gewährten Einblick in die dortige Briefkartei sowie in die kopierten Handschriften ein weitgehend verläßlicher Zugang zum Briefcorpus – und damit diese Arbeit überhaupt erst – möglich wurde. Für die gewählte Beschränkung sprechen aber überdies auch inhaltliche Gründe. An erster Stelle ist die hier ausschließlich thematische Hoch- und Spätaufklärung zu nennen. Exakt das Jahr 1794 ist in der Forschungsliteratur als das Ende der so zu bezeichnenden Epoche festgesetzt worden.303 Selbst wenn davon ausgegangen werden muß, daß solche Epochengrenzen immer idealtypischen Charakter haben, spricht in der Tat einiges dafür, in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eine neue Phase beginnen zu lassen, die sich auch in Akzentverschiebungen des Jacobischen Denkens spiegelt. Standen nämlich bis zur Mitte der 1790er Jahre Auseinandersetzungen mit der Empfindsamkeit, dem Sturm und Drang und der Berliner Aufklärung im Mittelpunkt, so rückt spätestens ab der Eutiner Zeit die Kontroverse um die spekulativen Systeme des sogenannten »Deutschen Idealismus« ins Zentrum. Dabei sollen Zusammenhänge zwischen der früheren und der späteren Zeit keineswegs geleugnet werden – im Gegenteil. Doch kann möglicherweise – und diese Hoffnung hege ich in der Tat – gerade eine detaillierte Analyse ausschließlich der frühen, von der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit ihr dominierten Epoche eine angemessene Basis liefern, von der ausgehend dann Identitäten und Differenzen im Hinblick auf die spätere Zeit herausgearbeitet werden können. Die Frage nämlich, ob es einen ›frühen‹ und einen ›späten‹ Jacobi zu unterscheiden gilt, ist unter den Experten höchst umstritten.304 Besonders mißlich ist überdies das in der Forschungsliteratur weit verbreitete 302

Die Bayerische Akademie der Wissenschaften hat die Finanzierung des Briefwechsels unterdessen eingestellt. Die Gerda Henkel Stiftung fördert derzeit die Ausgabe des Briefwechsels für die (verbleibende) Düsseldorfer Zeit (Juli 1788–1794). 303 So z. B. bei Manfred Engel, der bis zu diesem Jahr noch von »Spätaufklärung« spricht, während ab 1795 erscheinende Werke von ihm bereits in die »frühe[n] Goethezeit« gerechnet werden (Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Schings: Der ganze Mensch, S. 469–498, hier S. 486 f.). Schneiders nennt ebenfalls das Jahr 1794 als wichtiges Enddatum. Saine dagegen legt das Ende der Aufklärung auf das Jahr 1790 fest (Saine: ›Was ist Aufklärung?‹, S. 527). Einen gänzlich anderen Zeitrahmen favorisiert Albrecht, der in seinem umfassenden Forschungsbericht die Spätaufklärung – im Anschluß an Positionen der Forschung – erst »im Verlaufe des Dezenniums 1820/25– 1830/35« enden läßt (Albrecht: Deutsche Spätaufklärung, S. 15). 304 Als zwei Beispiele, die die Extreme markieren, wären aus jüngerer Zeit etwa zu nennen:

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Verfahren, Kerngedanken der frühen Phase unter Rückgriff auf Werke der späten Zeit zu erläutern. Besonders gerne wird dabei aus der erst 1815 im zweiten Band der Werkausgabe publizierten »Vorrede« zum David Hume »zugleich Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften« zitiert.305 Die terminologischen Bestimmungen aber, die Jacobi dort vornimmt, reflektieren keineswegs adäquat den Stand der Frühzeit. Eine Betrachtung ausschließlich des frühen Zeitraums scheint also auch von hierher einmal angeraten. Eine unumgängliche Konsequenz dieser Zielsetzung ist im übrigen auch der Rückgriff auf die Erstausgaben der Werke. Glücklicherweise zeigt ein Blick in die Ergo- und Biographie Jacobis, daß durch diese zeitliche Begrenzung keinesfalls für die Analyse zentrale Themen oder Gegenstandsbereiche ausgeblendet bleiben. In die Düsseldorfer Zeit fällt Jacobis Erziehung und Ausbildung, seine Tätigkeit als Handelsherr und Hofkammerrat sowie als Mitherausgeber und Finanzier von Zeitschriften und seine literarische Karriere als Verfasser zweier empfindsamer Romane, die im übrigen gegen Ende des »Düsseldorfer« Zeitraums, nämlich 1792 und 1794, in überarbeiteter und erweiterter Fassung erneut erschienen. Auch Jacobis philosophische Wirksamkeit entfaltet sich von Düsseldorf aus. Hier entsteht – aus einer Korrespondenz mit Moses Mendelssohn über den Spinozismus Lessings – das sogenannte »Spinoza-Buch«, das die Geisteswelt des ausgehenden 18. Jahrhunderts revolutionierte. Hier entsteht auch die seine »Glaubensphilosophie« erneut darlegende und in Teilen gegen die Kantische Philosophie gerichtete Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Es ist dies ferner die Zeit seiner Ehe mit Helene Elisabeth (Betty), geborene von Clermont, der Erziehung seiner Kinder und der Pflege des »Pempelforter Musenhofes«, den er noch 1790 nach eigenen Plänen gänzlich umbaute. Aus all dem wird Jacobi 1794 durch seine Flucht vor den französischen Revolutionstruppen nach Norddeutschland herausgerissen und führt dort, da er bis zum endgültigen Abtritt des linken Rheinufers an die Franzosen auf eine Rückkehr nach Pempelfort hofft, ein Emigrantenleben. Erst 1798 läßt er sich in Eutin nieder, das er aber bereits 1805 wieder verläßt, um in München die Präsidentschaft der wiedereröffneten Bayerischen Akademie der Wissenschaften anzutreten. Aus dieser kurzen Skizze wird ersichtlich, daß ein Lebenszusammenhang, wie er in Düsseldorf existierte, sich später nicht wieder herstellte, daß aber in dieser frühen Zeit die für eine breite, kulturgeschichtlich angelegte Analyse wesentlichen Untersuchungsfelder und -ebenen durchaus bereits anzutreffen sind. Für die zu bearbeitende Zeit von 1762, dem Jahr, aus welchem der erste überlieferte Brief der Korrespondenz datiert, bis Ende September 1794, also jenem ZeitKahlefeld: Dialektik und Sprung, S. 18 f. und Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 87. Vgl. auch Lindner: Gefühl und Begriff, S. 16, Fn. 39, wo sogar vom »mittleren Jacobi« die Rede ist. Lindners These, daß, Jacobi »auf eine Position ausschließlich festlegen zu wollen, […] immer eine Vereinseitigung [ist]«, halte ich für zutreffend. 305 JWA 2,1, S. 375–433.

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punkt, zu welchem Jacobi Düsseldorf verließ, sind 1850 Briefe überliefert, weitere 1040 sind erschlossen.306 Da Brieffrequenz und Überlieferungsquote zunächst stetig zunehmen, ist die Quellenlage ab den 1780er Jahren deutlich günstiger als vor dieser Zeit,307 wenngleich die Zahl der überlieferten Briefe später wieder rückläufig ist. In den frühen Jahren dominieren als Korrespondenzpartner Dichter wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Halberstadt), Johann Wolfgang Goethe (Frankfurt / Weimar), Wilhelm Heinse (Italien), Sophie von La Roche (Ehrenbreitstein, Koblenz) und Christoph Martin Wieland (Erfurt / Weimar), aber auch Jacobis Dichter-Bruder Johann Georg (Halle / Halberstadt) sowie die Buchhändler Marc Michel Rey (Amsterdam) und Philipp Erasmus Reich (Leipzig). Als Hauptkorrespondenzpartner der 1780er Jahre sind die in Münster lebende Fürstin Amalia von Gallitzin und der Königsberger Philosoph Johann Georg Hamann zu erwähnen. Der intensive Briefwechsel zwischen Hamann und Jacobi beginnt Ende des Jahres 1784, erreicht 1786 seinen Höhepunkt und dauert bis zu Hamanns Tod im Juni 1788 an. Während der Düsseldorfer Zeit läßt sich kein vergleichbar intensiver Austausch feststellen. Daneben waren es vor allem Schriftsteller, Theologen, Philosophen, Historiker und Naturforscher wie Georg Forster (Kassel / Mainz), Thomas Wizenmann (Barmen), Johann Kaspar Lavater (Zürich), Johannes (von) Müller (Mainz / Kassel), Johann Gottfried Herder (Weimar) und Johann Friedrich Kleuker (Osnabrück) – nicht zu vergessen der Buchhändler und Verleger Georg Joachim Göschen (Leipzig) –, mit denen Jacobi einen ausgedehnten Briefwechsel führte. Hervorzuheben wäre schließlich noch die ebenfalls umfangreiche Korrespondenz mit seinem zweitältesten Sohn Georg Arnold (Münster / Göttingen). 306

Diesen Zahlen liegt die Auswertung der bisher erschienenen fünf ersten Textbände der historisch-kritischen Edition des Jacobi-Briefwechsels der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (bis 2003: Jacobi-Forschungsstelle in Bamberg) zugrunde (JBW). Sie decken den Zeitraum von 1762 bis 1786 ab, für welchen derzeit 939 Briefe (davon 576 von Jacobi) überliefert und 697 erschlossen sind. – Für die Jahre 1787 bis 1794 beziehe ich mich auf die Briefkartei der Jacobi-Forschungsstelle (ehemals: Universität Bamberg; seit 2003: Bayerische Akademie der Wissenschaften), der ich an dieser Stelle nochmals für die gewährte Einsichtnahme danke, sowie auf die aktualisierten Zahlen, in die mir Herr Dr. Jürgen Weyenschops freundlicherweise Einsicht gewährte. (Über erschlossene Briefe liegen nur bis einschließlich Juli 1787 weitgehend zuverlässige Zahlen vor.) Die letzten acht Jahre des Untersuchungszeitraums sind vornehmlich abgedeckt durch Friedrich Roth (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. 2 Bde. Leipzig 1825–1827 (im folgenden AB nebst Band- und Seitenzahl) sowie Zoeppritz. Daneben existiert eine Vielzahl von Publikationen, die Briefe von und an Jacobi enthalten (einen Überblick findet man in Ulrich Rose: Friedrich Heinrich Jacobi. Eine Bibliographie. Stuttgart u. a. 1993 [= Archiv, Bibliothek, Museum / Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf; Bd. 2], S. 21–26). Zudem sind zahlreiche Briefe bisher noch nicht veröffentlicht, sondern lediglich als Handschriften in diversen Institutionen (Museen, Archiven, Bibliotheken etc.) einsehbar. Vgl. zu dieser Art von Überlieferungsproblem allgemein Schmid: Briefe, S. 115. 307 Diese Tendenz führen die bisher erschienenen Bände der historisch-kritischen Edition sehr deutlich vor Augen: Der erste Band umfaßt den Zeitraum 1762–1775 während der zuletzt erschienene Band nur noch das Jahr 1786 enthält.

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Bedauerliche Lücken in der Überlieferung bilden etwa die Briefe Amalia von Gallitzins an Jacobi, von denen nur wenige erhalten sind, sowie viele Briefe der Familienmitglieder. Auch einige Teile des Briefwechsels mit Goethe – vor allem die frühen Briefe Goethes an Jacobi – wurden wohl schon zu Lebzeiten der Korrepondenten vernichtet. Die überlieferten Briefe sind zum größten Teil in deutscher Sprache verfaßt. Aus den frühen Jahren sind jedoch ebenfalls viele französische Briefe erhalten. Dies erklärt sich zum Teil aus den französisch sprechenden Adressaten – zu nennen sind hier etwa Jacobis Genfer Mentor, der Physiker und Mathematiker Georges-Louis Le Sage oder sein Amsterdamer Buchhändler Rey –, zum Teil aus der Vorherrschaft des Französischen insbesondere im Adel und bei Hofe, schließlich auch aus der sich in dieser Zeit erst allmählich auflösenden Dominanz französischer Sprache und Literatur in Deutschland. Von besonderem Interesse sind allerdings jene Briefe oder Briefwechsel, die teils in französischer teils in deutscher Sprache abgefaßt sind. Der jeweilige Sprachwechsel ist keineswegs immer zufälliger308 Natur; er deutet vielmehr oftmals in direkter Weise auf besondere Inhalte, Personen, Verhaltensweisen und Wertungen hin.309 Betrachtet man den Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis in seiner Gesamtheit, so läßt sich feststellen, daß er für den Briefkult der Epoche sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht repräsentativ ist.310 Um die Tragweite dieses Faktums – auch unter quellenkritischen Gesichtspunkten – angemessen beurteilen zu können, gilt es nunmehr, sich in Kürze Charakter, Funktion und Stellenwert der Briefkultur in der Aufklärungszeit zu vergegenwärtigen. Dabei wird sich – soviel sei schon vorweggenommen – wieder einmal die Verwobenheit der Eigenschaften des Mediums mit den entscheidenden Neuerungen der Aufklärungszeit offenbaren. 308

Dies legt Georg Arnold Jacobi in seinen autobiographischen Aufzeichnungen nahe: »Bey dem damals in den gebildeten Familienkreisen abwechselnden Gebrauch der Französischen und der deutschen Sprache in dem häuslichen sowohl wie in dem schriftlichen Verkehr, nach Laune oder zufälligen Anlässen, – (wovon auch in dem veröffentlichten Briefwechsel meines Vaters aus der ersten Zeit, so manche sich jetzt sonderbar genug ausnehmende Beyspiele vorkommen,) […]« (Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Goethe-Museum Düsseldorf, Bl. 18v). Die autobiographischen Aufzeichnungen Georg Arnold Jacobis sind nur in Auszügen im Kommentarband der historisch-kritischen Ausgabe des Jacobischen Briefwechsels abgedruckt. Ich beziehe mich hier und im folgenden auf die Transkription von Gudrun Schury, ehemalige Mitarbeiterin der Jacobi-Forschungstelle, der ich an dieser Stelle ganz herzlich für Kopie und Hilfe danke. 309 Die Briefe Wielands sind hierfür ein besonders gutes Beispiel (vgl. etwa JBW I,4, 320–322). – Vgl. aber auch in den Nachträgen des Bandes I,5 der Briefausgabe die Korrespondenz zwischen Jacobi und Franz Karl von Hompesch (JBW I,4, 330 ff.); besonders den sprachlichen Wechsel 333, 335 f., 340 f., 341 f. u. 347. 310 Daß der empfindsame Briefstil sich erst herausbilden mußte, verdeutlichen etwa die Briefe Jacobis an seinen Schwager H. A. Kopstadt aus den 1760er und den frühen 1770er Jahren. Ebenfalls deutlich für die Briefe jener Zeit ist, daß der nicht formelle, sondern empfindsame Stil sich zunächst in der »Gelehrtenrepublik« und nicht etwa in der (entfernteren) Familie etablierte (JBW I,4, 311 ff.).

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4.1.2 Die Briefkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts Das 18. Jahrhundert gilt als das »Jahrhundert des Briefes«.311 Hier entsteht unter dem Einfluß des französischen (Konversations-)Briefes und des englischen Briefromans (Richardson) in Deutschland jener private Brief, der sich bewußt von dem Kanzleistil amtlicher und geschäftlicher Briefe absetzt, welcher als standardisiert, steif und floskelhaft gilt.312 In Abgrenzung von der Hofsprache Französisch wird zunehmend in der jeweiligen Nationalsprache geschrieben, so daß die Briefkultur entscheidend zu deren Ausformung beiträgt. Es entwickelt sich in dieser Zeit eine Briefkultur, ja ein Briefkult, in dem herausragende Umbildungsprozesse der Aufklärungszeit exemplarisch zum Austrag gelangen. Der enorme Stellenwert des Briefes im 18. Jahrhundert verdankt sich insbesondere der Tatsache, daß er zugleich Produkt und Produzent zweier komplementärer, d. h. gegenläufiger und sich doch wechselseitig ergänzender und bedingender Vorgänge ist. Im folgenden kann dabei auf jene Ausführungen zurückgegriffen werden, die bereits im Kontext der Darstellung der medialen Revolution des 18. Jahrhunderts – der ›Verschriftlichung der Kultur‹ also – zur Sprache kamen. Auf der einen Seite ist der Brief – diesbezüglich mit im 18. Jahrhundert ebenfalls florierenden Tagebüchern und Autobiographien verwandt – Ausdruck und Medium der Herausbildung von Individualität und Identität. Der Brief ist Ort der Offenbarung aller inneren Regungen, Gedanken, Gefühle etc. und somit ein Ort der Fortschreibung der zunächst religiös motivierten (Selbst-)Bekenntnisliteratur.313 Bereits in den Briefen, Tagebüchern und Autobiographien der Puritaner und Pietisten wurde, wie bereits dargestellt, die »Erkundung des Innenlebens des Schreibenden zum Kern des schriftlichen Diskurses«.314 Sie leisteten somit einen entscheidenden Beitrag zum »Prozeß der methodischen Verschriftlichung von Innerlichkeit«,315 wobei allerdings wiederum festgehalten werden muß, daß diese »Innerlichkeit« in dem Prozeß des

311

Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Bde. Berlin 1889–1891, hier Bd. 2, S. 245. 312 Vgl. hierzu und zum folgenden Rohith-Gerald Delilkhan: Apologie der Briefkultur. Historische Geltung und hermeneutische Anforderungen der Briefe aus dem Gleimkreis. Konstanz 1991. Christian Fürchtegott Gellert darf sicher als die zentrale Gestalt dieses Übergangs in Deutschland angesehen werden. – Eine sehr knappe Übersicht über die »Geschichte des Briefes« findet sich in Schmid: Briefe, S. 112–114 u. 116, eine ausführliche in Nickisch: Brief. Die bedeutende Rolle der Briefsteller beleuchtet Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen 1969 (= Palaestra; Bd. 254). 313 Vgl. das bei Delilkhan: Apologie der Briefkultur, S. 37 angeführte Beispiel von Samuel Richardsons Briefroman Pamela (1740/41; dt. 1772). 314 Ebd., S. 36. – Vgl. hier Kap. I.3.3.1. 315 Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 269.

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Schreibens, Enthüllens, Mitteilens allererst hervorgebracht wird. In der Briefkultur der Empfindsamkeit erreicht diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt. Nach Wegmann ist der Brief das ausgezeichnete Medium für die Enthüllung und Konstituierung des Ich, denn »keine andere Form der Selbstdarstellung erlaubt, ja fordert im vergleichbaren Maß die Ausgestaltung und Präsentation eines nur intimer Vertrautheit zugänglichen Selbst«.316 Auf der anderen Seite ist die Briefkultur ebenfalls Ausdruck der Transzendierung dieser im Brief sich allererst ausgestaltenden (endlichen) Subjektivität. Der Brief erweist sich als elementare Form der sozialen Beziehung zwischen Individuen unter den Bedingungen der Schriftlichkeit. Auf dieser Mikroebene konnte das Idealbild solcher Beziehungen entworfen werden: die Freundschaft, die Johann Christoph Stockhausen in seinem »Briefsteller« als »Seele des gesellschaftlichen Lebens«317 bezeichnet. Briefkult und Freundschaftskult sind so in der Briefpraxis der Aufklärungszeit auf das engste miteinander verflochten und stehen für den Entwurf einer freien Verbindung gleicher, einander brüderlich gesinnter Individuen, der den Kern der bürgerlichen Gesellschaftsutopie bildet. Im Brief des 18. Jahrhunderts offenbaren sich also die Konzentration auf das eigene, isolierte Ich ebenso wie Geselligkeit und Freundschaftskult.318 Darüber hinaus ist mit dem Brief auch das Medium gesetzt, in welchem sich diese Prozesse vollziehen. Er ist mithin auch Ausdruck der sich in dieser Zeit vollziehenden radikalen ›Verschriftlichung der Kultur‹. Das hiervon ausgehende (r)evolutionäre Potential kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Die Triade von Geselligkeit, Ichbezug und Schriftcharakter findet sich ebenfalls in der Struktur des Briefes selbst verankert und qualifiziert somit in besonderer Weise den Brief als Medium der oben beschrie316 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 77. – Dies spricht übrigens für die Entscheidung Reinleins, gerade den Brief mittels der – anthropologisch gefaßten – Kategorie der »Inszenierung« zu analysieren (Reinlein: Brief als Medium). Fraglich erscheint mir allerdings, ob vor dem Hintergrund der Bedeutung von Tagebüchern und Autobiographien im Puritanismus und Pietismus der Brief wirklich zum »Initiationsmedium zur neuzeitlichen Schriftkultur« erklärt werden sollte (Maurer: Freundschaftsbriefe – Brieffreundschaften, S. 76 unter Verweis auf Rainer Baasner). Eines und ein wichtiges ist er gewiß, aber vermutlich nicht jenes, das den Beginn der Entwicklung markiert. 317 Johann C. Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe. Helmstedt 1751; zit. nach Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 79 (vgl. auch Nickisch: Stilprinzipien, S. 163 [dort: »Sele«]). – Norbert Oellers sieht insbesondere in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts jenen »privaten« Raum, aus dem sich die bürgerliche Öffentlichkeit entwickelte, wie Jürgen Habermas und auch Reinhard Koselleck es dargestellt haben (vgl. Norbert Oellers: Der Brief als Mittel privater und öffentlicher Kommunikation in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Alexandru Duţu, Edgar Hösch und Norbert Oellers [Hg.]: Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 1989 [= Brief und Briefwechsel im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung; Bd. 1], S. 9–36, hier S. 13 u. 17). 318 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 18 f. – Vgl. hierzu neuerdings auch Maurer: Freundschaftsbriefe – Brieffreundschaften.

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benen Prozesse. So sind es gemäß der Analyse Lothar Müllers »drei Grundbestimmungen«, die als »dynamische Elemente der Formentwicklung« des Briefes und des Briefromans im 18. Jahrhundert wirksam sind: »die dialogische Intentionalität, die monologische Formalstruktur und die Schriftlichkeit der Realisierung beider«.319 Betrachtet man nun die Gesamtheit der sich hiermit abzeichnenden Funktionen und Konstruktionen – Ausdruck des Inneren und Konstitution des Ich, Freundschaft und Geselligkeit, Schreiben und Lektüre – so sind zugleich die zentralen Elemente der Empfindsamkeit selber benannt. Die Diskussion über die Briefkultur des 18. Jahrhunderts enthält somit zugleich die Elemente des empfindsamen Diskurses. Umgekehrt lassen sich Form und Inhalt des Briefes nicht ohne Rekurs auf die Empfindsamkeit beschreiben: Der ideale Brief ist der empfindsame Brief, der alles unmittelbar ausspricht. »Die Empfindsamkeit und das Briefeschreiben gehören zusammen, sie spiegeln sich ineinander, sind unzertrennlich wie Zwillinge und leidenschaftlich ineinander verliebt, wie Julie und St. Preux in Rousseaus Nouvelle Héloise.«320 Trotz des uns heute völlig übertrieben anmutenden Gefühlsgestus galt »Natürlichkeit« als das oberste Prinzip des empfindsamen Ausdrucks, insbesondere des empfindsamen Briefes321 – und dies nach zwei Seiten. Zum einen richtete sich das Gebot der »Natürlichkeit« gegen die »kalte« Regelgeleitetheit früherer Briefstile, besonders gegen den im 17. Jahrhundert und Anfang des 18. Jahrhunderts dominierenden Kanzleistil. Das probate Mittel, einem solchen Stil zu entgehen, bestand in der Simulation des Gesprächs, der »Mimesis von Mündlichkeit« also.322 Zum anderen sollte 319

Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 276. Vgl. auch Wolfgang G. Müller: Der Brief. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; Bd. 34), S. 67–87, hier S. 72. – Vgl. zu dieser Trias auch Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann u. Herta Schwarz (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990, S. 211–224, hier S. 214: »Eine Geschichte des Briefs und eine Geschichte der Brieftheorie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ist Teil einer Geschichte der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit und Intimsphäre und der deutschen Nationalliteratur. In beiden Zusammenhängen kommt dem Brief eine bedeutende, wenn nicht auch konstitutive Rolle zu.« Vgl. auch Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 74: »Schon lange hat man einen Zusammenhang von Brief, gesteigertem (Selbst-)Gefühl und Geselligkeit gesehen. Zu offenkundig legt allein der parallele Konjunkturverlauf in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine gegenseitige Affinität nahe.« 320 Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 267. – Die empfindsamen Briefe bilden »das Hauptkontingent der Briefe zwischen 1760 und 1790« (Oellers: Brief als Mittel, S. 19). 321 Vgl. Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte, S. 217 ff.; Delilkhan: Apologie der Briefkultur, S. 49 ff. und Oellers: Brief als Mittel, S. 10 f., 16 u. ö. 322 Robert H. Vellusig: Mimesis von Mündlichkeit. Zum Stilwandel des Briefes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. In: Theo Elm u. Hans H. Hiebel (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg i. Br. 1991 (= Litterae; Bd. 15), S. 70–92. Vgl. auch Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u. a. 2000 (= Literatur und Leben; Bd. 54). – Vgl. auch die Zitate aus den Briefstellern von Gellert und Pfeiffer bei

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das Prinzip der »Natürlichkeit« auch innerhalb der Empfindsamkeit selber die Spreu vom Weizen trennen: Von Anfang an wird die Empfindsamkeit begleitet von der Kritik an ihrer Entartungsform: der unnatürlichen, gekünstelten »Empfindelei«.323 »Natürlichkeit« als Stil- und moralisches Prinzip sollte heißen: nur die »Sprache des Herzens«324 sprechen zu lassen. Doch dies bedeutete keineswegs: anything goes. Was gesagt, geschrieben und gefühlt werden durfte, war genauestens festgelegt. Der scheinbar natürliche, ungezwungene Stil ist in Wahrheit »systematisch geübt, ja sogar explizit in das Erziehungs- und Bildungsprogramm privilegierter Schichten aufgenommen«. Die geforderte »Natürlichkeit« wird also doch wiederum nur »mit Absicht und nach Plan hergestellt«.325 Der empfindsame (Brief-)Stil erscheint somit in der paradoxen Gestalt der »Kunst einer gewollten Kunstlosigkeit«.326 Doch ist »Natürlichkeit« damit keineswegs bloß ideologischer Schein. »Natürlichkeit« steht für die Übereinstimmung von Ausdruck und Empfindung. Insofern aber nur bestimmte Gefühle ausgedrückt werden dürfen, gibt sie trickreich das Ideal gelungener Disziplinierung vor: Diese besteht nicht darin, unzulässige Gedanken und Empfindungen zurückzuhalten, sondern darin, sie gar nicht erst zu haben. Regeln und Zensur sind überflüssig, weil nichts mehr zu reglementieren ist. In diesem Sinne hatte schon Stockhausen 1751 formuliert: »Wer vernünftig, ordentlich und lebhaft denket, der kann schreiben wie er will.«327 Dieses Postulat auch auf die Gefühlswelt – und damit auf die sozialen Interaktionsformen – ausgedehnt zu haben, ist Leistung der Empfindsamkeit. Die vernünftige, ordentliche und lebhafte Empfindung sollte an die Stelle stürmischer Leidenschaften und unkontrollierter Affekte treten. Erst der Zusammenfall von Innen und Außen, der den großen Unterschied zur höfischen Moral bezeichnet und jenen Übergang von Fremdzwang in Selbstzwang markiert, der dem bürgerlichen Tugendbegriff zugrundeliegt, macht die Disziplinierung vollkom-

Oellers: Brief als Mittel, S. 10 f. sowie Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1995, S. 8 f., die auch auf die antike Herkunft des Topos vom Brief als »sermo absentis ad absentem« verweist; dazu auch Müller: Brief, S. 70 f. 323 Vgl. Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 274. 324 Delilkhan: Apologie der Briefkultur, S. 51. 325 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 76. – Vgl. auch Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 279. 326 Wilhelm Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 80–116, hier S. 85. 327 Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe; zit. nach Nickisch: Stilprinzipien, S. 165. – Einen kurzen Überblick über die quantitative und qualitative Entwicklung der Briefsteller gibt unter anderem Oellers: Brief als Mittel; vgl. dort S. 23 f. auch das Beispiel des Briefstellers von Karl Philipp Moritz.

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men.328 Hier hat letztlich auch das Phantasma der Authentizität, das mit der Natürlichkeit aufs engste verflochten ist, seinen Ort.329 Schriftlichkeit und Gefühlsdisziplinierung – die immer eine Verhaltensregulierung meint – scheinen so Hand in Hand zu gehen. Bernd Witte hat diesen Zusammenhang am Beispiel des Gellertschen Werkes Das Leben der schwedischen Gräfinn von G*** aufgezeigt: Die empfindsame Ehemoral, die durch vernünftige, enterotisierte Liebe gekennzeichnet ist, wird in diesem Roman mit der Kultur der Schriftlichkeit (Briefe schreiben, Lektüre) verknüpft, die zugleich die bürgerliche Welt repräsentiert. Dagegen werden ungezügelte Leidenschaften und Affekte mit Oralität und diese wiederum mit der adeligen Lebensweise assoziiert.330 Der Bürger und die Schrift gehören somit ebenso zusammen wie der Bürger und die Tugend, und beide sind Kernpunkte seiner Selbstbestimmung. Dies ist jedoch nur die eine Seite. Hinter dem Prinzip der »Natürlichkeit« als Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Empfindung, als Äquivalenz von Außen und Innen, verbirgt sich noch etwas anderes, das ebenfalls im Dienste der Disziplinierung steht, ja ohne welches diese gar nicht denkbar wäre. Die vollständige Diskursivierung des Innenraums, das vollkommene Durchsichtigsein der Innenwelt ist letztlich Voraussetzung einer totalen Kontrolle. Als Phantasma des Zusammenfalls von Signifikant und Signifikat treibt sie den Prozeß der »Versprachlichung und Verschriftlichung der Seele«331 voran, der im zeitgenössischen Briefkult seinen sprechendsten Ausdruck findet:332

328 Vgl. hierzu auch den Dialog zwischen Emilia Galotti und ihrer Mutter in Lessings gleichnamigem Trauerspiel (II. Akt, 6. Szene): »CLAUDIA. […] Dem Himmel ist beten wollen, auch beten. / EMILIA. Und sündigen wollen, auch sündigen.« (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding u. Jörg Schönert hg. v. Herbert G. Göpfert, München 1970–1979, hier Bd. II, S. 150.) 329 Vgl. Anton: Authentizität als Fiktion, bes. S. 96 u. 134. 330 Vgl. Bernd Witte: Christian Fürchtegott Gellert: »Leben der schwedischen Gräfinn von G***«. Die Frau, die Schrift, der Tod. In: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 112–149, hier S. 129 ff. – Etwas Vergleichbares entwickelt Koschorke anhand von Richardsons Roman Pamela (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 199). Vgl. zur Entgegensetzung von adeliger und bürgerlicher Kommunikation – mit besonderem Gewicht auf der Rolle der Körperlichkeit – ebd. Kap. I: »Zirkulationen«. Vgl. aber auch ders.: Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen. Zu Modellen erotischer Autorschaft bei Gleim, Lessing und Klopstock. In: Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994 (= ScriptOralia; Bd. 65), S. 251–264, hier S. 262: »Strukturell wie semantisch hängt die Ausbildung des Konzepts der Seelenliebe, der Übergang vom Modell der Passion zu dem der Sympathie als affektiver Basis der Gesellschaft, vom Prozeß der Verschriftlichung ab.« 331 Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 267. 332 Vgl. hierzu ebd.: »Der Briefroman ist ein Hauptschauplatz sowohl der quantitativen Extensivierung wie der qualitativen Intensivierung und Differenzierung dieses Prozesses.«

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»Eine derart schon mit dem Akt des Schreibens einsetzende Besinnung nach innen treibt die selbstreflexive Innenschau nicht selten gar soweit, als wolle man Ernst machen mit der doch uneinholbaren Forderung, sich selbst und den Empfänger bis ins kleinste (Empfindungs-) Detail auf dem laufenden zu halten.333 Man schreibt geradezu exzessiv. Steinhausen spricht von einer ›Briefleidenschaft‹, schreibt damit aber nur ein Urteil fort, das von Gervinus, der hier einen Ausbruch von ›Briefwut‹ sieht, bis zum späten 18. Jahrhundert zurückreicht, wo man bereits im unmittelbaren Rückblick in dieser Briefbegeisterung eine geradezu pathologische ›Schreibwut‹ erkennen will.«334 Das phantasmatische Konstrukt der Äquivalenz von Innen und Außen wirkt sich also sowohl qualitativ als auch quantitativ aus: Nicht nur muß die Darstellung den inneren Regungen genau entsprechen, sondern es darf überdies nicht das Geringste unterschlagen werden. Beide Momente derselben Norm fordert auch Johann Georg Jacobi in seinem Artikel Vom Briefeschreiben, der 1775 in der von ihm und Wilhelm Heinse in Düsseldorf herausgegebenen Frauenzeitschrift Iris erschien.335

4.1.3 Ideale Stilisierungen oder Einblicke in die Alltagskultur? Zur realitätsgenerierenden Kraft von Phantasmen Betrachtet man die Forschungsliteratur der Historiker zur Bedeutung und Verwendbarkeit von Briefen für die historische Forschung, so trifft man allenthalben auf eine nachdrückliche Warnung: Persönliche Quellen, zu denen auch der Brief zählt, sind in besonderer Weise dadurch gekennzeichnet, Authentizität und Unmittelbarkeit zu verheißen, keinesfalls aber zu verbürgen.336 Was geschrieben wird und wie geschrieben wird, ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig: dem jeweiligen Korrespondenzpartner, dem Zeitpunkt der Niederschrift, den gängigen Topoi, dem Bestreben

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Vgl. hierzu die wie eine Persiflage auf diese empfindsame Norm anmutende Briefstelle von Jean Paul in seinem Brief an Jacobi vom 3.–8.12.1798: »Schreiben Sie mir etwas Bestimmtes über Ihr Krankseyn und über das Gegentheil, d. h. alles. Adam Smith sagte, es wär’ ihm lieb zu wissen, daß Milton Riemen statt der Schnallen in den Schuhen getragen: wahrhaftig ich weiß über Ihre chaussure noch wenig, und es soll mir lieb seyn, hinter die Sache zu kommen.« (Zoeppritz I, 204.) 334 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 77. 335 Iris 3 (1775), S. 193–202; abgedruckt in: Ebrecht / Nörtemann / Schwarz: Brieftheorie, S. 134–136. 336 Vgl. Jörg Engelbrecht: Autobiographien, Memoiren. In: Bernd-A. Rusinek, Volker Ackermann u. Jörg Engelbrecht (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn u. a. 1992, S. 61–79, hier S. 61. – Vgl. aber Schmid: Briefe, S. 113 f.: »Die Bedeutung des Briefes als historische Quelle beruht darauf, daß er unmittelbare Einblicke in alle diese Sphären persönlicher, zwischenmenschlicher Beziehungen bietet.«

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nach Selbststilisierung etc.337 Dies muß – nach dem oben Dargestellten – um so mehr für die Briefkultur der Aufklärungszeit gelten, insbesondere aber für den empfindsamen Briefkult. Tatsächlich kann das »Inszenierungspotential« der empfindsamen Briefe, hierauf hat neuerdings Tanja Reinlein hingewiesen, gar nicht hoch genug veranschlagt werden.338 Dies gilt es im Rahmen der Quelleninterpretation in jedem Fall zu berücksichtigen. Doch was dem Historiker, sofern dessen Anliegen darauf gerichtet ist, bestimmte geschichtliche Ereignisse unter Rückgriff auf persönliche Quellen zu erhellen, als mißlich gelten mag, kann dem Kulturhistoriker, der nach den Konstrukten und Phantasmen fragt, deren Funktion und Wirkungsmächtigkeit er enthüllen möchte, geradezu als Vorzug gelten: Hinter die Konstrukte zu gelangen, an ihnen ›vorbei‹ einen Blick auf die ›Realität‹ freizulegen, ist für ihn nicht einmal erstrebenswert, denn die Konstrukte sind selber Gegenstand und Ziel der Analyse.339 An dieser Stelle ergeben sich übrigens Konvergenzen zu einer neueren Arbeit von Sylvie Le Moël über Jacobi, in welcher Jacobis Briefe unter dem Blickpunkt der »Selbstinszenierung des Briefschreibers« analysiert werden.340 Quer zu der Frage »Einblick in den Alltag oder kulturelle Konstruktion?«341 wird in der vorliegenden Arbeit von der wirklichkeitsschaffenden Kraft der Diskurse und der mit ihnen verwobenen Phantasmen ausgegangen. Die in den Briefen sichtbaren

337

Vgl. in diesem Sinne etwa Wolfdietrich Rasch, der betont, »daß dieser ganze Freundschaftkult nicht nur der Briefe sich bedient, sondern ganz wesentlich in Briefen vor sich geht, und zwar eben in Briefen, die nicht lediglich unmittelbare Seelendokumente sind, sondern vielfach eine bestimmte und bewußte poetische Stilisierung und an Vorbildern geschulte literarische Formung zeigen« (Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung, S. 196). – Vgl. auch Stefan Weiß: Briefe. In: Rusinek: Interpretation historischer Quellen, S. 45–60, hier S. 48 f.; dort auch S. 52–54 zur Zensur. – Vgl. zum Problem des Briefes als Quelle ebenfalls Thomas Schnalke: Medizin im Brief. Der städtische Arzt des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Korrespondenz. Stuttgart 1997 (= Sudhoffs Archiv, Beihefte; Bd. 37), S. 13–19. 338 Reinlein: Brief als Medium. – Auch Koschorke hatte sich dieses Begriffs bereits im Hinblick auf textuelle Inszenierungen bedient (vgl. Koschorke: Verschriftlichung der Liebe, S. 255, 262 u. ö.). 339 Schon für »historische Forschungen, die sozial- und strukturgeschichtliche Ansätze um eine historisch-anthropologische Komponente erweitern,« sind die Vorzüge des Briefes als Quelle hervorgehoben worden (Dirk Hempel: Deutsche Adelsbriefwechsel im dänischen Gesamtstaat als kulturwissenschaftliche Quelle. Probleme und Perspektiven ihrer Erforschung. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 [2001], S. 205–220, hier S. 218 f.). 340 Sylvie Le Moël: Auf der Suche nach dem Alter ego? Motive und Modi der Selbstmitteilung in den Briefen Friedrich Heinrich Jacobis bis 1790. In: Wezel-Jahrbuch 5 (2002), S. 147–167, hier S. 160 f. – Zum einen aber verfolgt Le Moël den Konstruktcharakter – zumal zu Beginn ihres Aufsatzes – nicht konsequent genug, zum zweiten fehlt eine begleitende und durchgängige Theorie, was ihrem Aufsatz am Ende einen recht additiven Charakter verleiht. 341 Vgl. hierzu auch Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 68: »Diskurse stehen quer zu dem wissenssoziologisch unfruchtbaren ontologischen Dualismus von ›Wirklichkeit‹ und ›Modell‹, entziehen sich der Reduktion auf vorrangige Realitäten.«

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Phänomene sind Konstrukte, Selbstentwürfe – und zwar nicht nur individuelle, sondern auch kollektive –, die nicht mit dem Alltag zusammenfallen, aber dennoch aus ihm kommen und in ihn zurückwirken. Sie bringen ein Begehren – ein anthropologisch-dauerhaftes ebenso wie dessen jeweilige historische Manifestationen oder imaginierte Einlösungen – zum Ausdruck, wobei das Begehren wiederum von immenser alltagskonstituierender Bedeutung ist. Die zeittypischen Tendenzen der Aufklärung sollen mithin als kulturelle und diskursive Konstrukte gesehen werden, die einem tiefen, in der conditio humana selbst wurzelnden, nicht hintergehbaren, aber auch nicht erfüllbaren Begehren entspringen, wobei zugleich unterstellt wird, daß sie als diese das Begehren zeitgemäß artikulierenden kulturellen Konstrukte gerade nicht nichts mit der ›Realität‹ zu schaffen haben, sondern das Movens ihrer Um- und Neugestaltung sind.342 Ich halte diese Sichtweise für das Moment, welches eine neuere Geschichtsbetrachtung von älteren unterscheidet – und zwar sowohl von jenen älteren, denen der Gedanke einer Phantasmatik überhaupt unvertraut war, als auch von jenen, die in der Entlarvung von Phantasmen ihre Mission sahen, diese dann aber ausschließlich in ihrer negativen Dimension wahrnahmen: als die schiere Unwahrheit, von welcher man sich folglich loszusagen hätte.343 Die ungeheure Wirkungsmächtigkeit und Produktivität der Phantasmen geriet auf diese Weise gar nicht erst in den Blick. Man wird davon ausgehen müssen, daß die durch Friedrich Heinrich Jacobi und seine Korrespondenzpartner vertretenen »gebildeten Stände« in diesen Briefen – und in den Schriftmedien überhaupt – einen neuen Lebens-, Denk-, Gefühls- und Kommunikationsstil entwarfen, durchspielten und sich selbst antrainierten. Die Briefe jener Zeit spiegeln einen Durchsetzungsprozeß neuer Denk- und Verhaltensmuster, die für die bürgerliche Gesellschaft der Moderne grundlegend wurden. Ihrer Genese nicht im Sinne eines (absoluten) Ursprungs, wohl aber im Sinne eines auf allgemeine 342

Auf dieser Linie bewegt sich auch Koschorkes Analyse, wobei er vor allem den phantasmatischen Effekten der Medialität selber nachgeht, die ich nicht ausschließlich betrachte. Vgl. etwa Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 345: »Ihr [= einer Mediologie, wie Koschorke sie entworfen hat] ist vielmehr an der Frage gelegen, wie solche Phantasmata – immer unter der zugestandenen Prämisse, daß es Phantasmata sind, wenn auch nicht in einem psychologischen oder schlechthin ideologischen Sinn – positiv funktionieren und sich die Macht eines sozialen und technischen Realitätsprinzips aneignen können.« Vgl. auch ebd., S. 346: »Im Zeitalter medialer Megamaschinen kommt alles darauf an, die Herstellung von Ursprünglichkeit durch Substitution, von Unmittelbarkeit durch Vermittlung als wirklichkeitsmächtigen Prozeß zu beschreiben.« Ebenso ist S. 272 zu lesen: »Vielleicht ist zumindest die Absicht deutlich geworden, mediale Prozesse als operative Abläufe zum Zweck der Herstellung kultureller Realität, daß [sic] heißt in ihrer faktischen Wirksamkeit zu untersuchen.« 343 Vgl. etwa Richter: Gotteskomplex; vgl auch Friedhelm Guttandin u. Dietmar Kamper: Selbstkontrolle. Dokumente zur Geschichte einer Obsession. Marburg u. a. 1982 oder auch Böhme / Böhme: Andere der Vernunft. Vgl. auch die Enthüllung des »Ich« als Phantasma im Rahmen postmoderner Dekonstruktion (vgl. Schmidinger: Christliche Anthropologie).

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Verbindlichkeit für die Gesellschaft als Ganzes abzielenden Durchsetzungsprozesses,344 kann anhand der Briefe jener Zeit nachgespürt werden. Bemerkenswert ist, daß auch dieser aufklärungstypische Anspruch auf ›allgemeine Verbindlichkeit‹ als eine Form der Transzendierung räumlicher und zeitlicher Grenzen aufgefaßt werden kann, denn die Normen sollten fortan »immer und überall«345 gelten. Erst die Aufladung des Durchsetzungsprozesses mit dem Begehren nach Transzendierung der Endlichkeit als der causa finalis läßt die Freisetzung jener ungeheuren Energien plausibel werden, die zu einer derart rigorosen Umgestaltung der Kultur erforderlich sind.

4.2 Der Leitfaden der Analyse: das »Andere der Vernunft« Als Leitfaden oder Raster der Arbeit dienen fünf Begriffe, die nach Hartmut und Gernot Böhme das »Andere der Vernunft« bezeichnen: Gefühl, Begehren, Leib, Natur und Phantasie.346 In den sich um diese Begriffe rankenden Diskussionen werden zentrale Themen und Problembestände der Aufklärungszeit ausgetragen. Dafür steht nicht allein die Tatsache, daß sie von Böhme / Böhme selbst aus der Analyse ebendieser Zeit entwickelt wurden; auch die Betrachtung anderer, wesentlicher Forschungsliteratur zur Aufklärungsepoche bestätigt ihren zentralen Stellenwert.347 Begriffsgeschichte – in weitgehend synchroner Perspektive348 – wird hier also als Zu-

344 Das besondere Moment der Aufklärungszeit bei gleichzeitigem Bewußtsein für die historischen Vorbilder oder längerfristigen Entwicklungslinien hat Koschorke folgendermaßen zu fassen versucht: »Für sich genommen ist kaum eine der Praktiken und Ideologien, die in der Menschenformung der Aufklärungszeit eine Rolle spielen, historisch neu. Wenn diese Praktiken dennoch im Umbruch zur Moderne eine spezifische Qualität gewinnen, so scheinen die Gründe dafür erstens in ihrer zunehmend effizienten und lückenlosen Vernetzung und zweitens, damit verbunden, in einer Tendenz zur Vereinheitlichung, Ausdehnung und Vertiefung der Reichweite ihrer Interventionen zu liegen.« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 35.) – Grundsätzlich zu Problemen der Periodisierung bzw. zum Nebeneinander kurz-, mittel- und langfristiger Veränderungen sowie der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (E. Bloch)« vgl. Bödeker / Hinrichs: Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt?, bes. S. 39. 345 Vgl. ebd., S. 36. 346 Böhme / Böhme: Andere der Vernunft. 347 Vgl. etwa Sauder: Empfindsamkeit (1974); Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977 sowie Begemann: Furcht und Angst. 348 Vgl. zu dieser, an Brunner, Conze und Koselleck anknüpfenden, aber etwa um eine synchrone Perspektive erweiterten historischen Semantik auch Herfried Münkler u. Harald Bluhm (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin 2001 (= Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe »Gemeinwohl und Gemeinsinn« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 1).

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gang zur Diskurs- und Mentalitätsgeschichte gewählt;349 in dieser Funktion ist sie allerdings auch nicht selber Forschungsgegenstand, sondern Mittel zur Erkenntnis, zur Rekonstruktion der zeitgenössischen Diskurse und kulturellen Konstrukte, soweit sie über die Quellentexte repräsentiert (oder auch konstruiert) sind.350 Die Bedeutsamkeit der gewählten Leitbegriffe gründet vor allem darin, daß Diskurse – insbesondere solche in Zeiten umfassenden soziokulturellen Wandels – notwendigerweise immer auch Abgrenzungsdiskurse sind. Was gelten sollte, wurde – unter Berufung auf die säkularen Instanzen Vernunft und Natur – durchgesetzt, und zwar unter Ausschluß all dessen, was nicht gelten sollte und mithin als ›unvernünftig‹ bzw. ›unnatürlich‹ deklariert wurde. Der gesamte Aufklärungsprozeß ist geprägt von einer ständigen Diskussion hierüber. Erkennbar sind dabei unterschiedliche Positionen, die zunehmend als »Partheyen« wahrgenommen wurden, sowie Entwicklungen, die, den Strategien von Ausschluß, Wegschluß und Aneignung folgend,351 sich etwa als Binnendifferenzierungen der Vernunft lesen lassen oder auch als Produktionsformen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung. Orientiert an den vorgestellten Leitbegriffen besteht die Arbeit aus fünf Hauptkapiteln. Jedes Kapitel ist einem der zentralen Begriffe sowie dem diesem jeweils zugehörenden Begriffsfeld gewidmet und geht zunächst von seinem konkreten Gebrauch in der Quelle aus, um ein möglichst umfassendes Bild der mit ihm verbundenen Bedeutungsdimensionen und Diskussionslagen zu entwerfen.352 Auch disparate oder gar widersprüchliche Bestimmungen sollen hierbei nicht ausgeschlossen blei349

Vgl. zu dieser Verbindung auch Dietrich Busse u. Wolfgang Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Dietrich Busse, Fritz Hermanns u. Wolfgang Teubert (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen 1994, S. 10–28, bes. S. 19 sowie Melvin Richter: Zur Rekonstruktion der Geschichte der Politischen Sprachen: Pocock, Skinner und die Geschichtlichen Grundbegriffe. In: Bödeker / Hinrichs: Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit, S. 134–174. – Den Zugang zur Mentalitätsgeschichte unterstreicht Fritz Hermanns: Linguistische Anthropologie. Skizze eines Gegenstandsbereiches linguistischer Mentalitätsgeschichte. In: Busse / Hermanns / Teubert: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, S. 29–59, bes. S. 55 f. – Ernst Müller spricht von der »Syntagmatik synchroner Diskurse und ihre[r] Brüche« (Müller: Einleitung, S. 11; vgl. auch S. 16). 350 Einen schönen Überblick über die Entwicklung der Begriffsgeschichte (resp. der historischen Semantik) sowie eine kritische Diskussion ihrer Theorie und Praxis bietet Hans Erich Bödeker: Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode. In: Ders. (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; Bd. 14), S. 73–121. 351 Koschorke spricht im Anschluß an Foucault von »machttechnischen Verwicklungen«, die er »als Komplex von Einschluß- und Ausschlußverfahren, Zergliederungen und Formationen« sieht (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 10). 352 Vgl. zur Notwendigkeit, die gewählten Begriffe im Kontext anderer Begriffe zu untersuchen, etwa Bödeker: Reflexionen über Begriffsgeschichte, S. 91 f. u. 96 f. sowie Busse / Teubert: Diskurs, S. 22 f. und auch Müller: Einleitung, S. 16.

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I. Präludium

ben, da gerade über sie oftmals ein Zugang zu den Problemstellungen der Epoche möglich wird. Im Anschluß an diese detailgenauen Analysen wird dann jeweils ein für die Kultur der Aufklärungszeit – aber auch für Jacobi selbst – zentrales Phänomen umfassender dargestellt werden. Der Rückgriff auf Begriff und Konzept des »Anderen der Vernunft« als Leitfaden der Analyse und Strukturierung der Arbeit bedeutet allerdings nicht, dies soll hier ausdrücklich betont werden, daß die teilweise höchst problematischen Implikationen des Konzepts, die von den Brüdern Hartmut und Gernot Böhme – vor allem in auf ihr Buch folgenden Veröffentlichungen – weitgehender entwickelt wurden, in die folgende Untersuchung – explizit oder stillschweigend – einfließen sollen.353 Für problematisch halte ich zum ersten die Redeweise von einem »Anderen der Vernunft« dann, wenn damit suggeriert werden soll, es handele sich hierbei um eine vorgängig gegebene und historisch invariable Größe – ein Etwas, das einst frei und freudvoll existierte und dann in einem historisch fixierbaren Sündenfall in die Fänge und unter die Knute des narzißtischen Vernunftsubjekts geriet. Vollends problematisch wird die von den Böhmes vorgenommene Verabsolutierung des »Anderen« zum zweiten dann, wenn dieses nicht bloß eine historisch überholte Stufe der Menschheitsgeschichte bezeichnen, sondern als Modell für die Zukunft dienen, d. h. zur ethischsozialen Leitidee werden soll, wenn es also darum geht, eine neue Gesellschaftsform im Namen dieses »Anderen der Vernunft« zu entwerfen und zu errichten.354 Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, daß das »Andere« immer nur als Produkt der Vernunft, d. h. als jeweils – in Diskursen und sozialen Praktiken – Negiertes, faßbar wird. Bei dieser Negation ist stehenzubleiben. Aber die Beschreibung dieser Negation kann doch die Kosten offenlegen und das treibende Moment des 353 Vgl. Gernot u. Hartmut Böhme: Currente Vernunft. Zum Projekt einer anderen Aufklärung. In: Ästhetik und Kommunikation 15 (1985), Heft 57/58, S. 225–232, hier S. 226 f. sowie Hartmut Böhme: Gefühl. In: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim u. a. 1997, S. 525–548. 354 Vgl. zu diesen lebensphilosophischen Konnotationen auch Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in den deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6. Sonderheft: Forschungsreferate. 3. Folge. Tübingen 1994, S. 93–157, hier S. 100, Fn. 9: »Das Denken der achtziger Jahre stellt in zentralen Punkten eine Rückkehr zu lebensphilosophischen Motiven und Positionen dar. Was heute als das ›Andere der Vernunft‹ apostrophiert wird, hieß zu Beginn dieses Jahrhunderts ›Leben‹.« – Vgl. hierzu auch die Diskussion zwischen Gernot Böhme und Ruth und Dieter Groh: Gernot Böhme: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1992; Ruth u. Dieter Groh: Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt. In: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt »Natur im Kopf«, Stuttgart, 21.–26. Juni 1993. Hg. v. der Landeshauptstadt Stuttgart, Kulturamt. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (= Problemata; Bd. 133 u. 134), hier Bd. 2, S. 15–38 sowie (in erweiterter Fassung) dies.: Die Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt a. M. 1996, S. 83–146 und Gernot Böhme: Naturästhetik ohne Natur? Eine Erwiderung auf Ruth und Dieter Groh. In: Merkur 48 (1994), S. 183–185.

4. Zugänge

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Prozesses, die Logik des Logos selbst, zutage fördern.355 In diesem Sinne soll das »Andere der Vernunft« als begrifflicher Leitfaden einen Zugang zu den zentralen Diskursen der Aufklärungszeit eröffnen und so seine Fruchtbarkeit erweisen.

355

Vgl. hierzu auch Heinz: Philosophische Einführung, S. 24.

II. GEFÜHL

1. Spuren der Empfindsamkeit Bereits ein flüchtiger Einblick in Leben und Werk Friedrich Heinrich Jacobis, wie ihn beispielsweise lexikographische Artikel gewähren, läßt offenkundig werden, daß »Gefühl« die zentrale Kategorie für das Denken und Wirken dieses Philosophen darstellt. Jacobi wird durchgängig als Gefühlsphilosoph charakterisiert,1 und das Gefühl ist in der Tat »so etwas wie das Organon seiner von ihm selbst so benannten ›Unphilosophie‹«.2 Zudem werden seine Romane, wenngleich nicht gänzlich unumstritten, der Empfindsamkeit zugeschlagen,3 mithin jener umfassenden kultur- und sozialgeschichtlichen Tendenz innerhalb des europäischen Aufklärungsprozesses und der »Aufstiegsbewegung des Bürgertums«,4 deren zentrale Bedeutung – in komplementärer Funktion zum Rationalismus der Frühaufklärung – in der Kultivierung, Differenzierung und Problematisierung von Gefühlen und Empfindungen lag.5 Von dieser empfindsamen Tendenz war schließlich auch Jacobis Leben maßgeblich bestimmt: »Auf seinem Landsitz in Pempelfort bei Düsseldorf […] bestimmen die gesellschaftlichen Tugenden der Empfindsamkeit den Umfang und den Stil seines privaten wie öffentlichen Wirkens auf den verschiedensten Gebieten.«6 Es vermag daher kaum zu überraschen, daß auch der Briefwechsel Jacobis durch eine Omnipräsenz des Gefühls imponiert. Im zwischenmenschlichen Umgang ebenso wie in der Kunst hat das Gefühl allerhöchsten Wert. Orientiert an diesem Maßstab stilisieren sich die Briefschreiber als empfindungsvolle Seelen, die insbesondere durch die Lektüre eines Buches oder freundschaftlichen Briefes und anläßlich der Begegnung mit Freunden in Stimmungen äußerster Gefühlsintensität geraten. Der Beginn 1

Vgl. etwa Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch. Neu bearb. von Georgi Schischkoff. 20. Aufl. Stuttgart 1978, S. 210 (Artikel »Gefühlsphilosophie«) und Heine: Werke, Bd. 8/2, S. 864. 2 Sandkaulen: Vernunft, S. 416. 3 Vgl. Sauder: »Bürgerliche« Empfindsamkeit?, S. 149 und Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 105–116. 4 Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. XIII. 5 Vgl. hierzu auch Hansen, der von der »Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts« als dem »Herzstück« innerhalb einer »Geschichte der Gefühlsprogramme« spricht (Hansen: Einleitung, S. 9) und an anderer Stelle äußert: »Seit der Antike gibt es Gefühlsprogrammatiken, die sich gegen repressive Ordnungen stellen. […] Die Empfindsamkeit ist eine und die wichtigste dieser Gefühlsprogrammatiken und Gefühlskulturen.« (Hansen: Neue Literatur, S. 527; vgl. auch S. 515.) 6 Knoll: Empfindsamkeit, S. 110.

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II. Gefühl

eines Briefes von Jacobi an die Fürstin Amalia von Gallitzin aus dem Jahre 1782 spricht von dem Nachhall persönlicher Begegnung, der mittels der bildlichen Repräsentation der Freundin aufrechterhalten und gepflegt wird: »Ich bringe manche Stunde, unter den süssesten Bewegungen meines Herzens vor Deinen Bildnißen zu, Amalia. Diese reinen und mächtigen Töne der Empfindung in irgend etwas Hörbarem darzustellen und vor Dein Ohr bringen zu können – das ist dann jedes Mahl mein stummes Seufzen bey’m Abschiede!«7 Empfindungen der Liebe und Zuneigung, so suggeriert der Brief, verlangen nach Ausdruck, Mitteilung und Austausch, stoßen aufgrund ihrer Intensität zugleich aber immerzu an die Grenzen des Sag- und Schreibbaren. Eine derartige Konstellation ist der mit Abstand häufigste Anlaß empfindsamen Gefühlsausdrucks. Die empfindsamen Bekenntnisse prägen den Briefwechsel auch da noch nachhaltig, wo die empfindsame Tendenz in Deutschland ihren Zenit längst überschritten hat.8 Gleichwohl kann kaum übersehen werden, daß der Briefwechsel der 1770er Jahre, also aus der Hochphase der Empfindsamkeit, dem intensiven Gefühlsausdruck breiteren Raum gibt. Diese Zeit ist für Jacobi geprägt von dem »sentimentalen Congreß« auf der Festung Ehrenbreitstein bei Sophie von La Roche (1771),9 der Begegnung mit Goethe und seinem Werther (1774) und der durch letztere initiierten Erstfassung seiner Romane Eduard Allwills Papiere (1775/76) und Woldemar (1777/79). Der Brief an den Grafen Chotek vom 16. Juni 1771, der den »sentimentalen Congreß« auf Ehrenbreitstein zum Inhalt hat, darf wohl als das sprechendste Zeugnis der empfindsamen Tendenz im Jacobischen Briefwechsel gelten10 und ist entsprechend auch von Gerhard Sauder als repräsentative Schrift in die von ihm herausgegebene Quellensammlung zur Empfindsamkeit aufgenommen worden.11 Er beginnt mit einer empfindungsvollen, ja sym-pathetischen Schilderung der Teilnehmer, setzt 7

Brief vom 11.1.1782 (JBW I,3, 6). Vgl. etwa die Briefe von J. G. A. Forster vom 17.12.1778 (JBW I,2, 86–89), an A. von Gallitzin vom 14.8.1787 (Siegfried Sudhof [Hg.]: Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde. 1. Teil [1769–1788]. 1. Hälfte: Texte. 2. Hälfte: Anmerkungen. Münster 1962–64 [= Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten; Bd. 5], hier Bd. 1,1, S. 365 f.), von W. von Humboldt vom 20.6.1790 (Albert Leitzmann [Hg.]: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. Halle a. d. S. 1892, S. 28 f.) sowie an Reinhold vom 11.2.1790 (Ernst Reinhold [Hg.]: Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn. Jena 1825, S. 227–234). 9 Vgl. Irmela Brender: Christoph Martin Wieland. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 75. 10 Vgl. JBW I,1, 109–114; hierzu auch im Brief an P. E. Reich vom 27.5.1771 (JBW I,4, 319 f.). – Ganz im Stile der Empfindsamkeit gehalten sind überdies der Brief an F. G. Klopstock vom 7.– 8.7.1777 (JBW I,2, 64) und der oben zitierte Brief an A. von Gallitzin vom 11.1.1782 (JBW I,3, 6). 11 Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 3. Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980, S. 215–218. 8

1. Spuren der Empfi ndsamkeit

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sich fort in der Beschreibung der »empfindsamen Reise« der Brüder Johann Georg und Friedrich Heinrich Jacobi nach Ehrenbreitstein und findet seinen Höhepunkt schließlich in der Begegnung zwischen Sophie von La Roche und Christoph Martin Wieland: »Auf einmahl erblickte er sie – ich sah ihn ganz deütlich zurückschauern; er hatte dabey die Miene, die ich Ihnen vorhin zu beschreiben versucht habe –. Drauf kehrte er sich zur Seite; warf mit einer zitternden und zugleich heftigen Bewegung seinen Hut hinter sich auf die Erde, und schwanckte zu Sophien hin. Alles dieses war von einem so außerordentlichen Ausdrucke in Wielands ganzer Person begleitet, daß ich mich in allen Nerven davon erschüttert fühlte. – Sophie gieng ihrem Freünde mit ausgebreiteten Armen entgegen; er aber, anstatt ihre Umarmung anzunehmen, ergriff ihre Hände, und bückte sich um sein Gesicht darein zu verbergen: Sophie neigte mit einer himmlischen Miene sich über ihn, und sagte mit einem Tone, den keine Clairon, und keine Dubois nachzuahmen fähig sind: Wieland – Wieland – O ja – sie sind es – sie sind noch immer mein lieber Wieland.« Äußerste Ergriffenheit und absolute Reinheit (»himmlisch«) paaren sich ganz im Sinne des empfindsamen Ideals einer quantitativen und qualitativen Steigerung der Gefühle. Der schon hier angedeuteten Fähigkeit, andere damit zu rühren und auf diese Weise zu reinen Empfindungen anzuleiten, schließlich auch – bezogen auf den Erzähler Jacobi selbst – sich rühren zu lassen, wird im folgenden noch mehr Raum gegeben: »Keiner von den umstehenden konnte sich der Thränen enthalten: mir strömten sie die Wangen hinunter; ich schluchste; ich war außer mir, und ich wüste bis auf den heütigen Tag noch nicht zu sagen, wie sich diese Scene geendiget, und wie wir zusammen wieder hinauf in den Saal gekommen sind.«12 Der für die Empfindsamkeit so zentrale Wirkungsaspekt, der diesen exemplarisch ausdrückende Tränenreichtum – treffend wurde mit Blick auf die Empfindsamkeit vom »weinenden Saeculum«13 gesprochen – und die bis zum Gedächtnis-, ja Selbstverlust gehende Intensität und Selbstlosigkeit der Empfindung sind in diesem Bild vereinigt. Auffällig und für die Empfindsamkeit durchaus typisch ist nun, daß an diese intensive, Unmittelbarkeit heischende, absolutes Überwältigtsein suggerierende empfindsame Szenerie eine geradezu philosophisch-nüchterne Analyse der Empfindungen direkt anschließt: »Die Empfindungen, die ich an diesem Abende gehabt, sind ein starker Beweis für mich, daß das Gefühl der Zärtlichkeit sich nicht in blos vervielfältigte, und zusam12

JBW I,1, 112 f. Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal. Universität Münster. Schloß Dyck vom 7.–9. Oktober 1981. Heidelberg 1983. 13

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II. Gefühl

men gedrängte Sensationen auflößen laße; denn wenn auch in einem Sinne alle übrige vereiniget, und dieser auf einmahl mit der ganzen Schöpfung gerührt werden könnte, so würde doch dieser unmittelbare Genuß, welcher gewiß der größte ist, der sich erdencken läßt, allemahl wesentlich von jenem unbeschreiblichen, alle andere an Köstlichkeit übertreffenden Gefühle, welches wir Liebe oder Zärtlichkeit nennen, unterschieden bleiben.«14 Die in dieser Szene exemplarisch zum Ausdruck kommende Wertschätzung der Gefühle, insbesondere derjenigen von Freundschaft und Liebe – so auch der sprechende Titel der Erstveröffentlichung von Jacobis Roman Woldemar aus dem Jahre 1777 –, verdankt sich der grundlegenden Bedeutung von Gefühlen für Anthropologie und Ethik im Rahmen der empfindsamen Tendenz. Die englische »moral sense«-Theorie, die Sauder als ideengeschichtlichen Ursprung der europäischen Empfindsamkeit bezeichnet hat,15 hatte einer rationalistisch begründeten Ethik – beispielsweise eines Spinoza – das moralische Gefühl (»moral sense«) als Grundlage von Erkenntnis und Handeln entgegengestellt. Nicht der Verstand, sondern jener »innere Sinn« für das Wahre, Gute und Schöne, mit dem jeder Mensch von der Natur ausgestattet sei, ermögliche erst moralisches Handeln und tugendhaftes Verhalten. Falsche Erziehung und Sitten könnten zwar den »moral sense« verschütten, doch durch Pflege und Reinigung der Empfindungen – Reinigung vor allem von allen egoistischen Bestrebungen – sollte es möglich sein, diesen grundlegenden Sinn wieder freizulegen. Die »moral sense«-Theorie16 wurde – insbesondere über die Schriften Shaftes14

JBW I,1, 113. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1995), S. 94. Zur Kritik dieser These vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 14 f. Eine selbstkritische Revision dieser These findet sich bei Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung, S. 331 u. 334; sie gründet insbesondere darin, daß romanistische Studien andere, wesentliche »Ursprünge« der Empfindsamkeit in einer genuin französischen Tradition identifiziert haben (ebd., S. 332, aber auch 334). Da jedoch der Rezeption britischer, im Kontext der »moral sense«-Theorie stehender Autoren auch innerhalb dieser Studien große Bedeutung zugemessen wird (ebd.), wäre die ursprüngliche These Sauders nur als exklusive und monokausale zu verwerfen, als welche ich sie nie verstanden habe. Im übrigen ist es ja mehr als bloß erwartbar, daß die nationalspezifischen Traditionen mit der übernationalen Tendenz je eigene Allianzen eingegangen sind. Schließlich wird in historischen Wandlungsprozessen banalerweise niemals mit einer »tabula rasa« begonnen. Eine Studie, die nationale Besonderheiten betont, wäre etwa Frank Baasner: Der Begriff ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988 (= Studia Romanica; Bd. 69). – Zu Jacobis Verwurzelung in der »moral sense»-Philosophie vgl. Baum: Vernunft und Erkenntnis, unter anderem S. 164–171. 16 Vgl. Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; Bd. 6). 15

1. Spuren der Empfi ndsamkeit

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burys – nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland stark rezipiert.17 Dieser Theorie folgend galten in der Empfindsamkeit Gefühle als Voraussetzung eines tugendhaften, mitmenschlichen Verhaltens. Der empfindsame Mensch ist zugleich der tugendhafte Mensch. Entsprechend wird »Empfindsamkeit« – und dies keineswegs nur in Deutschland – definiert als »das Genie zur Tugend«.18 Das in der Literatur, aber auch im Briefwechsel mit Freunden entworfene Idealbild des empfindsamen Menschen, welches zugleich – im Sinne eines Erziehungsprogramms – die affektiven Normen des neuen Bürgertums entwarf, widerspiegelte und durchsetzte, war dabei nicht nur bestimmt von einem mehr an Gefühl (je gefühlvoller, empfindsamer, desto besser – im moralischen Sinne), sondern auch von einer Verfeinerung des Gefühls. Die quantitative und qualitative Steigerung der Gefühle stand somit in der Empfindsamkeit im Dienste des Strebens nach moralischer Vollkommenheit. Im Bild der »reinen« oder »schönen Seele« fand dieses Ideal der Vollkommenheit seinen adäquaten Ausdruck. Die doppelte Verpflichtung der Empfindsamkeit auf quantitative und qualitative Steigerung der Gefühle zeigt sich im Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis nicht nur in der Häufung bestimmter Worte wie beispielsweise »Gefühl«, »Empfindung«, »Liebe«, »Herz« und »Seele« oder körperlichen Ausdrucksformen wie Umarmungen, Küssen und Tränen, sondern vor allem auch in der Vielzahl der verwendeten Superlative. Man wird nicht einfach geliebt, sondern »innigstgeliebt«, und die Freundschaft ist selbstverständlich die »zärtlichste«; eine Person oder ein Werk wird nicht selten als »vortrefflich« bezeichnet. Grüße und Dank werden tausendfach ausgerichtet, wobei alles dies nicht bloß von Herzen kommt, sondern »von ganzem Herzen« – ungeteilt also. Einen Superlativ ganz eigener Art bringt zudem das Moment der Zeitlichkeit hervor: Freundschaft, Liebe, Verbundenheit sind »beständig«, »unveränderlich«, ja »ewig«. Die qualitative Steigerung der Gefühle wird vor allem durch entsprechende Adjektive angezeigt. So sollte es sich vorzüglich um eine »wahre«, »sanfte«, »feine«,

17

Zur Diskussion des »moralischen Gefühls« in Deutschland vgl. etwa den Beitrag von Johann Georg Heinrich Feder Ueber das moralische Gefühl, der 1776 in vier Teilen im Deutschen Museum erschien (1. Bd., S. 15–40, 103–115, 287–306, 479–503). Rezeptionsspuren in Jacobis Briefwechsel ließen sich nicht finden. 18 Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 205. Vgl. auch Lessing in seinem Brief an F. Nicolai vom November 1756: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste.« (Lessing: Werke, Bd. IV, S. 163). – Mullan: Sentiment and Sociability, S. 234, macht die Äquivalenz von Empfindsamkeit und Tugend für Richardsons Clarissa geltend: »sensibility is at one with virtue«; Anne C. Vila: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France. Baltimore u. a. 1998, S. 1, weist hin auf Chevalier des Jaucourts Encyclopédie-Artikel über Sensibilité, in welchem es heißt: »Sensibility is the mother of humanity, of generosity«. Vgl. auch ebd., S. 2: »In the moral and social vocabulary of eighteenth-century France, sensibilité […] was associated with notions like sympathy, virtue, pity, benevolence, tender feeling, and compassion.«

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II. Gefühl

»natürliche«, »schöne«, »männliche«, »edle«, »vollkommene« oder gar »himmlische« Empfindung handeln, wobei der Drang zum Superlativischen eine Kombination bzw. Akkumulation solcher Epitheta nachgerade verlangt. So endet beispielsweise ein Brief Jacobis an Johann Georg Hamann mit den Worten: »Ich umarme Sie mit wahrer warmer inniger Liebe – «19 und die Schlußfloskel eines Briefes an Amalia von Gallitzin lautet: »Leben Sie wohl, theuerste innigst geliebte Amalia. Von ganzem Herzen u von ganzer Seele«20. Unter Umständen kann der Zwang zur Steigerung in einem geradezu hilflos anmutenden Wiederholungstaumel enden. So etwa gibt Jacobi seiner Freude über einen Brief Hamanns mit den Worten Ausdruck: »O, der Freude, Lieber! O, der Wonne, die ich aus diesem Briefe schöpfte! – Lieber Hamann – Lieber, Lieber, Lieber, möchte ich die ganze Seite herunter schreiben.«21 Diese Briefstelle macht ebenfalls deutlich, daß auch Exklamationen – »O« oder »Ach« – und Ausrufungszeichen die Intensität, Unmittelbarkeit und Authentizität der Gefühle zum Ausdruck bringen sollten. Doch die empfindsame Forderung nach restlosem und gesteigertem Ausdruck der Gefühle führt zwangsläufig an die Grenze des sprachlich Möglichen. An ebendieser Stelle tritt der »Unsagbarkeitstopos«22 in Kraft. Eine Liebe, eine Freude ist »unaussprechlich«,23 eine Empfindung nicht sag-, mitteil- oder ausdrückbar. Selbst jene, die die gleiche Sprache sprechen, die also dem nämlichen Kreis der Empfindsamen zugehören, kommen hier an ihre Grenze. So schreibt Jacobi Ende November 1778 über die Marschallin de Muy an Sophie von La Roche: »Liebe Sophie, wie mir der Engel am Herzen liegt, daß [sic] kann ich Ihnen nicht sagen, das kann ich auch Ihnen nicht sagen. Ach, ich fürchte, wir begraben sie hier. – Sie wünschen ohne Zweifel, daß ich Ihnen von ihr erzähle, aber dazu bin ich nicht im Stande. Wer das himmlische Geschöpf gesehen und gehört hat und kann davon erzählen, der hat es weder gesehen noch gehört. – Lassen Sie mich abbrechen, ich müßte weinen.«24

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Brief vom 22.2.1785 (JBW I,4, 53). Brief vom 8.8.1785 (JBW I,4, 152). 21 Brief vom 28.2.–3.3.1786 (JBW I,5, 84). – Vgl. auch in den Briefen an J. G. Hamann vom 29.11.1787: »Nimm, lieber Vater, meinen innigen, tief, tief, TIEF!, empfundenen Dank« (Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden u. Frankfurt a. M. 1955–79 [im folgenden Hamann nebst Band- und Seitenzahl], hier Hamann 7, 357) und vom 25.3.1788: »Du Lieber, Lieber Lieber Du! – –« (Hamann 7, 439). – Vergleichbares findet sich auch schon in den Briefen Meta Mollers (später: Klopstock). Vgl. hierzu Oellers: Brief als Mittel, S. 21. 22 Vgl. etwa Sauder: Empfindsamkeit (1992), S. 205. Der Begriff selbst geht zurück auf Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 5. Aufl. Bern u. a. 1965, S. 168– 171. 23 Vgl. etwa den Brief J. G. A. Forsters an Jacobi vom 17.12.1778 (JBW I,2, 86). 24 Undatierter (etwa vom 28.11.1778) Brief (JBW I,2, 83). 20

1. Spuren der Empfi ndsamkeit

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Selbst die Schrift, das Medium der Empfindsamkeit par excellence, gerät an dieser Stelle unter Anklage. Über seine Liebe zu Wilhelm Heinse schreibt Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Jacobi: »er liest’s in meinem Herzen, meiner Seele, liest’s da beßer, als im Quark von diesen Episteln«.25 Auch Wieland erscheinen »Worte und Phrasen […] ein zu grobes Medium«, um seine Liebe zu Jacobi auszudrücken,26 und die Beschränktheit schriftlicher Mitteilung führt Jacobi gar dazu, Herder seinen Besuch anzukündigen, »denn Sie würden’s eher in den Falten meiner Kleidung lesen was ich Ihnen sagen möchte, als hier in tausend Zügen meiner Feder.«27 Der zeitweilig im Jacobischen Hause lebende Dichter Wilhelm Heinse, dessen Italienreise nicht zuletzt dem Ziel diente, möglichst alle gewonnenen Eindrücke genauestens zu schildern, muß schon in der Schweiz vor den Grenzen des Ausdrucks kapitulieren: »Von meiner Reise durch Schwitz, und über den Vierwaldstädter See durch beyde Unterwalden kann ich nichts herausgeben; meine heiligen Gefühle wollen nichts mit der Metze, der Sprache zu schaffen haben.«28 Aus der Not der Unaussprechbarkeit rettet bisweilen ein »Gedankenstrich«, der »doch nicht immer Sinn u bedeutungslos«29 ist und stellvertretend für die Fülle des Nichtgesagten steht. Der »Unsagbarkeitstopos« der Empfindsamkeit beschwört die Grenzen von Sprache und Schrift und überschreitet diese genau damit auf eine dialektische Weise. Insbesondere die Echtheit und Intensität der Gefühle scheint erst durch ihn volle Bestätigung zu erlangen: »Antwortendes Gefühl, je wahrer, je vollkommener es ist, je weniger zum Darstellen. […] Wo Rede ist, ja nur Blick, da ist noch Kluft.«30 Insofern steht der »Unsagbarkeitstopos« für das Begehren, das paradoxerweise hinter aller Medialität steht, nämlich für das Begehren nach Unmittelbarkeit. Die Kritik an den Grenzen von Sprache und Schrift ist somit gerade ein Effekt des Verschriftlichungsprozesses jener Zeit.31

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Brief vom 23.9.1783 (JBW I,3, 209). Brief vom 30.10.1784 (JBW I,3, 379). 27 Brief vom 8.–14.6.1783 (JBW I,3, 159). 28 Brief vom 29.8.1780 aus Luzern (JBW I,2, 165). – Vgl. auch Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 18.–22.10.1784: »Was Sie mir von Ihrer Person u von Ihrer Lage melden, dafür danke ich Ihnen mit einem Gefühl, das ich nicht aufs Papier verschütten mag.« (JBW I,3, 373.) 29 Brief an A. von Gallitzin vom 15.7.1780 (JBW I,2, 157). 30 Brief an C. M. Wieland vom 13.11.1774 (JBW I,1, 269 f.). 31 Diese paradoxe Verwobenheit von Medialität und Unmittelbarkeit offenbarte sich ebenso in umgekehrter Richtung. So hält beispielsweise Meredith Lee für Goethes Werther fest: »For the modern reader it is one of the deliberate ironies of the text that in a novel in which the protagonist is constantly searching for authentic emotion and immediacy of expression, the major scenes in which he achieves the greatest degree of heartfelt intimacy with his beloved are ones marked by explicitly mediated perception.« (Lee: Displacing authority, S. 163 f.) – Eine andere Variante dieser Verwobenheit behauptet Koschorke: Das – prinzipiell unerfüllbare – Begehren nach Repräsentation von Unmittelbarkeit verschwindet bei ihm gänzlich im »Prozeß einer medialen Produktion von Unmittelbarkeit« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 218, Fn. 171; vgl. auch S. 231 u. 465). 26

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II. Gefühl

Auch wenn die Empfindsamkeit faktisch dahin tendierte, den qualitativen Aspekt zugunsten des quantitativen zu vernachlässigen – was sie historisch gesehen in Trivialität und Sentimentalität münden ließ –, so darf doch andererseits nicht übersehen werden, daß die Verständigung darüber, welche Gefühle erstrebenswert sind und welcher Gefühlsausdruck als adäquat gelten kann, eines ihrer zentralen Ziele ausmacht. Anliegen der Empfindsamkeit ist nicht ein »anything goes« des Gefühls(aus)lebens, sondern Affektregulierung, Sublimierung der Gefühle mit dem Ziel einer Ausgewogenheit von Herz und Kopf, von individuellen Wünschen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Diese Eigenart der Empfindsamkeit als (Selbst-)Verständigungsprozeß über Gefühle hat vielfach zu dem Irrtum verleitet, kritische Stimmen sogleich im Lager ihrer Widersacher zu verorten. Auch Jacobi ist auf diese Weise zum Kritiker von Empfindsamkeit und Sturm und Drang ernannt worden.32 Doch der in seinen Romanen thematisierte Konflikt zwischen einem schrankenlosen Gefühlsausleben des einzelnen und gesellschaftlicher Ordnung betrifft jene Dialektik von Selbst- und Mitgefühl, von der schon die »moral sense«-Theorie gekennzeichnet ist.33 Die im Rahmen der Empfindsamkeit verhandelten Probleme waren eben vor allem jene der Vermittlung von Herz und Kopf, Gefühl und Verstand, Selbst- und Mitgefühl, Individuum und Gesellschaft, die überhaupt erst auf der Basis des Auseinandertretens von privat und öffentlich, erst angesichts der Herausbildung von Subjektivität und Individualität, die nicht zuletzt in dieser Tendenz stattfand, entstehen konnten. Es ist demnach zurecht darauf verwiesen worden, daß die Kritik der Empfindsamkeit – im Sinne einer Kritik an einem uneingeschränkten und undifferenzierten Votum für Gefühle – wesentlich zum Programm der empfindsamen Tendenz selber gehört. Die Kritik der Empfindsamkeit begleitet diese von Beginn an und nicht nur ihre Verfallsformen am Ende der Periode. Die Abgrenzung der Empfindsamkeit gegen falsche Empfindsamkeit gehört ihr zu. In dieser Abgrenzungsdebatte artikuliert sich ihr Selbstverständnis und ihr Wesen; beides wird somit auf diesem Wege allererst hervorgebracht. An erster Stelle steht dabei die Kritik von »Affektation« und »Empfindelei«. Schon zur Zeit des oben dargestellten Gipfels der empfindsamen Tendenz im Jacobischen Briefwechsel, dem »Congreß« auf der Festung Ehrenbreitstein, finden sich Spuren einer Kritik der Empfindsamkeit im Sinne einer zu weit getriebenen bzw. falschen Empfindsamkeit. In seinem Brief an Wieland vom 24. August 1771 läßt sich

32 Vgl. Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi (1974), S. 222. – Vgl. auch Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 345 sowie ders.: Jacobis Romantheorie, S. 186. 33 Vgl. zu dem empfindsamen Ausgleich zwischen »Kopf« und »Herz«, »Gedanke« und »Gefühl« auch den Brief Luzies an Allwill (Jacobi: Eduard Allwills Papiere [1776], S. 105 [256]; vgl. JWA 6,1, 75). Vgl. auch Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 186.

1. Spuren der Empfi ndsamkeit

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Jacobi entsprechend über den »empfindsame[n] Leüchsenring« aus, der auf Ehrenbreitstein ebenfalls zugegen war: »Endlich habe ich von dem wunderbaren Freunde Leuchsenring einen Brief erhalten. Ich glaubte, er hätte über irgend einem sentimentalischen Todtensprunge den Hals gebrochen. Wenn wir ihn doch überreden könnten, daß er nicht alles, was er thut, in Kunststücken thäte; ich weiß sie ihm nicht nachzumachen, und das bloße Zusehen macht mir Nervenreißen. Ich kann nicht leiden, wenn man mit einem Springstocke über einen Graben setzt, den man überschreiten könnte. Eine jede natürliche Empfindung mit so viel Feuer und Stärke aufnehmen, als man ins Herz bekommen kann, das ist alles, was man braucht; man muß nicht neue erfinden wollen.«34 Leuchsenring, der – soweit der Briefwechsel hier ein adäquates Urteil zuläßt – wohl in der Tat dazu tendierte, die Dinge zu übertreiben, indem er sie buchstäblich und distanzlos ausführte,35 macht sich des Kardinalfehlers aller falsch verstandenen Empfindsamkeit schuldig: Er ist nicht »natürlich«, sondern »künstlich«. Die dem »natürlichen« Gefühlsausdruck entgegengesetzte »künstliche« Affektation36 aber ist gerade das – im übrigen mit dem verabscheuten Hofleben assoziativ verknüpfte, ja in eins gesetzte – Gegenbild der Empfindsamkeit. Frühe Spuren von Empfindsamkeitskritik im Briefwechsel Jacobis sind denn auch vor allem von diesem Zentralpunkt der empfindsamen Selbstbestimmung geprägt. So wird etwa auch der Darmstädter Kreis der Empfindsamen – an diesem Maßstab gemessen – von Jacobi kritisiert.37 Namentlich von Johann Heinrich Merck heißt es in einem Brief an Sophie von La Roche: »Es

34

JBW I,1, 127. Der Brief Leuchsenrings ist nicht überliefert. – Vgl. auch die Briefe an M. S. von La Roche vom 17.6.1771 (JBW I,1, 115) und vom 9.10.1773 (JBW I,1, 214). 35 Vgl. hierzu Jacobis Brief an J. F. Kleuker vom 5.12.1785 (JBW I,4, 269 f.) sowie die Briefe an C. Garve vom 27.4.1786 (JBW I,5, 169–173) und an J. G. Schlosser vom 23.9.1786 (JBW I,5, 352 f.). – Vgl. auch den Brief von J. Müller vom 3.6.1786 (JBW I,5, 232), den Brief an J. G. Hamann vom 13.6.1786 (JBW I,5, 246 f.) sowie Goethes Darstellung in Dichtung und Wahrheit (Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bden. Textkritisch durchges. u. komm. v. Erich Trunz. München 1998, hier Bd. IX, S. 558 [= 3. Teil, 13. Buch]). 36 Vgl. Chodowieckis Serie von Radierungen, die unter dem Titel Natürliche und affectierte Handlungen des Lebens im Göttinger Taschen-Calender für das Jahr 1780 erschienen sind (Abbildung unter anderem in: Johann Heinrich Merck [1741–1791]. Ein Leben für Freiheit und Toleranz. Ausstellungskatalog zum 250. Geburtstag und zum 200. Todestag von Johann Heinrich Merck. Darmstadt 1991, S. 63). 37 Zur »Gemeinschaft der Heiligen«, wie Goethe den Darmstädter Kreis nannte (Brief an Herder vom Juli 1772; Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 1.–4. Abt., 143 Bde. Weimar 1887–1912 [= Weimarer Ausgabe], hier Bd. IV,2, S. 19), vgl. Johann Heinrich Merck (Ausstellungskatalog), S. 72–85.

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II. Gefühl

kommt mir vor, als wenn der Mann weniger dächte als erdächte, mehr erträumte als empfände.«38 Diese Kritik der Empfindsamkeit bleibt in mehrfacher Hinsicht immanent. Zum einen, insofern nicht der Gefühlsenthusiasmus selbst, sondern lediglich ein bestimmter, den Normen nicht entsprechender Ausdruck von oder Umgang mit Gefühlen kritisiert wird. Zum anderen aber auch, insofern die Diskussion im engeren Kreis der Empfindsamen verbleibt. Wenige Jahre später nimmt diese kritische Auseinandersetzung in Jacobis Briefwechsel unter dem Einfluß zunehmender Empfindsamkeitskritik in Deutschland eine andere Gestalt an. Insbesondere von seiten rationalistisch orientierter Aufklärungstendenzen wurde nun die Empfindsamkeit schlechthin der »Empfindelei« verdächtigt. Ihr wurde ein übertriebener, schrankenloser und nicht mehr autonom steuerbarer Umgang mit den Gefühlen vorgeworfen; zudem wurde sie als unnatürlich und tatenlos-schwärmerisch abgewertet. Ihren tendenziell anarchischen Charakter empfand man als Bedrohung der öffentlichen Ordnung, und die nicht mehr »vernünftigen« und somit devianten Formen von Empfindsamkeit wurden konsequenterweise als krankhaft eingestuft.39 Jacobi ist genötigt, sich mit dieser Kritik auseinanderzusetzen, seinen Standort zu bestimmen und deutlich zu machen. Eine Georg Christoph Lichtenberg betreffende Aussage Georg Forsters in seinem Brief vom 10. Oktober 1779 ist – innerhalb des Briefwechsels – die erste Veranlassung für eine solche, defensive Stellungnahme Jacobis. Forster hatte in seiner Kurzcharakteristik Lichtenbergs geschrieben: »Mit dem äußerst feinen Tact, verbindet er einen förmlichen Abscheu gegen die neuere Empfindsamkeit, die eigentlich dem guten Leßingischen Worte, einen bösen Stempel aufgedruckt, und dessen Curs im Lande der wirklich empfindenden verboten hat.«40. Die recht prompte Antwort von Jacobi auf diesen Brief Forsters nimmt in aufschlußreicher Weise hierzu Stellung: »Grüßen Sie Lichtenbergen von mir und sagen Sie ihm, ich möchte gern wissen, ob ihm ahnde, daß er mir gut seyn könne. Wenn er mich etwa der Empfindelei (das Wort Empfindsamkeit mag ich nicht verhunzen helfen, mag kein Schwärmer, weder pro noch contra, weder für die Wärme noch für die Kälte seyn) oder der Genie38

Brief vom 18.3.1776 (JBW I,2, 41). – Vgl. aber auch noch im Brief an J. G. A. Forster vom 19.3.1790 bez. des ersten Bandes eines Werkes von [Charles-Marguerite?] Dupaty: »Gewisse empfindsame Eruptionen sind das einzige was mir fatal an ihm ist, nämlich da, wo sie gemacht scheinen, wo er nur damit ausstaffirt.« (Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für deutsche Sprache und Literatur. 18 Bde. Berlin 1958–2003 (Stand: Okt. 2007), hier Bd. 18, S. 395.) Vgl. hierzu auch J. G. A. Forsters Brief vom 18.2.1790 (Forster: Werke, Bd. 16, S. 23). 39 Vgl. zur Kritik an der Empfindsamkeit zusammenfassend Doktor / Sauder: Nachwort, S. 212–216. 40 JBW I,2, 112. – Die Übersetzung des englischen »sentimental« mit »empfindsam« geht auf Lessing zurück (vgl. JBW II,2, 132 [zu 112,16 f.]).

1. Spuren der Empfi ndsamkeit

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sucht im Verdacht haben sollte, so lesen Sie ihm nur Luciens Brief aus dem December des Merkurs 1776 vor; ich dächte, auch die Fragmente im Museum, wenn man sie ganz liest, und nicht etwa nur hie oder da einen Fetzen, wären schon hinreichend. Dieß nur auf allen Fall, denn es geht sehr wunderlich in Deutschland her. Wenn Shakespeare oder Hans Jacob Rousseau, oder zehn andere, die ich nennen könnte, heimlich wieder auferständen, und ohne zu sagen, wer sie wären, Deutsch schreiben, Sie sollten sehen, wie man mit Ihnen umginge. Dem Einen würde dünken, das Product schmecke nach dieser, dem Andern, es schmecke nach jener Faction, und damit drüber her! In der That, reines Gefühl und unpatheiische Liebe des Wahren und des Schönen ist beinahe ganz unter uns vertilgt, und ein leidiger, alles verwirrender und zerrüttender Partheigeist an die Stelle getreten.«41 Dieser ausführliche Kommentar Jacobis läßt nicht nur seine Sicht der Diskussion deutlich werden, sondern auch sein eigenes Verhältnis zur Empfindsamkeit. Explizit ergreift Jacobi Partei für die wohlverstandene Empfindsamkeit, grenzt sich aber zugleich ab gegen »Empfindelei« und »Geniesucht«. Die erstere mag wohl für jene affektierte, künstliche Variante der Empfindsamkeit stehen, die er schon früher kritisiert hatte. Die letztere hebt vor allem auf die amoralische Absolutsetzung des eigenen Gefühls ab, die den empfindsamen Idealen zutiefst widerspricht. Beiden hatte er – so sein Selbstverständnis – in seinen Romanen eine deutliche Absage erteilt.42 Ganz auf der Linie dieser differenzierten Sicht der Empfindsamkeit liegt es darum auch, daß Jacobi die Klassifikation seines Woldemar als »empfindsam« wohl gelten lassen mag, nicht aber die Gleichsetzung mit der »Klostergeschichte« von Miller, die für eine Trivialisierung der empfindsamen Tendenz steht.43 Die Stellungnahme Jacobis zur Empfindsamkeitsdiskussion läßt zudem hervortreten, was für Jacobi lebenslang kennzeichnend bleiben sollte und zumindest in der Diskussion mit den Berliner Aufklärern über den »Kryptokatholizismus« in ebendieser Form wiederkehren wird:44 Es gibt eine »Schwärmerei« auf beiden Seiten – auf der Seite der (falschen) Empfindsamen und auf der Seite der Kritiker der Empfindsamkeit –, die Folge jedes notwendig einseitigen »Partheigeist[es]« ist. In ebendiesem Sinne heißt es in einem späteren Brief Jacobis im Hinblick auf »unsere Empfindsam41

Brief vom 25.10.1779 (JBW I,2, 118). Mit den »Fragmente[n] im Museum« ist der Ausschnitt aus dem zweiten Teil des Romans Woldemar gemeint, der 1779 im Deutschen Museum unter dem Titel Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit erschien. 42 Vgl. auch im Brief an J. G. A. Forster vom 5.11.1781 (JBW I,2, 370). – Vgl. hierzu besonders den Brief Luzies an Allwill, auf den Jacobi auch selbst verweist (Jacobi: Eduard Allwills Papiere [1776], S. 94–111 [245–262]; vgl. JWA 6,1, 65–80). 43 Gemeint ist das Werk von Johann Martin Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte. Leipzig 1776. – Vgl. die Briefe an M. E. Reimarus vom 8.6.1781 (JBW I,2, 313) sowie an J. F. Kleuker vom 2.8.1781 (JBW I,2, 330). 44 Vgl. unten das Kapitel VI.4.2.

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II. Gefühl

keit-Stürmer«: »So wahr ist es, daß ächte Natur wohl niemals, Affectation hingegen überall lächerlich ist; curirt die Leute von der Empfindsamkeit, so werden sie euch mit der Unempfindsamkeit spuken. Ich begreife die gescheidten Leute nicht, die das nicht sehen können, und immer glauben, es läge beim Narren nur an der Kappe.«45 Jacobi mag sich auf keine Seite schlagen und kommt damit – letztlich – zwischen allen Stühlen zum Sitzen. Zugleich ist hiermit bereits die Grundformel für die Analyse einer »Dialektik der Aufklärung« gefunden. Jacobis explizite Stellungnahme zur Empfindsamkeitsdiskussion in seinem Brief an Forster aus dem Jahre 1779 läßt aber noch etwas Drittes deutlich werden: nämlich daß es ihm in letzter Instanz um »reines Gefühl und unpartheiische Liebe des Wahren und des Schönen« geht.46 An diesem aus der englischen »moral sense«-Theorie sich speisenden Grundanliegen wird Jacobi zeitlebens festhalten. Noch in der 1815 im zweiten Band seiner Werke erschienenen »Vorrede« zum David Hume, »zugleich Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften« heißt es entsprechend: »Und so gestehen wir denn ohne Scheu, daß unsere Philosophie von dem Gefühle, dem objectiven nämlich und reinen, ausgeht; daß sie seine Autorität für eine allerhöchste erkennt, und sich, als Lehre von dem Uebersinnlichen, auf diese Autorität allein gründet.«47 In seinen in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre erscheinenden philosophischen Schriften, vornehmlich den beiden Ausgaben des Spinoza-Buches und dem David Hume, hat Jacobi versucht, dieses »objektive« und »reine« Gefühl als jene Instanz – oder jenes Organ – darzustellen, das einzig Freiheit, Moralität und Gottesglaube verbürgt.48 Die Wende zum neuen Jahrzehnt, jene Zeit also, in der Jacobi sich in seinen Briefen explizit zur Empfindsamkeitsdiskussion äußert, markiert somit gewissermaßen eine ergographische Zäsur, die mit dem Niedergang der im engeren Sinne empfindsamen Tendenz in Deutschland weitgehend zusammenfällt.49 Im Jahre 1781 er45

Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 128 f.). Vgl. auch im Brief an Goethe vom 15.9.1779: »Ich wollte noch einer Ader erwähnen, die durch den ganzen Woldemar geht, und wenigstens in dem bekanntgemachten Stück aus dem 2ten Theil schon sehr sichtbar ist, die nur aus einem Herzen voll Verläugnung, voll unpartheischer Liebe zu allen Guten, voll unpartheyischen siegenden Haßes gegen alles Böse, aus einem Herzen voll Buße, voll Glauben, voll inniger Demuth fließen konnte.« (JBW I,2, 107.) 47 JWA 2,1, 403. – Eine Abkehr Jacobis vom »Gefühl« oder dem »Herzen« – wenn man letzteres als Gegeninstanz zum »Verstand« sieht – hat also bei Jacobi, trotz aller Kritik an der Absolutsetzung des eigenen Gefühls etwa im Woldemar, nie stattgefunden. Eine solche Abkehr scheint Bechmann nahelegen zu wollen – möglicherweise auch, um die Differenz zwischen der Erstfassung und den Spätfassungen des Woldemar herauszustellen. M. E. überzeichnet er hier bisweilen die Differenz, die mir doch oftmals mehr in der Darstellung als in der vertretenen Position selber zu liegen scheint (vgl. Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 32, 48 f. u. ö.). 48 Vgl. hierzu die Analyse von Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Diese ist genauer in Kapitel V.4.1 dargestellt. 49 Am Ende der 1770er Jahre setzt bereits eine massive Kritik an der Empfindsamkeit ein und 46

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis

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scheinen in den Vermischten Schriften die vorerst letzten Fassungen der Romane Jacobis, und die 1780er Jahre stehen fernerhin ganz im Zeichen seiner philosophischen Schriften.

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis 2.1 Gefühl, Freiheit und der Weg zur Transzendenz Im Juli des Jahres 1780 hatte Jacobi anläßlich einer Norddeutschlandreise Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel besucht, wo dieser als Bibliothekar tätig war, und dort mit ihm das bedeutende und wirkungsmächtige Gespräch über die Philosophie des Spinoza geführt, in dessen Verlauf, so will es die Berichterstattung Jacobis, sich Lessing zum Spinozismus bekannte. Als Jacobi davon erfuhr, daß der Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn ein Buch über seinen im Februar 1781 verstorbenen engen Freund Lessing verfassen wollte, ließ er ihm, vermittelt über die gemeinsame Freundin Elise Reimarus, einen Hinweis auf dieses angebliche Bekenntnis Lessings zukommen. Da Spinozismus im 18. Jahrhundert als Atheismus galt, war die Angelegenheit von höchster Brisanz – nicht zuletzt für das Ansehen Lessings. Mendelssohn meldete denn auch sogleich Zweifel an, ob Lessing sich tatsächlich ernsthaft zum Spinozismus bekannt und ob er nicht vielmehr eine moderate, nicht zum Atheismus führende Form des Spinozismus vertreten habe. Jacobi war hier gänzlich anderer Meinung und legte Mendelssohn in seinem auf den 4. November 1783 datierten Brief eine ausführliche, in Dialogform gehaltene Wiedergabe des Gesprächs vor.50 In dem sich hieran anschließenden, weitgehend von der gemeinsamen Freundin Elise Reimarus vermittelten Briefwechsel über den Spinozismus Lessings beharrten beide Parteien unnachgiebig auf ihren unterschiedlichen Standpunkten. Während sich nun Mendelssohn an die Ausarbeitung einer Schrift begab, die darlegen sollte, daß Lessing einen geläuterten Spinozismus vertreten hatte, bereitete Jacobi die mit Zusätzen versehene Publikation seiner Briefe an Mendelssohn vor, der dann 1785 unter dem Titel Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn wirklich erschienen.51 In diesem Werk entwickelt Jacobi in Auseinandersetzung mit der Spinozistischen Position seine eigene Philosophie, deren Kern in einem nicht demonstrierbaren, in jedem Menschen angelegten Gefühl der Freiheit besteht, das

seit Mitte der 1780er Jahre ist zunehmend vom Ende der Empfindsamkeit die Rede. Vgl. hierzu Doktor / Sauder: Nachwort, S. 212 und Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 234. 50 Vgl. JBW I,3, 227–246; vgl. auch JWA 1,1, 13–47. – Die Authentizität dieser Aufzeichnung Jacobis ist in der Lessing-, Mendelssohn- und Jacobi-Forschung bis heute umstritten. 51 Vgl. zur Wirkung der Publikation unten das Kapitel VI.4.1.

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II. Gefühl

zugleich die elementaren Bestimmungen des Guten, Wahren und Schönen in sich schließt.52 Dem System des Spinoza, das, so Jacobi, zu Fatalismus und Determinismus führe, indem es die Endursachen und eine extramundane Ursache der Welt leugne, Gott und Natur gleichsetze und alles Geschehen in eine innerweltliche Abfolge von Kausalitäten auflöse, setzt Jacobi das Gefühl der Freiheit entgegen. Die Freiheit oder der freie Wille sind für ihn Voraussetzung moralischen Handelns und Offenbarung des Göttlichen im Menschen; sie können gefühlt, nicht aber gedacht werden, da sie im Menschen nicht rein sind. In seinem Brief an Hamann vom 11. Januar 1785 ebenso wie in der Erstausgabe des Spinoza-Buches von 1785 beschreibt Jacobi diesen Gedanken: »Ich kenne die Natur des Willens, einer sich selbst bestimmenden u lenkenden Kraft, ihre innere Möglichkeit und deren Gesetze nicht – denn ich bin nicht durch mich selbst. Aber ich fühle eine solche Kraft als das innerste Leben meines Daseyns; ahnde durch sie meinen Ursprung, u lerne im Gebrauch derselben, was mir Fleisch u Blut allein nicht offenbahren konnten.«53 Das Gefühl der eigenen Existenz, vermittelt über die Empfindung der Außenwelt, und das Gefühl des Willens sind nach Jacobi fundamentale Bestimmungen des Menschen: »Pour celui qui ne sent pas son existence lors qu’il réçoit des idées des choses hors de lui, et pour celui qui ne sent pas sa velleité lors qu’il agit ou désire, ce sont autre chose que des hommes«.54 Diese anthropologischen Grundtatsachen sind, Jacobi zufolge, nicht beweisbar, nicht demonstrierbar: »Wahrheit ist Würklichkeit, ist seyn; u Gewißheit ist Gefühl der Wahrheit. Daß wir selbst sind u andre Dinge außer uns, wißen wir nicht durch Beweise, nicht durch Kunst, sondern wir erfahren es durch Seyn u Mitseyn.«55 Ebensowenig läßt sich Gott beweisen oder demonstrieren; vielmehr offenbart dieser sich einzig im Gefühl der Freiheit, und durch den richtigen Gebrauch derselben – und dies heißt für Jacobi: durch ein tugendhaftes Leben – vermag der Mensch selbst wiederum Gott zu offenbaren. In der neuplatonischen Philosophie des niederländischen Philosophen Frans Hemsterhuis sieht Jacobi Ansätze zu jener anti-spinozistischen Wendung. »Je laisse là Spinoza,« schreibt Jacobi am Ende seiner ausführlichen Darstellung der spinozistischen Philosophie im Brief an Hemsterhuis, der zugleich einen Teil seiner Spinoza-Schrift ausmacht,

52

Zu den genaueren Umständen des Streits vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn; zur philosophischen Relevanz vgl. etwa Beiser: Fate of Reason; zur Wirkungsmächtigkeit vgl. Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 67–76. 53 JBW I,4, 15; vgl. auch JWA 1,1, 144. 54 JBW I,3, 354. Vgl. hierzu Jacobis Übersetzung: »Wer sein Daseyn nicht fühlt, wenn er Vorstellungen von Dingen ausser ihm erhält, und wer sein Vermögen zu wollen nicht empfindet, wenn er handelt oder begehrt, ist was anders als ein Mensch« (JWA 1,1, 72). 55 Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15). Klaus Hammacher hat dies das »dialogische Prinzip« der Philosophie Jacobis genannt (Hammacher: Philosophie Jacobis).

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis

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»impatient de me jetter dans les bras du génie sublime qui a dit: Qu’un seul soupir de l’ame, qui se manifeste de tems en tems vers le meilleur, le futur, et le parfait est une demonstration plus que géometrique de la divinité. Toute la force de mon attention s’est tournée depuis quelque tems de ce côté, qu’on pourroit nommer celui de la foi. Vous savez ce que Platon écrivit aux amis de Dion […]. Cela revient à ce que Vous dites dans l’Aristée, que la conviction du sentiment, dont toute autre conviction n’est que le dérivé, nait dans l’essence, et ne sauroit etre communiquée. Mais le sentiment qui est la base de cette conviction, ne doit-il pas se trouver dans tous les hommes; et ne seroit-il pas possible de le dégager plus ou moins dans ceux qui paroissent en etre destitués, si l’on s’appliquoit à détruire les résistances qui s’opposent à l’effet de son action? En méditant sur cet objet, j’ai cru entrevoir que la matiere des certitudes qui n’a pas encore été assez approfondie, pourroit être traitée de facon, qu’elle nous conduisit à de nouveaux axiomes.«56 Die grundlegenden Gewißheiten kommen somit für Jacobi aus dem Gefühl oder – wie er teils zur Hervorhebung des Unterschieds zum Wissen der Vernunft, teils im Hinblick auf den Gegenstand, nämlich Gott, auch definiert – dem Glauben. Das Gefühl oder der Glaube sind ihm Grundlage aller anderen und möglichen Erkenntnis, da die Vernunft, als bloßes Vermögen zu vergleichen und zu schließen, immer von dem unmittelbar Gegebenen ausgehen muß. Im Spinoza-Buch verdeutlicht Jacobi seinen Standpunkt folgendermaßen: »Lieber Mendelssohn, wir alle werden im Glauben gebohren, und müssen im Glauben bleiben, wie wir alle in Gesellschaft gebohren werden, und in Gesellschaft bleiben müssen: Totum parte prius esse necesse est. – Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn uns Gewißheit nicht zum voraus schon bekannt ist; und wie kann sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas das wir mit Gewißheit 56

Brief an Hemsterhuis vom 7.8.1784 (JBW I,3, 358). – Vgl. auch die entsprechende Stelle im Spinoza-Buch; dort auch in deutscher Fassung: »Ich lasse hier den Spinoza, ungeduldig mich in die Arme des erhabenen Mannes zu werfen, der gesagt hat, daß ein einziges Verlangen der Seele, welches in ihr von Zeit zu Zeit sich nach dem Bessern, dem Zukünftigen und Vollkommenen offenbaret, mehr als ein mathematischer Beweis der Gottheit ist. Die ganze Stärke meiner Aufmerksamkeit ist seit einiger Zeit nach diesem Gesichtspunkt hingerichtet, welchen man den Gesichtspunkt des Glaubens nennen könnte. Sie wissen, was Plato den Freunden Dions schrieb […] Sie sagen ohngefähr dasselbe im Aristee: nemlich, ›daß die Ueberzeugung des Gefühls, wovon alle andre Ueberzeugung nur abgeleitet ist, in dem Wesen selbst entsteht, und nicht kann mitgetheilet werden.‹ Aber das Gefühl, welches dieser Ueberzeugung zum Grunde liegt, muß es nicht in allen Menschen sich befinden; und sollte es nicht möglich seyn, in denen, welche davon beraubt zu seyn scheinen, es mehr oder weniger frey zu machen, wenn man die Hindernisse weg zu räumen suchte, die sich der Würkung seiner Kraft entgegen setzen? Im Nachdenken über diesen Gegenstand ist es mir vorgekommen, als wenn die Materie von der Gewißheit, die noch nicht genug ergründet worden, auf eine Weise behandelt werden könnte, die uns zu neuen Grundsätzen leiten würde.« (JWA 1,1, 85–87; vgl. auch 322 f.)

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II. Gefühl

schon erkennen? Dies führt zu dem Begriffe einer unmittelbaren Gewißheit, welche nicht allein keiner Gründe bedarf, sondern schlechterdings alle Gründe ausschließt, und einzig und allein die mit dem vorgestellten Dinge übereinstimmende Vorstellung selbst ist. Die Ueberzeugung aus Gründen ist eine Gewißheit aus der zweyten Hand. Gründe sind nur Merkmale der Aehnlichkeit mit einem Dinge dessen wir gewiß sind. Die Ueberzeugung, welche sie hervorbringen, entspringt aus Vergleichung, und kann nie recht sicher und vollkommen seyn. Wenn nun jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft von ihm allein empfangen.«57

2.2 Kritische Stimmen Diese Fundierung des Wissens im Glauben stieß in einer Zeit, der es gerade um das Gegenteil, nämlich um einen in der Vernunft fundierten Glauben, zu tun war, auf harsche Kritik. Schon am Manuskript hatte Herder die »Vieldeutigkeit des Glaubens«58 kritisiert. Goethe schlug in dieselbe Kerbe, wenn er nach Erhalt des Spinoza-Buches an Jacobi schrieb: »Eben so wenig kann ich billigen wie du am Schluße mit dem Worte glauben umgehst, Dir kann ich diese Manier noch nicht passiren lassen, sie gehört nur für Glaubenssophisten, denen es höchst angelegen seyn muß alle Gewißheit des Wissens zu verdunckeln, und mit den Wolcken ihres schwanckenden lufftigen Reichs zu überziehen, da sie die Grundfesten der Wahrheit doch nicht erschüttern können.«59 57

JWA 1,1, 115 f. – Vgl. auch JWA 1,1, 125: »Das Element aller menschlichen Erkenntniß und Würksamkeit, ist Glaube.« – Noch in der Vorrede zum David Hume aus dem Jahre 1815 äußert sich Jacobi mit Blick auf die Rezeption seines Spinoza-Buches in ebendiesem Sinne: »Die in dem Werke über die Lehre des Spinoza von dem Verfasser aufgestellte Behauptung: Alle menschliche Erkenntniß gehe aus von Offenbarung und Glauben, hatte in der deutschen philosophischen Welt ein allgemeines Aergerniß erregt. Es sollte durchaus nicht wahr seyn, daß es ein Wissen aus der ersten Hand gebe, welches alles Wissen aus der zweyten (die Wissenschaft) erst bedinge, ein Wissen ohne Beweise, welches dem Wissen aus Beweisen nothwendig vorausgehe, es begründe, es fortwährend und durchaus beherrsche.« (JWA 2,1, 375.) – Zu diesen beiden Stufen von Erkenntnis oder Gewißheit vgl. auch das Hemsterhuis-Zitat in Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 322). – Zu neueren Ansätzen, Aspekte dieser Jacobischen Philosophie für die Erkenntnistheorie – wenngleich nur im vorwissenschaftlich-heuristischen Bereich – fruchtbar zu machen, vgl. Hogrebes Konzept einer »Metafisica povera« (Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen. Frankfurt a. M. 1992, S. 23). 58 Brief vom 6.6.1785 (JBW I,4, 112). 59 Brief vom 21.10.1785 (JBW I,4, 213).

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis

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Dieser am Glaubensbegriff sich festmachende, vermeintlich ›gegenaufklärerische‹ Zug der Schrift Jacobis stieß unter den Berliner Aufklärern selbstredend auf vollständige Ablehnung. Die auf die Publikation folgenden Angriffe veranlaßten Jacobi, diesem Aspekt eine eigene Publikation zu widmen, in der er sich gegen die erhobenen Vorwürfe zur Wehr setzte. In seiner 1787 veröffentlichten Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus legt er, unter Berufung auf den englischen Skeptiker David Hume, seinen Glaubensbegriff erneut dar. Doch auch der mit diesem Glaubensbegriff eng verknüpfte Rückgang auf Gefühl und Empfindung war bereits im Falle der Erstausgabe des Spinoza-Buches von 1785 auf deutliche Ablehnung gestoßen. Christian Garve etwa setzt sich in seinem ausführlichen, den kritischen Aufklärer verratenden und doch in verbindlichem Ton gehaltenen Brief an Jacobi vom 24. Juni 1786 detailliert mit dessen Ansatz auseinander. Hauptkritikpunkte sind dabei die Vermischung bzw. Gleichsetzung der inneren Empfindung mit der Tradition, d. h. mit dem historischen Christentum, die auch Herder kritisiert hatte, und der ungeklärte Status der Empfindung selbst. Eine gewöhnliche Empfindung, etwa der Sinneswahrnehmung vergleichbar, könne niemals in einem strengen Sinne Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen, dagegen sehr wohl durch vernünftige Demonstrationen als Täuschung entlarvt werden. Eine ungewöhnliche Empfindung hingegen – »ein übernatürlich gewirktes Bewußtsein, eine höhere Erleuchtung« – ist schlechterdings nicht jedem Menschen zugänglich und auch nicht vermittelbar. »Aber«, so fragt Garve an dieser Stelle mit kaum überhörbarem Spott, »was machen die Unglücklichen, die eine solche Empfindung nicht haben? Ich gestehe, daß ich Einer von denselben bin. – Wie soll ich zu dieser unmittelbar göttlichen Erleuchtung gelangen?«60 Der junge Wilhelm von Humboldt, der im Jahre 1788 »fünf glückliche[ ] Tage« in Pempelfort verbrachte und von dem Jacobi sich nachhaltig begeistert zeigte, sollte später den Finger in dieselben Wunden legen. Auch er bekennt gegenüber Jacobi: »Da bei dieser Art zu philosophiren alles auf Anschauung, auf Gefühl, also auf etwas ankommt, das nicht so ganz mehr mit Worten ausgedrukt werden kann; so muss auch dabei Irrthum eher, als da wo bloss von Verhältnissen die Rede ist, möglich sein. Vielleicht lässt sich analogisch von den äusseren Sinnen auf das innere Anschauungsvermögen schliessen. So wie jene oft zu empfinden glauben, ohne dass ein Gegenstand der Empfindung wirklich da ist, eben so kann es wenigstens auch bei diesem der Fall sein. Wie ist nun da Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden? Ich glaube durch kein anderes Mittel, als indem man den Gegenstand immerfort herumwendet, und wieder von neuen Seiten betrachtet.«61

60 61

JBW I,5, 273. Brief vom 17.11.1788 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 1 u. 2 f.).

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II. Gefühl

Wie Garve hebt also auch Humboldt – durch einen Analogieschluß von dem äußeren auf den inneren Sinn – den unsicheren Charakter von Empfindungen hervor. Doch scheint Humboldt – im Gegensatz zu Garve – noch eine Möglichkeit zu sehen, das Gefühl als untrügliche Basis zu etablieren. Zumindest Jacobi gegenüber bekennt er, bei der Suche nach einer Grundlage für Moralität selbst bereits in Sackgassen geraten zu sein und gibt ihm zu verstehen, daß er Jacobis Ansatz grundsätzlich für begrüßenswert hält, wie seine Reaktion auf den an Graf von Windisch-Graetz gerichteten Brief Jacobis über die Freiheit zeigt: »Es ist gewiss ein tiefer Blik in die menschliche Seele, in ihr, wie Sie thun, ein unmittelbares Gefühl ihrer Intellektualität und ihrer Kraft, sich, von allem übrigen unabhängig, bloss nach dem Gesez ihrer eignen Natur zu bestimmen, anzunehmen; und darauf, wie es mir Ihre Absicht scheint, die Grundsäze der Moral zu bauen. Man wäre auf diesem Wege gewiss, einmal allgemeingeltende Grundsäze zu erhalten, da diess Gefühl in allen denkenden und freiwollenden Wesen sein muss, und dann allen Handlungen die reinsten, lautersten Absichten zum Grunde zu legen.«62 Doch wenige Monate später, nach der Lektüre der neuen Ausgabe des Spinoza-Buches, sieht Humboldt – hier wieder ganz ähnlich wie Garve argumentierend – keine Möglichkeit mehr, im Rückgang auf Gefühl und Empfindung jene allgemeingültige Basis zu etablieren, die für die Grundlegung einer Morallehre unabdingbar wäre: »Ich kann Ihnen also überall folgen, wo das rein logische Vermögen ausreicht, nicht aber dahin, wo an die Stelle desselben unmittelbare Wahrnehmung, Perception, treten muss. Der Grund davon? Gewiss kein andrer als eben der, der den rohen ungebildeten Menschen hindert, dem verfeinerten Gefühl des gebildeten, oder – was ich lieber sagen möchte, wenn ich nur gewiss wäre von dem Verdacht frei zu sein, das Vernünfteln über das Empfinden zu sezen – der den kalten vernünftelnden Menschen hindert dem Gefühl des erwärmten, empfindenden zu folgen – er hat keinen Sinn dafür. Es fehlte mir also im eigentlichsten Verstande an metaphysischem Sinn.«63 62

Brief vom 7.2.1789 (ebd., S. 9). – Vgl. hierzu die entsprechende Passage im Brief an J. N. Graf Windisch-Graetz vom 30.11.1788: »Ainsi donc tout être intelligent doit avoir le sentiment immediat de sa nature intellectuelle, de sa puissance à se determiner absolument d’apres le principe de sa nature à lui, et le sentiment du principe même de sa nature, ou de la loi particuliere essentielle et primitive de son être.« (Handschrift: Familienarchiv Windisch-Graetz, Kladrau.) 63 Brief vom 3.6.1789 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 17 f.). – Gemäß Jacobis Zusatz in dem Brief Lene Jacobis an Georg Arnold Jacobi vom 16.12.1788 hatte Jacobi bereits zu diesem Zeitpunkt »von den fertigen Beylagen [der zweiten Auflage des Spinoza-Buches; C.G.] Humboldt eine zur Probe geschickt« (Julius Heyderhoff [Hg.]: Die Hausgeister von Pempelfort. Familien- und Freundschaftsbriefe des Jacobi-Hauses. Düsseldorf 1939, S. 36).

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis

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Ähnlich ambivalent gegenüber der Philosophie Jacobis wie Wilhelm von Humboldt erscheint auch Georg Forster in seinen Briefen an Jacobi.64 Auf der einen Seite teilt er Jacobis Auffassung von den Grenzen der Vernunft und setzt – wie er – deren Demonstrationen die Empfindung gegenüber.65 »Ihre Philosophie«, so attestiert Forster in seinem Brief vom 3. Januar 1789, »hat eben darin etwas sehr Großes geleistet, daß sie der Empfindung zurückgegeben hat, was die Denkkraft usurpirt hatte.«66 Doch jenseits der Vernunftgrenzen sieht er dann doch nicht mehr als »ein[en] Traum, eine Ahnung des Gefühls«,67 die notwendig privatissime bleiben muß und keineswegs eine Basis darstellt für allgemeingültige, objektive und insofern verbindliche Grundsätze: »Die Vernunft findet hier keine Auskunft, keine endliche Entscheidung – und das Gefühl dünkt mich eine gar zu unzuverlässige Quelle, es scheint mir damit ungefähr darauf hinaus zu laufen, daß ein jeder sich selbst die Götter schafft, die er anbeten soll«.68

2.3 Die reine Liebe als transzendentes (göttliches) und immanentes (menschliches) Prinzip Jacobi war weit davon entfernt, die gegen das Gefühlskonzept vorgebrachten Einwände zu ignorieren oder schlichtweg zurückzuweisen. Seine Romane – insbesondere die erweiterten Spätfassungen – diskutieren genau diese Problemlagen und können insofern geradezu als Ausführung des von Humboldt vorgeschlagenen Weges angesehen werden, »den Gegenstand immerfort [herumzuwenden], und wieder von neuen Seiten« zu betrachten. »Jacobis Romanschaffen«, so hat es Renate Knoll treffend charakterisiert, ist »ein offener Dialog mit den mitbedachten Einwänden des vielschichtigen zeitgenössischen Denkens«.69 In den empfindsamen Freundschaftszirkeln der Romane werden die zentralen moralphilosophischen Fragen unerbittlich diskutiert und von allen Seiten beleuchtet. Jacobis Romane Allwill und Woldemar sind somit

64

Zur Kritik Forsters an der Erstausgabe des Spinoza-Buches in seinen Briefen an Soemmerring vgl. unten das Kapitel VI.4.1. 65 Vgl. die Briefe vom 11.2.1783 (JBW I,3, 125 f.) und vom 2.1.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 233–236). 66 Ebd., S. 237. 67 Brief vom 8.2.1789 (ebd., S. 262). 68 Brief vom 12.–21.2.1789 (ebd., S. 269). 69 Renate Knoll: Friedrich Heinrich Jacobis literarische Arbeiten (1774–1794). In: Jörn Göres (Hg.): Veränderungen 1774 : 1794. Goethe, Jacobi und der Kreis von Münster. Düsseldorf 1974, S. 48–57, hier S. 55.

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II. Gefühl

»als ein Durchstimmen der Gefühlsdimensionen [zu] verstehen, mit dem Jacobi sich selbst Klarheit darüber verschaffen wollte, auf welche Weise denn dem ›Grausen‹ der Systemrationalität zu entgehen sei. Was es also heißen kann, sich auf eine Intuition des Gefühls zu berufen, die jenseits dessen liegt, was begreiflich und erklärbar ist, und in der Freiheit des Daseins – aber nicht etwa das willkürlich Schwankende und Unbestimmte der Affekte – aufgedeckt werden soll.«70 In bezug auf die Konzeption seiner Romane heißt dies konkret, daß Jacobi, statt Lösungen zu präsentieren, verschiedene Lebensansichten und -formen zur Darstellung bringt, ihre jeweilige »Wahrheit« – und sei es als advocatus diaboli – zur Geltung kommen und die vielfältigen Positionen sich aneinander reiben läßt: in der Form des polyperspektivischen Briefromans (Allwill ) oder eines philosophisch-psychologischen Romans mit eingestreuten Briefen, in der Spätfassung vermehrt auch Dialogen (Woldemar ). In diesem Sinne schreibt Jacobi von letzterem, daß er »Lebens die Fülle« enthalte.71 Wenn Jacobi hier den Untertitel Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte wählt, so begreift man diese wohl am besten mit Schury als »eine Naturgeschichte des menschl. Ringens um die Aussöhnung von unbedingtem Gefühlskult u. rationalistischer Bescheidung«.72 Der »Hauptgegenstand des Kunstgartens« – unter dem Titel Der Kunstgarten erschien 1781 in den Vermischten Schriften die Fortsetzung des Woldemar – ist für Jacobi »Abbreviatur der Mühseligkeiten dieses Lebens«, und in bezug auf die wenig veränderte Ausgabe seines Allwill in den Vermischten Schriften heißt es ausführlicher in einem Brief an Georg Forster: »Was in den letzten Briefen von Allwill’s Papieren geleistet ist, – entgegengesetzte Empfindungen, Neigungen, Systeme, mit der Treue, mit dem unpartheiischen Eifer dargestellt – ist, so viel ich weiß, von mir das erste Mal geschehen.«73 Berücksichtigt man diese Besonderheit der Romane Jacobis nicht oder nicht hinreichend, so gelangt man fast unweigerlich zu Fehldeutungen: entweder wird eine bestimmte Position voreilig mit derjenigen Jacobis identifiziert oder die Gesamtheit der im Roman vertretenen Positionen präsentiert sich als heilloses Durcheinander.74

70

Sandkaulen: Vernunft, S. 423. Brief an J. W. Goethe vom 15.9.1779 (JBW I,2, 106). 72 Gudrun Schury u. Albert Mues: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. Gütersloh u. a. 1988–1993, Bd. 6, S. 53–57, hier S. 55. 73 Brief vom 5.11.1781 (JBW I,2, 370). 74 An dritter Stelle wäre möglicherweise die verfehlte Suche nach einer »Einheit« zu nennen (vgl. Friedrich Schlegel: Recension von Jakobi‘s Woldemar nach der Ausgabe von 1796. In: Walter Jaeschke [Hg.]: Früher Idealismus und Frühromantik. Quellenband. Hamburg 1995 [= Philosophisch-literarische Streitsachen; Bd. 1.1] [im folgenden PLS 1.1 mit Seitenzahl], S. 255–270, hier S. 263 u. 268). – Vgl. zur ersten der genannten Fehldeutungen etwa Vollhardt: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 392. Vgl. zur zweiten Straetmans-Benl: »Kopf und Herz«, S. 169. Vgl. auch Baum, der sich 71

2. Die »Gefühlsphilosophie« Jacobis

109

Doch jenseits dieser »unpartheiischen« Darstellung und trotz aller möglichen, von ihm selbst vorgebrachten Einwände gegen das Gefühl als Grundlage von Erkenntnis und Handeln hielt Jacobi an zwei Dingen unverändert fest: zum einen an der Überzeugung, daß die Vernunft – zu diesem Zeitpunkt gedacht als bloß logisches Vermögen – niemals zu Gott führen oder Moralität begründen könne; zum zweiten an dem Grundsatz, daß in der »Seele ein Vermögen liegen« müsse, den Menschen »dahinauf«, nämlich zu Gott und zu einem gottgleichen, tugendhaften Leben, »zu organisieren«.75 Der biblische Offenbarungsglaube und das historische Christentum waren auch für Jacobi keine hinreichende Basis mehr; in dieser Hinsicht war er gänzlich ein Kind der Aufklärungszeit.76 Aber die Vernunft – so wie Jacobi sie in der Philosophie seiner Zeit vorzufinden meinte – kam ebensowenig als verläßliche Quelle sinnhafter Orientierung in Frage. Ohne eine solche Orientierung aber schien Jacobi das menschliche Dasein unerträglich: ziellos, sinnlos, wertlos. In seinen Briefen schildert Jacobi wiederholt diesen »horror vacui«, dem er mit seiner bisweilen geradezu verzweifelt anmutenden Suche nach einem haltgebenden archimedischen Punkt zu entfliehen suchte.77 Diese haltgebende Instanz mußte die rein irdische und damit endliche Existenz transzendieren hin auf etwas Höheres, Unveränderliches, Ewiges, das Jacobi in einem selbst schon quasi göttlichen, weil von aller Endlichkeit gereinigten Gefühl einzig zu erblicken vermochte. An die christliche Tradition, vor allem aber an Fénelon, anknüpfend wurde es faßbar in dem Ideal der reinen

kritisch mit einer ähnlichen Behauptung Baumgardts auseinandersetzt (Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 166, Fn. 36). In jüngerer Zeit ist vor allem Friedrich Bechmann der These, in Jacobis Roman herrsche Konfusion, entgegengetreten, indem er Woldemar als Bildungsroman interpretiert hat. Im eigentlichen Sinne ist er dies gewiß nicht, dennoch kann die Leitidee vom Bildungsroman sich als fruchtbares heuristisches Prinzip erweisen. Gewiß ist Bechmann auch darin zu folgen, daß in Jacobis Roman die in der Aufklärungszeit vertretenen unterschiedlichen Positionen zur Sprache kommen (vgl. Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 4 u. 37). – Hervorzuheben ist auch die Deutung von Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin u. a. 1996 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; Bd. 6), S. 199 u. 211–213. Heinz sieht in den Spätfassungen des Woldemar eine starke Verschiebung der Bewertung zuungunsten der Position des ›moralischen Genies‹ (ebd., S. 206). Was somit anderen als konfus erscheint, ist ihr in ihrem interessanten Schlußresümee notwendiges Stilmittel, um eine Perspektivenvielfalt zu ermöglichen, die der Relativierung von Positionen dient (ebd., S. 213). 75 Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15). 76 Vgl. hierzu insbesondere Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 336 f. – Vgl. auch Homann: Jacobis Philosophie, S. 174 f. u. 177. 77 Zu den Horrorvisionen Jacobis vgl. etwa den ersten (sic!) Brief an J. G. Herder vom 8.– 14.6.1783 (JBW I,3, 159 f.) sowie den Brief an J. W. Goethe vom 28.4.–8.5.1784 (JBW I,3, 314). – Zur Suche nach dem archimedischen Punkt vgl. seine wiederholte Verwendung des »Δος μοι που στω« (im Briefwechsel, nach welchem ich zitiere, ohne Akzente) beispielsweise in seinen Briefen an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 17) und an A. W. Rehberg vom 28.11.1791 (AB II, 73).

110

II. Gefühl

Liebe,78 die als selbstlose und unsinnliche Liebe in Gestalt eines vollkommenen, tugendhaften, selbstlosen Lebens die Endlichkeit innerweltlich zu transzendieren vermochte.79 Diese Transzendierung der Endlichkeit suchte Jacobi in einem idealen Freundschaftsmodell zu entwerfen und umzusetzen. Die Freundschaft ist daher nicht nur eines der ganz zentralen Themen seines Lebens und Werkes, sondern sie hat zudem »für Jacobi religiöse Bedeutung, ist ein summum bonum«.80 Gerade mit dieser absoluten Hochschätzung der Freundschaft erweist sich Jacobi in hervorragender Weise als Repräsentant seiner Zeit.

78

Vgl. JWA 1,1, 117 u. 167 f. – Zum Verhältnis von Freiheit und Liebe bei Jacobi vgl. auch Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 186. Die Entfaltung der Jacobischen ›Lösung‹, einer Verbindung von Freiheit und reiner Liebe, in den Spätfassungen des Woldemar ist das Thema der Dissertation von Friedrich Bechmann. Bechmann zeigt auch, inwieweit Fénelon als Vorbild für dieses Konzept angesehen werden kann (vgl. Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 8, 10–13 u. 15–17). Das Verhältnis von Freiheit und reiner Liebe thematisiert ebenfalls Jürgen Stolzenberg: Was ist Freiheit? Jacobis Kritik der Moralphilosophie Kants. In: Walter Jaeschke u. Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; Bd. 29), S. 19–36, hier S. 27. 79 Vgl. hierzu etwa [Friedrich Heinrich Jacobi:] Woldemar. 2 Thle. Königsberg 1794, Th. 2, S. 236: »Und diese Liebe muß allmächtig seyn im Menschen! Nicht durch Uebergewicht, wie eine Begierde die andre überwindet, sondern durch ihre besondre Natur, die überirrdisch ist.« (Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Romane II. Woldemar. Unter Mitarb. v. Dora Tsatoura hg. v. Carmen Götz u. Walter Jaeschke. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007 [= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 7] [im folgenden JWA 7 mit Seitenzahl], hier JWA 7,1, 447.) Vgl. auch Jacobi: Allwill (1792), S. 216: »Und hiemit, mit der Einsetzung einer Liebe, die den Tod überwindet und Unsterblichkeit gebiert, hat die Welt angefangen.« (Vgl. JWA 6,1, 190.) 80 Heinrich Mohr: »Freundschaftliche Briefe« – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 14–75, hier S. 50.

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

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3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie »Liebe, mein Freund, das grose unfehlbare Band der empfindenden Schöpfung ist zuletzt nur ein glüklicher Betrug. – Erschreken, entglühen, zerschmelzen wir für das Fremde, uns ewig nie eigen werdende, Geschöpf ? Gewis nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, deßen Spiegel jenes Geschöpf ist. […] Der ewige innere Hang, in das Nebengeschöpf überzugehen, oder daßelbe in sich hineinzuschlingen, es anzureissen ist Liebe.« 81

3.1 Freundschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert – Forschungsansätze Das 18. Jahrhundert ist als das »Jahrhundert der Freundschaft« bezeichnet worden.82 Freundschaftsbünde wurden euphorisch und in reichlicher Zahl geschlossen. Freundschaftszirkel entstanden allerorten. Nicht zuletzt im Kontext der Empfindsamkeit wurde schließlich ein Freundschaftskult betrieben, dem alle Züge des Sakralen anhaften: Freundschaft war heilig, man weihte ihr Tempel und huldigte ihr auf Altären. Der Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis sowie seine Romane spiegeln in beispielhafter Weise diesen zeittypischen Freundschaftskult.83 In der Forschungsliteratur ist das Phänomen der Freundschaft verschiedentlich gedeutet worden. Dabei wurde unter anderem auf historische Vorbilder verwiesen. So ist nach Ladislao Mittner der »Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts […] als die äußerste Säkularisierung der den Pietisten eigentümlichen Verehrung Christi als des ›Seelenfreundes‹, aber auch des ›geistlichen‹ Freundes im allgemeinen aufzufassen«,84 während Wolfram Mauser auf jenen Geselligkeitsdiskurs aufmerksam macht, der schon in den Traktaten der Frühaufklärung zu finden ist,85 und Wilfried Barner die 81 Brief von Friedrich Schiller an Reinwald vom 14.4.1783 (Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Julius Petersen und Hermann Schneider. 42 Bde. Weimar 1943–2006 (Stand: Okt. 2007), hier Bd. 23, S. 79 f.). 82 Vgl. Friedrich H. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 431–456, hier S. 436 f. – Tenbruck gibt genauer den Zeitraum 1750 bis 1850 an. Vgl. auch Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung. 83 Vgl. etwa den Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779, wo von der »heiligste[n] Freundschaft« zwischen Goethe und Jacobi die Rede ist (JBW I,2, 126). – Zum »Tempel der Freundschaft« vgl. die Briefe von C. M. Wieland vom 19.1.1772 (JBW I,1, 151) und J. W. L. Gleim vom 18.7.1773 (JBW I,1, 195) sowie vom 14.4.1782 (JBW I,3, 20). Vgl. aber auch im Brief an A. von Gallitzin vom 1.8.1783: »In dem Tempel wahrer Freundschaft ist nur Ein Altar, so wie nur Eine Gottheit, und jedes Opfer, so wie jeder Segen, ist gemein.« (JBW I,3, 174.) 84 Ladislao Mittner: Freundschaft und Liebe in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Albert Fuchs und Helmut Motekat (Hg.): Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur. Festschrift für Hans Heinrich Borcherdt. München 1962, S. 97–138, hier S. 100. 85 Vgl. Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung 4 (1989), S. 5–36.

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II. Gefühl

Wurzeln des Freundschaftskultes im humanistischen Gelehrtendiskurs sieht.86 Die Besonderheiten des Phänomens »Freundschaft« im ausgehenden 18. Jahrhundert werden damit aber nicht hinreichend erklärt.87 Daß sich der empfindsame Freundschaftskult auch antiker, humanistischer und pietistischer Vorbilder bediente, ist unbestritten. Aber selbst dann bleiben noch Fragen offen, wie Friedrich H. Tenbruck sie in bezug auf die antike Tradition formuliert: »Warum wird denn überhaupt kopiert? Und warum wird in diesem Falle die Form des antiken Freundschaftslobes kopiert und nicht etwas anderes? Und warum wird genauer nur eine bestimmte Seite des antiken Freundschaftslobes und nicht eine andere kopiert?«88 Dies gilt – mutatis mutandis – auch für die humanistischen und die pietistischen Vorbilder.89 Tenbruck setzt deshalb in seiner Untersuchung des in Frage stehenden Phänomens bei den Besonderheiten des 18. Jahrhunderts selbst an. Teils unter Bezugnahme auf Wolfdietrich Rasch90, teils über diesen hinausgehend, sieht er die Konjunktur der Freundschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert als einen Effekt umfassender gesellschaftlicher Veränderungen der Aufklärungszeit, des damit verbundenen Verlusts an sozialer Bindung und des aus diesem resultierenden Individualisierungsprozesses. Tenbruck resümiert: »Die soziale Welt, in der die Menschen leben, beginnt, bunter und heterogener zu werden. Das ist der gesellschaftliche Nährboden, aus dem nun die Pflanze der Individualisierung des Daseins sprießt. Freundschaft und Freundschaftslob sind dann ihrerseits eine Folge dieser Individualisierung.«91 Aus dem festen 86

Vgl. Wilfried Barner: Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zu ihren traditionalen Voraussetzungen. In: Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, S. 23–45. 87 Vgl. hierzu vor allem Eckhardt Meyer-Krentler, der sich in seinem Buch Der Bürger als Freund dezidiert mit den Vorläufern des empfindsamen Freundschaftsbegriffs auseinandersetzt und die jeweiligen Unterschiede deutlich herausstellt (vgl. bes. Kap. 2,2 und 2,3). 88 Tenbruck: Freundschaft, S. 447. – Vgl. zum Verhältnis zur Antike auch Meyer-Krentler: Bürger als Freund, S. 22. 89 Vgl. auch Tenbruck: Freundschaft, S. 437. – Ob die Rede von »kopieren« ein brauchbares Modell darstellt, ist m. E. durchaus fraglich. Gewiß: man knüpfte explizit an gewisse Traditionen und Vorbilder an. Auf der anderen Seite scheint es von jeher einen intensiven Zusammenhang von Schriftlichkeit – insbesondere in der Form des Briefes – und Freundschaft gegeben zu haben. Dies zeigen etwa Briefwechsel der Antike. – Übrigens gehört auch die Hypochondrie – respektive die exzessive Thematisierung des Körpers – in diese Konstellation. Vgl. hierzu Foucault: Technologien des Selbst, S. 38–40. Vgl. überdies Publius Aelius Aristides: Heilige Berichte. Einl., deutsche Übers. u. Komm. v. Heinrich Otto Schröder. Vorwort v. Hildebrecht Hommel. Heidelberg 1986 (= Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern). 90 Vgl. Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung. – Vgl. hierzu auch Wolfgang Adam: Wieder gelesen: Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. In: Ferdinand van Ingen u. Christian Juranek (Hg.): Ars et Amicitia. Beiträge zur Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift Martin Bircher. Amsterdam 1998, S. 41–55. 91 Tenbruck: Freundschaft, S. 439.

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

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sozialen Gefüge ständischer Ordnung heraustretend, ist der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen und sucht, diesen Verlust an sozialer Stabilität durch Freundschaftsbeziehungen auszugleichen.92 Aus heutiger Perspektive wäre im Hinblick auf das von Tenbruck behauptete Bedingungsgefüge gewiß der Anteil der Verschriftlichung der Kultur – insbesondere an den Individualisierungsprozessen – geltend zu machen. Was Tenbruck überdies mit seiner Betonung der kompensatorischen Funktion der Freundschaft nicht hinreichend sieht, ist der Experimentiercharakter des Freundschaftskultes.93 Es geht hier nicht – oder nicht nur – um die Flucht in persönliche Beziehungen, die das auffangen sollen, was die Gesellschaft nicht oder nicht mehr zu leisten vermag. Vielmehr dienen die Freundschaftsbünde auch dem Zweck, neue Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens und neue Formen gesellschaftlicher Ordnung »durchzuspielen«.94 Insbesondere Eckhardt Meyer-Krentler hat diese Dimension des Freundschaftskultes deutlich herausgearbeitet. Im Gegensatz zu Rasch und Tenbruck hält er fest, »daß ›Freundschaft‹ im 18. Jahrhundert weder eine Überwindung individueller Isolation noch einen Rückzug auf vorerst private Innerlichkeit meint. Sie ist Inbegriff politisch-sozialen Selbstverständnisses des aufgeklärten Bürgers und bringt öffentliches und privates Verhalten ideal zur Deckung. In ihr werden aufklärerische Sozialethik und empfindsame Gefühlsintensität auf den gemeinsamen Begriff der tugendhaften Glückseligkeit in der Gruppe gebracht und – noch mehr! – in die Tat umgesetzt. […] Insgesamt ist ›Freundschaft‹ Inbegriff einer bürgerlichen Gemeinschaftsutopie, in der sich der Einzelne sozial und emotional ganz verwirklichen kann.«95 Insofern müssen die Freundschaftsbünde wie auch die anderen Formen freiwilliger Zusammenschlüsse dieses »geselligen Jahrhunderts«96 als Experimentierfeld der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden. Nur vor diesem Hintergrund wird auch die volle Bedeutung des von Jacobi etwa in seinen Romanen behandelten Themas der Freundschaft ersichtlich. Es geht hier nicht um die Optimierung

92

Vgl. ebd., S. 441. Diese Dimension wird bei Tenbruck lediglich kurz angedeutet (vgl. ebd., S. 445). – Vgl. ebenso bei Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung, S. 97. 94 Vgl. Meyer-Krentler: Bürger als Freund, vor allem S. 70: »Offen oder latent beinhaltet Freundschaft ein utopisches Element, indem innerhalb der Zweierbeziehung ein soziales Verhalten möglich wird, das als allgemeine Sozialutopie einer aggressionsfreien idealen Gesellschaft der Glückseligen zunächst im kleinen Rahmen, quasi unter Laborbedingungen durchgespielt wird.« – Vgl. auch Beat Hanselmann: Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Freundschaften oder Der Weg nach Arkadien. Bern u. a. 1989 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1; Bd. 1133). 95 Meyer-Krentler: Bürger als Freund, S. 20. 96 Vgl. Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. 93

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II. Gefühl

einer privaten Zweierbeziehung,97 sondern um nichts Geringeres als die Entwicklung des Modells einer neuen Gesellschaft. Die von Tenbruck und Meyer-Krentler herausgestellte soziale und politische Funktion der Freundschaft vermag jedoch ihre sakrale Form nicht zu erklären. Versteht man hingegen das Konzept der Freundschaft – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Philosophie Jacobis – als Säkularisierungsphänomen, d. h. als Entwurf einer innerweltlichen Transzendierung der Endlichkeit, so werden nicht nur die sakrale Form sowie bestimmte Spezifika des Freundschaftsentwurfes plausibel, sondern es lösen sich zudem die Widersprüche auf zwischen dem passiven Kompensationsmodell und dem Modell einer engagierten Sozialutopie. Alles menschliche Tun hat in einem gewissen Sinne kompensatorischen Charakter, insofern es auf Überwindung von zeitlicher und räumlicher Endlichkeit gerichtet ist.98 Tenbrucks These von der kompensatorischen Funktion der Freundschaft trifft vor diesem Hintergrund einen wesentlichen Kern des historischen Geschehens, wenn sie nicht bloß als Reaktion auf die soziale Isolation des Ich, sondern als Reaktion auf die mit den Individualisierungsprozessen verknüpfte nachhaltige Endlichkeitserfahrung gesehen wird. Das Freundschaftsmodell ist aber damit keineswegs schon notwendig passiv und innerlich, sondern vermag gerade aus dieser Erfahrung heraus auch aktiv und gestaltend, progressiv und politisch zu sein. Der Freundschaftskult des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist somit ineins Ausdruck der Kompensation der Sterblichkeit / Endlichkeit im Säkularisierungsgeschehen, der – neben der Familie – zentrale soziale Ort der Empfindsamkeit, in welchem die neuen, affektiven Normen zunächst im privaten Raum durchgesetzt werden, und die Keimzelle der neuen, am Gleichheitsgrundsatz und Autonomiegedanken sich orientierenden bürgerlichen Gesellschaft.99 Es ging sozial- und mentalitätsgeschichtlich betrachtet darum, daß der »Umgang mit Men-

97

Bechmann zufolge geht es in Jacobis Roman Woldemar, vor allem in dessen Spätfassungen von 1794 und 1796, um die »sittliche […] Begründbarkeit von Freundschaft« (Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 8). Er bezieht sich dabei auf die These Lauths, daß es nämlich in jenem Roman um »die Lösung der Frage« geht, »wodurch eine beständige Freundschaft […] ermöglicht wird« (Reinhard Lauth: Fichtes Verhältnis zu Jacobi unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Friedrich Schlegels in dieser Sache. In: Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 165–197, hier S. 178). Vgl. Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 183 f. Vgl. hierzu Jacobi: Woldemar (1794), 2. Th., S. 164 f.: »Wie entgehen wir also der Vergänglichkeit in unserm Thun und Dichten? Wie retten wir unser Selbst; wie das Selbst derer, mit denen wir Ein Herz, Eine Seele auszumachen streben?« (Vgl. JWA 7,1, 413.) 98 Vgl. zu dieser Theorie der Kompensation etwa Heinz: Psychopathologie und Grenzfindung, S. 28 f. 99 Vgl. zu den letzten beiden Punkten auch Schnegg: Gleichgestimmte Seelen, S. 38: »Mit ihrem doppelten Charakter als privat-intime Verbindung und als darüber hinausweisende, die ständischen Hierarchien überwindende Gemeinschaft war Freundschaft die paradigmatische Beziehungsform in der aufgeklärten Gelehrtenrepublik.« – Der Bedeutung empfindsamer Freundschaft gar nicht ge-

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schen« (Knigge) unter den Bedingungen von nicht in Herkunft und Tradition eingebundenen und damit gesellschaftlich immer schon vermittelten, sondern von grundsätzlich freien und gleichen Individuen allererst konzipiert und erlernt werden mußte. Die Freundschaft stellte unter dieser Maßgabe ein elementares und positiv besetztes Band dar. »Sympathie« war das Zauberwort;100 mit-leiden zu können die Voraussetzung jenes neuen Sozialverhaltens. An Franz Karl von Hompesch schreibt Jacobi entsprechend am 19. März 1779: »Souvenez Vous de ce que nous avons dit il n’y a pas longtems, qu’un ami qui ne savoit pas se mettre à la place de son ami jusque dans ses faiblesses, n’en avoit que le tître«.101 Im Sinne der dargestellten Komplexität, in welcher basale anthropologische Konditionen und gesellschaftliche Umbildungsprozesse sich historisch miteinander verschränken, ist auch Jacobis Freundschaftsentwurf zu verstehen, der im folgenden am Beispiel der zentralen Freundschaften zu Wieland, Goethe und Stolberg nachgezeichnet werden soll. Dabei wird sich zeigen, daß der die intramundane Transzendierung der Endlichkeit erst ermöglichende (brüderliche) Gleichklang der Seelen, immerfort an unhintergehbare Grenzen stieß: Die Freundschaften zerbrachen an der Differenz, die sich selbstverständlich immer wieder auftat. Die folgenden Darstellungen von drei Freundschaftsverhältnissen verstehen sich als Mikrostudien, in deren Zentrum nicht der Nachvollzug von Fakten und Begebenheiten steht, wenngleich diese gewissermaßen den ›epischen‹ Rahmen darstellen. Ein solcher Fokus hätte der Heranziehung weiterer Quellen unbedingt bedurft. Vielmehr geht es in ihnen im Kern um die Herausbildung und Funktionsweise historischer Konstrukte, wie sie sich in einem bestimmten Textcorpus präsentieren.

recht wird dagegen die Darstellung bei Leo Balet u. E. Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Mit einem Nachwort v. Eberhard Rebling. Dresden 1979, S. 282–289. 100 Vgl. hierzu Mullan: Sentiment and Sociability, insbesondere das erste Kapitel »Sympathy and the Production of Society«. – Der Begriff der Sympathie spielt eine zentrale Rolle in der Philosophie David Humes, wo er zugleich das Konzept der »moral sense»-Theorie ablöst (vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie, zusammenfassend S. 193–197). 101 JBW I,4, 339.

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II. Gefühl

3.2 Die »heilige« Freundschaft und das ständig scheiternde Begehren nach Indifferenz 3.2.1 Christoph Martin Wieland Der Briefkontakt zwischen Jacobi und Wieland102 beginnt im Jahre 1770 und setzt sogleich mit einer gegenseitigen Versicherung von Freundschaft ein, der in den anschließenden Briefen die Ausrufung der Seelenverwandtschaft auf dem Fuße folgt. Aus dieser Verwandtschaft der Seelen ergibt sich quasi natürlicherweise eine nicht zu überbietende Liebe, denn »[k]eine Liebe gleicht der, welche wir für diejenigen fühlen, in denen wir uns gleichsam vervielfältigt sehen«.103 Die Natur selbst weist hier, so Wieland, wie im Falle der eigenen Kinder den Weg. Die (familiale) Blutsverwandtschaft wird auf diese Weise zum Modell der Freundschaft allererst ermöglichenden Seelenverwandtschaft. In der zeittypischen Ansprache des Freundes als »Bruder« findet dieses Modell seinen adäquaten Ausdruck. In dem hohen Aufklärungsideal der Brüderlichkeit wird somit »Gleichheit quasi verwandtschaftlich naturalisiert«.104 Doch schon wenige Monate nach dem hoffnungsvollen Beginn der Freundschaft zeigen sich erste Differenzen, die sich in den folgenden Jahren verstärken sollten. Anlaß ist das Gedicht an das Publikum, das Johann Georg Jacobi verfaßt hatte, um der Bitte Wielands zu entsprechen, ihm wegen einer schlechten Rezension seiner Grazien in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen Genugtuung zu verschaffen: »In allen Stücken können wir nicht gleich empfinden oder denken. Ich bin nun bald 38 Jahre alt, und lebe wenigstens seit meinem zwölften Jahre. Kurz, ich bin wirklich schon ein alter Knabe, und ihr andern jungen Enthusiasten nehmt zuweilen so hohe Flüge, daß ich euch aus dem Gesichte verliere. Wundern Sie sich also nicht, mein liebster Jacobi, daß ich das Gedicht an das Publikum zwar mit aller möglichen Dankbarkeit für die warme Freundschaft, aus der es geflossen ist, aber auch mit Bedauern, daß ich Anlaß zu diesem Gedichte gegeben, gelesen habe. Ganz gewiß sind

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Vgl. hierzu auch Christ: F. H. Jacobi, S. 182–245 sowie Nenon: Fülle der Herzen, S. 70– 81. – Einen Einblick in Wielands Freundschaften vor der Bekanntschaft mit Jacobi vermittelt Schnegg: Gleichgestimmte Seelen. Für Schnegg ist Wieland »einer der großen Virtuosen der aufklärerisch-empfindsamen Freundschaftskultur des 18. Jahrhunderts« (ebd., S. 23). 103 Brief von C. M. Wieland vom 16.11.1770 (JBW I,1, 99). 104 Rudolf Heinz: »Alle Menschen werden Brüder…« Mytho-philosophische Anmerkungen zum Geschwisterproblem. In: Ders.: Pathognostische Studien V. Engagements an eine kritische Fortschreibung der Psychoanalyse namens Pathognostik. Essen 1999 (= Genealogica; Bd. 27), S. 13–22, hier S. 14. – Sandkaulen zieht m. E. eine zu strikte Grenze, wenn sie feststellt, daß »die Bruderfigur […] nicht auf familiäre Abstammung verweist« (Birgit Sandkaulen: Bruder Henriette? Derrida und Jacobi: Dekonstruktionen der Freundschaft. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 [2001], S. 653–664, hier S. 657).

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vortreffliche Stellen darin; aber der Ton des Ganzen macht wider meinen Willen einen Mißlaut mit dem Tone meiner eigenen Seele; und dazu kann ich nichts.«105 Deutlicher kann man die Divergenz der Seelen kaum herausstellen; mit diesem »Mißlaut« ist aber zugleich der empfindsame Freundschaftsbund selbst grundsätzlich in Frage gestellt. Die erste persönliche Begegnung der Freunde im darauffolgenden Monat bei Sophie von La Roche scheint allerdings abermals zu einem harmonischen Miteinander geführt zu haben: Von den Jacobis – Johann Georg, Friedrich Heinrich und dessen Ehefrau Betty – spricht Wieland nun als »den Geschwistern meines Herzens«.106 Insbesondere zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Wieland scheint es anläßlich des »sentimentalen Congreß[es]« zu einer intensiven Annäherung gekommen zu sein: »Unsere Freündschaft stieg, in weniger als 2. Tagen bis zur innigsten Vertraulichkeit. Wieland sagte mir öfters: er fände sich so ganz in meinem Kopf und Herzen wieder, daß er von mir sagen könnte, wie Rousseau’s Galathée, da sie mit ihrer Hand die Hand des Pigmalions berührte: c’est moi.«107 Die Verwandtschaft der Seelen wird hier überboten durch eine Identitätsbehauptung; in dieser spricht sich erst das eigentliche Begehren empfindsamer Freundschaft aus: totale Verschmelzung, Einssein mit dem Anderen. Innerhalb der nächsten Monate werden wohlwollende Briefe im empfindsamen Ton ausgetauscht, hier und da durch kleine Mißklänge getrübt, wobei Wieland wiederum – diesmal Jacobi selbst und gewiß nicht zufällig im distanzierten Französisch – zur Mäßigung ermahnt: »Souffrez que je vous conjure d’être un peu plus sur vos gardes contre le feu de votre tempérament et la chaleur de votre imagination. Je suis assez âgé pour que vous preniez quelquefois de petits conseils Socratique de ma part.«108 Im September 1771 kommt es dann, ausgehend von einem Brief Wielands, zur ersten großen Zerreißprobe ihrer empfindsamen Freundschaft. Während sich nämlich Jacobi in seinem Brief vom 4. September positiv zu einer Publikation von Johann 105

Brief vom 11.4.1771 (JBW I,1, 105; vgl. auch JBW II,1, 122). Brief vom 12.6.1771 (JBW I,1, 108 f.). 107 Brief an J. R. von Chotek vom 16.6.1771 (JBW I,1, 114). – Vgl. auch im Brief von J. J. W. Heinse an Gleim vom 18.2.1772: »Den am Geist’ und Leibe wielandischen Jakobi, zu welchem Wieland mit der Hand in die Brust sagte: C’est moi!« (Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Hg. v. Carl Schüddekopf. 10 Bde. Leipzig 1902–1925, hier Bd. 9, S. 51.) – Vgl. dagegen Wielands Distanzierung in einem undatierten (vor dem 19.6.1771) Brief an Jacobi: »Mein ganz eigener Jacobi! Unsre Geister kennen sich nunmehr, und unsre Herzen auch. So süß es auch für zwey junge zum ersten mahle Verliebte seyn mag, einander unaufhörlich zu fragen, liebst du mich noch? und zu antworten: o wie ich dich liebe! So denke ich doch unter Freunden, wie wir sind, soll es nicht so seyn. Daß wir uns lieben, lieben sollen, werden und müßen, so lange biß wir aufhören zu seyn, oder irgend etwas lieben zu können, das ist nun ein für allemahl ausgemacht, dabey soll es bleiben; und kein Wörtchen weiter mehr von dieser Sache.« (JBW I,4, 320.) 108 Brief vom 26.8.1771 (JBW I,1, 128). 106

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II. Gefühl

Benjamin Michaelis äußert, mit welcher jener sich in den öffentlichen Streit zwischen Gleim und Spalding eingeschaltet hatte,109 ist Wieland außer sich vor Wut und Abscheu über das Vorgehen von Michaelis und verleiht dieser Wut in einem dreizehn Seiten umfassenden Brief an Jacobi ungezügelten Ausdruck, wobei er auch vor Kraftausdrücken nicht zurückscheut. Daß Jacobi über diesen Michaelis und seine Publikation so gänzlich anders denken und empfinden kann, ist Wieland dabei Anlaß für die Infragestellung ihrer Freundschaft: »Nein, Jacobi, Sie sollen – doch, ich kan, ich kan Ihnen keinen dolch in die Seele stossen! – Aber die Harmonie unsrer Geister, Mein guter lieber Jacobi, war eine Schimäre. Soyons tolerans l’un envers l’autre; mais rentrons dans les bornes ordinaires de la nature humaine, et sortons d’une trop douce illusion. Unsre Begriffe, unsre Grundsätze, unsre Ideen von den Grenzen der plaisanterie, von der Achtung die man den Vorurtheilen der ganzen Christenheit, die man der Honneteté publique schuldig ist müssen entsezlich verschieden seyn, wenn Sie so gar anders als ich von der nehmlichen Sache afficiert werden können. […] […] Eine abscheuliche Ahnung heult mir mit einer verfluchten Nachteulenstimme in die Seele hinein, daß er [= Michaelis] der Zerstörer unsrer Freundschaft seyn wird«. Denn nach Wielands Überzeugung ist »dies eben keine Sache […], worinn es sich schickt daß vertraute Freunde verschieden dencken«.110 Der Anspruch empfindsamer Freundschaft, in wichtigen Dingen, in Herzensangelegenheiten, gleicher Meinung zu sein, wird hier von Wieland – wie es scheint: in aller Ernsthaftigkeit – ausgespielt, ja eingeklagt. Jacobi fühlt sich, folgt man der Darstellung seiner Briefe, durch Wieland zutiefst gekränkt: zum einen, weil dieser seine positive Äußerung zu der fraglichen Schrift von Michaelis vollkommen überinterpretiert, mißdeutet und damit ihn selbst, seinen Freund, verkannt hatte. Ein solches Maß an Nicht-Verstehen des Anderen aber ist schon für sich genommen mit dem empfindsamen Freundschaftsideal in höchstem Maße inkompatibel. Zum anderen wirft Jacobi Wieland vor, er habe »in einem Anfall von übler Laune«111 ihre Freundschaft leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. In diese erste große Freundschaftskrise wird auch Sophie von La Roche einbezogen, die in ihrem Brief an Jacobi vom 17. September 1771 für diesen und gegen Wieland Partei er-

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Vgl. JBW II,1, 138 (zu 129,30). Brief vom 8.–9.9.1771 (JBW I,1, 132 f. u. 134). – Gemeint ist die Schrift von Johann Benjamin Michaelis: An den Herrn Canonicus Gleim. Inliegend einige satyrische Versuche von unsers Jacobi Amorn. Halberstadt 1771; vgl. hierzu den Kommentar JBW II,1, 138 sowie Christ: F. H. Jacobi, S. 207–222. 111 Brief vom 15.9.1771 (JBW I,1, 137). 110

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greift;112 Jacobi bittet sie schließlich ausdrücklich um Vermittlung.113 Anfang des Monats Oktober kreuzen sich die Briefe von Wieland und Jacobi; es kommt in der Tat zu einer Annäherung der beiden Freunde. Wielands Brief vom 9. Oktober 1771 ist versöhnlich gehalten, entbehrt aber keineswegs kritischer Töne. Denn einerseits besingt Wieland zwar die Erneuerung ihrer Freundschaft, beteuert seine Liebe zu Jacobi und bezeichnet es als »Unrecht«, daß er Jacobi »in den aufwallungen einer kochenden Einbildung« schrieb, in denen er seiner »Selbst [nicht] mächtig« gewesen sei. Andererseits spricht er von Jacobis »Empfindlichckeit«,114 beklagt sich sehr über einen Brief Johann Georgs, worin jener Wielands Verhalten kritisierte, und fordert schließlich Nachsicht und Toleranz für seine Schwachheiten: »Was hilft alle die ungeheüre Menge von Enthusiasmus, den wir für einander haben, wenn wir einander nicht ertragen lernen?«115 Schon anläßlich dieser ersten großen Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Wieland mutmaßt letzterer mit prophetischem Geist: »[…] und ich fühle es selbst, mit schaudern, noch eine solche Scene würde Sie und mich mit solcher heftigkeit von einander schleüdern, daß wir Aeonen brauchten, uns wieder zu finden«. Wielands Verhalten ist zunächst schwer verständlich. Unter der Prämisse, daß ihm die Freundschaft im empfindsamen Sinne ebenso »heilig« ist wie beispielsweise den Jacobis, ist es kaum nachvollziehbar. Wielands Bemerkung »Ich glaubte würklich, Sie würden nur über meinen Zorn lachen«116 sowie seine wiederholte Kritik am »Enthusiasmus«, an der »Schwärmerei« der jungen Leute, namentlich derjenigen Jacobis,117 weist allerdings in eine andere Richtung. Wieland scheint zu diesem Zeitpunkt die gefühlsbetonte Empfindsamkeit hinter sich gelassen zu haben, sofern er ihr denn je in dem Maße zugetan war wie beispielsweise Jacobi. Die innere Distanzierung zeigt sich dabei zunächst in einer unentschlossenen, in einer Janus-Gestalt: Teils folgt Wieland in Verhalten und Stil den empfindsamen Normen, teils treibt er in spöttischironischer Manier sein Spiel mit den Idealen und der Gefühlsbewegtheit der Empfindsamen.118 Dieser Zug Wielands, der den Freunden als Mangel an Ernsthaftigkeit 112

Vgl. JBW I,1, 137–139. Vgl. den undatierten (etwa vom 25.9.1771) Brief (JBW I,1, 139). 114 JBW I,1, 140 f. – Von dieser »Empfindlichkeit« Jacobis wird später auch Gleim in seinem Brief vom 18.7.1773 (JBW I,1, 195) sprechen. 115 JBW I,1, 142. 116 JBW I,1, 141. 117 Vgl. etwa den Brief von Wieland vom 16.7.1773 (JBW I,1, 193). – Vgl. hierzu auch unten das Kapitel VI.2. 118 Dieses Bild vermittelt etwa auch die materialreiche Arbeit von Hans Schmeer: Der Begriff der »schönen Seele« besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin 1926. – Zu Wielands Wandel vgl. auch den Brief von C. M. Wieland vom 1.7.1774 (JBW I,1, 241). Seine von ihm selbst so genannte »Metamorphose«, die vor allem als eine Abkehr vom Platonismus der empfindsamen Seelen beschrieben worden ist, wird jedoch üblicherweise auf das Jahr 113

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II. Gefühl

und Aufrichtigkeit für die ihnen selbst so »heilige« Sache erscheinen mußte, führt denn auch in der Folge immer wieder zu Konfrontationen, die Wielands Distanz zunehmend deutlicher werden lassen. So hatte sich Jacobi beispielsweise Ende des Jahres 1771 bei Wieland darüber beklagt, daß er den Verfasser der Grecourtschen Gedichte, Johann Georg Scheffner, zu freundschaftlich behandeln und ihn damit auf eine Stufe stellen würde mit der innigen Freundschaft, die ihn mit Sophie von La Roche, Johann Georg Jacobi und ihm selbst verbindet. Wieland entschuldigt sein Verhalten mit dem Hinweis darauf, daß für ihn die Bedeutung von Freundschaft eben situations- und personenabhängig wäre: »Les mots chez moi ne sont que des signes; leur valeur est relative à la qualité intrinsèque de ceux à qui je les adresse.«119 Diese Art nachlässigen Umgangs mit dem Begriff Freundschaft verträgt sich auf keine Weise mit dem empfindsamen Freundschaftsideal und zeigt deutlich Wielands innere Distanz. Dennoch geht der Rest des Jahres 1772 ohne größere Dissonanzen dahin. Der Plan zu einem gemeinsamen Buchhändler-Projekt – von Wieland vorgeschlagen – wird von Jacobi enthusiastisch aufgegriffen,120 wie umgekehrt Jacobis Vorschlag, eine Zeitschrift nach dem Vorbild des Mercure de France zu gründen, bei Wieland auf großen Widerhall stößt.121 Während sich das Buchhändler-Projekt bald zerschlägt,122 gewinnt der Teutsche Merkur unter Wielands Herausgeberschaft und Jacobis Mithilfe bald Gestalt.123 Daneben nimmt – im Herbst 1772 – die Diskussion von Wielands Überarbeitung seines Romans Die Geschichte des Agathon breiten Raum in der Korrespondenz der Freunde ein. In seinen Briefen vom 20. August und 27. Oktober 1772 setzt sich Jacobi sehr intensiv mit dem Werk auseinander, wobei seine kritischen Bemerkungen vor allem moralphilosophischer Art sind. Wieland ist nicht in allen Teilen angetan von Jacobis Kritik; die Differenzen treten erneut zutage, und selbst Jacobi muß für diesmal eingestehen: »Wir werden allemal mit einander einig seyn, wenn von Empfindungen des Herzens die Rede ist, aber in unsern Köpfen können

1757 datiert (vgl. hierzu Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands »Natur der Dinge«. Würzburg 1989 [= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie; Bd. 3], S. 98). Sie lag somit schon der Bekanntschaft mit Jacobi voraus. 119 Brief vom 19.1.1772 (JBW I,1, 151). 120 Vgl. den Brief von Wieland vom 19.6.1772 (JBW I,1, 156 f.) sowie jenen an Wieland vom 10.8.1772 (JBW I,1, 158 f.). – Vgl. – auch unter Hinweis auf Thomas C. Starnes – Sven-Aage Jørgensen, Herbert Jaumann, John McCarthy u. Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994 (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 91 f. 121 Vgl. die Briefe vom 10.8.1772 und von Mitte August 1772 (JBW I,1, 158 f.). 122 Vgl. den Brief an P. E. Reich vom 6.10.1772 (JBW I,1, 164–166) sowie den Kommentar hierzu (JBW II,1, 171 f.). 123 Vgl. die Briefe vom 18.2., 12.3. und 31.3.1773 (JBW I,1, 185–188) sowie Jørgensen: Christoph Martin Wieland, S. 164; Brender: Wieland, S. 88 f. und Andrea Heinz (Hg.): »Der Teutsche Merkur« – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003 (= Ereignis Weimar-Jena; Bd. 2).

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zuweilen kleine Dissonanzen entstehen, welche wir gegenseitig ohne alle Anweisung aufzulösen nicht im Stande sind, weil wir zu wenig persönlichen Umgang mit einander gehabt haben.«124 Das Zugeständnis der allzu offenkundigen Differenzen wird so von Jacobi aufgefangen und gemildert, indem er ihm die davon ungetrübte Übereinstimmung in den – in der Werteskala der Empfindsamen – wirklich wesentlichen, den Menschen ›eigentlich‹ ausmachenden Teilen an die Seite stellt. Die Indifferenzbehauptung kann somit – trotz aller Divergenzen – weiter aufrecht erhalten werden. Parallel zu den teils nüchternen, teils problembeladenen Briefen finden sich entsprechend auch eine Reihe durchaus typisch und ungetrübt empfindsamer: Mal schreibt Jacobi einen Brief aus freier Natur an Wieland, mithin ganz im Stil einer empfindsamen Szenerie,125 mal beteuert Wieland seine nicht zu überbietende Liebe zu Jacobi und wünscht sich dessen Nähe,126 mal weiß Jacobi in empfindsamer Manier von der Lektüre aus Wielands Alceste zu berichten, mit der er, in den Wielands »ganzer Geist gefahren war«, seinen kleinen, aus Familie und Freunden bestehenden Kreis gerührt hätte.127 Wielands Brief vom 3. Januar 1773, in dem er sich in geradezu überschwenglicher Manier für ein Bildnis von Jacobi bedankt, stellt in dieser Reihe empfindsamer Bekenntnisse den vorläufigen Höhepunkt dar: »Ihr Bildniß ist angekommen, mein Allerliebster, und thut Wunder über Wunder. Mein ganzes Haus ist in meinen Jacobi verliebt; sogar das kleine Dorchen, die ungefähr 18 Monate alt ist und kürzlich zu reden angefangen hat, geräth bei Erblickung dieses wunderthätigen Bildes in Enthusiasmus und streckt ihm ihre Händchen entgegen. […] Dank sey dem Künstler, der nicht nur meine Augen, der mein Herz selbst so gut zu täuschen gewußt hat. Er ist es selbst, das ist er, dieß ist mein Jacobi, rief ich beim ersten Anblicke, und je mehr ich es ansehe, je mehr vergesse ich, daß es nur ein Bild ist. Ich rede mit Ihnen, Sie antworten mir, ich erinnere mich an tausend kleine Umstände unseres ehemaligen Beisammenseyns; ich frage Sie um Rath, ich unterlasse, was Sie mißbilligen, ich erwärme meinen erkaltenden Genius an dem Feuer, das aus Ihren Augen blitzt; mit einem Wort, Ihr Bild thut Wunder. Tausend Mal, liebster Jacobi, umarme ich Sie dafür; Sie haben meinem Herzen eine Wohlthat erwiesen; ich bin glücklicher, seitdem ich Ihr Bildniß habe; ich lebe gewissermaßen mit Ihnen selbst.«128

124 125 126 127 128

Brief vom 27.10.1772 (JBW I,1, 167). Vgl. den Brief vom 23.6.1772 (JBW I,1, 157). Vgl. den Brief vom 4.12.1772 (JBW I,1, 178). Brief vom 14.12.1772 (JBW I,1, 179). JBW I,1, 182.

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II. Gefühl

Offenkundig wird in diesem Brief eine nachdrückliche Sakralisierung der Freundschaft betrieben: Wie das »wundertätige Bild« eines Heiligen129 wird das Bild Jacobis im Wielandschen Haus empfangen, und so wie jenes das Wirken Gottes im Leben der Menschen repräsentieren sollte, so wird dieses zum vollwertigen Stellvertreter des Freundes. Wie die körperlose Seele, sich der Schrift bedienend, in Form von persönlichen Briefen mühelos große Distanzen überwindet, so auch der quasi körperlose Körper im Medium persönlicher Bildnisse.130 In wahrhaft göttlicher Manier können so die Grenzen des sterblichen und begrenzenden Körpers überschritten werden. So scheint der endliche Mensch der göttlichen Omnipräsenz ein Stück nähergerückt zu sein. Überdies tritt an die Stelle des ratgebenden Gottes der Rat des immer anwesenden Freundes, dessen Weisungen man sich vorbehaltlos anschließt: »vox amici, vox dei«.131 Doch wie sehr anfechtbar und brüchig diese wunder-volle, diese »heilige« Freundschaft war, sollte sich schon ein halbes Jahr später erweisen. Anlaß für eine erneute Auseinandersetzung war nunmehr das Werk des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Zunächst versetzt Jacobi Wieland durch die Mitteilung, daß er dieses Werk trivial und höchst langweilig fände, in großen Schrecken: »Würklich hat michs beynahe zu Boden geworfen, daß Sie dies Buch schlecht finden. Wie, um aller Götter willen, können wir doch so ungleich von einzelnen Dingen urtheilen.« Wieland verbirgt nicht den Verdacht, daß Jacobi dieses negative Urteil einzig deshalb fällte, weil Nicolai in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek seinen Bruder Johann Georg abfällig besprochen hatte und behauptet schließlich, sich auf Shaftesbury berufend: »Es ist eine vortreffliche Sache um den Enthusiasmus der edeln Seelen […], aber – er macht ein wenig intolerant.«132 Jacobi gerät nun außer sich, als er anläßlich einer abermaligen Lektüre des Nicolaischen Werkes entdeckt, daß in ebendiesem Buch sein Bruder Johann Georg in der Gestalt des »Magister Säugling« persifliert und lächerlich gemacht wird. Eine etwaige positive Besprechung des Sebaldus Nothanker im Merkur will Jacobi daher unter allen Umständen verhindert wissen und droht Wieland andernfalls mit dem Bruch der Freund129

Vgl. hierzu etwa Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 188 f. – Die Wundertätigkeit des Freundes konnte sich auch über den Brief einstellen. Vgl. hierzu Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 20.–21.11.1786 (JBW I,5, 413). 130 Der Briefwechsel Jacobis belegt, daß die »mediale Revolution« sich keineswegs auf Schriftmedien beschränkte, sondern auch Bildmedien umfaßte, wobei insbesondere den persönlichen Bildnissen – vom Schattenriß über die Zeichnung und das Ölgemälde bis hin zur Büste – große Bedeutung zukam. Überdies waren Kupferstichillustrationen »konstitutiver Bestandteil« der Schriftmedien selbst (Fischer / Haefs / Mix: Einleitung, S. 21). 131 Brief von Gleim; zit. nach Sölle: Übernahme des Säkularisierungsbegriffs, S. 91 (dort nicht nachgewiesen). 132 Undatierter (etwa vom 4.7.1773) Brief (JBW I,1, 190).

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schaft: »Sie wollen doch Ihre Brüder Jacobi nicht verliehren, nicht auf ewig verlieren?«133 Doch die Warnung kommt zu spät. Die Rezension selbst und die Produktion des Merkurheftes waren bereits so weit gediehen, daß die von Jacobi gewünschte Änderung nicht mehr ohne eine für den Herausgeber Wieland unverantwortliche Verzögerung der Auslieferung hätte vonstatten gehen können – so jedenfalls stellt Wieland die Sache Jacobi gegenüber dar.134 Wielands Antwort ist in jedem Teil anzumerken, wie sehr ihm diese erneute Meinungsverschiedenheit zuwider ist: »Mir ist leid daß die alle Augenblicke wieder Verhoffen sich ereignende Disparaten unsrer beyden Köpfe solche närrische und gleichwohl für ihre Ruhe so fatale quiproquos hervorbringen.« Er versucht, Jacobi dahin zu bringen, die Sache gelassener zu sehen, und schreibt gegen Ende seines Briefes mit Blick auf den hitzigen Brief Jacobis: »Bester Jacobi! der Himmel weis, daß ich Sie liebe. Aber daß Sie so oft und bey jeder Gelegenheit wo ein Sokrates, ein Diogenes, ein Danischmende nur lächelt, oder die Stirne runzelt, oder die Nase rümpft oder hinter den Ohren – oder sonst wo krazt – den Ajax machen und rasen, dies kan ich nicht an Ihnen lieben, und ich gäbe ein paar glieder von meinen Fingern, wenn ich diesen Vesuvius, den Sie in Ihrem Busen herumtragen, dämpfen könnte! Ich habe Ihnen schon so oft darüber gepredigt, aber was hilft es? Ich will also nichts weiter darüber sagen – nur bitte ich Sie, wenn wider Verhoffen dieser Brief sie nicht bey guter Laune antreffen sollte, – wenn Sie gar fähig wären, sich darüber zu betrüben, daß ich weder so hitzig wie Sie bin noch die Sache quaestionis in eben dem licht ansehen kan wie Sie – so schreiben Sie mir nicht eher bis irgend ein guter Sokratischer Dämon eine heilige Schaale voll Aristippischer Gelaßenheit über Ihr haupt gegoßen hat.«135 Diesen Brief Wielands beantwortet Jacobi zunächst nicht, um dann drei Wochen später mit einem längeren Schreiben aufzuwarten, das zumindest von Wieland als eine Art von Abrechnung gelesen worden sein dürfte. Jacobi schildert den Sachverhalt, so wie er ihn sieht, tadelt Wielands Verhalten und wirft ihm, den Merkur betreffend, noch einige andere Verfehlungen vor.136 Entsprechend erbost reagiert Wieland in seinem Antwortschreiben, erklärt und rechtfertigt widerwillig abermals sein Verhalten und läßt seinen Brief zunächst als Scheidebrief enden: »Ein für allemal, mein lieber Jacobi, Ihr Genius ist dem meinigen zu stark. Abraham und Loth waren auch 133

Brief vom 10.7.1773 (JBW I,1, 192). – Ein ganz neues Licht auf die Hintergründe dieses Streits wirft Cornelia Ortlieb: Die Bruderschaft der Revisoren. Forster, Jacobi und der Deutsche Merkur. In: Georg Forster Studien 12 (2007), S. 257–280. 134 Vgl. den Brief Wielands vom 14.–17.8.1773 (JBW I,1, 209). 135 Brief vom 16.7.1773 (JBW I,1, 193 u. 194 f.). – Vgl. auch den undatierten (vor dem 19.6.1771) Brief von C. M. Wieland (JBW I,4, 321). 136 Vgl. den Brief vom 8.8.1773 (JBW I,1, 202–205).

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II. Gefühl

Brüder wie wir; aber wie sie merkten, daß es mit ihnen dahin kommen wollte, wohin es mit uns gekommen ist, waren sie so klug und schieden in Frieden. Das ist nunmehr wohl das Beste, was wir thun können.«137 Doch sandte er diesen Brief noch nicht ab. Der Zusatz vom 17. August klingt schon deutlich gemäßigter, versöhnlicher: Sie können – so Wielands Eindruck – weder mit noch ohne einander leben. Der kurze Brief vom 20. August ist dann wieder angefüllt mit empfindsamen Liebesbeteuerungen. Doch an dieser Episode wird klar, daß Wieland unterdessen einen anderen Weg eingeschlagen und sich von seinen ehemaligen Freunden, dem empfindsamen Zirkel um Sophie von La Roche, entfernt hat. Auf Jacobis begeisterten Bericht über seinen erneuten Aufenthalt bei Sophie von La Roche im September 1773 antwortet Wieland entsprechend deutlich: »Tausend Dank, mein bester Jacobi, für Ihr kleines Journal über Ihren Aufenthalt bei Sophien, wiewohl ein guter Theil davon für mich – ein wenig arabisch ist. Es ist seltsam, aber es ist doch so; je länger ich in dieser, meinem ganzen Wesen widrigen Hof-Atmosphäre lebe, je weiter entferne ich mich wider Willen von dem Kreise, worin wir uns ehemals so ziemlich parallel um unsere Axe fortdrehten. Der Enthusiasmus z. B., der in Ihrem Briefe athmet, läßt mein Herz kalt. Ich erinnere mich wohl, daß Zeiten waren, wo mir auch so zu Muthe war; aber kaum bin ich noch fähig, zu bedauern, daß sie nicht mehr sind.«138 Dieser Brief bringt nicht nur die Distanz Wielands zum Zirkel der Empfindsamen explizit zum Ausdruck, sondern entlarvt auch den dort betriebenen Freundschaftskult als schiere Illusion: Weit entfernt von selbstverleugnender Hingabe an den Anderen und Einssein der Seelen drehten sich, so Wielands Aussage, dort alle nur parallel um ihre eigene Axe. Die Anderen, die Freunde, waren offenbar nur Statisten, die einzig der Steigerung des Selbstgefühls dienten. Diese bloß scheinbare Bezogenheit der Empfindungen auf den Anderen ist ein zentraler Topos der Empfindsamkeitskritik und begegnet nicht zuletzt auch in den Romanen Jacobis. Im folgenden trägt der Briefwechsel der Freunde deutlich sachlichere Züge. Man berichtet von den jeweiligen Arbeiten bei Hofe, tauscht sich aus über Beiträge zum Merkur oder über Neuerscheinungen, berichtet von Besuchern etc.139 Wieland registriert den Verlust an Gefühl, man thematisiert noch einmal kurz die »unselige[] Entzweiung«, und Wieland erteilt bei dieser Gelegenheit nicht der Freundschaft schlechthin, wohl aber dem empfindsamen Freundschaftsideal eine endgültige Absage: »Nur wenigstens keinen Enthusiasmus von Freundschaft mehr! Gehen wir in 137 138 139

Brief vom 14.–17.8.1773 (JBW I,1, 209). Brief vom 30.9.1773 (JBW I,1, 212). Vgl. die Briefe vom 6.11.1773 und vom 22.11.1773 (JBW I,1, 218–220).

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Gottes Namen jeder seinen Weg, so nah beisammen als möglich, nur nie wieder so nah, daß wir uns die Köpfe an einander zerschellen. Vielleicht ist dieß das wahre Mittel, mit der Zeit unzertrennliche Freunde zu werden.«140 Jacobi vermochte sich an diese Vorgabe nicht – oder nur recht selten – zu halten. Anders als Wieland konnte und wollte er – so scheint es – den empfindsamen Idealen nicht entsagen, und der empfindsame Stil blieb für ihn bestimmend. Unter dem Einfluß Goethes, der ihn im Juli 1774 in Düsseldorf besuchte, bekam sein Stil überdies eine neue, kraftgenialische Note, die von Wieland abgelehnt wurde. Der Unterschied der Generationen als einer, der auch Kunstanschauungen und Stile in dieser Zeit entscheidend prägt, kommt hier sehr deutlich zum Ausdruck.141 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht wenig, daß ausgerechnet Wieland bei nächster Gelegenheit das empfindsame Freundschaftsideal beschwört und Jacobi der Abtrünnigkeit, ja quasi des Hochverrats, bezichtigt. Daß Jacobi nämlich mit Goethe und Klopstock, ihm völlig entgegengesetzten und geradezu feindlichen Personen, einen freundschaftlich-vertraulichen Umgang pflegt, wird von Wieland zu einer »Entweder-oder«-Angelegenheit stilisiert. Jacobi – so will es Wieland – verläßt ihn für Goethe und Klopstock: » – – En un mot, mon ami, je ne me plaindrai jamais de vous, de m’avoir quitté pour Klopstock et Goethe. L’amour ne se commande pas. Il y a longtemps que vous cherchez votre Alter Ego. Vous aviez cru le trouver en moi; vous vous trompiez; il y a mille différences entre nous qui à la longue ne pouvaient manquer de faire leur effet.«142 Jacobi sieht sich zu einem längeren Schreiben veranlaßt, das Wielands Vorwürfe und Bedenken entkräften soll. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer allgemeinen Reflexion Jacobis über die Freundschaft, in der nun auch Jacobi den Totalitätsanspruch des empfindsamen Freundschaftsideals hinterfragt: »An die dornige Untersuchung, in wiefern ein rechtschaffener Mann ein Feind aller Feinde seines Freundes, und ein Freund aller Freunde desselben seyn müsse, mag ich mich nicht wagen. Da müßte vorläufig aus einander gesetzt werden, was zur Freundschaft wesentlich gehöre, die verschiedenen Gattungen, Arten und Grade dieses Verhältnisses, und nach allen diesen Unterschieden die nothwendigen Bedingungen seiner Entstehung und Dauer. Mein Geist erschrickt vor der Idee einer solchen Discussion.«143 140

Brief vom 11.3.1774 (JBW I,1, 222 f.); vgl. auch den Brief vom 22.11.1773 (JBW I,1, 220). Vgl. den undatierten (etwa vom 2.5.1774) Brief von Wieland (JBW I,1, 228) sowie dessen Briefe vom 1.7.1774 (JBW I,1, 241) und vom 4.10.1774 (JBW I,1, 258). Vgl. auch Jacobis Brief vom 15.10.1774 (JBW I,1, 263); des weiteren Wielands Brief vom 8.11.1774 (JBW I,1, 269) sowie bezüglich Herder seinen Brief vom 9.12.1774 (JBW I,1, 271). Vgl. hierzu Goethes Auskunft in dem undatierten (etwa vom 6. oder 7.5.1774) Brief von J. K. S. Fahlmer an Jacobi (JBW I,1, 230). 142 Brief vom 9.4.1775 (JBW I,2, 8). 143 Brief vom 22.4.1775 (JBW I,2, 10). 141

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II. Gefühl

Wieland scheint durch Jacobis Schreiben nicht wirklich beruhigt worden zu sein. Seinen Briefen haftet etwas Klagendes, Bissiges an. Erst mit der Begegnung zwischen Goethe und Wieland scheint sich eine Änderung zu vollziehen: Denn diese Begegnung bestätigt nicht nur Jacobis Vorhersagen, läßt nicht nur den vermeintlichen »Feind« zum Freund werden,144 sondern der Einfluß Goethes prägt überdies den Briefstil Wielands ebenso, wie er vormals Jacobis Briefstil prägte.145 Wielands Urteil über Jacobis eigene schriftstellerische Produktionen – Aus Eduard Allwills Papieren und die Erstausgabe des Woldemar unter dem Titel Freundschaft und Liebe, die Wieland als Manuskripte für den Merkur vorlagen – gibt dem Briefwechsel wieder eine entscheidend positive Wendung,146 wenngleich Jacobi umgekehrt Wielands Singspiel Rosamunde einer deutlichen Kritik unterzieht.147 Der endgültige Bruch zwischen Jacobi und Wieland erfolgt schließlich Ende des Jahres 1777. Wielands Aufsatz Ueber das göttliche Recht der Obrigkeit nimmt Jacobi zum Anlaß, ihm die Freundschaft aufzukündigen, da »[z]wischen dem Geiste dieses Aufsatzes und meinem Geiste […] die entschiedenste Feindschaft« ist.148 Anders als die bisherigen Meinungsverschiedenheiten hinterläßt dieser endgültige Bruch zunächst kaum Spuren im Briefwechsel – sieht man einmal davon ab, daß es zu einem abrupten Ende des schriftlichen Austauschs kommt. Erst durch Jacobis öffentliche Entgegnung auf Wielands Beitrag, die 1781 im Deutschen Museum unter dem Titel erscheint Über Recht und Gewalt, oder philosophische Erwägung eines Aufsatzes von dem Herrn Hofrath Wieland, über das göttliche Recht der Obrigkeit, wird der Bruch der Freundschaft zwischen Jacobi und Wieland für alle offenkundig.149 In der Lesart Jacobis leitet Wieland in 144

Vgl. Jacobis Brief vom 23.11.1775 (JBW I,2, 32). Vgl. den Brief Wielands vom 10.11.1775 (JBW I,2, 31 f.). 146 Vgl. die Briefe Wielands vom 2.11.1775 (JBW I,2, 29–31), vom 10.5.1776 (JBW I,2, 43), vom 14.7.1776 (JBW I,2, 44) sowie vom 25.4.1777 (JBW I,2, 55 f.). – Vgl. dagegen Wielands Urteile in seinen Briefen an J. H. Merck vom 24.7.1776 (Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für deutsche Sprache und Literatur. 20 Bde. Berlin 1963–2007 [Stand: Okt. 2007], hier Bd. 5, S. 531 f.) und an K. E. Goethe vom 31.12.1776 (ebd., S. 579). 147 Vgl. den Brief vom 4.5.1777 (JBW I,2, 58) sowie die weiteren Briefe vom 24.5., 4.6. und 8.–11.6.1777 (JBW I,2, 60–63). 148 JBW I,2, 69. – Vgl. auch den Brief an M. E. Reimarus vom 28.5.1781 (JBW I,2, 310) sowie den Brief an J. G. Hamann vom 17.–18.11.1785 (JBW I,4, 250). 149 Vgl. die Briefe an M. E. Reimarus vom 15.3.1781 (JBW I,2, 283–285), vom 28.5.1781 (JBW I,2, 309 f.) sowie den undatierten Brief von Ende Mai oder Anfang Juni 1781 (JBW I,2, 310). Vgl. auch die Reaktionen in den Briefen von J. J. W. Heinse vom 17.7.1781 (JBW I,2, 323) und vom 15.9.1781 (JBW I,2, 341) sowie von C. K. W. Dohm vom 18.12.1781 (JBW I,2, 392). – Zum Text selbst vgl. den 1. Bd. des Jahrgangs, S. 522–554; vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Kleine Schriften I. 1771–1783. Unter Mitarbeit von Mark-Georg Dehrmann hg. v. Catia Goretzki u. Walter Jaeschke. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 4) [im folgenden JWA 4 mit Seitenzahl], hier JWA 4,1, 259–287. 145

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

127

seiner Schrift den Absolutismus, die Alleinherrschaft, aus dem Recht des Stärkeren als Naturgesetz ab. In letzter Konsequenz bedeutet dies für Jacobi die Rechtfertigung jeglicher Willkürherrschaft, mithin auch von Despotismus und Tyrannei. In Gegenführung zu Wieland folgert Jacobi – unter Berufung auf Spinoza, aber auch auf historische und ethnologische Zeugnisse – aus der Natur des Menschen eine auf den Prinzipien von Freiheit und Vernunft basierende Regierungsform. In seiner Replik begegnet Jacobi dem einstigen Freund mit ungemilderter Härte und schärfster Kritik. Zutiefst schockiert über diesen öffentlich gemachten Freundschaftsbruch gibt sich insbesondere Gleim, der Freund der Freunde.150 Er kritisiert in aller Deutlichkeit Jacobis Verhalten151 und vermag diesen immerhin zu dem Zugeständnis zu bewegen, daß er Wieland, seinen Freund, wohl zu hart behandelt habe und diesem »noch eine öffentliche Lobrede schuldig« sei. Zugleich erklärt Jacobi, daß sein Verhalten das für ihn einzig mögliche und adäquate angesichts des Tons und des Inhalts von Wielands Schrift gewesen sei.152 Rückblickend kann es geradezu als eine Weissagung Wielands angesehen werden, daß dieser bereits Anfang August 1775 im Hinblick auf eine Stellungnahme Jacobis zu seinen Beiträgen im Teutschen Merkur schrieb: »Ich habe eine kleine Ahndung, daß alle unsere Freundschaft nicht gegen die Mißverständnisse aushalten möchte, die eine fast unvermeidliche Folge schriftlicher Aeußerungen Ihrer Herzensgedanken über meine besagten opera seyn würden.«153 Der Bruch ist endgültig.154 Wenngleich es drei Jahre später, anläßlich der Weimarreise Jacobis, doch zu einer kurzzeitigen Annäherung der Freunde gekommen zu sein scheint,155 findet die vormals gepflegte innige Freundschaft keine Fortsetzung mehr.156 150

Vgl. seinen Brief vom 21.10.1781 (JBW I,2, 353–355). Vgl. seine Briefe vom (24).10.1781 (JBW I,2, 360 f.) und vom 4.11.1781 (JBW I,2, 367 f.). 152 Brief an J. W. L. Gleim vom 16.11.1781 (JBW I,2, 375). Ebenso in dem undatierten Brief (etwa Oktober bis Anfang Dezember 1781) an C. K. W. Dohm (JBW I,2, 387). 153 Brief vom 5.8.1775 (JBW I,2, 22). 154 Vgl. den Brief von Wieland aus Anlaß des Todes von Jacobis Ehefrau. In diesem Brief bedient sich Wieland formeller Briefformeln bzw. -floskeln (Brief vom 23.2.1784; JBW I,3, 295). 155 Vgl. den Brief von Wieland vom 30.10.1784 (JBW I,3, 379–381). 156 Eine Antwort auf Wielands Brief vom 30.10.1784 ist nicht überliefert. Erst etwa ein Jahr später übersendet Jacobi ihm ein Exemplar seiner Spinoza-Schrift und bittet bei dieser Gelegenheit um einen Bericht über den Aufenthalt der Fürstin Gallitzin in Weimar (vgl. hierzu Jacobis Brief an Goethe vom 9.10.1785; JBW I,4, 199). Wieland entspricht dieser Bitte mit seinem Brief vom 11.10.1785 (JBW I,4, 203–205), doch auch dieser Brief scheint unbeantwortet geblieben zu sein. Eine mögliche Erklärung für Jacobis Verhalten bietet ein diesbezüglich aufschlußreicher Brief an Göschen vom 6.4.1788, in welchem es heißt: »An Wieland, mit dem ich im Jahre 84, da ich zu Weimar war, wieder angeknüpft hatte, dem es aber bald nachher räthlicher schien, sich gegen mich zu befreunden, mag ich mich […] nicht wenden.« (Handschrift: SLUB Dresden) Bis zum Ende des 151

128

II. Gefühl

Der Verlauf der empfindsamen Freundschaft zwischen Jacobi und Wieland zeigt, daß der totalitäre Zug des empfindsamen Freundschaftsideals, das rigorose Verlangen nach absoluter Übereinstimmung, die tatsächlichen Differenzen nicht nur stärker spürbar, sondern auch unerträglicher macht. So zerbrach die Freundschaft mit Wieland wohl nicht zuletzt an ihrer Überforderung. Die Stilisierung des Freundes zum Gott führte notwendig zum Absturz unter das gewöhnliche, menschliche Niveau.157 Ein ähnliches Muster, wie es sich hier in der Freundschaft zwischen Wieland und Jacobi zeigt, prägt auch die herausragenden Freundschaften mit Goethe und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg.

3.2.2 Johann Wolfgang (von) Goethe Goethe158 war für Jacobi zunächst »Doctor Wehrwolf«. Er sah ihn »als einen feurigen Wolf, der des Nachts an honetten Leuten hinaufsprang und sie in den Koth wälzte«.159 Gegen seinen Bruder Johann Georg hatte Goethe 1772 in den Frankfurter gelehrten Anzeigen einen »infamen« Artikel verfaßt,160 die Brüder Jacobi hatte er in der – verJahres 1794 scheint es dann keine weiteren Kontakte gegeben zu haben, sieht man einmal ab von dem Brief Jacobis vom 11.2.1794 (Handschrift: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg), der die Neuausgabe des Woldemar begleitet. Ansonsten scheint der Kontakt sich nur noch vermittelt herzustellen: einerseits über Wielands Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold, mit dem Jacobi in Briefkontakt steht (vgl. die Briefe an Reinhold vom 11.2.1790 und vom 11.3.1793 [Reinhold: Leben und Wirken, S. 232 u. 237]), andererseits über Max Jacobi, dessen Pate Wieland ist (vgl. hierzu den Brief an Goethe vom 10.4.1793 [Max Hecker: Goethe und Fritz Jacobi. Achtunddreißig Briefe Jacobis an Goethe. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft. 6 (1941), S. 32–69 (= Teil 1), 7 (1942), S. 41–69 (= Teil 2) und 8 (1943), S. 281–309 (= Teil 3); hier Teil 1, S. 69]). Auch an den Werken Wielands zeigt sich Jacobi nach wie vor interessiert (vgl. den Brief an Göschen vom 4.11.1793; Handschrift: SLUB Dresden). – Nach Auskunft der Jacobi-Forschungsstelle (Gudrun Schury) ist für die Zeit nach 1794 lediglich ein handschriftlich überlieferter Brief Jacobis an Wieland, datierend vom 28.6.1805, nachgewiesen (vgl. Wieland: Briefwechsel, Bd. 16.1, S. 446). Den letzten nachweisbaren Kontakt scheint dann die von Jacobi unterzeichnete Ernennungsurkunde für Wieland vom 26.3.1808 darzustellen, mit der Wieland in die Königlich Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. 157 Vgl. hierzu im Brief an M. S. von La Roche vom 14.12.1774: »Verzeihen wir ihm [= Wieland], daß er wohl einmal weniger als ein gewöhnlicher Mensch erscheint, da er so oft, aus eigenem Vermögen, wie ein Gott dasteht.« (JBW I,1, 272) 158 Vgl. zur Freundschaft zwischen Jacobi und Goethe vor allem Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965; Herbert Anton: Jacobi und Goethe. In: Kurz: Düsseldorf, S. 139–153; Kurt Christ: Antinomien der Überzeugung oder Wunderlicher Zwiespalt. Ein Beitrag zur Freundschaftsbeziehung zwischen Goethe und Jacobi und ihrer Rückwirkung auf das Werk Goethes. In: Euphorion 88 (1994), S. 390–405 und Nenon: Fülle der Herzen, S. 82–92 sowie Hecker: Goethe und Fritz Jacobi. 159 Brief an Wieland vom 22.4.1775 (JBW I,2, 9 f.). 160 Brief an Wieland vom 10.7.1773 (JBW I,1, 191).

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

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mutlich 1773 entstandenen, nicht überlieferten, aber im Freundeskreis kursierenden – Satire Das Unglück der Jacobis und Wieland in seiner 1774 gedruckten Farce Götter Helden und Wieland lächerlich gemacht. Tatsächlich war Goethe den »Jackerls«, wie er die Brüder Jacobi abschätzig nannte, gar nicht gut gesonnen.161 Zu einer gemäßigt positiven Einschätzung der Person Goethes162 kam es dann durch die Vermittlung von Betty Jacobi163 und Johanna Fahlmer, Jacobis etwa gleichaltriger, in Frankfurt lebender Tante. Ihr Brief vom Mai 1774 ist in der Form einer dramatischen Szene gehalten, in der die handelnden Personen »Göthe« und »Tante« heißen und in der »Göthe« von »Tante« ohne Umschweife bezüglich seiner Ausfälle gegen Wieland und die Jacobis zur Rede gestellt wird. Der Erfolg dieser Vermittlungsbemühungen der beiden Frauen sollte sich schon bald anläßlich der Rheinreise Goethes zeigen: Die persönliche Begegnung zwischen Jacobi und Goethe in Düsseldorf im Juli 1774 führte zu einem enthusiastischen Freundschaftsbund.164 »Was Göthe und ich einander seyn sollten, seyn mußten, war, sobald wir vom Himmel runter neben einander hingefallen waren, im Nu entschieden. Jeder glaubte von dem Andern mehr zu empfangen, als er ihm geben könne; Mangel und Reichthum auf beiden Seiten umarmten sich einander; so ward Liebe unter uns. Sie kann’s ausdauern, seine Seele, – zeugte in sich der Eine vom Andern, – die ganze Glut der meinigen; nie werden sie einander verzehren.«165 Wie schon bei Wieland, so sollten auch in der Liebe zu Goethe die Grenzen der Endlichkeit – wenigstens für Augenblicke – im Diesseits transzendiert werden, das vereinzelte Ich mit dem Weltganzen verschmelzen und im Liebesgeschehen eine wahrhaft göttliche Position eingenommen werden: »Der endliche Geist wird immer bedürfen, immer streben, erringen, sammeln und verzehren: aber wenn er nun einen Augenblick den diesseitigen Grenzen entrissen wird, von den jenseitigen noch keinen Drang fühlen kann, und im seeligen Genuß allein sein Daseyn hat: o der unnennbaren Wonne! Wie er da so herrlich schwebt der Liebende, ein Theil des Allgenugsamen, alles selbständig, alles ewig mit ihm, und er ewig in allem.«166

161

Vgl. hierzu JBW II,1, 218 (zu 242, 24). Vgl. den Brief an Wieland vom 8.–11.5.1774 (JBW I,1, 233). 163 Vgl. den Brief vom 6.11.1773, in dem ein Paket von Goethe an Betty erwähnt wird (JBW I,1, 219). Vgl. zum folgenden den undatierten (etwa 6. o. 7.5.1774) Brief (JBW I,1, 229–232). 164 Vgl. zu den Einzelheiten dieser Begegnung unter anderem JBW II,1, 218–224. 165 Brief an Wieland vom 27.8.1774 (JBW I,1, 251). Jacobi greift hierin die Worte Goethes auf, unter anderem aus dessen erstem Brief an Jacobi vom 13.–14.8.1774 (JBW I,1, 243). 166 Brief an Goethe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 265). – Vgl. auch fast wörtlich im Brief an Wieland vom 13.11.1774 (JBW I,1, 270). 162

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II. Gefühl

Haftete den bisherigen, beispielsweise an Wieland gerichteten, empfindsamen Briefen – bei allen Steigerungsmomenten, bei allem Gefühlsüberschwang – doch eine affektive Verfeinerung, mithin etwas Normiertes an, wie es die Empfindsamkeit auszeichnet, so erhalten die unter dem Goetheschen Einfluß verfaßten – und vornehmlich die an ihn selbst gerichteten – Briefe Jacobis einen geradezu hemmungslosen, sturm und drängerischen Zug. Die zarte Empfindung wird zur enthemmten Leidenschaft.167 In den Briefen entlädt sich die Liebe zu Goethe impulsiv, und die Adaption des Goetheschen Stils durch Jacobi ist wohl nicht zuletzt als Versuch anzusehen, die begehrte Identität, das ersehnte Einssein der Seelen, deren Ähnlichkeit Goethe bereits herausgestellt hatte,168 auf der Schriftebene herzustellen.169 Die Nachahmung Goethes macht dabei auch vor Wieland nicht halt; dem Goetheschen Stil folgend verteidigt Jacobi in seinem Brief an ihn vom 27. August 1774 den Clavigo: »Und wenn ich nun selbst, in Beaumarchais Person, bei Marie und Sophie ankomme, hingehe zu Clavigo, ihn befehde, überwältige, nachher mich aussöhne mit dem Reuigen, ihm die ausgestellte Schrift zerrissen zurückgebe – und dann nun neben Marie stehe, und zweifle, und doppelten gräßlichen Meineid ahnde, und halte in meinen Armen den bebenden, sterbenden Engel – und nun ihm, in meinem Angesicht, an meinem Busen, der letzte Todesstoß! mir Fesseln, Gefängniß – von Clavigo, dem Treulosen, dem Feigen, dem Verräther, dem unendlich Niederträchtigen – Wühle, wühle im finstern moderhaften, erstickenden Abgrund, wühle, wühle! – Ha! der Himmel offen! Rache, Rache! Rache? Hab’ ich ihn? Ich muß ihn haben!«170 Den Goethe abgewonnenen, die Unmittelbarkeitsfiktion sprachlich auf die Spitze treibenden »gigantischen Styl« konnte Wieland jedoch ebensowenig goutieren wie Jacobis Rolle als »schwärmerischer Liebhaber«.171 Doch der Einfluß Goethes und Jacobis Gestus der Hingabe an diesen blieben zunächst bestehen und verstärkten sich sogar: Goethe hatte es vermocht, Jacobi zu eigener schriftstellerischer Produktion anzuregen; er beginnt die Arbeit am Allwill.172 Die Lektüre des Werther führt zu einer 167

Vgl. hierzu auch Jacobis eigene spätere Einschätzung im Brief an J. G. A. Forster vom 13.11.1779 (JBW I,2, 129) und Forsters Antwort vom 29.11.1779 (JBW I,2, 131). Mit dieser leidenschaftlichen Reaktion auf die Bekanntschaft mit Goethe war Jacobi allerdings – wie es scheint – keine Ausnahme. Vgl. etwa die Reaktion Wielands auf die Begegnung mit Goethe und Gleims Briefe vom 21.11.1781 (JBW I,2, 378 f.) und vom 25.11.1781 (JBW I,2, 384). 168 Vgl. seinen Brief vom 21.8.1774 (JBW I,1, 247). 169 Vgl. etwa den Brief an Goethe vom 26.8.1774 (JBW I,1, 248 f.) sowie den Vorwurf von Sophie von La Roche, Jacobi ahme Goethe nach (Brief von Jacobi vom 19.4.1777; JBW I,2, 55). Vgl. zu diesem »mimetischen Aspekt« auch Le Moël: Suche nach dem Alter ego, S. 165. 170 JBW I,1, 252. 171 Briefe von Wieland vom 4.10.1774 (JBW I,1, 258) und vom 21.10.1774 (JBW I,1, 266). 172 Vgl. den Brief Jacobis vom 26.8.1774 (JBW I,1, 249 f.) sowie den Brief von Goethe vom

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Art ›Werthermanie‹ im Jacobischen Hause.173 Das Buch wird euphorisch aufgenommen und mit dem wohl größten Vorbild in der Gattung empfindsamer Briefromane, mit Rousseaus Julie ou La nouvelle Héloise, verglichen;174 was einem außerordentlichen Lob gleichkam. Zudem dient der Werther wiederum dazu, das restlose Verstehen des Anderen und somit den empfindsamen Gleichklang der Seelen nachdrücklich zu beschwören, wie ein Brief Jacobis an Sophie von La Roche belegt: »Meine Reise nach Frankfurt wird doch noch vor sich gehen, und zwar gegen Mitte des künftigen Monats; bald also, liebste Sophie, bald sehen wir uns wieder. Dann rede ich auch mit Ihnen aus der Fülle meines Herzens von Werthers Leiden. Welch ein Büchlein! Göthe weiß, daß ich’s ganz gefaßt habe. Das ist doch nun einmal ganz gewiß ein wahres, inniges, ewiges Verhältniß, was mich und Göthe an einander bindet.«175 Die erwähnte Reise nach Frankfurt sollte dem Gegenbesuch Jacobis bei Goethe dienen. Von den dort zu Beginn des Jahres 1775 zugebrachten Wochen berichtet Jacobi rückblickend an Wieland. Gerade im Kontrast zum Mannheimer Hof, an den Jacobi von Frankfurt aus in seiner Eigenschaft als Hofkammerrat weitergereist war, erscheint die mit Goethe zugebrachte Zeit als eine, in der man seiner selbst nicht entfremdet war. Hier wird wiederum deutlich, in welchem Grade die empfindsam-bürgerlichen Normen – aber auch Phantasmen – in klischeehafter Abgrenzung von der Kultur des Hofes entwickelt und durchgesetzt wurden:176 »Alles, was hier [= am Mannheimer Hof] mich schiert und petzt, mußt’ es um so mehr thun, da ich eben vier Wochen so zu sagen tête à tête mit Göthe zugebracht hatte; just in einem solchen Augenblick, sur un coup de sifflet, seine Menschheit zu verlieren und in die Organisation einer Seifenblase überzugehen, und also platz-rund und bunt die Luft zu befahren, ist entsetzlich.«177 31.8.1774 (JBW I,1, 253). – Gegen Heinz Nicolai und mit Schury ist festzuhalten, daß die ›Hingabe‹ Jacobis nur im Kontext der zeitüblichen Stilisierungen gesehen werden darf (vgl. Gudrun Schury: Goethe und Jacobi. Szenen einer Ehe. In: Vossische Nachrichten, Nr. 6 [September 2000], S. 26–43, hier S. 41 f.). 173 Vgl. die Briefe Jacobis vom 26.8.1774 (JBW I,1, 250) und vom 21.10.1774 (JBW I,1, 263– 266). 174 Vgl. den Brief an Goethe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 265). 175 Brief vom 28.10.1774 (JBW I,1, 267). 176 Wegmann hat dies sehr ausführlich beschrieben. Seine Darstellung krankt allerdings m. E. daran, daß er weitgehend unterschlägt, in welchem Umfang es sich um Konstruktionen handelt, die in dieser expliziten Absetzungsbewegung allererst hervorgebracht werden. Bei Wegmann liest es sich hingegen so, als würde der Bürger sich einer vom Adel vernachlässigten, gleichwohl aber bereits existierenden Sache annehmen. Dies heißt aber, dem Diskurs der Zeit gewissermaßen auf den Leim gehen. Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 60–62 u. ö. 177 Brief vom 11.2.1775 (JBW I,1, 292). Die Seifenblase galt im Barock als Symbol für die

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II. Gefühl

In den nächsten Monaten kommt es zu einem regen Briefwechsel zwischen Goethe und Jacobi, wobei Jacobis Briefe – wie zuvor schon – eine deutliche Adaption des Goetheschen Stils verraten.178 Insbesondere der für Goethe so typische ›Präsentismus‹, eine spezielle Form der empfindsamen Unmittelbarkeitsfiktion,179 findet sich nun auch bei Jacobi. Schrieb Goethe in seinem ersten Brief an Jacobi »Es ist wieder Nacht.« und verabschiedet sich wenige Zeilen später mit »Gute Nacht.«,180 so greift Jacobi diesen ›Präsentismus‹ auf, indem er seinen Brief enden läßt: »Die Nacht bricht ein! ich muß weiter.«181 Eine andere Art von ›Präsentismus‹ stellt die Fiktion der Anwesenheit des Abwesenden dar, die Formen einer »geradezu halluzinogene[n] Präsenztäuschung« hervortreibt.182 Schon der Beginn des ersten Briefes von Goethe an Jacobi steht unter der Maßgabe dieser Fiktion: »Ich träume lieber Friz den Augenblick, habe deinen Brief und schwebe um dich. […] Glaub mir, wir könnten von nun an stumm gegen einander seyn, uns dann nach Zeiten wieder treffen, und uns wärs als wären wir Hand in Hand gegangen. Einig werden wir seyn über das was wir nicht durchgeredt haben.«183 Dies wie eine Anweisung aufnehmend beginnt Jacobi seinen Brief vom 25. Mai 1775: »Ich bin eine Zeit her durch leidige Geschäfte sehr zerstreuet worden; dennoch brachte ich manche Stunde allein und still zu mit dir, und dies letzte ist Ursache, daß du so lange keine Briefe von mir erhalten hast.«184 Wie schon bei Wieland so scheinen auch hier die Grenzen der Körperlichkeit überwunden; der Freund ist – wie Gott selbst – dem Freunde immer gegenwärtig. Die gleichsam materielle Abwesenheit erweist sich keineswegs als hinderlich, sondern begünstigt sogar den über Schrift vermittelten ungehinderten Zusammenfluß der Seelen, der hier nach dem Modell religiöser Erweckungserlebnisse beschrieben ist: »Ich habe die Wallfart und das Lied; u. nie fühlte ich deinen Geist dem meinigen näher; diese Blätter sind mir Erfüllung u. Verheissung; Lohn des Glaubens, u.

Nichtigkeit der Welt. – Eine andere Darstellung der Begegnung in Frankfurt enthält Goethes Brief an Helene Elisabeth Jacobi vom 6.2.1775 (JBW II,1, 248). 178 Vgl. die Briefe vom 10.3.1775 (JBW I,2, 3) und vom 12.8.1775 (JBW I,2, 25). 179 Vgl. hierzu auch die Bemerkung von Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 195: »So treibt die Medialisierung eine neue Mythologie der Unmittelbarkeit hervor. Der Name dieser Mythologie ist Empfindsamkeit.« 180 Brief vom 13.–14.8.1774 (JBW I,1, 243 f.). 181 Brief vom 26.8.1774 (JBW I,1, 250); vgl. auch im Brief vom 21.10.1774: »Da bin ich zurück!« (JBW I,1, 265.) – Vgl. zum ›Präsentismus‹ Goethes auch den Brief vom 21.8.1774 (JBW I,1, 245–247) und Jacobis Antwort vom 26.8.1774 (JBW I,1, 247–250). ›Präsentische Gemälde‹ enthalten auch Jacobis Briefe vom 14.6.1775 und vom 12.8.1775 (JBW I,1, 14 u. 24 f.). 182 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 194. 183 Brief vom 13.–14.8.1774 (JBW I,1, 243). 184 JBW I,2, 12.

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mächtige Stärkung in ihm – Herrlich daß mann aus so weiter Entfernung einander so wahrhaftig erscheinen kann, daß die Gegenwart inniger ist, als es Tausendmal die leibhaftige war. Wie ich Dich an mein Herz Drüke, lieber Unsichtbarer!«185 So Jacobi am 12. August 1775 an Goethe. Der nächste überlieferte Brief, datiert auf den 15. September 1779, hat die »Ettersburger Woldemar-Kreuzigung« (van Stockum) zum Gegenstand, die den Bruch der Freundschaft zwischen Goethe und Jacobi markiert.186 Was war passiert? In den vier Jahren zwischen August 1775 und September 1779 sind vier Briefe Goethes und ein Brief Jacobis nachgewiesen.187 Die Tatsache, daß sie vermutlich vernichtet wurden, einerseits und die späteren Andeutungen Jacobis andererseits machen es wahrscheinlich, daß es in dieser Zeit bereits zu Unstimmigkeiten zwischen den Freunden gekommen war.188 Goethes Schweigen angesichts der Romane Jacobis189 wird die Mißstimmung und Enttäuschung desselben noch befördert haben, zumal es ja Goethe selbst war, der ihn zur schriftstellerischen Tätigkeit aufgefordert hatte. Daß Goethe die Werke Jacobis nun nicht bloß wenig schätzte, sondern dessen zweiten Roman Woldemar sogar auf Schloß Ettersburg zur Unterhaltung der Weimarer Hofgesellschaft lächerlich machte, indem er das Buch persiflierte und »zur wohlverdienten Strafe, und andern zum schreckenden Exempel, an beyden Ecken der Decke an eine Eiche [nagelte] […], wo es so lange flattern solle, als ein Blat daran wäre«190, konnte selbstverständlich nur zum Bruch der Freundschaft führen. In diesem Fall schlug auch der Vermittlungsversuch von Johanna Schlosser – Jacobis unterdessen mit Goethes Schwager Johann Georg Schlosser verheirateter Tante – fehl, die Goethe wiederum zur Rede stellte. Wie sie Jacobi wissen ließ, erklärte Goethe sein Verhalten unter anderem damit, daß er »den Geruch dieses Buchs; […] (anders

185 JBW I,2, 24. – Nach demselben Muster schreibt Georg Arnold Jacobi noch 16 Jahre später während seiner Italienreise an seinen Vater, daß anläßlich eines Gesprächs mit Friedrich Stolberg über den Anfang des Spinoza-Buches Jacobi ihnen dort »sicht- und fühlbarer« gewesen sei als in Pempelfort (Brief aus Bern vom 21.9.1791; Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 186 JBW I,2, 105–107. 187 Vgl. die Briefe Nr. 414–416, 422 u. 499 der historisch-kritischen Ausgabe des Briefwechsels (JBW). 188 Vgl. bereits die Andeutung Jacobis in seinem Brief vom 25.5.1775: »Ich genieße mehr von dir aus mir selber, als du mir eigentlich darreichst.« (JBW I,2, 12.) In einem undatierten Brief (vermutlich August oder September 1779) an H. C. Boie heißt es dann eindeutig: »[…] aber er [= Goethe] hat mich seit ein paar Jahren auf mehr als eine Weise gekränkt« (JBW I,2, 104); vgl. auch im o. e. Brief an Goethe selbst vom 15.9.1779 (JBW I,2, 106 f.) sowie im Brief an J. G. A. Forster vom 13.11.1779 (JBW I,2, 129). 189 Vgl. den Brief an Wieland vom 15.1.1777 (JBW I,2, 50) und von Wieland vom 27.1.1777 (JBW I,2, 51). 190 Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 126). – Einen schönen Einblick in die Änderungen Goethes am Woldemar-Text gibt Gudrun Schury: Ueberflüßiges Taschenbuch auf Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 1995, S. 100–104.

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wisse er nicht sich auszudrücken;) nicht leiden« könne.191 Diese Erklärung konnte Jacobi naturgemäß nicht beruhigen, sondern war weit eher geeignet, seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Das Urteil über Goethe in seinem Antwortbrief an Johanna Schlosser fällt entsprechend vernichtend aus: »Was Du mir von Göthe schreibst, meine Theure, hat mir den Charackter dieses aufgeblasenen Gecken noch um ein gut Theil eckelhafter und verächtlicher gemacht. Ich kehre ihm auf ewig den Rücken zu, wie fast alle rechtschaffene Männer unsrer Nation lange vor mir schon gethan haben. Sein eigener Geist sey mit ihm, und laße ihn glücklich seyn ohne Gott, ohne Freund, und ohne Tugend. Mir sind diese Nahmen durch meine Bekanntschaft mit Göthe ehrwürdiger als jemahls geworden. Nichts kömmt dem Eindrucke gleich, den, ein Mensch wie ich, davon empfängt, wenn ihm, in einem Menschen wie Göthe, etwas zum Gräuel wird. Du weißt die Geschichte unserer Freundschaft zum Theil; ich wollte daß sie Dir ganz, und so lebhaft gegenwärtig wäre wie mir.« Von den, wie sich gezeigt hat, innig miteinander verwobenen Grundwerten des Jacobischen Lebens und seiner Philosophie: »Gott«, »Freund« und »Tugend«, hat Goethe sich – so Jacobis Auffassung – durch sein Verhalten losgesagt. Angesichts der Tatsache, daß sich gerade in der »heiligste[n] Freundschaft« zu Goethe diese Werte in einem ausgezeichneten Sinne realisieren sollten, ist Jacobis Enttäuschung maßlos (»Nichts kömmt dem Eindrucke gleich«) und der Bruch endgültig: »Ich danke Gott dafür daß wir geschiedene Leute sind.«192 Auch der Versuch von Knebels, der im Herbst 1780 drei Tage bei Jacobi zu Gast war, die Getrennten wieder zu versöhnen, schlug fehl und wurde von Jacobi in der schon gegenüber Johanna Schlosser praktizierten Manier abgewiesen.193 Anders als bei der Auseinandersetzung mit Wieland findet sich – soweit der Briefwechsel hier Rückschlüsse zuläßt – in dieser Angelegenheit niemand, der Jacobi angesichts des Freundschaftsbruchs Vorhaltungen macht. Gleim, der Jacobis Verhalten gegenüber Wieland scharf kritisiert hatte und sich überhaupt gerne vermittelnd in die Streitigkeiten seiner Freunde einschaltete, wobei er auch deutliche Worte nicht scheute,194 schreibt bezüglich des Ettersburger Vorfalls an Jacobi: »Mit Göthen aber

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Brief von J. K. S. Schlosser vom 31.10.1779 (JBW I,2, 119). – Goethe meinte hiermit vermutlich den elitären Charakter des im Roman geschilderten Kreises, den Friedrich Schlegel später in seiner Rezension der Ausgabe von 1796 als »heilige […] Gemeinde« bezeichnen sollte und näher ausführt: »Die Tendenz, ihr Wesen, ihre Thaten und ihre Verhältnisse für sich und unter einander außerordentlich, seltsam, sonderbar und unbegreiflich zu finden, ist eine charakteristische Familienähnlichkeit der Jakobischen Menschen.« (Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 257 u. 260.) 192 Brief vom 10.11.1779 (JBW I,2, 125, 126 u. 128). 193 Vgl. den Brief an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 209). 194 Vgl. hierzu Gleims Selbstbild in seinem Brief vom 21.11.1781 (JBW I,2, 379). – Vgl. über-

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kan ich meinen viel zu lieben Fritz Jacobi nicht versöhnen; Göthe spottet seiner Freunde; der ist glücklich der sein Freund nicht ist, er darf nicht fürchten die unerträgliche Verspottung eines Freundes«.195 Ein härteres Verdikt läßt sich angesichts des hohen Wertes der Freundschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert kaum vorstellen. Für die schriftstellerische Tätigkeit Jacobis blieb die »Verspottung« durch Goethe dennoch nicht folgenlos: Er beschloß zunächst, sich nicht mehr als Romanschreiber zu betätigen.196 Der Bruch schien endgültig: Jacobi unversöhnbar, alle Freunde auf seiner Seite. Goethe antwortete auf Jacobis Brief vom 15. September 1779, in dem dieser ihn mit dem Vorfall in Ettersburg direkt konfrontiert hatte, nicht. Erst drei Jahre später, am 2. Oktober 1782, veranlaßte eine noch ausstehende Geldschuld Goethe, an Jacobi zu schreiben. In diesem kurzen Brief nimmt er in impliziter, aber unzweideutiger Weise auf die Verspottung des Woldemar Bezug: »Wenn man älter und die Welt enger wird denckt man denn freylich manchmal mit Wunder an die Zeiten wo man sich zum Zeitvertreibe Freunde verschertzt, und in leichtsinnigem Ubermuth die Wunden die man schlägt nicht fühlen kann, noch zu heilen bemüht ist. Meine Lage ist glücklich möge es die deine auch seyn.«197 Diese Entschuldigung Goethes, die das eigene Verhalten aus der zeitlichen Distanz in Frage stellt und bedauert, wird von Jacobi offenbar angenommen. Sein Antwortbrief vom 17. Oktober erwähnt den Streitfall in keiner Weise und ist im Stil herzlich, ohne Überschwang. Goethe begegnet der Reaktion Jacobis mit einem weiteren Brief, in dem er – sich eines Gleichnisses bedienend – sein damaliges Verhalten abermals kritisch beurteilt und zugleich einen unterdessen geläuterten Charakter in Aussicht stellt.198 Diese Briefe Goethes stimmen Jacobi versöhnlich; gegenüber der Fürstin Gallitzin, der Jacobi vertraulich Abschriften der Briefe zukommen läßt, bekennt er: »So viel darf ein jeder, welchem Göthes Beleidigung gegen mich bekant geworden, erfahren, daß er dieselbe auf die edelste Weise wieder gut gemacht hat.«199 Wie die »Anecdote«200 von der »Ettersburger WoldemarKreuzigung«,201 so findet auch die Nachricht von der Versöhnung zwischen Goethe dies seinen Brief an Jacobi vom 9.5.1786 (JBW I,5, 198), in welchem er dessen Verhalten gegenüber Mendelssohn und Lessing scharf kritisiert. 195 Brief vom 21.11.1781 (JBW I,2, 379); dort hebt Gleim explizit den Unterschied zu Wieland hervor (S. 380). Vgl. auch Gleims Brief vom 25.11.1781 (JBW I,2, 384). – Zur Einschätzung Goethes vgl. auch im Brief von J. K. S. Schlosser vom 31.10.1779: »Göthe kann gut und brav auch groß seyn, nur in Liebe ist er nicht rein, und dazu würklich nicht groß genug.« (JBW I,2, 120.) 196 Vgl. die Briefe von Lessing vom 4.12.1780 (JBW I,2, 228) und von Gleim vom 21.11.1781 (JBW I,2, 379), die beide Jacobi zur Fortsetzung seiner Romane ermuntern. 197 JBW I,3, 54. 198 Vgl. den Brief vom 17.11.1782 (JBW I,3, 90). 199 Brief vom 26.11.1782 (JBW I,3, 98). 200 Brief an H. C. Boie vom August o. September 1779 (JBW I,2, 104). 201 Vgl. die Briefe an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 5.10.1779 (JBW I,2, 109), von J. G. A.

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und Jacobi rasch Verbreitung. Aus Rom kommentiert Wilhelm Heinse diesen Vorgang in der für ihn typischen respektlosen Manier: »Es ist mir herzlich lieb, daß Sie sich mit Göthen wieder aussöhnen; nun da er geadelt und Kammerpräsident ist, wird er hoffentlich nicht wieder mit Nagel und Hammer auf den Baum steigen.«202 Geradezu nahtlos scheint der ehemals so sehr gekränkte Jacobi an die vergangenen Zeiten, in denen Goethe ihm »die feurigsten Liebesbriefe« schrieb,203 anknüpfen zu wollen. In einem Brief an Goethe vom November 1782 hat er sich wiederum den vormals schon gepflegten, Goethe entlehnten Sprachstil zu eigen gemacht: »Ich habe dein Packet, du Lieber! und ich hang an deinem Halse, O, ganz anders, wie ehmals. Bruder! Unaussprechlich – Wortlos, Bildlos, Begrifflos, heißt dich mein tiefstes Inneres: Bruder! – So viel ich wollte könnt’ ich weinen; aber ich mag der Thränen nicht los seyn, die mir, wie Saft u Blut durch alle Nerven u Adern dringen – Das Schreiben stört mich. Schick mir dein Bild. Ade!«204 Doch Goethe hatte sich längst von diesem – Empfindsamkeit und Sturm und Drang prägenden – Stil verabschiedet. Weimar hatte ihn verändert. Seine Briefe an Jacobi tragen diese Züge nicht mehr. Der Briefkontakt scheint gemäßigter als früher, gleichwohl versichert man sich gegenseitig den Wunsch nach einem persönlichen Wiedersehen. Eine Gelegenheit hierzu sollte sich in der Tat bald finden. Ausgehend von der Wiederversöhnung mit Goethe einerseits und dem seit Mai 1783 bestehenden Briefkontakt mit Herder andererseits bezog Jacobi die beiden in seinen Streit mit Mendelssohn über den Spinozismus Lessings ein. Jacobi sandte eine Abschrift seines Briefes an Mendelssohn Herder zu, bei dem er – aufgrund einer aus seinen Schriften ersichtlichen Affinität zu spinozistischem Gedankengut – großes Interesse an dem verhandelten Gegenstand vermuten durfte. Dies war der Beginn einer ausführlichen Diskussion zwischen Jacobi und den Weimarer Freunden über die Philosophie des Spinoza – zunächst in Form eines intensiven Briefkontaktes, schließlich dann auch in Form eines persönlichen Gesprächs: Jacobi reiste auf Einladung Herders im Herbst 1784 nach Weimar, wo er sich vom 18. bis zum 25. September aufhielt.205 Forster vom 2.11.1779 (JBW I,2, 121), von J. J. W. Heinse vom 8.12.1780 (JBW I,2, 237), von J. K. Lavater vom 17.3.1781 (JBW I,2, 287) und vom 22.4.1781 (JBW I,2, 296) sowie an J. W. L. Gleim vom 16.11.1781 (JBW I,2, 375). – Vgl. zu Lessings Urteil auch den Brief von Jacobi an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 201). 202 Brief vom 18.12.1782 (JBW I,3, 104). – Vgl. zur Verbreitung der Nachricht neben den Briefen an A. von Gallitzin und Heinse auch den Brief von J. G. A. Forster vom 11.2.1783 (JBW I,3, 125). 203 Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 126). Vgl. z. B. die Briefe vom 21.3.1775 (JBW I,2, 6) und vom 12.–20.4.1775 (JBW I,2, 8 f.). 204 Brief vom 22.11.1782 (JBW I,3, 97). 205 Vgl. Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 68. – Vgl. hierzu auch unten das Kapitel V.4.2.

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Wie der erste Briefaustausch nach Jacobis Rückkehr zeigt, führte die erneute Begegnung zwischen Goethe und Jacobi zu einem enthusiastisch erneuerten Freundschaftsbund.206 Wenngleich nun der Spinozastreit auf diese Weise eine Intensivierung des Kontaktes zur Folge hatte, so trat doch gerade in dessen Kontext auch die Verschiedenheit der Auffassungen der nun wiederversöhnten Freunde offen zutage. Für Jacobi war – bei aller Bewunderung für den Philosophen Spinoza – Spinozismus gleichbedeutend mit Atheismus; für Goethe war Spinoza »theissimum« und »christianissimum«. Die Gleichsetzung von Natur und Gott führte für Jacobi geradewegs in Atheismus und Immoralität; Goethe hingegen erschien die Suche des Göttlichen in »rebus singularibus«, »in herbis et lapidibus« als die ihm einzig noch mögliche Form der Religiosität.207 Die Philosophie des Spinoza und insbesondere dessen Naturbegriff bildete den religiös-metaphysischen Rahmen für die Naturforschungen, denen sich Goethe etwa seit dieser Zeit und fortan intensiv widmete.208 Mit der Veröffentlichung der Prometheus-Ode, die im Spinoza-Buch als Initialzündung für das Lessingsche Bekenntnis zum Spinozismus fungiert, kam Goethe zudem »mit Lessing auf Einen Scheiterhaufen zu sitzen«.209 Den hieran offenkundig werdenden Differenzen zwischen Jacobi und Goethe begegneten die beiden Freunde mit unterschiedlichen Strategien. Goethe stellt sich ihnen unverblümt. Hinsichtlich des Spinoza-Buches bekennt er offen: »Du weißt daß ich über die Sache selbst nicht deiner Meinung bin.«210 Noch deutlicher spricht er sich gegen die Streitschrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza aus. In seinem Brief vom 5. Mai 1786 unterwirft er dieses Werk nicht nur einer äußerst scharfen, auch persönliche Angriffe nicht aussparenden Kritik, sondern zieht zudem das rigorose Fazit: »[…] wie wir von einander abstehn hab ich erst recht wieder aus dem Büchlein selbst gesehn«. Allerdings weiß er dieses Urteil mit einem Lob zu verbinden: »Übrigens bist du ein guter Mensch, daß man dein Freund seyn kann ohne deiner Meynung zu seyn«211. 206

Vgl. vor allem den Brief von Jacobi vom 10.10.1784 (JBW I,3, 364 f.). Brief von J. W. Goethe vom 9.6.1785 (JBW I,4, 118 f.). 208 Vgl. den Brief von J. W. Goethe vom 21.10.1785 (JBW I,4, 213). – Zu Goethes Naturstudien vgl. etwa die Briefe an Jacobi vom 12.1.1785 (JBW I,4, 18), 14.4.1786 (JBW I,5, 153), 12.7.1786 (JBW I,5, 297), 3.3.1790 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,9, S. 183 f.), 20.3.1791 (ebd., S. 253), 1.6.1791 (ebd., S. 269 f.) und 2.4.1792 (ebd., S. 297). – Vgl. zum unterschiedlichen Spinozaund Naturverständnis unten das Kapitel V.4.2. 209 Brief von J. W. Goethe vom 11.9.1785 (JBW I,4, 177). – Jacobi rechtfertigt daraufhin in mehreren Briefen sein diesbezügliches Vorgehen und Verfahren im Spinoza-Buch. Vgl. hierzu Goethes Brief vom 26.9.1785 (JBW I,4, 185), dem drei lediglich erschlossene Briefe von Jacobi vom 17., 18. und 21. September (JBW I,4, 184) vorausgehen. In seinem Brief vom 9.10.1785 (JBW I,4, 198 f.) rechtfertigt Jacobi nochmals den Druck – bzw. die Art des Drucks – der Prometheus-Ode. 210 Brief vom 21.10.1785 (JBW I,4, 213). 211 JBW I,5, 196. Dieses Thema bewegte – vor dem Hintergrund der Herausbildung neuer Formen gesellschaftlichen Miteinanders – gewiß nicht zufällig auch andere Zeitgenossen. Vgl. etwa 207

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Doch in diesem Punkte sollte Goethe sich irren, sofern es nicht ohnehin wider besseres Wissen und mehr als Anspruch formuliert war. Zwar führte die harsche Kritik Goethes nicht zu einem abermaligen Freundschaftsbruch, doch riß der Briefkontakt merklich ab und wurde in der Folge zunächst einseitig von Goethe aufrechterhalten. Die Andersartigkeit des Freundes konnte, wie bei Wieland, von Jacobi nicht akzeptiert, nicht hingenommen werden. Wollte er die Freundschaft zu Goethe dennoch retten, so kam nur eine Alternativstrategie in Frage: Ignoranz, Verweigerung, d. h. konsequentes Leugnen der Differenzen. Diese Strategie kennzeichnet in der Tat Jacobis weiteres Verhältnis zu Goethe.212 Sie kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, daß Jacobi die zweite Auflage des Woldemar, jenes Werkes also, das Goethe so schimpflich bloßgestellt hatte, Goethe selber widmete.213 In den »Dimensionen substanzieller Alltäglichkeit«214 pflegte man gleichwohl einen freundschaftlich-vertraulichen Umgang miteinander. Der durchgängig rege Briefwechsel wurde nicht selten von Paketen begleitet, in denen sich neben eigenen Werken, Büchern oder Portraits etwa auch Wein, Mineralien, Infusionstierchen oder eine Gartenspritze befinden konnten. In den Briefen selbst wurde über das eigene Leben und Arbeiten, von unternommenen oder geplanten Reisen sowie Besuchern und Freunden berichtet. Bei der Suche nach zuverlässigen Mitarbeitern half man sich gegenseitig: So etwa vermittelte Jacobi einen Schauspieler aus der Düsseldorfer Theatertruppe auf Goethes Wunsch nach Weimar, wie umgekehrt Goethe sich im Auftrag Jacobis nach einem geeigneten Erzieher für dessen Kinder umsah. Um Jacobis Kinder insbesondere kümmerte Goethe sich intensiv: Er unterstützte Max bei der Einrichtung und Durchführung seines Jenaer Medizinstudiums und verschaffte Georg Arnold Jacobi den Titel eines Regierungsrates.215 Eine Heirat zwischen Jacobis Toch-

in Forsters Brief an Soemmerring vom 23.7.1786: »Man kann ja einen Mann [als Beispiel dient hier Jacobi; C.G.] wohl lieben, wenn man auch verschieden von ihm denkt!« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 518.) Vgl. auch Forsters an Biester gerichtete Eingangsworte in seinem Aufsatz Über Proselytenmacherei, der zuerst in der Berlinischen Monatsschrift erschien (vgl. ebd., Bd. 8, S. 194–219). 212 Vgl. auch Christ: »Antinomien der Überzeugung«, S. 400. 213 Vgl. hierzu die knappe, zurückhaltende Reaktion Goethes in seinem Brief an Jacobi vom 26.4.1794 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,10, S. 152 f.). – Schon im Kontext des Ettersburger Vorfalls war ja äußerst frappant gewesen, wie nachdrücklich Jacobi daran festhielt, daß Goethe das Werk gefallen haben müßte. Vgl. etwa die Briefe an H. C. Boie vom August o. September 1779 (JBW I,2, 104 f.) und an J. W. Goethe vom 15.9.1779 (JBW I,2, 106 f.). 214 Anton: Jacobi und Goethe, S. 141. 215 Vgl. zu Max Jacobi etwa die Briefe von J. W. Goethe vom 22.2. und 17.4.1793 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,10, S. 49 u. 51) sowie die auf diese folgenden Briefe Goethes an Jacobi. – Zu Georg Arnold vgl. die Briefe an J. W. Goethe vom 7.4.1793 (Hecker: Goethe und Fritz Jacobi, Teil 1, S. 67), vom 27.10.–2.11.1793 (ebd., Teil 2, S. 62) sowie von J. W. Goethe vom 17.4., 5.6. und 11.10.1793 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,10, S. 52, 70 u. 113 f.).

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ter Clara Franziska und Fritz von Stein wurde – zumindest scherzhaft – angedacht.216 Auch das in dieser Zeit thematisierte, gegenseitige Verlangen nach einem persönlichen Wiedersehen wurde schließlich ermöglicht durch die Kriegswirren der Französischen Revolution, die in den folgenden Jahren selbstredend ein zentrales Thema der Korrespondenz bildete. Im August 1792 begleitete Goethe seinen Herzog, Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, an die Kriegsfront. Auf dem Rückweg nach Weimar wählte er – aus pragmatischen Gründen – den Umweg über Pempelfort, wo er vom 6. November bis zum 4. Dezember blieb. Wie die bisherigen, persönlichen Begegnungen in Düsseldorf, Frankfurt und Weimar, so scheint auch dieser mehrwöchige Aufenthalt in Pempelfort zu einer emotionalen Intensivierung und Erneuerung der Freundschaft geführt zu haben – so jedenfalls legt es der nachfolgende Briefverkehr nahe.217 Aus dem Erlebnis persönlicher Begegnung schöpfte Jacobi möglicherweise – allen weltanschaulichen Gegensätzen zum Trotz – die Hoffnung auf einen empfindsamen, in der Übereinstimmung der Seelen gründenden Freundschaftsbund. Entsprechend endet Jacobis Brief vom 6. Dezember 1793 mit den Worten: »bin ohne Maaß und Ende Dein treuer Fritz«.218 Wenige Tage später heißt es gar: »Glaube mir, ich kann alles theilen was Du fühlst. Du bist mir kein Anderer.«219 Dieser Distanzlosigkeit Jacobis stand die zwar verbindlich bleibende, aber doch deutliche Distanz Goethes gegenüber; Goethe war sich der Gegensätze vollauf bewußt.220 Die unterschiedliche Wahrnehmung der Freunde fand auch im Briefstil ihren Niederschlag: Den Liebesbeteuerungen Jacobis stehen Goethes simple Anweisungen – »Liebe mich.«, »Gedenke mein.« – gegenüber.221

216 Vgl. hierzu in Goethes Brief an Jacobi vom 11.9.1785: »Weist du was! ich will ihn [= Fritz von Stein] deinem Mädgen erziehen, einen hübschern u bessern Mann kriegt sie doch nicht, da ich doch einmal dein Schwiegersohn nicht werden kann.« (JBW I,4, 177.) 217 Vgl. etwa Goethes Brief aus Münster vom 10.12.1792 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,10, S. 41 f.), aber auch den für Goethe typischen ›Präsentismus‹ in seinem Brief vom 1.2.1793: »Gewöhnlich wenn ich aufstehe besuch ich euch« (ebd., S. 48). 218 Hecker: Goethe und Fritz Jacobi, Teil 2, S. 65. 219 Brief vom 11.12.1793 (ebd., S. 67). 220 Vgl. hierzu rückblickend in seinem Brief vom 10.5.1812: »Die Divergenz zwischen uns beyden war schon früh genug bemerklich, und wir können uns Glück wünschen, wenn die Hoffnung, sie, selbst bey zunehmendem Auseinanderstreben, durch Neigung und Liebe immer wieder ausgeglichen zu sehen, nicht unerfüllt geblieben ist.« (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,23, S. 8). – Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich 1792. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. X, S. 310 f. u. 313 f. 221 Vgl. Schury: Goethe und Jacobi, S. 37 f. – Vgl. zum unterschiedlichen Briefstil die Briefe in der Ausgabe von Max Jacobi (Hg.): Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi. Leipzig 1846, S. 135, 136, 136 f. u. 139. – Solche Liebesanweisungen scheinen allerdings auch die Briefe Goethes an Schiller zu enthalten (vgl. Oellers: Brief als Mittel, S. 33).

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Es nimmt daher nicht Wunder, daß es schließlich doch zum Bruch der Freundschaft kommen mußte. Ebensowenig überrascht es, daß dieser Bruch nicht von Jacobi vollzogen wurde. Schon die Wiederbegegnung in Weimar im Jahre 1805 führte auf seiten Goethes zu deutlichen Irritationen über die gewaltige Kluft zwischen den einstigen Freunden.222 Aber erst der in Jacobis letzter großer Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung enthaltene Angriff auf die Naturphilosophie Schellings sollte das Freundschaftsverhältnis endgültig beenden. Auf den Streit mit Schelling, aber auch auf sein problematisches persönliches Verhältnis zu Jacobi rückblickend schreibt Goethe am 8. April 1812 an Karl von Knebel: »Daß es mit Jacobi so enden werde und müsse, habe ich lange vorausgesehen, und habe unter seinem bornirten und doch immerfort regen Wesen selbst genugsam gelitten. […] Ich mag die mysteria iniquitatis nicht aufdecken; wie eben dieser Freund, unter fortdauernden Protestationen von Liebe und Neigung, meine redlichsten Bemühungen ignorirt, retardirt, ihre Wirkung abgestumpft, ja vereitelt hat. Ich habe das so viele Jahre ertragen […], und jetzo werde ich mich’s freylich nicht anfechten lassen, wenn sein graues Haupt mit Jammer in die Grube fährt. Sind doch auch in dem ungöttlichen Buch von göttlichen Dingen recht harte Stellen gegen meine besten Überzeugungen, die ich öffentlich in meinen auf Natur und Kunst sich beziehenden Aufsätzen und Schriften seit vielen Jahren bekenne und zum Leitfaden meines Lebens und Strebens genommen habe«.223 In Jacobis Streit mit Schelling um die »Göttlichen Dinge« stellte sich Goethe somit ganz auf die Seite Schellings. So unterschiedlich nun der Verlauf der Freundschaften zu Wieland einerseits und zu Goethe andererseits war – und zwar nicht nur hinsichtlich der konkreten Inhalte oder des Zeitraums, sondern auch hinsichtlich der sprachlichen Ausdrucksformen oder der Transzendierungsmodi –, so deutlich zeigt sich doch gleichwohl der gemeinsame Kern: Jacobis striktes Festhalten am empfindsamen Freundschaftsideal, das eine unbedingte Übereinstimmung der Seelen fordert, und sein Zerbrechen an eben222

Vgl. hierzu Christ: »Antinomien der Überzeugung«, S. 400 f.; zum Verhältnis zwischen Goethe und Jacobi nach 1794: ebd., S. 400–405. 223 Zit. nach Walter Jaeschke (Hg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Quellenband. Hamburg 1994 (= Philosophisch-literarische Streitsachen; Bd. 3.1) [im folgenden PLS 3.1 mit Seitenzahl], S. 319. – Vgl. aus Goethes autobiographischen Aufzeichnungen auch: »Jacobi ›von den göttlichen Dingen‹ machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angebornen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?« (Ebd., S. 317.)

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diesem Ideal. Wenn man nun annimmt, daß diese Struktur ausschließlich die in jungen Jahren und noch unter dem nachhaltigen Einfluß von Empfindsamkeit und Sturm und Drang geschlossenen Freundschaften zu Wieland und Goethe prägt, sich mit zunehmendem Alter und abnehmendem Einfluß der Empfindsamkeit aber verliert, dann sieht man sich getäuscht: Die erst Ende der 1780er Jahre geschlossene, ja erst zu Beginn der 1790er Jahre durch eine persönliche Begegnung besiegelte Freundschaft zwischen Jacobi und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg folgt exakt derselben Struktur: Ein zunächst überaus enthusiastisch geschlossener Freundschaftsbund wird im Laufe der Jahre aufgrund der immer deutlicher werdenden Differenzen brüchig und kommt schließlich an sein unausweichliches und unversöhnliches Ende.

3.2.3 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg Schon die frühesten Spuren der Bekanntschaft zwischen Stolberg und Jacobi in den Briefen künden von einer großen gegenseitigen Wertschätzung. Man würdigte und bewunderte die Werke des »anderen Fritz« und fühlte sich seinem Denken verwandt. So äußert sich Jacobi bereits im Jahre 1777 in einem Brief an Klopstock begeistert über Stolbergs Ilias-Übersetzung,224 und den Herausgeber des Deutschen Museums, Heinrich Christian Boie, fordert er Mitte 1779 auf, sich doch mit Stolberg und Klopstock darüber zu beraten, wie man auf eine Rezension – vermutlich seines Woldemar – durch Merck tunlichst reagieren sollte.225 Auch auf seiten Stolbergs finden wir eine überschwengliche Begeisterung für Jacobis Werk. Diese äußert sich erstmals anläßlich von Jacobis 1782 anonym erschienener politischer Schrift Etwas das Leßing gesagt hat. Ein Commentar zu den Reisen der Päpste nebst Betrachtungen von einem Dritten. Der diese Schrift betreffende Brief Stolbergs an Jacobi ist zwar nicht überliefert,226 aus den Briefen an seinen Bruder Christian und an Ernst Schimmelmann vom Januar 1783 geht jedoch deutlich hervor, wie nachdrücklich Stolberg Jacobis Überzeugungen teilte. An Schimmelmann schreibt er: »Ich schicke Dir hier ein Büchlein welches mir unendlich viel Freude gemacht, auch sehr oft an Dich erinnert hat. Ich beneide den Franzosen nicht mehr ihren Montesquieu. Er schoß mit Pfeilen, wohl hinter dem Schilde sich sichernd, dieser stöst dem Drachen den Stal in den Leib. Der Verfasser ist (aber ich sage Dir das unter dem Siegel der Freundschaft, denn es könnte ihm schaden) Jacobi, Bruder des Dichters. Derselbige welcher den Woldemar geschrieben hat.

224 225 226

Vgl. den undatierten Brief von Mitte 1777 (JBW I,2, 65). Vgl. den undatierten Brief von August oder September 1779 (JBW I,2, 105). Vgl. JBW I,3, 111. – Zur Schrift vgl. JWA 4,1, 301–346.

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Ich zöge gern avec un baton blanc durch Deutschland, u predigte, das Büchlein in der Hand.«227 Jacobis liberales Gedankengut – Frederick C. Beiser bezeichnet Jacobi als einen der ersten liberalen Denker in Deutschland228 –, sein entschiedenes Eintreten für die Freiheits- und Eigentumsrechte des Individuums sowie gegen Despotismus jeglicher Couleur, fiel offenbar bei Stolberg auf fruchtbaren Boden, der von seiner Göttinger Hainbund-Zeit an gegen Tyrannei und Absolutismus angetreten war. Aber nicht nur in den politischen Überzeugungen, sondern auch auf philosophischem Gebiet erblickte Stolberg in Jacobi einen Gesinnungsgenossen. In dem die Zeit bewegenden Pantheismusstreit, der durch Jacobis Veröffentlichung seiner Briefe an Mendelssohn über den Spinozismus Lessings ausgelöst worden war, ergriff Stolberg wiederholt Partei für Jacobi.229 Dabei ging es Stolberg vor allem darum, »daß bey dieser Gelegenheit die Rechnungsbücher der monopolisch Warheitpachtenden Wolfischen Philosofie […] durch den wackren Jacobi […] sind beleuchtet, auch dem Engel u: Compagnie die Flügeleien sind versengt worden«.230 Den Gegensatz zur Schulmetaphysik Leibniz-Wolffischer Provenienz bildete dabei vor allem ihre gemeinsame Überzeugung, daß sich die »Schönheit der Tugend« und die »Existenz Gottes« nicht rational demonstrieren lassen.231 Aufgrund dieser – zunächst nur aus der Lektüre der Schriften erschlossenen – Übereinstimmung in der Denkungsart sowohl in politischer als auch in philosophischer Hinsicht nimmt es nicht Wunder, daß Stolberg, noch bevor es zu einem kontinuierlichen Briefwechsel zwischen ihm und Jacobi kam, an seinen Bruder Christian schrieb: »Ich sehne mich sehr darnach den Mann zu sehen den ich so sehr ehre u: liebe. Mich deucht er ist Geist von unserm Geist u: Herz von unserm Herzen.«232 Die Seelenverwandtschaft, das Einssein der Seelen, das Voraussetzung und Signum der Freundschaft ist, wird hier erstmals explizit ausgesprochen. Von daher war es nur 227

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe. Hg. von Jürgen Behrens. Neumünster 1966 (= Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 5), S. 149. Der Brief datiert vom 16.1.1783. – Vgl. auch den Brief an Christian Stolberg vom 15.1.1783 (ebd., S. 148). 228 Vgl. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 15 u. ö. 229 Vgl. die Briefe an J. H. Voß vom 27.2.1786 (Stolberg: Briefe, S. 192 f.), an C. Stolberg vom 29.–30.5.1786 (ebd., S. 195 f.), an G. A. von Halem vom 30.5.1786 (ebd., S. 198), an J. A. Ebert vom 20.10.1786 (ebd., S. 206) sowie an C. Stolberg vom 8.5.1787 (ebd., S. 222 f.). 230 Brief an J. A. Ebert vom 20.10.1786 (ebd., S. 206). Vgl. auch im Brief an C. Stolberg vom 8.5.1787: »Ich habe schon ziemlich weit in Jacobi’s Buch gelesen, es ist sehr interessant. Von Anfang an habe ich diesem metaphysischen Krieg mit vielem Interesse gegen meine Gewohnheit zugesehen, weil es auf das to be or not to be unsrer Feindin, der Wolfischen Philosophie ankommt; mich däucht Kant und Jacobi (den erstern kenne ich nur aus den Citaten des letztern) bringen ihr tödtliche Wunden bei.« (Ebd., S. 222 f.) 231 Brief an C. Stolberg vom 29.–30.5.1786 (ebd., S. 196). 232 Brief vom 29.–30.5.1786 (ebd.).

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konsequent, daß Stolberg Jacobi in seinem ersten überlieferten Brief vom 28. April 1788 sogleich, den Gepflogenheiten des Jahrhunderts in solchen Fällen folgend, mit »Freund und Bruder«233 ansprach und Jacobi diese Anrede in seiner prompten Antwort vom 7. Mai 1788 erwiderte.234 Eröffnet war damit die Zeit eines steten Briefwechsels zwischen den beiden, der erst mit Jacobis Flucht nach Holstein Ende 1794 abbrach. Mit dem Beginn des Briefwechsels tritt die Freundschaft in eine neue Phase. Doch auch und gerade im Medium dieses persönlichen schriftlichen Austauschs persistieren die registrierten Übereinstimmungen in Philosophie und Politik. Einig war man sich insbesondere in der Ablehnung der Berliner Aufklärer, zu denen neben den schon Erwähnten, Mendelssohn und Engel, vor allem der Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Friedrich Nicolai, und die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Johann Erich Biester und Friedrich Gedike, zählten. Stolberg hatte Gelegenheit, diese Gruppe auch persönlich kennenzulernen: zunächst im Jahre 1785 anläßlich seiner Gesandtschaftsreise über Berlin und Königsberg nach St. Petersburg, dann in den Jahren 1789/90 während seines insgesamt 16monatigen Aufenthalts als dänischer Gesandter »in der unter andern auch physikalischen Sandwüste von Berlin«.235 Insbesondere »die Procedur der Berlinischen Inquisitionsräthe«236 gegen den gemeinsamen Freund Lavater und andere stieß auf ihre uneingeschränkte Ablehnung. Ziel dieser »Procedur« war es, so Stolberg, »daß die Sache der Religion mit der schändlichen Sache unserer neuern Thaumaturgen und Magier verwechselt werde. Unsers lieben und dreimal lieben Lavaters Schwächen haben sie dazu genutzt.«237 Jacobi sah die Angelegenheit ebenso: »Ganz bin ich, mein Liebster, darüber mit Ihnen einig, daß die Berliner eigentlich nur bemüht sind, die Sache des Christenthums und des Aberglaubens in Eins zu werfen, und den Geist aller Offenbarung verdächtig zu machen«.238 Eine auf die Vernunft sich gründende Religion, wie sie von den »Berlinern« vertreten wurde, lehnten beide ab, da sie letzlich zum Atheismus führe. Auch die Übereinstimmung zwischen Stolberg und Jacobi hinsichtlich ihrer politischen Auffassungen bestätigte sich in dieser Phase ihrer Freundschaft vollkommen. Der Ausbruch der Französischen Revolution wurde von beiden begrüßt. Ausdruck findet der Gleichklang unter anderem in einem Brief Stolbergs, der wieder einmal die mit Schrift verbundene und – über sie hinausschießend – in Gang gesetzte Phantasmatik belegt: Die sich an Schriftlichkeit einerseits, an die Identitätskonstruktion und Freundschaft andererseits knüpfenden Visionen einer weitergehenden, auch sinnlichen Präsenz des Abwesenden nämlich (wie es durch spätere Techniken auch tatsäch233 234 235 236 237 238

AB I, 461. Vgl. AB I, 477. Brief von Stolberg vom 16.3.1790 (Stolberg: Briefe, S. 260). Brief von Stolberg vom 28.4.1788 (AB I, 459). AB I, 461. – Vgl. hierzu und zum folgenden unten das Kapitel VI.4. Brief vom 7.5.1788 (AB I, 478).

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lich realisiert werden sollte), begegnen hier in einer dem Goetheschen ›Präsentismus‹ durchaus verwandten Weise. Denn am 12. September 1789 schreibt Stolberg aus Berlin an den Pempelforter Jacobi: »Zuweilen hörte ich Euch über Frankreich jauchzen.«239 Stolberg konnte wie selbstverständlich von einer Einigkeit in dieser Angelegenheit ausgehen. Beide verlangten sie längst nach einer Abschaffung von Tyrannei, Despotismus und Absolutismus, nach der Durchsetzung einer Freiheitsidee, für die sie immer eingetreten waren. Im Rahmen der Beobachtung der französischen Zustände kamen sie insbesondere in der uneingeschränkten Bewunderung der Person Jacques Neckers, des ehemaligen französischen Finanzministers, überein.240 Ebenso einig waren sie sich aber auch in ihrer baldigen Ablehnung der Revolution.241 Stolberg hegte Zweifel an der Fähigkeit der Franzosen und beklagte, daß die notwendige Grundlage der Freiheit, nämlich Tugend, den Revolutionären vollständig fehle. Ohne diese aber ließe sich jene Art von Freiheit, wie Stolberg sie anstrebte, nicht verwirklichen. An dieser Stelle kommt »die politische Grundmaxime Stolbergs« zum Tragen, »daß sich Freiheit nur auf Sittlichkeit, diese aber sich nur auf Religion gründen könne«.242 Fehlt diese Grundlage, so muß es nach Stolberg zu einer neuen Form des Despotismus kommen.243 Jacobi kam auf der Grundlage einer dezidierten Analyse der revolutionären Ideologie zu demselben Schluß. Die von Mirabeau beschworene »manière fixe d’être gouverné par la seule raison« konnte, so Jacobi, nur im Terror enden, da aus der Vernunft selbst niemals moralische Grundsätze hergeleitet werden 239

Zoeppritz I, 113 f. Vgl. den Brief von Jacobi vom 14.12.1789 (Zoeppritz I, 124) sowie den Brief von Stolberg vom 8.2.1790 (Zoeppritz I, 133). – Vgl. auch den Brief von Stolberg vom 12.9.1789 (Zoeppritz I, 114). 241 Vgl. im Brief Jacobis an »Frau Doctorin Reimarus in Hamburg« (= Christina Sophia Louise Reimarus, geb. Hennings, die 2. Ehefrau des Dr. Johann Albert Henrich Reimarus) vom 6.8.1792: »Meine Freude an der französischen Revolution hörte schon im August 1789 auf, und ich bin seitdem nur immer trostloser geworden.« (AB II, 95.) – Diese Aussage könnte auch von Stolberg stammen, der sich im August 1789 bereits kritisch äußerte und dessen Skepsis in den folgenden Jahren zunahm, bis schließlich die anfängliche Begeisterung in totale Ablehnung umschlug. Vgl. hierzu vor allem Wolfgang Martens: Stolberg und die Französische Revolution. In: Gonthier-Louis Fink (Hg.): Les Romantiques allemands et la Révolution française. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Actes du Colloque International. Strasbourg, 2.–5.11.1989. Straßburg 1989, S. 41–54. – Vgl. auch den Brief von Jacobi vom 14.12.1789 (Zoeppritz I, 124) sowie die Briefe von Stolberg an G. A. von Halem vom 30.1.1791 (Stolberg: Briefe, S. 267) und an Jacobi vom 4.11.1792 (ebd., S. 295 f.; vgl. Zoeppritz I, 163 f.). Deutlich kritisch ist Stolberg auch in seinen Briefen vom 17.2.1793 (Stolberg: Briefe, S. 297; vgl. AB II, 128) und vom 6.12.1793 (AB II, 136). 242 Jürgen Behrens: Numa. Ein unveröffentlichter Roman von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 69 (1965), S. 103–120, hier S. 104. – Vgl. dazu unter anderem den Brief Stolbergs an G. A. von Halem vom 11.1.1792 (Stolberg: Briefe, S. 280) sowie den Brief von Sophie Stolberg vom 17.4.1791 (Johannes Janssen: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1877, hier Bd. 1, S. 265). 243 Vgl. den Brief von Stolberg vom 13.1.1793 (Stolberg: Briefe, S. 297; vgl. AB II, 119 f.). 240

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könnten. Zudem übersehe sie in ihrer Reduktion des Menschen auf die Vernunft die »thierischen Triebe« im Menschen und lasse die jeweilige Besonderheit des Individuums unberücksichtigt.244 Stolberg und Jacobi traten so im Laufe der Jahre in heftige Gegnerschaft zur Französischen Revolution.245 In welchem Ausmaße die zugleich produktive und problematische Allianz von inszenierter Nähe und faktischer Abwesenheit, wie sie das Medium der Schrift – insbesondere aber der persönliche Brief – ermöglicht, Gegensätze nivelliert, wird hier schon ansatzweise deutlich: Die jeweiligen Begründungen für die Zurückweisung der Französischen Revolution sehen doch recht unterschiedlich aus. Ein weiteres, unter anderem von Albrecht Koschorke hervorgehobenes Moment empfindsamer Schriftkultur, daß die persönliche Abwesenheit nicht nur nichts hindert, sondern erst eigentlich den ungehinderten Zusammenfluß der Seelen ermöglicht, zeigt sich am Beispiel der Suche Stolbergs nach einem Hofmeister für seine Kinder.246 Die diesbezügliche Anfrage bei Jacobi ist gekennzeichnet durch eine zweifache Absenz. Denn mit Jacobi bat er einen Menschen um Rat, dem er noch nicht persönlich begegnet war. Und diesem nie Gesehenen schrieb er zudem am 17. Juli 1790: »Ich kenne nur 3 Menschen, auf deren Empfehlung ich es wagen darf, einen ungesehenen zu nehmen; Funk, Heß und Sie.«247 Die über die Schrift – Werke und Briefe – erfahrene und hergestellte Nähe vermag eine doppelte Abwesenheit offenbar problemlos zu kompensieren. Wie gesagt: Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Stolberg und Jacobi war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekommen.248 Zwei Norddeutschland-Reisen Jacobis hatten nicht zu einem Zusammentreffen der beiden geführt. Im Juli

244

Vgl. vor allem Friedrich Heinrich Jacobi: Bruchstück eines Briefes an Johann Franz Laharpe. Mitglied der französischen Akademie (JWA 5,1, 171–183). – Vgl. hierzu ausführlicher Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi und die französische Revolution. In: Düsseldorfer Jahrbuch 66 (1995), S. 191–220, hier S. 207–212. 245 Daß dies keineswegs einen radikalen Bruch im politischen Denken Stolbergs darstellt, hat Jürgen Behrens deutlich herausgestellt. Vgl. Jürgen Behrens: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Portrait eines Standesherrn. In: Christian Degn und Dieter Lohmeier (Hg.): Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark. Neumünster 1980 (= Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 14), S. 151– 165, hier S. 162. Dirk Hempel hat die Kontinuität in den politischen Anschauungen Stolbergs in seiner Dissertation herausgearbeitet und ausführlich belegt (vgl. Hempel: Stolberg). 246 Vgl. die Briefe von Stolberg vom 17.7.1790 (AB II, 34–36) und vom 21.8.1790 (AB II, 39). – Vgl. Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 620 f.; vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 239. 247 AB II, 34. 248 Vgl. »meinen ungesehenen Freund und Bruder Jacobi« (Brief vom 19.5.1789; AB I, 501; vgl. auch Stolberg: Briefe, S. 243). Vgl. auch die Briefe vom 19.1.1789 (Zoeppritz I, 111) und vom 8.2.1790 (Zoeppritz I, 132). Ausdrücklich wird der Wunsch nach einem persönlichen Treffen geäußert in einem Brief Stolbergs vom 16.3.1790 (Zoeppritz I, 141; vgl. Stolberg: Briefe, S. 260).

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1780,249 als Jacobi seine beiden ältesten Söhne von Wandsbek abholte, wo sie zwei Jahre lang von Matthias Claudius erzogen worden waren, lernte er zwar dessen Bruder Christian kennen, aber »Graf Fritz und die Schwestern alle waren in Dänemark«.250 Auch im August 1789 kam es nicht zum persönlichen Kontakt, da Friedrich Stolberg, der zu jener Zeit dänischer Gesandter in Berlin war, nicht rechtzeitig beurlaubt werden konnte.251 Erst im Juli 1791 begegnete man sich persönlich. Stolbergs Schweiz- und Italienreise führte ihn über Osnabrück und Münster nach Pempelfort zu Friedrich Heinrich Jacobi. Diese Begegnung hat – so jedenfalls der Tenor der anschließenden Briefe – auf beide einen tiefen und ihre Freundschaft bestätigenden Eindruck gemacht. In seinem Brief vom 21. August 1791 teilte Jacobi Lavater mit: »Drei Wochen brachte der herrliche Stolberg, mit seinem eben so guten als geistreichen Weibe bei mir zu, und mir ist seit Jahren nicht so wohl gewesen als in diesem Umgange. Auch am Leibe wußte mich der Mann gesund zu machen.«252 Und Stolberg besang, kaum daß er Pempelfort verließ, den geschlossenen Freundschaftsbund in einem Brief an Jacobi geradezu hymnisch: »Sehr glücklich machte mich Ihre Freundschaft, Herzgeliebter, als ich Sie nicht gesehen hatte und dennoch Sie innig liebte; aber nun nach der Prüfung des Glaubens, wie beseligt mich der festere, ewige Bund nach dem Schauen! Unsere Herzen schlugen hoch in Wellen und vereinigten sich wie zwei Ströme, die nun mit vereinten Wassern dem herrlichen Ocean zueilen. Lieber Bruder, mir wird jedesmal so innig wohl bei dem Gedanken an unsern Bund. Wahre Kraft hienieden ist nur in Vereinigung der Guten; sie ist der Bündel Pfeile in der Hand des Starken; alle Kräfte des Widersachers sind nur einzeln, so viel ihrer auch seyn mögen. Ihr Bild und der lieben Schwestern begleitet, belebt, beseelt uns oft. Wir wollen, wir werden in trauter Gemeinschaft mit einander bleiben, bis einem nach dem andern das Herz bricht, und dann wird die Knospe unserer Freundschaft zur ewigen Himmelspflanze sich entfalten.«253 Dieser Brief Stolbergs ist angefüllt mit Zitationen von Elementen jenes Freundschaftskultes, der im Dichterbund »Göttinger Hain« zelebriert worden war, dessen Mitglied Stolberg etwa 20 Jahre zuvor gewesen war und dessen Losungen und Motive

249

Der Brief Jacobis vom 15.7.1780 aus Wandsbek gibt an, daß Jacobi »vorgestern« erst dort eingetroffen sei (JBW I,2, 157). Der 2. August ist im Brief vom 23.7.1780 als Abreisetag avisiert; am 4.8. schreibt Jacobi aus Celle (JBW I,2, 158 f.). 250 Brief an Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 204). 251 Vgl. den unveröffentlichten Brief aus Emkendorf vom 17.8.1789 (Handschrift). 252 AB II, 62. – Die Stolbergs waren vom 11. bis zum 30. Juli 1791 in Pempelfort zu Gast (vgl. den Brief Stolbergs an Voß vom 29.7.1791; Stolberg: Briefe, S. 274). 253 Brief vom 5. August 1791 (AB II, 60; vgl. Stolberg: Briefe, S. 275). – Zum zentralen Motiv der endgültigen Vereinigung – »heavenly or otherwise« – vgl. Lee: Displacing authority, S. 166 f.

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der Dichtung des zeitlebens verehrten Klopstock entnommen waren: Der »ewige Bund« etwa ist das zentrale Motiv jenes Wahlspruchs der Hainbündler, den sie Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain entlehnten: »Die Zwillingsbrüder Alzes graben In Felsen euch das Gesetz der heiligen Freundschaft: Erst des hingehefteten Blickes lange Wahl, Dann Bund auf ewig! (Vers 93–96)«254 Die »Vereinigung der Guten«, um ein weiteres Element des Freundschaftkultes zu nennen, war schon im ersten Gesang des Messias unter dem vielzitierten Stichwort der »wenigen Edlen« beschworen worden. Ebenso wie der »ewige Bund« gehörte diese Losung wesentlich zum Selbstverständnis der Hainbündler. An diese Topoi anknüpfend schilderte Jacobi drei Monate später in einem Brief an seinen Sohn Georg Arnold, der Stolberg auf seiner Italienreise begleitete und der ihn brieflich um ein Geburtstagsschreiben für Stolberg gebeten hatte,255 eine Geburtstagsfeier für den abwesenden Freund Stolberg im Pempelforter Garten. Sie präsentiert sich als eine kaum mehr zu überbietende kultische Inszenierung von Freundschaft – und zwar insbesondere unter nostalgischer Zitation von Topoi des Göttinger Hains.256 Die Beschreibung beginnt damit, daß der angeblich ahnungslose Jacobi abends unter einem Vorwand in den Garten geführt wird. Dort präsentiert sich ihm folgendes Bild: »Unten beym Berceau hatten wir von Weitem eine Menge Lichter nah am Teiche gesehen. Da wir nun am Bach herum oben an den Teich kamen sahen wir keine Lichter mehr, sondern etwas Durchsichtiges das erleuchtet war u ohngefähr die Gestalt einer Pyramide hatte. In der Mitte loderte eine helle Flamme. Da wir näher hinzu kamen entdeckten wir einen Altar mit einer Inschrift. Auf dem Altar loderte die Flamme. Darüber schwebte Vater Stolbergs Nahme mit dem Jahre und Tage seiner Geburt, umgeben mit einem Kranze von Eichenlaub, der sich durch eine goldene Leyer wand. Lebendige Zweige von Lorbeeren machten die Einfaßung, u griffen mit in die Leyer. Aus der Krone der Linde senkten sich zu beyden Seiten Kränze von Blumen und grün herab – Kränze wie Ströhme – und umfloßen den

254

Alfred Kelletat: »Der Bund ist ewig«. Gedanken zur poetischen Topographie des Göttinger Hains. In: Ders. (Hg.): Der Göttinger Hain. Stuttgart 1967, S. 401–446, hier S. 409. 255 Vgl. den Brief von Georg Arnold Jacobi vom 16.10.1791 (Handschrift: Heinrich-HeineInstitut, Düsseldorf). 256 Als Vorbild diente vermutlich vor allem das im Vossischen Musenalmanach von 1778, S. 73 ff. publizierte Gedicht von Johann Heinrich Voß Elegie am Abend nach der zwölften Septembernacht, 1773. Vgl. hierzu Kelletat: Der Göttinger Hain, S. 267–272 u. 340.

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Altar. Es war ein schöner Anblick. Nacht u sanfte Erleuchtung machten daß das Gehölz dichtes Gebüsch schien. Im Teiche u darüber der Himmel voll Sterne. Weiter, im Fernen, Mondlicht. Ich stand an der hohen Thränenweide u las die Inschrift: ›Glücklich wem ein edler Freund zu Theil ward. Ihm sproßet Seegen von den Göttern und Menschen unter den Füßen hervor. – Das Herz klopfte mir gewaltig unter dem Lesen, und die Augen blieben nicht trocken.«257 Zweierlei läßt sich hier ablesen: Zum einen ist die Sakralisierung der Freundschaft, die das Freundschaftskonzept des 18. Jahrhunderts auszeichnet und auch bereits in bestimmten Formen in den Freundschaften zu Wieland und Goethe sichtbar wurde, in dieser Gestalt auf ihren kultischen Höhepunkt getrieben: Freundschaft ist heilig, man huldigt ihr auf Altären, und das ewige Licht leuchtet ihr. Bisher der (christlichen) Religion vorbehaltene Attribute werden nun einem innerweltlichen, zwischenmenschlichen Bereich zugeschrieben. Freundschaft wird zum Absolutum und ist, wie August Langen bereits Mitte der 1960er Jahre festhielt, ein Musterbeispiel (nicht nur) der »sprachlichen Säkularisation« im 18. Jahrhundert.258 Einer der Väter dieser Sakralisierung der Freundschaft war, wie bereits im Eingangskapitel kurz dargestellt, Friedrich Gottlieb Klopstock.259 Er war derjenige, der die Freundschaft zu einem heiligen Gegenstand erhob und so maßgeblich zum Freundschaftsenthusiasmus der Zeit beitrug. ›Heilig‹ ist nach Klopstock nicht mehr Gott allein, sondern auch die Freundschaft. Der Dichter der heiligen Gegenstände ist eine Art Priester. Klopstock hat diese Rolle des ›Liturgen‹ vor einer Gemeinde in seiner Freundschaftslyrik eingenommen: »Er erhob die Freundschaft zum ›Tempel der Dichtkunst‹, dessen Priestertum er selbst zu verwalten beanspruchte.«260 In diese Nachfolge Klopstocks stellten sich auch die Mitglieder des Göttinger Hainbundes. Nicht zufällig fand demnach die Sakralisierung der Freundschaft gerade in der Begegnung zwischen Jacobi und Stolberg ihren kultischen Höhepunkt. Auch der Freundschaftsbund der Göttinger wurde in einer Mondnacht in freier Natur auf ewig geschlossen. Die heilige Freundschaft wurde von den jungen Dichtern des 257

Brief an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Der Brief ist mit Auslassungen gedruckt in Zoeppritz I, 154–158. 258 Vgl. hierzu August Langen: Zum Problem der sprachlichen Säkularisation in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83 (1964). Sonderheft zur Tagung der deutschen Hochschulgermanisten, S. 24–42. Vgl. auch Papmehl-Rüttenauer: Das Wort HEILIG. – Weitere Beispiele findet man etwa in Hanselmann: Gleim, S. 13 u. 20 f. sowie Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996 (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte; Bd. 127), S. 309 (Maurer zit. hier Johann Caspar Lavater: Etwas über Pfenningern von Lavater. H. 1–2: Zürich 1792; H. 3–6: Zürich 1793). 259 Vgl. hierzu und zum folgenden Beck: »Der Bund ist ewig«, S. 52–68 – Vgl. auch Kaiser: Klopstock, bes. S. 342 u. 346. 260 Beck: »Der Bund ist ewig«, S. 61.

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Hainbundes hymnisch gefeiert und besungen. Die »goldene Leyer« als Symbol für den die Freundschaft besingenden Dichter oder der »Kranz von Eichenlaub« – die Eiche galt den Hainbündlern als der heilige Baum der Vorfahren, dem in ihrer ›vaterländischen‹ Dichtung ein hoher Symbolgehalt zukam – haben zudem in der Freundschaftslyrik der Göttinger einen festen Platz. Der pseudoreligiöse Nimbus des Göttinger Freundschaftsbundes zeigte sich zudem in den regelmäßig stattfindenden Bundesversammlungen. Diese folgten »mit der Lesung, der anschließenden Exegese und dem gemeinsamen Mahl« dem Vorbild der Liturgie.261 Auch die Inszenierung im Pempelforter Garten bediente sich solcher liturgischen Elemente: Musik, Gesang und gemeinsames Abendmahl sind die Elemente der im weiteren ausführlich beschriebenen Feierlichkeiten in Pempelfort, wo der empfindsame Kreis der »wenigen Edlen« – bestehend aus Familie und Freunden – die Gemeinde gebildete: »Indem ließ sich eine sanfte Musik wie aus weiter Ferne hören […] In die Instrumenten fiel nun ein Chor Stimmen von Flauten begleitet ein: Süße heilige Natur u.s.w. Das Chor wechselte mit den Instrumenten, u das piano mit dem forte das ganze Lied durch so trefflich ab, daß ich in die äußerste Rührung versetzt wurde, u bey der letzten Strophe, die Lotte hinzugesetzt hatte: Heil dem Freundespaar das hier Treu geleitet ward von dir! Folgen wirds der Mutterhand; Froh bis an des Grabes Rand! Während dem Absingen dieser letzten Strophe hielt ich mich nicht mehr; die Thrähnen ströhmten mir über die Wangen. Nun sprang das ganze Chor mit jauchzen aus dem Gebüsche der Ulmen Vertiefung hervor. Sie fanden einen Mann, der ihnen kein Wort sagen, der, vor Beben ihnen kaum die Hand reichen konnte, u nun die Scham dran geben, u mit aufgedecktem Angesicht weinen mußte – dem Max, der später aus dem Gebüsch hervor kam, fiel ich mich [sic] Schluchzen um den Hals, u bat für ihn zu Gott um einen Freund, um Fülle der Liebe zu Stollberg, um ein ähnliches Glück, wie seinem Bruder zu Theil geworden sey. Meinen Dank brauchte ich keinem zu sagen; er stand leibhaftig da in meiner Rührung, und alle fühlten sich durch die Mittheilung dieser Rührung belohnt, wie sie es nicht erwartet hatten.« Alle Elemente des Freundschaftskultes sind hier versammelt: Die Natur gibt die 261

Vgl. Ulrike Leuschner: Stolberg im ›Göttinger Hain‹. In: Frank Baudach, Jürgen Behrens u. Ute Pott (Hg.): Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im September 1997. Eutin 2002 (= Eutiner Forschungen; Bd. 7), S. 35–56, hier S. 37.

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empfindsame Szenerie, Jacobis Rührung ist vollkommen und der empfindsame Tränenstrom fließt unaufhaltsam. Das in der Werteskala der Empfindsamkeit und der Philosophie Jacobis höchste Gefühl – die reine, nur auf den Anderen ausgerichtete Liebe – gewinnt in dieser Szene Gestalt: Da – gemäß Jacobis Berichterstattung – das Fest von Lotte und Eduard Jacobi mit Hilfe anderer Familienmitglieder geplant und durchgeführt wurde, erscheint es als in aufopferungsvoller Hingabe für Jacobi und Stolberg arrangiert. Zudem ist Jacobis Rührung als Lohn sogleich vollständig in den Dienst der Anderen gestellt und, statt im Selbstgenuß stehenzubleiben, bittet Jacobi für seinen Sohn Max um eine ebensolche Freundschaft und Liebesfülle. Im Jacobischen Wohnhaus kam die Huldigung der Freundschaft zwischen Jacobi und Stolberg dann in Form eines gemeinschaftlichen Abendmahls zu ihrem Ende: »Wir zogen langsam nach Hause, wo nun Feuer und Rheinwein die erstarrten Sänger labte. Es war im Project daß hier auch noch Musik gemacht werden sollte; aber der Auftritt im Garten hatte länger gedauert, als man geglaubt hatte, u man wäre auch ohne dem nicht dazu gekommen. Um 9 Uhr wurde zum Nachteßen gerufen. Die Mitte des Tisches füllte ein Kuchenbrezel, nach Landes Art an Geburtstägen. Über dem Kuchen erhob sich eine Säule mit Blumen, die in einen großen Pokal endigte. Dieser Aufsatz war mit kleinen Wachskerzen stark erleuchtet. Mama Lene sang: Was wär uns ohne Freunde wohl dies kurze Pilgerleben? Ein Jammerthal von Sorgen voll, Ein leeres todtes Streben! Die Freundschaft heitert unsern Pfad; Sie streut der Freuden schönste Saat, und stärkt zu jeder edlen That. Es lebe wer sie kennet, Und, sie zu ehren, brennet! darauf fiel das Chor ein: Es lebe Fridrich Stolberg hoch! Im fernen Land auch unser noch! Schenkt ein, schenkt ein, Den besten Wein, aufs Wohl des Freundes treu und rein! Nun lief der Pokal von altem Rheinwein über, und gieng herum. Die abgesungenen Verse Auch von Lotte ausgesucht u zugerichtet, standen auf der Säule.«262 262

Brief an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf); der Passus »Auch von Lotte ausgesucht u zugerichtet« steht über der Zeile.

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Auf den Genuß des Rheinweins folgte schließlich – wie im Falle der berühmten Geburtstagsfeier der Hainbündler für den verehrten Klopstock263 – eine fröhliche Punschgesellschaft. Es steht zu vermuten, daß dieses Arrangement in der Tat auf die Schwestern zurückgeht, die solche Inszenierungen auch zu anderen Anlässen boten. Goethe sollte diese Art von Familienfeiern im Jacobischen Hause später als »Mummereien innerhalb eines einfachen Familienzustandes« bezeichnen, welche ihm »immer widerwärtig« waren.264 Eine ironische Distanzierung von seiten Jacobis läßt sich allenfalls aus einigen Zeilen an Claudius ablesen, die im selben Brief erwähnt werden. Danach hätte Jacobi diesem von der geplanten Geburtstagsfeier für Stolberg geschrieben und als Begründung hinzugefügt: »weil Stolberg hier gewesen wäre, u die Pempelforter Unterthanen an ihn glauben könnten, welche sonst geneigt wären zu argwohnen, man wollte Ihnen einen Heiligen nur so weis machen.«265 Die persönliche Begegnung zwischen Jacobi und Stolberg in Pempelfort und die Geburtstagsfeier für den abwesenden Freund markieren den inszenatorischen Höhepunkt der Freundschaft zwischen Stolberg und Jacobi. Nach der Rückkehr aus Italien aber kam es, offenbar unter dem Einfluß der Fürstin Gallitzin, die sich mit Eifer dem Katholizismus zugewandt hatte, zu einer verstärkten Hinwendung Stolbergs zum christlichen Glauben.266 Die in der Folge – zunächst in der Auseinandersetzung mit den Werken – manifest werdenden Differenzen in den grundlegenden Überzeugungen können nun nicht mehr ignoriert werden und haben angesichts des sakralen Status’ der Freundschaft den Charakter (wenn nicht der Blasphemie, so doch) des Hochverrats. Den Stein des Anstoßes gab zunächst Stolbergs Roman Numa. In seinem Brief vom 29. Januar 1794 nahm Jacobi Stellung zu diesem Werk, insbesondere 263 Vgl. hierzu den Brief von J. H. Voß an E. T. J. Brückner vom 4.8.1773 (Kelletat: Der Göttinger Hain, S. 359). 264 Zit. nach Schury: Goethe und Jacobi, S. 37. Beispiele finden sich etwa im Brief von Lotte Jacobi an Karoline Jacobi vom 17.2.1792 und von Lotte an Georg Arnold Jacobi vom 24.3.1792 (Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 44 f. u. 48 f.) – Zu den Feierlichkeiten im Jacobischen Hause vgl. Carmen Götz: »Wir leben in unserm Pempelfort […] wie Diogenes in seinem Fasse; nur mit dem Unterschiede, daß wir reinlicher und geselliger sind«: Friedrich Heinrich Jacobi und die Geselligkeit im »Pempelforter Kreis«. In: Peter Albrecht, Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs (Hg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Tübingen 2003 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 27), S. 163–210. 265 Brief an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 266 Stolberg kehrte etwa Anfang Februar 1793 nach Holstein zurück. Vgl. zu Stolbergs Weg zum Katholizismus Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jahrhundert. Neumünster 1975 (= Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 11), S. 228–235; SchubertRiese relativiert den Einfluß der Gallitzin. Vgl. hierzu auch Irmgard Niehaus: »Versuchet es, ob meine Lehre göttlich sey!« (Joh 7, 17). Aufklärung und Religiosität bei Amalia von Gallitzin und im Kreis von Münster. Diss. Uni Münster 1998, S. 331–334.

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zu den Ausführungen »wider den übertriebenen Enthusiasmus für die Alten«.267 Stolbergs darin geäußerte Meinung, daß noch der geringste Christ mehr von den göttlichen Dingen wisse als Sokrates und alle heidnischen Philosophen, konnte Jacobi nicht gelten lassen. Vollends stieß ihn Stolbergs Ansicht vor den Kopf, »die Religion der Christen allein halte der Tugend große und edle Beweggründe vor; da hingegen die Philosophen der Alten keine andern Beweggründe, gut und tugendhaft zu seyn, gehabt hätten, als solche, die auf selbstische und irdische Vortheile dieses kurzen Lebens gegründet waren: ihr καλον καγαθον, ihr honestum per se, wären nur schöne Worte ohne Begriff.« »Bruder, wie konntest Du das schreiben?«,268 schrieb Jacobi im Gestus vorwurfsvollen Entsetzens. Wie sehr er hierin geradezu einen Verrat der Freundschaft sehen mußte, wird deutlich, wenn man sich Jacobis eigene Position vor Augen führt. Kern der Philosophie Jacobis ist, daß jeder Mensch kraft seines Geistes zum Glauben an Gott gelangen kann. Jeder Mensch ist mit einem göttlichen Trieb zur Tugend ausgestattet, auf dessen Entfaltung es allein ankommt. Dabei ist die äußere Form, die sich dieser Glaube gibt, unwichtig. Ja, alles Äußerliche, Materielle, Buchstäbliche ist diesem reinsten Glauben sogar fremd; es führt den Menschen vom Eigentlichen ab. Hamanns Rede, »alles Hangen an Worten und buchstäblichen Lehren der Religion wäre Lama-Dienst«,269 bringt somit Jacobis Position in dieser Sache auf den Punkt. In dem fraglichen Brief an Stolberg läßt er seine Ausführungen in dem Bekenntnis münden, daß er »alle Theologien nach ihrem mystischen Theile für gleich wahr, nach ihrem nicht mystischen für gleich irrig, wenn auch nicht, in anderer Rücksicht, für gleich abgeschmackt und verderblich halte«.270 In seinem Antwortbrief vom 19. Februar 1794 setzte sich Stolberg sehr dezidiert mit der Kritik Jacobis an seinem Roman auseinander.271 Er relativiert darin seine Position gegenüber der antiken Philosophie, insofern er die dort zu findenden, auch von ihm geschätzten Stellen hervorhebt. Zugleich aber wiederholt er den schon im Numa vorgetragenen Standpunkt, daß dies eben doch nur »das non plus ultra mensch267

AB II, 142. – Vgl. zu Stolbergs Verhältnis zur Antike auch den Streit mit Schiller und Goethe; hierzu insbesondere: Siegfried Sudhof: Goethe und Stolberg. In: Albert R. Schmitt (Hg.): Festschrift für Detlev W. Schumann zum 70. Geburtstag. Mit Beiträgen von Schülern, Freunden und Kollegen. München 1970, S. 97–109 sowie Norbert Oellers: Stolberg, das Christentum und die Antike. Der Streit mit Schiller. In: Baudach / Behrens / Pott: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, S. 109–126. 268 AB II, 143 f. 269 AB II, 143. 270 AB II, 146. – Vgl. zu diesem Punkt auch die Briefe an S. Stolberg vom 2.8.1800 (Zoeppritz II, 224) und an die Fürstin Gallitzin vom 9.3.1787 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 336). 271 Es ist der m. W. längste Brief ihrer Korrespondenz; in der Briefausgabe von Roth (= AB) umfaßt er 14 Druckseiten.

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licher, von Offenbarung nicht erleuchteter Weisheit« sei.272 Denn »immer bleibt die Art der Offenbarung, die ihnen [= den Heiden] ward, nicht nur dem Maße und dem Grade nach, sondern der Natur und der Gnade nach unterschieden von der biblischen wie – der Himmel über der Erde ist«.273 Stolberg besteht also nach wie vor auf einem fundamentalen Unterschied zwischen der Mystik eines Platon oder Sokrates, so erhaben sie auch sein mochte, und der christlichen Mystik.274 Der Reduktion der christlichen Lehre auf die Tugendlehre Christi, die er ansatzweise bei Jacobi wahrzunehmen meinte, galt seine tiefste Abneigung. Das aus dieser Reduktion resultierende »Halbchristentum« der Neologen war für Stolberg das Grundübel seiner Zeit, in dem der beklagenswerte Zustand des Protestantismus sprechend zum Ausdruck käme.275 Diese Überzeugung führte Stolberg auch dazu, nun umgekehrt in Jacobis Neubearbeitung des Woldemar 276 den »warmen, belebenden Hauch des Christenthums«277 zu vermissen und Jacobis Beschränkung auf die aristotelische Philosophie zu tadeln.278 Das Verbindende und das Trennende in den religiösen und philosophischen Positionen von Stolberg und Jacobi kommt in diesen beiden Briefen sehr klar zum Vorschein. Einig waren sie sich in ihrer Ablehnung der »kalten« Vernunft als Instanz für Moral und Glaube. Insofern pflichtete Stolberg Jacobi bei, wenn dieser im Woldemar schrieb: »Alle Menschen u. Einige, die sich klüger dünken, suchen’s im Verstande, und meinen, mit Begriffen lasse das Lebendige sich wohl einbalsamiren, und diese Mumien wären keine Leichen.«279 Die jeweiligen Alternativen zum Vernunftenthusiasmus der Aufklärungszeit sehen aber bei beiden Denkern recht verschieden aus. Für Stolberg führte der Weg zu Gott nur über die Bibel und das historische Christentum. Jacobi hingegen sah den Zugang zu Gott in einem unabhängig von historischer Offenbarung in jedem Menschen natürlicherweise vorhandenen Organ, das er in seinen früheren Schriften »Gefühl«, »Geist«, »Sinn«, »Instinct«, »Trieb« etc. nennt. Als Jacobi Ende des Jahres 1794 auf der Flucht vor den französischen Revolutionstruppen nach Holstein emigrierte, wurde der Kontakt der Freunde – räumlich 272

AB II, 152; vgl. Stolberg: Briefe, S. 309 (Hervorhebung von mir; C.G.). AB II, 153; vgl. Stolberg: Briefe, S. 309. 274 Vgl. AB II, 153 u. 155; vgl. Stolberg: Briefe, S. 309 f. – Auch in diesem Punkt erweist sich Stolberg als Schüler Klopstocks (vgl. Kaiser: Klopstock, S. 338 f.). 275 Vgl. AB II, 157, 159 u. ö.; vgl. Stolberg: Briefe, S. 311 f. u. ö. – Zum Begriff »Halbchristentum« vgl. auch den Brief von Stolberg vom 28.4.1788 (AB I, 460 u. 462; vgl. Stolberg: Briefe, S. 230). 276 Die neuen Ausgaben des Woldemar erschienen 1794 und 1796. 277 AB II, 159; vgl. Stolberg: Briefe, S. 312. 278 Vgl. hierzu auch den Brief von S. Stolberg an Jacobi vom 11.2.1794 (Zoeppritz I, 174). 279 AB II, 161; vgl. (mit kleiner Abweichung) Stolberg: Briefe, S. 313. Zur Geringschätzung des Vernunftvermögens bei Stolberg vgl. auch AB II, 160; vgl. Stolberg: Briefe, S. 312. – Die Bezugsstelle ist Jacobi: Woldemar (1794), S. 164; vgl. JWA 7,1, 413. 273

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gesehen – enger: Jacobi und seine Schwestern wohnten zeitweise im Stolbergschen Hause, und 1799 ließen sie sich als direkte Nachbarn der Stolbergs in Eutin nieder. Doch zugleich wurde die innere Entfernung der Freunde immer deutlicher: Die Hinwendung Stolbergs zum positiven Christentum, ja zum Katholizismus, manifestierte sich nun auch im persönlichen Umgang. Für Jacobi war der Katholozismus Inbegriff einer von ihm abgelehnten, ungeistig-materiellen Religiosität.280 Als anläßlich eines Besuchs in Münster die Familie Stolberg dann tatsächlich am 1. Juni 1800 zum Katholizismus konvertierte, kam es zum radikalen Bruch der Freundschaft, der, wie im Falle Wielands – dieses Mal allerdings unbeabsichtigt –, öffentlich wurde. Jacobi konnte die Differenz weder gelassen ertragen noch tolerieren.281 So zerschellte denn auch die im Verhältnis zu Wieland und Goethe erst relativ spät geschlossene, dafür aber im Rahmen einer nostalgischen Inszenierung den kultischen Höhepunkt repräsentierenden Freundschaft zu Stolberg an den – mit dem empfindsamen Freundschaftsideal unvereinbaren – gegensätzlichen Überzeugungen.

3.3 Differenz als Freundschaft erhaltendes Prinzip Wie die Freundschaften und Freundschaftsentwürfe zu Wieland, Goethe und Stolberg gezeigt haben, stand dem empfindsamen Indifferenzbegehren jeweils eine Differenzerfahrung gegenüber, die angesichts des Ideals als unzumutbar empfunden wurde. Was für zwischenmenschliche Beziehungen, das Ich-Anderen-Verhältnis überhaupt, gilt, scheint im Freundschaftskult der Zeit ins Extreme offengelegt zu sein: »[…] die auf das Andere und den Anderen gerichtete Ekstase […] erfährt immer auch ihren solipsistischen Rückschlag«.282 Die Dialektik zwischen »Ego« und 280

Vgl. hierzu vor allem Jacobis Kritik an dem »religiösen Materialismus« beispielsweise eines Matthias Claudius in der späten Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. Hg. v. Walter Jaeschke. Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 [= Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke; Bd. 3] [im folgenden JWA 3 mit Seitenzahl], hier JWA 3, 46 u. 48). 281 Vgl. dagegen die Reaktionen von Herder (Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. 1763–1803. Begr. unter der Leitung v. Karl-Heinz Hahn. Bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. 10 Bde. Weimar 1977–1996, hier Bd. 8, S. 167–169) und Lavater (Theodor Menge: Der Graf Friedrich Leopold Stolberg und seine Zeitgenossen. 2 Bände. Gotha 1862, hier Bd. 2, S. 117– 120). – Vgl. zum Verhältnis zwischen Jacobi und Stolberg nach 1794 ausführlicher Carmen Götz: ›Freundschaft und Liebe‹ in den Zeiten der Aufklärung: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Friedrich Heinrich Jacobi. In: Baudach / Behrens / Pott: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, S. 57– 87, hier S. 83–87. 282 Rudolf Heinz: Laudatio zum siebzigsten Geburtstag von Dieter Wyss. In: Anthropologica. Bulletin der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie und Psychosomatik (RAAP) 1 (1995), Heft 1, S. 1–5, hier S. 3.

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»Alter Ego« – insofern sie im Lacanschen Sinne von dem »Wunsch nach Restitution einer idealen Einheit« regiert wird – ist zutiefst gekennzeichnet von einer Entfremdungserfahrung: »Jeder Liebesanspruch […], der darauf drängt, das Ideal-Ich im Anderen erneut zu sättigen, ist […] der Täuschung preisgegeben, da der Andere, dieselben Ansprüche stellend, dies vereitelt. So wird die Faszination, die jene dual-imaginäre Beziehung einleitet, gebrochen durch Aggression, denn das Subjekt findet sich als ein Entfremdetes, als ein der Täuschung verfallenes Enttäuschtes wieder.«283 Das Freundschaftskonzept kippt so in sein Gegenteil um und verunmöglicht mithin gerade das, was es gewähren sollte: Freundschaft. Dies nicht nur, insofern die mangelnde Akzeptanz der Andersartigkeit des Anderen Differenzen größeres Gewicht verleiht und radikale Brüche daher die einzig verbleibende Möglichkeit scheinen. Auch schon die angestrengte Suche nach Gemeinsamkeiten, nach dem »Alter Ego«, hat Züge von Gewaltsamkeit und trägt so den Keim des Terrors in sich. Im Kern des humanitären Ideals brüderlicher Gleichheit verbirgt sich sein genaues Gegenteil: strukturelle Unterdrückung, Aneignung des Anderen. Wieland, obgleich selbst die Indifferenz immer wieder einklagend, hat sich gegen diese Zumutung der empfindsamen Freundschaft wohl am deutlichsten zur Wehr gesetzt. »Ihr Zorn – verzehrt, und Ihre Liebe – erdrückt«, läßt er Jacobi etwa in einem Brief vom Mai 1774 wissen.284 Auch verwahrt er sich gegen die Kritik seines Verhaltens von seiten der Brüder Jacobi mit den Worten: »Was hilft alle die Menge an Enthusiasmus, die wir füreinander haben, wenn wir einander nicht ertragen lernen.« Für eine solche Toleranz sieht Jacobi ausdrücklich keinen Platz in seinem Freundschaftsmodell.285 Interessanterweise und auch folgerichtig bleibt für Toleranz – verstanden hier als das Aushalten von Differenz – gerade in solchen Freundschaften Platz, wo die Differenz von vornherein ein konstitutives Moment des Verhältnisses bildet. Nicht selten sind im Leben Jacobis mit dem empfindsamen Freundschaftsideal unverträgliche hierarchische Strukturen Garanten der Freundschaft. Dies ist beispielsweise der Fall in den Freundschaftsbeziehungen zu Hamann und Wizenmann, die ausdrücklich nach dem Vater-Sohn-Modell funktionieren.

283

Pagel: Lacan, S. 37. – Vgl. auch Heinz: Philosophische Einführung, S. 18. Undatierter (etwa vom 2.5.1774) Brief (JBW I,1, 228). 285 Vgl. hierzu den Brief an C. M. Wieland vom 10.7.1773 (JBW I,1, 191) und im Brief von J. W. L. Gleim vom 18.7.1773, wo dieser Jacobi mit den Worten zitiert: »Eine unbeschrenckte Toleranz […] setzt eine so sehr vervielfachte Sympathie voraus, bey deren fertigen Application man nothwendig selbst zum Schurken werden muß.« (JBW I,1, 197.) – In diesem Sinne sollte sich Jacobi auch viele Jahre später anläßlich des Freundschaftsbruches mit Stolberg in einem Brief an dessen Schwägerin Luise Stolberg äußern. In jenem Brief vom 10.11.1800 heißt es: »Wahrlich nur der könnte ohne Ausnahme tolerant seyn, dem nichts heilig wäre.« (Zoeppritz II, 239.) 284

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Johann Georg Hamann, 13 Jahre älter als Jacobi, wird für letzteren in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre, also auf dem Höhepunkt ihres intensiven Briefwechsels, zur Vaterfigur. Er redet ihn in seinen Briefen nicht nur fortwährend mit »Vater« an,286 sondern entwirft auch ganz explizit ihr freundschaftliches Verhältnis nach dem Vorbild der Liebe des Kindes zu seinen Eltern: »›Der Hamann hat Dich doch recht lieb, sagte Lotte.‹ Ach, so lieb, sagte ich, wie noch kein Mann mich gehabt hat; u so im innersten der Seele gerührt hat mich auch noch keines Mannes Freundschaft, wie die seinige. – Ich dachte mir Augenblicke, wo mein guter ältester Sohn wohl an meinem Seßel kniete, mich umschlang, u seinen Kopf an mich lehnte. So, guter Vater, war nun ich bey Dir; küßte Dir die Hände; ergriff sie, u drückte mein Gesicht in sie.«287 Noch nach Hamanns Tod äußert Jacobi gegenüber Johann Friedrich Kleuker: »der Geist Hamanns wühlt unter mir, wie unter Hamlet der Geist seines Vaters.«288 In vergleichbarer Weise wird Jacobi in den 1780er Jahren für den jungen Thomas Wizenmann zur Vaterfigur.289 Die Freundschaften Jacobis zu Hamann und Wizenmann waren zwar keineswegs frei von Differenzen, doch bot das hierarchische Gefüge offenbar eine andere, weniger zur Brüchigkeit neigende Umgangsform. Unter diesen Bedingungen funktionierte die Freundschaft und überstand auch Meinungsverschiedenheiten und Konflikte,290 wobei allerdings zugestanden werden muß, daß auch der relativ frühe Tod von Wizenmann und Hamann seinen Anteil an der Beständigkeit gehabt haben mochte: Einer längeren Probe hätten die Freundschaften möglicherweise nicht standgehalten. Dies gilt insbesondere für die Freundschaft zwischen Ha-

286

Zum Beispiel in den Briefen vom 12.–13.9.1785 (JBW I,4, 177), vom 20.12.1785 (JBW I,4, 290) und vom 30.12.1785 (JBW I,4, 305). 287 Brief vom 16.–17.1.1786 (JBW I,5, 26). – Vgl. auch den ersten Brief von J. G. Hamann vom 2.–22.11.1783 (JBW I,3, 226). – Vgl. zu dieser »Vater-Sohn-Beziehung« zwischen Jacobi und Hamann auch Christ: Johann Georg Hamann, S. 234 f. u. 240. 288 Brief vom 23.12.1789 (Ratjen: Kleuker, S. 146; vgl. Zoeppritz I, 124). 289 Vgl. etwa die Briefe von T. Wizenmann vom 28.1.1787 (Alexander Freiherr von der Goltz: Thomas Wizenmann, der Freund Friedrich Heinrich Jacobi’s, in Mittheilungen aus seinem Briefwechsel und handschriftlichen Nachlasse, wie nach Zeugnissen von Zeitgenossen. 2 Bde. Gotha 1859, hier Bd. 2, S. 237) und vom 2.2.1787 (ebd., S. 239) sowie resümierend den Brief von Jacobi an P. W. G. Hausleutner vom 23.2.1787. Dort heißt es: »Der biedere Alte (= Wizenmanns Vater; C.G.) ist mein Bruder, denn sein Sohn hatte ja auch mich zu seinem Vater angenommen.« (Ebd., S. 264.) 290 Vgl. etwa zur überstürzten Abreise Hamanns aus Pempelfort seine Briefe vom 6.–11.12.1787 (Hamann 7, 368), vom 4.–10.3.1788 (Hamann 7, 419) und vom 22.3.1788 (Hamann 7, 433 f. u. 438); vgl. auch Jacobis Brief vom 21.12.1787 (Hamann 7, 384). Vgl. Christ: Johann Georg Hamann, S. 264. Zu Hamanns Abwehr gegen »überstarke Zuwendung« ebd., S. 237 f. u. 263. – Zu Wizenmann vgl. die Briefe an Jacobi vom 1.8.1783 und von Jacobi vom 19.8.1783 (JBW I,3, 176 u. 180); vgl. ebenfalls den Brief an Hausleutner vom 21.4.1787 (Handschrift: Universitätsbibliothek Greifswald).

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mann und Jacobi, die – ebenso wie diejenige zwischen Goethe und Jacobi – durch die Differenzanmahnung des einen (Hamann) und die Differenznegation des anderen (Jacobi) geprägt war.291 Ähnlich wie die Generationendifferenz stellte offenbar auch die Geschlechterdifferenz flexiblere Verhaltensweisen zur Verfügung. Beispielhaft seien hier die Freundschaftsbeziehungen zu Sophie von La Roche und zur Fürstin Amalia von Gallitzin erwähnt. Einerseits pflegt Jacobi auch mit ihnen empfindsame Freundschaften, die eine tiefe Seelenverwandtschaft voraussetzen, ja immer wieder beschwören und einfordern. Auch diese Freundschaften verlaufen nicht durchgängig harmonisch: Es gibt Anlässe zu Mißverständnissen, die eine Thematisierung der Freundschaft – ja zumeist gleichzeitig von Freundschaft überhaupt – erforderlich machen.292 Doch scheint hier andererseits – aufgrund der Geschlechterdifferenz ? – kein den »Männerfreundschaften« vergleichbar hohes Maß an Übereinstimmung intendiert zu sein. Frappierend ist beispielsweise die unterschiedliche Reaktionsweise Jacobis auf die Konversion Stolbergs einerseits und die entschiedene Hinwendung der Fürstin Gallitzin zum Katholizismus andererseits: Während sich das Verhältnis zur Fürstin nur deutlich abkühlt und selbst angesichts einer von Jacobi registrierten Geistesverwirrung noch aufrecht-

291

Vgl. Christ: Johann Georg Hamann, S. 260, 267 u. 269. – Ein Spezialfall scheint im übrigen noch das Verhältnis zwischen Jacobi und Heinse darzustellen, das trotz massiver Differenzen relativ lange hielt. In seinem Brief an J. G. Hamann vom 5.–6.10.1786 thematisiert Jacobi – ausnahmsweise – die negative Seite dieser Beziehung: »Heinsens Versorgung war mir durch eine Verkettung von Umständen u Begebenheiten – wohl nicht eigentlich zur Pflicht gemacht, aber doch so auferlegt worden, daß ich mir nicht heraus zu helfen wußte. Unser gegenseitiges Verhältniß war drückend, wegen der gänzlichen Verschiedenheit unserer Sinnes- u Denkungsart, so daß wir beyde darunter nicht wenig litten.« (JBW I,5, 361.) 292 Vgl. den Brief an M. S. von La Roche vom 1.7.1775 (JBW I,2, 17–21; vgl. JWA 4,1, 191–195) sowie Wielands Kommentare hierzu in seinen Briefen vom 23.6.1775 (JBW I,2,16) und vom 27.1.1777 (JBW I,2, 52). Vgl. auch den Brief von M. S. von La Roche vom 6.7.1771 (JBW I,1, 116). – Vgl. zur Gallitzin ihren Brief vom 21.10.1784 (JBW I,3, 374–379). Da die Briefe der Gallitzin – bis auf einige wenige – nicht überliefert sind, ist hier ein Nachvollziehen der Mißhelligkeiten recht schwierig. Deutlich ist, daß das Verhältnis zu Jacobi wegen ihres Katholizismus, ihrer Jacobi befremdenden, ja abstoßenden Frömmelei, frostiger wird. Vgl. hierzu etwa Siegfried Sudhof: Von der Aufklärung zur Romantik. Die Geschichte des »Kreises von Münster«. Berlin 1973, S. 163 u. 166 sowie den Brief an Herder vom 4.10.1797: »Niemand hat einen Gott, sagte ich zur Fürstin, und kann einen haben, als der ihn in sich selbst geboren hat, in dessen Brust Gott erst Mensch wurde. Das schrieb sie in ihr Taschenbuch, gewiß um in Ueberlegung zu nehmen, wie sich dieser Satz, den ich antikatholisch gestellt hatte, auch katholisch stellen ließe. Ich habe die Fürstin immer sehr lieb gehabt, aber ich war ihr beinahe feind geworden wegen des Samens, den sie vor vier Jahren in Holstein ausgestreut hatte und den ich bei meiner Ankunft das Jahr darauf in voller Blüthe stehen fand.« (AB II, 253; vgl. hierzu auch den Brief an L. Nicolovius vom 9.5.1794; AB II, 165.) Die endgültige Trennung wird dann wohl im Zusammenhang mit der Konversion Stolbergs vollzogen worden sein.

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erhalten wird,293 kündigt Jacobi Stolberg umgehend die Freundschaft auf und verbietet sich jedweden weiteren persönlichen Kontakt. Interessant ist vor diesem Hintergrund, daß Jacobi für seine Romane, insbesondere für den zweiten Roman Woldemar, gerade ein geschlechterdifferentes Verhältnis wählt, um sein ideales Freundschaftsmodell zu entwerfen und zugleich die Problematik der Freundschaft darzustellen. Ein näherer Blick zeigt jedoch, daß diese Differenz offenbar dem Zweck dient, die Indifferenzierung wahrhaft auf die Spitze zu treiben: Der Ausgang von der Geschlechterdifferenz scheint lediglich im Dienste der Dramaturgie zu stehen, dem Ziel nämlich, auch diese noch zu tilgen und damit endgültig zu belegen, daß in der idealen Freundschaft für jegliche Form der Differenz kein Platz ist. Die mit einer derart radikalen Indifferenzierung verbundenen Problemlagen sind allerdings ebenfalls Gegenstand des Romans.

3.4 Dialektik und Aporien der Freundschaft – Versatzstücke aus den Romanen Im Falle des zweiten Romans, Woldemar, ist die thematische Ausrichtung schon am Titel der Erstveröffentlichung ablesbar: Freundschaft und Liebe. Geschildert wird ein empfindsamer Freundschaftszirkel, in dessen Zentrum die Freundschaft zwischen den Protagonisten Henriette und Woldemar steht. Die Geschlechterdifferenz dient – oberflächlich besehen – zunächst einmal dazu, die Unsinnlichkeit der Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar herauszustellen. Die Freundschaft ist – nicht nur bei Jacobi – konzipiert als eine von aller Sinnlichkeit, allem Körperlich-Materiellen befreite Liebe. Ideal ist die reinste Immaterialität. Die Freundschaft wird daher grundsätzlich höher bewertet als die Liebe.294 Was in der Freundschaft zusammenfließt, ist immer der Geist, die unsterbliche Seele, und zwar diese in ihrer vollendeten

293

Vgl. den Brief an Goethe vom 7.6.1794: »Ein paarmal hat sie mich hart geplagt. Ein gewißes Buchstäbeln und ein gewißes Treiben an ihr hat mir von jeher, wenn ich bey ihr war, das Leben sauer gemacht. Nun ist der unglückseelige catholische Pietismus noch hinzugekommen, den sie gern möchte tolerant seyn laßen, wider seine Natur, u. s. w. Schade, ewig Schade um das herrliche Wesen, mit dem wahrhaft fürstlichen Gemüth, das immer ganz aufrichtig seyn möchte, und nie mehr ganz aufrichtig seyn kann! Ihre Vorurtheile täuschen sie auf eine mir unbegreifliche Weise, verderben ihr Auge, Ohr und Zunge.« (Jacobi: Briefwechsel Goethe, S. 185.) 294 Vgl. hierzu vor allem Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Halle a. d. S. 1922, bes. S. 181, 183, 240 u. ö. Shaftesbury kommt bei der Durchsetzung dieser Wertung eine maßgebliche Rolle zu. – Vgl. auch im Brief Stolbergs an Johann Martin Miller vom 12.3.1774: »Die Freundschaft der Bundes Brüder ist Liebe ohne die Schwachheit der Liebe!« (Stolberg: Briefe, S. 31) und J. G. A. Forsters Brief an S. T. Soemmerring vom 12.–13.12.1784: »Selbst die Liebe weicht dem Seelenbündniß welches mich an Dich kettet; ach mein Einziger, Bester, ich jammerte nie nach so etwas, wie ich nach Dir gejammert habe.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 228.)

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Form genommen: als »reine« oder »schöne Seele«, wobei als Signum der Reinheit die vollständige Loslösung von allem Irdischen, von aller Körperlichkeit gilt. Albrecht Koschorke hat gezeigt,295 wie sehr gerade diese phantasmatische Vorstellung ein Medieneffekt, nämlich Resultat des Verschriftlichungsprozesses jener Zeit ist. Die Schrift, vor allem in Form von Briefen, ermöglicht erst den ungehinderten Zusammenfluß des bloß Geistigen; sie ist das Transportmittel der Seele. Ideal einer solcherart vergeistigten Kommunikation ist die himmlische Kommunikation »körperloser Geister«.296 Ganz in diesem Sinne heißt es in der Vorrede zu Jacobis erstem Roman Eduard Allwills Papiere: »Es stieg ihre Freundschaft in immer wachsenden Harmonieen, […] zum reinsten Engels-Gesang, worinn Menschen-Athem sich verwandeln mag, empor.«297 Auch in Jacobis Roman Woldemar wird die reine Geistigkeit der Freundschaft unterstrichen, indem die Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar als vollkommen asexuell, unkörperlich und unsinnlich vorgestellt wird. Um nur ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, mutiert Henriette sogar zum »Bruder Heinrich «,298 und allen, die vom asexuellen Charakter der Beziehung nicht hinlänglich überzeugt sind, hält Woldemar entgegen: »[…] ich bin mir nicht bewußt, je nur inne geworden zu seyn, daß Henriette zu dem andern Geschlecht gehört, geschweige daß ich eine Leidenschaft für sie empfunden hätte, oder noch empfände.«299 Bereits hierin und nicht erst in dem Versprechen, das Henriette ihrem Vater gibt, gründet die »gegenseitige[ ] Unheiratbarkeit« von Woldemar und Henriette.300 Die Wahl eines geschlechterdifferenten Verhältnisses hat aber einen weiteren Vorzug: Die Differenztilgung wird schlicht umfassender, wenn im Roman auch die Indifferenzierung des Geschlechts fiktiv realisiert wird. Nur vor diesem Hintergrund wird verstehbar, warum die Differenz im gleichen Atemzug herausgestellt und getilgt

295

Vgl. Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit sowie ders.: Körperströme und Schriftverkehr. 296 Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a. M. 1981, S. 110; vgl. auch Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 627 sowie ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 242. 297 Jacobi: Eduard Allwills Papiere (1776), S. 5 (Merkur: 17); vgl. JWA 6,1, 6. – Auch »reale« Familien- und Freundschaftszirkel wurden nach dieser Maßgabe imaginiert. Vgl. hierzu den Brief von J. W. L. Gleim vom 25.9.1783: »O wäre ich bey Euch! Welch in himmlisches Leben unter Euch Engeln« (JBW I,4, 369). 298 Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Heinz Nicolai. Stuttgart 1969 (Faksimiledruck der Ausgabe von 1779), S. 65; vgl. JWA 7,1, 34. – Vgl. auch den Brief an A. von Gallitzin vom 15.7.1780, in dem Lene Jacobi als »Bruder Helenus« firmiert (JBW I,2, 157). 299 Jacobi: Woldemar (1779), S. 65; vgl. JWA 7,1, 34. In der Spätfassung ist dieser Passus umgeschrieben. 300 Schlegel: Jakobi’s Woldemar (PLS 1.1, 260).

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werden muß: »Ich sah Henrietten. Sie zog mich an; aber mit einer Empfindung, die nichts mit ihrem Geschlechte zu thun hatte, und die mir ganz neu war. Ich wunderte mich und wurde aufmerksamer. Jeder weibliche Reiz an ihr war mir sichtbar; sichtbarer, als allen andern: wie sie hatte noch kein Mädchen mir gefallen. Dennoch raubte sie mir nicht das Herz.«301 Erst in diesem Wechselspiel von Differenzsetzung und -tilgung kann die höchste Idee von Freundschaft sich phantasmatisch realisieren: »Wir wurden Freunde, im erhabensten Sinne des Worts; Freunde, wie Personen von Einerley Geschlecht es nie werden können; und Personen von verschiedenem, es vielleicht vor uns nie waren. Darum läßt sich auch von unserem Verhältnisse so wenig bedeuten.«302 Als die Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar in Frage gestellt ist, treten die Unterschiede, darunter auch die Geschlechterdifferenz, mit Notwendigkeit wieder offen zutage. Enttäuscht von Henriettes Verhalten sinniert Woldemar: »Henriette bleibt ein vortrefliches Geschöpf, wenn sie mir auch noch weher gethan, noch viel ärger gegen meinen Sinn gehandelt hätte. Ich brauche mich nur an ihre Stelle zu setzen, nur zu bedenken daß sie ein Mädchen ist, zu erwägen, was überdem unser beyder Charactere für Verschiedenheit mit sich bringen: so kann ich sie über alles rechtfertigen; so muß ich sie durchaus entschuldigen.«303 Klingt die Differenzerfahrung hier noch harmlos, so spitzt sie sich schon im nächsten Moment dramatisch zu: »Das war Täuschung also – daß wir Ein Herz, Eine Seele, – Eins in allem uns fühlten? Ich muß aus mir herausgehen, als aus einem Fremden, und mich in ihre Stelle versetzen! Versetzen! – Henriette ist mir ein anderer «.304 Die vollständige Dramatik dieser Szenerie wird erst deutlich, wenn wir uns das Freundschaftskonzept noch einmal vor Augen führen: Friedrich H. Tenbruck hat darauf aufmerksam gemacht, »daß der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch in der sozial heterogenen Welt im Freunde nicht ein zweites Ich zu dem Ich findet, das er selbst schon besitzt, sondern überhaupt sein eigenes Ich erst findet, indem er im Freunde ein Ich entdeckt«.305 Diesen Prozeß der Selbstkonstitution über den Ande301

Jacobi: Woldemar (1779), S. 134; vgl. JWA 7,1, 64. – Mit dem widersinnigen Charakter einer solchen Konstruktion hatte Friedrich Schlegel entsprechend große Schwierigkeiten (vgl. Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 260). In diesem Sinne registriert auch Frida David einen »Widerspruch« zwischen der »hohe[n] Weiblichkeit« Henriettes und ihrer Geschlechtslosigkeit, der »unausgeglichen« bleibt (Frida David: Fr. H. Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Diss. Leipzig 1913 [= Probefahrten; Bd. 23], S. 98). 302 Jacobi: Woldemar (1779), S. 144; vgl. JWA 7,1, 67. 303 Jacobi: Woldemar (1779), S. 192 f.; vgl. JWA 7,1, 86. 304 Jacobi: Woldemar (1779), S. 194; vgl. JWA 7,1, 86. 305 Tenbruck: Freundschaft, S. 31. – Hierzu paßt auch die Beobachtung von Borries’: »Liest man in den unzähligen Briefwechseln dieses Jahrhunderts, so bekommt man den Eindruck, als hätten sich die Menschen damals erst in der Mitteilung, im Spiegel gleichgesinnter und gleichgestimmter Freunde selbst erlebt.« (von Borries / von Borries: Aufklärung und Empfindsamkeit, S. 31.)

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ren thematisiert Jacobi in seinem Roman Woldemar: »Der Mensch fühlt sich mehr im Andern als in sich selbst […] unsere Seele kann sich nicht empfinden, als mittelst eines andern Geistes, der ihren Eindruck auf sie zurückwirft.«306 Die Freundschaft dient somit der »notwendigen Bestätigung des eigenen Ich«.307 Dieses Moment ist aber zunächst einmal ausschließlich ein Moment der Trennung: Das Ich wird von allem, was Nicht-Ich ist, separiert. Ohne diese Trennung kann die Bestätigung nicht gelingen. Unter diesem Blickwinkel ist also der Freund das Andere, die Differenz. Als Freund ist der Andere aber zugleich immer auch dasselbe. Man denke an die Seelenverwandtschaft als der Voraussetzung für Freundschaftsbünde im 18. Jahrhundert. Der Freund ist somit jenes Andere, das zugleich das Eigene ist – eine Erfahrung, die dem des Kindes gleicht, das sein Spiegelbild erblickt und jauchzt.308 Daher ist der Freund nicht nur – als Anderer – Garant für die Ichkonstitution, sondern – als Alter Ego – der Garant für eine Übereinstimmung von Ich und Welt, von innen und außen. Die Welt wird durch die Freundschaft nicht als eine vom Subjekt getrennte konstituiert. Über den Freund kann das Subjekt vielmehr mit der Welt verschmelzen, Eins werden; Freundschaft ist »Symbol der Vereinigung des Getrennten«.309 Dem entspricht der empfindsame Topos vom Zusammenfließen der Seelen. Woldemar bekennt, daß er schon als Kind das Verlangen verspürt hätte, sich »mit allen Dingen […] zu vereinigen«.310 In der Freundschaft zu Allwina und Henriette erfüllt sich dieses Verlangen imaginativ: »Lebendiger Othem ist in den Erdenklos gefahren; er ist Mensch geworden: Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein nun die ganze Schöpfung«.311 Zweierlei ist somit in der Freundschaft gesetzt: Zum einen ist sie »Mittel zur Überschreitung der Grenzen der endlichen Subjektivität«.312 In der Freundschaft ist eine Form von Unendlichkeit oder Totalität (imaginativ) realisiert. Zum zweiten kommen in der Freundschaft Momente der Selbst- wie auch der Welt-

306

Jacobi: Woldemar (1794), Th. 1, S. 57 f.; vgl. JWA 7,1, 234. (Vgl. auch Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. 2 Tle. Neue verbesserte Ausgabe. Königsberg 1796, hier: 1. Teil, S. 56.) 307 Guntram Vogt: Das Thema der Freundschaft in den Romanen der Goethezeit. Diss. Kiel 1966, S. 50. 308 Vgl. hierzu oben im Kapitel I.3.1 die Deutung des Lacanschen Spiegelstadiums. 309 Vogt: Thema der Freundschaft, S. 323. 310 Jacobi: Woldemar (1779), 126; vgl. JWA 7,1, 61. 311 Jacobi: Woldemar (1779), S. 128 f.; vgl. JWA 7,1, 62. Vgl. Gen 2,7 u. 2,23. – Anders als ich interpretiert Hans-Edwin Friedrich diese Passage und die Beziehung Woldemars zu Henriette und Allwina als »Sozialform«, in der »Individualität und Sozialität gleichermaßen integriert« sind (HansEdwin Friedrich: »Ewig lieben«, zugleich aber »menschlich lieben«? Zur Reflexion der empfindsamen Liebeskonzeption von Gellert und Klopstock zu Goethe und Jacobi. In: Aufklärung 13 [2001], S. 148–189, hier S. 186), also als gelungen und nicht als phantasmatisch. 312 Ch. Seidel: Freundschaft III. In: Ritter / Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 1108–1114, hier Sp. 1111.

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schöpfung zum Austrag.313 Beide Momente dürften maßgeblich die Sakralität der Freundschaft begründen. In Woldemars Differenzerfahrung aber, die den Ausgangspunkt zu diesen Überlegungen zum Freundschaftskonzept bildete, bricht die Versöhnung mit dem Anderen, mit der Welt, die durch die Identifizierung mit einem Anderen, dem Freund, gewährleistet schien, zusammen. Wenn der Freund »die ganze Welt« bedeutet,314 so muß der Verlust desselben – sei es durch Tod, sei es durch seine Abwesenheit oder durch den Bruch der Freundschaft – zu einer existentiellen Krise führen.315 Diese Krise hat Jacobi in seinem Roman geschildert: Als die ideale Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar zerbricht, stürzt der Protagonist in eine Stimmung nihilistischer Welt- und Menschenverachtung.316 Spätestens an dieser Stelle kommt Jacobis Kritik des empfindsamen, auf Indifferenzierung abzielenden Freundschaftsentwurfes zum Tragen. Einerseits muß der mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtlich auf der Tagesordnung stehenden Suche nach einer Ichkonstitution, in welcher die Welt nicht als eine vom Ich radikal getrennte erscheint, Rechnung getragen werden. Andererseits tendiert die Identifikation mit dem Freund zu einer Identifikation des Anderen mit mir selbst, mithin zu einer Subsumption des Anderen, ergo: zur eigenen Absolutsetzung.317 So scheitert denn auch die Freundschaft zwischen Woldemar und Henriette an der Selbstbezogenheit des Protagonisten. Jacobi kritisiert danach nicht das Modell einer auf Indifferenzie-

313

Vgl. – unter Bezugnahme auf Hegel – Georg Jäger: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik. Produktion, Kommunikation und Vergesellschaftung von Individualität durch »kommunikative Muster ästhetisch vermittelter Identifikation«. In: Spiel 9 (1990), S. 69–87, hier S. 73 f. u. 76. – Zum Konzept einer »all-consuming love« als »a totalizing system of emotional commitment« vgl. auch Lees Analyse von Goethes Werther (Lee: Displacing authority, S. 174–176). Auf ihn bezieht sich auch Friedrich: »Ewig lieben«, S. 170–172. 314 So im Brief Gleims an Lessing betreffend den bevorstehenden Tod seines engen Freundes Ewald von Kleist: »Sie wissen ja, was ich verliere, wenn Er nicht mehr lebt, keinen Freund, keinen Bruder, keinen Vater, die ganze Welt verliere ich.« (G. E. Lessings Briefwechsel mit Friedrich [sic] Wilhelm Gleim. Berlin 1794, S. 102; zit. nach Gotthardt Frühsorge: Freundschaftliche Bilder. Zur historischen Bedeutung der Bildnissammlung im Gleimhaus zu Halberstadt. In: Richard Brinkmann [Hg.]: Theatrum Europaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota. München 1982, S. 429–452, hier S. 431). 315 Vgl. Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung, S. 95. 316 Zu dieser »Dialektik von Weltbejahung und Weltverneinung« vgl. Vogt: Thema der Freundschaft, S. 40, 42 f. u. 69. Vogt beschreibt diese Stimmung auch schon anhand von Jacobis erstem Roman Eduard Allwills Papiere. Vgl. auch Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 196–207. – Manfred Engel nennt dies »die typische Emotionskurve des Schwärmers: das manisch-depressive Verhaltensmuster«, das er als übliches Symptom des Schwärmers im »anthropologische[n] Roman der Spätaufklärung« identifiziert (Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 484 u. 479). – Vgl. für den Werther: Friedrich: »Ewig lieben«, S. 172. 317 Vgl. hierzu Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 293; vgl. auch S. 294.

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rung ausgehenden empfindsamen Freundschaft als solches,318 sondern eine falsche Form desselben, jenes nämlich, das sich in Wahrheit als gekettet an egozentrische Triebe erweist. Kritisiert wird die Indifferenzierung mithin genau in dem Maße, wie sie zu einer Absolutsetzung des eigenen Selbst führt, denn damit entspricht sie gemäß Jacobi einer Form »unreiner« Liebe. Zwei Wege aus der Aporie sind bei Jacobi angedeutet. Das eine Modell versucht, ein heikles Gleichgewicht zwischen Differenz und Identität, Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe zu gewährleisten. Dem entspricht die zu Beginn des Romans geschilderte Freundschaft zwischen Dorenburg und Biederthal. Sie wird zunächst als eine zwischen Gleichgesinnten beschrieben, deren übergroße Ähnlichkeit somit deutlich hervorgehoben wird: »Dorenburgs vertrautester Freund war Biederthal, ein junger Rechtsgelehrter. Die Aehnlichkeit ihrer Neigungen, der Eifer, den sie gegenseitig in sich erweckten, die Hülfe, die sie einander leisteten, brachte jene geistige Gemeinschaft der Güter unter ihnen zuwege, welche den Neid unmöglich und das Leben so süß macht. So war ihr Verständnis zwey Jahre hindurch immer vollkommener und enger geworden.«319 Bald darauf aber zeigt sich, daß in gewisser Hinsicht auch wieder nichts Unterschiedlicheres angetroffen werden kann als eben diese beiden Freunde: »Ihre Wohnungen waren die angenehmsten in der Stadt, aber sowohl der Lage als der inneren Einrichtung nach ganz von einander verschieden. Eben so auch ihre Landhäuser.« Den Sinn dieser Verschiedenheit macht Jacobi sofort klar: »Jeder dieser Oerter hatte andre Reitze, war zu andern Ergötzungen geschickt; in jedem mangelte etwas; aber dies war beym Bruder.«320 Jeglichem Mangel ist somit abgeholfen, man kann verschmelzen, ohne seine Individualität preisgeben zu müssen. Die Differenz bleibt gänzlich gewahrt und ist doch zugleich vollständig aufgehoben. Freundschaft wurde so »Mittel zur Überschreitung der Grenzen der endlichen Subjektivität« – unter Wahrung ebendieser Subjektivität. Dieses Modell hat einen zugleich utopischen und alltagsweltlichen Charakter.

318

Vgl. dagegen Sandkaulen: Bruder Henriette? Sandkaulen spricht hier etwa von »der Kritik an der Logik der Identifikation« (ebd., S. 656; vgl. auch S. 658 u. 661). Auch Kahlefelds Entfaltung des »dialogphilosophischen« Ansatzes von Jacobi unterstreicht den Punkt des »Differenzdenkens« (Kahlefeld: Dialektik und Sprung, Kapitel V). – Christ stellt am Beispiel des Woldemar »[d]ie Utopie der Identität zweier Individuen« und deren Gefahren dar (Christ: F. H. Jacobi, S. 273–276; vgl. auch S. 327–331, 337 u. 345). Für Timm bleibt das »ohnmächtige Sehnen zurück in eine Differenzlosigkeit« ein »sehnsüchtiges Ideal« bei Jacobi (Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 296, 291 u. 295). 319 Jacobi: Woldemar (1779), S. 12; vgl. JWA 7,1, 11. 320 Ebd., S. 14 f. bzw. 12.

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Im zweiten Modell, das dem eigentlichen Freundschafts- und Tugendideal entspricht,321 plädiert Jacobi gewissermaßen für eine andere Indifferenzierung, die einen »reinen« Charakter hat, weil sie alles ›Selbstische‹ aus sich verbannt. Die letztlich in Anknüpfung an Fenelons »amour pur« verstandene Tugend setzt an die Stelle einer auf Selbstvergrößerung ausgehenden Vereinigung mit dem Anderen ein Modell selbstbestimmten Selbstverzichts im Dienste des Anderen. Die mit der Absolutsetzung des Ich verbleibende Endlichkeitsfixierung, die für Jacobi gleichbedeutend ist mit Unfreiheit, wird scheinbar in einem neuen ›Unendlichkeitskonzept‹ aufgehoben. Damit aber entwirft Jacobi im Zeichen der Kritik an dem auf Indifferenz angelegten Freundschaftsideal der Empfindsamkeit als neues Ideal ein letzteres an Indifferenzierung nachgerade überbietendes Modell. Schon Hegel hatte in Glauben und Wissen hinsichtlich des Jacobischen Blicks auf das aller Endlichkeit radikal entgegengesetzte »Ewige«, auf das hin die »schöne Seele« idealiter einzig gerichtet ist, treffend bemerkt: »alle Mücken der Subjectivität verbrennen in diesem verzehrenden Feuer«.322 Es ist wohl dem spezifischen Charakter des Jacobischen Freiheits- und Tugendbegriffs sowie dem damit zusammenhängenden antinomischen Charakter der Idealgestalt eines selbst-losen Ich geschuldet, daß die »Unzucht mit sich selbst«, die von Jacobi als »Grund der Katastrophe«, des Scheiterns also von Allwill und Woldemar, dargestellt wird, »in der Auflösung […] nicht aufgehoben, und auch die unkatastrophirende Tugend [mithin insbesondere Henriette; C.G.] […] wesentlich mit einem Mehr oder Weniger jener Hölle tingirt« ist.323

3.5 Dimensionen von Weiblichkeit: Die »schöne Seele«, die Tugend und der Tod In den Romanen Jacobis werden die kritisierte und die proklamierte Variante des Freundschafts- und Tugendmodells recht exklusiv jeweils dem einen der beiden Geschlechter zugeschrieben: Die Katastrophen der Romane Jacobis werden stets ausgelöst durch eine Absolutsetzung des Gefühls im Sinne der Eigenliebe, das die männlichen Protagonisten – Allwill und Woldemar – charakterisiert. Korrektive, eigentliche 321

Vgl. hierzu auch Stolzenberg: Was ist Freiheit?, vor allem S. 30 u. 33. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung m. der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bisher 19 Bde. Hamburg 1968–2006 (Stand: Okt. 2007), hier: Bd. 4: Jenaer kritische Schriften. Hg. v. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler. Hamburg 1968, S. 379. 323 Ebd., S. 383. – In diesem Sinne äußert sich Hegel auch noch in seiner späteren, sehr viel wohlwollenderen Rezension des dritten Bandes der Jacobischen Werke (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Jacobi-Rezension]. In: Walter Jaeschke [Hg.]: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie [1799–1807]. Quellenband. Hamburg 1993 [= Philosophisch-literarische Streitsachen; Bd. 2.1] [im folgenden PLS 2.1 mit Seitenzahl], S. 387– 405, hier S. 398 sowie Jaeschke: Hegel-Handbuch, S. 256). – Eine ganz andere, auf gegenseitige 322

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Idealbilder der Tugend, sind jeweils weiblichen Geschlechts. Im Falle des Woldemar ist die Position der Weiblichkeit doppelt besetzt: mit der Ehefrau und Mutter Allwina und mit Henriette als der »schönen Seele«.324 In ersterer gewinnt ein traditionelles Motiv der Tugenddiskussion Gestalt, wonach als Inbegriff und ›naturhaftes‹ Urmuster aller echten, weil zum äußersten Selbstverzicht bereiten Tugend die Mutterschaft gilt. Letztere, die »schöne Seele«, ist eine zeitgemäß von Frauen besetzte oder doch nur bei ihnen zur Höchstform gereifte Gestalt,325 die aber zugleich zur Geschlechtslosigkeit tendiert. Davon zeugt nicht zuletzt die ebenfalls zeitgemäße und keineswegs bloß in den Romanen praktizierte Ansprache der Frauen als »Engel«.326 Auch die Gestalt der »schönen Seele« kann bereits im 18. Jahrhundert auf eine längere Geschichte zurückblicken. Obwohl die Prägung des Begriffs »schöne Seele« modern ist, reichen die Wurzeln des sich mit ihm verbindenden inhaltlichen Konzepts bis in die antike Philosophie zurück und sind namentlich mit dem Platonismus verknüpft, der auch eine Quelle für »moral sense«-Theorie und Empfindsamkeit bildet.327 Insbesondere in der neuplatonischen Philosophie Plotins begegnet uns die Urgestalt jenes Tugendideals der »schönen Seele«: »Ihre Größe ist das Hinwegsehen über das Irdische, ihr wesentliches Merkmal Reinheit.«328 Ihre zentralen Momente sind schon bei Plotin die Körperlosigkeit, d. h. die reine Geistigkeit der Seele, ihre Tugendausrichtung und ihre Gottähnlichkeit. In der christlichen Mystik des Mittelalters bis hin zum Pietismus tradiert sich Relativierung der Positionen abhebende Deutung des Woldemar gibt Jutta Heinz, dergemäß auch nicht die »schöne Seele« Henriettes, sondern die »reine Seele« Allwinas die Lösung herbeiführt (Heinz: Wissen vom Menschen, S. 205 f.). 324 Wie diese Doppelbesetzung vor dem Hintergrund des allgemeinen geschlechterdifferenten Freundschaftsdiskurses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. etwa Schnegg: Gleichgestimmte Seelen, S. 31 u. 39) einzuschätzen ist, wird hier nicht weiter thematisiert. 325 Vgl. hierzu auch Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 45: »Im ›Woldemar‹ ist es ›Henriette, die Erzwidersacherein aller Schwärmerey‹, die dem männlichen Geschlecht immer wieder aufbrechenden ›Tumult der Begierden‹ vorwirft: ›Daß ihr irgendwo in alleiniger Rücksicht des Edlen und Schönen handeln solltet, und Euren Leidenschaften entgegen; daran ist nicht zu denken.‹« – Zum Frauenbild Jacobis vgl. Christ: F. H. Jacobi, S. 319–321; zur »schönen Seele« als weiblicher Gestalt ebd., S. 343 f. – Zur »schönen Seele« als Frauengestalt vgl. auch Schmeer: Begriff der »schönen Seele«, S. 38 u. 41 sowie Jørgensen: Christoph Martin Wieland, S. 66. 326 Vgl. etwa im Brief an A. von Gallitzin vom 30.11.1781: »Gott sey mit dir, lieber Engel« (JBW I,2, 387) oder auch Lene Jacobi im gemeinsam mit Lotte und Friedrich Heinrich Jacobi verfaßten Brief an die Gallitzin vom 9.1.1783: »Aber Sie sind ja ein Engel!« (JBW I,3, 110.) Vgl. etwa auch den Brief von Wieland vom 14.7.1776, in dem dieser Jacobi »besonders für das herrliche Ideal, wozu Dir Dein Weib, die Göttin, gesessen hat«, dankt (JBW I,2, 44; vgl. auch Jacobis Antwort vom 21.7.1776, JBW I,2, 45). – Vgl. überdies Jacobi: Woldemar (1779), S. 57; vgl. JWA 7,1, 30. 327 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 73 ff. sowie ders.: Empfindsamkeit – Sublimierte Sexualität, S. 169. 328 H. F. Müller: Zur Geschichte des Begriffs ›schöne Seele‹. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 7 (1915–1919), S. 236–249, hier S. 240; vgl. auch S. 237.

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die Idee der »schönen Seele«, wobei die bereits in der Philosophie Plotins zu findende Vision einer Vereinigung mit dem Göttlichen in dem Topos vom Seelenbräutigam Christus eine besondere Gestalt annimmt.329 Im 18. Jahrhundert, insbesondere im Rahmen der empfindsamen Tendenz, findet der aus neuplatonischen und christlichen Wurzeln sich entwickelnde Begriff der »schönen Seele« allgemeine Verbreitung. Wie für die gesamte empfindsame Tendenz in Deutschland, so ist auch und gerade in diesem Zusammenhang der überragende Einfluß von Shaftesbury und Rousseau geltend zu machen. Von diesen zeigte sich auch Wieland stark beeinflußt, dessen Werk insbesondere als ein Spiegelbild der zeittypischen Diskussionen um Begriff und Ideal der »schönen Seele« angesehen werden kann, das selbst die Weimarer Klassik noch nachhaltig prägte und erst mit der Hegelschen Kritik an der romantischen Subjektivität seinen vorläufigen Schlußpunkt fand.330 Der somit zugleich als traditionell und als zeittypisch anzusehenden Idealgestalt der »schönen Seele« ist auch das Denken Jacobis im höchsten Maße verpflichtet.331 Wie der Briefwechsel zeigt, stellt sich der Kreis der Empfindsamen als eine Vereinigung »schöner Seelen« dar,332 in deren Mittelpunkt Sophie von La Roche steht, »die schönste unter allen Seelen«: »Ihr reiner und sanfter Blick giebt dem Herzen die ruhige Begierden-freye Seligkeit der Bewohner Elysiums zu kosten; das empörteste Blut muß in ihrem Angesichte sich besänftigen, und moralisch wallen. Das göttliche lächeln ihres schönen Mundes; der rührende Ton ihrer Stimme; ihre Mienen voll Geist und Anmuth; ihre von allen Grazien beseelte Geberden, alles stimmet zusamen, den süßesten und mäch329

Vgl. hierzu und zum folgenden Schmeer: Begriff der »schönen Seele«. Vgl. Robert E. Norton: The Beautiful Soul. Aesthetic Morality in the Eighteenth Century. Ithaca, N.Y. u. a. 1995; zu Wieland S. 142–164. 331 Liest man den von Manfred Engel verfaßten kurzen Exkurs über die »schöne Seele« in Wilhelm Meisters Lehrjahre, so ist man in der Tat geneigt, sie für ein Portrait Jacobis, zumindest aber seines Idealbildes, zu halten (vgl. Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 489). Gustav Falke hat gar den Versuch unternommen, die Hegelsche Kritik der »schönen Seele« als reale Auseinandersetzung einzig mit Jacobi zu lesen, wobei er die Kritik Hegels an Jacobi in Glauben und Wissen sowie die Handlung des Woldemar zur Beweisführung heranzieht (vgl. Gustav Falke: Hegel und Jacobi. In: Hegel-Studien 22 [1987], S. 128–142, bes. S. 133 f. u. 139). 332 Vgl. hierzu im Brief von Wieland vom 16.11.1770: »Wie viele schöne Seelen würden mir unbekannt geblieben seyn« (JBW I,1, 99). In einem undatierten Brief (vor dem 19.6.1771) heißt es: »Saluez de ma part osculo pacis et charitatis Votre aimable Betty, notre frere George et toutes les belles ames de Votre famille.« (JBW I,4, 322.) – Vgl. auch in seinem Brief an M. S. von La Roche vom 26.12.1769: »Gleim et Jacobi sont du petit nombre de ces beaux esprits, qui ont l’ame assez belle pour être incapable d’envie et de jalousie« (Wieland: Briefwechsel, Bd. 4, S. 78) sowie die Briefe an Johann Georg Jacobi vom 2.12.1771: »Bester der Sterblichen! Nein! niemals niemals hat eine schönere Seele als die deinige in einem Leibe von Erde gewohnt!« (ebd., S. 414) und vom 24.3.1777: »[…] heute langt nun dein lieber Brief an, der so ganz Abdruck deiner schönen und guten Seele ist!« (ebd., Bd. 5, S. 601). 330

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tigsten Eindruck auf das Herz dererjenigen zu machen, die das unaussprechliche Glück ihrer Gegenwart genießen. – […] Sophiens ganzes Wesen; ihre geringste Handlungen, ihre kleinste Bewegungen, zeügen von der ausnehmenden Feinheit Ihrer Empfindung, und einer wunderbaren und gleichsam unter allen Ihren Seelen-kräften abgeredeten Geschäftigkeit derselben, bey jeder Gelegenheit die Güte ihres Herzens thätig zu machen.«333 Diese aus dem Brief an den Grafen Chotek stammende Charakterbeschreibung der Sophie von La Roche ist ein vollkommenes Gemälde des Ideals der »schönen Seele«: Sie ist in höchstem Maße empfindsam, doch ihren Empfindungen haftet nichts Niederes, Sinnliches, Unreines an, denn sie ist frei von Begierden oder Leidenschaften. Allein die Gegenwart dieser »schönen Seele« vermag auf eine wunder-volle Weise die Menschen zu bessern, indem sie ihnen tugendhafte Gesinnungen einflößt. Als wahrhaft »schöne Seele« aber zeichnet sich Sophie dadurch aus, daß sie nicht im passiven Empfinden verharrt, sondern nach der »thätige[n] Tugend«334 strebt, ihre Moralität also praktisch wird und sich im guten Handeln bewährt. Damit ist eine der zentralen Forderungen »wahrer Empfindsamkeit« – im Unterschied zur »Empfindelei« – erfüllt: Sie muß »immer Tatenreich [sein; C.G.], so oft die Umstände es erlauben«.335 In der Liebe eines solchen, vollkommenen Geschöpfs und in der – durch antwortende Liebe ermöglichten – (geistigen) Vereinigung mit ihm, ist der Weg zur Tugend auch für denjenigen bereitet, der sich noch nicht aus eigener Kraft zu gleichartiger Vollkommenheit hat emporschwingen können: »Was ginge selbst Sophie La Roche mich an, wenn meine Seele früher auf diese Art vollendet worden wäre!«, schreibt Jacobi am 9. Oktober 1773. »In Ihrem Anschauen, meine Freundin, reiniget sich mein Herz je mehr und mehr. Kein trügerischer, Ekelschwangerer Genuß soll es forthin von seinem Ziele entfernen; in wahren Ahndungen inniger Vereinigung soll es harren, bis es Leben erwerbe und gebe.«336 Wie im Brief an den Grafen Chotek bessert auch hier schon die bloße Gegenwart, das reine Anschauen der »schönen Seele«.

333

Brief an J. R. von Chotek vom 16.6.1771 (JBW I,1, 110). Brief von M. S. von La Roche vom 17.9.1771 (JBW I,1, 138). 335 Joachim Heinrich Campe: Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht. Hamburg 1779, S. 11; zit. nach Sauder: Empfindsamkeit (1980), S. 6. – Vgl. hierzu auch in Jacobis Brief an P. E. Reich vom 27.5.1771: »Sie werden hier Eindrücke sammeln, die Sie überall begleiten, und eine selige Qüelle süßer Empfindungen und edler Handlungen für Sie seyn werden.« (JBW I,4, 319.) – Jacobi hat diese »thätige Tugend« in der Tat praktiziert. Vor allem hat er Mitglieder der »Gelehrtenrepublik« (Heinse, Forster, Claudius etc.) immer wieder finanziell unterstützt. Vgl. auch das Beispiel JBW I,4, 323 f. 336 JBW I,1, 214. – Daß Sophie von La Roche lange Zeit als diese Inkarnation der »schönen Seele« gefeiert wurde, belegt auch der 1783 im Deutschen Museum erschienene Beitrag von G. Leon: »Empfindungen bei der Frau von La Roche Bilde« (1. Bd., S. 263; zit. nach Schmeer: Begriff der »schönen Seele«, S. 46). 334

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Sophie von La Roche erfüllte aktiv diese Rolle als Moralerzieherin, die ihr als Frau im Rahmen der sich zu jener Zeit herausbildenden bürgerlichen Geschlechtscharaktere zufiel.337 In ihrer Zeitschrift Pomona (1783/84) hat sie die moralische Belehrung vor einem größeren Publikum betrieben, wobei auch in diesem Kontext die »schöne Seele« als Leitbild der Tugend in Erscheinung trat.338 Im Briefwechsel Jacobis aber ist ihr Wirkungsbereich noch auf den engsten Freundeskreis beschränkt. Als sie im ersten großen Streit zwischen Wieland und den Brüdern Jacobi vermittelnd eingreift, nimmt sie Maß an den empfindsamen Tugendidealen und verwirft danach das Verhalten Wielands: Er habe sich seiner »Eigenliebe«, seinem »persönlichen Intreße« überlassen, die »schönsten Pflichten des Herzens« verletzt und damit »die Ruhe seiner edelsten Freünde« geopfert. Auf diese Weise trat an die Stelle tugendhafter Empfindungen »die Hitze der Wuth«, die »ihn verzehrt«. Um ihn wieder auf den Weg der Tugend zurückzuführen, will sie, so läßt sie ihre Adressaten wissen, an Wieland schreiben. Den an die Brüder Jacobi gerichteten Brief aber nutzt sie abschließend dazu, sich des vorgeschriebenen Weges abermals zu versichern: »A dieu beste Jacobi’s; die Vorsicht erhalte Sie bey der edlen Empfindsamkeit für das Wohl und das Ubel anderer, und laße ja die für unsere Einzelnheit nie das Ubergewicht bekommen«.339 Der hier thematisierte Widerstreit zwischen Eigen- und Nächstenliebe, zwischen egoistischen und altruistischen Trieben, wobei erstere mit der Sinnlichkeit, letztere dagegen mit der erstrebten reinen Geistigkeit assoziiert wurden, ist eine Kernfigur der Empfindsamkeit und des Jacobischen Denkens. In einem Brief an Wieland, der dessen Roman Die Geschichte des Agathon zum Gegenstand hat, verdeutlicht Jacobi seine diesbezügliche Position. In Entgegensetzung zu Wielands Behauptung im Agathon besteht Jacobi darauf, daß der Leser sich nicht mit demjenigen identifiziert, der aus einer tugendhaften Handlung den Nutzen zieht, sondern im Gegenteil mit jenem, der tugendhaft handelt:

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Die Ausführungen von Helga Brandes lassen deutlich werden, wie sehr die empfindsame Stilisierung der Frau zur »schönen Seele« in den Dienst einer »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« gestellt ist (vgl. Helga Brandes: Der Wandel des Frauenbildes in den deutschen Moralischen Wochenschriften. Vom aufgeklärten Frauenzimmer zur schönen Weiblichkeit. In: Wolfgang Frühwald und Alberto Martino [Hg.]: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur [1700–1848]. Tübingen 1989 [= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 24], S. 49–64, vor allem S. 60 u. 62, Fn. 84). – Vgl. hierzu auch Ralf Konersmann: Die schöne Seele. Zu einer Gedankenfigur des Antimodernismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 36 (1993), S. 144–173, hier S. 154 u. 162. Anderenorts nimmt Konersmann kritisch zu der These Stellung (vgl. Seelenschönheit als Weiblichkeitsideal? Versuch, ein Mißverständnis aufzuklären. In: Psychologie und Geschichte 5 [1993], S. 94–109). Seine Ergebnisse stimmen nicht mit den Ergebnissen meiner eigenen Quellenanalyse überein. 338 Vgl. Schmeer: Begriff der »schönen Seele«, S. 45. 339 Brief von M. S. von La Roche vom 17.9.1771 (JBW I,1, 138 f.).

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»Eine schöne, erhabene Seele zu haben, sehen wir, wenn Leidenschaften uns nicht betrüben, für ein größeres Gut an, als äußerliche Vortheile. […] In der That ist das Vergnügen, welches uns das Anschauen einer tugendhaften Handlung gewährt, nichts anderes, als die Sympathie mit der Glückseligkeit desjenigen Geistes, der diese tugendhafte Handlung zu verrichten im Stande war. Mir scheint es, nach reiflichem Nachdenken und vielfältiger Beobachtung, unstreitig zu seyn, daß Hochachtung und Liebe, welche wir gegen andere Menschen empfinden, allemal auf diejenigen Eigenschaften sich beziehen, wodurch der Mensch sich selbst als Mensch und anderen Menschen nützlich wird. Der Mensch liebt und schätzt hoch, was dem Menschen nützlich ist, nämlich, was das vollkommenste und liebenswürdigste Wesen, welches er kennt, vollkommener und liebenswürdiger macht; und es liegt am Tage, daß dieß etwas ganz anderes ist, als, etwas bloß darum lieben und hochschätzen, weil es unseren Privatvortheil befördert, so sehr man sich auch bemüht hat, durch allerhand Trugschlüsse und flache Beobachtungen Beides in Eins zu mischen.«340 Mit der in Münster lebenden Fürstin Amalia von Gallitzin, die Anfang der 1780er Jahre zur zentralen Briefpartnerin Jacobis wird, teilt Jacobi dieses Streben nach Vervollkommnung, das sich in einer kontinuierlichen Zurückdrängung der Eigenliebe realisiert. Wie schon im Woldemar, so wird auch in diesem Freundschaftsverhältnis deutlich, daß nur eine an diese Vollkommenheit heranreichende und sich weiter vervollkommnende »schöne Seele« zu wahrer Freundschaft fähig ist. In ihrem Brief vom 21. Oktober 1784 – einem der ganz wenigen erhaltenen Briefe der Gallitzin an Jacobi – erläutert sie, aus Veranlassung eines Streites mit Jacobi, ihren Begriff von Freundschaft, den sie zunächst definiert als vollständige Seelenvereinigung: »Das leben in einen andern WIE in mir selbst ist es daß ich Freündschaft nenne.« Selbstverständlich ist ihr bewußt, daß eine solche Freundschaft jede Art von »Collision« notwendig ausschließen muß. Sie kann demnach, so ihre im Brief folgenden Erläuterungen, niemals zwischen solchen Menschen zustandekommen, die nach sinnlichem Vergnügen oder Reichtum, mithin äußeren, materiellen Gütern, streben; sie vermag aber auch dort nicht realisiert zu werden, wo die Eigenliebe dominiert. Vielmehr kann die wahre Freundschaft nur da Wirklichkeit werden, wo das Streben nach dem Göttlichen, nach Verbesserung und Vereinigung, herrschend ist: »also – unter solchen Menschen allein – deren glückseeligkeits Zweck, das Hochste Gut ist – die beständige Verbeßrung u Verschönerung ihres Weßens – die annährung zum Höchsten aller Wesen dieser Zweck allein, ist ohne Collision – jeder kan dieses Gut nach dem Grad seiner anlage u Kräfte genießen ohne es je zu vermindern geschweige zu erschöpfen. jeder Mensch nun der diesen Zweck rein 340

Brief vom 23.11.1772 (JBW I,1, 176 f.).

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II. Gefühl

in seinem Herzen ernähret […] jeder solche u nur ein solcher, ist zu der Art Freündschaft Tüchtig wenn er mit diesem Zweck einen Hohen Grad v: Fähigkeit Simpatätisches gefühls vereiniget. u selbst, die Höchste Fähigkeit zur liebe Gottes, berühet auf diesen merkmalen oder Eigenschaften.«341 Da Gott selbst aber unerkennbar ist, muß, so führt die Gallitzin weiter aus, die Vereinigung der »schönen Seelen« an seine Stelle treten: In der wahren Freundschaft wird Gott greifbar, wahrnehmbar;342 die Gottheit realisiert sich somit in einer zugleich säkularen und sakralen Freundschaft, deren höchstes Ziel und oberste Pflicht in eigener und wechselseitiger Vervollkommnung besteht.343 Diese Vollkommenheit oder zumindest das unablässige Streben danach, wodurch sich Sophie von La Roche und Amalia von Gallitzin auszeichnen, ja über welche sie sich wesensmäßig definieren, ermöglicht die Transzendierung des Irdisch-Endlichen in diesem selbst. Sie leben, sprechen mit den Menschen und sind doch zugleich nicht von dieser Welt. Sie stehen in direktem Kontakt mit dem Göttlichen und suchen den Menschen auf dem Wege zur Göttlichkeit zu geleiten. Als Botschafter der Tugend sind sie so unter die Engel zu rechnen und werden im Briefwechsel auch mit ebendiesem Titel angesprochen.344 Doch nur in der idealischen Welt der Romane scheinen »die göttlichen Geschöpfe«,345 wie etwa Henriette und Allwina, weiterexistieren zu können. Im ›wahren Leben‹ werfen sie, die höchste Stufe der Vollkommenheit erreichend, die Körperhülle ab und gehen – als Engel und Heilige – ein ins Himmelreich. Dies ist die Vision, mit der Jacobi den Tod seiner Ehefrau Betty begleitet; in ihr wird das Konzept der »schönen Seele« konsequent zu Ende geführt und zugleich mit der trostreichen Idee der Unsterblichkeit verknüpft: »Mit der innigsten Empfindung hab’ ich tau-

341

JBW I,3, 376. – Bechmann hat darauf hingewiesen, daß die »Verbindung in einem tertium comparationis als einem Guten […] bereits bei Aristoteles das qualifizierende Moment der Freundschaft [ist]« (Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 44). Vgl. hierzu das VIII. und IX. Buch der Nikomachischen Ethik. 342 Vgl. hierzu auch Wilhelm Körtes Aussage in seiner Biographie Gleims: »Freundschaft war in Gleims Leben die mächtigste Triebfeder, das reinste Licht (…) denn Gott hatte sich ihm in der Freundschaft am deutlichsten offenbart.« (Wilhelm Körte: Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften. Halberstadt 1811, S. 66 u. 72; zit. nach Frühsorge: Freundschaftliche Bilder, S. 442). 343 Vgl. hierzu auch: Walter Horace Bruford: Fürstin Gallitzin und Goethe. Das Selbstvervollkommnungsideal und seine Grenze. Köln u. a. 1957 (= Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Geisteswissenschaften; Bd. 76). 344 Vgl. etwa im Brief an M. S. von La Roche vom 9.10.1773 (JBW I,1, 214) und Anm. 326. 345 Brief von Lavater vom 3.5.1794 (AB II, 167). – Die Stilisierung der Geliebten zu einem »quasi-göttlichen Wesen« ist gemäß Manfred Engel typisch für den »anthropologische[n] Roman der Spätaufklärung« resp. ein typisches Symptom der Schwärmerei (Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 485 u. 479).

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

171

sendmahl zu ihr gesagt: Betty, du bist ein Göttliches Geschöpf! Aber ich selbst verstand nicht den ganzen Inhalt meiner Rede. Und sie fuhr fort immer Göttlicher zu werden, bis die Hülle von ihr abfiel, und ihr Geist mir vor Augen stand – «346 Betty, die, folgt man Jacobis Briefen, in ihrem Leben in reiner Tugendhaftigkeit erstrahlte und ihren Mitmenschen, ebenso wie Sophie und Amalia, als Vorbild diente, vermag diese Rolle nun weit vollkommener einzunehmen: »Sie war reines Herzens, darum hatte Gott sein Angesicht zu ihr gewandt, und jede Tugend ward ihr leicht. Auf diesem Wege ist sie anbetungswürdig ist sie eine Heilige geworden, welche Menschen segnen kann und segnet mit der größten Hülfe, indem sie sie zu sich hinaufzieht und zu Gott.«347 Selbstverständlich verdankt sich diese Stilisierung in den Trauerbriefen einem ganz traditionellen, christlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung und das ewige Leben. Doch sie ist ineins damit die zu Ende gedachte Logik des Ideals der »schönen Seele«, das eine Tilgung nicht nur der Generationendifferenz (»Bruder«), nicht nur der Geschlechterdifferenz (»Bruder Heinrich«, »Engel«), sondern auch der fundamentalen Leben-Todes-Differenz nachgerade verlangt.348 Die Glorifizierung des Todes in den Briefen Jacobis,349 aber auch die Todessehnsucht der

346

Brief an J. A. von Clermont vom 13.2.1784 (JBW I,3, 285). – Vgl. auch die Heiligsprechung Linas, der Braut Georg Arnold Jacobis, im Brief an diesen vom 30.7.1793 (Handschrift: HeinrichHeine-Institut, Düsseldorf) sowie Jacobis Brief an Lina mit demselben Datum (ebd.). 347 Brief an G. A. Jacobi vom 24.2.1784 (JBW I,3, 296). Vgl. auch Jacobis undatierten Brief an die Aachener Verwandten von Mitte Februar 1784 (JBW I,4, 370). 348 Gemäß Rudolf Heinz sind dies die drei – Menschsein ausmachenden – Fundamentaldifferenzen (vgl. etwa Heinz: Somnium Novum, S. 22). – Ein schönes Beispiel für die tendenziell allumfassende Differenztilgung enthält auch ein Brief Klopstocks an Bodmer: »Cramer nennt sie [= Meta Moller], den weiblichen Klopstock. […] O, in unaussprechlichen Stunden, in Stunden der vollen Glükseligkeit, ist sie: Mein Mädchen, meine Clary; meine Clarissa; meine Freundinn; mein Freund; meine Schwester; meine Braut! alles auf einmal, oder jedes besonders, wie es die Liebe wollte, gewesen.« (Zit. nach Friedrich: »Ewig lieben«, S. 167.) 349 Vgl. etwa im Brief an Goethe vom 21.10.1774: »Gleich bey’m Erwachen heute früh fuhr mir über’s Angesicht der Schauer, von dem du weißt, wie er hinabzittert, eindringt, zum auflösenden Leben wird im Busen, und den ganzen Erdensohn tödtet. – Tod, schöner, himmlischer Jüngling!« (JBW I,1, 265.) So auch im Brief an Wieland vom 13.11.1774 (JBW I,1, 270). – Die Imagination des Todes als Jüngling geht auf die von Lessing in seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) und – im direkten Anschluß an diesen – von Herder in seiner gleichnamigen Abhandlung (1774) verworfene christliche Darstellung des Todes als Skelett, als Knochenmann und die Wiederbelebung antiker Todesdarstellungen zurück. Vgl. Schneiders: Aufklärung als memento mori?, S. 92. Die Herdersche Schrift erwähnt Jacobi im Brief an Wieland vom Juli 1775 (JBW I,2, 21; vgl. auch S. 22). – Vgl. hierzu auch die Zeichnung von Bernhard Rode Der Tod als Jüngling mit gesenkter Fackel (Doris Schumacher: Freundschaft über den Tod hinaus. Die bürgerliche Kultur des Gedenkens im 18. Jahrhundert am Beispiel Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Ute Pott [Hg.]: Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Göttingen 2004, S. 33–52, hier S. 39).

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II. Gefühl

Gallitzin haben hier ihren Ort.350 Julie von Reventlow, deren »schöne Seele sich täglich heiliget«, deren »ganzes Wesen vom Feuer der Liebe durchdrungen die Schlacken abwirft«,351 hat diese Sehnsucht nach dem Tode in einem Brief an Jacobi auf die Spitze getrieben, indem sie die Vision eines kollektiven Eingehens in die Ewigkeit formulierte: »so alle zusammen unnterzugehn wie in Pompeji das wäre himmlische Wonne.«352 Erst im Tode realisiert sich jene Freiheit und reine Liebe, die im Zentrum der Philosophie Jacobis steht. Dabei enthüllt sich eine eigentümliche Dialektik: »Tod ist Öffnung und Entgrenzung des Lebens, er bringt wohl Erhöhung des Gefühls, Selbstverwirklichung, aber diese Selbstverwirklichung liegt in der Selbstaufgabe, die Verselbstung in der Entselbstung«.353 Diese Selbstwerdung durch Selbstvernichtung erweist sich als zentraler Programmpunkt bürgerlicher Disziplinierung. Das Leben als die vorweggenommene Vollkommenheit des Todes stellt sich als ein Erziehungs- und Selbsterziehungsprozeß dar, dessen Ziel es ist, alle »Schlacken« der Endlichkeit abzuwerfen.354 Ein wesentlicher Bestandteil dieses Reinigungsprozesses verdankt sich dabei der Abgrenzung von allem ›Niederen‹: von »Begierden«, »Leidenschaften«, »Affekten«. Welche Opfer die »heilige« und als heilige auf totale Indifferenzierung ausgehende Freundschaft forderte, hat die tatsächliche Brüchigkeit der Freundschaften eindringlich demonstriert. In gleicher Weise war auch der Weg zur Idealgestalt der »schönen Seele«, die – wie wir sahen – wahre Freundschaft allererst ermöglichen sollte, ein Opfergang: Die »schöne Seele« opfert ihrer Göttin, der Tugend, für die ihr kein Opfer zu groß ist: »Die Liebe zur Tugend, das Verlangen, sich selbst nach diesem göttlichen Ideal der moralischen Schönheit umzubilden, bemächtigt sich nun aller ihrer Neigungen; es wird zur Leidenschaft; in diesem Zustande, mehr als in irgend einem anderen, ist es, wo man sagen kann, daß die Seele von einer Gottheit besessen ist; und welche

350

Vgl. etwa den Brief von A. von Gallitzin an Jacobi vom 16.–17.2.1784, in welchem sie beschreibt, wie sie Georg Arnold Jacobi den Tod seiner Mutter nahegebracht hat und wie dieser darauf reagierte. Unter anderem schreibt sie: »Ueber Tisch sagte er einmal: – Ich konnte es immer nicht begreifen, wenn Sie öfters zu uns sagten: man könne sich nach dem Tode sehnen; nun aber begreife ichs! Ich hoffe ihn morgen noch in eben derselben Verfassung zu finden« (JBW I,3, 289). 351 Brief von S. Stolberg vom 11.2.1794 (Zoeppritz I, 175). 352 Brief von Stolberg und J. von Reventlow vom 19.1.1789 (Zoeppritz I, 112). – Zur Todessehnsucht der Zeit im allgemeinen vgl. die Beispiele bei Rehm: Todesgedanke, S. 280 ff. (= »Empfindsamkeit und Sturm und Drang«), bes. S. 301. 353 Ebd., S. 326. 354 Möglicherweise ließe sich von hierher die Rolle des Todes in Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfinn von G*** noch anders deuten, als Witte es getan hat (Witte: Gellert: »Leben der schwedischen Gräfinn von G***«, S. 138–144).

3. Freundschaft als Unsterblichkeitsstrategie

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Probe ist so schwer, welches Opfer so groß, um zu schwer, zu groß für den Enthusiasmus der Tugend zu sein«.355 Welche – bei aller Quellenkritik – höchst realen Opfervorgänge sich mit diesem Konzept verbanden, wird im nächsten Kapitel unter dem Titel »Begehren« entfaltet werden.

355

Christoph Martin Wieland: Die Geschichte des Agathon (zit. nach Schmeer: Begriff der »schönen Seele«, S. 30).

III. BEGEHREN

1. Begehren im Briefwechsel Jacobis In der zeitgenössischen Terminologie wird das »Begehren« faßbar vor allem in den Begriffen »Affekt«, »Leidenschaft«, »Begierde«, »Trieb«, »Neigungen«, aber auch »Sinnlichkeit« und »Wollust«. Wie Gerhard Sauder gezeigt hat, sind diese Begriffe im 18. Jahrhundert keinesfalls terminologisch präzise gefaßt, sieht man einmal von Immanuel Kant ab, dessen Definitionen aber kaum als repräsentativ für den zeitgenössischen Wortgebrauch angesehen werden können.1 In der Bewertung des solcherart terminologisch gefaßten Begehrens aber sind sich rationalistisch ausgerichtete Aufklärung und Empfindsamkeit weitgehend einig: Ungezügelte Leidenschaften und Affekte, Begierden und Triebe stellen eine Gefahr dar für Vernunft, »schöne Seele« und Tugend, insofern sie Freiheit und Autonomie, aber auch den friedlichen Zusammenhalt der Gesellschaft stören. Auf eine Zähmung – wenn nicht gar gänzliche Unterdrückung – des Begehrens sollte somit hingewirkt werden.2 Analysiert man den Briefwechsel Jacobis im Hinblick auf die mit dem Begehren assoziierte Begrifflichkeit, so ergibt sich allerdings zunächst ein widersprüchliches Bild. Teils scheinen die Begriffe neutral, teils positiv und teils negativ konnotiert zu sein. In einem neutralen Sinne kann beispielsweise von »den geheimsten Neigungen seiner Seele«3 oder davon die Rede sein, seinem »Leben neuen Trieb zu verschaffen«.4 Dieser neutrale Gebrauch ist weitgehend unproblematisch; er steht für eine unreflektierte, wie beiläufige, alltagssprachliche Verwendung der Worte. Verwirrender dagegen ist die Tatsache, daß »Affekte«, »Leidenschaften«, »Begierden«, »Triebe« und »Neigungen« deutlich positiv und deutlich negativ konnotiert sein können. Eine genauere Analyse fördert dabei einige – teils implizite, teils explizite – Abgrenzungskriterien zutage. Orientiert man sich beispielsweise am empfindsamen Ideal der »schönen Seele«, so scheint die »ruhige Begierden-freye Seligkeit«5 das größte Glück zu bedeuten. Der

1

Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 133–137. Vgl. hierzu Begemann: Furcht und Angst, S. 34–37. 3 Brief an J. Müller vom 20.8.1787 (Handschrift: Stadtbibliothek Schaffhausen). – Vgl. auch den Brief an C. M. Wieland vom 22.4.1775, wo von »unsere[n] Ideen und Neigungen« die Rede ist (JBW I,2, 11). 4 Brief an J. G. A. Forster vom 25.11.1783 (JBW I,3, 259). 5 Brief an J. R. Graf Chotek vom 16.6.1771 (JBW I,1, 110). 2

176

III. Begehren

Sieg über »Begirden« wird zum höchsten Ziel.6 Gleichwohl ist es erlaubt, etwa auf ein bestimmtes Werk, ein Buch oder einen Aufsatz, »begierig« zu sein. In diesem Sinne ist Wieland »sehr begierig« auf Jacobis »[k]leines Buch über die Wahrheit«7 und nicht weniger »begierig«, Jacobis Urteil über Laidion zu erfahren.8 Neben dem Lesen ist auch das Schreiben – insbesondere das Verfassen von freundschaftlichen Briefen – positiv besetzt. Entsprechend läßt Jacobi Wieland wissen, daß es ihm »unmöglich« sei, »der Begierde zu widerstehen, Ihren letzten Brief zu beantworten«.9 Schließlich darf auch der Begegnung mit einem Freund mit Begierde entgegengesehen werden. Lavater gar, so weiß Jacobi Wieland zu berichten, »schmachtet von heißer Begierde, Sie zu sehen und zu sprechen«.10 Deutlich macht in diesen Fällen der Gegenstand des Begehrens den ganzen Unterschied: Richtet sich die Begierde auf einen – insbesondere innerhalb der Empfindsamkeit – positiv besetzten Gegenstand (Schrift, Freund), so ist auch die Begierde danach gutzuheißen. Vergleichbares gilt auch von den Leidenschaften. »Reisen, meine Freunde sehen, ist jezt mein einziges Bedürfnis, meine einzige Leidenschaft, die ich zuförderst befriedigen muß«,11 bekennt Johann Georg Hamann in einem Brief an Jacobi vom November 1786. Jacobi wiederum berichtet Hamann von seinem ältesten Sohn, Johann Friedrich, daß er »ein Ausbund v einem guten Menschen [ist], u […] wohl an nichts mit größerer Leidenschaft hängt, als an seinem Vater«.12 Schließlich darf sich Jacobi auch legitimerweise im Anschluß an die Strapazen und Zerstreuungen einer vielwöchigen Norddeutschlandreise »nach Freyheit und Stille mit der Inbrunst der höchsten Leidenschaft« sehnen.13 Die Liebe zu Freunden oder zu seinen Eltern sowie der Wunsch nach Autonomie sind derart hohe Güter, daß – diese mit Leidenschaft zu begehren – den Seelenadel auszeichnet. In diesem Sinne kann sogar von der »göttlichen Wollust der Seele« gesprochen werden.14 Doch ist hiermit nicht gleich jede Leidenschaft geadelt. Als durch die »Ettersburger Woldemar-Kreuzigung« die Freundschaft zwischen Jacobi und Goethe zerbricht, schreibt Jacobi an Georg Forster: »[…] von jeher ist es mehr Leidenschaft, als Hochachtung und Freundschaft gewesen, was mich an ihn [= Goethe] band«.15 Forsters Antwortbrief macht dann deutlich, warum Leidenschaft so verwerflich sein und ins6

Brief von T. Wizenmann vom 19.2.1784 (JBW I,3, 292). Brief vom 9.10.1771 (JBW I,1, 143). – Es ist nicht bekannt, welche Schrift Jacobis gemeint sein könnte (vgl. JBW II,1, 151 [zu 143,3]). 8 Brief vom 28.5.1778 (JBW I,1, 235). 9 Brief vom 27.10.1772 (JBW I,1, 167). 10 Brief vom 15.10.1774 (JBW I,1, 262). 11 Brief vom 11.–13.11.1786 (JBW I,5, 407). 12 Brief vom 13.1.1786 (JBW I,5, 18). 13 Brief an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 207). 14 Brief von C. M. Wieland vom 16.11.1770 (JBW I,1, 99). 15 Brief vom 13.11.1779 (JBW I,2, 129). 7

1. Begehren im Briefwechsel Jacobis

177

besondere zur Gefährdung der Freundschaft führen kann: »Leidenschaften [sind] blos für eine kurze Zeit«.16 Damit stehen sie dem Ewigkeitsanspruch der empfindsamen Freundschaftsbünde diametral entgegen. Stetigkeit, Beständigkeit ist mithin ebenfalls ein Kriterium der Abgrenzung »guter« von »schlechter« Affektivität, und Jacobi beschwört sie gerade im Zusammenhang mit Goethes Verhalten als Grundfesten aller Moralität.17 Das Ideal der Beständigkeit hat eine lange Tradition. Bereits die antike Philosophie kannte es, und man findet es in der »barocken Affektenlehre« ebenso wie in der Morallehre der Puritaner.18 Ein weiteres Differenzierungskriterium stellt der Grad an Selbstverlust bzw. Selbstbeherrschung dar. Sich seinen »Affekten«, »Leidenschaften«, »Begierden« und »Neigungen« blindlings zu überlassen und darüber sich selbst zu verlieren, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein, ist das Tabu der nach Autonomie strebenden Aufklärungszeit schlechthin; darin stimmen rationalistisch ausgerichtete Aufklärung und Empfindsamkeit überein. Jacobi selbst äußert sich hierzu eindeutig in einem Brief an Johanna Schlosser: »Ich berufe mich auf die Empfindung eines jeden Menschen: in welchen Augenblicken er sich selbst am höchsten geschätzt hat? – Zuverläßig in denjenigen Augenblicken, wo ihm das Vermögen am gegenwärtigsten war, einen beständigen Vorsatz zu faßen, Herr über sich selbst zu seyn. Am verächtlichsten hingegen in denen Augenblicken, wo er seinen Entschlüßen zuwider handelte, wo ihn seine Grundsätze verließen, wo ihn das Gegenwärtige verschlang, Sinnlichkeit die Oberhand bekam; wo er der dummen Geistlosen Materie ähnlich wurde, die nur Druck und Stoß des Augenblicks, fremde unmittelbare Gewalt regiert und formt. – In der Beurtheilung anderer folgen wir unabläßig eben dieser Regel. Je übereinstimmiger mit sich selbst wir einen Menschen sehn, je größer ist unsere Hochachtung für ihn; je widersprechender mit sich selbst, je größer unsere Verachtung.« Dabei seien es gerade die vielen und heftigen Neigungen, die den Menschen von seinen Grundsätzen abweichen und ihn in seinem Verhalten »allmählig bis unter das Vieh hinabsinken« lassen.19 Nach dem Selbstverständnis der Empfindsamen durfte die Unterdrückung heftiger Neigungen und das Festhalten an Grundsätzen jedoch nicht dazu führen, daß die Empfindungen schlechthin zugunsten der Rationalität negiert werden. Der reine Kopfmensch war ein »kalter« Mensch, dem darum die 16

Brief vom 29.11.1779 (JBW I,2, 131). Vgl. den Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 125 f.). 18 Zu ersterem vgl. Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 183, Fn. 36. Zur Beständigkeit als ethischem Ideal des Puritanismus vgl. Edmund Leites: Puritanisches Gewissen und moderne Sexualität. Frankfurt a. M. 1988. 19 Brief vom 10.11.1779 (JBW I,2, 125 f.). – Ein weiteres Beispiel für den Selbstverlust unter Affekteinfluß findet man in J. G. Hamanns Brief an Jacobi vom 13.–14.5.1787 (Hamann 7, 198). 17

178

III. Begehren

Voraussetzung zu einem tugendhaften Leben fehlte.20 Das erstrebte Ziel bestand vielmehr in einem Gleichgewicht von Herz und Kopf. Nicht völlig affekt- und leidenschaftslos und dennoch selbstbeherrscht zu sein, ist das Ideal der Empfindsamkeit. Jacobis Selbstcharakteristik aus einem frühen Brief an Hamann orientiert sich an diesem Ideal: »Weil ich fast immer mit Affect handle u rede, so handle u rede ich darum nicht aus Affect.«21 Jacobi stellt sich mithin dar als ein empfindungsvoller Mensch, der gleichwohl nicht Sklave seiner Affekte ist. Diesem Tugend- und Wertekanon Jacobis scheint Forster entsprechen zu wollen, wenn er an ihn schreibt: »Der liebenswürdigste ist der, der sich selbst am vollkommensten beherrscht, denn das ist Gerechtigkeit gegen alle Mitmenschen; aber schätzbar bleibt immer der Mann von heftigen, zuweilen tyrannisirenden Leidenschaften, und weil er lebhafter fühlt und empfindet, liebt man ihn oft noch weit mehr als jenen.«22 Welch’ heikles Konstrukt das empfindsame Ideal darstellte, wird an dieser Aussage Forsters, die vermutlich auf einem Mißverstehen der Position Jacobis beruht, offenkundig.

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis Die ambivalente Bestimmung des Begehrens und die jeweiligen Abgrenzungskriterien machen zweierlei deutlich: Zum einen, daß es eine positiv bestimmte Affektivität gibt und diese letztlich auch Grundlage des moralisch guten Handelns ist. In diesem Sinne sieht Jacobi etwa in der »Begierde vortrefflich zu seyn«, den »edelste[n] Trieb in der menschlichen Natur«.23 Es ist der Trieb zum Guten, genauer: zum Gutsein, schlechthin. Diese affektive Grundlage der Moralität hat ihr Vorbild in der »moral sense«-Theorie24 und weiterhin in der platonischen Philosophie. Der »moral sense«, der immer auch ein »inner sense« ist,25 bildet das Organ der Moralität. An diesem 20

In diesem Sinne schreibt etwa F. L. zu Stolberg am 6.12.1793 an Jacobi: »[…] ich überzeuge mich immer mehr, daß Kälte das eigentliche Prinzip des Bösen sey, im Physischen wie im Moralischen« (AB II, 136). Jacobi äußert sich hierzu zustimmend in seinem Brief an J. G. Schlosser vom 18.1.1794 (Zoeppritz I, 171). 21 Brief vom 17.–18.11.1785 (JBW I,4, S. 248). 22 Brief vom 16.–23.11.1782 (JBW I,3, 85 f.). 23 Brief an M. S. von La Roche vom 1.7.1775 (JBW I,2, 20; vgl. JWA 4,1, 194). – Vgl. auch im Brief an T. Wizenmann vom 9.2.1787: »Die größten Menschen haben das Wesen unserer Seele eine Begierde genannt, und mit sehr guten Gründen, wie mir däucht, behauptet, daß sie, nach ihrer nothwendigen unveränderlichen Bestimmung, auf das wahre Gut, d. i. auf Gott gerichtet sei.« (Von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 249.) 24 Vgl. zum Einfluß dieser Theorie, insbesondere aber Hutchesons, auf Jacobis Ethik: Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 166 f. 25 Das Innere als das Seelisch-Geistige im Gegensatz zu einem materiell-sinnlich bestimmten Äußeren stellt ein weiteres Kriterium bei der Binnendifferenzierung von Affektivität dar. Vgl. hierzu etwa Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 17) und T. Wizenmann in seinem Brief

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis

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Punkt setzt sich Jacobi klar gegen eine einseitig rationalistisch ausgerichtete, auf die Vernunft allein gegründete Morallehre ab. Zum anderen wird aber auch deutlich, daß man sich seiner Affektivität keineswegs blindlings überlassen darf. »Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Thor«, heißt es in Jacobis Roman Woldemar.26 Es gilt vielmehr, die positive Grundlage der Moralität aus der Gesamtheit des affektiv-sinnlichen Raumes herauszulösen und zu entwickeln.27 Der Sinnlichkeit kommt an dieser Stelle eine zentrale und zugleich wiederum ambivalente Rolle zu. Sie ist ein wichtiger Teil des Menschen28 und unumgänglicher Ausgangspunkt des sinnlichen Wesens Mensch: »Die Philosophen analysiren, und räsonniren, und expliziren, welcher Maassen es zugehe daß wir erfahren: Etwas sey außer uns. Ich muß der Leute lachen, unter denen auch ich gewesen bin. Ich öffne Aug’ und Ohr, oder ich strecke meine Hand aus, und fühle in demselbigen Augenblick unzertrennlich: Du und Ich; Ich und Du.«29 Über die Sinnlichkeit finden wir demnach zu den unmittelbaren Gewißheiten der eigenen Existenz, der Existenz der Außenwelt und der Existenz Gottes. In der Tat liest sich der Brief, dem die oben zitierte Passage entnommen ist, der Form nach wie das Pascalsche Mémorial, dem Inhalt nach wie Rousseaus Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, eines zentralen Kapitels aus dessen Erziehungsroman Emile, in dem die genannten drei Grundgewißheiten ebenfalls entwickelt werden. Dennoch ist die als Quelle und Fundament allen Wissens auftretende Sinnlichkeit nur als Medium geduldet, als Mittel nämlich, über sich hinaus zum nicht sinnlich-materiellen Geist zu führen, der nicht identisch ist mit einer à la Spinoza, also more geometrico, funktionierenden Vernunft. In einem Brief an Hamann faßt Jacobi dieses Problem folgendermaßen: vom 28.1.1787 (von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 237). Erweist sich dieser innere Sinn zudem noch als »rein«, dann ist die höchste, quasi göttliche Stufe des (menschlichen) Daseins erreicht. In einem Brief an seinen Sohn Georg Arnold spricht Jacobi Hamann diese Daseinsform zu: »Es ist unmöglich einen freyeren Geist u einen reineren Sinn zu haben, wie dieser Mann. Sein großer Geist herrscht über die Fülle seiner Kenntniße, mit einem göttlichen Ansehen. Ihm ist alles rein, weil er selbst rein ist …« (Brief vom 23.8.1787; Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 26 Jacobi: Woldemar (1794), 2. Th., S. 281; vgl. JWA 7,1, 467. – Vgl. auch im Brief an J. G. Hamann vom 30.4.–1.5.1787 (Hamann 7, 188). 27 Vgl. hierzu auch Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 25: »Dies ist die Grundlage der gesamten ›Empfindsamkeit‹: Sie versteht den Kampf der Vernunft gegen die Triebnatur als Kampf der guten gegen die schlechten Gefühle.« 28 Vgl. en passant im Brief an C. M. Wieland vom 27.10.1772 (JBW I,1, 170). – Vgl. zur Sinnlichkeit als Ausgangspunkt auch Friedrich Heinrich Jacobi: Der Kunstgarten. In: Ders.: Vermischte Schriften. Erster Theil. Breslau 1781, S. 7–142, hier S. 108 f.; vgl. JWA 7,1, 178 f. 29 Brief an ? (Empfänger unbekannt) vom 16.10.1775 (JBW I,2, 27). – Vgl. im Brief an J. K. Lavater vom 21.11.–16.12.1781 (JBW I,2, 381 f.).

180

III. Begehren

»Mit Ihnen behaupte ich, u glaube in meinem ersten Briefe an Sie mich schon dahin geäußert zu haben, daß sensus das principium alles intellectus sey. Aber meine so mannigfaltige Sinnlichkeit, der ich mich blindlings u aufs ohngefähr, weder überlaßen darf, noch soll, noch kann, muß doch auf etwas gepfropft seyn, das nicht schlechter u etwas mehr als ein bloßes mathematisches Centrum ist. Ich vermuthe hier ein distinktes το Ον, wenn schon kein ganz heterogenes, u daß es der Geist sey, auf den ich angewiesen bin zu säen.« Wie so oft endet der Sucher Jacobi auch an dieser Stelle mit den Worten: »∆ος μοι που στω −«.30 Die Suche nach einem solchen archimedischen Punkt bildet das Anliegen und das wohl niemals hinlänglich gelöste Grundproblem der Philosophie Jacobis,31 seiner Romane und auch seiner Erziehung und Selbsterziehung. Im Rahmen der philosophischen Abhandlungen beschränkt sich die Darlegung der fundamentalen Überzeugungen nicht selten auf den kritisch-polemischen Aspekt: Jacobi insistiert mit Vehemenz darauf, daß aus der Vernunft allein, aus den intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, keine Motivation für gutes Handeln, für Moralität entspringen kann; in diesem Punkt stimmt er mit David Hume überein. In seinem Brieffragment an Jean-François de La Harpe32 bedient er sich besonders drastischer Beispiele, um diesen Grundgedanken zu verdeutlichen. Wie wenig die Vernunft gegen die »thierischen Triebe«33 vermag, demonstriert Jacobi hier an zwei Beispielen aus der Tierwelt: Der Hund, der aus Hunger einen Braten stiehlt, wird dies, sofern der Hunger nur groß genug ist, auch dann wieder tun, wenn er Schläge zu erwarten hat, ja sogar dann, wenn er in der Lage wäre, sich mittels der Vernunft in die Rolle seines Herrn zu versetzen. Er könnte dann zwar räsonnieren, aber dieses Räsonnement würde niemals eine moralische Handlung begründen oder motivieren können.34 Ebenso würde eine Sau ihre Kinder aus einem abscheulichen Appetit heraus auch dann fressen, wenn sie mit Vernunft begabt wäre. Sie würde es dann nur reflektiert tun.35 Die Vernunft ist es nicht, die uns zu diesem oder jenem Handeln anleitet, sondern es sind unsere Triebe und Leidenschaften. In diesem Sinne schreibt Jacobi in bewußter Frontstellung gegen die sein Zeitalter dominierende Tendenz an Johannes Müller: 30

Brief vom 11.1.1785 (JBW I,4, 17); im Briefwechsel, nach welchem ich zitiere, ohne Ak-

zente. 31

In diesem Sinne urteilte auch Friedrich Schlegel: Jacobi »vermochte seine Zweifel nur zu zerschneiden, durchaus nicht zu lösen« (Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 266). – Ganz neue Einsichten gewährt hier allerdings die Habilitationsschrift von Birgit Sandkaulen (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache). 32 Vgl. Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 171–183). 33 Vgl. z. B. Jacobis Brief an C. M. Wieland vom 30.7.1775 (JBW I,4, 329). 34 Vgl. Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 181). 35 Vgl. Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 183).

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis

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»Wir glauben durch das Schattenspiel unserer Begriffe nicht allein zum Anschauen über alle Erfahrung hinausreichender Wahrheiten zu gelangen, sondern auch Triebe, Leidenschaften, Zwecke und Handlungen hervorbringen zu können. […] Der Mensch wird [aber; C.G.] durch Triebe, Leidenschaften, allgemeines Beispiel und Meinung geformt und regiert, nicht durch Räsonnement und Imagination a priori.«36 Dies bedeutet aber keineswegs, daß man sich den das Handeln motivierenden Leidenschaften und Trieben rückhaltlos überlassen sollte. Im Gegenteil: Katastrophale Ereignisse der Menschheitsgeschichte und gravierende Fehlentwicklungen der menschlichen Gesellschaft gehen, so Jacobi, auf das Konto ungezügelter Begierden, Leidenschaften und Triebe.37 Der entscheidende Punkt ist vielmehr, daß eine diese negierende, weil ebenso blindlings auf ihre Kraft und Autorität vertrauende Vernunft letztlich eine ungehinderte Herrschaft der Affekte und Leidenschaften zur Folge haben würde. Entsprechend dieser Überzeugung wird in Jacobis Darstellung der Aufklärer Mendelssohn, dem Ansturm verschiedener Leidenschaften ausgesetzt, auch umgehend »ein Raub ihrer Gewalt u ihrer Tücke«.38 Die Debatte der Zeit über die Frage, ob die Vernunft moralische und politische Prinzipien begründen und ob sie die Leidenschaften kontrollieren kann,39 entscheidet Jacobi auf ganzer Linie abschlägig. Sein heftiger Impetus gegen die Französische Revolution verdankt sich nicht zuletzt dieser entschiedenen Ansicht. Blindes Vertrauen in das Vermögen und die Durchsetzungskraft der Vernunft im Bereich der Moralität hat – insbesondere auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse – aus Jacobis Sicht verheerende Folgen. Die »manière fixe d’être gouverné par la seule raison«40 der französischen Revolutionäre wird deshalb von 36 Brief vom 3.10.1787 (AB I, 432 f.). – Vgl. auch im Brief an F. Nicolai vom 28.7.1788: »[…] und lassen über dem Raisoniren und Imaginiren, Natur, Geschichte und Erfahrung aus der Acht« (JWA 5,1, 152). Vgl. in demselben Brief: »Dazu kann man die Menschen durch Unterricht und Ueberredung allmälig und mit genauer Noth noch bringen, daß Sie zu [sic] Erreichung solcher Gegenstände, für welche sie schon in Bewegung sind, die zuträglichern Mittel (wenn sie nahe genug bey der Hand sind) anwenden; dazu aber nicht, daß sie die Gegenstände ihrer wirklichen Neigungen gegen ein Schattengewebe von Begriffen vertauschen, und sich von nun an, treu und standhaft, mit einem kalten oder warmen Enthusiasmus behelfen, der seine eifrigsten Adepten selbst bey der ersten Gelegenheit im Stiche läßt.« (JWA 5,1, 151.) 37 Vgl. etwa den Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 17.7.1771 (JBW I,1, 119). In diese Richtung zielt auch Georg Forster in seinen Briefen vom 14.2.1783 (JBW I,3, 128) und vom 29.8.1783 (JBW I,3, 200 f.). 38 Brief an J. G. Hamann vom 14.3.1786 (JBW I,5, 107). 39 Vgl. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 4. Insbesondere dem Skeptiker David Hume galt die Vernunft – auf dem Gebiet der Moral, d. h. dem der Handlungsbegründung und -motivation – als Sklavin der Leidenschaften. 40 Vgl. hierzu Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 172 u. ö.). – Vgl. auch Götz: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 209 f.

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III. Begehren

Jacobi scharf kritisiert. Ihre politischen Folgen seien, so Jacobi, weit katastrophaler als diejenigen, die das historische Christentum, das Kirchenregiment, hervorgebracht habe. Alle alten Irrtümer würden »wieder auferstehen, wenn wir dabei bleiben, daß von nun an eine reine Vernunft – nicht innerlich und im einzelnen Menschen, sondern äußerlich und überhaupt mit Beibehaltung aller unserer Liebhabereien, ihrer Einrichtung und Betriebsamkeiten – allein regieren, allein uns treiben und beherrschen soll. Jenes kann sie nicht; dieses aber soll sie können. Ich möchte wissen, wie sie können wollte? Der Irrthum, als könnte sie, würde, um als Wahrheit zu erscheinen und sich mit der That zu beweisen, mehr Betrug, mehr Tyrannei, mehr alle Sittlichkeit und Geisteswürde zerstörende Mittel anwenden müssen, als je der andere Irrthum zu Tage gebracht hat: es könne und solle alles nach der Religion eingerichtet, und sie darum zur öffentlichen Sache gemacht werden.«41 An dieser Stelle wird die ganze Dimension der moralphilosophischen Diskussion, insbesondere auch der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Leidenschaften, deutlich. Der Vernunftenthusiasmus kann auf politischer Ebene geradewegs in den Terror münden und tut dies, so Jacobis feste Überzeugung, auch unweigerlich, wenn er sich der eigentlichen Handlungsantriebe des Menschen nicht bewußt ist. Moralphilosophie, politische Philosophie und Anthropologie fließen hier ineinander, wobei letztere bei Jacobi zur unabdingbaren Grundlage einer vernünftigen Bestimmung der ersteren avanciert. Eine möglichst genaue, nicht-beschönigende Darstellung der menschlichen Begierden, Leidenschaften, Antriebe gilt daher Jacobi als wesentliche Voraussetzung für eine angemessene Morallehre. Die unterschiedlichen Handlungsantriebe der Menschen gewissenhaft darzulegen und nicht naiv auf die Durchsetzungskraft der Vernunft zu vertrauen, diesen Weg hat Jacobi – gemäß seinem Selbstverständnis – in seinen Romanen beschritten.42 Das Motiv für Jacobis ästhetisches Schaffen war immer ein ethisches. Daß er sich dennoch der Form des Romans, der Dichtung, bedient, hat seinen Grund nicht nur in historisch-kontingenten Anlässen,43 sondern auch in der Sache selbst: Es ist die den inhaltlichen Positionen Jacobis bzw. dem Zweck der Darstellung adäquate (äußere) Form.44 In seinem ausführlichen Brief an Johann Albert Henrich Reimarus vom 23. Oktober 1781, der zugleich eine Recht-

41

Brief an C. K. W. von Dohm vom 4.5.1790 (AB II, 30). Vgl. hierzu etwa den Untertitel der Ausgabe des Woldemar von 1779: Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. 43 Zu erwähnen wären hier etwa die Einflüsse seines Dichter-Bruders Johann Georg, Wielands, Goethes und des Kreises der Empfindsamen überhaupt. 44 Dies ist eine der zentralen Thesen der Dissertation von Thomas Stäcker (vgl. Stäcker: Aufruhr der Seele). 42

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis

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fertigung des von diesem kritisierten Romans Eduard Allwills Papiere darstellt,45 macht Jacobi seine diesbezügliche Position so deutlich wie sonst kaum irgendwo: »Eine vollständige Lehre von unsern Begierden (das Wort Begierde in seinem weitesten Umfange genommen) würde zugleich die beste Moral seyn; und es ist eine jede wahre Moral nur minder oder mehr eine solche Begierden-Lehre. Diese Lehre aber, wenn sie dem Verstande auch nicht den mindesten Zweifel übrig ließe, würde dennoch keine Theorie der Glückseeligkeit an die Hand geben, die es in der That für alle u jede Menschen wäre. Denn nicht unsre angenommene Meinung von der wahren Rangordnung menschlicher Begierden, bestimmt die Grade u Verhältniße ihrer Kräfte in unserem Individuo: sondern es werden diese Kräfte u diese Verhältniße durch die eigenen Eindrücke von den Gegenständen, mit denen Ideen die sie verursachen oder die sie zurück gelaßen haben, nach sich bis ins Unendliche verändernden Gesetzen bestimmt. Also nicht auf die Frage von der transscendentalen oder möglichen Rangordnung der Begierden im Menschen überhaupt: sondern auf ihre würkliche Rangordnung in jedwedem Menschen ins besondre kommt es an. Was wir uns einbilden von der transscendentalen oder möglichen; was wir etwa gar nur blindlings davon glauben: daran ist wenig gelegen, so allgemein auch das Gegentheil, wider die Erfahrung, angenommen wird. – Will ich nun edle Neigungen hervorbringen, so muß ich edle Gegenstände haben die ich zeigen und womit ich sie bewürken kann; denn wir wißen doch am Ende weiter nichts als unsre Vorstellungen zu denken, u wo kein Gegenstand ist, da ist gar nichts. Habe ich die Gegenstände oder edleren Empfindungen nicht, oder weiß ich die moralischen Gläser nicht zu schleifen für denjenigen der jene Gegenstände mit bloßen Augen zu sehen nicht vermag, so ist alle andre Mühe vergebens.«46 Jacobis moralphilosophische Überzeugungen können demnach als in einem doppelten Sinne gegen die Abstraktion und auf die Besonderheit gerichtet charakterisiert werden. Zum einen wird den aus der Vernunft abgeleiteten Moralprinzipien die Fülle tatsächlicher menschlicher Begierden entgegengestellt. Zum anderen tritt an die Stelle einer allgemeingültigen Rangordnung dieser Handlungsantriebe die besondere Rangordnung »in jedwedem Menschen«. Eine abstrakte Morallehre ist nach dieser Auffassung nicht möglich; zumindest aber wird sie nicht den geringsten Wert für die moralische Erziehung des Menschen haben. Der fürs erste einzig verbleibende Weg scheint eine umfassende Darstellung der Begierden, Triebe, Leidenschaften und Neigungen zu sein, und diesen Weg hat Jacobi – wie bereits gesagt – in seinen Romanen eingeschlagen. Verwirrend an dem obigen Bekenntnis Jacobis bleibt, daß er gleichwohl in 45

Reimarus bezieht sich in seinem Brief auf die Ausgabe in den Vermischten Schriften aus dem Jahre 1781 (S. 143–268). 46 JBW I,2, 357.

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III. Begehren

einem sehr abstrakten, allgemeingültigen und objektiven Sinne von jenen »edlen Neigungen« spricht,47 die eine Morallehre oder Moralerziehung hervorbringen sollte. Es gibt – so hat es den Anschein – demnach durchaus eine »transscendentale Rangordnung der Begierden im Menschen überhaupt« – jedenfalls aber eine objektive Werteskala. Dafür spricht auch Jacobis Rede von der »Begierde vortrefflich zu seyn« als dem »edelste[n] Trieb in der menschlichen Natur«.48 Das moralphilosophische Problem scheint also für Jacobi mehr auf einer praktischen oder motivationalen Ebene angesiedelt zu sein: Aus der Einsicht in die Rangordnung der Begierden, aus der Erkenntnis der »edlen« und der »niederen« Begierden, folgt noch nicht die gute Tat, d. h. eine Handlungsweise, in der die »edlen« Begierden immer über die »niederen« triumphieren. Thomas Wizenmann, der mit Jacobi in ständigem Austausch stand über Probleme der (Moral-)Philosophie, setzt sich im Rahmen einer insgesamt 29 Punkte umfassenden Deduktion unter anderem mit der Erfahrung auseinander, »daß der Mensch, oft bei dem besten und festesten Vorsaze, zu dem in einer hellen Stunde eine unabsehbare Reihe von Beweggründen vor ihm lagen, und welchen zu überschreiten er jezo für Unsinn und Verbrechen hält, in einer andern Stunde, durch sinnliche Eindrüke übermannet, dennoch seinem Vorsaze ungetreu wird.«49 Er skizziert eine Lösung: »23. Es folgt nur so viel, daß es äusserst schwer ist, durch Vorsäze sinnliche Eindrüke zu besiegen; daß Arbeit, Vervollkommnung dazu gehört, um dieses von sich zu erhalten. 24. Wenn mich nicht alles betrügt, so macht die Fähigkeit zu dieser Vervollkommnung uns eigentlich zu Menschen. 25. Meine Theorie von dieser Vervollkommnung ist die […], daß Empfindungen gegen Empfindungen arbeiten müssen. 26. Daraus folgt, daß Vorsäze, Empfindungen werden müssen, d. i. daß sie oft wiederholt, mit sinnlichen Ideen von Furcht und Hofnung unterstüzt, kurz, bleibende Eindrüke werden müssen, ehe sie gegen sinnliche Eindrüke bestehen können.«50 Diese Position, die im übrigen auch schon von Rousseau vertreten wurde,51 dürfte der Jacobis sehr entgegengekommen sein. In jener Fortsetzung des Woldemar, die 1781

47

Vgl. auch im Brief an C. M. Wieland vom 4.6.1774, wo von »den edelsten Trieben der Menschheit« die Rede ist (JBW I,1, 239). – Vgl. auch den Brief an A. von Gallitzin vom 15.6.1784 (JBW I,3, 320). 48 Brief an M. S. von La Roche vom 1.7.1775 (JBW I,2, 20; vgl. JWA 4,1, 194). 49 Vgl. hierzu auch den Brief an N…. vom 12.6.1792 (AB II, 88). 50 Brief vom 22.5.1783 (JBW I,3, 149). – Vgl. auch den Brief vom 5.7.1783 (JBW I,3, 168 f.). 51 Vgl. Rousseau: Emile, S. 140: »Welche Beschränktheit, in den ersten Begierden eines jungen Menschen nur ein Hindernis für die Lehren der Vernunft zu sehen! Ich sehe darin das einzig richtige Mittel, ihn eben diesen Lehren gefügig zu machen. Nur durch Leidenschaften gewinnt man Macht über die Leidenschaften; durch ihre eigene Herrschaft muß man die Tyrannei bekämpfen und der

2. Die Affektivität innerhalb der Morallehre Jacobis

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unter dem Titel Der Kunstgarten in den Vermischten Schriften erschien, läßt Jacobi eine Gestalt (Biederthal) seines Romans entsprechend ausführen: »Unsere herrlichsten Erkenntnisse dienen am Ende uns nur zur müßigen Betrachtung; unsere erhabensten Gefühle nur zum einsamen unfruchtbaren Ergötzen: in unseren Handlungen aber werden wir von andringendem Bedürfniß und von andringender Leidenschaft geführt […] Begierde kann nur durch Begierde vertilgt, Leidenschaft nur durch Leidenschaft überwunden werden: der Character sitzt nicht im Verstande sondern im Herzen.«52 Ziel wäre es demnach, die destruktiven Leidenschaften durch harmlose gleichsam zu neutralisieren – nicht zuletzt schon in der Kindererziehung.53 Wie außerordentlich schwierig die Praxis der Moralerziehung war, erfuhr Jacobi auf leidvolle Weise bei der Erziehung seines zweitältesten Sohnes Georg Arnold. Während Jacobi nämlich an seinen »andern Kindern […] lauter Freude« erlebt, er in seinem ältesten Sohn Fritz gar »ein Ausbund v einem guten Menschen« sieht, bereitet ihm sein »zweyter Sohn« Georg Arnold »tödlichen Verdruß«.54 Die Erziehungsgeschichte dieses Sohnes, eines Sorgenkindes im strengsten Sinne des Wortes, liest sich aus heutiger – und, wie wir sehen werden, partiell auch schon aus damaliger – Sicht wie ein einziges Desaster, eine menschliche Tragödie. An der Erziehung dieses Problemkindes zur »schönen Seele« – oder zum Engel – wird offenbar, in welch’ hohem Maße die Reinigung von unzulässigen Affekten und Leidenschaften ein gewalthafter Prozeß ist, dessen Weg und Ziel im übrigen auf vielfältige Weise vom Säkularisierungsgeschehen bestimmt ist: Nicht nur stammen viele der verwendeten Disziplinierungsmittel aus dem Arsenal religiöser Läuterungstechniken, auch das Begehren nach innerweltlicher Transzendierung des Endlichen wird hier offenkundig in vornehmlich zwei Gestalten: Es zeigt sich zum einen als Austreibung der Sinnlichkeit, d. h. des an die Sterblichkeit gemahnenden Körpers, zum zweiten als Durchsetzung säkularer Heilsbringer, etwa der bürgerlichen Tugenden. Natur selbst muß man die Werkzeuge entnehmen, mit denen man sie in Ordnung halten kann.« – Vgl. im übrigen auch die positive Bewertung der Leidenschaften bei Francis Hutcheson, Joseph Butler und Henry Home, deren Konzept einer »›Erhebung‹ der Leidenschaften zu ihren ›edelsten Gegenständen‹« im Resultat auf dieselbe Disziplinierungsstrategie hinausläuft (Sauder: Empfindsamkeit [1974], S. 136). 52 Jacobi: Der Kunstgarten, S. 85; vgl. auch S. 110 f. Vgl. JWA 7,1, 165 u. 180. 53 Vgl. Michael Wimmer: Erziehung und Leidenschaft – Zur Geschichte des pädagogischen Blicks. In: Dietmar Kamper u. Christoph Wulf (Hg.): Der andere Körper. Berlin 1984, S. 85–101, hier S. 89 f. – Vgl. zu diesem Konzept auch Jacobis Brief an C. M. Wieland vom 30.7.1775 (JBW I,4, 329). Hier geht es insbesondere darum, inwiefern Wielands Dichtungen zu einer solchen Neutralisierung beitragen, inwiefern »sie dazu dienen, den bloß Thierischen Menschen zur Moralität zu erheben.« 54 Brief an J. G. Hamann vom 13.1.1786 (JBW I,5, 18).

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III. Begehren

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.« 55

3.1 Frühe Jahre in Wandsbek bei Matthias Claudius Anfang des Jahres 1777 trägt sich Friedrich Heinrich Jacobi mit dem Gedanken, seine beiden ältesten Söhne, Johann Friedrich und Georg Arnold, die zu diesem Zeitpunkt 12 und 9 Jahre alt sind, zur Erziehung ins Dessauer Philanthropin zu entsenden – einer Musteranstalt der Aufklärungspädagogik,56 die zudem den empfindsamen Tendenzen nahestand. Wieland, den er hierbei zu Rate gezogen hatte,57 übersendet ihm am 12. Februar des Jahres »ein dickes Buch zu Deiner Information über das Dessauer Philanthropin«, rät aber zugleich recht eindringlich von einer Erziehung in Dessau ab: »Ich habe ein groß Bedenken, lieber Bruder, und das ist, daß Dich Deine zwei Knaben dort nicht viel weniger als 1000 fl. jährlich kosten würden. Es ist ein schreckliches Geld für nichts und wieder nichts. Denn au bout du compte thut doch Natur, Welt und Erfahrung alles, und das bischen rudimenta, was uns die Schulen lehren, kann man zu Hause wohlfeiler haben.«58 Jacobi schließt sich diesem Urteil Wielands offenbar an, denn im Herbst desselben Jahres ist in einem Brief Wielands wie abschließend und zusammenfassend zu lesen: »Was machen denn Deine Knaben? Nur nichts mehr vom Philanthropin! Gar keine Erziehung ist noch besser, als ein solches philosophisches ergastulum.«59 55 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. 20 Bde. Hg. v. Rolf Tiedemann. Darmstadt 1998, Bd. 3, hier S. 50. 56 Zum Dessauer Philanthropin vgl. etwa J. B. Basedow u. J. H. Campe: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins (1777). In: Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a. M. u. a. 1977, S. 61 ff. – Vgl. auch Karl Heinz Bloch: Die Bekämpfung der Jugendmasturbation im 18. Jahrhundert. Ursachen – Verlauf – Nachwirkungen. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 243–479, bes. S. 260–265; Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland. 1760–1860. Göttingen 1997, S. 174 f. sowie Begemann: Furcht und Angst, insbesondere S. 22 f. (dort auch Hinweise auf grundlegende Forschungsliteratur zum Philanthropinismus). 57 Vgl. zu den Bemühungen Wielands seinen Brief an Friedrich Koepken in Magdeburg vom 8.2.1777 (JBW II,2, 46 f.). 58 JBW I,2, 53. – Vgl. auch Christoph Martin Wieland: Ueber das Philantropinum in Dessau. In: Der Teutsche Merkur, 1775, II, S. 134–151, hier S. 135; vgl. ebenfalls ders.: Das Basedowsche Philanthropin. In: Der Teutsche Merkur, 1776, I, S. 195 f. Beide Texte sind äußerst positiv in ihrem Urteil über das Philanthropin. 59 Brief vom 14.10.1777 (JBW I,2, 66).

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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Tatsächlich entscheidet sich Jacobi Ende des Jahres 1777, seine Söhne von Matthias Claudius, dem »Wandsbecker Bothen«, unterrichten zu lassen.60 Die Anfrage Jacobis, ob Claudius bereit sei, seine Söhne zu sich zu nehmen, beantwortet dieser positiv, macht jedoch zugleich auf die einfachen Wohn- und Lebensverhältnisse, wie auch auf das eingeschränkte Angebot von Lehrmeistern in Wandsbek aufmerksam.61 Trotz dieser Bedenken entschließt sich Jacobi, seine Söhne in dessen Obhut zu geben. So schreibt Helene Elisabeth Jacobi am 31. Dezember des Jahres 1777 an ihren Schwager Heinrich Arnold Kopstadt: »Die ältesten Knaben werden im Mertz auf eine Zeitlang zum Herrn Claudius nach Wandsbeck ziehen, etwa an die anderthalb Jahr, bis wir einen geschickten Mann zu ihrer ferneren Erziehung finden. Dieser ist ein überaus braver Mann, der sie blos aus Freundschafft für meinen Mann zu sich nimmt. Mit den Philantropinen ists uns nicht sicher genug, und Herr Schenck beckomt täglich mehr und mehr Geschäfte, und kan beßer sein Glück machen woran wir ihm nicht hindern wollen.«62 Johann Heinrich Schenk, ein Schulfreund Jacobis, war seit dem Jahre 1770 im Jacobischen Hause zunächst als Kopist und schließlich als Privatsekretär und Erzieher der Kinder tätig.63 Am Ostersonntag des Jahres 1778 wurde Schenk damit betraut, die beiden Kinder von Düsseldorf nach Wandsbek zu bringen, wo sie am 1. Mai eintrafen. Über die dort »ein paar Monate mehr als zwey Jahre«64 verbrachte Zeit berichtet Georg Arnold in seinen autobiographischen Aufzeichnungen. Danach standen der Unterricht in den Sprachen, vor allem Latein, sowie die Kirchengeschichte und Religionslehre an erster Stelle, während der wissenschaftliche Unterricht, als Beispiele werden Geschichte und Geographie genannt, weitgehend vernachlässigt wurde. Kritisch äußert sich Georg Arnold über die Erziehungsmethoden von Claudius, der nach seiner Einschätzung »kein bequemer Erzieher und Lehrer für seine Zöglinge und Schüler« war.

60

Vgl. hierzu auch Siobhán Donovan: Der christliche Publizist und sein Glaubensphilosoph. Zur Freundschaft zwischen Matthias Claudius und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2004 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 340), S. 21– 26. 61 Vgl. hierzu den nicht überlieferten, aber aus einem Brief von A. K. C. Jacobi an J. G. Jacobi vom 2.1.1778 (JBW II,2, 66) rekonstruierten Brief von M. u. R. Claudius von Ende November oder Anfang Dezember 1777 (JBW I,2, 69 f.). 62 JBW II,2, 66. 63 Vgl. hierzu den Brief an J. G. Hamann vom 13.1.1786 (JBW I,5, 19). – Vgl. zur Person Schenks auch JBW II, 1, 241 sowie die autobiographischen Aufzeichnungen Georg Arnold Jacobis (Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 19v–22v). 64 JBW II,2, 77.

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III. Begehren

»Der Humor, der den Boten [= Claudius als Schriftsteller; C.G.] auszeichnete und unter die Classiker der Nation gereiht hat, aüßerte sich auch nicht immer so freundlich als Laune in dem Leben und lehrte uns bald dies infaustas et infauhtas65 in dieser Hinsicht unterscheiden, deren Vorerkennung in seiner Gebehrde insgemein unsere erste Morgenspekulation war, – worin ich besonders eine große Fertigkeit erworben hatte, – um uns darnach zu rüsten. Ueberall aber nahm er mehr als billig die Furcht zu Hülfe, um zu erwirken, was durch Zuspruch und Ehrgefühl hätte erreicht werden können, für welches letztere der Sinn früh in uns geweckt worden war und dessen Verletzung durch ungewohnte Drohungen wir tief empfanden. Ein kindlich trauliches Verhältniß gestaltete sich daher nicht mit ihm, wie, – begreiflich leichter, – mit der unvergleichlichen Mutter Rebekka.«66 Im Unterschied zu der in Düsseldorf genossenen Erziehung durch Schenk wurde hier offenbar bereits eine gewisse, von den Kindern als unangemessen empfundene Härte praktiziert,67 angesichts derer die Knaben ihre eigenen kindlichen Bewältigungsstrategien entwickelten. Insbesondere Georg Arnold mag diese Härte gespürt haben, da er – im Vergleich mit seinem drei Jahre älteren und in seinen Studien schon weiter fortgeschrittenen Bruder – immer im Hintertreffen war.68 Im Sommer 1780 ist die Erziehungszeit in Wandsbek beendet. Friedrich Heinrich Jacobi holt – in Begleitung seiner Halbschwester Lene – die Kinder in Norddeutschland ab. Am 30. August 1780 treffen sie in Pempelfort ein.69 Johann Friedrich, der zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt ist, wird zur kaufmännischen Ausbildung in die Obhut seines Onkels Johann Arnold von Clermont nach Aachen gegeben. Der nunmehr zwölfjährige Georg Arnold Jacobi hingegen wird Anfang November 1780 zur weiteren Erziehung nach Münster zur Fürstin Gallitzin entsandt.

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Donovan zitiert »dies infaustas et infaustas« und führt in einer Fußnote zu dieser Stelle an: »Offensichtlich ein Schreibfehler im Manuskript. Glagla schlägt vor, man lese hier ›dies faustas et infaustas = glückliche und unglückliche Tage‹«. Donovan bezieht sich auf Helmut Glagla u. Dieter Lohmeier (Hg.): Matthias Claudius, 1740–1815. Katalog: Ausstellung zum 250. Geburtstag. Holstein 1990, S. 148 (Donovan: Der christliche Publizist, S. 25). 66 JBW II,2, 76. 67 Zur Zurückweisung der Furcht in der Aufklärungspädagogik vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 165 ff. 68 Vgl. aus den autobiographischen Aufzeichnungen: »Mich traf dabey, wie überall, das sauerste Loos, da ich, wie in dem Alter so auch in dem Unterricht fast drey Jahre hinter meinem Bruder zurück, jetzt in Allem mitgehen mußte.« (JBW II,2, 75.) 69 Diese Zusammenführung der Familie hat zur Schilderung einer der wohl rührendsten Familienszenen Anlaß gegeben. Sie ist – innerhalb des Jacobischen Briefwechsels – eines der herausragenden Beispiele für die sich innerhalb der neuen bürgerlichen Familie ausgestaltende empfindsame Affektivität. Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 31.8.1780 (JBW I,2, 170) sowie die ausführliche Schilderung im Brief an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 207).

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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Die seit August 1779 in Münster lebende Fürstin Amalia von Gallitzin hatte Jacobi erst auf seiner Reise nach Wandsbek Ende Juni 1780 kennengelernt. Möglicherweise war zu jenem Zeitpunkt schon eine Erziehungszeit in Münster unter der Aufsicht der Fürstin erwogen worden. Die Fürstin, verheiratet mit dem russischen Fürsten Dimitrij Alekseevic Gallitzin, hatte schon früh ihr eigenes, vom Hofleben ihres Mannes getrenntes Leben geführt: Zunächst im niederländischen Niethuis in enger Freundschaft mit dem Philosophen Frans Hemsterhuis, später dann in Münster mit dem vor allem als Reformer des Schulwesens und Universitätsgründer bekannten Freiherrn Franz von Fürstenberg. In Niethuis wie in Münster widmete die Fürstin ihr Leben der Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder, Dimitrij Augustin, genannt Mitri, und Marianne Dorothea, genannt Mimi, wie auch ihrer Selbsterziehung und -ausbildung.70 In diese, ganz auf das Streben nach (Selbst-)Vervollkommnung ausgerichtete Atmosphäre sollte Georg Arnold Jacobi nun eintreten. Nicht zuletzt aufgrund der immer wieder neu zu besprechenden Strategien und Inhalte der Erziehung entwickelt sich die Fürstin in der Folge rasch zur zentralen Korrespondenzpartnerin Friedrich Heinrich Jacobis. Bereits im Oktober des Jahres 1780 werden die Erziehungspläne detailliert besprochen, wobei sich Jacobi weitgehend den Vorschlägen der Fürstin anschließt. Die aus der nun folgenden Erziehungszeit überlieferten Briefe Jacobis – die Briefe von Georg Arnold und der Gallitzin aus jener Zeit sind, bis auf zwei Ausnahmen,71 leider nicht erhalten – bilden den eigentlich interessanten, für den Umgang mit »Begehren« entscheidenden Teil der Erziehung Georg Arnold Jacobis. Daß dieser bereits zu jenem Zeitpunkt – im Gegensatz zu seinem älteren Bruder – ein Problemkind war,72 läßt sich einer aus einem Brief an Heinse stammenden, im ganzen durchaus positiv gehaltenen Beschreibung der beiden Kinder entnehmen: »Ich habe Ihnen noch nichts von meinen zwey Wandsbecker Knaben erzehlt. Fritz ist gewachsen, aber so daß man sieht, er werde nicht viel mehr wachsen, und sein Gesicht ist geworden wie ein Schnabel. Ebenso ungefähr sieht es mit seinem Geiste aus. Er will und soll ein vornehmer Handelsmann in der Kaiserlichen freyen 70

Vgl. zur Fürstin Gallitzin etwa Erich Trunz (Hg.): Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen. Münster 1971, S. 199–204; Mathilde Köhler: Amalie von Gallitzin. Ein Leben zwischen Skandal und Legende. Paderborn u. a. 1993; Petra Schulz (Hg.): Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). »Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder«. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Münster 1998 sowie Niehaus: Lehre. 71 Vgl. die Briefe von A. von Gallitzin vom 16.–17.2.1784 und von G. A. Jacobi vom 17.2.1784 (JBW I,3, 287–290). 72 Vgl. hierzu auch die wirklich belustigende Beschreibung Georg Arnolds in dem Brief Heinrich Schenks an J. G. Hamann vom 11.7.1786 (Hamann 6, 461–463); kurze Erwähnung findet er abermals im Brief Schenks an Hamann vom 14.7.1786 (Hamann 6, 473).

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III. Begehren

Reichsstadt Aachen werden. Einen verständigen, rechtschaffenen und liebenswürdigen Mann haben wir an ihm zu hoffen, der eine Stütze seiner Familie seyn und uns viel Freude machen wird. Der kleine George ist viel anders geworden. Roh, heftig und weich ist er noch immer sehr, aber man sieht im Grunde eine edle Natur, viel Talent und auch Bildsamkeit. Die große Gallitzinn hat es auf sich genommen, seiner weitern Erziehung vorzustehen. Am Montag reist er nach Münster zu ihr ab.«73 Unter der nun folgenden Erziehung durch »die große Gallitzinn« sollte sich der negative Eindruck von »George« – »roh, heftig und weich« – erhärten und verstärken, während die hier noch hervorgehobenen positiven Merkmale – »edle Natur, viel Talent und auch Bildsamkeit« – nicht nur in den Hintergrund rücken, sondern grundsätzlich und explizit in Frage gestellt werden.74

3.2 Eine fürstliche Erziehung in Münster: Selbstkontrolle als bürgerliche Obsession Der mit der Herausbildung und Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft aufs engste verwobene und nicht zuletzt im empfindsamen Ideal der »schönen Seele« Gestalt gewinnende Disziplinierungsprozeß zielt auf eine Mäßigung aller Affekte, insofern sie die Autonomie – die »Herrschaft über sich selbst«, die immer gleichbedeutend mit Freiheit gedacht war – gefährden, und auf eine totale Unterdrückung bestimmter Affekte, nämlich der Begierden sinnlicher Herkunft. Die Disziplinierung gilt dann als gelungen, wenn die Kontrolle vollständig internalisiert, d. h. der Fremdzwang in Selbstzwang, das Müssen in Wollen übergegangen ist – gemäß dem Programm der Empfindsamkeit bedeutet dies: wenn die negative Affektivität vollständig durch die positive ersetzt wurde. Auf diese Weise wird die Disziplin Teil der Selbstbestimmung des Bürgers (»bürgerliche Tugenden«) und ist von der höfischen Affektkontrolle zu unterscheiden, die weitgehend äußerlich bleibt, d. h. (explizit) im Dienste eines strategischen Verhaltens steht.75 Das bürgerliche Ideal dagegen besteht in einer Kongruenz von Innen und Außen, die im Phantasma der Authentizität, einer etwa

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Brief vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 208). Vgl. etwa die Briefe an A. von Gallitzin vom 25.10.1781 (JBW I,2, 362), vom 3.10.1783 (JBW I,3, 216) und vom 6.8.1784 (JBW I,3 348 f.). 75 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 60 sowie Begemann: Furcht und Angst, S. 240. – Vgl. hierzu auch ebd., S. 51: »Die bürgerliche Tugendkonzeption, wie sie sich in der aufklärerischen Pädagogik manifestiert, beinhaltet also ein ausgedehntes Programm der Modellierung nicht nur des Verhaltens, sondern auch der psychischen Struktur selbst.« Und ebd., S. 166 heißt es: »Die bürgerliche Gesellschaft ist der Ort des Übergangs vom Fremdzwang in Selbstzwang«. 74

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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für den empfindsamen Briefstil konstitutiven Norm, immerfort beschworen und eingefordert wird. Im Rahmen dieses Disziplinierungsprozesses kommt insbesondere der Kindheit eine zentrale Rolle zu.76 Die mit der Aufklärung zwar nicht erst einsetzenden, aber doch maßgeblich forcierten und erweiterten pädagogischen Bemühungen, die der Zeit den Titel »das pädagogische Jahrhundert« eintrugen,77 sind vor dem Hintergrund dieser Disziplinierungsgeschichte zu sehen: »Die Geschichte der Kindheit, ihre Entdeckungsgeschichte ist Bestandteil des Zivilisationsprozesses, in dessen Verlauf sich langsam ein Erwachsenenhabitus herausbildete. Vermittels des Zwangs zum Selbstzwang, des Zwangs zur Langsicht und der Dämpfung der Triebe, veranlaßt durch die Zunahme des sozialen Drucks einer komplexer werdenden Gesellschaft, setzt sich ein Vergesellschaftungsprinzip durch, das die Kontrolle ›äußerer‹ Natur in steigendem Maße auf die ›innere‹ Natur ausdehnt. Distanzierung, Repression, Instrumentalisierung und Ausgrenzung des Körpers und der Leidenschaften konstituieren einen Bewußtseins- und Affekthaushalt, der stärker in sich differenziert ist.«78 Die Erziehungsgeschichte Georg Arnold Jacobis kann als – über weite Strecken mißlingender – Versuch gelesen werden, diese bürgerliche Variante der Affektkontrolle, die eine Internalisierung des Zwangs anstrebt, durch erzieherische Maßnahmen zu bewirken. Dabei gingen die Maximen der Jacobischen Morallehre mit den grundlegenden Tendenzen der Aufklärungspädagogik eine unheilvolle Allianz ein. Die vernunftskeptische Auffassung, daß Begierden und Leidenschaften, Neigungen und Triebe weit eher zum Handeln stimulieren als rationale Einsichten, hatte schon recht früh Eingang in die Grundsätze der Aufklärungspädagogik gefunden. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Johann Georg Sulzer in seiner Schrift Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder (1745/48) die Moralerziehung als Triebregulierung entworfen, die sich nicht zuletzt wiederum heftiger Gemüts-

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Zur »Entdeckung der Kindheit« in der Aufklärungszeit vgl. Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit. München u. a. 1975 (= Hanser Anthropologie), bes. S. 92 ff. Bei Ariès beginnt die Wende im 17. Jahrhundert. Als Quellenbasis dient ihm vor allem die Malerei. Vgl. auch Ulrich Herrmann: Pädagogische Anthropologie und die »Entdeckung« des Kindes im Zeitalter der Aufklärung – Kindheit und Jugendalter im Werk Joachim Heinrich Campes. In: Ders. (Hg.): »Die Bildung des Bürgers«. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert. Weinheim u. a. 1982 (= Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland; Bd. 2), S. 178–193. 77 Vgl. hierzu Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert (1779). Hg. von Eberhard Haufe. München 1983 sowie Ulrich Herrmann (Hg.): »Das pädagogische Jahrhundert«. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland. Weinheim u. a. 1981. 78 Wimmer: Erziehung und Leidenschaft, S. 89.

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bewegungen bedienen durfte.79 Dieser Grundgedanke wurde im Philanthropismus weiterentwickelt. Gerade das noch nicht vernünftige Kind sollte einer gezielten Willensmodellierung unterworfen werden, wobei maßgebliche Grundsätze der Aufklärung in diesem besonderen Terrain ad acta gelegt wurden: An die Stelle von Freiheit und Selbstdenkgebot traten unbedingtes Vertrauen in die Autorität des Erziehers und absoluter Gehorsam gegenüber seinen Anweisungen. Um das Kind zu tugendhaftem Empfinden, Denken und Verhalten zu erziehen, sollte sein Eigenwille gebrochen werden – notfalls auch mit den einst von der Aufklärung tabuisierten Mitteln der Angst und Furcht. Dem Problem, damit möglicherweise den Willen des Kindes gänzlich zu schwächen, was die erstrebte Internalisierung der Normen verunmöglicht hätte, sollte mit vielfältigen Suggestionsstrategien begegnet werden, zu denen unter anderem auch die Sakralisierung der Tugend zu rechnen ist. Die Münsteraner Erziehung Georg Arnold Jacobis vermittelt einen überraschend repräsentativen Einblick in die praktische Umsetzung dieser aufklärungstypischen pädagogischen Leitlinien, angesichts derer die gleichwohl vorhandenen Differenzen – etwa bezüglich der Wertschätzung von Vernunft und deutlichen Begriffen – nahezu gänzlich in den Hintergrund traten. Die Erziehungszeit in Münster beginnt mit einer totalen äußeren Kontrolle. Stundenplan und Tagesablauf werden genauestens festgelegt. Ziel ist, daß möglichst keine ungeplante Zeit verbleibt. Schulische Arbeiten, vor allem Übersetzungsarbeiten, werden zur Korrektur nach Pempelfort geschickt, dort streng geprüft und mit Mahnschreiben versehen an den Zögling – bzw. an die Fürstin selbst – zurückgesandt.80 Selten findet sich in jenen Briefen Lob, getadelt wird dagegen um so ausgiebiger. Um auch das Gesamtverhalten von »George« einer strengen Kontrolle zu unterwerfen, werden zudem »Conduiten Listen« geführt, die ebenfalls regelmäßig nach Düsseldorf / Pempelfort übersandt werden sollen. In diesen »Aufführungs Listen« werden Noten etwa zum Ordnungsverhalten vergeben; auch ungebührliches Betragen wie »Sinnlichkeit, Unamabilität u Widerspenstigkeit« wird peinlich genau registriert.81 Es verwundert daher nicht, daß das Kind sich offenkundig häufig genug scheute, diese Zeugnisse nach Düsseldorf zu schicken.82 Ziel der Disziplinierung war es, Georg Arnolds »Hauptgebrechen« entgegenzuwirken, das Jacobi in einem sehr frühen Brief an seinen Sohn als den Hang beschreibt, »die Bequemlichkeit zu lieben, u überhaupt deinem Cörper zu fröhnen«. An dessen Stelle sollte die »Verachtung irrdischen Genußes; die Bändigung sinnlicher Triebe« treten.83 79

Vgl. hierzu und zum folgenden Begemann: Furcht und Angst, S. 170–185. Diese Art der Kontrolle läßt sich bis ins Jahr 1785 verfolgen (vgl. den Brief von Lene Jacobi an Georg Arnold vom 1.12.1785; Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 26). 81 Brief an G. A. Jacobi vom 18.3.1783 (JBW I,3, 133). 82 Vgl. ebd. sowie die Briefe an A. von Gallitzin vom 19.5.1783 (JBW I,3, 144) und an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 29.5.1783 (JBW I,3, 153). 83 Brief an G. A. Jacobi vom 12.12.1780 (JBW I,2, 242). 80

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Vor allem dem in der Hierarchie der Sinne weit unten stehenden Geschmackssinn scheint Georg Arnold hoffnungslos verfallen zu sein. Anläßlich einer ungeschickten Prahlerei von »George« erfährt Jacobi, daß bereits »Claudius Tag täglich, Georgen wegen seiner Freßsucht u überhaupt wegen seiner Sinnlichkeit zugeredet habe«.84 Genützt hat dies Zureden offensichtlich wenig, denn Georgs Hang zur Völlerei, die in der auf Mäßigung und Diätetik abzielenden Aufklärungszeit als Untugend par excellence galt, setzt sich – folgt man den Briefen Jacobis – in der Erziehungszeit in Münster kontinuierlich fort. Jacobi nimmt daher die Gelegenheit zum Anlaß, seinen Sohn eindringlich zu ermahnen: »Ich bitte dich, mein lieber Sohn, greiffe dich alle Tage, alle Stunden von neuem an, um deine Sinnlichkeit zu überwinden. Du hast so lange ich dich kenne, an den niedrigen Lüsten deines Leibes, ja an den allerniedrigsten (ich schäme mich dir es vorzuwerfen,) so gar an den Freuden des Gaumens unabwendbar gehangen. Ich hatte gehofft, die Lebensart in Claudiusens Hause, und das Beyspiel des Mannes selbst, würde dich, allerwenigstens vom letzten entwöhnt haben; aber ich mußte hernach zu meiner großen Betrübniß wahrnehmen, daß auch dieses nicht einmal geschehen war. Am mehrsten schlägt mich dabey nieder, daß ich weiß, wie der fromme nüchterne Claudius dir Tagtäglich hierüber zugeredet hat; dir auf der Stelle die übeln Folgen davon für deine Gesundheit bewiesen: und dieses alles doch ohne Frucht. Glaube doch endlich einmal, mein Lieber, was dir alle wakeren Leute sagen und bekräftigen werden, daß es nur einer kurzen Uberwindung bedarf, um, was den Körper angeht, gegen alles, was nicht dringendes Bedürfniß deßelben ist, gleichgültig zu werden.«85 Daß nicht nur die Sinnlichkeit überhaupt, sondern insbesondere die »Freuden des Gaumens« derart stigmatisiert werden, dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Zum ersten kann für die Aufklärungszeit allgemein festgestellt werden, daß sie im Rahmen ihrer angestrengten pädagogischen Bemühungen der Eßerziehung des Kindes besonderes Augenmerk schenkt. Der Akt der Nahrungsaufnahme ermöglicht eine in der Entwicklung des Kindes sehr früh anzusiedelnde Einflußnahme. Die Disziplinierung des Gaumens ist somit als exemplarischer Fall einer allgemein auf Mäßigung und Affektkontrolle zielenden Aufklärung zu verstehen: Die Eßerziehung stellt sich dar als der erste Kampfplatz gegen unkontrollierte Begierden und Leidenschaften.86 Zum zweiten ist der auf Nahrungsaufnahme ausgehende Geschmacksinn

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Brief an A. von Gallitzin vom 18.1.1781 (JBW I,2, 253). Brief an G. A. Jacobi vom 23.1.1781 (JBW I,2, 255). – Vgl. hierzu auch das Kapitel IV in dieser Arbeit. 86 Vgl. hierzu Thomas Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich? Über den Bedeutungswandel des Essens. Frankfurt a. M. 1987, S. 253–319, insbesondere S. 256, 267, 279 u. 282 f. – Zur 85

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der wohl am nachhaltigsten körperverhaftete, mit der Sinnlichkeit in ihrer puren Materialität verbundene Sinn. Gibt man dieser Begierde nach, so führt dies in der Tat kurzfristig zu einer Dominanz des Körperlichen. Im Sinne der klassischen Weisheit »plenus venter non studet libenter« und in vollkommenem Einklang mit der aufklärerischen Diätetik wußte auch Kant, daß im Anschluß an eine ausgiebige Mahlzeit ein Spaziergang ratsam war und das Denken aus gesundheitlichen Gründen hintangestellt werden mußte.87 Langfristig schließlich führt der Gaumengenuß zur Vermehrung des Körpers, der Materie selbst, die nicht nur im Sinne des anthropologischen Dualismus von Leib und Seele immer an unterster Stelle der Wertehierarchie stand, sondern insbesondere auch in Aufklärung und Empfindsamkeit zugunsten von Vernunft oder »schöner Seele« negiert wurde. Diese Negation des Körperlich-Materiellen aber war in dem Maße schwieriger, wie der Körper durch seine Schwere, durch seine eindringliche Präsenz an die ungeistigen Teile des Menschen gemahnte. Die Fülle diätetischer Literatur in der Aufklärungszeit, die Kriegserklärung an alle Arten der Völlerei, mag nicht zuletzt hier ihren Ursprung haben. Ein weiterer Grund für die Abwertung des Geschmacksinns – gerade auch im Rahmen empfindsamer Verhaltensmuster und Ideale – könnte in seiner im Vergleich mit den anderen Sinnen extremen Selbstbezogenheit liegen. In seinem kleinen Text Soziologie der Mahlzeit (1910) bringt Georg Simmel diese Tatsache lakonisch auf den Punkt: »[…] was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen.«88 Gert Mattenklott führt zu diesem Phänomen genauer aus: »Das Essen ist von der Körperseite des Schmeckens her eine solipsistische, nur auf sich selbst bezogene Lust; die sexuelle kann es sein, die kulinarische ist es immer. Kein Sinn vereinzelt den Menschen so stark wie der des Geschmacks. Wechselseitigkeit läßt sich im Sehen und Hören, Tasten und Riechen ohne weiteres herstellen, nicht so im Schmecken […]. Im Essen ist der Körper einsam.«89 Vor dem Hintergrund des empfindsamen Strebens nach – bis zur Verleugnung der eigenen Bedürftigkeit gehenden – altruistischen Gefühlen wird klar, daß ein derart auf Selbstgenuß ausgerichteter Sinn wie der Geschmackssinn dem Verdammungsurteil der Empfindsamen gewiß sein durfte. Die schiere Notwendigkeit des Essens, die überragenden Bedeutung der frühkindlichen Erziehung vgl. auch Begemann: Furcht und Angst, S. 174. 87 Vgl. Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 5 (1797/98), S. 701–751, hier S. 731. Vgl. auch denselben Text in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 5. Aufl. Darmstadt 1983, hier Bd. VI, S. 371–393. 88 Georg Simmel: Soziologie der Mahlzeit. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen, 1909–1918. Bd. 1. Hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt. Frankfurt a. M. 2001 (= Georg Simmel: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt; Bd. 12), S. 140–147, hier S. 140. 89 Gert Mattenklott: Mund. In: Wulf: Vom Menschen, S. 471–478, hier S. 473.

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unsere animalische Herkunft verrät, mußte ästhetisch verfeinert und zum gesellschaftlichen Ereignis erhoben werden – erst vor dem Hintergrund dieser geistig-moralischen Verklärung, deren Ziel Distanzierung (des Körperlichen) und Aufwertung (durch Vergeistigung) war, konnte man auch der Nahrungsaufnahme lustvoll fröhnen.90 Gesellige Tafelrunden gehörten daher zum festen Bestandteil des Pempelforter Lebens91 und selbst die von Jacobi so sehr geliebten »AusternSchmauß[e]« waren erlaubt.92 Vergleichbar üppig konnte auch im Hause der Fürstin getafelt werden, wie Hamanns Beschreibung eines Festmahls in Angelmodde, dem Landsitz der Gallitzin, belegt.93 Doch ein solcherart verfeinerter Genuß war erst dann möglich, wenn man zuvor Verzicht geübt, sich von den unmittelbar andrängenden Begierden freigemacht, seine Sinnlichkeit unter Kontrolle gebracht hatte. Dies eben war das von Jacobi geforderte Ziel der Münsteraner Erziehung seines Sohnes. In der Tat waren die Speisen im Hause der Gallitzin recht einfach gehalten. Georg Arnold Jacobi führt hierzu in seinen autobiographischen Aufzeichnungen aus: »Die Nahrung: Morgens 10 Uhr Sauerbrod, so viel jeder mochte, mit Milch, Mittags, (um vier Uhr,) zweyerley Gemüse und eine Fleisch- Fisch- oder Mehlspeise, auch jedem von jeder Speise, so viel er wollte und Bier; Abends Sauerbrod und Bier, auch nach Belieben. Dabey waren wir sehr zufrieden und nahmen uns einzeln noch wohl auch vor, zur Uebung der Selbstbeherrschung ganze Perioden von Monaten | oder Vierteljahre hindurch uns der Fleischspeisen ganz zu enthalten, welches dann auch fröhlich ausgeführt wurde.«94 Dieser Speiseplan spiegelt in repäsentativer Weise den aufklärerischen, nicht zuletzt medizinisch-hygienisch unterlegten Diskurs über das Eßverhalten. Die schon von John Locke, dem neben Rousseau wohl einflußreichsten Verfasser aufklärungspäd-

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Vgl. Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich?, S. 292 f. Vgl. hierzu auch Goethes berühmte Beschreibung des Pempelforter Hauses in seiner Campagne in Frankreich 1792, wo es unter anderem heißt: »Ein großes Speisezimmer, zahlreicher Familie und nie fehlenden Gästen geräumig, heiter und bequem, lud an eine lange Tafel, wo es nicht an wünschenswerten Speisen fehlte.« (Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. X, S. 316.) 92 Brief an J. G. Hamann vom 2.–3.2.1786 (JBW I,5, 43) sowie die Briefe an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Zoeppritz I, 155) und vom 1.2.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Vgl. auch die Briefe von Lotte Jacobi an Karoline Jacobi vom 28.12.1790 und vom 17.2.1792 (Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 42 u. 45). – Zu den Festen in Düsseldorf vgl. auch den Brief an M. S. von La Roche vom 24.9.1776 (JBW I,2, 45–49). 93 Vgl. Hamanns Brief an Jacobi vom 2.–3.12.1787 (Hamann 7, 362); vgl. hier nur schon den Anfang: »Die Gerichte standen wie eine kleine Flotte ausgerüstet. Meine hungrige Muse ist nicht im stande einen genauen Catalogum davon anzufertigen, sondern wählte sich wie der Vogel des Apolls die heilige neuner Zahl.« 94 Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 40r f. 91

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agogischer Schriften, propagierte Dominanz des Brotes steht vor allem für die Schlichtheit der Nahrung, mittels derer die Erziehung zu »Vielfraß und Leckermaul«, den leidenschaftsgebeutelten Antihelden der Aufklärung, von Anfang an unterbunden werden sollte.95 Fleischkonsum dagegen – assoziiert mit Kannibalismus und somit schuldhaftem Verhalten – stand hochgradig im Verdacht, die niedrigsten Triebe und Leidenschaften zu entfesseln. Übermäßiger Verzehr von Fleischspeisen führe, so die Argumentation, zu einer Verrohung des Menschen und zu vermehrter Aggressivität.96 Die Aufklärung folgt damit jenem traditionellen Muster, demzufolge Fleisch(verzehr) mit Sünde und Schuld unmittelbar konnotiert ist; lediglich im Rahmen von Opferritualen wurde diese Verknüpfung aufgehoben.97 Offenbar war der Weg allen Fleisches nicht erst im Christentum, daß es gekreuzigt werden muß. Die von Georg Arnold erwähnte Enthaltsamkeit in Fleischspeisen als »Übung von Selbstbeherrschung« reflektiert somit in repräsentativer Weise die Normen aufklärerischen Eßverhaltens, die sich zudem als säkulare Formen religiöser Tabuisierung des Fleischkonsums lesen lassen.98 Wenngleich nun durchaus denkbar ist, daß die Kinder – neben Georg Arnold auch die Kinder der Gallitzin, Mitri und Mimi – aus dieser Art der Enthaltsamkeit ein Spiel zu machen verstanden, das zu spielen ihnen auch Genuß bereitete, so mag sich doch aus der zeitlichen Distanz manches hier zum Guten verklärt haben. Nicht nur Jacobis oben zitierte Ermahnung an Georg Arnold zeigt, daß die Kinder insgesamt Probleme mit dieser Art strikten Verzichts hatten. Auch Mitri, der drei Jahre jüngere Sohn der Gallitzin, vermag sich kaum an die Enthaltsamkeitsvorschriften zu halten, wie ein Tagebucheintrag der Fürstin belegt, der zugleich die Funktion des Tagebuchs als Ort der Beichte und Selbstanklage zum Zwecke stetiger Vervollkommnung dokumentiert:99 »Mitri nahm beim Dessert, nachdem er sich wie gewöhnlich mit Fleisch und Gemüse gesättigt hatte, noch ein dickes Butterbrod. Schon das störte mich wider meinen Willen, weil er noch wenige Tage vorher selbst gesagt hatte, Butterbrod beim Dessert, insonderheit an Fleischtagen, esse er immer nur aus Gefräßigkeit zum Ueberfluß, er wolle es also außer den Fasttagen nun nicht mehr thun; dabei

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Vgl. Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich?, S. 279 f. Vgl. ebd., S. 268–275. 97 Umgekehrt wird von Ovid das »Goldene Zeitalter« (»Goldene Zeit«) als rein vegetarische Epoche dargestellt (vgl. hierzu das erste Buch seiner Metamorphosen). 98 Vgl. hierzu etwa Thomas Macho: Lust auf Fleisch? Kulturhistorische Überlegungen zu einem ambivalenten Genuß. In: Dirk Matejovski, Dietmar Kamper u. Gerd-C. Weniger (Hg.): Mythos Neanderthal. Ursprung und Zeitenwende. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 147–162. Vgl. zum Fleisch als Opfergabe und zum Fleischverzicht als Mittel religiöser Reinigung auch Mellinger: Fleisch, bes. S. 49–52. 99 Vgl. hierzu Schönborn: Buch der Seele. 96

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fiel mir ein, daß er jetzt drei Tage hinter einander sich krank gegessen hatte; doch gedachte ich meines Vorsatzes über solche Dinge sorgenlos zu bleiben und ihn darum nie aus seiner guten Laune zu bringen […] Ich kehrte mich daher mit Fleiß zu Fürstenberg, mit ihm zu sprechen, damit Mitri gar nicht muthmaßen könne, ich merke ihn. Aber kaum hatte ich es gethan, als ich von der Seite ihn sah, sich ein zweites dickes, fettes Butterbrod schmieren; nun war’s mit meinem Vorsatz und mit meinem Bewußtsein vorbei. Ich fuhr, was das schlimmste war, ganz laut in Gegenwart Fürstenberg’s los, warf ihm in klaren Worten seine Gefräßigkeit, seine daraus folgenden Uebelkeiten und Koliken schon seit 3 Tagen ec. vor. Er saß da mit einem ganz gedrückt und gedemüthigten Gesicht, welches mir meine Uebereilung so deutlich vorwarf, daß ich ganz verstimmt von Tisch aufstund«.100 Offensichtlich ist der Hang zur Sinnlichkeit, insonderheit zu Gefräßigkeit und Völlerei, kein Spezifikum von Georg Arnold. Vielmehr scheint es ein Konstrukt der auf totale Enthaltsamkeit bedachten Gallitzin zu sein, wobei sie der Enthaltsamkeit im Essen eine besonders zentrale Rolle beimißt, wie ihr Tagebuch bezeugt. Auch ein »Gebetsformular« für die Tochter Mimi gibt unter der Überschrift »Gedancken eh man zu tisch gehet« folgende Gedanken vor: [Ich soll] »nicht gleich dem Vieh […] essen als wenn essen der Endzweck meines daseyn der höchte Genuss dessen ich fähig bin wäre, sondern als ein Mensch der sich dabey seiner schwächsten Seite erinnert, sich demütigt in dem Gedanken dass er dises bedurfnis mit dem Vieh gemein hat«.101 Das Vervollkommnungsstreben war immer auf die unsterbliche Seele gerichtet; was an das ‚Niedere‘ im Menschen gemahnte, allem voran der sterbliche Körper, mußte weitgehend weggeschafft werden. Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen waren in dieser Hinsicht Zielscheibe kritischer Ermahnungen. Anton Matthias Sprickmann beispielsweise, Professor für Rechtsgeschichte und deutsches Staats- und Lehnsrecht am 1780 in Münster gegründeten akademischen Institut, der zum engsten Freundeskreis der Gräfin zählte und dieselbe auch auf ihrer Weimarreise begleitet hatte, hätte aufgrund seines Leibesumfangs neben Goethe eine schlechte Figur gemacht: »Er sei einfach zu dick. Er habe eine Haut, die gar nicht seine Seele berühre, 100

[Schlüter, Ch., Hg.:] Briefwechsel und Tagebücher der Fürstin Amalie von Galitzin. Neue Folge. [2.] Tagebücher der Fürstin aus den Jahren 1783 bis 1800 enthaltend. Münster 1876, S. 288 f. 101 ULB Münster, Sprickmann-Nachlaß Kps 23, Nr. 2, 11–13; zit. nach Niehaus: Lehre, S. 156; vgl. auch ebd. im nicht paginierten Materialband unter Nr. 21 die Transkription des undatierten »Gebetsformulars«. Vgl. auch Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 32. – Vgl. im übrigen Keith Thomas: Man and the Natural World. A History of the Modern Sensibility. New York 1983, S. 38: »Whereever we look in early modern England, we find anxiety, latent or explicit, about any form of behaviour which threatened to transgress the fragile boundaries between man and the animal creation.« – Vgl. zur Ablehnung »affektiver Ausbrüche« gerade auch auf seiten des Erziehers Begemann: Furcht und Angst, S. 187.

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es sei sozusagen ein Hohlraum zwischen dieser und dem übermäßig großen Leib.« Auch der geliebte Hemsterhuis war wohl Jahre zuvor bereits dem Vorwurf ausgesetzt gewesen, »daß seine […] Hülle sich nicht an den Lichtkern seines Wesens schmiege, und daß er ihr deshalb unsympatisch sei«.102 Der Körper, die sterbliche Hülle, wurde zum Sinnbild des Niederen, Schlechten, Verabscheuungswürdigen. In ebendiesem Sinne gebrauchte Amalia von Gallitzin die Abkürzung »C« – für »corps« –, wenn sie von ihrem Ehemann, dem Fürsten Dimitri von Gallitzin, schrieb. Seine Person stand im Kreise der Empfindsamen um Friedrich Heinrich Jacobi und die Gallitzin für die gesellschaftliche und moralische Gegenwelt des Hofes, die ihnen als oberflächlich, ungebildet und materialistisch galt.103 In bewußter Abgrenzung von dem Luxus bei Hofe richtet Amalia von Gallitzin ihr Leben und die Erziehung ihrer Kinder aus, wobei sie unter Luxus etwa verstand: »zu weichliche Betten, zu warme Bedeckung, zu vielerlei, und ausgesuchte Nahrung«.104 Konsequenterweise war nicht bloß die Ernährung von Verzicht, Enthaltsamkeit, ja Selbstkasteiung geprägt. Die ganze Erziehung hatte, wie Georg Arnold Jacobi in seinen Aufzeichnungen berichtet, »einen Spartanischen Ton«: »So unser Lager ein Strohsack mit gleichem Küssen, Leintüchern und Decke zu ebener Erde, die Kleidung, über dem Hemde eine lange Hose Weste und Rock von Drell, Schuhe ohne Strümpfe, der Kopf baar und das Haar kurz geschoren mehr als geschnitten. Vor zehn Uhr Morgens, bis zu welcher Stunde wir in unseren

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Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 119 f. Vgl. ebd., S. 40 f. sowie den Brief von Jacobi an A. von Gallitzin vom 8.–9.7.1784 (JBW I,3, 335–339), den Besuch des »Prinzen« in Pempelfort betreffend. 104 Schlüter: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2, S. 45. – Daß diese Abhärtungsmaßnahmen nicht nur dazu dienten, verpöntem Luxus zu entsagen und jeder Art von Verweichlichung vorzubeugen, sondern auch die Entwicklung sinnlicher Gelüste im Keim ersticken sollten, zeigen – ex negativo – Salzmanns Erfahrungsberichte: »Starke und hitzige Getränke, leckerhafte und übermässige Speisen, erhitzten ebenfals die Wollust in mir, und die warmen Betten gaben nicht wenigen Anlaß dazu« (Chr. G. Salzmann: Über die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig 1785, 38 f.; zit. nach Margita Lipping: Bürgerliche Konzepte zur weiblichen Sexualität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Rekonstruktionsversuche am Material medizinischer und pädagogischer Texte. In: Johanna Geyer-Kordesch u. Annette Kuhn [Hg.]: Frauenkörper, Medizin, Sexualität. Auf dem Wege zu einer neuen Sexualmoral. Düsseldorf 1986, S. 28–42, hier S. 36). Ernst Moritz Arndt, der ›seinen‹ »Salzmann zu viel gelesen« hatte, um nicht zu wissen, daß er sich »Ueppigkeit und Ausschweifung […] nicht erlauben« durfte, sollte später in seinen rückblickenden autobiographischen Zeugnissen diese Gedanken aufgreifen: »Nun wurden die meisten Gesellschaften von mir vermieden, die fröhlichsten Schmäuse, wo ich sonst gern war, ausgeschlagen: nur durch Ernst und Regel konnte ich Meister meiner selbst bleiben. Ich schlief wenig, und lag frierend unter der Decke und auf Stühlen und Brettern, wanderte wie ein Eilbote meilenlang im Schweiß des Tages und im Dunkel der Nacht, um den üppigen Leib zu ermatten, badete fast alle Tage und bis in den kalten Oktober hinein im offenen Meere, und was ich sonst noch that« (Ernst Moritz Arndt: Briefe an Freunde. Altona 1810, S. 172 f.; zit. nach Begemann: Furcht und Angst, S. 392). 103

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Zimmern beschäftigt waren, keine Heizung im Winter; so daß nicht selten die Dinte zu Eis wurde.«105 Ziel dieser Erziehung war es, den Geist über den Körper zu erheben und »die Sinnenreize unter den Gehorsam des Willens« zu beugen.106 Neben der schulischen Ausbildung stand daher die Abhärtung des Körpers im Mittelpunkt der Erziehung. »In den beyden Stunden, zunächst vor dem Mittagessen, Gymnastische Uebungen, – Fechten, Voltigiren Springen, Klettern, Balanciren auf dem gespannten Seil, und wenn wir auf dem Lande waren Schwimmen; dieses mitunter in spätem Herbst – bis zum December.«107 Blieben die sportlichen Leistungen hinter den hohen Erwartungen zurück, so wurden zur Strafe und Disziplinierung die Vorgaben für den nächsten Tag erhöht und die Aufgaben unter strenger Kontrolle durchgeführt. »Wenn Mimi bei einem Jagdausflug keinen Vogel trifft, weder im Fliegen noch im Sitzen, dann muß sie morgens vor dem Frühstück schon in den Wolbecker Wald gehen, um sich im Schießen zu üben. Und wenn sie vier Vögel getroffen hat, darf sie darüber auch ›herrlich‹ sein, und das Ergebnis wird umgehend Fürstenberg mitgeteilt. Wenn sie beim Halbstundenlaufen […] ›Keuchweh‹ bekommt, bleibt die Mutter am nächsten Tag in ihrer Nähe, bis Mimi es fertigbringt, eine Stunde lang zu laufen.«108 Den außerordentlichen Erfolg dieser exzessiven Leibesübungen bestaunte die Mitwelt bisweilen ungläubig. Auf den Stationen der Weimarreise wirkten unkonventio105 Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 39v f. – Daß es sich bei der Münsteraner Erziehung durch die Gallitzin um eine »wahre Spartanische Schule« handelt, bestätigt auch der Brief H. Schenks an J. G. Hamann vom 11.7.1786 (Hamann 6, 463). – Vgl. zu den Abhärtungsmaßnahmen auch Georg Arnolds Bericht über die Spiele mit den Erwachsenen. »Klumpsack«- bzw. »blinde Kuh«-Spiele etwa waren weniger kindliche Vergnügungen als schmerzvolle Erfahrungen: »Die kleineren traf daher immer das Loos der meisten Schläge und da das Spiel kein anderes Interesse darbot, als die Erwartung wen diese Schläge treffen würden, so erschien darin am Meisten eine Uebung in unverdrossener Ertragung des Schmerzes, welches wir doch am Ende mehr übel nahmen, als die Spartanischen Knaben ihre Schläge zu Lobe ihrer Göttinn, und dieses unverhohlen ließen.« (Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 41r.) 106 Vgl. ebd., Bl. 39v: »Anregung und Bekräftigung des Bewußtseyns der Hoheit des Geistes über sein Werkzeug, den Körper, daher Befähigung des letztern zu der fertigsten Uebung seiner Dienstpflicht und Beugung der Sinnenreize unter den Gehorsam des Willens war daher der Hauptzielpunkt welcher uns in der erweckendsten Belehrung immer vor Augen gestellt und welchem zustrebend unser Selbstgefühl, wenn man will unser Ehrgeiz, gerichtet wurde«. – In diesem Sinne hatte auch Mimi an Mitri geschrieben: »Deine physische Erziehung war durchaus gegen Deine Sinnlichkeit gerichtet, um den Körper und die Energie der Seele zu entwickeln« (zit nach Paul Fraatz: Tatsachenbericht über die gesundheitliche Beschaffenheit der Fürstin Gallitzin. In: Sudhoffs Archiv 32 [1939], S. 120–135, hier S. 132). 107 Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 40v. 108 Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 69.

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nelle Kleidung und Verhaltensweisen der Gallitzin und ihrer Kinder anstößig. Stoff für Klatschgeschichten mag ihr Erscheinen ausgiebig geboten haben.109 Thomas Wizenmann dagegen, der enge Freund Jacobis, zeigt sich in einem Brief an seinen Freund Philipp Wilhelm Gottlieb Hausleutner von den sportlichen Leistungen der Eleven begeistert: »Sie verrichten die schwersten Leibesübungen mit der größten Leichtigkeit: der Prinz klimmt auf einen haushohen, ganz abgeschälten Baum, und schlägt, wenn er oben ist, die Füße und Hände wechselsweise zusammen; die Prinzessin sowohl, als er, springen über 4 bis 4 ½ Fuß hohe Stangen, gehen auf dem Seile, reiten und setzen über erhöhte Stäbe, springen in allen möglichen Wendungen auf ein hölzernes Pferd, fechten, tanzen, jagen, schwimmen, gehen baarfuß in einem leinenen Kleide, Winters wie Sommers, und sehen dabei aus wie das Leben selbst. Sie sind ungewöhnlich freimüthig, ohne Affectation und Fürstengeblütswahn.«110 Auch von Georg Arnold weiß Jacobi solcherart sportliche Höchstleistungen zu berichten. »Am Sonntage ist George«, so schreibt er im Sommer 1785 nach Münster, »über den Rhein geschwommen. In 10 Minuten war er drüben, lief am Ufer hinan um von neuem die Richtung zu gewinnen, sprang alsdann so gleich wieder in den Strohm, u kam ohngefähr in eben so viel Zeit wieder zurück.«111 Der zentrale Stellenwert, den die Ausbildung des Körpers in der Erziehung der Gallitzin einnahm, war jedoch kein Resultat seiner Wertschätzung. Im Gegenteil: Er diente dazu, den Körper abzuhärten, ja abzuschaffen. Dieses Ziel war ganz im Sinne Jacobis, der in einem Brief an die Fürstin für seinen Sohn eindringlich bat: »[…] sehen Sie, ob Sie es nicht durch harte Leibesübungen dahin bringen können, daß er vom Fleische falle«.112 In diesem Punkt folgte man den Vorgaben Rousseaus, der in seinem Erziehungsroman Emile der körperlichen Ertüchtigung des fiktiven Zöglings ebenfalls breiten Raum gab. Und auch bei Rousseau stand die Stärkung des Körpers im Dienste seiner Unterwerfung: »Der Körper muß Lebenskraft haben, um der Seele zu gehorchen. […] Je schwächer der Körper ist, um so mehr befiehlt er. Je stärker er ist, um so eher gehorcht er.«113 Auf die Seele, auf den Geist kommt es demnach an. 109

Vgl. hierzu ebd., S. 108–120 sowie Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 95 f. Brief vom 10.6.1785 (von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 91). 111 Brief an A. von Gallitzin vom 23.6.1785 (JBW I,4, 132). 112 Brief vom 17.4.1781 (JBW I,2, 295). 113 Rousseau: Emile, S. 140; vgl. auch ders.: Émile, S. 269: »Il faut que le corps ait de la vigueur pour obéir à l’âme. […] Plus le corps est foible, plus il commande; plus il est fort, plus il obéit.« – Vgl. hierzu auch Frey: Der reinliche Bürger, S. 172: »Die Grundlage der pädagogischen Abhärtungsphantasien bildeten Rousseaus ›Emile‹ und die Erziehungsschriften John Lockes. Beide Reformer hatten nicht nur kalte Bäder, sondern auch harte Betten und luftige Kleider empfohlen. Die Vorschläge zur Knabenerziehung wurden von den Reformpädagogen Ehlers und Resewitz in Campes kommentierter Ausgabe des ›Emile‹ zustimmend besprochen. Das Schwimmen und Baden erhalte 110

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Ansonsten jedoch findet sich von der »negativen Erziehung« Rousseaus recht wenig in dem von Jacobi mitgetragenen Erziehungskonzept der Fürstin Gallitzin. Von einer abwartenden, sich an dem jeweiligen »natürlichen« Entwicklungsstand des Zöglings orientierenden Pädagogik kann hier keine Rede sein. An die Stelle der Freiheit, die den Nährboden für die Entwicklung des Emile abgab, traten in Münster Kontrolle, Strenge114 sowie überzogene Erwartungen und damit Überforderung. Diese standen im Dienste einer Unterdrückung aller »niedern Begierden«, denen nachzuhängen unmittelbar in Knechtschaft und Sklaverei führe, da die Befriedigung dieser Begierden immer neue wachrufe und damit eine ins Unendliche verlängerte Abhängigkeit zur Folge habe: »Aber auch die Unterdrückung unserer Begierden wozu uns ein anderer gegen unseren Willen nöthigt ist uns vortheilhaft, weil sie uns, obgleich mit lauter Schmerzen, die Augen allmälich öffnen, u auf beßere Gegenstände richten läßt. Daher sehen wir im Plato den Socrates dem Alcibiades auf das bündigste darthun, daß dem ungebeßerten Menschen die Sclaverey vortheilhafter als die Freyheit sey, welche sich allein mit der Tugend vertrage. Ringe also, mein Lieber, ringe nach Freyheit! Für das erste kannst du dieses allein durch Gehorsam. Wenn du dich großmüthig hiezu entschließest, so bist schon zur hälfte Frey, u die Sclaverey hat ein Ende, die allein den widerspenstigen feßelt. Ohne einen solchen großmüthigen Entschluß hingegen wirst du immer tiefer u tiefer in die Knechtschaft sinken, u tausend Martern erfahren müßen.«115 Das Ziel der Erlangung wahrer Freiheit rechtfertigte, so scheint es, jedes Mittel. Selbst der politisch liberal gesinnte Jacobi scheute hier vor einem auf Gehorsam und Unterwerfung basierenden Erziehungssystem nicht zurück, das ihn im übrigen mit den gleichzeitig die Gesundheit und Reinlichkeit und sei auch für die Kräfte des Körpers eine vortreffliche Übung. Solche Sätze können auch als Spitze gegen die körperliche Unbeweglichkeit und Abhängigkeit der höfischen Aristokratie gelesen werden.« (Campes Kommentar zum »Emile« erschien 1789–1791. Im rekonstruierten Katalog der Bibliothek Jacobis ist er nicht nachgewiesen: vgl. Konrad Wiedemann [Bearb.]: Die Bibliothek Friedrich Heinrich Jacobis. Ein Katalog. 2 Bde. StuttgartBad Cannstatt 1989 [= Friedrich Heinrich Jacobi, Dokumente zu Leben und Werk; Bd. 1].) – Vgl. zur Dialektik von Zuwendung zum Körper und Unterwerfung desselben auch Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 62 u. 66. – Im übrigen stand schon bei Platon die Ausbildung des Körpers im Dienste der Bezwingung der triebhaften Seelenteile. 114 Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 10.7.1781 (JBW I,2, 310). 115 Brief an G. A. Jacobi vom 23.1.1781 (JBW I,2, 256). – Vgl. hierzu auch Immanuel Kant: »Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn. Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur innern Freiheit doch nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind.« (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 227 f. In: Ders.: Werke, Bd. VI, S. 601.)

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allgemeinen Grundsätzen der Aufklärungspädagogik verband116 und nicht, wie Mathilde Köhler vermutete, ausschließlich auf »biblische Strenge und pietistisch gefärbte Furchtsamkeit«117 zurückzuführen ist. Freilich bestand das eigentliche Ziel in der Verinnerlichung der Kontrolle, die nicht zuletzt mittels der doppelseitig wirksamen Suggestion, »alles geschehe nur aus Liebe«118 zum Kind, umgesetzt werden sollte. Jacobis strengen Briefen, die selbst einen verächtlichen Zug selten vermissen lassen, eignet an dieser Stelle ein geradezu flehentlicher Ton: »Ach, lieber George, denke doch immer u unaufhörlich an deine Fehler, u hange dich an alles was dir zu ihrer Ueberwindung dienen kann. Jede Gefälligkeit gegen deine schädliche Neigungen wird dir zehnmal so viel Leiden zuziehen, als du bey ihrer Ueberwindung in dem ersten Augenblicke fühlen kannst. Könnt ich nur den Muth in deine Seele herzen und beten, den du nöthig hast. Ich weiß daß ein freywilliger Zwang, wenn du dich nur entschließen könntest dir ihn auf eine kurze Zeit ununterbrochen anzuthun, dich völlig beßern würde. Du glaubst nicht was das für eine Seligkeit gewährt, wenn man sich selber zu beherschen weiß, u wie schnell man im Guten fortkommt, wenn man sein Auge einmal ganz u alleine dahin gerichtet, und nichts anders einer Betrachtung würdigt. Nur eine entfernte Ahndung der Ruhe, der erhabenen Unabhängigkeit die damit verknüpft ist möcht ich dir geben können. Wie unempfindlich würde dich das auf einmal gegen Dinge machen, die dich jetzt noch oft so schrecklich peinigen! Wie milde, wie gehorsam, wie folgend würdest du nicht werden, ohne alle Qual. Du würdest nicht alleine deine Neigungen, du würdest deinen Willen wenn er auch auf wahre Vortheile geht, deine auf das offenbarste Recht gegründete Erwartungen, aufopfern können, mit einem innern Lächeln, mit einem stillen Triumph, der den ganzen Himmel, der die Gegenwart Gottes selbst in dein Herz bringen würde.«119 Offener läßt sich die Ideologie der Tugend, der jedes Opfer zur süßen Empfindung wird, da sie geradewegs in den Himmel führt, kaum aussprechen. Den Weg zu solch himmlischer Süße weist Jacobi seinem Sohn, indem er auf das zur Erreichung himm116

Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 176–178. – Vgl. auch Max Horkheimer: »Die ganze politische, religiöse und philosophische Literatur der Neuzeit ist vom Lobpreis der Autorität, des Gehorsams, des Opferwillens, der harten Pflichterfüllung durchsetzt.« (Max Horkheimer: Autorität und Familie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. 1970, S. 162–230, hier S. 199). 117 Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 77. – Vgl. zur pietistischen Pädagogik auch Begemann: Furcht und Angst, S. 176. Gegen die pietistische Herkunft der Erziehungsmaßnahmen Jacobis spricht etwa, daß Georgs schlechter Charakter niemals aus der – aufgrund der Erbsünde – »natürlichen« Verderbheit des Kindes abgeleitet wird. Er erscheint vielmehr als eine Eigenart von Georg Arnold, die gerade von den anderen Kindern Jacobis nicht geteilt wird. 118 Begemann: Furcht und Angst, S. 247. 119 Brief vom 25.10.1782 (JBW I,3, 69 f.).

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lischer Gefielde bewährte protestantisch-pietistische Repertoire zurückgreift: Introspektion, rückhaltloses Bekenntnis gegenüber einer höheren Instanz (Eltern als Interimsvertreter Gottes) und tägliche Gewissensprüfung: »Du wirst aber auf die beste Weise dazu beytragen, wenn du mir von dem was in deinem Herzen und in deinem Geiste vorgeht, es sey bey gewißen äußeren Veranlaßungen, oder ohne sie, treulich mittheilst. […] Ueberhaupt gewöhne dich daran, was du im Verborgenen denkst u thust imer, wenigstens im innersten deines Herzens, vor den Richterstuhl tugendhafter Menschen zu stellen, und ihr Urtheil darüber dir mit lauter und vernehmlicher Stimme im Nahmen des gegenwärtigen Gottes vorzusagen. Uebergehe, ehe du dich schlafen legst, auf diese Weise jeden deiner Tage, und Gottes Segen wird dich decken, und der Segen deines Vaters.«120 Im Ernstfall der sündigen Tat konnten selbst drakonische Läuterungsmaßnahmen in den Dienst dieser protestantischen Kontrolltechniken treten. Im Frühjahr 1781 kaufte Georg Arnold, der sich für einige Zeit in Düsseldorf aufhielt, auf Rechnung seines Großvaters eine teure, dreibändige Ausgabe des Tacitus, die dieser ihm angeblich als Geschenk zugesagt hatte. Als die Rechnung bei Johann Conrad Jacobi eintrifft, bestreitet dieser, jemals eine solche Zusage gemacht zu haben. Vielmehr hätte Georg Arnold ein Verlangen nach religiösen Erbauungsbüchern ihm gegenüber geäußert, und er hätte ihm aus seinen eigenen Beständen eines versprochen. Georg Arnold, der inzwischen nach Münster zurückgekehrt war, wird von der Fürstin Gallitzin genauestens zu diesem Vorgang befragt. Er beteuert seine Unschuld und schreibt einen Brief an seinen Großvater, in dem er diesen an seine angebliche Zusage bezüglich des Bücherkaufs erinnert. Die in diesem Brief angeführten Äußerungen Johann Conrad Jacobis sind nun nach Jacobis Meinung mit dem ganzen Charakter seines Vaters derart unverträglich, daß er zu dem Schluß gelangt, es handele sich um eine »abscheuliche Heucheley von George«, wobei die schlechte Tat durch den Brief in seinen »Augen mehr als verdoppelt« wird. Hätte man nämlich andernfalls zu Georgs Gunsten noch ein bloßes Mißverständnis unterstellen können, so schien der Brief eindeutig auf eine gezielte, planmäßig durchgeführte Untat zu verweisen.121 Es wird daher beschlossen, mittels dieses Vorfalls ein Exemplum zu statuieren. Er soll zum Anlaß genommen werden, unter Aufbietung aller Mittel – auch der härtesten

120

Brief vom 15.11.1782 (JBW I,3, 81 f.). – Vgl. auch den Brief an G. A. Jacobi vom 28.10.1785 (JBW I,4, 227 f.). 121 Vgl. hierzu auch Begemann: Furcht und Angst, S. 200: »Denn zwar ist jede unerlaubte Tat in den Augen der Pädagogen und Juristen an sich schon schlimm, wahrhaft amoralisch aber und entsprechend härter zu bestrafen ist sie nur, wenn sie das Derivat amoralischer Gesinnungen ist und nicht etwa aus bloßer Fahrlässigkeit entsteht.«

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Strafen – ein für allemal eine Läuterung des Charakters zu bewirken. So schreibt Jacobi Anfang April 1781 an die Erzieherin Gallitzin: »Aber der Vorfall scheint mir äußerst wichtig u kann für das ganze Leben entscheiden. Mir deucht, ein solcher Character muß durch alle Nerven gegen die Bewegungen seiner Sinne in Schrecken gejagt werden; u nur die tiefsten Erschütterungen sind einen solchen habituellen Schrecken hervorzubringen im Stande. – Liebe Amalia, so weit meine Erfahrungen reichen, giebt es nur Eine Ordnung des Heyls. Unsere Affecten sind von Natur stärker als die Vernunft; daher müßen jene erst durch Krieg und einheimischen Aufruhr geschwächt werden, bevor diese nur zum Anspruch der Oberherschaft gelangen kann. Ich hätte viel, viel über diese Materie zu sagen – zu viel!«122 Entsprechend dieser Doktrin – dergemäß es Jacobi wohlgemerkt darum geht, mittels einer Schwächung der Affekte der Vernunft zur »Oberherschaft« zu verhelfen – führt das durch eine abermalige Intervention der Gallitzin schließlich vorgelegte umfassende Schuldbekenntnis Georg Arnolds123 nicht zu einer mit Ermahnungen versehenen Geste der Vergebung, sondern, im Gegenteil, zu einem der grausamsten Briefe Jacobis. In diesem Brief vom 17. April 1781 macht er seinem 13jährigen Sohn die heftigsten Vorwürfe und stellt ihn – ohne jede Einschränkung – als die verabscheuungswürdigste Kreatur dar: »Du bist mit allen Lastern befleckt; du bist ein Lügner; du bist ein Betrüger; ja, was alle Scheußlichkeiten übertrifft: du bist ein Heuchler ! O, Gott! was ich von Kindesbeinen an über alles gehaßt, über alles verabscheut habe, das bist du – du, den ich, O mit welcher heißen Liebe! meinen Sohn nannte – – – […] Ein böser Geist hat alle Seegnungen die ich auf dich legte, in Flüche verwandelt; daß die feyerlichsten Stunden meines Lebens mir durch dich zum Gräuel würden; daß ich vor dem, den ich mit tausend Hoffnungen des Himmels an meine Brust drückte, ausspeien müßte, wie man vor keinem Wurme ausspeit.« Der Brief endet schließlich ohne jedes Einlenken, ohne jede Hoffnung auf einen Ausweg, ohne Geste der Milde: »Will sich die Fürstinn noch länger deiner annehmen, so mag sie es auf ihre Gefahr thun, nachdem ich sie, als ein ehrlicher Mann, vor dir gewarnt habe. In mein 122

Brief vom 5.–6.4.1781 (JBW I,2, 290 f.). Vgl. zur Rolle des Geständnisses in der Kindererziehung: Wimmer: Erziehung und Leidenschaft, S. 93 sowie Begemann: Furcht und Angst, S. 218. – Vgl. allgemein zu Geschichte und Bedeutung des Geständnisses (als eines »Diskursrituals«) in der Moderne – unter anderem auch in der Pädagogik – Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 75 ff. 123

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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Haus darfst du nicht, um mir nicht vollends alle Freuden darin zu vergifften. Ungewarnt darf ich niemanden [sic] Vorschlagen dich aufzunehmen, u gewarnt übernimmt dich sicher keiner. Du begreiffst also selbst, daß keine andre Wahl für dich übrig bleibt, als die Werkstadt, oder das Zuchthaus – Das Herz bricht mir, ich kann nicht weiter schreiben.« Jacobi verstößt seinen Sohn. Damit soll erreicht werden, daß die Fürstin Gallitzin für Georg Arnold »das einzige Wesen in der Natur seyn [soll], bey dem er Gnade, Trost u Rettung finde«.124 Diese Doppelstrategie von ungemilderter Härte und Zufluchtsort, »von Furcht und Hofnung«,125 soll Georg Arnold läutern und gefügig machen: »Freylich muß der Knabe nicht zu stark erschüttert werden, denn eine zu starke Erschütterung zieht Fühllosigkeit nach sich; aber eben so wenig muß man ihn zur Ruhe kommen laßen. Lange anhaltende Plage bringt jene Zerknirschung zu Wege, ohne welche gewiß u wahrhaftig keine Beßerung des Herzens erfolgt.«126 Der Begriff der »Zerknirschung« verweist auf die religiösen Ursprünge dieser Disziplinierungsstrategie. Die Zerknirschung (»contritio«) kann als das Hauptmoment jener verinnerlichten Form der Buße identifiziert werden, die sich bereits im 12. Jahrhundert entwickelte. Nur durch eine solche, auf die »Negation der Intention« abzielende und somit tief ins Innere eindringende Reue, war Exkulpation denkbar.127 Unter säkularen Bedingungen bleibt diese Gewissensprüfung nicht mehr auf die Beichtsituation beschränkt, sondern wird zum umfassenden Muster der Lebensführung. Die Fürstin Gallitzin hatte dabei für sich selbst längst verinnerlicht und habitualisiert, was dem Kind unter Anwendung äußerlichen Zwanges zugemutet wird: Den überzogenen Erwartungen an die Kinder korrespondieren überzogene Ansprüche an sich selbst. Der Weg zur Vollkommenheit der »schönen Seele«, die in reiner Tugendhaftigkeit erstrahlt und von allen irdischen Affekten und Leidenschaften sich gänzlich frei weiß,128 war ein Weg permanenter Selbstkontrolle, Selbstanalyse, ja Selbstsezierung. Das Tagebuch der Fürstin legt hiervon nachdrücklich Zeugnis ab.129 Die Lebensweise der Mönche

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JBW I,2, S. 294 f. Brief von T. Wizenmann vom 22.5.1783 (JBW I,3, 149). Gemäß Wizenmann bilden Furcht und Hoffnung die beiden grundlegenden Mittel der Moralerziehung. 126 Brief an A. von Gallitzin vom 17.4.1781 (JBW I,2, 295). – Zur von den Aufklärungspädagogen selbst gesehenen Problematik zu großer Erschütterung vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 197. 127 Vgl. Hahn: Soziologie der Beichte, S. 408. Vgl. auch ders.: Religiöse Wurzeln, S. 243 f. – Vgl. hierzu auch Jacques Le Goff: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter. In: M. Bloch u. a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. v. Claudia Honegger. Frankfurt a. M. 1977, S. 393–414, hier S. 405. 128 Vgl. den Brief von A. von Gallitzin vom 21.10.1784 (JBW I,3, 376). 129 Vgl. Schlüter: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2. Hierzu auch Köhler: Amalie von Gallit125

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wird nun jedermann abverlangt: »Du glaubst, Du seist dem Kloster entronnen: Es muß jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein.«130 Was Max Weber für den Protestantismus ausführte, gilt ebenso für die katholische und gleichwohl pietistisch gesinnte Gallitzin.131 Die bezüglich »George« getroffenen und von Jacobi ausdrücklich begrüßten »Verordnungen« erinnern daher nicht zufällig an klösterliche Disziplinübungen: Er darf »sich durchaus nicht der Wörter ja u nein bedienen, u mit niemand leise reden«.132 Religiöse Disziplinierungstechniken gehen somit ein ins Repertoire säkularer Pädagogik.133 Der Weg des Gläubigen von der »starken Erschütterung« über die »Zerknirschung« zur letztendlichen »Beßerung des Herzens« fand als vorzügliches Disziplinierungsmittel einige Jahre später erneute Anwendung. Die »starke Erschütterung« wurde in diesem Fall nicht eigens hervorgerufen: Sie war vielmehr durch den Tod von Helene Elisabeth Jacobi am 9. Februar 1784 unmittelbar gegeben. Die Fürstin Gallitzin hat »dem kleinen George« – wenn man ihren Brief vom 16. und 17. Februar 1784, einen der ganz wenigen überlieferten Briefe der Fürstin an Jacobi, zugrundelegt – den Tod der Mutter nahegebracht. Die Situation wird gleichwohl weitgehend schonungslos zum Zwecke disziplinierender Maßnahmen genutzt: Die Mutter im Himmel könne zin, S. 71: »Monate und Jahre hindurch liegt die Fürstin sich selbst und ihren Kindern auf der Lauer. Sie seziert alle Gefühlsregungen, die Gedanken, Meinungen und Absichten ihrer Kinder, ihrer Untergebenen und Freunde.« – Vgl. auch die Ausführungen von Schönborn: Buch der Seele, S. 6–8. Ihr gilt die Tagebuchschreiberin Gallitzin als Hysterikerin: »An ihrem Beispiel, das die Selbstzergliederung durch von außen ins eigene Selbst applizierte Gewissensinhalte zur diskursiven Perfektion treibt, wird die letzte Konsequenz dieses Selbstdiskurses in der hysterischen Selbstzerstörung deutlich.« (S. 8) 130 Zit. nach Alfons Labisch: Homo Hygienicus, S. 36. (Dieser zitiert Max Weber: Die Entfaltung der kapitalistischen Gesinnung. In: Ders.: Die protestantische Ethik. I. Eine Aufsatzsammlung. Hg. v. J. Winckelmann. 2. Aufl. München u. a. 1969, S. 344–360, hier S. 357.) An anderer Stelle paraphrasiert Weber unter Verweis auf Franck: »daß nun jeder Christ ein Mönch sein müsse sein Leben lang« (Weber: Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 119). 131 Amalia von Gallitzin war katholisch, praktizierte ihren Glauben aber erst wieder seit dem 28. August 1786, dem Tag ihrer ersten Beichte nach vielen Jahren eines distanzierten Verhältnisses zum Glauben und zur Bibel. – Daß im übrigen auch die Gegenreformation – mutatis mutandis – Teil des Zivilisationsprozess ist, hat Alois Hahn deutlich gezeigt. Heilsungewißheit wie die Unterwerfung des gesamten Lebens unter die Notwendigkeit ständiger Gewissensprüfung finden sich danach auch in den katholischen Lehren (Hahn: Religiöse Wurzeln). – Vgl. auch Jacobis Brief an Goethe vom 7.6.1794, in welchem er mit Blick auf die Gallitzin vom »unglückseelige[n] catholische[n] Pietismus« spricht (Jacobi: Briefwechsel Goethe, S. 185). 132 Brief an A. von Gallitzin vom 17.4.1781 (JBW I,2, 295). 133 Friedhelm Guttandin sieht im Kloster die erste einer ganzen Reihe von »Sozialmaschinen«, »die mittels Machttechniken Selbstbeobachtungs- und Selbstkontrollmechanismen in den Menschen installieren«. In den mittelalterlichen Klöstern sind, ihm zufolge, »all jene Prozeduren erfunden und erprobt worden, die später zu ihrer Erhaltung und Steigerung immer wieder eingesetzt wurden«. Vor diesem Hintergrund sieht er in der bürgerlichen Pädagogik lediglich die Fortsetzung dieser religiösen, aber auch militärischer Vorläufer (Guttandin / Kamper: Selbstkontrolle, S. 11, 25 u. 73).

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nun alles sehen, was er tut, denkt, empfindet, und er könne ihr in dem Maße näher sein, wie er selbst »reiner« würde. Auch könne er sogar seine Erzieherin Gott näher bringen, wenn er sich nach ihren Lehren richte – Ähnliches gelte für seinen Vater, seine Geschwister und seine Verwandten. Georg Arnold reagiert auf diese Zurichtung wie gewünscht: »Er gelobte mir Redlichkeit, vermehrten Fleiß, und unablässiges Bestreben, sich zu vervollkommnen.«134 Auch in Düsseldorf waren alle »Einer Meynung«,135 daß die Gelegenheit genutzt werden sollte, dem Jungen eindringlich ins Gewissen zu reden. In Jacobis erstem Brief an Georg Arnold nach dem Tode der Mutter wird dieser Vorsatz umgesetzt. Nachdem Georg Arnold zunächst auf die Tugendhaftigkeit (»Heilige«) seiner Mutter und das »Böse« in ihm selbst nachdrücklich hingewiesen sowie sein älterer Bruder Fritz als leuchtendes Vorbild dargestellt wurde, der an dem Sarge seiner Mutter »Millionen Thränen« vergossen habe, aber dennoch ruhigen Gewissens sein könne, wird Georg Arnold angesichts seiner Sündhaftigkeit ein häßliches Szenario gemalt: »George! Ich stelle dich im Nahmen Gottes vor eben diesem Sarge – und will nicht fragen! – Zürne nicht daß ich diesen Stachel dir ins Herz senke, denn dir droht noch mehr. Die Gruft deiner Mutter wartet deines Vaters auch. Diese Hand, die sich ietzt noch bewegt, und vor Liebe und Sorge um dich zittert, die wird auch einmahl, – vielleicht sehr bald im Sarge starren; diese Augen, die so manche Thränen die du gesehen, und die du nicht gesehen hast, um dich geweint, werden eingesunken und geschloßen seyn; dieser Mund der so oft mit Küßen dich bedeckte, und küßend dich ermahnte, wird die kalten Lippen nicht mehr rühren –– – – George! Im Nahmen Gottes stelle ich dich auch noch vor diesen Sarg – Wenn du dann nicht gut gewesen bist; so werde ich dennoch in der letzten Stunde für dich gebetet, deine künftigen Tage gesegnet, o, mit Innbrunst und aus reinem vollen Herzen gesegnet haben; – aber du wirst weder meinem Gebet noch meinem Segen glauben. Du wirst an der Tugend selbst verzweiflen, weil sie keine Todten auferwecken kann, und dich untröstlich laßen muß.«136 Mindestens diesen Brief hat wohl Goethe zusammen mit den anläßlich von Bettys Tod geschriebenen und erhaltenen Trauerbriefen von Jacobi zugesandt bekommen. Der in dem Brief offenkundig werdende Umgang mit dem Kind hat ihn dabei anscheinend so gründlich erschreckt, daß er sich eines mahnenden Kommentars nicht enthalten konnte:

134 135 136

JBW I,3, 289 Brief an A. von Gallitzin vom 23.2.1784 (JBW I,3, 294). Brief vom 24.2.1784 (JBW I,3, 296).

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III. Begehren

»Schreibe mir doch ein Wort von dem Kinde zu Münster und was ihr mit ihm habt. Ich weis nichts von ihm, kann es nicht beurtheilen und wenn ich nicht sehr irre behandelt ihr es falsch, die Fürstinn und du. Ich mische mich nicht gern in dergleichen Sachen denn die Vorstellungs Arten sind zu verschieden und mit Schreiben ist gar nichts ausgerichtet, aber das Kind dauert mich, es ist doch dein und Bätty’ [sic] Kind und gewiß nicht zum Bösewicht zum Nichtswürdigen gebohren.«137 In seinem Antwortbrief rechtfertigt Jacobi die Erziehungsmaßnahmen damit, daß sie zwar womöglich inadäquat seien, adäquatere aber – aufgrund des problematischen Charakters von »George« – schwerlich ersonnen werden können.138 Dennoch erwägt er bereits in diesem Brief, ob er Georg Arnold für einige Zeit in Düsseldorf behalten soll. Tatsächlich kehrt »George« von seinem Aufenthalt in Pempelfort im Sommer 1784 nicht wieder nach Münster zurück.139 Damit ist die vierjährige Erziehungszeit bei der Fürstin Gallitzin beendet. Geplant ist, ihn in Düsseldorf zu unterrichten und einer genauen Prüfung zu unterziehen, um dann über seinen weiteren Ausbildungsund Lebensweg zu entscheiden, wobei ein Universitätsstudium (»hohe Schule«) bereits ins Auge gefaßt wird.140 Im Mai des darauffolgenden Jahres wird beschlossen, Georg Arnold »auf einige Monathe« nach Celle zu Jacobis Onkel, dem »General Superintendenten« Johann Friedrich Jacobi, zu geben,141 wo er auch sein »Glaubensbekänntniß« empfangen soll,142 und ihn schließlich, begleitet von den Enkeln ebendieses Onkels, zum Studium nach Göttingen zu senden. Jacobi verabsäumt nicht, seinen Onkel gebührend vor dem Charakter seines Sohnes zu warnen: »Als ein rechtschaffener Mann bin ich verpflichtet Ihnen zu sagen, daß mein Sohn Ihnen manche trübe Stunde machen wird. An Fähigkeiten mangelt es ihm nicht, aber alle Anstrengung ist ihm zuwider, und es hat noch kein Mittel ausfündig gemacht werden können, ihm zu irgend einem Guten eine standhafte innerliche Liebe einzuflößen. Zur Verstellung und zu Tücken ist er von Natur nicht aufgelegt; da er aber weich, reizbar, unbesonnen und heftig ist, so kann er auch nicht grade, nicht edel seyn, und muß sich in seinen Neigungen, Absichten, Entschlüs-

137

Brief vom 31.3.1784 (JBW I,3, 310). – Vgl. auch im Rückblick Goethes Brief vom 9.9.1788: »Von deinem Georg habe ich immer das beste gehoft, und war unzufrieden mit Euch daß Ihr immer mit dem Kinde unzufrieden waret. Ein Blat das groß werden soll, ist voller Runzeln und Knittern eh es sich entwickelt, wenn man nun nicht Geduld hat und es gleich so glat haben will wie ein Weidenblat dann ists übel.« (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,9, S. 22.) 138 Vgl. den Brief vom 28.4.–8.5.1784 (JBW I,3, 314). 139 Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 11.–12.10.1784 (JBW I,3, 367). 140 Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 6.8.1784 (JBW I,3, 348). 141 Brief an J. G. Hamann vom 18.5.1785 (JBW I,4, 101). 142 Brief an A. von Gallitzin vom 13.1.1786 (JBW I,5, 16).

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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sen unaufhörlich verwickeln. Ueberhaupt fehlt es ihm an Mitgefühl, an Herz, und wie sein Körper plump ist ohne ungeschickt zu seyn, und bey aller seiner Trägheit, wenn es seyn muß, doch behende, eben so auch seine Seele. Ein vortrefflicher Mensch wird er nimmer. Aber manches würde sich doch ändern, wenn in seinem schweifenden, losen, unzusammenhangenden Wesen nun ein richtender Mittelpunkt einmahl entstehen und sich fest setzen könnte …«143 Der Brief enthält somit ein umfassendes Charakterbild Georg Arnolds, das in gewohnter Manier insbesondere seine Schwächen deutlich hervorhebt. Wenn Georg Arnold hier als »weich, reizbar, unbesonnen und heftig« beschrieben wird und zudem behauptet wird, daß es ihm »an Mitgefühl, an Herz« mangele, so scheint die Münsteraner Erziehung – gemessen an den Tugendidealen der Empfindsamkeit – vollständig versagt zu haben: von einer Mäßigung und Unterdrückung der Affekte kann ebensowenig die Rede sein wie von einer Reinigung der Gefühle im Sinne einer Verwandlung egoistischer in sanfte, altruistische Empfindungen.144 An das empfindsame Ideal tugendhafter Vollkommenheit sei daher bei »George« nicht mehr zu denken: »Ein vortrefflicher Mensch wird er nimmer.« Dennoch knüpft Jacobi, wie das Ende des Briefes zeigt, an den Aufenthalt in Celle einige Hoffnungen. Diese scheinen sich auch zunächst zu erfüllen: Man zeigt sich »zufrieden« mit »George«. Jacobi nimmt diese guten Nachrichten zum Anlaß, in einem – wie üblich in ermahnendem Ton gehaltenen – Brief an Georg Arnold die Vision zu entwerfen, daß sein Sohn zugleich auch sein Freund werden könnte: »Gieb mir, Lieber, gieb mir immer mehr von dem unaussprechlich süßen Vorgeschmack, in dir einen Freund heran wachsen zu sehen, deßen Daseyn mir so lieb seyn wird, daß ich mein eigenes darüber vergeßen, voll Wonne es für nichts achten 143

Brief vom 26.5.1785 (JBW I,4, 102). Vgl. Vollhardt: Romanprojekte, S. 96. – Interessant ist, daß Vollhardt gerade in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß in Jacobis Roman Allwill insbesondere die Erziehung der Kinder als ausgezeichnetes Beispiel für diese Verwandlungsmöglichkeit angeführt wird. – Das Scheitern der Erziehung Georg Arnolds und die möglichen Gründe hierfür werden thematisiert im Brief Heinrich Schenks an J. G. Hamann vom 14.7.1786 (Hamann 6, 473). Unumstritten waren die Erziehungsmethoden der Gallitzin keineswegs. Köhler etwa führt an, daß Franz Kaspar Bucholtz, der Mäzen Hamanns, ihr »schon die Frage gestellt [hätte], ob sie nicht mehr Kopf als Herz sei, und ob sie nicht die Erziehung ihrer Kinder ganz nach dem Verstande regle« (Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 139; Köhler bezieht sich hier offenbar auf den Tagebucheintrag der Gallitzin vom 13.1.1787 [Schlüter: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2, S. 67 f.]). Vgl. auch im Brief Herders an Hamann von Anfang Oktober 1785 (nach dem Besuch der Gallitzin in Weimar): »Sie [= Fürstin Gallitzin] muß eine Frau von außerordentl. Wirkungskraft in ihrem Kreise seyn; ob mir wohl die Grundsätze ihrer Erziehung, so viel ich davon zu sehen bekommen habe, nicht völlig einleuchten« (Hamann 6, 80). In einem langen Rückblick auf ihre (gescheiterten) Erziehungspläne erklärt die Gallitzin Georg Arnold Jacobi zum Verderber ihrer eigenen Kinder (vgl. Schlüter: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2, S. 208 u. 219 f.). 144

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III. Begehren

werde. Du kannst die höchste Idee irrdischer Glückseligkeit die ich zu faßen im Stande bin mir erfüllen; du kanst mir einen Freund geben, der mein Sohn, u der Sohn meiner himmlischen Betty ist«145. Dieses Ideal der Empfindsamkeit, »die höchste Idee irrdischer Glückseligkeit«, daß die leibliche Doublierung im Sohn und die geistige Doublierung im Freund zusammenfallen und somit die Endlichkeit / Sterblichkeit gleich in einem zweifachen Sinne imaginativ überschritten wird, sollte sich jedoch so bald nicht erfüllen.146 In Celle kam es wohl zu einer Doublierung des Vaters im Sohn, keine jedoch, die diesem irgend recht sein konnte.

3.3 Das Desaster von Celle oder »Die Masken des Begehrens«147 Obwohl Fürstenberg seine Gefährtin Amalia von Gallitzin bezüglich ihrer eigenen Kinder darauf aufmerksam machte, daß »die Natur in der Pubertät mit Gewalt erwacht«,148 wird alles, was mit der Sexualität in Verbindung steht, von den Kindern möglichst ferngehalten. »Vor allem soll Mitri nicht mit Mig[=q]uel, dem Fechtmeister, zuviel allein sein, denn der hat ein Auge für Frauen …«, faßt Köhler zusammen.149 Die Sexualität wird tabuisiert. Hierin kommen Aufklärung und Empfindsamkeit überein.150 Demgegenüber steht ein blühender, medizinisch-wissenschaftlicher Diskurs über Sexualität, in dessen Kontext sich, wie Michel Foucault gezeigt hat, Sexualität in einem modernen Sinne überhaupt erst herausbildet.151 Der Verdacht liegt nahe, so

145

Brief vom 28.10.1785 (JBW I,4, 227). Zu anderen Szenarien und Medien – letztlich Spiegel – der Potenzierung von Freundschaftsverhältnissen vgl. Schnegg: Gleichgestimmte Seelen, S. 28 f. 147 Philippe Ariès u. André Béjin (Hg.): Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Frankfurt a. M. 1992. 148 Köhler: Amalie von Gallitzin, S. 74. Es handelt sich um eine Paraphrase Köhlers. 149 Ebd., S. 70. 150 Vgl. etwa Sauder, der von der »Furcht der Aufklärer vor allen noch so versteckten Äußerungen von Sexualität« spricht (Sauder: Empfindsamkeit [1974], S. 193). – Vgl. auch Begemann: Furcht und Angst, S. 208–228. 151 Vgl. etwa die Feststellung von Margita Lipping, daß im 18. Jahrhundert »eine schier unübersehbare Flut von Literatur« zum Thema »Sexualität« erscheint, »die im deutschen Sprachraum ihren Höhepunkt zwischen 1775 und 1790 erreicht« (Lipping: Bürgerliche Konzepte, S. 28). Ganz ähnlich äußert sich auch Begemann: Furcht und Angst, S. 45. – Vgl. auch Corinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993 (= Beiträge zur Sexualforschung; Bd. 67). – Michel Foucault hat sich angesichts dieser »Diskursivierung« von Sexualität seit dem 18. Jahrhundert gegen die These von der Unterdrückung der Sexualität ausgesprochen. Doch scheint de facto die – bisweilen exzessive – Thematisierung mit einer Tabuisierung Hand in 146

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Christian Begemann, »als habe sich die aus der körperlichen Praxis zurückgedrängte Lust gewissermaßen in den Text geflüchtet und dessen Quellung bewirkt«.152 In diesem Bestimmungs-, Abgrenzungs- und Normierungsprozeß wird insbesondere den negativen physischen und psychischen Folgeerscheinungen eines moralisch verwerflichen und maßlosen Trieblebens große Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem über die (kindliche) Onanie wird eine extensive Diskussion initiiert und gepflegt – man denke etwa an den Erfolg von Tissots Werk L’Onanisme; ou Dissertation physique, sur les Maladies produites par la Masturbation (1760) und an die sich hieran anschließende Onaniedebatte.153 Auch Jacobi hatte das Tissotsche Werk im Jahre 1767 bei seinem Buchhändler Rey bestellt.154 Man denke aber ebenso an Hufelands Makrobiotik oder Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796), in dem der Enthaltsamkeit eine bedeutsame Rolle im Kontext jener Kunst zugesprochen wird – eine Argumentation, die als Ausdruck der »spezifisch bürgerlichen, gegen Verschwendung gerichteten Sparsamkeits- und Rentabilitäts-Ideologie« gedeutet worden ist.155 Aber selbst diese Art der Thematisierung von Sexualität hat in Jacobis Briefwechsel keinen Platz: Sexualität imponiert hier vielmehr durch ihre Absenz, welche in bemerkenswertem Kontrast steht zu dem empfindsamen Anspruch, sich in seinen Briefen vollkommen und restlos auszusprechen.156 Die bereits in dem oben erwähnten Brief an Reimarus dargelegte Überzeugung, daß nur eine »vollständige Lehre von unsern Begierden (das Wort Begierde in seinem weitesten Umfange genommen) […] zugleich die beste Moral seyn« würde, stößt im Falle der Sexualität an scheinbar unumstößliche Grenzen. Jacobi besteht sogar gegenüber Reimarus ausdrücklich darauf, daß er jene niederen Formen der Wollust in der Person Allwills nicht dargestellt hat: »Selbst mein Wildfang, mein Allwill ist weit davon entfernt ›der Ausschweifung der Begierden in Wollust ‹ [= so der Vorwurf von Reimarus; C.G.] das Wort zu reden. So wie er ist kann er vieleicht an den Galgen oder auf das Rad kommen: schwerlich aber

Hand gegangen zu sein. Vgl. zusammenfassend hierzu Begemann: Furcht und Angst, S. 46–49 u. S. 208–212. 152 Ebd., S. 236 f. 153 Vgl. Karl Braun: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1995 sowie Bloch: Bekämpfung der Jugendmasturbation. – Vgl. auch Michael Stolberg: An Unmanly Vice: Self-Pollution, Anxiety, and the Body in the Eighteenth Century. In: Social History of Medicine 13 (2000), S. 1–21. – Lipping weist im übrigen darauf hin, daß die starke Rezeption der Tissotschen Schrift maßgeblich durch Rousseaus Emile initiiert wurde (Lipping: Bürgerliche Konzepte, S. 30). 154 Vgl. den Brief vom 24.9.1767 (JBW I,1, 43). 155 Lipping: Bürgerliche Konzepte, S. 34; vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 82 f. 156 So auch Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 76 f.: »Erinnert sei etwa an die durchgängige Tabuisierung von Erotik und Sexualität – ein Ausschluß, der sich mit der bekenntnishaften Rhetorik der empfindsamen Briefe kaum verträgt.«

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III. Begehren

seinen Geist beschäfftigen, vergnügen u aufgeben wie ein Sardanapal, wie ein Wollüstling.«157 In der Konsequenz dieses Sexualitätstabus – und nicht nur an der Tatsache des jungen Alters von Georg Arnold – mag es daher wohl liegen, daß Jacobi gegenüber seinem Sohn von den »Freuden des Gaumens« als den »allerniedrigsten« Lüsten des Leibes spricht. Von der Sexualität spricht man erst gar nicht. Bemerkenswert ist daher ein als naiv eingestufter Fauxpas von Franz Kaspar Bucholtz, dem Mäzen Hamanns, von dem Jacobi in einem Brief berichtet: »Ueber seine [= Bucholtz] naive Unschuld muß man sich wundern. Er sagte mir einmahl, es wäre curios, sein Mädchen wäre nicht ruhig als wenn er bey ihm wäre, u denn wär’ es ganz ruhig; er hingegen wäre nie unruhig als wenn er bey seinem Mädchen wäre, u bey dem Mädchen könte er nie ruhig seyn. Aus Furcht ich möchte ihn nicht ganz verstehen, erklärte er sich noch deutlicher. Meine Erklärung dieser Erscheinung schien ihm Genüge zu thun. Er hatte aber schon vorhin die Prinzeßinn darüber zur Rede gestellt, ob meine Behauptung im Woldemar, daß der Trieb zur Wollust im weiblichen Geschlecht so äußerst schwach sey, Grund habe. Die Prinzeßinn, um des Weiblichen Geschlechts Conto der Tugend zu vergrößern, u durch kein minus einem plus die Wage zu halten, versicherte, ich hätte Unrecht, u der mindre Grad der Leidenschaft bey den Weibern, sey nur die erworbene Fertigkeit, derselben Widerstand zu thun: von Natur sey das Weib nicht minder reitzbar als der Mann.«158 Diese Briefstelle läßt dreierlei deutlich werden. Zum ersten, daß es sich um eine – wenngleich »naive[r] Unschuld« zugeschlagene – Tabuverletzung handelt, derart offen über Sexualität zu sprechen. Zum zweiten, daß in der Berichterstattung an Hamann das Tabu weitgehend wiederhergestellt wird: Jacobi läßt genau jenen Teil aus, in dem er sich zum Thema äußert. Zum dritten endlich weist das Gespräch mit der Fürstin den Weg in die »richtige« Richtung: Das Ziel tugendhaften Verhaltens kann nur in einer Unterdrückung der Sinnlichkeit, der Wollust, der Sexualität liegen. Daß Frauen dieses Ziel weit eher zu erreichen in der Lage sind als Männer, ist die übereinstimmende Auskunft der Fürstin Gallitzin und Jacobis, wenngleich sie jeweils andere Gründe hierfür geltend machen. Jacobi zufolge sind Frauen, wie er seine Romangestalt Henriette sagen läßt, »nicht sinnlich, nicht wollüstig«.159 Die Stilisierung 157

Brief vom 23.10.1781 (JBW I,2, 357 f.). Brief an J. G. Hamann vom 29.7.–5.8.1785 (JBW I,4, 146). 159 Brief an M. E. Reimarus vom 15.3.1781 (JBW I,2, 284); vgl. hierzu auch JBW I,2, 44 u. 93. – Auch in seinem ersten Roman Eduard Allwills Papiere hatte Jacobi diese unsinnliche Liebeskonzeption bereits vertreten. Wieland kommentiert dies in seinem Brief vom 14.7.1776 zustimmend: Er dankt ihm »für alles Herrliche, was Du da zum ersten Male, seitdem man schreibt, von der ehelichen Liebe der braven Weiber gesagt hast. Alles das ist eigentlich Wort Gottes, wie’s Göthe nennt« (JBW I,2, 44). 158

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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der Frau zum Engel, zur Heiligen, in Jacobis Briefen160 und insbesondere in seinen Romanen steht für diese Überzeugung, die im Gegensatz zu zeittypischen Auffassungen von der Natur der Frau zu stehen scheint.161 In Wahrheit müssen wohl Perhorreszierung und Sakralisierung des Weiblichen als zwei Seiten ein und desselben Konzepts von Weiblichkeit angesehen werden. Auch Jacobis Stilisierung der Weiblichkeit bedeutet nicht eine schlichte und mithin eindimensionale Aufwertung der Frau, sondern deren Unterwerfung unter weit strengere Disziplinierungsregeln: Ein Mann mag, schändlich genug, niedere Leidenschaften haben – es ist seine Natur. Eine Frau jedoch, die sich der Sinnlichkeit überläßt, wird instantan zur Hure erklärt, denn es gibt nur eine einzige Leidenschaft, die der Frau von Natur aus zukommt, und das ist die Liebe zu ihren Kindern.162 Dies entspricht dem Bild der bürgerlichen Frau als einer Hüterin der Moral, als derjenigen, die innerhalb der Gesellschaft für den privaten Raum und innerhalb der Familie für die Durchsetzung und Ausbildung der neuen, gereinigten Formen von Affektivität zuständig ist. In Jacobis Roman Woldemar kommt diese Rolle der Ehefrau Allwina zu. Henriette dagegen, die Freundin Woldemars, ist die Inkarnation der »schönen Seele« selbst und als solche geschlechtslos, denn die Seele kennt kein Geschlecht, und auch das Engelwesen, wie überhaupt die Sphäre des Heiligen, kennt keines.163 Erst und nur in dieser geschlechtslosen Geschlechterkonstellation, in der Henriette zum »Bruder Heinrich« mutiert, kann das ideale, vollkommen unbefleckte, reine und damit überirdische Bild der Liebe entworfen werden.164 In seinem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 2. September 1794, der auf Humboldts Rezension der Neuausgabe des Woldemar Bezug nimmt, macht Jacobi dieses

160

Vgl. hierzu oben das Kapitel II.3.5. Vgl. Helga Glantschnig: Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung. Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 160–170. 162 Vgl. hierzu die Interpretation des Woldemar bei Stäcker: »Wenn Männer (sinnliche) Leidenschaft empfinden, ist dies ihr ›unmittelbarer Trieb‹ und damit gerechtfertigt; wenn Frauen so empfinden, ist es ›schnödes Gelüst‹ und die Frau ›ein ungetreues, buhlerisches Weib‹ (wie Henriette Woldemar weiter zitiert), das ›mit Recht für das niederträchtigste aller Wesen zu halten‹ ist, ›denn Mutter Natur habe das Weib nur zu Einer Leidenschaft angewiesen – zur Leidenschaft für die Kinder‹« (Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 178 f.; die Zitate sind aus Jacobi: Woldemar [1779], S. 78; vgl. JWA 7,1, 39). – Christ kommt in seiner Exegese des Woldemar zu demselben Resultat (vgl. Christ: F. H. Jacobi, S. 319–321). 163 Vgl. Kluckhohn: Auffassung der Liebe, S. 249. Vgl. auch ebd., S. 354 die Kritik Friedrich Schlegels an der Geschlechtslosigkeit Henriettes (vgl. Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 258– 260). – Vgl. hierzu auch Katharina Biegger Schwarz: Paracelsus über Maria – Weiblichkeit und Heiligkeit. In: Nova Acta Paracelsica N. F. 14 (2000), S. 3–18, hier S. 13: »Geschlecht (sex wie gender) gehört der irdischen Sphäre an und ist somit nicht auf die Sphäre des Heiligen anwendbar«. 164 Vgl. hierzu oben das Kapitel II.3.4. – Zum unerotischen, körper- und sinnenfeindlichen Liebeskonzept der Empfindsamkeit und Jacobis vgl. auch Kluckhohn: Auffassung der Liebe, S. 138, 190, 236 u. ö. 161

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Idealbild der Liebe nochmals deutlich: »Wer je in seinem Leben geliebt hat, weiß, daß die erste Bedingung der Liebe Feindseligkeit gegen die thierischen Triebe ist«.165 Mit dieser Überzeugung formuliert Jacobi nicht nur seine eigene, vom anthropologischen Dualismus geprägte Position, sondern zugleich auch die Morallehre der Empfindsamkeit: Jene Affekte, die im körperlich-sinnlichen und somit animalischen Wesen des Menschen ihren Ursprung haben, müssen getilgt und durch »edle«, sich auf Tugend und Mitmenschlichkeit richtende Empfindungen ersetzt werden. In Anlehnung an Theoreme der Freudschen Psychoanalyse hat Gerhard Sauder Empfindsamkeit daher als »gelingende Sublimierung« definiert: »immer wird sie durch Triebverschiebung in die scheinbar sexualitätsfernen Bereiche der Affektivität ermöglicht«.166 Doch die in hohem Maße erotisch aufgeladene Sprache der Empfindsamkeit drohte die Grenze zur Sinnennatur ständig zu durchbrechen; die Mauer war brüchig, was schon den Zeitgenossen nicht entging.167 »Sinnentaub müßte ein Leser sein, der diesen Doppeleffekt aus Intellektualisierung und Diskursivierung des physischen Sex und der Erotisierung von Reflexion und Sprache nicht bemerkte«, so Lothar Müller, der in der Zweideutigkeit ein konstitutives Element empfindsamer Briefromane sieht.168 Diese Zweideutigkeit in Richtung auf eine Eindeutigkeit zu hintertreiben, konnte nur als Tabubruch erlebt werden, wie der Fall Bucholtz zeigt. Wilhelm Heinse war der einzige, der das Sexualitätstabu brechen durfte, ohne daß Jacobi mit ihm brach.169 Wie wenig Heinse sich an das Tabu hielt, zeigen nicht nur sein Ardinghello oder seine Briefe aus Italien, in denen die Erotik, ja Wollüstigkeit der Gemälde unverhohlen und detailliert beschrieben wurde.170 Auch im persönlichen

165

AB II, 175. – Vgl. auch den Brief an M. Claudius vom 12.4.1794 (AB II, 163). Sauder: Empfindsamkeit – sublimierte Sexualität, S. 175. – Vgl. hierzu auch Begemann, der Hufelands Ausführungen zur »Lebenskraft« ebenfalls als Sublimierungstheorie deutet (Begemann: Furcht und Angst, S. 50). 167 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit – sublimierte Sexualität, S. 169 f. – Zur »Interdependenz [von] Schriftlichkeit und Erotik« vgl. auch Koschorke: Verschriftlichung der Liebe, S. 257, 259 u. ö. 168 Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 284. Müller zitiert bei dieser Gelegenheit D. H. Lawrence, der – die Zweideutigkeit über die Eindeutigkeit stellend – seine Leseerfahrung folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Boccacio at his hottest seems to me less pornographical than Pamela or Clarissa Harlowe«. 169 Vgl. hierzu die Thematisierung des Widerspruchs zwischen dem Gottsucher Jacobi und dem »Erdgeist« Heinse in den autobiographischen Aufzeichnungen Georg Arnold Jacobis: »Wohl mag es räthselhaft erscheinen; wie ein so lange fortgesetztes stetes Verkehren in gutem Verträgniß, ja mit gegenseitigem Wohlgefallen zwischen zwey so verschiedenen und so verschiedenen Strebungen folgenden Geistern Statt finden und ungestört bleiben konnte, wie desjenigen der sich in dem Woldemar aussprach und jenes andern der den Ardinghello schuf.« (Bl. 28 f.) Vgl. auch Kluckhohn: Auffassung der Liebe, S. 226. – Vgl. aber auch die davon abweichende Darstellung in Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 5.–6.10.1786 (JBW I,5, 361). 170 Vgl. beispielsweise JBW I,3, 116, 141 u. 190. Eine diesbezügliche Steigerung stellen die – allerdings auch nicht zur Publikation vorgesehenen – Aufzeichnungen Heinses dar: vgl. Wilhelm 166

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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Bereich scheute er bisweilen vor deutlichen Stellungnahmen nicht zurück. Über Jacobis Bruder Johann Georg etwa heißt es in einem Brief Heinses an Jacobi: »Unter uns gesagt! fehlt auch gewiß unserm George, daß er noch keine Tochter der Eva recht durch geliebt hat, geschweige mehrere, (welches man heut zu Tage sehr wohl kann, wo die Lauren und Eleonoren und Reimarußen gar rar sind,) und es ist wirklich Schade, daß er seine Junggesellenschaft noch Centnerschwer mit sich herumträgt.«171 Man kann nicht umhin, sich an dieser Stelle die Entrüstung im Hause Jacobi über die Äußerung Heinses auszumalen, doch war man vermutlich von Heinse dergleichen schon gewohnt. Der künstlerische Wert seiner Dichtung wurde von Jacobi bereits recht früh als denkbar niedrig veranschlagt. In einem Brief an Goethe aus dem Jahre 1774 heißt es hierzu: »Lieber, der arme Rost [= Heinse] hat kein Herz; seine Seele ist in seinem Blute; sein Feuer ist blosse Glut der Sinne. Darum hat seine Laidion mir nie recht behagen wollen; ergötzt hat sie mich ausnehmend; aber nicht gerührt, nicht erweckt, mir nicht wohl gethan.«172 Drei Jahre später stellt Jacobi ihm in einem Brief an Wieland ein vergleichbar schlechtes Zeugnis aus: »Ich glaube aber nicht, daß er je ein Ganzes von wahrhafter, lebendiger Schönheit hervorbringen wird, weil sein Herz ächter, reiner Liebe unfähig ist.«173 »Ächte, reine Liebe« – das höchste Ziel des empHeinse: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlaß. Hg. v. Markus Bernauer u. a. 5 Bde. München 2003–2005. – Vgl. im übrigen auch Roland Krebs in seiner Rezension zu Martin Luserkes »Sturm und Drang«-Buch, S. 292: »Merkwürdigerweise muß man an dieser Stelle einen Autor vermissen, der wirklich einen neuen unerhörten Diskurs über die Leidenschaften und die Sexualität gehalten hat: Wilhelm Heinse. Heinse, den man nach seinem Zerwürfnis mit Wieland und seiner Kontaktaufnahme mit dem Jacobi-Kreis ruhig der Goethe-Gruppe zurechnen könnte, ist vielleicht der einzige konsequente Exponent der Haltung, die Luserke der ganzen Gruppe zuschreibt.« 171 Brief vom 8.12.1780 (JBW I,2, 231). 172 Brief vom 21.10.1774 (JBW I,1, 265). 173 Brief vom 29.10.1777 (JBW I,2, 67). – Als Anspielung auf dieses sinnliche Wesen Heinses ist auch folgende Passage aus dem Brief an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 zu deuten: »[…] was ich vor allen Dingen nicht vergeßen darf und sicher nicht vergeßen werde: die vortrefliche Familie des alten tiefverdammten Reimarus; unter andern mit einem 17 jährigen Mädchen mit Nahmen Hannchen begabt, an Gestalt im Geschmack der Milady Eleonore, aber unendlich reizender und schöner, und so voll Geist, o Lieber! so voll holder Würde, daß ich darüber – die Sinne, leider nicht, sondern abermals, o Weh! mein armes Herz verlor.« (JBW I,2, 205.) Dieser »Ausrutscher« Jacobis findet sich gewiß nicht zufällig in einem Brief an Heinse. Jacobi aber durchbricht das Muster der Ablehnung sinnlicher Reize nur, um es sogleich wiederherzustellen. – Auch der junge Thomas Wizenmann ist gegen niedere, sinnliche Reize nicht gefeit, wie sein Geständnis im Brief an Jacobi vom 19.2.1784 zeigt: »Aber daß nur mein Herz fester daran hienge, was ich erkenne! – Einige Küsse, die ich in Versuchung kam, einem Mädgen, die mit auf dem Postwagen fuhr, zu geben, und die mein Herz auf einige Stunden an sich gezogen hatte, trübten, verunreinigten meine Seele so, daß ich Mühe habe, mich selbst zu tragen. Getheilt zwischen den Gefühlen von Recht und Unrecht, und begünstigt von einer scherzhaften Laune, folgt’ ich der Lust, die mir der unmittelbare Anblik einflößte. ›Sollte? ja, sollte?‹ Das Schlimmste bei der Sache ist, daß ich erst jezt, durch den Dunst um mein Herz, mir und Ihnen bekennen kann, unedel gehandelt zu haben. – – « Für Wizenmann ist dieses Erlebnis nicht nur Anlaß bitterster Selbstvorwürfe, sondern auch weitergehender moralphi-

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findsamen Tugendkanons und der Jacobischen Philosophie – schloß eben die »thierischen Triebe« aus. Liebe und Triebe standen sich diametral gegenüber, sie bildeten die beiden Enden der empfindsamen Werteskala.174 Dem Niedrigsten zu folgen, sich seiner Sinnlichkeit auf dem untersten Niveau zu überlassen, war damit ein kaum mehr zu überbietender Akt der Verfehlung – und ebendiesen beging Georg Arnold Jacobi während seines Aufenthaltes in Celle. Ausgerechnet unter der Obhut des Religionshüters, Konsistorialrat und Generalsuperintendent Johann Friedrich Jacobi, mußte man entdecken, »daß er [= George] sich mit einer Magd im Hause in einem hohen Grade gemein machte, und Plan mäßig dabey zu werk gegangen war.« Georg Arnold ergreift die Flucht, »ohne die Verweise darüber abzuwarten«. Man sucht ihn überall, aber vergebens. Ein Brief von Georg Arnold kündigt schließlich seine reuige Rückkehr an. »Ich erwarte die feige Memme, den eckelhaften Wurm nun jeden Augenblick«, heißt es in Jacobis Brief an die Fürstin Gallitzin vom 13. Januar 1786, der »Georgens schlimme Aufführung« zum Gegenstand hat. In jenem Brief wird auch bereits mitgeteilt, was mit »George« geschehen soll: »Nach reifer Ueberlegung u gepflogenem Rath habe ich beschloßen, ihn als frey Corporal auf 2 Jahre nach Wesel unter das Gaudische Regiment zu thun. Mit einem solchen Sinn- u Gedankenlosen Menschen – Heuchler und Lügner ohne Maaß – einer trägen Fleischmaße ohne Nerven, weiß ich fürs erste nichts beßeres anzufangen.«175 Der schon angesichts früherer Vergehen von Georg Arnold erwogene Plan, »ihn einer gewißen unveränderlichen mechanischen Zucht zu unterwerfen«, wozu die »militärische Form«176 als die angemessenste erschien, sollte nun endgültig umgesetzt werden.177

losophischer und -erzieherischer Reflexionen: »Ich werde durch dergleichen Eräugnisse immer mehr überführt, daß ich sinnliche Mittel äusserst bedarf, um dem Sinnlichen zu widerstehen. Oft schon habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich nur in dem Grade einförmig, edel und gut mich fühlte, in dem ich, betend auf den Knieen, meine Seele zu Gott erhub, und meinen Zwek und meine Mittel gewisser Maassen sinnlich erneuerte. – O, daß der Anstalten, der sinnlichen Mittel mehrere wären! und o, daß eine Gesellschaft wäre, die jenes himmlische Feuer im Umlauf erhielte – – wie würde ich über Zweifel, Begirden, heldenmüthiger siegen!« (JBW I,3, 291 f.) 174 Vgl. hierzu auch die Feststellung von Albrecht Koschorke: »Ein immenses Schriftum entsteht [vornehmlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; C.G.], das den Begriff der Liebe mit großem Eifer von dem der Leidenschaft absondert und reinigt, an die Seite von Tugend und Beständigkeit rückt und damit sozial integrierbar macht.« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 21.) 175 Brief an A. von Gallitzin vom 13.1.1786 (JBW I,5, 18). 176 Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 29.5.1783 (JBW I,3, 154). 177 Vgl. zum Vorbildcharakter militärischer Ordnung auch die Theorie der Sozialdisziplinierung von Gerhard Oestreich. Vgl. hierzu Breuer: Sozialdisziplinierung, bes. S. 54 f. – Paul Münch hat zudem die Rolle der militärischen Disziplin für die Einübung bürgerlicher Tugenden herausgestellt: »Dabei kommt der enormen Ausstrahlung der militärischen Ordnung eine erhebliche Bedeutung für die Konstitution der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu, angefangen von Emsers Xenophon-Rezeption, die in der rechten Schlachtordnung ein Beispiel der guten Haushaltsordnung

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

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Bis auf weiteres aber »sitzt er in heimlicher Verwahrung bey Schenk, u soll nicht eher aus dem Gefängniß, bis ich nach Pempelfort ziehe«.178 Die Heftigkeit der Reaktion Jacobis liegt zum ersten ganz auf der Linie seines bisherigen Umgangs mit seinem Sohn Georg Arnold. Zum zweiten stellt sie sich als notwendige Konsequenz des Sexualitätstabus von Aufklärung und Empfindsamkeit dar. Eine weitere Erklärung scheint überflüßig. Doch bleibt das Faktum bemerkenswert, daß Friedrich Heinrich Jacobi sich in seiner Jugend desselben Vergehens schuldig gemacht hatte, wie aus den über seinen Buchhändler Marc Michel Rey abgewikkelten Alimentezahlungen an Anna Katharina Müller, eine ehemalige Magd im Hause Jacobi, hervorgeht.179 Letztere bezeugen auch, daß Jacobi in dieser Angelegenheit möglicherweise sogar weiter gegangen ist, als sein Sohn es sich erlaubt hatte. Die Wiedererinnerung an den verdrängten sexuellen Fehltritt mag somit die Heftigkeit der Reaktion Jacobis mitbedingt haben.180 Warum »George« dann am Ende die militärische Ausbildung, die im übrigen im Gegensatz zu seinen Gewissensüberzeugungen stand,181 doch erspart blieb, geht aus den Briefen nicht hervor. Hamann könnte diese Entscheidung aber immerhin mit beeinflußt haben. Jacobi hatte ihm am selben Tag wie der Fürstin Gallitzin geschrieben und in vergleichbar drastischen Worten die Verfehlung seines Sohnes und die geplante militärische Zukunft als ultima ratio der Disziplinierung mitgeteilt. Hamanns Rat in dieser Sache war ihm offenbar äußerst wichtig.182 Dieser aber reagiert unerwartet milde und verständnisvoll: »Alles was Sie mir vom Character des Georg mittheilen vermehrt meine gute Meinung und überführt mich, daß alles auf ein Misverständnis hinaus läuft. Halten Sie mir den Einfall eines pommerschen Pfarrers zu gut, den Kant sehr mimisch zu erzälen weiß. Unsre Uebereilung aus jungen Leuten Engel zu machen, vermehrt die Reimendung mit dem fatalen Buchstaben B. Kinder müßen sich selbst erziehen, und durch eigene Erfahrung klug werden. Laßt das Unkraut wachsen, sagt das gestrige Evangelium. Sehen Sie ihm einige Wochen oder Monathe mit der äußersten Gleichgiltigkeit zu, und überlaßen Sie ihm seinem eigenen Geschmack.«183 sieht […], bis hin zu Weißes ›Kinderfreund‹, wo das militärische Vorbild eines ordentlich exerzierenden Heeres fast zur Ordnungs-›Schule der Nation‹ gerät« (Paul Münch [Hg.]: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«. München 1984, S. 38). 178 Brief an A. von Gallitzin vom 7.3.1786 (JBW I,5, 99). – Mit dem Umzug nach Pempelfort ist der alljährliche Wechsel vom Stadt- in das Landhaus gemeint. 179 Vgl. JBW I,1, 30, 41, 73 u. 87. – Vgl. auch JBW II,1, 16, 51 f. u. 89. 180 Vgl. hierzu auch Begemann: Furcht und Angst, S. 235. 181 Vgl. in den Briefen an A. von Gallitzin und J. G. Hamann vom 13.1.1786 (JBW I,5, 17 u. 18). 182 Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 10.2.1786 (JBW I,5, 56 f.). 183 Brief von J. G. Hamann vom 4.–6.2.1786 (JBW I,5, 53).

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III. Begehren

Als Jacobi auf diesen Ratschlag zunächst nicht reagiert, wiederholt Hamann seine Sicht der Dinge mit Nachdruck: »Ihre politische Proceduren mit meinem Namensverwandten Georg gefällt mir nicht recht. Qui cito dat, bis dat – auch Vergebung. Sey’n Sie kein Nachrichter; sondern Vater und barmherzig. Die Sonne wirkt mehr auf den Mantel eines Irrenden als der wütende Nordwind. Aendern Sie Ihr ganzes Verfahren, wenn Sie den jungen Menschen ändern wollen. Darin besteht mein punischer Rath, den ich schon gegeben habe.«184 Hamanns Erziehungsmaximen weichen somit diametral von den Düsseldorf-Münsteranischen Leitlinien ab: Der strengen Kontrolle und Unterwerfung setzt er Freiheit, ja – in einem gewissen Rahmen – Laissez-faire, und Vergebung entgegen, wobei er sich als Philosoph der »Schrift« auf das Evangelium selber beruft. Dem Christen Hamann war offenbar ein anderer Umgang mit moralischen Verfehlungen möglich als den nach Vervollkommnung schon im Diesseits strebenden Pietisten (die Gallitzin mit ihrem »catholische[n] Pietismus«) oder Empfindsamen (Jacobi). Dem Rat Hamanns zu folgen, hätte nun eine Infragestellung der gesamten Erziehung, die Jacobi seinem Sohn Georg Arnold bis zu diesem Zeitpunkt hatte angedeihen lassen, bedeutet – was Hamann selbst ja auch explizit formuliert. Zu einer solchen Kehrtwendung aber war Jacobi noch nicht in der Lage. Er geht einer Antwort zunächst aus dem Wege und vertröstet schließlich Hamann, der abermals gedrängt hatte: »Von meinem verlohrnen Sohne heute kein Wort; aber nächstens.«185 Doch Hamann läßt sich in dieser Sache nicht hinhalten; er insistiert auf Mitteilung und Versöhnung,186 so daß Jacobi sich schließlich gezwungen sieht, ausdrücklich Stellung zu nehmen: »Sie wiederholen in allen Ihren Briefen, ich solle meinem Georg verzeihen. Lieber, ich verzeihe ihm nur zu sehr, weil ich ihn v Grund aus kenne. Kennten Sie ihn nur einiger Maaßen, es hätte Ihnen nicht in die Gedanken kommen können, daß ich mit ihm verfahren sollte, wie Sie mir rathen. Wenn noch etwas auf ihn würken kann, so ist es seine gegenwärtige Lage. Sein Arrest ist sein eigen Werk, u er fühlt daß ich Ursache habe mich zu schämen, ihn jemand sehen zu laßen; zu scheuen, mich u ihn der Frage auszusetzen, was ihn so schnell wieder nach Düßeldorff gebracht habe. Die Erwartung des Augenblicks, wo er mich zum ersten Mahl wieder sehen wird, erhält seine schlaffe Seele wenigstens in einiger Bewegung. Daß ich nicht aus Zorn oder Härte ihn von mir entfernt halte, weiß er. O, er kennt mich 184

Brief von J. G. Hamann vom 25.–26.2.1786 (JBW I,5, 74). – In diesem Brief zielt Hamann im weiteren auch indirekt auf eine Verhaltensänderung Jacobis gegenüber seinem Sohn. 185 Brief an J. G. Hamann vom 28.2.–3.3.1786 (JBW I,5, 85). 186 Vgl. etwa den Brief vom 4.–6.3.1786 (JBW I,5, 92).

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

219

so gut, als ein Mensch seiner Art mich nur zu kennen fähig ist! Künftigen Monat zieh ich nach Pempelfort; da will ich ihn aufnehmen. Ich bin nun mit der ganzen Begebenheit vollkommen zufrieden, u weiß es dem Knaben keinen geringen Dank, daß er von Zelle weg gelaufen ist. Den Knaben? O, Lieber, daß ich nicht irren möge, wenn ich es als einen Wink der Vorsehung zu neuen Hoffnungen ansehe; als einen beßern Rath von oben, darnach es gut gehen soll.«187 Der Rat Hamanns wird also ausgeschlagen; der Vorschlag der Fürstin Gallitzin hingegen »wegen George […] ist als der beste durchgegangen«.188 Leider ist dieser Vorschlag nicht überliefert. Man kann nur mutmaßen, daß er – im Gegensatz zu Hamanns Ratschlag – strenge Disziplinierungsmaßnahmen beinhaltete, worauf etwa die nachdrückliche Beibehaltung des Arrests, sogar über die Ostertage, hindeutet.189 Wenn man die nachfolgende Entwicklung der Ereignisse zugrundelegt, so scheint allerdings die Fürstin – dies im Gegensatz zu Jacobis Plänen militärischer Zucht – an der ursprünglich ins Auge gefaßten universitären Ausbildung festgehalten zu haben.190 Im April 1787 jedenfalls nimmt Georg Arnold, wie aus einem Brief Jacobis an Hamann ersichtlich, versehen mit Ratschlägen seines Vaters und reichlich ausgestattet mit Kontrollinstanzen vor Ort sein Studium in Göttingen auf: »Ich kann mich nicht darauf besinnen, ob ich Dir in meinem letzten Briefe schon gemeldet habe, daß ich in Gottes Nahmen meinen Georg habe nach Goettingen abreisen laßen. Heute ist die Nachricht v seiner glücklichen Ankunft eingelaufen. Meiners u der junge Lavater haben es über sich genommen, ihn dort auf die beste Weise einzurichten u über ihn zu wachen. Er selbst ist v Mißtrauen gegen sich auf das lebhafteste durchdrungen, u vollkommen überzeugt, daß die Worte des Salomo: Wer sich auf sein Herz verläßt der ist ein Narr, keinen Menschen näher als ihn angehen können. Das weitere muß ich nun abwarten.«191 Hatte in Münster unter der Obhut der »schönen Seele« Amalia von Gallitzins die Austreibung der Sinnlichkeit und die Negation des an die Sterblichkeit gemahnenden

187

Brief vom 14.3.1786 (JBW I,5, 106). – In diesen Zusammenhang einer ›Aufklärung‹ Hamanns über die Person Georg Arnolds gehört wohl auch die Schilderung seines Charakters und seiner Eigenheiten im Brief Heinrich Schenks an J. G. Hamann vom 11.7.1786 (vgl. Hamann 6, 461–463 sowie 473 im Brief Schenks vom 14.7.1786). 188 Brief an A. von Gallitzin vom 7.3.1786 (JBW I,5, 99). 189 Vgl. den Brief an J. G. Hamann vom 18.4.1786 (JBW I,5, 155). 190 Auch Hamann mag mit seinen auf Milde und Vergebung insistierenden Briefen und mit seiner im weiteren verfolgten Taktik, Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und seinem »Liebling Georg« (Brief vom 25.–26.2.1786; JBW I,5, 78) festzustellen, unterschwellig auf die weitere Verfahrensweise eingewirkt haben. – Vgl. aber auch bereits den im Brief an J. G. Hamann vom 23.1.1786 geschilderten Sinneswandel Schenks (JBW I,5, 32). 191 Brief an J. G. Hamann vom 30.4.–1.5.1787 (Hamann 7, 188).

220

III. Begehren

Körpers im Mittelpunkt der Erziehung gestanden, so rückten nun in Göttingen die bürgerlichen Tugenden ins Zentrum der pädagogischen Bemühungen.

3.4 Im Zeichen der bürgerlichen Tugenden: Die Studienzeit in Göttingen und Heidelberg Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit und Reinlichkeit sind, folgt man Paul Münch, die zentralen Elemente des »bürgerlichen« Tugendkanons. Dieser bildetete sich in der frühen Neuzeit im Rahmen der Lehre vom »ganzen Haus« (»Ökonomik«) aus, um in der »Sattelzeit«, jener Umbruchzeit zwischen 1750 und 1850 also, in der sich bürgerliche Gesellschaft und Moderne formierten, sein spezifisch »bürgerliches« Gepräge zu erhalten. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts kam den bürgerlichen Tugenden eine nahezu unhinterfragte Gültigkeit zu. Der bürgerliche Tugendkanon stand im Mittelpunkt der Erziehung Georg Arnold Jacobis. Ordnung und Reinlichkeit waren dabei jene Tugenden, die in dem Briefwechsel zwischen Vater und Sohn eine eher untergeordnete Rolle spielten. Ordnung war, wie bereits erwähnt, fester Bestandteil der »Aufführungs Listen« oder »Conduiten Listen«, die in Münster angefertigt und nach Düsseldorf zur Begutachtung übersandt wurden. Mehr als ein kurzer Kommentar hierzu von seiten Jacobis ist nicht überliefert. In der Göttinger Zeit ist die Tugend der Ordnung nicht mehr Gegenstand der mahnenden Briefe Jacobis. Bestenfalls findet sie implizit Erwähnung in Gestalt eines verlorengegangenen »Mantelsack[s]«.192 Möglicherweise war Ordnung zu einer vernachlässigbaren – im Sinne einer als selbstverständlich vorausgesetzten – Tugend geworden.193 Innerhalb des bürgerlichen Tugendkanons nimmt sie in der Tat die Rolle einer basalen Tugend ein, die zugleich Voraussetzung aller anderen ist. In diesem Sinne schreibt Susanna Helena (= Lene) Jacobi, sich auf das Zeugnis Lavaters berufend, an ihren Neffen Georg Arnold: »Ordnung ist der Weg zu allen Tugenden, das Mittel zur Glückseligkeit, der Eckstein zur Ruhe der Seele u. die wahre economie des Lebens.«194

192

Brief an A. von Gallitzin vom 30.4.–1.5.1787 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1,

S. 349). 193

Vgl. aber im Brief von Lene Jacobi an Georg Arnold vom 19.–22.7.1787: »Auch soll ich Dir noch sagen, daß er [= Jacobi] erfahren habe, daß Du sehr schluderich mit Deinen Sachen umgehest u. es oft höchst unordentlich in Deiner Stube aussehe, welches ihm, wie Du leicht denken kannst, sehr unangenehm zu hören war, u. er läßt Dich ernstlich ermahnen, Sorge zu tragen, daß in Zukunft kein solcher Tadel mehr auf Dich falle.« (Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 29.) 194 Brief vom 29.11.1787 (ebd., S. 30).

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

221

Von einer einzigen Ausnahme abgesehen ist auch die Tugend der Reinlichkeit kein Thema der Briefe Jacobis an seinen Sohn.195 Ausführlicher nimmt lediglich ein Brief, den Jacobi gemeinsam mit seiner Halbschwester Lene an Georg Arnold schreibt, auf die Reinlichkeit Bezug. In Anspielung auf Georgs Studium der Rechte heißt es in Lenes Briefteil: »Und wie steht’s dann bey Dir, mein lieber George, mit den Füßen, der Reinlichkeit u. den Grazien? Haben die Pandekten nicht auch in diesen Rechten Dich weiter gebracht?«196 Bereits in einem früheren Brief an Georg Arnold hatte »Mama Lehne« ihren Neffen nachdrücklich zur Reinlichkeit ermahnt. Ausgehend von einem Vergleich mit Hamanns Sohn Johann Michael, der »bey seiner sehr dürftigen garderobe dennoch immer rein, sorgsam für seinen Körper war«, wird der unterdessen 19jährige Georg Arnold zur sofortigen und gründlichen Selbstinspektion nach folgendem Zeremoniell aufgefordert: »Dich in dem Augenblicke, worin Du dieses liesest, vor den Spiegel zu stellen u. […], nachdem Du Zähne, Gesicht, Hals u. Hände wie auch Wäsche u. den ganzen Anzug besehen habest, Dich umzuwenden u. desgleichen die Ordnung Deiner Stube in Augenschein zu nehmen u. den Zustand Deines Leinewandes und Deiner sonst so groß gelochten Strümpfe zu bedenken.«197 Die Tugend der Reinlichkeit fiel somit anscheinend nicht in den Zuständigkeitsbereich des Vaters, nicht in den des Mannes. Tatsächlich galt innerhalb des bürgerlichen Tugendkanons die Reinlichkeit als spezifisch weibliche Tugend: »Die Etablierung der Tugendnorm Reinlichkeit trug entscheidend zur Ausformung der ›Geschlechtscharaktere‹ bei, die seit 1750 das Denken und Handeln der Bürger zunehmend bestimmte.«198 Für Reinlichkeit zu sorgen und zur Reinlichkeit zu erziehen, fiel fortan in das Ressort der Frau: »Die Tugend der Reinlichkeit verband als Zentralnorm die dreifache Bestimmung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter und wurde dadurch zum Kennzeichen bürgerlich-häuslicher Tugenden überhaupt, als deren Bewahrerin und Repräsentantin die Frau in die Pflicht genommen wurde.«199 Schon Rousseau hatte in seinem Erziehungsroman Emile der geschlechtsspezifischen Erziehung das Wort geredet. Sophie, dem weiblichen Pendant Emiles, wird – unter Berufung auf die gänzlich anders geartete »Natur« der Frau – eine Erziehung zugedacht, die vollkommen auf den Mann und die häusliche Umgebung ausgerichtet ist. Von ihrer Mutter lernt Sophie dabei unter anderem, daß »die erste unter den Verpflichtungen der Frau die zur Sauberkeit [ist]; eine dem Geschlecht besonders eigene,

195

Die Ausnahme ist der Brief an G. A. Jacobi vom 2.8.1791, in welchem Jacobi seinem Sohn »Unreinlichkeit« vorwirft (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 196 Brief vom 16.12.1788 (Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 35). 197 Brief vom 29.11.1787 (ebd., S. 30). 198 Frey: Der reinliche Bürger, S. 172. 199 Ebd., S. 178.

222

III. Begehren

unerläßliche, von der Natur auferlegte Verpflichtung.«200 Nicht nur in diesem Punkt folgen die rousseaubegeisterten Brüder Jacobi seinem Vorbild. Im Jahre 1775 erscheint im vierten Band der von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Frauenzeitschrift Iris der von ihm selbst verfaßte Beitrag Von der Reinlichkeit. Hierin wird die Tugend der Reinlichkeit als zentraler Gegenstand der Töchtererziehung dargestellt. Wichtigste Aufgabe der Frau ist es demnach, für eine alles umfassende Reinlichkeit im Hause zu sorgen, welche zugleich einzige Garantin einer guten und dauerhaften Ehe sei. Wie stets bei der Durchsetzung der bürgerlichen Tugenden treten auch hier Moralisierung und Sakralisierung in den Dienst der auf Disziplinierung ausgerichteten Argumentation: Zum einen nämlich bestimmt sich der gesamte moralische Wert der Frau nach dem Grade der Einhaltung dieser Norm: Äußere Reinlichkeit und innere Reinheit fallen letztlich zusammen.201 Zum anderen qualifizierte erst die Tugend der Reinlichkeit »zu dem näheren Umgang mit den Göttern«.202 Diese Ausführungen zur Reinlichkeit als spezifisch weiblicher Tugend mögen verdeutlicht haben, warum als Konsequenz der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen die Tugend der Reinlichkeit zwischen Vater und Sohn nicht verhandelt wird. Die Erziehung zur Reinlichkeit und die damit verbundenen Ermahnungen fielen vielmehr in den Zuständigkeitsbereich der »Mama Lehne«. Dies gilt im übrigen auch für die Tugend der Ordnung, sofern sie sich auf die Ordnung des Hauses bezieht und in dieser Hinsicht von der Sauberkeit nicht strikt zu trennen ist.203 Ganz anders verhält es sich mit den stärker auf Außenwirkung zielenden, mit dem öffentlichen Bereich des bürgerlichen Lebens – und dies heißt: mit dem Leben des Mannes – verknüpften Tugenden »Fleiß« und »Sparsamkeit«. Auf sie hin waren die ermahnenden Briefe des Vaters gänzlich ausgerichtet. Insbesondere der Tugend des »Fleißes« kam eine bedeutende Rolle zu. Sie stand für das bürgerliche Leistungsprinzip und somit für das »Bürgerliche« schlechthin. Anders als im 19. Jahrhundert verband sich während der »formativen Phase des deutschen Bürgertums«,204 in die auch Jacobis Lebenszeit fällt, mit den bürgerlichen Tugenden ein revolutionäres Potential: Sie setzten sich in expliziter Frontstellung gegen die Lebensführung des höfischen 200

Rousseau: Emile, S. 792; vgl. ders.: Émile, S. 748: »Selon elle [= sa mère] entre les devoirs de la femme un des prémiers est la propreté: devoir spécial, indispensable, imposé par la nature«. 201 Vgl. hierzu Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 169 f. – Vgl. auch Alfons Labisch: »Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene« – Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin. In: Christoph Sachße und Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986, S. 265–285. 202 Iris 4 (1775), S. 133–142, hier S. 142. 203 Vgl. den oben bereits zitierten Brief von Lene Jacobi an Georg Arnold vom 29.11.1787 (Heyderhoff: Hausgeister von Pempelfort, S. 30) sowie den weiteren Beitrag von Johann Georg Jacobi in der Iris mit dem Titel Ueber die Ordnung (Iris 6 [1776], S. 327–334). – Vgl. auch Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 171–174. 204 Maurer: Biographie des Bürgers, Untertitel.

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

223

Adels durch und zielten auf Emanzipation des Bürgers, d. h. auf Freiheit und Gleichheit. Im Zuge dessen trat in der Aufklärungszeit der »Gerichtshof« der Vernunft an die Stelle einer Legitimation durch Tradition205 und das Leistungsprinzip an die Stelle von Geburt und Herkunft. Der Bürger definierte sich über Leistung. Jacobi hatte vor dem Hintergrund dieses bürgerlichen Selbstverständnisses schon sehr früh die Vorrechte des Adels öffentlich angegriffen, indem er ironisch die Mißstände karikierte: »Jedermann weiß, daß keine Art von Verdienst daselbst den Mangel der Ahnen ersetzen kann. Ihr möget immer einem Mann von sechszehn Ahnen noch so weit an Verstande und Empfindung überlegen seyn, die Natur mag ihm selbst eine so glückliche Anlage gegeben haben, daß er euren Vorzug empfindet und erkennet, demohngeachtet wird er euch immer als weit unter sich ansehen, weil ihr nicht, gleich ihm, mit der Geburth das Privilegium erhalten habt, auf Stelzen zu gehen.«206 An die Stelle der Herkunft treten hier Leistung, Tugend und Bildung, wobei letztere der ersteren, dem »Verdienst«, zugeordnet sind. Wenn man einem späteren Urteil des Grafen Stolberg folgt, so hat Jacobi dieses Leistungsethos selbst tatsächlich praktiziert.207 Von seinem Sohn Georg Arnold erwartete Jacobi ebenfalls absolute Leistungsbereitschaft. Ein Loblied auf die Arbeit findet sich bereits in Jacobis Brief vom 15. November 1782: »Gewöhne dich, keinen Augenblick mit nichts-thun hinzubringen; denn bey’m bloßen nicht-thun ist weder Erholung noch Freude, u es macht zehnmal müder als die Arbeit; jeder Eifer ist im Gegentheil mit Wollust verknüpft; u wer einmal fähig ist etwas zu thun u die natürliche Trägheit überwunden hat, deßen Eifer legt sich nie, u es ist kaum ein Zustand zu erdenken, der ihm dabey nicht erträglich würde. So viel Erfahrung hast du schon, daß du die Wahrheit hievon einsehen mußt, es komt nur darauf an, daß du dich unaufhörlich anfeuerst schnell zu überwinden u nie die Arme sinken läßt.«208

205

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 697, 768, 779. In: Ders.: Werke, Bd. II, S. 582, 632, 639. Vgl. auch Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1985, S. 16: » […] die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen.« 206 JBW II,1, 114. Vgl. das französische Original in JWA 4,1, 9. 207 Vgl. hierzu im Brief F. L. zu Stolbergs an seine Schwägerin Luise vom 4.11.1795: »Jacobi ist so eingezogen und fleißig als ich; das will viel sagen! Wir sehen uns daher nur bei Tisch und nach Tisch […]. Er ist einer der fleißigsten Männer die ich kenne.« (Stolberg: Briefe, S. 324.) – Vgl. auch die Beschreibung des Tagesablaufs auf Schloß Emkendorf in Jacobis Brief an C. K. W. von Dohm vom 28.12.1794 (Zoeppritz I, 179). 208 JBW I,3, 82.

224

III. Begehren

Schon in der Münsteraner Zeit wurde auf einen vollen Stundenplan, auf korrekt erledigte Hausarbeiten (vor allem Übersetzungen), die Anstrengung aller Kräfte209 und beständigen Fleiß210 großen Wert gelegt. Diese Tendenz setzt sich in Göttingen fort. Der von Professor Meiners eingerichtete Stundenplan wird von Jacobi gutgeheißen und um zusätzlichen Griechischunterricht ergänzt: »Die Zeit zu einer griechischen Stunde findest du gewiß, wenn du fleißig seyn willst. Die Stunde bey Heyne kann dich nicht sehr anstrengen, da du mit dem Horaz schon ziemlich bekannt bist. Daßelbe gilt v der Reichshistorie. Und die Stunde bey Lichtenberg, sehe ich beynah als eine Erholung. Die 3 Stunden des Morgens sind freylich vollkommen gewichtig. Aber du bist gesund u mußt deine Kräfte brauchen. – Fleiß, Fleiß, lieber Georg! Und noch einmahl, Fleiß.«211 Der Stellenwert dieser bürgerlichen Zentraltugend ist durch die Wiederholung und die imperative Form hinlänglich unterstrichen. Anders als in Münster war Georg Arnold – auch wenn Jacobi immer wieder für Kontrollinstanzen vor Ort sorgte – einer permanenten Aufsicht entzogen. Auf die Verinnerlichung der Normen mußte daher mit Vehemenz hingewirkt werden. Neben der für die bürgerliche Leistungsideologie so elementaren Tugend des Fleißes rückte in der Göttinger Studienzeit Georg Arnold Jacobis auch die »Cardinaltugend der Oekonomie«,212 die einzuhalten Jacobi selbst immense Probleme bereitete, ins Zentrum des Briefwechsels zwischen Vater und Sohn. Ein undatierter Brief Jacobis an Georg Arnold aus der Zeit vor Göttingen zeigt letzteren noch in völliger Abhängigkeit. »lieber George Ich habe über den Punkt des Taschengeldes folgendes beschloßen. Ich werde dir nichts bestimmtes u wöchentliches aussetzen, sondern dir für jedes Bedürfnis, was dazu erforderlich ist darreichen. In die Tasche werde ich dir zwey Reichsthaler geben, damit du nicht ohne Geld seyst, u bey irgend einem unvorhergesehenen Falle dich blos befindest. Ereignet sich ein solcher Fall, so kommst du sogleich u zeigst es mir an. Ich werde es als ein nicht geringes Vergehen betrachten, wenn du dieses versäumst. Du weißt, lieber George, wie wenig du dich auf dich selbst verlaßen kannst; wie unfähig du noch bist dir selbst Vorschriften zu geben, oder mit unbeweglicher Treue die v andern zu befolgen. Du müßtest also selbst mich für einen leichtsin209

Vgl. beispielsweise den Brief an G. A. Jacobi vom 18.3.1783 (JBW I,3, 133). Vgl. den Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 29.5.1783 (JBW I,3, 153). Vgl. auch den Brief von A. von Gallitzin vom 16.–17.2.1784 (JBW I,3, 289). 211 Brief vom 10.5.1787 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 212 Brief an J. G. Hamann vom 29.7.–5.8.1785 (JBW I,4, 144). 210

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

225

nigen u gewißenlosen Vater halten, wenn ich nicht äußerst sorgfältig wäre, dich vor dir selbst zu bewahren.«213 Die äußere Kontrolle wird – mit ausdrücklicher Rücksicht auf Georg Arnolds Charakter – so lange wie möglich aufrechterhalten. Als »George« für seine Göttinger Zeit größere Freiheiten einfordert, wird dem nur unter großen Bedenken und recht nachdrücklichen Ermahnungen entsprochen, denen gemäß das Verhalten nach den »Grundsätzen der Vernunft« ausgerichtet werden sollte: »In dein Verlangen dir quartaliter 25 Ldor einzugestehen ohne eine genaue u pünctliche Rechenschaft von ihrer Verwendung zu verlangen, bin ich sehr geneigt zu willigen. Von aller Rechenschaft darüber kann ich dich aber mit gutem Gewißen nicht frey sprechen, weil es gut ist daß du für dich selbst das Verhältniß deiner Ausgaben wißest. Klügere u besonnenere Menschen als du bist gerathen leicht in ein Labirint, wenn sie ihre Ausgaben nicht aufschreiben. Deine Bedürfniße nach Grundsätzen der Vernunft abzuwiegen, u der heraus gebrachten Proportion gemäß dich zu verhalten, habe ich Mühe dich fähig zu glauben. Dennoch will ich nicht daß es dir unmöglich werde meinen schwachen Glauben zu stärken, u mir die größte Freude die ich haben kann zu verschaffen, indem du mehr leistest als ich von dir erwartete. Sorge aber wohl daß du im Fall der Noth im Stande seyst dich zu rechtfertigen.«214 Aus der vorhergehenden Totalkontrolle plötzlich in die weitgehende Selbständigkeit entlassen, scheinen die »ökonomischen« Probleme bereits vorprogrammiert und lassen auch in der Tat nicht lange auf sich warten. Ein Brief Jacobis vom Juni 1788 thematisiert bereits eine Verschuldung Georg Arnolds: »Lieber George! Ich habe deinen Brief vom 9ten erhalten, und am folgenden Tage den an H Schenk vom 1sten gelesen. Angenehm konnte mir der Inhalt nicht seyn. Zu derselbigen Zeit da du mir deine gute Haushaltung rühmtest, u dich freywillig anheischig machtest, künftig mit weniger auszukommen, steckst du schon in Schulden, u warest leichtsinnig genug, sie noch zu vermehren. Du weist wie nachdrücklich du davor von mir und andern gewarnt gewarnt [sic] bist«.215 Die Reaktion Jacobis umfaßt zunächst einmal eine der üblichen Generalermahnungen. Zugleich wird aber auch ausführlich auf die prekär gewordene finanzielle Situa213 Undatierter (vermutlich September 1785 oder 1786) Brief (JBW I,4, 163). – Vgl. auch für die Zeit in Münster den Briefwechsel Jacobis mit dem Fechtmeister der Gallitzin, Anton Miquel (JBW I,3, 215–217). 214 Brief vom 17.6.1787 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 215 Brief vom 20.6.1788 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf).

226

III. Begehren

tion von Jacobi selbst und den damit einhergehenden notwendigen Einschränkungen hingewiesen. Dies mag dem erzieherischen Zweck gedient haben, Georg Arnold an eine übergeordnete Verpflichtung zu binden, der zu diesem Zeitpunkt angeblich alle Familienmitglieder unterworfen seien. Eine Woche später jedoch ist Jacobi – so scheint es – an einer detaillierten Aufdeckung der finanziellen Situation seines Sohnes sehr gelegen. Zunächst lobt er ihn in diesem Brief überschwenglich und bietet sich dann – insbesondere im Hinblick auf die Schuldensituation von »George« – als »Freund«, als »bidern Cameraden«, an. Hinter dem Rücken von Schenk, dem »alte[n] Brummbart«, der mit der Organisation des Studiums, mithin auch der finanziellen Abwickelung desselben, betraut war, soll sich Georg Arnold in dieser Sache vertrauensvoll an seinen Vater wenden – so das Szenarium, das Jacobi in seinem Brief malt. Der tatsächlich erfolgende, aber – wie anscheinend alle Briefe Georg Arnolds aus dieser Zeit – nicht überlieferte detaillierte Bericht (ein Schuldbekenntnis im doppelten Sinne des Wortes) führt zwar einerseits zu einer Begleichung der Schulden durch Jacobi, andererseits aber auch wieder zu nachdrücklichen Ermahnungen. Die Episode dient einmal mehr dazu, Georg Arnolds Gesamtcharakter in Frage zu stellen: »Daß ich die Geschichte deiner progreßiven Verwickelung in Schulden nicht habe lesen können, ohne mancherley Reflexionen über dich dabey zu machen, wirst du leicht begreifen, wenn du etwas nachdenken willst.«216 In welche Richtung hier zu denken ist, dies hatte Jacobi in früheren Briefen bereits deutlich gemacht. Die – auch nur mögliche – Verletzung der »Cardinaltugend der Oekonomie« war dort von Jacobi jeweils zum Anlaß genommen worden, seine moralphilosophischen Überzeugungen darzulegen: Um »Lust« und »Begierde« zu unterdrücken, reicht, so führt Jacobi in seinen Briefen aus, der »festeste Vorsatz« nicht aus. Vielmehr »[muß] das ganze System unserer Neigungen […] erst umgeschaffen werden«, damit »ein neuer Mittelpunkt entstehe«, der es ermöglicht, die »Neigungen unveränderlichen Gesetzen zu unterwerfen«.217 Erst damit ist der Weg frei zur »Glückseligkeit«, die einzig durch eine »beständige Erfüllung der Pflichten« zu erlangen sei. Diese Pflichterfüllung bedeute dabei jeweils eine »entschloßene Wahl« zwischen zwei die menschliche Natur beherrschenden Gesetzen, nämlich jenem, »welches uns Vollkommenheit gebietet«, und jenem anderen, »welches uns angenehmen Empfindungen nachzugehen heißt«.218 Hiermit ist der Rahmen gesteckt, der für die gesamte Studienzeit prägend bleiben sollte: eine auf Triebunterdrückung basierende ausschließliche Ausrichtung auf Fleiß 216

Brief vom 8.8.1788 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Brief vom 17.6.1787 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Vgl. hierzu den oben bereits zitierten Brief an J. A. H. Reimarus vom 23.10.1781 (JBW I,2, 357). 218 Brief vom 20.6.1788 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Derartige moralphilosophische Grundbestimmungen werden auch in Jacobis Roman Woldemar vorgetragen und erörtert (vgl. z. B. Jacobi: Woldemar [1794], S. 231; vgl. JWA 7,1, 445). 217

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

227

und Sparsamkeit, die gleichsam erst wahre Freiheit und Glückseligkeit verheißt – ein Topos der Aufklärungspädagogik, wie Christian Begemann hervorhebt.219 Ermahnungen zu größerer Ökonomie, Fleiß und der vollständigen Nutzung seiner Zeit begleiten Georg Arnold mithin auch auf dem Weg nach Heidelberg, wo er im Herbst des Jahres 1789 sein Studium fortsetzt.220 Die neue Umgebung sowie einige Aussicht auf eine Dozentenstelle für Mathematik und Physik221 lassen Georg Arnold jedoch schon im Frühjahr 1790 den Wunsch äußern, sein Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg abzubrechen und mit der Rückkehr nach Göttingen sich zugleich ganz der Astronomie zu widmen. Wie kaum anders zu erwarten, ist Jacobi wenig begeistert von dieser Idee,222 gewährt allerdings die Rückkehr nach Göttingen und nutzt den kurzen Zwischenaufenthalt Georg Arnolds in Düsseldorf, seinem Sohn bei Gelegenheit eines gemeinsamen Spaziergangs in die Karlstadt – einer seit 1787 zur Bebauung freigegebenen und nach dem Kurfürsten Karl Theodor benannten Stadterweiterung,223 die sich zur anschaulichen Demonstration von Ordnung und Fleiß angeboten haben dürfte – abermals eindringlich zuzureden. Der Tenor ist auch hier wieder bestimmt von dem Ideal, seine Zeit restlos zu nutzen und keine Art von Müßiggang und Nachlässigkeit jemals zuzulassen.224 An die auf dem Spaziergang verabredeten Gegenstände wird Georg Arnold in seinem letzten Studienjahr in Göttingen bei entsprechenden Anlässen erinnert.225 In den Briefen Jacobis an seinen Sohn aus jener Zeit begegnen wir auch jenem ›Präsentismus‹ wieder, der besonders im Briefwechsel zwischen Goethe und Jacobi – fünfzehn Jahre zuvor – eingeübt worden war. Nun allerdings dient er nicht der Simulation der Anwesenheit des Freundes, sondern untersteht einem Kontrollbegehren, das räumliche Distanzen zu überwinden trachtet. Entsprechend erscheint er auch nicht – wie vormals – in der Gestalt einer gelungenen Vergegenwärtigung, sondern

219

Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 326, Fn. 17. Vgl. die Briefe an G. A. Jacobi vom 4.11.1789 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf) und vom 20.12.1789 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 221 Vgl. den Brief an G. A. Jacobi vom 11.2.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 222 Vgl. den Brief an G. A. Jacobi vom 7.3.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 223 Vgl. Klaus Müller: Unter pfalz-neuburgischer und pfalz-bayerischer Herrschaft (1614–1806). In: Hugo Weidenhaupt (Hg.): Düsseldorf. Geschichte von den Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert. Bd. 2: Von der Residenzstadt zur Beamtenstadt (1614–1900). 2. Aufl. Düsseldorf 1990, S. 7–312, hier S. 59–61. 224 Vgl. den Brief an G. A. Jacobi vom 11.5.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 225 Vgl. den Brief an G. A. Jacobi vom 28.5.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 220

228

III. Begehren

in Gestalt einer Beschwörungsformel: »Rede daß ich dich sehe!«226 oder einer Handlungsanweisung: »[…] fahre fort mir fleißig zu schreiben – immer so darstellend wie möglich, damit ich mich in dein Leben hinein leben könne, u dir ein gleiches v. meiner wiederfahre.«227 Einige Wochen später, im Sommer 1790, sind die vermutlich unter dem Einfluß der Französischen Revolution stattfindenden Studentenunruhen für Jacobi ein erneuter Anlaß, seine üblichen Mahnungen zu erneuern: Er warnt »George« vor Müßiggang, tadelt seine Neigung, sich selbst zu verlieren, malt den Königsweg zur Freiheit durch Selbstbeherrschung und endet schließlich im Anschluß an die Darstellung der prekären Vermögensverhältnisse in Pempelfort mit den Worten: »Ich empfele dir also mehr als jemals die äußerste Oekonomie, u den strengsten Fleiß.«228

3.5 Arbeit und Erlösung Die auf diese Weise in den Dienst der bürgerlichen Zentraltugenden Arbeitsamkeit und Sparsamkeit gestellte Affektkontrolle und Triebunterdrückung verweist auf jene innerweltliche Askese, die Max Weber als Kern des modernen, bürgerlichen Berufsmenschen herausgestellt hat.229 Bei Weber ist sie ein konsequentes Produkt der durch bestimmte historische Formen des Protestantismus eingeleiteten Säkularisierung. An die Stelle der »sakramentalen Magie als Heilsweg«230 tritt im Calvinismus, deutlicher dann noch im Puritanismus, eine »zum System gesteigerte Werkheiligkeit«231 als Garant von Heilsgewißheit und Gnadenstand. Die Arbeit wird – wie das Tagebuch des Puritaners Benjamin Franklin belegt – auf diese Weise zum »Gottesdienst«,232 und da das Erarbeitete Gott gehört, ist die Produktivität notwendig mit der Sparsamkeit gepaart.233 Beide Tugenden bilden, so Weber, die Grundlage des 226

Brief an G. A. Jacobi vom 18.5.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Die Wendung stammt von Hamann. 227 Brief vom 15.6.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 228 Brief an G. A. Jacobi vom 27.8.1790 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Vgl. zu den Ausgaben Jacobis die von Heinrich Schenk verfaßte und unter dem Titel Eine Vermögensaufstellung des Philosophen Friedr. Heinr. Jacobi aus den Jahren 1788–1791 publizierte Liste. In: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins 23 (1910), S. 334– 342; S. 337 findet man auch Angaben zu den Kosten von Georg Arnold Jacobis Universitätsstudium. 229 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus. In: Ders.: Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Zur »Umgestaltung der Askese zu einer rein innerweltlichen« vgl. insbesondere ebd., S. 118. 230 Ebd., S. 94 f. 231 Ebd., S. 114. 232 Ebd., S. 168, Fn. 3. 233 Vgl. ebd., S. 189–192 u. ö.

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

229

modernen kapitalistischen Geistes, dem Zeitvergeudung als Untugend par excellence gilt.234 Hatte die Arbeit bereits in der gesamten jüdisch-christlichen Tradition – und zwar in striktem Gegensatz zur antiken Auffassung – einen, allerdings immer auf Gott bezogenen, positiven Wert, der innerhalb des Protestantismus nochmals eine Steigerung erfuhr, so wurde sie in dem, vornehmlich mit der Aufklärung verknüpften, Säkularisierungsgeschehen zunehmend zum Selbstzweck erhoben.235 Im Christentum – auch im protestantisch geprägten – war die Arbeit dem Menschen von Gott als Aufgabe gestellt zur Strafe für seine Verschuldung und blieb im religiösen Kontext, auch im Sinne einer Teilhabe am göttlichen Werk, letztlich auf Gott bezogen. Dagegen rückt die Arbeit innerhalb der modernen, bürgerlichen Welt an die Stelle der christlichen Soteriologie selbst: Nicht mehr Christus ist es, durch dessen Selbstopfer der Mensch erlöst wird, sondern der Mensch erlöst sich selbst durch die Arbeit, durch das »Opfer der Arbeitskraft«236. Im 19. Jahrhundert wird die Sakralisierung der Arbeit dann auf breiter Front betrieben: In der Frankfurter Nationalversammlung »heilig« gesprochen,237 ist sie sowohl in liberalen als auch in sozialistischen Theorien Grundprinzip einer innerweltlichen, mithin ins Säkulare transponierten Eschatologie, derzufolge sich die Menschheit (am Ende der Geschichte) durch ihre eigenen Hervorbringungen, durch Arbeit und Technik, selbst erlöst.238 Wenngleich nun die Sakralisierung der Arbeit erst im 19. Jahrhundert zum vollen Austrag gelangt, so werden doch in der Aufklärungszeit bereits die entscheidenden Weichen hierfür gestellt. Schon Ende des 18. Jahrhunderts gilt die Arbeit im Aufklärungsdiskurs nicht mehr als Mühsal, sondern als Lust. Sie wird zum Humanum

234

Vgl. ebd., S. 167 f. Vgl. hierzu und zum folgenden Werner Conze: Arbeit. In: Brunner / Conze / Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 154–215. Zur Steigerung des Wertes der Arbeit innerhalb des Protestantismus vgl. etwa Conzes Zitat des Reformators Wenzel Linck: »Denn im gebot der arbeyt seien alle andre gebott deß gesetzs gottes verfasset« (ebd., S. 164). – Einen differenzierenden Überblick bietet überdies auch Fritz Dross: Krankenhaus und lokale Politik 1770–1850. Das Beispiel Düsseldorf. Essen 2004 (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 67), S. 51–67 (= »Arbeit, Reichtum, Glückseligkeit«). 236 Rudolf Heinz: Ausführung und Verbesserung der pathognostischen Krankheitskriterien: Erkenntnisanstoß, Opposition, Opfer, Zerstörungsaneignung. In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 2 (1986), S. 27–31, hier S. 27. Vgl. auch ders.: Einsatz der Seinsfrage, S. 28. 237 Conze zit. aus den Stenographischen Berichten der Deutschen Nationalversammlung (1848) den liberaldemokratischen Abgeordneten Löwe: »Ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Tätigkeit … ist heute die höchste Ehre« und führt selbst kommentierend hierzu aus: »Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt, wenn Arbeit selbst zur modernen Religion, zum eigentlichen Sinn des Lebens überhaupt wurde« (Conze: Arbeit, S. 190). In ebendiesem Sinne spricht auch der Abgeordnete Schütz im Jahre 1849 von dem »heiligen Recht auf Arbeit«; die Arbeit gilt ihm als »das Höchste, das Heiligste im Staate« (ebd., S. 209). 238 Vgl. ebd., etwa S. 189, 193 u. 204. 235

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III. Begehren

schlechthin erklärt, durch das der Mensch seine Glückseligkeit findet. In der nationalökonomischen Literatur nimmt »die Arbeit eine bis dahin nicht gekannte zentrale Stellung« ein,239 und auch in der Aufklärungspädagogik wird ihr eine wesentliche Rolle zugesprochen.240 Letzteres findet man in den Briefen Jacobis an seinen Sohn Georg Arnold in repräsentativer Weise gespiegelt, wobei hervorzuheben bleibt, daß der Briefwechsel keine Anhaltspunkte enthält für eine noch im Transzendenten verankerte Begründung dieser bürgerlichen Zentraltugend.241 Sie ist hier bereits von rein diesseitiger Bedeutsamkeit. Wie nachhaltig sich auch in Jacobis Briefen an seinen Sohn mit dem Arbeitsethos Erlösungsmomente verknüpfen, lassen die wiederholten Versprechen von Glückseligkeit und wahrer Freiheit überdeutlich werden. Als Lohn für unablässige Arbeitsleistung winkt am Ende gar ein Zustand dauerhafter Vollkommenheit – notabene nicht erst im Jenseits: »Ich begreiffe nicht,« schreibt Jacobi am 7. März 1790 seinem Sohn, »wenn man, wie du, einen starken u gesunden Körper hat, daß man nicht sollte die feste Entschließung faßen können, einmahl 12 Monathe hintereinander Tag für Tag aus allen Kräften zu arbeiten, um aller Pfuscherey für auf immer los zu seyn.«242 Die Wirkungsmächtigkeit der Aufwertung, ja Heiligung, der Arbeit für die Formierung des (modernen) Bürgers aber läßt sich nicht zuletzt an der weiteren Entwicklung Georg Arnold Jacobis ablesen. Die eineinhalbjährige, gemeinsam mit Stolberg unternommene Italienreise wandelt den ungeratenen Sohn zunächst zum »Ritter Georg«, um schließlich die – ja schon erhoffte – Krone aller bürgerlich-empfindsamen Erziehung bereitzuhalten: Der Sohn wird dem Vater zum »Bruder« und »Freund«.243

239

Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 172 f. – Vgl. hierzu auch Kant: »Es ist von der größesten Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß.« (Zit. nach Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 63.) – Vgl. zum Thema »Erziehung zur Arbeit« auch Begemann, der im übrigen auch die von ihm neben der Arbeitsamkeit genannten bürgerlichen Zentraltugenden, nämlich Mäßigkeit und Geselligkeit, als auf das Arbeitsethos und die arbeitsteilige Gesellschaft letztlich bezogene Tugenden darstellt (Begemann: Furcht und Angst, S. 30–51). 241 Eine Ausnahme bilden hier allenfalls die oben zitierten Briefe der Fürstin Gallitzin und von Jacobi selbst, worin die im Himmel weilende Mutter (= Betty Jacobi) die Funktion einer quasi transzendenten Kontroll- und Rechtfertigungsinstanz erhält. Doch mag hierfür gelten, was Begemann für die Aufklärungspädagogik insgesamt festhält: »Auch hier beruft sich die Aufforderung zur Arbeit noch häufig auf eine religiöse Verpflichtung, erscheint aber insgesamt als ein säkulares Gebot, dem die religiöse Komponente mehr Nachdruck verleiht, ohne seine eigentliche Begründung zu sein.« (Begemann: Furcht und Angst, S. 31.) 242 Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 243 Vgl. hierzu die Briefe an G. A. Jacobi vom 2.8.1791, 17.8.1791, 29.9.1791, 9.–12.11.1791 und 7.–8.8.1792 (sämtlich: Handschriften: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Bereits den Brief an seinen Sohn vom 27.5.1788 unterzeichnet er mit »dein Vater u dein Freund Jacobi« (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf); im Brief vom 9.–12.11.1791 (Handschrift: Heinrich-HeineInstitut, Düsseldorf) spricht er Georg Arnold erstmals mit »Bruder Georg« an. 240

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

231

Nachdem er sich so die inneren Bürgerrechte erworben hat, steht einer bürgerlichen Musterkarriere nichts mehr im Wege: Durch Goethes Mithilfe schon bald mit dem Titel eines Regierungsrathes versehen, wird Georg Arnold Jacobi schließlich hoher Verwaltungsbeamter im Herzogtum, später im Großherzogtum Berg.244

3.6 Das säkulare Heil des Bürgertums oder Die Tugend und das Opfer Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi hat gezeigt, wie die im Tugendideal der »schönen Seele« begründete Reinigung des Begehrens pädagogisch eingefordert und umgesetzt wird. Auf dem opferreichen Wege zur – nunmehr intramundan zu realisierenden – Erlösung muß all das weggeschafft werden, was an die Sterblichkeit gemahnt: Körper und Sinnlichkeit. Zum Zwecke dieses Vollkommenheitsstrebens und unter Indienstnahme nicht zuletzt auch religiöser Disziplinierungstechniken werden »appetitive Begehrungen«245 (Hunger, Durst, Wollust) in strikte Schranken gewiesen oder gänzlich unterdrückt. Das, was sterblich macht, ist zugleich der Inbegriff von Schuld. Tilgung der Sterblichkeit und Tilgung der Schuld fallen demnach zusammen. Bei aller traditionell-christlichen Verankerung dieser Topoi läßt der Briefwechsel Jacobis doch offenkundig werden, daß die bisher nur in insularen Räumen der Gesellschaft, wie etwa Mystik oder Mönchtum, praktizierte Weltenthebung und Askese nun zur allgemeinen, bürgerlich-humanitären Forderung erhoben wird. Wurde christlich die Sündhaftigkeit des Menschen als göttliche Verfügung und konstitutiv für Menschsein hingenommen,246 so soll sie – empfindsam-bürgerlich transformiert – noch im Diesseits überwunden werden: Unsterblichkeit noch in dieser Welt – so könnte man paradox formulieren. Der »bürgerliche Wertehimmel«247 weist dabei den opferreichen Weg ins Paradies über Vervollkommnung und Arbeit. Das autonome, restlos freie Ich, das als wirkungsmächtiges Phantasma in den Prozessen der Disziplinierung – insbesondere durch Verschriftlichung – als solches erst hervorgebracht wird,248 läßt sich nur in Form einer zweifachen Selbstaufgabe realisieren: durch die Verschmelzung mit dem Anderen in der Freundschaft und durch die Vernichtung alles »selbstischen«, letztlich der Heteronomität der Materie geschuldeten, Begehrens.

244

Vgl. Jörg Engelbrecht: Führungsschichten in der Spätphase des Herzogtums und den Anfängen des Großherzogtums Berg. In: Düsseldorfer Jahrbuch 64 (1993), S. 57–73, hier S. 70 f. 245 Böhme: Gefühl, S. 542. 246 Vgl. hierzu auch Heinz-Dieter Kittsteiner: Von der Gnade zur Tugend. Über eine Veränderung in der Darstellung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Norbert W. Bolz u. Wolfgang Hübener (Hg.): Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes. Würzburg 1983, S. 135–148, hier S. 146 f. 247 Hettling / Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. 248 Vgl. hierzu oben das Kapitel I.3.3.1.

232

III. Begehren

Die Erziehung Georg Arnold Jacobis ist eine Anleitung zu solchem Selbstopfer,249 wie die Briefe mit bisweilen bedrückender Offenheit und martialischem Gestus demonstrieren: »Lieber George, willst du nicht deinem Freunde u Vater zu Liebe, der dir immer mit so treuem Flehen nachgegangen ist, noch einmahl ganz von Frischem einen Angriff auf dich wagen; einen Angriff, als hättest du noch nie einen gewagt, als wär er der erste? Willst du es thun, so nim dir fest vor, nur einmahl auf vierzehn Tage, allenfals nur auf 8 Tage, nichts zu thun der angenehmen, nichts zu laßen der unange[neh]men Empfindung wegen, sondern einmahl einzig u allein nach Begriffen des guten u des anständigen zu handeln. Nim dir zur Uebung vor, einmahl gefällig blos gegen andre, u ungefällig gegen dich selbst zu seyn. Melde mir dann wie es dir dabey ergangen ist, u ob du dich wohl fülen wirst, noch einmahl ein solches Stück zu wagen. Sieh Lieber, das Behagen, die Fröhlichkeit u Freyheit, die mit einem nach Begriffen des Guten, Anständigen u Schönen eingerichteten Leben verknüpft sind, die Wonne der Selbstbeherschung ist so groß, daß wer einmahl davon gekostet hat, kaum mehr davon ablaßen kann.«250 Möglicherweise kann das christliche Motiv der (Selbst-)Opferung des Gottessohnes, die Voraussetzung für das Heilsgeschehen ist, als langfristige mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung zu dieser bürgerlich-säkularen Variante des Selbstopfers (des Kindes) gelten. Der Übergang aber vom konkreten Opfer zur Erziehung scheint schon einen Vorläufer zu haben in der antiken Ablösung der Kinderopfer durch die Artemiskulte, auf deren Basis sich ein humanistisches Konzept der Mädchenbildung entwickelte. Sie erscheint geradezu als eine Handlungsanweisung für die Moderne: einer Moderne nämlich, in der mit den Normen zugleich auch das Moment der Gewalt internalisiert wird.251 In der unheilvollen Dialektik menschlichen Freiheitsbegehrens aber mag es wohl letztlich beschlossen liegen, daß Jacobi zwar den Terror von Absolutismus und Ver-

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Zum Opfer des Kindes in der Erziehung vgl. auch Wimmer: Erziehung und Leidenschaft, S. 96. Wimmer zitiert hier den Sophisten Dionysodoros: »Und das sind mir doch vortreffliche Freunde und Liebhaber, welche so über alles darauf ausgehen, daß ihr Liebling untergehe.« (Platon: Euthydemos. In: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 2001 [1977], Bd. 2, S. 109–219, hier S. 147 [283 d].) – Vgl. allgemein auch Guttandin / Kamper: Selbstkontrolle. 250 Brief an G. A. Jacobi vom 2.8.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Die von Engelbrecht hervorgehobene Anpassungsfähigkeit Georg Arnold Jacobis, die ihn im Verlaufe seiner Karriere unterschiedlichsten politischen Systemen und Dienstherrn nützlich sein läßt, ist vermutlich nicht zuletzt ein Effekt der durch diese Erziehung gelungenen Selbstpreisgabe. 251 Vgl. Dieter Hoof: Opfer – Engel – Menschenkind. Studien zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit. Bochum 1999 sowie Begemann: Furcht und Angst, S. 241–243.

3. Die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi als Opfervorgang

233

nunft schonungslos aufdeckt, zugleich aber den Terror einer normierenden Erziehung selbst praktiziert. Christian Begemann hat diese »Grenzen der Aufklärung« als allgemeines Kennzeichen der bürgerlichen Pädagogik identifiziert.252 Jacobi verkörpert damit die Widersprüche der bürgerlichen Praxis selbst, in der Freiheit nur um den Preis von Opfer und Unterdrückung zu erlangen ist.253 In seinem Roman Woldemar formuliert er die entsprechenden moralphilosophischen Grundsätze: »Es gehört also zur Natur des Menschen, und ist sein eigentlicher Instinkt die gemeinen Triebe, einem ungemeinen höheren Triebe unterzuordnen; oft, was schmerzhaft ist zu wählen, freywillig dem Vergnügen zu entsagen, Begierden und Leidenschaften zu unterdrücken, Freyheit und Leben aufzuopfern.«254

252

Ebd., S. 168–185. Vgl. hierzu Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 1991, S. 285: »Die ›Aufklärung‹, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.« Vgl. auch Ulrich Johannes Schneider: Foucault und die Aufklärung. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 23 (1999), S. 13–25, bes. S. 21. 254 Jacobi: Woldemar [1794], S. 231; vgl. JWA 7,1, 445. 253

IV. LEIB

1. Leib / Körper im Briefwechsel Jacobis 1.1 Die ambivalente Rolle des Körpers Als Medium des empfindsamen Gefühlsausdrucks ist der Körper im Briefwechsel Jacobis unverzichtbar und omnipräsent. Durch Berührungen und Umarmungen, Küsse und Tränen werden die Empfindungen erst mitteilbar, kommunikabel; zugleich findet der Zusammenfluß der gleichgestimmten empfindsamen Seelen in diesen körperlichen Gesten ihren symbolischen Ausdruck. In jenem Brief an den Grafen Chotek vom 16. Juni 1771, der den »sentimentalen Congreß« auf der Festung Ehrenbreitstein zum Gegenstand hat und dessen exemplarischer Charakter für die Empfindsamkeit bereits herausgestellt wurde, sind die Spuren dieser körperlichen Expressivität besonders deutlich zu lesen.1 Schon die Beschreibung der Reise der Brüder Jacobi nach Ehrenbreitstein enthält ein vollständiges Tableau aller körperlichen Gesten, derer sich die Empfindsamkeit vornehmlich bedient. Den Anfang bilden gegenseitige Umarmungen; Berührungen, Tränen und Küsse stellen schließlich – kurz vor dem Ziel der Reise – den Gipfel empfindsamen Gefühlsausdrucks dar: Als »nunmehr unsere Reise so nahe vollendet war, ergriff ich die Hand meines Bruders […]; er nahm die meinige, und blickte voll zärtlicher Rührung mich an; die selige Thräne der ruhigen Empfindung stieg in Unser beyder Augen, und wir segneten die Gegend mit dem heiligen Kuße der Freündschaft«.2 Exemplarisch und zugleich klischeehaft zeigen hier die körperlichen Gesten an, wie im höchsten Maße empfindsam gestimmt die beiden prospektiven Teilnehmer des »Congreß[es]« sind. Doch finden sich auch subtilere, individualisierende Beschreibungen jener körperlichen Ausdrucksformen, wie die im selben Brief gegebene Darstellung des Wielandschen Charakters zeigt: »Wann Er starck gerührt ist, so geräth sein ganzer Cörper, doch auf eine fast unmerckliche Weise, in Bewegung; Seine Muskeln dehnen sich aus; seine Augen werden heller und glänzender; sein Mund öfnet sich etwas; und so bleibt er in einer Art von Erstarrung, bis er einige Worte ausgesprochen, oder seinem Freünde die 1

Vgl. JBW I,1, 109–114. – Vgl. aber auch den Brief an F. G. Klopstock vom 7.–8.7.1777 (JBW I,2, 63–65). 2 JBW I,1, 112. – Zum Freundschaftskuß vgl. jetzt Dieter Martin: Der Freundschaftskuß im 18. Jahrhundert. In: Manger / Pott: Rituale der Freundschaft, S. 51–67.

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IV. Leib

Hand gedrückt hat. Dieser Ausdruck in Wielands Person ist so fein, daß er von den meisten unbemerckt bleiben mus; ich aber bin mehr als einmahl davon bis auf das Mark erschüttert worden.«3 Offensichtlich – so gibt Jacobi deutlich zu erkennen – setzt diese subtile Beschreibung ein hohes Maß an Sensibilität und eine in selbstloser Weise auf den anderen gerichtete Aufmerksamkeit voraus, wobei die Effekte solch intensiver Wahrnehmungen wiederum heftige, körperlich repräsentierte Reaktionen hervorrufen können; letztere sind der eigentliche Maßstab der Empfindungsfähigkeit. Nach diesem Prinzip hatte ja auch die bereits dargestellte Schilderung der Ereignisse auf dem »sentimentalen Congreß« (Ehrenbreitstein) und insbesondere die Darstellung des Höhepunktes, der Begegnung zwischen Wieland und Sophie von La Roche, funktioniert: Jede körperliche Regung – Mimik, Bewegung, Stimme – der beiden Protagonisten wie auch die körperlich repräsentierbaren Reaktionen der Zuschauer wurden nachgezeichnet.4 Auch die ersten Briefe Jacobis an Goethe machen deutlich, in welch hohem Grade die Empfindsamkeit auf den Körper als Ausdrucksmedium, als Vehikel der Gefühle angewiesen ist. Von der Goetheschen Naturbegeisterung angesteckt, die bei den Düsseldorfer Rousseau-Anhängern auf fruchtbaren Boden fiel, schreibt Jacobi am 26. August 1774 an den Dichter: »Am Dienstag, bey Anbruch des Tages, zogen wir aus, und nahmen Besitz von den grünen Wiesen, und von den rieselnden Bächen, und von den schattichten Höhen; und es hüpfte in unserm Blut, und trotzte in unsern Gebeinen, und pochte auf unserm Busen, und schauerte in unsern Haaren, und jauchzte, klang und sang in jeder unserer Nerven Liebe, Lust und Macht zu leben.«5 Jede Faser des Körpers hat Anteil an dieser Gefühlsintensität, in jeder drückt sich die hohe Empfindungsfähigkeit aus. Auch die Schilderung der gemeinsamen Lektüreerlebnisse im Jacobischen Hause in Briefen an die Autoren kommt nicht ohne diese sehr weitreichende und eindringliche Körperreferenz aus. Der Eindruck, den Wielands Singspiel Alceste auf Jacobi gemacht hat, ist durch den Brief nicht mitteilbar, aber: »Mein Auge, meine Gesichtszüge, der Ton meiner Stimme, die ganze Geberde meines Körpers sprach ihn aus, als ich Ihr vortreffliches Drama gestern meiner kleinen Gesellschaft vorlas.«6 Knapp zwei Jahre später wird die gemeinsame Lektüre von Goethes Werther insbesondere für den Hausgenossen Wilhelm Heinse zu einer Zerreißprobe: »Der arme Rost 3 4 5 6

JBW I,1, 111. Vgl. hierzu oben das Kapitel II.1. JBW I,1, 248. Brief an C. M. Wieland vom 14.12.1772 (JBW I,1, 179).

1. Leib / Körper im Briefwechsel Jacobis

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[= Heinse] ward übermannt, gerieth außer sich, sein Angesicht glühte, seine Augen thaueten, seine Brust hob sich empor; Bewunderung, Entzücken erfüllte seine Seele«.7 Familie und Freundschaft, Natur und Schrift – dies sind die bereits vertrauten Anlässe heftiger, körperlich vermittelter Gefühlsaufwallungen, deren höchster Ausdruck der Tränenfluß ist. Der herausragenden Bedeutung der Tränen für die Empfindsamkeit ist in der Forschung bereits mit einem Sammelband Rechnung getragen worden, der 1983 unter dem schönen und sprechenden Titel Das weinende Saeculum erschien. Auch Lothar Müller und Albrecht Koschorke sind in ihren Studien der symbolischen Bedeutung empfindsamer Tränen nachgegangen. Müller beispielsweise hat darauf aufmerksam gemacht, daß Weinen nicht etwa schlechthin für sentimentale Weichlichkeit stehe, sondern vielmehr als Stärke, ja als Ausdruck des politisch Subversiven, zu deuten sei, nämlich als Symbol für die »Verflüssigung und Erosion von Standesgrenzen und vertikaler Autorität«.8 Zudem seien die Tränen Ausdruck des empfindsamen Begehrens nach Unmittelbarkeit, Aufrichtigkeit, Transparenz und Natürlichkeit: Die Tränen überbieten die verbale Sprache, indem sie eine Sprache darstellen, »die zugleich ›Natur‹ ist«.9 Im Briefwechsel Jacobis fand diese Sprache der Natur in der Darstellung der Stolbergschen Geburtstagsfeier ihren wohl vollkommensten Ausdruck.10 Doch handelt es sich bei dieser Natursprache gleichwohl um ein Produkt der Schriftlichkeit, und sie ist gerade in der Empfindsamkeit an dieses Medium unabdingbar gekoppelt: Tränen und Tinte sind, so Albrecht Koschorke, die »Flüssigkeiten, in denen Empfindsamkeit zirkuliert«.11 Wie die Schrift, so sind auch die Tränen jenes Medium, in welchem die empfindsamen Seelen zusammenfließen. Nicht zufällig mögen daher gerade die Lektüreerlebnisse immer wieder von heftigen Tränenflüssen begleitet worden sein.12 Diese mediale Funktion, die den Tränen wie der Schrift zukommt, läßt sich auch auf den Körper als Ganzes übertragen: Der Körper ist ausschließlich als Ausdruck

7

Brief an J. W. Goethe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 264). Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 270. 9 Ebd., S. 273. – Vgl. zum Moment der Transzendierung der Grenzen von Sprache und Schrift auch Lee: Displacing authority, S. 164: »In an era when tears were widely understood to be the appropriate expression of a heart moved beyond words, and so used in countless literary texts«. 10 Vgl. den bereits in Kap. II.3.2.3 zitierten Brief an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Zoeppritz I, 156 f.). 11 Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 618. – Vgl. zur Bedeutung der Tränen auch ders.: Verschriftlichung der Liebe, S. 261. 12 Vgl. etwa die Briefe von J. G. A. Forster vom 17.12.1778 (JBW I,2, 86), an T. Wizenmann vom 17.6.1784 (JBW I,3, 323) und an J. G. Herder vom 30.6.1784 (JBW I,3, 325). – Zum den Buchstabenstrom begleitenden Tränenfluß vgl. auch Goethes Die Leiden des jungen Werthers, wo sich nach gemeinsamer Lektüre des Ossian die Tränen von Lotte und Werther vereinigen (Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, S. 114). 8

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IV. Leib

der positiven, reinen – und das heißt letztlich: immateriellen – Gefühle zulässig. In letzter Konsequenz muß er symbolisch bleiben. Die nicht geweinte Träne ist ebenso Ausdruck der Empfindung wie die geweinte,13 und eine Umarmung darf niemals so weit gehen, daß der Körper selbst dominant wird. Vor Menschen, die solche Grenzen überschreiten, muß man sich hüten, wie Jacobi – gewiß mit deutlich witzig-ironischem Unterton – seine 14jährige Tochter Clara wissen läßt: »Aber der dicke Monsieur, den sie da bey sich vor Thüre haben, das ist ein curioser Mensch; wenn du den herein läßt, so kriegt er dich gleich und herzt und küßt und drückt dich, daß dir der Athem davon ausgeht. Da magst du dich nun in Acht nehmen.«14 Die bloß symbolische Bedeutung körperlicher Ausdrucksformen zeigt sich vor allem auch in mit erotischen Gesten besetzten heterosexuellen (Freundschafts-)Beziehungen. Die »Innigkeit des Kusses« beispielsweise bezieht sich, so Koschorke, »ohne sich bei der Körperhülle aufzuhalten, allein auf das unkörperliche Innere des Körpers der Frau.« Die Schriftkultur der Empfindsamen ermöglicht diese Dematerialisierung der Körpers: »Im skripturalen Fluß verlieren die Körper ihre materielle Undurchdringlichkeit.«15 Mithin zielen die körperlich vermittelten Gefühle gar nicht auf den Körper selbst, denn auch dort, wo von ihm die Rede ist, ist letztlich nur sein Gegenteil, das Nicht-Materielle, gemeint: »Die libidinösen Besetzungen kehren also nicht oder bloß scheinbar vom Substitut zum Substituierten, von der Schrift zum Körper zurück, sondern schlagen an der Weggabelung zwischen Rokoko und Empfindsamkeit eine Richtung ein, die im Namen der ›Herzensschrift‹ umso tiefer in die Phantasmatik der Substitutionen hineinführt.«16 13 Vgl. hierzu Jacobi im Brief an J. A. von Clermont vom 23.1.1784 bezüglich des Todes seines Lieblingssohnes Franz: »Aber so muß es denn auch geschehen, muß auch gut sein, daß ich die Menge der Thränen zeuge, wovon nur wenige aus meinen Augen kommen« (JBW I,3, 270). In diesem Falle mag die Wendung auch dem Adressaten geschuldet sein. – Vgl. auch die unfreiwillig(?) komisch wirkende Äußerung im Brief an J. G. Hamann vom 20.–21.11.1786: »[…] es rann mir durch Adern u Nerven daß ich hätte weinen können, wenn ich es nicht lieber gelaßen hätte.« (JBW I,5, 413.) – Vgl. hierzu auch aus der zeitgenössischen Literatur: »Eine Zähre, die dem Herzen entfließt, verursacht mehr Wollust, als ein ganzer Thränenguß.« ([Mercier-Wagner:] Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig 1776. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Peter Pfaff. Heidelberg 1967, S. 88 f.; zit. nach Gerhard Sauder: Der empfindsame Leser. In: Das weinende Saeculum, S. 9–23, hier S. 19.) 14 Undatierter (vermutlich aus dem Juli 1791) Brief (Handschrift: Universitätsbibliothek Greifswald, Nachlaß von der Goltz). 15 Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 619. Vgl. auch ders.: Verschriftlichung der Liebe, S. 262: »Wo früher die Körper verschmolzen, sind es nun sympathetische Ströme, die durch die auf neue Weise permeabel gewordenen Körperhüllen hindurch die Innerlichkeiten zusammenführen.« 16 Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 619; vgl. auch ders.: Körperströme und Schriftkultur, wo Koschorke insbesondere in den Kapiteln II und III die zahlreichen »Substitutionen« en détail ausführt. – Vgl. hierzu auch Friedrich Kittlers Analyse der Klopstock-Szene in Goe-

1. Leib / Körper im Briefwechsel Jacobis

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Diese Auflösung des Körpers in der Schriftkultur der Empfindsamkeit hatte, wie wir bereits gesehen haben,17 auch in dem höchsten Ideal der empfindsamen Tendenz ihren Niederschlag gefunden: im Konstrukt der »schönen Seele« als einer körperlosen Gestalt, deren Lebensziel letztlich darin besteht, das Verfallensein an den ›sterblichen Schandkörper‹ so weit wie möglich aufzuheben. Der Briefwechsel Jacobis spiegelt damit einen generellen Zug der Empfindsamkeit. Gerhard Sauder hatte bereits lakonisch festgestellt: »Die empfindsame Tendenz lebt nicht zuletzt von einer mehr oder weniger verdeckten Leibfeindlichkeit.«18 Daß die intensive und extensive Körpersprache der Empfindsamkeit keineswegs zur Freilegung eines »natürlichen Körper[s]« führt, sondern die »Forderung nach einem stärkeren Einsatz der Körpersprache eine besonders raffinierte ›List der Vernunft‹ darstellt, sich in einem neuen, verdeckten Rationalitätsschub des Körpers zu bemächtigen«,19 hat überdies Michael Bernsen anhand zentraler – theoretischer und literarischer – Texte der Empfindsamkeit überzeugend dargelegt. Es ist immer der vorweg schon zugerichtete, um seine sinnlichen Elemente verkürzte Körper, der von der Empfindsamkeit unter dem Titel der »Natürlichkeit« und als Garant für das »authentische Bei-sich-Sein des Subjekts«20 positiv ins Spiel gebracht wird. Insbesondere die Analyse von Rousseaus Nouvelle Heloise fördert dabei eine zunehmende Beseitigung des Körpers zutage, und der Roman endet – angesichts des untilgbaren körperlichen Begehrens – konsequent »mit einem Hymnus Julies auf die körperlose Existenz im Jenseits«.21 Die restlos freie, authentische Seele ist die vom Körper endgültig befreite Seele. In vergleichbarer Weise zeigt sich auch Sternes Tristram Shandy getragen von derselben »Sehnsucht eines endgültigen Ausstiegs aus dem Körper«.22 Es wurde bereits dargestellt,23 daß diese Negation des Körpers auch nachhaltigen Einfluß gewann im Hinblick auf die Erziehung des Sohnes Georg Arnold Jacobi. Das Tugendideal der »schönen Seele« legte die Austreibung alles Körperverhafteten aus dem Kinde als Erziehungsziel fest. Sinnlichkeit und Weichlichkeit, seinem Körper zu fröhnen und sich den Freuden des Gaumens hinzugeben – diesen Tendenzen mußte mit strenger Kontrolle und einer harten Körperdressur begegnet werden. Doch die thes Werther: »Die Augen von Lotte und Werther tun also beim Lesen dasselbe wie beim Wechselblick: sie sind über die Körperlichkeit der Buchstaben und über die Körperlichkeit des Anderen immer schon hinaus bei einer Seele, einem Sinn, einer Idee.« (Friedrich Kittler: Autorschaft und Liebe. In: Ders. [Hg.]: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn u. a. 1980, S. 142–173, hier S. 151.) 17 Vgl. oben das Kapitel II.3.4. 18 Sauder: Empfindsamkeit – Sublimierte Sexualität, S. 170. 19 Bernsen: Körpersprache, S. 86. 20 Ebd., S. 94. 21 Ebd., S. 99. 22 Ebd., S. 102. 23 Vgl. oben das Kapitel III.3.2.

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IV. Leib

Rechnung ging nicht auf; der Körper ließ sich nicht wegschaffen. Die Erziehung scheiterte, wie wir sahen, zunächst vollständig. Doch nicht nur das Kind vermochte die Fesseln des Körpers und der Sinnlichkeit nicht zu lösen. Auch Jacobi selbst sah sich ständig den Anfechtungen seines Körpers ausgesetzt. Im Februar 1791 klagt er entsprechend gegenüber seinem Sohn: »Wenn ich irgendwozu Lust hätte, liebster George, so wäre es zu einer Jammerrede über die Sklaverey des Menschen. Die politische drückt mich wenig; aber die physiologisch-moralische martert mich oft bis zum Verzweifeln. Was helfen alle Künste der empirischen, u alle Spontaneitäten u Causalitäten der reinen Vernunft, wenn der Cörper verstimmt ist, und das executive Vermögen unserer Constitution dem legislativen alle Dienste versagt? Ein heiliger Petrus müßte kommen, daß er einem die Hände auflegte; so würde man zugleich gesund u frey.«24

1.2 Gegen die Fleisches- und gegen die »Knochen-Lust« Dieses Begehren nach Autonomie und Freiheit, verstanden nicht zuletzt als Absolution vom Körper, und die Annahme eines weitgehenden Unvermögens der Vernunft, die Abhängigkeiten zu durchbrechen und aufzulösen, kann geradezu als die Grundtendenz des Jacobischen Lebens und Werkes angesehen werden. Jacobi hat sich durchgängig und in allen seinen Schriften als jemand definiert, der gegen die vermeintliche Geistfeindlichkeit seiner Zeit anschreibt und kämpft, wobei ihm der Geist als das Freie, sein Widerpart als das Unfreie, d. h. bloß Mechanische galt. Bereits in jenem, für die Selbsteinschätzung Jacobis zentralen Brief an Hamann vom 16. Juni 1783 erläutert er im Hinblick auf die Frühfassungen seiner Romane Allwill und Woldemar: »[…] ich wollte, was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat, so gut ich könnte, ans Licht bringen, u damit der Koth-Philosophie unserer Tage, die mir, von Kindesbeinen an ein Gräuel war – wenigstens meine Irreverenz bezeigen.«25 Ebenso begehrt Jacobi in seinem Spinoza-Buch gegen den aus der Spinozistischen Philosophie resultierenden Determinismus auf, der den Geist – nach seiner Lesart – zum bloßen Anhängsel der Materie macht, denn dann wäre, so äußert Jacobi im Gespräch mit Lessing, die »Unterredung die wir gegenwärtig miteinander haben […] nur ein Anliegen unserer Leiber«. Wenn demnach nicht hinlänglich zwischen Materie und Geist, zwischen vernunftmäßig Erklärbarem und prinzipiell Unerklärlichem ge-

24

Brief an G. A. Jacobi vom 14.2.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Die Aussage, daß ihn die politische »Sklaverey« wenig drücke, läßt sich übrigens nicht aufrechterhalten und muß daher wohl dem Adressaten bzw. einer möglichen Zensur zugeschrieben werden. 25 JBW I,3, 163.

1. Leib / Körper im Briefwechsel Jacobis

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schieden würde, bringe sich der Mensch um eine ihm gemäße, und zwar die allerhöchste Erkenntnisweise: »[…] wir verschließen das Auge der Seele, womit sie Gott und sich selbst ersiehet, um desto unzerstreuter mit den Augen nur des Leibes zu betrachten.«26 Solchem Materialismus versucht Jacobi mit seinem Spinoza-Buch, das, wie er dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring gesteht, »nicht allein gegen alle Fleisches-, sondern noch mehr gegen alle Knochen-Lust gerichtet« sei, entgegenzuarbeiten. Gegenüber dem Anatomen räumt Jacobi jedoch umgehend ein: »doch wohl eigentlich nur gegen die immaterielle«.27 Aber nicht nur seine Romane und philosophischen Werke folgen dieser Maßgabe. Auch die größte politische Umwälzung seiner Zeit, die Französische Revolution, wird in ebendiesem Lichte betrachtet, wie sein Brief an Zerleder nach London vom 13. Juni 1794 zeigt: »Wahrhaft große Männer konnte diese Revolution nicht wohl hervorbringen, da ihr ein zu niedriger Begriff der Menschheit und ihres Gegenstandes zum Grunde lag: in ganz Frankreich war der Geist Fleisch geworden, und es steht nicht viel besser im ganzen übrigen Europa.«28 Die Worte Mirabeaus von der »manière fixe d’être gouverné par la seule raison« identifiziert Jacobi als Kern der revolutionären Ideologie, die damit demselben Grundsatz folge wie der konsequente Rationalismus Spinozas. Was in der Französischen Revolution zum Tragen kommt, sei, so Jacobi, »l’erreur du siecle«.29 Diese Identität von revolutionärer Ideologie einerseits und Vernunftphilosophie der Aufklärung andererseits war für Jacobi offenkundig.30 Die grundlegenden Irrtümer der Menschheitsgeschichte, des Kirchenregiments wie des 26

Brief an Mendelssohn vom 4.11.1783 (JBW I,3, 231 u. 237; vgl. JWA 1,1, 21 u. 30). – Vgl. hierzu auch in Jacobis Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza: »Was kann er seyn, Euer Gott, als ein todtes Werkzeug, eine dumme Kraft zu Eurer Seele, um sie zum Dienste des Leibes nur williger und fähiger zu machen? Wahrlich, am Ende sind es nur die äusseren Bedürfnisse; Euer Fleisch, und eine kluge Oekonomie seiner Lüste und Begierden, was die Summa Eurer Philosophie, Eurer so hoch gepriesenen Weisheit des gesunden Menschenverstandes ausmacht.« (JWA 1,1, 314.) 27 Brief an S. T. Soemmerring vom 9.9.1785 (JBW I,4, 174). 28 AB II, 171. (Der Vorname von Zerleder [vgl. Druckfehlerverzeichnis für AB] ließ sich nicht ermitteln. Auch im Deutschen Biographischen Archiv [2., kumulierte u. erw. Ausgabe. Bd. 8. München 1998] ist er nicht nachgewiesen. Der Brief Jacobis an »Baron von Stein« vom 22.5.1794 [Handschrift: Stadtmuseum Düsseldorf] legt nahe, daß sich Zerleder in Begleitung des letzteren für kurze Zeit in Düsseldorf aufgehalten hat.) – Schon sehr früh ist übrigens bei Jacobi zu lesen: »[…] weil nun doch einmahl unser Jahrhundert la saison des amusemens, der große Carnaval des menschlichen Geschlechts seyn will und ist.« (Brief an J. W. L. Gleim vom 1.12.1772; JBW I,4, 325.) 29 Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 175). – Dort heißt es weiter: »Aujourd’hui dans tous les pays policés on entend presque également invoquer la seule raison, comme on invoquait autrefois la grace d’en haut«. 30 Vgl. hierzu das unveröffentlichte und undatierte (vermutlich Ende April bis Ende Mai 1790) Fragment eines Briefes an Georg Arnold Jacobi (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Es ist weiter unten im Kapitel VI.4.2.2, S. 466 zitiert. Dort finden sich auch weitere Hinweise zur vermeintlichen Nähe dieser Überzeugung zu einem Kerntopos der Gegenaufklärung.

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IV. Leib

Vernunftregiments, waren und sind, so Jacobi, auf den Fehler zurückzuführen, ganz auf den Buchstaben – ein Symbol für das bloß Mechanische – zu vertrauen und den Geist nicht zu achten: »So wurde das Augenscheinliche und Handgreifliche zum Princip, und die Meinung allgemein: das Leben verstände sich von selbst beim Körper, und ergäbe sich aus ihm als Folge.«31 Die Körpernegation Jacobis ist somit eine totale, die diejenige einer rational ausgerichteten Aufklärungsphilosophie noch überbietet. Gegen die Vernunft wurde nicht aufbegehrt im Namen des Leibes als eines »Anderen«. Vielmehr wurde im Kern der Vernunft selbst – verstanden als Organon eines formalen, (kausal-)mechanistischen Denkens – eine Körperverhaftetheit (»Knochen-Lust«) diagnostiziert, die es durch den Geist als das radikal »Andere« des Körpers zu ersetzen galt. Diese doppelte Frontstellung – gegen materialistische Positionen ebenso wie gegen ein mechanistisches Denken – hatte Matthias Claudius in einem Kommentar zum Spinoza-Buch auf eine nun wiederum recht körperlich-konkretistische Weise formuliert, indem er an Jacobi schrieb: »Ich glaube zwar, […] du wirst ihn [= Mendelssohn] nicht bekehren, aber es ist Deine Schuld nicht, denn Du hast sehr brav u wahr gesprochen, lieber Fritz, u mag er seinen Stockfischen fort reiten, er wird an dem wunden Popo schon inne werden daß Knochenlust nicht viel mehr sey als Fleischeslust.«32 Einzig als unabdingbares Medium des Geistes ist der Körper bei Jacobi allenfalls geduldet: »zum aufbehalten für uns selbst und Andre, zum haben und mittheilen, ein nothwendiges Geräth«.33 Doch gerade dieses »Geräth« versagte Jacobi anscheinend permanent den Dienst: In Jacobis Briefen imponiert der Körper vornehmlich als kranker Körper.

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Brief an C. K. W. von Dohm vom 4.5.1790 (AB II, 29). Vgl. zum Stellenwert des Geist-Buchstabe-Topos bei Jacobi die Hinweise bei Homann: Jacobis Philosophie, S. 117, Fn. 249. 32 Zit. im Brief an J. G. Hamann vom 17.6.1785 (JBW I,4, 121). 33 Brief an *** nach W. vom 27.12.1796 (Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. v. Friedrich Roth u. Friedrich Köppen. 6 Bde. Darmstadt 1968 [Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1812–25] [im folgenden WW nebst Band- und Seitenzahl], hier WW III, 565).

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell des Umgangs mit dem Körper im 18. Jahrhundert »In seinem ungemein gedankenreichen Werk ›Gesundheit und Krankheit in der Anschauung alter Zeiten‹ sagt Troels-Lund: ›Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Krankheiten ihre Geschichte haben, so daß jedes Zeitalter seine bestimmten Krankheiten hat, die so nicht früher aufgetreten sind und ganz so auch nicht wiederkehren werden.‹ Dies läßt sich offenbar nur so erklären, daß jedes Zeitalter sich seine Krankheiten macht, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen, sie sind gewissermaßen seine Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiete des Pathologischen.« 34

2.1 Jacobi als Kranker »Vie de malingre, vie insupportable, mort continuelle avec des momens des resurrection!« Dieser Ausspruch Voltaires hatte Jacobi so gut gefallen, daß er gleich mehrere seiner Briefe mit ihm beginnen läßt und für sich selbst umgehend ein größeres Recht zu solcher Klage reklamiert, als Voltaire, der »ewig Kranke«,35 für sich in Anspruch hätte nehmen dürfen.36 Tatsächlich liest sich der Briefwechsel Jacobis wie eine einzige Leidensgeschichte. Es findet sich kaum ein Brief, in dem Jacobi nicht von seinen Krankheiten berichtet. Regelmäßig teilt er seinen Briefpartnern mit, daß er seit Wochen oder gar Monaten keinen gesunden Tag hatte. Nicht selten muß er am Ende eines Jahres konstatieren, daß er eigentlich das ganze Jahr über krank gewesen sei. So schreibt er Ende September 1782 an Klopstock: »Ich bin seit dem Januar beständig

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Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. München 1965, S. 96. – Daß es weitaus gewagter ist, dergleichen für die Pest zu behaupten als für die Modekrankheit Hypochondrie, versteht sich. Vgl. vor diesem Hintergrund auch die Kritik von Michael Stolberg an den »Thesen eines radikalen Konstruktivismus« (Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2003, S. 215 ff.). Barbara Duden geht unter Rekurs auf Gaston Bachelard so weit, sogar die Materie selber als historisch anzusehen (Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987, S. 18 f.). Auch Koschorke teilt das Konzept einer »radikale[n] Historisierung« (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 35). Vgl. überdies Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a. M. 2001, S. 11–17 35 Vgl. hierzu Beate Appelt: »Les vapeurs«: Eine literarische Nosologie zwischen Klassik und Romantik. Kulturgeschichtliche Untersuchung, literarische Analyse und bibliographische Dokumentation. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 13, Französische Sprache und Literatur; Bd. 254), S. 95. 36 Briefe an J. F. Kleuker vom 14.1.1791 (Ratjen: Kleuker, S. 157) und an W. von Humboldt vom 31.1.1794 (AB II, 137).

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IV. Leib

krank gewesen, u, wie ich höre, sehr gefährlich.«37 Zu Beginn des Jahres 1794 heißt es in einem Brief an Kleuker: »Ich schrieb vorhin von meinem schlechten Befinden im Sommer. Den nun zu Ende gehenden Winter durch habe ich noch viel mehr gelitten.«38 Sein längeres Wohlbefinden nach seiner Flucht aus Düsseldorf könnte zunächst vermuten lassen, daß es sich um eine Unverträglichkeit des rheinischen Klimas handelt. Doch auch in Norddeutschland wendet sich das Blatt bald dramatisch und unwiderruflich. So schreibt er zwar im März 1795 an den Buchhändler und Verleger Göschen: »Meine Gesundheit hat sich beßer gehalten als ich gedacht hätte.«39 Doch schon drei Monate später, am 22. Juni 1795, muß er demselben mitteilen: »Sie dürfen es nicht zu lange verschieben; ich bin sehr schwächlich, u mir deucht ich fühle, das Lichtgen wird ausgehen, eh[e man] sichs versieht.«40 Ein Jahr darauf zieht er dann in einem Brief an Soemmerring die traurige Bilanz: »Ueberhaupt habe ich seit 13 Monaten keine recht gesunde Stunde gehabt. Nur 3 Monate, Juli, August und September, waren erträglich. Offenbar ist meine Constitution diesem Wind- und Wasserlande, ohne Quellen und Ströme nicht gewachsen, und ich dürfte nicht noch einen Winter darin verweilen.«41 Er überlebt aber noch neun weitere, bevor er im Jahre 1805 nach München übersiedelt. Wann immer Jacobi einmal zu berichten weiß, daß es ihm, wenn nicht gut, so doch erträglich, geht – es währt nicht lange.42 So schreibt er am 24. März 1792 an seinen Sohn Georg Arnold Jacobi, der sich auf seiner großen Italienreise befindet: »Zu allem diesem scheint Gott mir auch eine beßere Gesundheit geben zu wollen. Den ganzen Winter habe ich sehr erträglich zugebracht, ohne Einmahl anhaltend bettlägerich gewesen zu seyn.«43 Doch schon vier Tage später muß er einen Brief an denselben mit den Worten beginnen: 37

Brief vom 20.9.1782 (JBW I,3, 52). Brief vom 8.2.1794 (Ratjen: Kleuker, S. 195). Ähnlich auch am 28.3.1794 an Philipp Wilhelm Gottlieb Hausleutner (Handschrift: Universitätsbibliothek Greifswald, Nachlaß von der Goltz). – Vgl. zum beständigen Kranksein Jacobis im weiteren auch die Briefe an Haefeli (vermutlich der Schweizer Theologe u. Lavater-Anhänger Johann Caspar Häfeli[n]; zu diesem vgl. etwa Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 270 f.) vom 11.5.1788 (Zoeppritz I, 95), an J. von Reventlow vom 27.9.1788 (AB I, 485 f.), an J. G. A. Forster vom 3.2.1789 (AB I, 496 f.), an J. von Reventlow vom 22.2.1790 (AB II, 17), an J. N. Graf Windisch-Graetz vom 10.11.1790 (Handschrift: Familienarchiv Windisch-Graetz, Kladrau) und an J. K. Lavater vom 24.3.1794 (Handschrift: Zentralbibliothek Zürich). 39 Brief vom 12.3.1795 (Handschrift: Goethe-Museum, Düsseldorf). – Vgl. auch die Briefe an J. H. Schenk vom 20.10.1794 (Handschrift: Bayerische Staatsbibliothek, München, Schenkiana IV) und an Goethe vom 25.10.1794 (Hecker: Goethe und Fritz Jacobi, Teil 3, S. 294). 40 Brief vom 22.6.1795 (Handschrift: SLUB Dresden). Der Zusatz in Klammern stammt von Gudrun Schury, ehemalige Mitarbeiterin der Jacobi-Forschungsstelle. 41 Brief vom 3.4.1796 (Soemmerring: Werke, Bd. 20, S. 288). 42 Vgl. hierzu auch die Briefe an G. A. Jacobi vom 30.1.1792 (Handschrift: Heinrich-HeineInstitut, Düsseldorf) und vom 7.–8.8.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 43 Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 38

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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»Nebucadnezar sprach: Dies ist die große Babel! Da kam der liebe Gott, und schlug ihm auf den Schnabel! In meinem Brieflein am Sonnabend frohlockte ich über mein gutes Befinden, und gleich die folgende Nacht bekam ich einen Anfall von so heftigen Kopfschmerzen, daß ich noch bis diese Stunde davon ganz auseinander bin.«44 Diese Kopfschmerzen,45 mehrfach ist auch von Migräne46 oder einem »starcken Gichtfluß[ ] im Kopfe«47 die Rede, oftmals verbunden mit Schwindel oder später mit Augenschmerzen,48 sind Jacobis hauptsächliches Leiden, wobei sie ihm Anlaß genug sind, sich ins Bett zu legen.49 Überdies finden sich aber eine ganze Reihe anderer Krankheiten und Symptome, die von »Verkältung«50 und Husten51 über einen »heftigen Fluß auf Augen, Ohren und Zähne[n]«52 bis hin zu »Catharal«-,53 »Fluß«-54 oder

44

Brief vom 28.3.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Aus der Fülle von Beispielen seien hier wahllos herausgegriffen sein Brief an H. A. Kopstadt vom 21.10.1773, demzufolge er an seinen »rheumatischen Kopfschmerzen krank gelegen« hat (JBW I,4, 327) und den undatierten (vor dem 24.12.1783) Brief an M. E. Reimarus, wonach er unter »gichtischen Kopfschmerzen« gelitten habe (JBW I,4, 369). 46 Vgl. etwa die Briefe an T. Wizenmann vom 6.11.1783 (JBW I,3, 247), an A. von Gallitzin vom 8.–9.7.1784 (JBW I,3, 337), an N…. vom 12.–15.6.1792 (AB II, 89), an J. N. Graf Windisch-Graetz vom 18.9.1789 (Handschrift: Familienarchiv Windisch-Graetz, Kladrau) und an G. A. Jacobi vom 4.11.1789 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 47 Brief H. E. Jacobis an H. A. Kopstadt vom 9.6.1773 (JBW II,1, 186); vgl. auch den undatierten Brief (vor dem 24.12.1783) an M. E. Reimarus (JBW I,3, 414). 48 Vgl. die Briefe an J. F. Kleuker vom 6.–7.9.1790 (Ratjen: Kleuker, S. 154), an F. K. Bucholtz vom 11.12.1789 (Handschrift: Landesmuseum, Münster) sowie die Briefe an G. J. Göschen vom 17.8.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf), an G. A. Jacobi vom 28.3.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf) und an S. T. Soemmerring vom 27.5.1792 (Soemmerring: Werke, Bd. 19/II, S. 871). 49 Vgl. etwa die Briefe an A. von Gallitzin vom 5.11.1782 und vom 13.12.1782 (JBW I,3, 77 u. 101 f.) sowie den Brief an G. A. Jacobi vom 9.–12.11.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Ganz ähnlich erging es bisweilen auch Jacobis Halbschwester Anna Catharina Charlotte (Lotte), wie aus dem Brief Jacobis an A. von Gallitzin vom 11.–12.10.1784 hervorgeht (JBW I,3, 368). 50 Brief Jacobis an A. von Gallitzin vom 14.8.1787 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 367), an J. W. Goethe vom 22.4.1788 (Jacobi: Briefwechsel Goethe, S. 110) und an J. F. Kleuker vom 25.12.1792 (Ratjen: Kleuker, S. 184). 51 Vgl. die Briefe an A. von Gallitzin vom 5.6.1781 (JBW I,2, 311 f.) und an J. von Reventlow vom 22.2.1790 (AB II, 16). 52 Brief an J. F. Kleuker vom 14.1.1791 (Ratjen: Kleuker, S. 157). Vgl. auch den Brief an S. T. Soemmerring vom 3.4.1796 (Soemmerring: Werke, Bd. 20, S. 288). 53 Briefe an C. M. Wieland vom 12.3.1775 (JBW I,2, 3), an F. K. von Hompesch vom 12.2.1780 (JBW I,4, 344) und an C. K. W. von Dohm vom 28.12.1794 (Zoeppritz I, 179). 54 Brief an J. G. Hamann vom 12.2.1787 (Hamann 6, 110). 45

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IV. Leib

»Wechselfieber«55 reichen. Daneben klagt Jacobi über einen »Rothlauf« (»Geschwulst«),56 ein »Geschwür am Finger«,57 Ausschlag,58 Rheumatismus im rechten Bein,59 eine Augenkrankheit, die Erblindung befürchten läßt,60 usw. Über diese körperlichen Leiden hinaus zeigt sich auch ein unverkennbarer Hang zur »Schwermuth«.61 Konsultationen von Ärzten sowie Diagnosen und Therapien finden im Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis häufig Erwähnung, wobei unter letzteren die Modetherapien besonders hervorzuheben sind: Vom »Magnetismus«62 ist ebenso die Rede wie vom »Electrisieren«.63 Auch frische saubere Landluft und Bewegung, Reisen und Zerstreuung gehören zum Repertoire.64 Alles überragend aber sind die Wasser- und Badekuren: Man trinkt das »Pyrmonter Waßer«65 oder den »Aacher Brunnen«66, wenn man nicht gleich nach Pyrmont oder Aachen, Spa, Hofgeismar oder Karlsbad fährt, wo man Freunde und Bekannte trifft, neue Kontakte knüpft,67 einen neben der Bä-

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Brief Jacobis an F. K. Bucholtz vom 21.5.1787 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 355). Brief an M. S. von La Roche vom 28.10.1774 (JBW I,1, 267). Im Brief an J. W. L. Gleim vom 1.12.1772 ist überdies »von einer schmerzhaften Geschwulst am linken Auge« die Rede (JBW I,4, 324). 57 Brief an J. A. von Clermont vom 20.2.1776 (JBW I,2, 39). 58 Vgl. die Briefe an A. von Gallitzin vom 7.6.1782 (JBW I,3, 36) sowie an G. A. Jacobi vom 26.5.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 59 Vgl. den Brief an J. N. Graf Windisch-Graetz vom 18.9.1789 (Handschrift: Familienarchiv Windisch-Graetz, Kladrau). 60 Vgl. die Briefe an M. E. Reimarus vom 14.8.1792 (AB II, 96) und an W. von Humboldt vom 31.1.1794 (AB II, 138). 61 Vgl. etwa die Briefe an J. Müller vom 14.12.1775 (JBW I,2, 34), an A. von Gallitzin vom 15.6.1781 (JBW I,2, 314), an T. Wizenmann vom 24.3.1784 (JBW I,3, 309) sowie an A. W. Rehberg vom 28.11.1791 (AB II, 72) und an J. H. Pestalozzi vom 24.3.1794 (Zoeppritz I, 178). 62 Briefe an J. K. Lavater vom 3.5.1787 (AB I, 417 f.) und an G. A. Jacobi vom 22.9.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 63 Brief an G. A. Jacobi vom 31.10.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 64 Vgl. etwa die Briefe von J. G. A. Forster vom 7.2.1781 (JBW I,2, 272) und von J. G. Hamann vom 18.–22.10.1784 (JBW I,3, 371) sowie den Brief von J. Müller vom 2.1.1788 (Johannes von Müller: Sämmtliche Werke. Hg. von Johann Georg Müller. 40 Bde. Tübingen u. Stuttgart 1810– 1835, hier Bd. 38, S. 53). 65 Brief an A. von Gallitzin vom 23.6.1785 (JBW I,4, 132). – Vgl. auch die Briefe an A. von Gallitzin vom 2.7.1781 (JBW I,2, 316), an J. F. Kleuker vom 4.3.1790 (Ratjen: Kleuker, S. 147) und an M. E. Reimarus vom 14.8.1792 (AB II, 98). 66 Vgl. das undatierte (vermutlich vom Juni / Juli 1792) Briefendefragment (eineinhalb Seiten) an G. A. Jacobi (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 67 Vgl. zu Hofgeismar etwa die Briefe an A. von Gallitzin vom 15.7.1780 (JBW I,2, 157), an M. Mendelssohn vom 5.9.1784 (JBW I,3, 360), an J. G. Hamann vom 18.–22.10.1784 (JBW I,3, 371), an A. M. Sprickmann vom 23.11.1784 (JBW I,3, 391), von J. G. A. Forster vom 17.12.1784 (JBW I,3, 402) und an S. T. Soemmerring vom 9.9.1785 (JBW I,4, 174); zu Pyrmont vgl. die Briefe an J. F. 56

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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derkur also jenes gesellige Leben erwartet, welches für das 18. Jahrhundert so typisch ist und sozialgeschichtlich mit der Herausbildung neuer bürgerlicher Lebensformen sowie einer spezifisch bürgerlichen »Öffentlichkeit« zusammenhängt.68 Nach dem Dargestellten scheint es mehr als angebracht zu sein, in Jacobi das Paradebeispiel eines Hypochonders zu erblicken. Doch weit davon entfernt, hiermit ein individuelles Krankheitsportrait ermittelt zu haben, erweist sich Jacobi gerade mit diesem hypochondrischen Körperverhältnis als repräsentativ für seine Zeit, denn Hypochondrie ist die Modekrankheit der Aufklärungszeit, wie die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger gezeigt hat.

2.2 Der Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert Esther Fischer-Homberger hat in ihrer grundlegenden medizinhistorischen Arbeit über Hypochondrie69 zum einen gezeigt, daß unsere heutige Auffassung von Hypochondrie als Nosophobie und als »eingebildete Krankheit« sich erst allmählich im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte. Zum anderen geht aus ihrer Studie hervor, daß erst im Anschluß an die Entwicklung der Melancholie zum Zustandsbild in der frühen Neuzeit die Hypochondrie – als Nachfolgerin der Melancholie – zur zentralen Krankheit der Aufklärungszeit avancieren konnte.70 Anschließend wurde ihr das gleiche

Kleuker vom 22.4.1789, vom 29.5.1789 und vom 3.6.1789 (Ratjen: Kleuker, S. 131, 132 u. 134) sowie an S. T. Soemmerring vom 4.5.1789 (Soemmerring: Briefwechsel, Bd. 19/II, S. 779). Von Aachen und Spa ist etwa im Brief an J. F. Kleuker vom 18.6.1792 (Ratjen: Kleuker, S. 174) und im Brief von H. K. zu Stolberg-Stolberg (aus Spa) die Rede (JBW I,4, 366 f.). 68 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied a. R. u. a. 1962 (= Politica; Bd. 4). – Vgl. aus der umfangreichen Literatur zum Badewesen etwa Jörn Göres (Hg.): »Was ich dort gelebt, genossen…« Goethes Badeaufenthalte 1785–1823. Geselligkeit – Werkentwicklung – Zeitereignisse. Königstein i. Ts. 1982 sowie Raingard Eßer u. Thomas Fuchs (Hg.): Bäder und Kuren in der Aufklärung. Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen. Berlin 2003 (= Aufklärung und Europa; Bd. 11). Zu Pyrmont vgl. ebenda den Beitrag von Brigitte Erker sowie Reinhold P. Kuhnert: Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert. Göttingen 1984 (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte; Bd. 77). 69 Vgl. Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder. Bern 1970. 70 Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Melancholie in jener Zeit völlig verschwand; vielmehr bleibt sie noch auf vielfältige Weise mit der Hypochondrie verknüpft. In der Forschungsliteratur ist ihr Verhältnis zur Hypochondrie umstritten. Während beispielsweise Wolf Lepenies von einem synonymen Gebrauch der Begriffe Melancholie und Hypochondrie im 18. Jahrhundert ausgeht, ist für Hans-Jürgen Schings und Lothar Müller die Hypochondrie lediglich eine Melancholie im Diminuitiv, was nicht zuletzt ihre Verbreitung befördert haben soll. Vgl. hierzu Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 86 u. 91 sowie Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 48 f. u. 70 und Lothar

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IV. Leib

Schicksal zuteil wie zuvor der Melancholie: Sie verkümmerte zum bloßen Zustandsbild und wurde von den Nervenkrankheiten des 19. Jahrhunderts und schließlich von der Neurose verdrängt. Damit ist nach Fischer-Homberger die Hypochondrie lediglich in einer gewissen Interimszeit, die mit der Aufklärungszeit zusammenfällt, eine eigenständige Krankheit. Zu einem ganz ähnlichen Resultat gelangt übrigens in neuerer Zeit auch Beate Appelt im Hinblick auf die »vapeurs«, die ich – wie Fischer-Homberger und anders als Appelt – mit der Hypochondrie weitgehend identifizieren würde.71 Der Begriff »Hypochondrie« zeugt gleichermaßen von der antiken Herkunft dieser Krankheit – ihrer Verbindung mit der Melancholie und ihrer humoralpathologischen Fundierung – wie auch von jener somatischen Ätiologie, die sie bis ins 18. Jahrhundert begleitet. Die Hypochondrien nämlich sind jene Körperregion unter dem Brustknorpel, in der auch die Milz, die Produktionsstätte der schwarzen Galle – und damit der Melancholie – liegt. Zum Symptomkomplex, der zunächst die Melancholie bzw. die Sonderform der hypochondrischen Melancholie72 und später die Hypochondrie kennzeichnet, gehören daher neben jenen bekannten, traurig-verschlossenen Gemütszuständen73 auch alle mit der Magen-Darm-Region verbundenen Schmerzen und Unannehmlichkeiten – insbesondere die Begleitumstände »üble[r] Verdauung«74. Entsprechend definiert der Arzt Johann Ulrich Bilguer: »Die Hypochondrie ist eine langwierige Krankheit, bey welcher man sich selten recht krank, und niemals recht gesund befindet. Es sind bey ihr überaus viele, theils allgemeine, theils besondere Zufälle wahrzunehmen, und diese betreffen Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser«. Frankfurt a. M. 1987, S. 92 f. 71 Vgl. Appelt: »Les vapeurs«, S. 16 u. 73 (vgl. dagegen S. 82!) sowie Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 15. Auch die Quellenbeispiele, die Appelt anführt, sprechen gegen eine Trennung von »vapeurs« und Hypochondrie. Vgl. etwa die Beispiele Pomme (S. 89–91) und Revillon (S. 107). Die von Appelt angeführten Ursachen der »vapeurs«, soweit sie der zeitgenössischen Literatur und Diskussion zu entnehmen sind, sind ebenfalls mit den für die Hypochondrie geltend gemachten Ursachen identisch. – Gleichwohl ist eine kritische Revision der weitgehenden Indifferenzierungen von Fischer-Homberger durchaus angebracht. Zu den »vapeurs« vgl. auch Stolberg: Homo patiens, S. 220 ff.; ebd., S. 223 zum Verhältnis von »vapeurs« und Hypochondrie, vgl. auch S. 225 u. 229. 72 Diese »Unterart der Melancholie« geht auf Galen zurück (Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 15 f.). Sie war noch bis ins 17. Jahrhundert gebräuchlich, wie beispielsweise Andrew Wears Analyse der Autobiographie Richard Baxters (1615–1691) zeigt (vgl. Wear: Puritan Perceptions, S. 90–99). 73 Diese schwermütige Stimmungslage ist oftmals verbunden mit einem Hang zur Einsamkeit (vgl. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 43), mit Lebensüberdruß (»taedium vitae«) und dem Gefühl der Langeweile (»ennuie«) (vgl. ebd., S. 47 f.). Vgl. zum Fortbestand der alten MelancholieSymptomatik auch ebd., S. 50 f. 74 Stefan Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727–1799). Würzburg 1990.

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sowohl das Gemüth als den Leib. Diese Krankheit besteht daher in einer kranken Gemüths- und Leibesbeschaffenheit zugleich; und diese wird hervorgebracht, von gar mannichfaltigen, sowohl moralischen als physicalischen Ursachen. Die nächsten Ursachen sind, entweder, eine Schwäche des Magens und der Gedärme, eine geschwächte und widernatürlich beschaffene peristaltische Bewegung des Magens und der Gedärme, und eine üble Verdauung nur noch alleine; oder auch ein stokkendes schwarzgallichtes melancholisches Blut, in den hypochondrischen Gefäßen, in den Gefäßen des Magens, der Gedärme, der Milz, der Leber und des Gekröses, oder auch, eine schwarzgallichte Materie in den Falten des Magens und der Gedärme noch zugleich. Von dem Sitze dieser nächsten Ursache, und weil in denjenigen Seitentheilen des Unterleibes, die man die Hypochondrien nennet, desgleichen, weil in der Gegend, wo die Milz liegt, die meisten Beschwerden dieser Krankheit empfunden werden, wird sie die Hypochondrie, wie auch die Milzsucht genannt.«75 Diese Verbindung von körperlichen und seelischen Defekten brachte im 17. und 18. Jahrhundert eine Reihe medizinischer Konzepte der Krankheit »Hypochondrie« hervor, die allesamt an einer unzureichenden Erklärung des Zusammenhangs von Hypochondrien einerseits und Seele / Gemüt andererseits krankten, wie Fischer-Homberger darstellt.76 Betonten sie die somatische Ätiologie,77 wie etwa Hermann Boerhaave und Friedrich Hoffmann, so war die Herleitung der psychischen Symptome problematisch, und sie mußten zuweilen – einer durchaus traditionellen Vorstellung folgend – den Sitz der Seele selbst in die Hypochondrien verlagern.78 Umgekehrt war es etwa für Thomas Sydenham79 und seinen Schüler Richard Blackmore, die die Nervenfasern bzw. die Spiritus animales für die Hypochondrie verantwortlich machten,80 schwer, die Verbindung zu den Hypochondrien – mit denen ein großer Symptomkomplex der Krankheit verbunden war – zu erklären. Zugleich rückte innerhalb ihrer »nervösen Ätiologie«81 die Hypochondrie in die Nähe anderer Nervenkrankheiten, so etwa der Hysterie, die Sydenham als weibliches Pendant der männlichen

75

Johann Ulrich Bilguer: Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie. Oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Aerzte als vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folgen betreffende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, daß die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und daß sie eine Ursache der Entvölkerung abgeben kann. Kopenhagen 1767, S. 1 f. 76 Vgl. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 27 f. 77 Zur Hypochondrie als Organ- und Säftekrankheit vgl. ebd., S. 22–24. 78 So beispielsweise J. Baptist van Helmont (vgl. ebd., S. 28); vgl. auch G. E. Stahl und Philippe Pinel (ebd., S. 124). 79 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 21. 80 Vgl. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 24 f. 81 Ebd., S. 20.

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IV. Leib

Hypochondrie galt.82 Damit wurde das Spektrum möglicher Symptome, die erklärt sein wollten, noch erweitert. Erst jene von dem Engländer Robert Whytt in seiner 1765 publizierten Schrift Observations on the nature, causes, and cure of those disorders which have been commonly called nervous, hypochondriac, or hysteric dargelegte Konzeption der Hypochondrie als Krankheit der Nerven, wobei den Nerven die Eigenschaft der »Sympathie«, d. h. das Vermögen zur Herstellung von Beziehungen zwischen lokal disparaten Körperregionen zukam, brachte, so Fischer-Homberger, die erforderliche Universalerklärung.83 Mit ihrer Hilfe konnten nicht nur alle Symptome der Hypochondrie, seien sie körperlicher oder seelischer Natur, leiblichen oder geistigen Ursprungs,84 hinreichend erklärt werden, sondern jedes Symptom, jede Körperregung konnte nun auf übergroße Nervenschwäche und Empfindsamkeit zurückgeführt und der Hypochondrie zugerechnet werden. In gewisser Weise hat Whytt selbst diese Tendenz gesehen: »Da die Nerven fast in jeder Krankheit mehr oder weniger leiden, und folglich keine zu finden ist, der man nicht, den Namen einer Nervenkrankheit, in einer weitläufigen Bedeutung geben könnte; so möchte man glauben, daß eine Abhandlung, die diese Aufschrift führet, von allen denen Beschwerden, welchen der menschliche Körper unterworfen ist, handelte. […] Ich habe mir in solchen blos vorgesetzt, von denen Krankheiten zu handeln, die insbesondere den Namen von Nervenzufällen deswegen verdienen, weil sie meistentheils von einer ungewöhnlichen Zärtlichkeit oder widernatürlichen Empfindlichkeit der Nerven herrühren, und ihnen also diejenigen Personen, die dergleichen Leibesbeschaffenheit haben, hauptsächlich ausgesetzt sind.«85

82

Vgl. ebd., S. 25. – Zur Paarung von »Hysterie und Hypochondrie« vgl. auch das gleichnamige Kapitel in Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1989, S. 285–307. Foucault gelangt zu anderen (nicht konträren) Differenzierungen, wie etwa der zwischen »Nervenkrankheit« und »Geisteskrankheiten« (ebd., S. 288). 83 Whytt war der erste, der mit der Nerventheorie das Konzept der »sympathy« verband (vgl. Christopher Lawrence: The Nervous System and Society in the Scottish Enlightenment. In: Barry Barnes u. Steven Shapin [Hg.]: Natural Order. Historical Studies of Scientific Culture. London 1979 [= Sage Focus Editions; Bd. 6], S. 19–49, hier S. 27). Zu Whytt vgl. Roger K. French: Robert Whytt, the Soul, and Medicine. London 1969. – Zum neuen nerventheoretischen Konzept allgemein vgl. Stolberg: Homo patiens, S. 229–233. 84 Nach Vila hat bereits das Sensibilitätskonzept selber diese Brückenfunktion (vgl. Vila: Enlightenment and Pathology, S. 2). 85 Robert Whytt: Beobachtungen über die Natur, Ursachen und Heilung der Krankheiten, die man gemeiniglich Nerven-hypochondrische und hysterische Zufälle nennet. Leipzig 1766, S. IV f.; zit. nach Bilger: Üble Verdauung, S. 27.

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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Diese Selbstbeschränkung konnte jedoch den Siegeszug der Hypochondrie nicht aufhalten, und so mußte Christoph Wilhelm Hufeland am Ende des Jahrhunderts konstatieren: »Jetzt will alle Welt Nerven haben; und zwar piquiert man sich schwache, reitzbare, delicate Nerven zu haben; denn so will es der Ton. Ein nerviger Mensch hieß sonst ein fester, kraftvoller Adamssohn; jetzt heißt es ein Wesen, das jeden Eindruck tausendfach fühlt, das vom Getrampel einer Mücke in Ohnmacht fällt, und vom Geruch einer Rose Convulsionen bekommt. Diabolique invention de la medicine modern …!«86 In dieser Konzeption lag also von Anbeginn die Tendenz zur »Verwahrlosung« des Hypochondriebegriffs,87 die bereits von den Zeitgenossen kritisch wahrgenommen wurde. Vielfältig und schier unerschöpflich waren die Symptome, die sich unter dem Begriff der Hypochondrie versammeln ließen: »Schlaflosigkeit und Verdauungsstörungen, fiebrige Erkrankungen und Schwindelanfälle, Magenkrämpfe und Alpträume, Kopfschmerzen und Schweißausbrüche, übermäßige Eßlust und Appetitlosigkeit, Kälte- und Hitzeanfälle, Zuckungen und Ausfluß, die seelischen Konvulsionen eines empfindsamen Gemüts und die Hysterie als weibliche Form der Hypochondrie – der Katalog ließe sich beliebig verlängern, ohne doch Vollständigkeit beanspruchen zu können.«88

Kaum verwunderlich ist daher, daß Johann Gottlob Krüger schwerlich noch eine eigenständige Krankheit in der Hypochondrie erkennen konnte, sondern sie vielmehr »ein Inbegriff und ein vollkommenes Wörterbuch aller möglichen Kranckheiten«89 nannte. Ihrer begrifflichen Extension entspricht ihre Verbreitung unter den Zeitgenossen. Bilguer und Johann August Unzer kamen übereinstimmend zu der Feststellung,90 daß es sich keineswegs mehr bloß um eine »Gelehrtenkrankheit«91 handelt,

86

Christoph Wilhelm Hufeland: Einige Ideen über die neuesten Modearzneyen und Charlatanerien. In: Ders.: Gemeinnützige Aufsätze zur Beförderung des Wohlseyns und vernünftiger medizinischer Aufklärung. Leipzig 1794, S. 112; zit. nach Barthel: Medizinische Polizey, S. 147. – Vgl. auch Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 49. – Vgl. hierzu auch Tissot (Vila: Enlightenment and Pathology, S. 190 f.). 87 Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 52. 88 Müller: Die kranke Seele, S. 93. – Michael Stolberg sagt dies bereits von dem Konzept der »vapeurs« aus, das er als im traditionellen Sinne humoralpathologisch fundiert ansieht (vgl. Stolberg: Homo patiens, S. 221). 89 Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. 3. Theil: Pathologie. Halle 1750, S. 492. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 45 zit. dasselbe nach Bilguer: Nachrichten an das Publicum, S. 874. 90 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 37 f. 91 Vgl. ebd., S. 36; vgl. auch Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 42. – Zur Gelehrtenkrankheit allgemein vgl. Werner Friedrich Kümmel: Kopfarbeit und Sitzberuf: Das früheste Paradigma

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IV. Leib

welches sie zunächst – nach Auffassung der Ärzte92 – aufgrund der für den Verdauungsapparat unzuträglichen, sitzenden Lebensweise, aber auch aufgrund einer Unmäßigkeit im Lesen und Studieren selbst,93 war. Sie sei vielmehr »heutiges Tages eine allgemeine Krankheit zu nennen«.94 Daß sie in diesem Sinne für die Zeitgenossen auch den bedrohlichen Charakter einer Epidemie annehmen konnte, davon zeugt in eindrucksvoller Weise der barocke Titel der schon mehrfach erwähnten Schrift von Bilguer, demzufolge nämlich die Hypochondrie »eine Ursache der Entvölkerung abgeben kann« – eine in Hoch-Zeiten staatlicher Peuplierungspolitik verkaufsstrategisch günstige Schreckensvision. Tatsächlich wurde die Hypochondrie auch in der Praxis oft – und immer öfter – diagnostiziert. »Sydenham [1624–1689] hat ein Sechstel aller seiner Patienten hypochondrisch bzw. hysterisch gefunden, […] George Cheyne (1671 bis 1743), wenig später, fand fast ein Drittel, Thomas Trotter (1761– 1832) sogar zwei Drittel solcherart leidend«.95 Ein weiterer Beweis für die Verbreitung der Hypochondrie ist die beträchtliche Anzahl gebräuchlicher Synonyme, von denen die häufigsten wohl »spleen« (= gr. die Milz), »vapours« bzw. »vapeurs« und »Milzsucht« oder »Milzkrankheit« waren. Darüber hinaus waren in England auch Abkürzungen wie »the hyp« oder »hypo« durchaus geläufig.96 Die Ausweitung der Hypochondrie schlug sich ebenfalls auf dem im 18. Jahrhundert erheblich expandierenden Buch- und Zeitschriftenmarkt nieder. Neben den – z. T. bereits erwähnten – fachmedizinischen Publikationen zur Hypochondrie,97 von denen einige große Verbreitung fanden,98 sind hier vor allem eine Reihe populärmedizinischer Schriften zu erwähnen, die sich – der Zeit gemäß – moralisierend um Volksaufklärung und -erziehung bemühten.99 Auch an der Anzahl der Artikel zum Thema »Hypochondrie« in den populärmedizinischen Zeitschriften läßt sich die Om-

der Arbeitsmedizin. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987), S. 53–70. 92 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 22. 93 Vgl. ebd., S. 36. 94 Bilguer: Nachrichten an das Publicum, S. 4 f.; zit. nach Bilger: Üble Verdauung, S. 37. 95 Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 35; vgl. auch Bilger: Üble Verdauung, S. 31 f. 96 Vgl. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 37 f.; vgl. auch Bilger: Üble Verdauung, S. 31 und Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 70. 97 Vgl. auch die von Rousseau aufgelisteten zahllosen Dissertationen zum Thema Hypochondrie (George Rousseau: Cultural History in a New Key. Towards a Semiotics of the Nerve. In: Joan H. Pittock u. Andrew Wear [Hg.]: Interpretation and Cultural History. London 1991, S. 25–81, hier S. 76–81). Vgl. auch die zahlreichen Nachweise zum Stichwort »Hypochondrie« in: Heinrich Laehr: Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie und Psychologie im XVIII. Jahrhundert. Zweite Aufl. Berlin 1895, S. 196 f. 98 So wurde Whytts Buch beispielsweise binnen kürzester Zeit mehrfach neu aufgelegt und in verschiedene Sprachen übersetzt (vgl. Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 35). 99 Vgl. die Auflistung ebd., S. 36 f. sowie Bilger: Üble Verdauung, S. 32.

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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nipräsenz der Krankheit im Diskurs der Aufklärung ablesen. So kommt etwa Francisca Loetz auf der Grundlage einer quantitativen Auswertung der Leserbriefe und Artikel in Unzers Zeitschrift Der Arzt zu dem Schluß: »Ihre [= der Leserbriefe] eigentliche Aufmerksamkeit aber gehört der ›Epilepsie‹, der ›Gicht‹, der ›Hypochondrie‹ sowie einigen Alltagsbeschwerden […] und insbesondere der Verdauung.«100 Da nun Verdauungsprobleme als hypochondrisches Symptom zu werten sind, kann davon ausgegangen werden, daß sie die am meisten thematisierte Krankheit der Leserbriefe war.101 Ähnlich verhält es sich mit dem Hufelandschen Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Die Auswertung der Zeitschrift durch Hans Joachim Schwanitz ergibt, daß die Hypochondrie unter den Gemütskrankheiten die erste Stelle einnimmt.102 Nachrichten und Bekenntnisse aller Art ließen sich unter dem Titel »Hypochondrist« verkaufen: So konnte »der bekannte englische Publizist James Boswell über sechs Jahre im London Magazine eine feste Rubrik ›The Hypochondriack‹ interessant erhalten«,103 während im deutschsprachigen Raum eine Wochenzeitschrift mit dem Titel Der Hypochondrist erschien.104 Aber nicht nur in genuin medizinischen, sondern auch in großen literarischen Zeitschriften wie etwa dem Deutschen Museum oder dem Teutschen Merkur, an dessen

100

Francisca Loetz: Leserbriefe als Medium ärztlicher Aufklärungsbemühungen. Johann August Unzers »Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift« als Beispiel. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 7 (1988), S. 189–204, hier S. 198. 101 Vgl. ebd., S. 196. Möglicherweise würde eine Auswertung der Zeitschrift – nähme man sie explizit vor dem Hintergrund der Hypochondrie-Diskussion der Zeit vor – ein weitaus signifikanteres Ergebnis zutage fördern. 102 Vgl. Hans Joachim Schwanitz: Die Theorie der praktischen Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine historische und wissenschaftstheoretische Untersuchung anhand des »Journal für practische Arzneykunde und Wundarzneykunst« von Ch. W. Hufeland. Köln 1979, S. 27 f. – Aufgrund des Erscheinungszeitraums dieser Zeitschrift (1795–1836) würde eine Beschränkung der Auswertung auf die ersten Jahrgänge vermutlich eine Verschiebung der Themenverteilung zugunsten der Hypochondrie ergeben (vgl. hierzu etwa die Quantität der Einträge zum Stichwort »Hypochondria« im Registerband für die ersten zwanzig Bände im Vergleich zu jener für die Bände 21 bis 40). Tatsächlich zieht sich durch die ersten Bände beispielsweise ein immer wieder fortgesetzter Text von einem Autor namens Hildebrand mit dem Titel Über die Hypochondrie; ebenso findet sich in einem der frühen Bände jenes berühmte Antwortschreiben von Kant an Hufeland Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn, in der Kant über seinen Umgang mit der Hypochondrie berichtet. Dieser Text ist ebenfalls im dritten Abschnitt der Kantischen Schrift Der Streit der Fakultäten zu finden (vgl. Kant: Werke, Bd. VI, S. 371–393). 103 Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 411 sowie Jutta Heinz: Ein Hypochonder auf Reisen. Medizinische und literarische Therapien gegen die Hypochondrie in Thümmels »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«. In: Daniel Fulda u. Thomas Prüfer (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a. M. u. a. 1996 (= Kölner Studien zur Literaturwissenschaft; Bd. 9), S. 43–68, hier S. 50 f. 104 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 44 sowie Walter Busse: Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung. Phil. Diss. Mainz (masch.) 1952, S. 95.

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IV. Leib

Entstehung Jacobi maßgeblich beteiligt war,105 finden sich Beiträge zur Hypochondrie.106 Überhaupt zeigt erst die Präsenz der hypochondrischen Gestalt in der Literatur der Zeit,107 wie sehr die Medizin mit der Hypochondrie auf der Höhe der Zeit war – nämlich mitten in jenem aufklärerisch-empfindsamen Diskurs, der Kultur und bürgerlichen Alltag entscheidend prägte.108 Die Spuren dieses zeitgenössischen Diskurses über die Hypochondrie lassen sich auch in Jacobis Briefwechsel verfolgen.

2.3 Hypochondrie im Briefwechsel Jacobis Jacobi klagt – schon im zarten Alter von 24 Jahren – gegenüber seinem Amsterdamer Buchhändler Marc Michel Rey über seine »cruélle hypocondrie«.109 Wieland berichtet er einige Jahre später von einer »Nervenkrankheit«, die ihn »seit acht Tagen zu allen und jeden Geschäften untüchtig gemacht« hat.110 Bezüglich dieser Nervenkrankheit schreibt Jacobis Ehefrau Betty an ihren Schwager Heinrich Arnold Kopstadt: »Mein lieber Mann hat wieder zuweilen hypochondrische Zufälle«.111 Im Brief an Goethe vom 6. November 1774 spricht Jacobi von seiner »indifferentistischen Milzsucht«.112 Jacobi ist also offenkundig in den zeitgenössischen Diskurs über Hypochondrie eingebunden, wozu auch gehört, daß er sich selbst als Hypochonder bzw. hypochondrisch bezeichnet. In diesem Sinne schreibt er am 6. März 1772 – also im Alter von 29 Jahren – an seinen Buchhändler Philipp Erasmus Reich: »Ich bin überzeugt daß das Summum malum darin besteht, die Hypochondrie in summo gradu zu haben, und das ist mein Fall.«113 105

Vgl. Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 139 sowie den Brief an C. M. Wieland vom 10.8.1772 (JBW I,1, 159). 106 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 44 f. – Vgl. z. B. die Selbstbekenntnisse von C. Reclam (1773) und F. Schulz (1786) in Der Teutsche Merkur. 107 Vgl. vor allem Busse: Hypochondrist, aber auch Bilger: Üble Verdauung, S. 34–36 und Rita Wöbkemeier: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990, S. 139–150 sowie Müller: Die kranke Seele und Vila: Enlightenment and Pathology. 108 Vgl. Ulrich Nassen: Trübsinn und Indigestion – Zum medizinischen und literarischen Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert. In: Fugen 1 (1980), S. 171–186, hier S. 179 sowie Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 36–38. – Die somatische Seite von »sensibilité« betont – für die französische Kultur – vor allem Vila: Enlightenment and Pathology, S. 5. 109 Brief vom 28.8.1767 (JBW I,1, 40). 110 Brief vom 24.8.1771 (JBW I,1, 126). – Bereits am 12.3.1771 wandte sich Jacobi an seinen Buchhändler P. E. Reich mit den Worten: »Wieland schreibt mir, Sie würden mir auf sein Ersuchen ein Exemplar von seinem Amadis schicken, um mich von meiner Hypochondrie, welche seit einiger Zeit mich grausam quält, zu curiren.« (JBW I,4, 318.) 111 Brief vom 28.8.1771 (JBW II,1, 136). 112 JBW I,1, 268. – Vgl. auch den Gebrauch des Begriffs im Allwill (Jacobi: Eduard Allwills Papiere [1776], S. 19; vgl. JWA 6,1, 9). 113 JBW I,1, 153.

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Diese apodiktische, in Termini der philosophischen Theologie formulierte Diagnose114 kann als das Resultat einer intensiven, auch theoretischen, Beschäftigung mit der Krankheit Hypochondrie angesehen werden. Denn bereits fünf Jahre zuvor hatte Jacobi bei seinem Buchhändler Rey drei der prominentesten und populärsten Werke der Zeit zur Hypochondrie respektive zu den »vapeurs« bestellt: Robert Whytts Les Vapeurs et Maladies nerveuses, hypochondriaques, ou hystériques; reconnues & traitées dans les deux Sexes (Paris 1767), die dritte, überarbeitete und vermehrte Auflage von Tissots Werk Avis au peuple sur sa santé sowie das Buch von Pierre Pomme Traité des Affections vaporeuses des deux Sexes (3. Auflage Lyon 1767).115 Wie wichtig ihm die Kenntnis dieser Bücher war, zeigen die mehrfachen Reklamationen des zweiten Bandes von Whytts grundlegendem Werk.116 Neben der Lektüre der zentralen Werke zur Hypochondrie hatte Jacobi vermutlich auch dem seinerzeit berühmten Breslauer Arzt Balthasar Ludwig Tralles seinen Fall in schriftlicher Form unterbreitet und ein ihn offenbar zufriedenstellendes Antwortschreiben erhalten. Hier wurde ihm durch eine ärztliche Autorität vor aller Welt – Briefe wurden üblicherweise weitergereicht – verbindlich bescheinigt, daß er, wie er an seinen Bruder Johann Georg schreibt, »die Hypochondrie nicht blos im Munde führe«.117 Selbstverständlich gehörten auch einige seiner Briefpartner zum großen Heer der Hypochonder, allen voran sein Bruder, der Dichter Johann Georg Jacobi, von dem Gleim berichtet, er habe ihn »in seinem letzten Brief […] mit seiner Hypochondrie bedrohet«.118 Die Hypochondrie aber bleibt nicht auf das Lager der Empfindsamen 114

Die zentralen Bestimmungen Gottes – »Güte, Gerechtigkeit, Weisheit und Macht« – kommen Gott nach den Bestimmungen der philosophischen Theologie »in gradu absolute summo« zu (vgl. Walter Jaeschke: Philosophische Theologie und ihre Kritik. In: DODONE Dritter Teil 28 [1999], S. 305–323). 115 Vgl. den Brief an M. M. Rey vom 28.8.1767 (JBW I,1, 41). – Vgl. zu Pomme: Appelt: »Les vapeurs«, S. 88–92. Pomme unterteilt die »affection vaporeuse« nochmals in »affection hystérique« und »affection hypochondriaque«. Erstere rechnet er dem weiblichen Geschlecht, letztere dem männlichen zu, hält diese strikten Geschlechtszuweisungen aber keineswegs durch. 116 Vgl. die Briefe an M. M. Rey vom 5.7.1768 und vom 7.10.1768 (JBW I,1, 60). – Die Wochenschrift Der Hypochondrist findet sich ebenfalls im Bestand der Jacobischen Bibliothek. Vgl. Wiedemann: Bibliothek Jacobis, Bd. 1, S. 32 [= Nr. 121]. 117 Brief vom 16.4.1768 (JBW I,1, 54). – Da weder der Brief Jacobis noch derjenige von Tralles überliefert ist, wäre auch die Deutung denkbar, daß es sich lediglich um eine Veröffentlichung von Tralles in Briefform und nicht um ein an Jacobi adressiertes Antwortschreiben handelt. Allerdings ist die schriftliche Konsultation prominenter Ärzte im 18. Jahrhundert weit verbreitet, wie etwa die zahlreichen Briefe an Samuel Auguste André David Tissot belegen (vgl. S. Pilloud: Le courrier du corps au XVIIIe siècle. Consultations épistolaires adressées au Dr. Samuel Auguste Tissot [1728– 1797]. Chêne-Bourg 2003 [CD-ROM]); diese sind neuerdings umfassend für eine Medizingeschichte aus der Patientenperspektive ausgewertet worden (vgl. Stolberg: Homo patiens, bes. S. 23 f.). Zudem ist der Überlieferungsgrad für die frühe Zeit des Jacobischen Briefwechsels recht gering, so daß die Annahme eines Verlusts der Briefe sich nahelegt. 118 Brief von J. W. L. Gleim vom 19.9.1770 (JBW I,1, 97).

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beschränkt. Georg Forster, der, obwohl bisweilen mißmutig, die Hypochondrie mehrmals weit von sich weist,119 charakterisiert beispielsweise den Berliner Aufklärer Johann Jakob Engel in einem Brief an Jacobi als »Hypochondriker«120 und befindet sich damit im Einklang mit dem Urteil anderer Zeitgenossen wie auch mit der Selbsteinschätzung Engels.121 Jacobis eigenes Verhältnis zur Hypochondrie scheint sich allerdings in den 1780er Jahren gewandelt zu haben. Zwar bekennt er noch im Juni 1785 in einem Brief an die Fürstin Gallitzin, daß ihn »seit 14 Tagen« seine »bitter böse Hypochondrie wieder unter gekriegt« habe, und ein Jahr später gesteht er ihr: »[…] nie in meinem Leben habe ich an Hypochondrischen Crämpfen mehr gelitten«.122 Doch bleiben diese Briefe an die im hohen Grade hypochondrische Adressatin123 Ausnahmebelege solcher späten Selbstbekenntnisse. Mag er auch weiterhin extensiv von seinen Krankheiten berichten, so schwindet doch der – oftmals als Koketterie anmutende – Hang, sich selbst als Hypochonder zu bezeichnen. Die Hypochondrie scheint für Jacobi zunehmend einen pejorativen Charakter anzunehmen, wie seine Beschreibung der hypochondrischen Gemütszustände und Verhaltensmuster von Bucholtz und Hamann nahelegen.124 Möglicherweise reflektiert dies allgemeine Veränderungen im Hypochondrie-Diskurs der Zeit.125 Johann Georg Hamann erweist sich in dem ausgedehnten Briefwechsel mit Jacobi als Musterexemplar eines bekennenden Hypochonders.126 Für Kurt Christ ist die 119

Vgl. die Briefe von J. G. A. Forster vom 10.10.1779 (JBW I,2, 113), vom 11.2.1783 (JBW I,3, 126) und vom 13.11.1783 (JBW I,3, 252). 120 Brief von J. G. A. Forster vom 23.–26.4.1779 (JBW I,2, 92). 121 Mendelssohn etwa bezeichnet Engel als seinen »hypochondrischen Freund« (vgl. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt von Alexander Altmann u. Eva J. Engel. 24 Bde. StuttgartBad Cannstatt 1971–2004 [Stand: Okt. 2007], hier Bd. 24, S. 247). Vgl. zudem Johann Jakob Engel: Briefwechsel aus den Jahren 1765–1802. Hg. u. komm. v. Alexander Košenina. Würzburg 1992. – Als weiteres Beispiel aus dem Umkreis der Berliner Aufklärer wäre Karl Philipp Moritz zu erwähnen, dessen Hypochondrie von seinem Freund Marcus Herz geheilt wird (vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 175, Fn. 11). 122 Briefe vom 23.6.1785 (JBW I,4, 130) und vom 11.6.1786 (JBW I,5, 244). 123 Vgl. etwa ihren Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 12.6.1782 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 128). – Vgl. auch Fraatz: Tatsachenbericht. 124 Vgl. hierzu die Briefe an J. G. Hamann vom 26.5.1786 (JBW I,5, 223) und an J. G. Jacobi vom 5.9.1787 (WW III, 506). – Für die tendenziell pejorative Bedeutung der Hypochondrie vgl. auch die Briefe an G. J. Göschen vom 14.4.1787 (Handschrift: Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale Collection of German Literature, William A. Speck Collection of Goetheana, 399) und von J. G. Hamann vom 21.5.1788 (Hamann 7, 483). – Auch Goethes beiläufige Erwähnung der Hypochondrie Karoline Herders in seinem Brief vom 26.9.1785 (JBW I,4, 185) scheint in dieselbe Richtung zu weisen. 125 Hierzu etwa Heinz: Hypochonder auf Reisen, S. 55. 126 Vgl. hierzu auch Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 278–292 u. 428–433. Schings’

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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Hypochondrie geradezu das Bindeglied zwischen Jacobi und Hamann, das ein »sympathetisches Miteinander« allererst ermöglicht: »Was Hamann und Jacobi […] füreinander bestimmt sein läßt, ist eine übersteigerte, und damit von der Realität abgerückte Beobachtung ihrer selbst auf je verschiedene Weise. Bei beiden, wenn auch bei Hamann ungleich intensiver, zeigt sich eine hypochondrisch gesteigerte Einbildungskraft insbesondere in der Beobachtung ihres Körpers und seiner wirklichen und imaginierten Übelstände.«127 Bereits in seinem zweiten Brief an Jacobi, in dem er ein Portrait seines Wesens und seiner Lebensumstände zeichnet, schreibt Hamann: »Was aber am meisten die Oekonomie meiner Kräfte und ihres freyen Gebrauchs stört, ist wol ein hypochondrisches Wechselfieber von Uebertreibung und Erschlaffung.«128 Als sich die für das Jahr 1785 geplante Reise Hamanns nach Münster und Düsseldorf zunächst zerschlägt, heißt es denn auch entsprechend tröstend von Hamanns Seite: »Sie hätten ein krankes elendes hypochondrisches Geschöpf ein Ecce homo! statt eines vernünftigen Gesellschafters auf dem Halse gehabt.«129 Die Hypochondrie, wie sie in den Briefen Hamanns Gestalt gewinnt, belegt vor allem eindringlich die Doppelgestalt der Krankheit als leiblicher und seelischer Defekt. So spricht Hamann etwa mehrfach von seiner »hypochondrischen Furcht«,130 »hypochondrischer Mismuth«131 läßt ihn die Sympathie seiner Freunde als Belastung empfinden, eine »[h]ypochondrische und mikrologische Aengstlichkeit«132 führt in eine Schaffenskrise als Autor, und als die Briefe Jacobis eine ganze Woche lang (sic!) ausbleiben, ist er angesichts dieses Darstellung läßt deutlich werden, daß Hang und Bekenntnis zur Hypochondrie bereits Hamanns frühe Briefe (»Livländer Hofmeisterjahre«) kennzeichnet. Schings besteht allerdings auf einer Differenz zwischen der – modischen und weitschweifigen – Hypochondrie der Empfindsamen einerseits und der existentiell-konkreten Hamanns andererseits (ebd., S. 278 f., 280 f. u. 431, Fn. 34). Vgl. hierzu auch – gleichsam resümierend – ebd., S. 284: »Er [= Hamann] bleibt ein Fremdkörper in seiner aufgeklärten Umgebung, der er freilich nicht in eine pietistisch-hypochondrische Innerlichkeit entläuft.« 127 Christ: Johann Georg Hamann, S. 234; vgl. auch S. 236. – In diesem Aufsatz analysiert Christ detailreich und in gewohnt einfühlender Manier den Briefwechsel zwischen Jacobi und Hamann. Die Analysen kranken allerdings daran, daß die Hypochondrie nicht vor dem Hintergrund der Hypochondrie-Diskussion des 18. Jahrhunderts gesehen wird und Christ zudem eine nicht weiter problematisierte retrospektive Diagnose (»Strangurie«) stellt. Allgemein deutet Christ (übrigens nicht nur in dieser Publikation) zu individuell, was durchaus zeittypisch ist, und übersieht daher den Konstruktcharakter. – Vgl. zum Problem der retrospektiven Diagnostik: Karl-Heinz Leven: Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose. In: Norbert Paul u. Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 153–185. 128 Brief vom 2.–22.11.1783 (JBW I,3, 226). 129 Brief vom 22.–30.6.1785 (JBW I,4, 124); ganz ähnlich auch im Brief an Herder vom 8.5.1785 (Hamann 5, 429). 130 Brief vom 1.–2.6.1785 (JBW I,4, 105) und vom 27.4.1787 (Hamann 7, 163). 131 Brief vom 22.–25.7.1785 (JBW I,4, 141). 132 Brief vom 9.4.1786 (JBW I,5, 149). – Vgl. hierzu auch den Brief vom 15.6.1786 (JBW I,5, 247).

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»Vacui« »voller hypochondrischer Unruhe«.133 In allen diesen Fällen erscheint die Hypochondrie als mentale, verhaltensdeterminierende Disposition, der ein Hang zur Übertreibung ins Negative eignet. So fordert er denn Jacobi auf: »Habe Gedult mit meinem Hypochonder, der mich reitet, daß ich alles finster und schwarz ansehe«.134 Furcht und Besorgnis, nicht zuletzt die Früchte einer übertreibenden Einbildungskraft, sind die dominierenden Ausdrucksformen solch hypochondrischer Gemütszustände, in denen insbesondere das Maßhalten unmöglich ist. Entsprechend führt Hamann auch sein Schwanken zwischen den Extremen eines ungegründeten Vertrauens und eines ebenso grundlosen Mißtrauens auf seine Hypochondrie zurück: »Ich traue meinen eigenen Sinnen nicht und mein Vertrauen ist ebenso blind, als mein Argwohn. Die Quelle liegt wol in meiner Hypochondrie.«135 In dieser überschäumenden Ungerichtetheit erscheint ihm seine Hypochondrie bisweilen wie »ein Bucephalus, der auf seinen Reiter wartet«.136 Die Kur gegen diese hypochondrischen Symptome (»Zufälle« in der Sprache der Zeit) aber setzt – im Einklang mit jener somatischen Ätiologie, die Esther FischerHomberger nachgezeichnet hat – bei den Verdauungsorganen an. Rezepte und Therapievorschläge werden willig weitergegeben und von den Adressaten dankbar angenommen. So etwa verspricht der Königsberger Kommerzienrat Karl Konrad Fischer Hamann, »ein Recipe das ihm bey seiner Hypochondrie die besten Dienste bisher gethan, womit ich auch also einen Versuch machen will, weil meine Verdauungskräfte noch immer leiden – – «137 Die einzig wahre Kurart aber scheint Hamann Mitte des Jahres 1786 in den Kämpfschen Viszeralklistieren gefunden zu haben. Bereits in seinem Brief vom 26. und 27. April berichtet Hamann Jacobi von den Ergebnissen einer medizinischen Untersuchung durch den Stadtphysikus, Hofrat Metzger, folgendes ganz im Sinne der Kämpfschen Krankheitsäthiologie: »Mezger sagte mir, daß mein Uebel mit Fractur in meinem Gesicht zu lesen wäre. Er hat untersucht und gefunden, daß meine Verdauung geschwächt, die Circulation der Säfte im Unterleibe durch Infarctus gehemmt sey, daher hypochondrische u Nervenzufälle entstehen«.138 In seinem wenige Tage später verfaßten Brief legt er dann seine Quelle offen. Sein Bericht über die Bekanntschaft mit dem Buch des Arztes Johannes Kämpf, Leibarzt des Fürsten von Hessen-Nassau, über die Therapie der Hypochondrie139 sowie die bei dieser Gele-

133

Brief vom 7.–8.6.1786 (JBW I,5, 236). Brief vom 27.4.1788 (Hamann 7, 453 f.). – Vgl. auch den Brief vom 8.8.1787, wo von dem »bösen Daemon meiner Hypochondrie« die Rede ist (Hamann 7, 258). 135 Brief vom 22.–25.7.1785 (JBW I,4, 142). – Vgl. hierzu auch den Brief vom 22.6.–12.7.1786 (JBW I,5, 265). 136 Brief vom 27.4.1787 (Hamann 7, 180). 137 Brief vom 15.1.1786 (JBW I,5, 19 f.). 138 JBW I,5, 168. 139 Johannes Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, 134

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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genheit dargelegte Erklärung seiner Leiden wirft zugleich erhellendes Licht auf den Zusammenhang von mentalen Prozessen und Verdauungsvorgängen: »Meine zweite Erleichterung besteht in der Kenntnis meines bisherigen Uebels und der Hülfsmittel. Der seelige Kanter hat mir oft das Kämpfsche Buch über die Hypochondrie empfohlen, und sich selbst nach dieser Methode zu helfen gesucht. Wie ich den Herrn Mezger besuchte, bitte ich mir das Buch aus, und hab es meinem Nachbar und Freunde Milz zu lesen gegeben, der eben so sehr wie ich von der Methode eingenommen ist, und mit dem ich zur Anwendung mich entschließen werde. […] Wenn die neue Ausgabe des Kämpf hier ist, muß ich es mir selbst anschaffen. Ich bin vollkommen überzeugt, daß blos die Infarctus meiner Eingeweide an meiner sonderbaren Unvermögenheit zu denken Schuld sind, und daß alles oben wie in der Mitte von Schleim, Morast und Cruditäten stockend und verstopft ist. […] Ueber 20 Jahr geseßen, mich gemästet durch einem [sic] brennenden Hunger und Durst, das Gemüth von Leidenschaften gespannt. Hiezu kommt mein Geschmack an fetten, starken, hizigen und scharfen Nahrungsmitteln. Mit meinen Gedanken und ihren vehiculis muß es eben so gehen wie mit meinen Säften und ihren Gefäßen. Alles klebt wie Leim und Kleister unter meinen Händen, daß ich nicht im stande bin wieder zu diluiren den Pech, noch ihn los zu werden. Ich kann nicht anders als unter so groben Bildern davon reden.«140 Der Zusammenhang zwischen Denken und Verdauen wird hier von Hamann unmißverständlich und apodiktisch hergestellt, insofern ein »Infarctus« der »Eingeweide« eine »Unvermögenheit zu denken« notwendig zur Folge habe. Der Begriff »Infarctus« bezeichnet hier »Verstopfungen der Eingeweide«, vornehmlich des Unterleibes, die laut Kämpf in vielerlei Gestalten auftreten können.141 Vor dem Hintergrund humoralpathologischer Vorstellungen – die im übrigen auch in Kämpfs Buch dominieren, aber immer wieder von nerventheoretischen Erklärungsmustern begleitet werden142 – führt Hamann diesen Zusammenhang per analogiam aus: Der Zähigkeit, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie, sicher und gründlich zu heilen. 2. Aufl. Frankfurt und Leipzig 1787 (bis 1787 sind im Karlsruher virtuellen Katalog [Stand: Okt. 2007] für die deutschen Bibliotheken verzeichnet: 1. Aufl. Dessau / [Leipzig] 1784; 1. Aufl. Leipzig 1785; 1. Aufl. Frankfurt / [Leipzig] 1785; 2., vermehrte u. verbess. Aufl. Leipzig 1786). 140 Brief vom 30.4.1786 (JBW I,5, 175). 141 Vgl. zu den Unterscheidungen verschiedener Gattungen und Arten von Infarctus das erste Kapitel in Kämpf: Abhandlung: »Von den Verstopfungen der Eingeweide des Unterleibes oder den Infarctus überhaupt, und von der infarzierenden Materie insbesondere«, vornehmlich S. 2–25. 142 Vgl. Kämpf: Abhandlung, S. 7, 51, 187 u. ö. – Die Vermischung und das Nebeneinander humoralpathologischer und nerventheoretischer Erklärungsmuster zeigt sich auch im Briefwechsel Jacobis. Insofern sehe ich die Ablösung der Konzepte weniger stark konturiert, als Stolberg sie zeichnet (vgl. Stolberg: Homo patiens, S. 236 f.). Im Sinne meines Quellenbefundes urteilt auch Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen

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IV. Leib

Klebrigkeit und Trägheit der Säfte und Gefäße korrespondiert unmittelbar diejenige des Gedankenflußes. Da Hamann zudem nach der gründlichen Lektüre von Kämpfs Werk zu dem Schluß gelangt, daß der »empfindliche Siz meiner Seele […] nach Kämpf nicht weit von der Pfortader« liegt,143 basiert die Analogie auf einem materiellem Substrat, das eine direkte Kausalverbindung herzustellen imstande ist. Seine frühere Wahrnehmung: »Ich kann meinen Kopf nicht anstrengen ohne ein sympathetisches Mitgefühl aller meiner Eingeweide«,144 harmoniert somit vollkommen mit Kämpfs Theorie.145 Hamann, solchermaßen überzeugt von der Kämpfschen Kurart, erklärt den Autor zu seinem »Leibartzt«, berichtet ausgiebig über die Erfolge seiner Verdauung (»hatte den Morgen drauf eine Oeffnung, wie ich sie in langer Zeit nicht gehabt«) und erklärt sich in der Mitteilungsfreudigkeit über dieses Thema als im Einklang mit Kant, der damit »des Morgens seine Besucher unterhält, auch selbst der Gräfin Kayserlingk vor der Tafel nicht ermangelt zu referiren«.146 Im Sinne einer Kur wendet Hamann nunmehr in regelmäßigen Abständen die Viszeralklistiere an147 und weiß schon am 23.

Texten des späten 18. Jahrhunderts. München 2003 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; Bd. 34), S. 69 f. 143 Brief vom 3.–4.5.1786 (JBW I,5, 186). – Vgl. zur zentralen Rolle der Pfortader auch Francesco Paolo de Ceglia: Ipocondria ed isteria nel sistema medico di Georg Ernst Stahl. In: Medicina & Historia 2 (2002) Heft 4, S. 51–86, hier S. 79: »The portal vein is considered ›gate of every disease‹: unsuitable flows of the portal circulation cause the most part of diseases from which people suffer and, among them, the hypochondriaco-hysterical one.« 144 Brief vom 4.–6.2.1786 (JBW I,5, 49). 145 Vgl. aber auch das Zitat aus dem ersten Band von Friedrich Burchard Benekens »Weltklugheit und Lebensgenuß« in Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 406, wo die Analogie zwischen Verarbeitungsprozessen im Gedächtnis und solchen im Verdauungstrakt ebenfalls ausgeführt ist. Vgl. auch ebd., S. 412. 146 Brief vom 3.–4.5.1786 (JBW I,5, 184). – Umgekehrt konnte die Unterbrechung seiner Verdauungsgeschäfte – etwa durch einen unerwarteten Gast – zu extremen Mißstimmungen führen, wie Hamanns Brief vom 3.–7.12.1786 in gewohnt kryptischer Formulierung festhält: »Das große Werk der Verdauung, in dem ich eben begriffen war, verstimmte mich vollends.« (JBW I,5, 422.) 147 So heißt es etwa im Brief vom 22.6.–12.7.1786: »Den 1 Juli fieng ich die Kämpfsche Cur an; den Sonntag brachte mir meine Hausmutter eine glückliche Probe. Ich war vor Freuden außer mir« (JBW I,5, 265). In seinem Brief vom 27.8.–25.9.1786 berichtet er ferner: »Mit dem 12 Lavement machte ich den Versuch sie kalt einzunehmen, welches dem Gefühl nach wohlthätiger für mich ist.« (JBW I,5, 339.) – Daß »Lavements« des Unterleibes eine allgemein übliche Methode im Rahmen der Hypochondrietherapie darstellten, davon zeugt auch ein Brief von Justus Möser an Christoph Carl Ludwig Höpfner vom 7.3.1785: »Unser Herr Großvoigt ist nun von seiner Krankheit wieder hergestellt. Er hat sein corpusculum ganz unter Zimmermanns Zepter gegeben, der seinen Unterleib mit Lavemen(t)s und Ausleerung aller Art dergestalt bestürmt, daß er bereits gewaltig mager geworden ist. Zimmermann verspricht indessen, ihn auf diese Weise binnen wenigen Monaten von allen hypochondrischen Anfällen ganz zu befreyen.« (Justus Möser: Briefwechsel. Neu bearb. von William F. Sheldon in Zusammenarbeit mit Horst-Rüdiger Jarck u. a. Hannover 1992, S. 661.) Vgl. zur therapeutischen Traktierung des Unterleibes auch den Brief Mösers an Friedrich Nicolai vom 2.4.1785

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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September desselben Jahres von »über 80« Anwendungen zu berichten, wobei er ferner davon ausgeht, »mit dem Ende dieser Portion über 100 zu kommen«.148 Mangelnde Therapieerfolge können sein Vertrauen in Kämpf nur vorübergehend erschüttern und führen nicht zu einer gänzlichen Abkehr von dem Verfahren.149 Auch bleiben Hamanns Therapieversuche nicht auf ihn selbst beschränkt. Folgt man seinen Briefen an Jacobi, so entwickelt er sogar einen erheblichen missionarischen Eifer.150 Seine enge Freundin Sophie Marianne Courtan wird, als sie in schlechtem Zustand bei Hamann eintrifft, sogleich unter Mithilfe des Nachbarn und ehemaligen Regimentfeldschers Miltz zu einer Therapie à la Kämpf überredet.151 Auch Jacobi wird von Hamann aufgefordert, das Buch von Kämpf zu erwerben und sich mit seinem Arzt darüber zu beraten, wie bei der Umsetzung am besten vorgegangen werden solle.152 Jacobi verspricht, sich das Buch zu besorgen und die Methode zu versuchen; tatsächlich bestellt er den Titel im Oktober desselben Jahres bei seinem Buchhändler Göschen.153 Doch weiß Jacobi zu diesem Zeitpunkt selbst bereits von zwei erfolgreichen Behandlungen mit den Kämpfschen Viszeralklistieren zu berichten, wobei einer der Patienten sein jüngster Sohn Max ist.154 Diese – relativ unmittelbare – Therapieerfahrung nimmt Hamann zum Anlaß, auch für den im Jacobischen Hause lebenden, todkranken Thomas Wizenmann die Erwägung der Kämpfschen Methode nahezulegen,155 der allerdings zu jener Zeit selbst schon ein feuriger Anhänger derselben gewesen zu sein scheint.156 Vermutlich ist es daher auch weniger der Anregung Hamanns zu verdanken, daß man an Kämpf schreibt und eine Reise zu dem berühmten Arzt plant, damit die Anwendungen unter seiner direkten Auf(ebd., S. 662). Der Briefwechsel Mösers bestätigt im übrigen eindringlich den repräsentativen Charakter des Jacobischen Briefwechsels bezüglich der Hypochondrie. 148 Brief vom 27.8.–25.9.1786 (JBW I,5, 341). 149 Vgl. den Brief vom 5.–26.10.1786, in welchem es heißt: »All mein Kämpfsches Embonpoint ist verschwunden« (JBW I,5, 368) und den Brief vom 4.–9.11.1786, der eine Fortsetzung der Kuren thematisiert: »[…] und hatte auch denselben Tag einen eben so glücklichen Anfang mit den Kämpfschen Visceralmitteln gemacht« (JBW I,5, 391). Vgl. auch im Brief vom 3.–7.12.1786: »Die Lavements wirkten nicht; es war alles mausestille in meinem Unterleibe.« (JBW I,5, 421.) 150 Vgl. neben den im folgenden angeführten Beispielen auch den Brief vom 3.–4.5.1786 (JBW I,5, 186). 151 Vgl. die Briefe vom 5.6.1786 (JBW I,5, 234) und vom 7.–8.6.1786 (JBW I,5, 237). – Vermutlich hat Hamann auch Kant überredet, sich der »Kämpfschen Mittel[]« zu bedienen (vgl. JBW I,5, 299). 152 Vgl. den Brief vom 3.–4.5.1786 (JBW I,5, 184). 153 Vgl. die Briefe vom 15.–16.5.1786 (JBW I,5, 211) und vom 14.10.1786 (JBW I,5, 383). 154 Vgl. den Brief vom 12.5.1786 (JBW I,5, 202). – Die Kämpfsche Kurart ist auch im Brief Garves an Engel vom 12.2.1786 erwähnt: »Möchte doch die Kämpfische Curart, die ich in Ihrem Briefe zum ersten Mal nennen höre, die gute Wirkung haben, welche Sie von ihr erwarten.« (Engel: Briefwechsel, S. 100). Vermutlich findet sie zu jener Zeit allmählich Verbreitung. 155 Vgl. den Brief vom 27.8.–25.9.1786 (JBW I,5, 341). 156 Vgl. von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 75, 79 u. 205.

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sicht durchgeführt werden können. Aus vielerlei Gründen aber kommt diese Reise nicht zustande.157 Jacobi selbst stand dem ganzen Prozedere offenbar recht skeptisch gegenüber.158 Die häufige Empfehlung der Kämpfschen Therapiemethode legt bereits nahe, daß Hamann von einem weiten Verbreitungsgrad der Hypochondrie ausgeht und zudem mit Kämpf die Ursachen fast aller Krankheiten im Verdauungstrakt lokalisiert. Neben dem schon von Jacobi als »sehr hypochonder« eingeschätzten Franz Kaspar Bucholtz159 sind es vor allem Jacobi selbst und – in besonderem Maße – der Königsberger Philosophieprofessor Christian Jacob Kraus, die von Hamann als hypochondrisch beschrieben werden.160 Mit dem Tode Hamanns im Juni 1788 verlieren sich die Spuren der Hypochondrie im Briefwechsel Jacobis. Zwar werden auch im weiteren etwa noch Georg Forster, Bucholtz und Johann Georg Schlosser als Hypochonder bezeichnet – bzw. sprechen selbst von ihrer Hypochondrie161 – aber die sie betreffenden Briefe aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts signalisieren bereits einen Bedeutungswandel des Begriffs: »Hypochondrie« oder »hypochondrisch« scheint zum bloßen Schlagwort verkommen zu sein, das für eine irgendwie unangenehme Gemütsstimmung oder Körperverfassung, ein unakzeptables Verhalten oder üble Laune steht.162

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Vgl. die Briefe Jacobis an J. G. Hamann vom 22.12.1786 (JBW I,5, 440) und vom 12.2.1787 (Hamann 7, 110) sowie den Brief an G. L. Spalding vom 27.2.1787 (von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 218). 158 Vgl. ebd.: Kämpf »bestärkte den armen Kranken [= Wizenmann] in seinem Vorurtheil, daß man ihm das Uebel aus dem Unterleib auf die Lunge getrieben hätte.« 159 Brief an J. G. Hamann vom 26.5.1786 (JBW I,5, 223). – Vgl. hierzu den Brief von J. G. Hamann vom 2.12.1787 (Hamann 7, 359), aber auch den Brief von J. K. Bucholtz an Jacobi vom 14.5.1786 (JBW I,5, 209). 160 Vgl. zu Jacobi den Brief vom 30.11.–4.12.1785 (JBW I,4, 256); zu Kraus die Briefe vom 30.4.–1.5.1786 (JBW I,5, 177) sowie vom 23.–24.8.1786 (JBW I,5, 334). – Ferner registriert Hamann in seinem Brief vom 7.–8.6.1786 positiv, daß auch Heinrich Matthias Marcard die Hypochondrie aus eigener Erfahrung kennt (JBW I,5, 237 f.). 161 Vgl. die Briefe von J. G. A. Forster vom 1.11.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 364) und vom 5.8.1792 (ebd., Bd. 17, S. 157), an A. von Gallitzin vom 29.5.1792 (Pierre Brachin: Quelque lettres inédites de Jacobi à la princesse de Gallitzin. In: Etudes Germaniques 2 [1947], S. 144–151 u. 249–258, hier S. 257) und an G. A. Jacobi vom 7.–8.8.1792 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 162 Zum Vergleich sei hier auch auf die Charakteristik Meckels im Brief von Johann Reinhold Forster (= der Vater von Georg Forster) an S. T. Soemmerring vom 14.1.1787 verwiesen: »Meckel ist hypochondrisch und hat keine Weltkenntniß, sagt alles zu plump, hütet sich nicht in Gegenwart von Goldhagens Anhängern, Dinge zu sagen, die mit Zusatz eines Wortes der Sache einen bösen Anstrich geben.« (Soemmerring: Werke, Bd. 19/II, S. 504.) – Georg Forster schreibt im Brief an Soemmerring vom 16.3.1788: »Meine Krankheit, die mir schon im Leibe steckte, eh’ ich sie bekam, machte mich in Berlin unmuthig, hypochondrisch, untauglich zu allem« (Forster, Werke, Bd. 15, S. 131).

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Dennoch hat sich die von Hufeland beklagte Tendenz erhalten, gerne zu leiden: Leiden galt als Zeichen von Wärme, Gefühlsbetontheit – Empfindsamkeit eben. Nur ein leidender Mensch war somit ein guter Mensch.163 Folglich hatte man sich in seinen Briefen als besonders umfänglich leidende Person darzustellen. Die Martern großer Empfindlichkeit wurden dabei, gemäß einem bereits bei Adelgunde Gottsched begegnenden Topos der Empfindsamkeit, heroisch in Kauf genommen.164 So schreibt Jacobi noch im Jahre 1794 an Reinhold: »Ach die schrecklich kalten Menschen, könnten sie mir doch nur eine geringe Dosis von ihrem Uebermaße geben – – – Nein, ich will sie nicht! Will lieber unruhig, beklemmt und leidend fortleben wie bisher, sterben, wie ich gelebt habe.«165 Und Julia von Reventlow ließ ihren Gast, Gräfin Stolberg, im Hinblick auf ihre Leiden wissen: »[…] ich möchte sie doch nicht um das geringste vermindern, wenn ich es auch könnte«.166 Selbst Lichtenberg, der aller Empfindsamkeit kritisch gegenüberstand, weist den Verdacht, es gehe ihm gut, in einem Brief an Jacobi weit von sich – vermutlich übrigens auch, um sein NichtSchreiben vor Jacobi zu entschuldigen: »Ihr lieber Sicilianer [= Graf Stolberg] hat mich am Ende des vorigen Jahres mit einem Besuch auf die angenehmste Weise überrascht. Er wird Ihnen von meinem Gesundheitszustande vielleicht eine vortheilhaftere Schilderung gemacht haben, als die meinige; aber trauen Sie derselben nicht. Es war bloß Einwirkung des begeisterten Sicilianers selbst, was mich auf ein paar Viertelstündchen aufrichtete. Ich befand mich in dem Falle mancher paralytischer Personen, die die Glieder bewegen können, so lange sie elektrisirt werden, und dann wieder zusammenfallen.«167 Im Kontext von Hypochondrie und Empfindsamkeit kam den Nerven eine zentrale Rolle zu. Reizbare Nerven waren nach Whytt die Ursache der Hypochondrie; nicht umsonst war seinem Werk M. Alexandre Monros Exposition anatomique des nerfs beigefügt.168 Reizbare Nerven waren aber auch die Voraussetzung für Empfindsamkeit, 163

Vgl. hierzu auch im Brief von Justus Möser an Christian Garve vom 11.2.1784: »Der Hypochondrist bleibt doch immer der feinste Anatomist in der Moral, und dies vielleicht auch nur, um so viel mehr zu leiden.« (Möser: Briefwechsel, S. 654.) Insofern ist »bodily sensibility« immer »a double-edged sword« (Vila: Enlightenment and Pathology, S. 5). – Zur Äquivalenz von Empfindsamkeit und Tugend vgl. auch oben das Kapitel II.1. 164 Vgl. Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1969 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; Bd. 11), S. 13. 165 Brief vom 18.–26.2.1794 (Reinhold: Leben und Wirken, S. 239). – Entsprechende Beispiele für den englischen Sprachraum finden sich zuhauf bei Mullan: Sentiment and Sociability. 166 Brief von Sophie zu Stolberg vom 11.2.1794 (Zoeppritz I, 175). 167 Brief vom 6.2.1793 (AB II, 125 f.). 168 Vgl. JBW II,1, 306.

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und so wollte jeder, wie Hufeland feststellte, »schwache, reitzbare, delicate Nerven« haben – auch Jacobi. »Pinto hat nicht so gar Unrecht«, heißt es daher in einem Brief an Wieland aus dem Jahre 1777, »die Nerven, die Nerven! Es ist eine fatale Sache darum, zumal wenn man solche Ankertaue von Nerven hat, wie ich, und dabei so reizbar, wie eine Drahtsaite; es ist gar kein Rath bei einer solchen verzweifelten Organisation.«169 Einem Brief Heinses aus Italien läßt sich entnehmen, daß überempfindliche Nerven zu Jacobis Hauptgebrechen zu zählen sind.170 Aber die Nerven waren, wie gesagt, auch das Organ jeglicher Empfindung. Wer keine empfindsamen Nerven besaß, war ein kalter und deshalb ein schlechter Mensch. Wer dazugehören wollte, der mußte über Nerven verfügen, die sich jederzeit in Erregung versetzen ließen, und so durchzieht die Rede von den Nerven den empfindsamen Diskurs des Briefwechsels wie ein roter Faden. Schlechterdings alles schien sich am Grad der vermittelten Gefühlsintensität, deren Organ die Nerven waren, messen lassen zu müssen. Nicht nur das moralische, auch das ästhetische Urteil war dem unterworfen. Literatur gefiel in dem Maße, wie sie fähig war, heftige Gefühlsaufwallungen hervorzurufen, wie nicht zuletzt die Aufnahme des Clavigo durch Jacobi zeigt: »In der That begriff ich nicht, wie das Stück noch weiter fortgehen könnte; wähnte, alle Nerven meines Herzens seyen verbraucht, nun müsse das Herz mir erkalten; aber da faßt er mir sie bündelweise, frische, unberührte Nerven, und hieß mein Herz glühen und schlagen, immer heftiger und höher, bis es bebte, bis es brach und ich verging.«171 Die Nerven waren derart omnipräsent, daß George Rousseau sogar von »discourses of the nerve« spricht,172 die er als auf die oberen Gesellschaftsschichten beschränkte Abgrenzungsdiskurse charakterisiert. Die Medizin war demnach auf der Höhe der Zeit, wenn sie Diagnosen wie »Nerven Waßersucht« oder »Nervenfieber« stellte.173 Mit dem Hypochonder aber war eine Figur geschaffen, die alles dies inkarnierte, in der die Diskurse zusammenliefen und ihren adäquaten Ausdruck fanden. Doch 169

Brief vom 8.–11.6.1777 (JBW I,2, 62). – Zu diesem Denkmodell vgl. auch Stolberg: Homo patiens, S. 237 f. 170 Vgl. den Brief Heinses aus Rom vom 13.10.1782 (JBW I,3, 61). In diesem Brief zeichnet Heinse für den »Pempelforter Kreis« ein Bild der Krankheiten seiner Mitglieder. – Seine kränkliche Konstitution thematisiert Jacobi auch im Brief an J. G. A. Forster vom 3.2.1789: »Eine unglaubliche Reizbarkeit der Nerven, oder eine äußerst bewegliche Schärfe, welche den Reiz verursacht, ist wohl an allem Schuld.« (AB I, 496 f.) 171 Brief an C. M. Wieland vom 27.8.1774 (JBW I,1, 252). 172 George Rousseau: Discourses of the Nerve. In: Frederick Amrine (Hg.): Literature and Science as Modes of Expression. Dordrecht u. a. 1989 (= Boston Studies in the Philosophy of Science; Bd. 115), S. 29–60. Vgl. auch ders.: Cultural History, S. 57. 173 Briefe an A. vom Gallitzin vom 12.11.1790 (Brachin: Quelques lettres, S. 254) und an G. A. Jacobi vom 4.11.1789 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf) sowie den Brief von F. L. zu Stolberg vom 28.12.1791 (Zoeppritz I, 159). – Vgl. auch den Brief an J. G. A. Forster vom 4.– 5.10.1781 (zus. mit S. H. Jacobi), wo von »einer gewissen Nervenschwäche, hauptsächlich am Gehör« die Rede ist (JBW I,2, 346).

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wie konnte gerade im 18. Jahrhundert, im »Zeitalter der Vernunft«, eine solche Gestalt zur Identifikationsfigur der den Aufklärungsprozeß maßgeblich vorantreibenden »gebildeten Stände« werden? Wo liegen die Ursachen für die Hypochondrie als Modekrankheit der Aufklärungszeit?

2.4 Die Ursachen der Hypochondrie 2.4.1 Zeitgenössische Diagnosen Lothar Müller hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Hypochondrie »die erste Zivilisationskrankheit [war], die als solche reflektiert wurde und ins Bewußtsein der Zeitgenossen einging«.174 Tatsächlich gelten im 18. Jahrhundert als Ursachen der Hypochondrie – neben einigen psychischen Motiven175 – vor allem die Errungenschaften des Jahrhunderts, des zivilisatorischen Fortschritts selbst und die mit ihm verbundenen neuen Lebensweisen. Konservative Zeitkritik geht hierbei eine Allianz ein mit einer an bürgerlichen Werten orientierten moralerzieherischen Absicht, die – typisch für die universalistische Tendenz der Aufklärung – prinzipiell keinen Lebensbereich ausspart.176 Das vollkommenste Beispiel hierfür bietet wohl Johann Ulrich Bilguers Darstellung der Ursachen der Hypochondrie: »Ich sehe aber als Hauptquellen des heutiges Tages so allgemein herrschenden Hypochondrie an: die Pracht; die Schwelgerey, und die überhaupt schlechte Lebensordnung; den Müßiggang; die heutiges Tages vorhandene […] überwiegende Menge solcher Personen, welche sich mit solchen Geschäfften abgeben, deren Ausübung vieles Sitzen, oder eine preßhafte gezwungene und unnatürliche Stellung des Leibes […] erfordert; die heutiges Tages übertriebene Begierde, seinen Stand zu verbessern, das zu frühzeitige Verheyrathen; die unglücklichen Ehen; den ehelosen Stand oder das Cälibat, über das 25ste bis 30ste Jahr […]; das heutiges 174

Müller: Die kranke Seele, S. 93; vgl. auch Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 39 sowie Carl Haffter: Die Entstehung des Begriffs der Zivilisationskrankheiten. In: Gesnerus 36 (1979), S. 228–237. 175 Angeführt wurde in diesem Zusammenhang vor allem die Entlastungsfunktion für den Betroffenen selbst: Die Hypochondrie diene dazu, viele »Unarten des Herzens« zu entschuldigen (vgl. Johann August Unzer: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift, 2 [1759], S. 85 f.; zit. nach Bilger: Üble Verdauung, S. 88; vgl. auch Müller: Die kranke Seele, S. 101). Auch wollte nach Übereinkunft der kritischen Zeitgenossen deshalb jeder hypochondrisch sein, weil die Hypochondrie als Gelehrtenkrankheit galt – und wer wollte nicht gelehrt sein? (Vgl. Unzer: Der Arzt, 4 [1760], S. 476; zit. bei Bilger: Üble Verdauung, S. 38; vgl. auch Bilguer: Nachrichten an das Publicum, S. 196 f.; zit. bei Fischer-Homberger: Hypochondrie, S. 42.) 176 Vgl. hierzu auch Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a. M. 1975, S. 72.

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Tages […] im Verborgenen schleichende, und daher auch um so mehr sich ausbreitende venerische Gift; […] die heutiges Tages, und besonders in den Städten, fast allgemein herrschende so gar sehr fehlerhafte Erziehung der Kinder, sowohl im moralischen als physikalischen Verstande; der so allgemein herrschende Misbrauch des Zuckers und Backwerks, des Thee- Caffee- Schoccolade und Brandtweingetränkes, wie auch des Rauchtabaks; die zu große Ansträngung der Seelenkräfte […]; die fast allgemein herrschende stolze Nachahmung oder Affectation der Personen von geringen, mittlern und ungelehrten Stande, um entweder den Vornehmen oder den Gelehrten, wie in vielen andern Stücken, also auch in Ansehung der Zärtlichkeit, der Weichlichkeit und den kränklichen Leibesumständen gleich zu seyn«.177 Hier ist alles versammelt, was die neue bürgerliche Lebensweise prägt und die Wandlungsprozesse des 18. Jahrhunderts kennzeichnet: die zunehmende Durchlässigkeit der Standesgrenzen, die Entstehung neuer, die Schicht des Bildungsbürgertums kennzeichnender Berufe und der mit ihnen einhergehenden neuen Arbeits- und Lebensweise, die Urbanisierung und damit das Leben in den Städten, ein neuer bürgerlicher Wohlstand, nicht zuletzt verbunden mit den typischen Rausch- und Genußmitteln des Bürgertums – solchen nämlich, die die Betriebsamkeit (»Industrie«) des Bürgers nicht beeinträchtigen, sondern befördern.178 Die Fahndung nach den Ursachen der Hypochondrie ließ auch eine weitere bemerkenswerte Neuerung des 18. Jahrhunderts, die auf das engste mit jenen den Prozeß der Aufklärung vorantreibenden bürgerlichen Berufsgruppen verbunden war, nicht außer acht: den Siegeszug des Buches. Der expandierende Buch- und Zeitschriftenmarkt, die »Leserevolution« des 18. Jahrhunderts, hat den Wandel der Lebensweise befördert und ist dessen Ausdruck. Und eben auf sie, die neuen Medien, fiel der Verdacht: zuviel Lektüre befördere die Hypochondrie nicht nur wegen der mit ihr verbundenen sitzenden Lebensweise – mit den bekannten Folgen für den Verdauungsapparat –, sondern sei auch wegen des einseitigen und übermäßigen Gebrauchs der Geisteskräfte sowie der Erregung von Einbildungskraft und Phantasie durchaus schädlich.179 Hier wie überall gilt das diätetisch verordnete Maßhalten als Allheilmittel.180 Enthalten sollte man sich dabei vor allem jener Lektüre, die den schädlichen Hang noch 177

Bilguer: Nachrichten an das Publicum, S. 8 f. Vgl. zur Analyse der sozialgeschichtlichen Hintergründe für die Hypochondrie auch Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 415 f.; zu den Genußmitteln vor allem S. 415: »Im Unterschied zum Alkohol sind diese Genußmittel (Kaffee, Tee, Tabak; C.G.) nämlich weniger Ausstattungen des Müßiggangs als vielmehr Förderer der ›Industrie‹, des unentwegten Beschäftigtseins. Sie erlauben den ›Rausch mit klarem Kopf‹, wie W. F. Haug in der ›Kritik der Warenästhetik‹ (1971) feststellt, und sind daher die Genußmittel des Bürgertums par excellence geworden.« Vgl. auch ebd., S. 422 f. 179 Vgl. Müller: Die kranke Seele, S. 99 f. 180 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 37. 178

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befördert: Bücher über die Hypochondrie181 und empfindsame Romane. Auf der anderen Seite kann aber – in einem quasi homöopathischen Sinne – die Krankheitsursache selber wiederum zum Heilmittel werden. So sah Christoph Martin Wieland in seinem Roman Don Sylvio von Rosalva (1764) ein Mittel gegen Hypochondrie und Spleen.182 Diese paradoxe Figur ist ein typisches Kennzeichen des aufklärerisch-empfindsamen Diskurses. Auch die Vernunft selbst unterliegt derartig ambivalenten Bestimmungen. Auf der einen Seite entlarvt beispielsweise Kant in seinem berühmten Briefwechsel mit Hufeland die Hypochondrie, unter der er selbst litt, als »Geschöpf der Einbildungskraft«,183 von dem man nur mittels vernünftiger Selbsterkenntnis geheilt werden kann.184 Auf der anderen Seite fungiert in Moritz August von Thümmels Roman Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich im Jahre 1785–1786, der die Genesung des Helden von der Hypochondrie zum Thema hat, gerade die Suspendierung der Vernunft als Heilmittel. Für Thümmel bedarf es offenbar »einer Diätetik des Denkens und Studierens, wenn die Aufklärung nicht durch sich selbst krank werden soll«. Die Gesundheitsreise ist dementsprechend als »Urlaub von der Aufklärung« konzipiert.185 Die zeitgenössische Diskussion über die Hypochondrie fokussierte demnach in der Hauptsache drei mögliche Krankheitsursachen: zum ersten die Wandlungsprozesse der Zeit und insbesondere die mit ihnen sich durchsetzende, neue bürgerliche Lebensweise, zum zweiten eine einseitige Ausrichtung auf die Vernunft und zum dritten die Verschriftlichung der Kultur. Diesen schon von den Zeitgenossen exponierten Ursachen soll im folgenden genauer nachgegangen werden.

2.4.2 Pathologie des Bürgers Die zeitgenössischen Stellungnahmen zu den Ursachen der Hypochondrie haben offenkundig werden lassen, daß dieselbe vor allem mit der neuen bürgerlichen Lebensweise in Verbindung gebracht wurde. Ganz im Einklang hiermit herrscht in der Forschungsliteratur zum Phänomen der Hypochondrie bzw. Melancholie im 18. Jahr-

181

Vgl. Nassen: Trübsinn und Indigestion, S. 180 f. Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 36 f. sowie Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 197. 183 Kant: Macht des Gemüths, S. 717. 184 Vgl. auch Nassen: Trübsinn und Indigestion, S. 182 f. 185 Müller: Die kranke Seele, S. 127. – Interessanterweise empfiehlt sogar Kant selbst unter gewissen Umständen bzw. zu gewissen Zeiten eine »Diät im Denken« (Kant: Macht des Gemüths, S. 731). Vgl. auch Heinses entsprechende Empfehlung an Jacobi in seinem Brief vom 27.10.1781 (JBW I,2, 365). – Zu Thümmels Roman vgl. Heinz: Hypochonder auf Reisen. 182

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hundert186 weitgehend Konsens darüber, daß es sich um eine spezifisch bürgerliche Krankheit handelt: Die Hypochondrie ist die Krankheit des Bürgers par excellence. In seiner Psychiatriegeschichte Bürger und Irre entwickelt Klaus Dörner diese These im Zusammenhang seiner Analyse der Sydenhamschen Hysteriekonzeption: »Er [= Sydenham] identifiziert weitgehend – was das klinische Bild angeht – die bei Frauen vorherrschende Hysterie mit der Hypochondrie, ihrem Äquivalent bei Männern, und mit der Melancholie. […] Frei von Hysterie sind fast nur Frauen ›such as work and fare hardly‹. Umgekehrt sind von den Männern vor allem von dieser Störung befallen solche, ›who lead a sedentary life and study hard‹, also Männer mit einer Tätigkeit in kaufmännischen oder sonstigen Büros und in akademischen oder literarischen Berufen. Damit ist mit dem Begriff der Hysterie ziemlich genau der Bereich der ökonomischen und der literarisch-humanen, d. h. für einen Akademiker sichtbaren bürgerlichen Öffentlichkeit gedeckt: der typische Bürger leidet auch an Hysterie bzw. Hypochondrie.«187 Doch nicht nur die Hypochondrie, auch der Kampf gegen die Hypochondrie ist zutiefst bürgerlich. Diesen Aspekt betont Ulrich Nassen in seiner Studie »zum medizinischen und literarischen Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert«. Die in den Stellungnahmen der Zeitgenossen zum Ausdruck kommende Kritik an der neuen Lebensweise sei nicht nur – wie Hans-Jürgen Schings behauptet – ein »bürgerlicher Sündenkatalog«,188 sondern bezeichne exakt das »negative Verhalten des homo oeconomicus des 18. Jahrhundert[s]«.189 Die diätetische Forderung nach Mäßigung und Haushaltung mit der vorhandenen Lebenskraft als Panazee190 steht, so Nassen, für die »Ökonomie der rationalen Beschränkung der Begierde«,191 die im Frühkapitalismus vollends zum Durchbruch gelangt.192 Doch ist hiermit, darin ist Stefan Bilger 186

Eine umfassende kritische Würdigung des Forschungsstandes geben Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook XIII (1981), S. 253–277 sowie Bilger: Üble Verdauung, S. 10–19. 187 Dörner: Bürger und Irre, S. 37. 188 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 71. 189 Nassen: Trübsinn und Indigestion, S. 175. 190 Vgl. insbesondere Hufelands Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern; hierzu Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 392. – Diese ökonomische Sicht wurde vor allem virulent im Kontext der Onanie-Debatte. Vgl. etwa Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 76 ff. 191 Nassen: Trübsinn und Indigestion, S. 175. 192 Vgl. hierzu auch Susan Sontags Analyse der Tuberkulose: »Wie Freuds mangelökonomische Theorie der ›Triebe‹ sind die Phantasien über Tb, die im letzten Jahrhundert entstanden sind (und die sich weit bis in unseres hinein gehalten haben) ein Nachhall der mit der frühkapitalistischen Akkumulation verbundenen Verhaltensweisen. Man hat eine begrenzte Energiemenge, die in angemessener Weise verbraucht werden muß. […] Die Energie kann wie Ersparnisse erschöpft werden,

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zuzustimmen, noch keineswegs die Attraktivität der – auf diese Weise doch negativ konnotierten – Diagnose erklärt.193 Auf den ersten Blick scheint die von Wolf Lepenies vertretene, äußerst einflußreiche Kompensationsthese,194 die sogar Eingang in die Schulbücher gefunden hat,195 ein diesbezügliches Erklärungspotential zu bieten. Sie besagt, daß alle Phänomene der Innerlichkeit und Empfindsamkeit, die das Deutschland des 18. Jahrhunderts kennzeichnen, Ausgeburten der politischen Ohnmacht des Bürgertums sind: Den mangelnden politischen Einflußmöglichkeiten folgt die kompensatorische Flucht in Literatur und Kunst, in Gefühlskult und – nicht zuletzt – Hypochondrie. Gemäß dem heuristischen Grundsatz der Psychologie »Die Krankheit ist die Lösung.« wäre demnach die Attraktivität der Hypochondrie gewissermaßen erklärt. Die These von Lepenies ist jedoch verschiedentlich der Kritik unterzogen worden.196 So zeigte beispielsweise Hans-Jürgen Schings in seiner auf einer breiten Materialbasis beruhenden Arbeit zu Melancholie und Aufklärung, daß die aufgeklärten Bürger selbst die schärfsten Kritiker von Hypochondrie und Empfindsamkeit waren; nichtsdestoweniger galt sie auch Schings als bürgerliches Phänomen: »Hypochondrie ist verbürgerlichte Melancholie, der bürgerlich-empfindsame Beitrag des 18. Jahrhunderts zur Geschichte der Melancholie.«197 Die These von Lepenies erweist sich in der Tat als kaum geeignet, die komplizierten, paradox anmutenden Vorgänge der Aufklärungszeit hinreichend zu erklären.198 Die beliebte These vom deutschen Sonderweg199 scheint im übrigen auch deshalb kann ausgehen oder durch rücksichtsloses Ausgeben aufgebraucht werden. Der Körper wird beginnen sich selbst ›aufzuzehren‹, der Patient wird ›schwinden‹. […] Der Frühkapitalismus geht von der Notwendigkeit geregelten Ausgebens, Sparens, Haushaltens, von Disziplin aus – eine Ökonomie, die auf der rationalen Beschränkung der Begierde beruht. Tb wird in Bildern beschrieben, die das negative Verhalten des homo oeconomicus des 19. Jahrhunderts zusammenfassen: Auszehrung; Schwinden; Verschwenden von Vitalität.« (Susan Sontag: Krankheit als Metapher. München u. a. 1978, S. 67 f.) 193 Vgl. Bilger: Üble Verdauung, S. 33. 194 Vgl. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. 195 Vgl. Mauser: Melancholieforschung, S. 266. 196 Einen Hinweis auf den Grund der Verfehlung gibt Begemann, der, geradezu beiläufig, von »der durch kaum eine Materialberührung verunreinigten These Lepenies’ zur ›bürgerlichen Melancholie‹« spricht (Begemann: Furcht und Angst, S. 166). – Im Hinblick auf die Empfindsamkeit wird die These kritisiert bei Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 143 und Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 99. 197 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 70. 198 Vgl. Mauser: Melancholieforschung, S. 266; im folgenden dann auch zur weiteren Diskussion der Kompensationsthese. – Schon Lepenies’ Vorabqualifizierung der »›Zersplitterung‹ und Differenzierung des Phänomens« als von »sekundärer Natur« scheint darauf zu verweisen, daß die Komplexität der Vorgänge nicht auf die Eskapismus-These reduziert werden kann bzw. jene mit dieser nicht hinreichend erklärt werden können. 199 Vgl. Domenico Losurdo: Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage,

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fragwürdig, weil die Hypochondrie in einem weitaus stärkeren Maße mit einem anderen europäischen Land, nämlich mit England, verbunden ist und auch von den Zeitgenossen mit dem als zivilisiert und frei geltenden England assoziiert wurde. Es ist kein Zufall, daß die Mehrzahl der entscheidenden Schriften zur Hypochondrie in England entstanden und dort große Verbreitung fanden. Folgt man Fischer-Homberger, so verbirgt sich sogar unter George Cheynes Buch The English Malady eine Darstellung der Hypochondrie. Den nationalen Charakter begründet Cheyne folgendermaßen: »The moisture of our air […] the richness and heaviness of our food, the wealth and abundance of the inhabitants (from their universal trade), the inactivity and sedentary occupations of the better sort (among whom this evil mostly rages) and the humour of living in great, populous and consequently unhealthy towns, have brought forth a class and set of distempers, with atrocious and frightful symptoms, scarce known to our ancestors, and never rising to such fatal heights, nor afflicting such numbers in any other known nation. These nervous disorders being computed to make almost one third of the complaints of people of condition in England«.200 Die englische Herkunft der Hypochondrie legt – und dies im Gegensatz zur Kompensations- / Eskapismustheorie – nahe, daß Entstehung und Verbreitung derselben im Zusammenhang mit den in England besonders frühzeitig entwickelten Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden müssen, beispielsweise mit dem Aufkommen kapitalistischer Produktionsweisen und Verkehrsformen, mit religiös bedingten Verhaltensmustern (Puritanismus) sowie mit frühen Formen von Individualismus und Privatheit. In diesem Sinne argumentiert auch Bilger gegen die Kompensationsthese, daß politischer Handlungswille erst den Endpunkt eines Weges markiert, der sich als Selbstkonstitution durch Selbstthematisierung beschreiben läßt. Die Hypochondrie – aufgefaßt »als Modell individueller Selbstreflexion schlechthin«201 – ist mit diesen Prozessen engstens verflochten.

zwischen Revolution und Reaktion. Köln 1989 (= Studien zur Dialektik), hier insbesondere das X. Kapitel »Die ›Hypochondrie‹ als deutsche Nationalkrankheit«. Den Hinweis auf Losurdo verdanke ich Walter Jaeschke. – Zu gleichwohl vorhandenen – allerdings mit Vorsicht zu formulierenden – nationalen Differenzen vgl. etwa Stolberg: Homo patiens, S. 219 f 200 George Cheyne: The English Malady: or, a treatise of nervous diseases of all kinds, as spleen, vapours, lowness of spirits, hypochondriacal, and hysterical distempers, etc. New York 1976 (Faksimile der Ausgabe London u. Dublin 1733), S. I f. (Hervorhebung von mir; C.G.) – Anders als Fischer-Homberger identifiziert Schreiner die »englische Krankheit« als »Melancholie« (vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 13). 201 Bilger: Üble Verdauung, S. 36.

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2.4.2.1 Einübungsformen hypochondrischer Selbstthematisierung Begibt man sich auf die Suche nach den Spuren exzessiver Selbstthematisierung, so findet man sie in den besonders in England früh und zahlreich entstehenden Tagebüchern, Autobiographien und Briefen. Diese Quellen sind nicht zufällig auch Hauptfundus jener neueren Medizingeschichtsschreibung, die dem Umgang mit Krankheit aus der Patientenperspektive folgt.202 Eine Analyse solcher Quellen, wie sie in hervorragender Weise beispielsweise Andrew Wear und Johanna Geyer-Kordesch vorgenommen haben, zeigt dabei das offensichtlich enge Verhältnis von Religion und Selbstthematisierung. Der Körper erlangte in diesem Kontext zweifache Bedeutung. Als Werk und Tempel Gottes wurde Körperpflege – im weitesten Sinne als Sorge um den Körper verstanden – zum Gottesdienst: »Whereas our bodies are God’s workmanship, we must glorify him in our bodies, and all the actions of body and soul, our eating and drinking, our living and dying, must be referred to his glory: yea we must not hurt or abuse our body, but present them [sic] as holy and living sacrifices unto God.«203 Darüber hinaus konnte der Körper als Haus204 und Werkzeug205 der Seele zum unmittelbaren Ausdruck und Ort zutiefst religiöser Erlebnisse werden. Insbesondere der kranke Körper wurde zum Zeichen spiritueller Fortschritte und göttlicher Offenbarung: »The experience of illness they [= the Pietists] are able to detail so well shows how their perception of physical ›signs‹ (symptoms) was linked to the interpretation of spiritual state. […] Illness and the body’s state were sign languages, motifs in the spiritual tapestry out of which salvation was woven.«206 Krankheit war das in den Körper eingeschriebene Wort Gottes. Sie gehörte zu den Zeichen, die Gott zur Ver-

202

Programmatisch: Roy Porter: The Patient’s View. Doing Medical History from Below. In: Theory and Society 14 (1985), S. 175–198. Einen Überblick gewähren: Eberhard Wolff: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung. In: Paul / Schlich: Medizingeschichte, S. 311–334 sowie Katharina Ernst: Patientengeschichte – Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie. In: Ralf Bröer (Hg.): Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Pfaffenweiler 1999 (= Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 9), S. 97–108. 203 William Perkins: A Golden Chaine. London 1612, S. 153; zit. nach Wear: Puritan Perceptions, S. 63; vgl. auch S. 62. – Zum Tempel als Metapher für den menschlichen Körper innerhalb des Pietismus vgl. auch Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 212 f. Lee führt u. a. Beispiele von Joachim Lange und Gerhard Tersteegen an. – Gemäß Gerd Theißen kann nach der paulinischen Anthropologie nur der »Leib« als »Tempel Gottes« gelten, das »Fleisch« jedoch nicht (vgl. Mellinger: Fleisch, S. 88). 204 Vgl. Johanna Geyer-Kordesch: Cultural Habits of Illness. The Enlightened and the Pious in Eighteenth Century Germany. In: Porter: Patients and Practitioners, S. 177–204, hier S. 178 u. 196. 205 Vgl. Wear: Puritan Perceptions, S. 63. 206 Geyer-Kordesch: Cultural Habits, S. 197; vgl. auch Wear: Puritan Perceptions, S. 97.

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fügung standen, um den rechten Weg zu weisen. Da in der Sprache Gottes Sünde und Krankheit unmittelbar zusammengehören – »by God’s word […] sickness comes ordinarily and usually from sin«207 – diente sie vor allem als Warnung oder Strafe. »The effect was the same: to change behaviour, and to act as a barometer to one’s conscience.«208 Es wird noch zu zeigen sein, daß auch die Hypochondrie mit disziplinierenden Prozessen engstens verknüpft ist. Aus den Analysen von Wear und Geyer-Kordesch erhellt somit, daß bereits die frühen, religiös motivierten Ego-Dokumente Körper und Krankheit in einer Weise exzessiv thematisieren, wie dies auch für die Hypochondrie kennzeichnend ist. Zwangsläufig entstehen in diesem Umfeld frühe Selbstzeugnisse von Hypochondern.209 Die religiöse Bekenntnisliteratur, die sich bereits als Ort der Konstituierung über Literalität vermittelter moderner Subjektivität sowie der modernen, bürgerlichen, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmenden Werteordnung erwiesen hatte,210 ist somit auch jenes Medium, in welchem die Hypochondrie eingeübt wurde. Die säkulare Variante der Rechtfertigungsriten – ein den religiösen Formen analoges Bekenntnisritual – schlug übrigens im Rahmen gesundheitspolitischer Maßnahmen kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz vor – eine »Generalbeichte ad rem medicam«: »Es müssen gewisse Zeiten des Jahres sein darinnen ein jeder Mensch in re medica beichten und alles sagen und die Zeit zuvor aufzeichnen soll, was ihm nur ein wenig deucht bedenklich zu sein.«211

2.4.2.2 Krankheit als Exkulpation des Bürgers Auch der Briefwechsel Jacobis offenbart den engen Zusammenhang von bürgerlicher ›Ideologie‹ und Hypochondrie. Einer der wohl neben dem kranken Körper hervorstechendsten und häufigsten Topoi des Briefwechsels ist der des Zeitmangels aufgrund übermäßiger Arbeitsbelastung. In kaum einem Brief fehlt der Hinweis auf die unmöglich zu bewältigende Arbeitsmenge und die nicht mehr zu steigernde Arbeitsleistung, auf leidige Erledigungen und Geschäfte sowie unfreiwillige Zerstreuungen, die von der ›eigentlichen‹ Arbeit abhalten. Man ist ständig in Unruhe und Bewegung, sehnt sich nach Ruhe und Muße aber nur, um in jener Zeit endlich die Arbeiten voll207 Perkins: A Golden Chaine, S. 501; zit. nach Wear: Puritan Perceptions, S. 61. – Vgl. hierzu auch Wolfram Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 248 f. 208 Wear: Puritan Perceptions, S. 72. 209 Vgl. den Fall Richard Baxters (1615–1691) ebd., S. 90–99. 210 Vgl. oben das Kapitel I.3.3.1. 211 Gottfried Wilhelm Leibniz: Directiones ad rem medica [sic] pertinentes (1671/72); zit. nach Barthel: Medizinische Polizey, S. 115 u. 246.

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bringen zu können, zu denen Ruhe und Muße notwendig sind. Nie einen müßigen, untätigen Augenblick zu kennen, gilt als ideale Lebensform. So schreibt Jacobi am 22. Februar 1790 an Julie von Reventlow: »Es tröstete mich, da ich in Ihrem Briefe aus Emkendorf las, daß Sie nie die Last eines müßigen Augenblicks fühlen.«212 Was sich hier zeigt, ist das für das moderne Bürgertum so charakteristische Leistungsprinzip, mit dem sich der Bürger vor allem gegenüber dem höfischen Adel abzugrenzen suchte.213 In diesem Kontext kommt Krankheit die Funktion zu, die Unterbrechung einer idealiter permanenten Arbeits(höchst)leistung zu entschuldigen. Krankheit hat somit eine Entlastungsfunktion: Wer krank ist, kann nicht – und braucht deshalb auch nicht – arbeiten. Aber: nur wer krank ist, ist exkulpiert. Insofern werden noch durch die Krankheit selbst die bürgerlichen Normen affirmiert. »Krankheit wird so zum Ausdruck jenes Lebensstils, der innerhalb des Bildungsbürgertums akzeptiert ist und auf dem seine soziale Stärke beruht: individuell zurechenbarer Leistung.«214 Dies gilt aber nicht nur im Hinblick auf die exkulpierende Funktion von Krankheit, sondern auch hinsichtlich der Ätiologie: Man ist krank, weil man zuviel arbeitet.215 Beide Momente der hohen Bewertung von Leistung und Arbeit kommen in einem Brief Jacobis an den Schweizer Historiker Johannes Müller zum Ausdruck, der zugleich auch den Bezug zur Hypochondrie ausdrücklich herstellt. Dort heißt es: »Hiebey ein Brief, der alles enthält was ich bisher von Nachrichten für Raynal erhalten konnte. Ich habe genug getrieben u gemahnt: es ist etwas entsetzliches um die Trägheit der Menschen! Wenn doch ein armer halb Schwindsüchtiger Hypochondrist etwas davon einhandeln könnte, nur bis er wieder beßer wäre. Hüten Sie sich ja, mein lieber Müller, vor dem Jammer, der einen solchen Wunsch auspreßt; denn er steht noch weit hinter dem Bunde mit dem Teufel.«216 Jacobi hat sich offenbar nichts vorzuwerfen: Er hat »genug getrieben u gemahnt«, und dies, obwohl er eigentlich krank ist und mit etwas »Trägheit« ausgestattet wohl auch wieder gesund würde. Der Wunsch nach »Trägheit« aber – selbst in dieser Situation – erscheint ihm als weitaus schlimmer als ein Teufelsbund. Daß man sich der Krankheit nicht willenlos überläßt, sondern noch unter den größten Qualen weiter212

AB II, 17. Vgl. hierzu oben das Kapitel III.3.4. 214 Jens Lachmund u. Gunnar Stollberg: Zur medikalen Kultur des Bildungsbürgertums um 1800. Eine soziologische Analyse anhand von Autobiographien. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987), S. 163–184, hier S. 169; vgl. auch S. 170. 215 Vgl. die Briefe an G. J. Göschen vom 3.10.1789 (Handschrift: Goethe-Museum, Düsseldorf; der Brief wurde von Jacobi versehentlich auf den 3. Sept. datiert, wogegen aber bereits der Briefbeginn spricht, der rückblickend auf den 6. Sept. Bezug nimmt) und an A. von Gallitzin vom 17.1.1792 (Handschrift: Universitätsbibliothek Münster). 216 Brief vom 4.10.1782 (JBW I,3, 55). 213

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zuarbeiten versucht, versteht sich daher von selbst.217 So schreibt Jacobi im März 1782 aus einer Krankheit heraus an die Fürstin Gallitzin: »Mich erstickt der Gram über das nichtswürdige Leben das ich unterdeßen führe. Nicht daß meine Krankheit mich ganz müßig zu seyn zwänge: unter den größten Schmerzen war ichs kaum: aber was meine heißesten Wünsche fodern, das alles muß ich liegen laßen, u mir sind schon so viele Jahre verstrichen, daß es mir nicht mehr der Mühe werth scheint zu leben.«218 Der Wert des Lebens selbst ist somit in Frage gestellt, wenn es nicht der obersten Norm entsprechend, d. h. als arbeitsintensives und leistungsstarkes Leben, geführt zu werden vermag.219 Wenngleich die Ausdrucksformen spezifisch sein mögen – mit der Berufung auf dieses grundlegende bürgerliche Prinzip reiht sich die empfindsame Tendenz nahtlos in den Aufklärungsprozeß ein. So bedient sich etwa Friedrich Nicolai, einer der Exponenten der rationalistisch ausgerichteten Aufklärung, in seinem Brief an Jacobi vom 20. September 1783 exakt derselben Topoi, derer sich auch Jacobi immerzu bedient, um die Vernachlässigung seiner Korrespondenz zu entschuldigen: Krankheit – nicht zuletzt durch »[a]llzuviel sitzende Arbeit« – und dringende Geschäfte.220 Ein nachgerade karikaturhaft anmutendes Kompendium aller gängigen Entschuldigungen für das Nicht-Schreiben trägt Jacobi in seinem Brief an Soemmerring vom 9. September 1785 zusammen: »Ich war einige Mal krank, einige Mal verreist, gerieth über Dinge, wonach die Heiden trachten, in Verdrießlichkeiten, Aerger und unerträgliche Arbeit, erlitt eine Menge von Besuchen, und schrieb unter dem allen auch noch gar ein Buch und ließ es drucken.«221 Vgl. hierzu auch den Brief an J. Müller vom 26.7.1782 (JBW I,3, 42). Brief vom 14.3.1782 (JBW I,3, 13); vgl. auch den Brief an L. Westenrieder vom 6.11.1781 (JBW I,2, 371) sowie im Brief vom 14.1.1791 an J. F. Kleuker im Anschluß an die Schilderung seiner Krankheit: »Unter allen diesen Drangsalen bleibt mein Kopf nicht müßig, und es vergehen wenige Tage, woran nicht etwas in mein Gedankenbuch eingetragen würde; nur dazu gelange ich nicht, daß ich etwas ausarbeitete; höchstens kommt etwa ein nicht ganz alltäglicher Brief zu Stande« (Ratjen: Kleuker, S. 157). Ähnlich auch im Brief an G.-L. Le Sage vom 30.1.1788: »Je travaille ordinairement depuis le matin jusqu’au soir; mais ce travail est souvent très-faible et presque nul à cause de ma mauvaise santé.« (AB I, 452.) 219 Zum todessehnsüchtigen Vollkommenheitswahn vgl. auch im Brief an P. W. G. Hausleutner vom 28.3.1794: »[…] u daß es mich bis zur Schwermuth peinigt, Ihnen nicht alles das sagen zu können, was ich Ihnen sagen möchte. Dieser Gedanke oder vielmehr dieser Gram über mein Unvermögen, der fast täglich bey mir veranlaßt wird, kann mich in Augenblicken so mißmuthig machen, daß ich wünsche alle Menschen möchten mich als schon gestorben betrachten.« (Handschrift: Universitätsbibliothek Greifswald, Nachlaß von der Goltz.) – Vgl. hierzu auch den Brief an J. von Reventlow vom 22.2.1790: »Ich möchte oft vergehen vor Schwermuth über dem ewigen nicht fertig werden können.« (AB II, 17.) 220 JBW I,3, 208. – Diese Tendenz des 18. Jahrhunderts wird durch ein anderes Genre aus dem Bereich der »Ego-Dokumente« (W. Schulze), der »bürgerliche[n] Biografie des 18. Jahrhunderts« nämlich, gestützt, die »eine geradezu krankhafte Arbeitswut ihrer Protagonisten [feierte]«, wie Dross unter Rekurs auf Michael Maurer festhält (Dross: Krankenhaus und lokale Politik, S. 58). 221 JBW I,4, 173. 217

218

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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Doch die positive Funktion, die Krankheit im Rahmen der Durchsetzung der bürgerlichen Werte zufiel, bezeichnet nur die eine Seite eines überaus komplexen Phänomens. Krankheit, körperliche Gebrechen, ja die Abhängigkeit von der defizitären Körpermaschine überhaupt gerät in diesem Ausmaße erstmals vor dem dargestellten Hintergrund in den Blick: Der ›irdische Schandkörper‹ steht dem Ideal permanenter Arbeitsleistung im Wege. Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.222 Auch deshalb mag immer wieder der Tod als Erlösungsmotiv auftauchen:223 Er steht für die Beseitigung jeglichen Mangels und ist daher – auf paradoxe Weise – die zu Ende gedachte Logik permanenter Leistung.

2.4.3 Pathologie der Aufklärung Der zweiten, bereits von den Zeitgenossen geltend gemachten Ursache der Hypochondrie, der einseitigen und überzogenen Nutzung der Verstandeskräfte, sind Hartmut und Gernot Böhme nachgegangen. In ihrem Buch Das Andere der Vernunft haben sie in besonderer Weise auf die Kosten eines einseitigen Setzens auf die Vernunft, wie es ihrer Darstellung gemäß die Aufklärungszeit kennzeichnete, aufmerksam gemacht.224 Damit sind natürlich langfristig auch die Kosten des Rationalisierungs-, Zivilisations- bzw. (Sozial-)Disziplinierungsprozesses im ganzen angesprochen. Die Brüder Böhme haben gezeigt, wie sehr diese Prozesse immer auch – nie ganz gelingende – Unterwerfungs- und Verdrängungsprozesse sind. Akteur ist dabei die Vernunft bzw. das aufklärerische Phantasma eines autonomen Vernunftsubjekts, das sich – befangen im narzißtischen Größenwahn – absolut setzen will. »Daß das Vernunftsubjekt niemandem und nichts sich verdanken will als sich selbst, ist sein Ideal und Wahn zugleich.«225 Daher muß es alles Nicht-Vernünftige, das »Andere der Vernunft«, aus sich ausschließen, verbannen, verdrängen. Wenngleich ich den ›narzißtischen Größenwahn‹ – verkürzt gesprochen – nicht für eine historische Verirrung, sondern für eine anthropologische Konstante halte und zudem davon ausgehe, daß die Dichotomie von Vernunft und »Anderem der Ver222

Vgl. etwa den Brief an F. L. zu Stolberg vom 14.12.1789: »Ach, daß mens sana nur in corpore sano sein kann, das ist schrecklich!« (Zoeppritz I, 123.) – Vgl. auch den Brief von J. W. L. Gleim vom 4.8.1782: »Was hilft uns armen Sterblichen der beste Wille der Seele, wenn der Centner schwere Leib ihm nicht die Freyheit läßt?« (JBW I,3, 45.) Und bereits im Brief an C. M. Wieland vom 30.7.1775 heißt es: »[…] auch wird täglich der Wunsch brennender in mir, einen besseren Körper zu haben« (JBW I,4, 328). 223 Vgl. etwa den Brief an C. M. Wieland vom 13.11.1774 (JBW I,1, 270). 224 Vgl. hierzu auch Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, dort zum Körper besonders S. 265–269. 225 Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 19; vgl. auch Barthel: Medizinische Polizey, S. 145.

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nunft« unlösbare Probleme mit sich bringt, vermag die Studie der Böhmes gleichwohl einige Facetten des Aufklärungsgeschehens zu erhellen. Die Hypochondrie als Zivilisations- und Modekrankheit des 18. Jahrhunderts gilt den Autoren als Produkt und Schattenseite der aufklärerischen Verdrängung des Leibes: »Die Hypochondrie als Modekrankheit des 18. Jahrhunderts ist die Kehrseite der Aufklärung, sie gehört zu den Kosten der Vernunft.«226 Zugleich und damit verbunden ist sie Ausdruck der Produktion des Vernunftsubjekts: »Die Geschichte der Hypochondrie im 18. Jahrhundert läßt sich als Negativ zur Entwicklungsgeschichte des modernen Subjekts lesen.«227 Die Konstituierung desselben ist dabei nicht nur an Kontrollprozesse geknüpft: (Selbst-)Bestimmung heißt vielmehr immer auch Negation.228 Am Beispiel der Entwicklung der Kantischen Hypochondrie, wie sie sich in den Träumen eines Geistersehers (1766) und im Briefwechsel mit Hufeland (1797), aber auch anhand der überlieferten biographischen Aufzeichnungen229 dokumentiert, zeigen die Brüder Böhme die enge Verflechtung von Aufklärung (Vernunft) und Krankheit: »Was er [= Kant] im Kopf gewonnen hat, hat er am Leibe verloren, was er als Sieg über die Krankheit feiert, mag ihre Ursache sein: Durch die Leugnung der Erfahrung affektiver Betroffenheit im Leibe werden die leiblichen Regungen zu unverständlichen Signalen, die man als Anzeichen von Störungen, als Symptome von Krankheit zu deuten sich veranlaßt sieht.«230 Die Kantische Hypochondrie steht somit für die Pathologisierung der ›normalen‹, affektiven Leiblichkeit als Folge der Absolutsetzung von Vernunft. Wie weit Kant diesbezüglich gegangen ist, zeigt deutlich das Antwortschreiben an Hufeland, das auch seine Hypochondrie zum Thema hat: Sogar die basalen Bedürfnisse von Hunger und Durst erklärt er zu pathologischen Gefühlen, weil sie, wie er im Selbstversuch demonstriert, durch Vernunftanstrengung getilgt werden können.231 Was nun in besonderer Weise für den Theoretiker der Vernunft par excellence gilt und sich an seinem »Fall« exemplarisch aufzeigen läßt, hat – so Hartmut und Gernot Böhme – für die Aufklärung insgesamt Gültigkeit:

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Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 410; vgl. auch S. 419. – Vgl. zur hier angedeuteten »Dialektik der Aufklärung« auch Müller: Die kranke Seele, S. 13 und Barthel: Medizinische Polizey, S. 122 u. ö. 227 Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 421. 228 Vgl. Böhme / Böhme: Currente Vernunft, S. 227. 229 Die Autoren beziehen sich hierbei insbesondere auf Jachmann, Wasianski und Borowski (vgl. Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 389). 230 Ebd., S. 391 f.; vgl. auch S. 418. 231 Vgl. Kant: Macht des Gemüths, S. 730 u. 738 f.

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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»Ideengeschichtlich muß man sagen, daß mit der Aufklärung der Mensch als Vernunftwesen den Leib aus dem Humanum herausdefiniert hat und ihn zur unverstandenen Bestialität hat werden lassen. Sozialgeschichtlich hat die Disziplinierung des Körpers, seine Pädagogisierung, seine Abrichtung zum bloßen Arbeitsinstrument, zum diätetisch gesteuerten Vehikel bürgerlichen Daseins, das Verständnis der Leiblichkeit seelischer Regungen vernichtet.«232 Doch die fundamentale Verdrängung der Abhängigkeit, die sich in der Leiblichkeit manifestiert, ist nur die eine Seite. Die Hypochondrie ist ebensosehr Symptom der Entfremdung von einer – so sehen es wohl die Autoren – ›natürlichen‹ Leiblichkeit233 wie Heilungsversuch. Sie ist das Mittel, den Leib zum Schweigen zu bringen. »Um die Fremdheit des Leibes verschwinden zu machen, setzt man die Strategien ein, die jene erst erzeugt hatten: Diskursivierung, Disziplinierung, Zivilisierung.«234 In diesem Sinne ist die Hypochondrie nicht nur die exzessive Thematisierung des kranken, sondern immer auch die exzessive Thematisierung des zu heilenden Körpers. Sie schließt die Debatte über Kuren und Behandlungsmethoden nicht nur ein, sondern letztere macht einen bedeutenden Teil des Diskurses über die Hypochondrie aus.235 Insofern gehört zu diesem – zumindest in komplementärer Funktion – das florierende diätetische Schrifttum der Zeit,236 auf dessen kontrollierende und disziplinierende Funktion Christian Barthel besonders aufmerksam gemacht hat.237 Aber auch hier zeigt sich die »Dialektik der Aufklärung« – der Traum der Vernunft selbst ist es, der Ungeheuer gebiert:238 232 Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 418; vgl. auch S. 419. – Vgl. zur Trennung von gefühltem Leib und objektiviertem Körper aus phänomenologischer Perspektive: Hermann Schmitz: Der gespürte Leib und der vorgestellte Körper. In: Michael Großheim (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin 1994, S. 75–92. – Zum Übergang vom Leib zum Körper in der Neuzeit vgl. u. a. Labisch: Homo Hygienicus, S. 70 sowie Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Reinbek bei Hamburg 1988. – Zum besonderen Stellenwert des ausgehenden 18. Jahrhunderts in diesem Prozeß vgl. Martin Beutelspacher: Kultivierung bei lebendigem Leib. Alltägliche Körpererfahrungen in der Aufklärung. Weingarten 1986 sowie Duden: Geschichte unter der Haut. 233 Zur Kritik an einer solchen Alteritätskonstruktion vgl. oben das Kapitel I.4.2. 234 Hartmut Böhme: Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition. In: Dietmar Kamper u. Christoph Wulf (Hg.): Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin 1989, S. 144–181, hier S. 148; vgl. auch Barthel: Medizinische Polizey, S. 122. 235 In diesem Sinne versteht auch Bilger die Schriften über Hypochondrie als »Anti-Hypochondrie-Schriften« (Bilger: Üble Verdauung, S. 32). Dies gilt aber zwangsläufig für jede Krankheit! 236 Vgl. Barthel: Medizinische Polizey, S. 121. 237 Vgl. ebd., S. 110–122; vgl. für das Beispiel Kant auch Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 397. 238 Vgl. das Capricho Nr. 43 von Francisco Goya »Il sueño de la razon produce monstruos« (1797/98). Die Tatsache, daß »sueño« nicht nur »Schlaf«, sondern auch »Traum« bedeuten kann,

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IV. Leib

»[…] statt rigoroser Selbstermächtigung des sich diätetisch kontrollierenden Subjekts, statt Funktionalisierung von Leib und Begehren in stumm-folgsamer Körpermechanik hat Diätetik empfindlich gemacht; statt der strengen Durchforstung des Gartens der Lüste verwandelte Diätetik diesen in ein wucherndes Dickicht, wo aufklärungstypische Verwissenschaftlichung der Lebenspraxis und tatsächliche Befindlichkeit unentwirrbar ineinander übergehen; statt der rationalistischen Bereinigung der lebensweltlichen Krise (die die Aufklärung als affektiv-emotionale Verunsicherung am eigenen Leibe erlebte) erwies sich die medizinische Aufklärung als geschwätzige lawinenartige Produktion von Symptomen, Krankheiten, Empfindsamkeiten.«239 Aber auch diese unerwünschte Nebenwirkung (ob nun Effekt einer »List der Vernunft« oder Ausdruck einer Ironie des Schicksals) wurde – so scheint es – vom aufklärerischen Vernunftsubjekt wieder eingeholt, funktionalisiert. Die Krankheit Hypochondrie wurde zum Forum des bürgerlichen Diskurses über Krankheit überhaupt240 und diente in vorläufig letzter Instanz wiederum der Selbstinszenierung des Subjekts.241 Alles schien erlaubt, was der Steigerung von Selbstgefühl und Selbstgenuß diente; auf diese Weise wurde sogar das Leiden zur Wonne (»joy of grief«).242 Ideal war nicht mehr der »kraftvolle Adamssohn«, von dem noch Hufeland sprach, sondern der überreizte Astheniker. Somit war letztlich der »Hypochondrist als Öffentlichkeitsform des bürgerlichen Kranken […] eine Figur, die von der Aufklärung […] mindestens ebensosehr erzeugt und am Leben erhalten wie bekämpft wird«.243

2.4.3.1 Der Körper als Anfechtung von Autonomie Auch im Briefwechsel Jacobis imponiert der Körper als persistierende Anfechtung des autonomen, rational kontrollierten, in jedem Moment seiner selbst vollkommen mächtigen Subjekts. Der Körper stellt die erstrebte Autonomie und Freiheit permanent in Frage; er offenbart das Verfallensein des unkörperlichen Geistes selbst an den Körper.244 Grimminger hat dies als zeittypische Tendenz markiert: »Ihre nicht auswurde vielfach zum Anlaß genommen, dieses Capricho im Sinne einer »Dialektik der Aufklärung« zu deuten; hierzu Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 248 f. 239 Barthel: Medizinische Polizey, S. 146. 240 Vgl. Müller: Die kranke Seele, S. 94. 241 Vgl. Barthel: Medizinische Polizey, S. 148. 242 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 87; vgl. auch Gabriele Ricke: Die empfindsame Seele mit der Fackel der Vernunft entzünden. Die Kultivierung der Gefühle im 19. [sic] Jahrhundert. In: Ästhetik und Kommunikation, Heft 53/54 (1983), S. 5–20. 243 Müller: Die kranke Seele, S. 97. 244 Vgl. hierzu den oben (Ende des Kapitels IV.1.1) bereits zitierten Brief an G. A. Jacobi vom

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zurottenden Begierden werden von den Autoren der Aufklärung als fremder ›Zwang‹ erfahren, als Anschlag ihrer ›viehischen‹ Körpernatur auf die menschliche ›Freiheit‹ ihres vernünftigen Selbstbewußtseins, den sie ›erleiden‹.«245 Das Schreckgespenst solcher Fremdbestimmung beschreibt Jacobi in einem Brief aus dem Jahre 1792 wie folgt: »Weil uns oft der Abend die Empfindungen, Entschlüsse, Ansichten raubt, die uns der Morgen gegeben hatte; weil wir unsere eigenen Wünsche, unsern Charakter, unsre Person nicht festhalten können; weil Regen und Sonnenschein, feuchte und trockende Luft, körperliches Befinden, Gesellschaft und Umstände so gewaltig auf uns einfließen; deßwegen klagen wir und mit Recht über Sclaverei. Sie irren, mein Freund, wenn Sie glauben, daß irgend ein Mensch hierüber nicht zu klagen habe. Wir alle sind Gefangene der Erde, und keiner […] ›keiner kann beständig seyn, es gebe es ihm denn Gott.‹«246 Die Angst vor Selbstverlust ist – neben dem kranken Körper und der Arbeitsleistung – der dritte große Topos in der Korrespondenz Friedrich Heinrich Jacobis. Diese Angst stellt die Kehrseite des aufklärerischen Autonomiestrebens dar. Seiner selbst nicht mächtig zu sein, ist ein wiederkehrendes Motiv der Briefe Jacobis. Neben Krankheiten sind es vor allem Geschäfte und unvermeidliche Zerstreuungen, die dieses Außer-sich-Sein verursachen.247 Der Umbau Pempelforts im Frühjahr 1790 14.2.1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Vgl. auch den Brief an M. E. Reimarus vom 18.1.1795: »Plutarch hatte wohl recht, den Menschen zu empfehlen, vornehmlich in Zeiten der Bekümmerniß, auf ihren Leib Acht zu haben; die executive Gewalt ist beinahe ganz in seinen Händen.« (AB II, 194.) – Hierin könnte sich ein Gedanke Tissots spiegeln. In seiner Schrift über die Gens du monde schreibt er, daß die Abhängigkeit der Gesundheit von äußeren Umständen im Falle der feinen, empfindlichen, verwöhnten (»delicate«) Leute »a type of perpetual slavery« darstellt (zit. nach Vila: Enlightenment and Pathology, S. 190). 245 Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 23. 246 Brief an N…. vom 12.6.1792 (AB II, 88 f.). – Das Zitat verweist auf die Präsenz der antiken Lehre von den »sex res non naturales« im 18. Jahrhundert. Vgl. hierzu den Aufsatz von William Coleman: Health and Hygiene in the Encyclopédie: A Medical Doctrine for the Bourgeoisie. In: Journal of the History of Medicine 29 (1974), S. 399–421 sowie Antoinette Emch-Dériaz: The Nonnaturals Made Easy. In: Roy Porter (Hg.): The Popularization of Medicine 1650–1850. London 1992, S. 134–159. 247 Aus der Fülle möglicher Belegstellen seien hier – relativ beliebig – herausgegriffen: die Briefe an C. M. Wieland vom 18.3.1775 (JBW I,2, 4), an J. F. (»Maler«) Müller vom 18.6.1775 (JBW I,2, 15) und an S. T. Soemmerring vom 9.9.1785 (JBW I,4, 173). – Auch in den Briefen der Korrespondenzpartner sind die Klagen über vielfältige Ablenkung von der Arbeit gängiger Topos; vgl. etwa die Briefe von C. M. Wieland vom 14.10.1777 (JBW I,2, 66), von J. W. L. Gleim vom 25.11.1781 (JBW I,2, 384), von T. Wizenmann vom 17.8.1783 (JBW I,3, 179), von J. W. Goethe vom 14.4.1786 (JBW I,5, 153), von J. Müller vom 3.6.1786 (JBW I,5, 233), von J. G. A. Forster vom 19.11.1788 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 209) und von F. L. zu Stolberg vom 19.5.1789 (AB I, 502; vgl. Stolberg: Briefe, S. 244).

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beispielsweise gehört zu jenen äußeren Ereignissen, die Jacobi nachhaltig das Gefühl vermitteln, ganz aus sich herausgeworfen zu sein. Mitte März 1790 schreibt er hierzu an Georg Forster: »Lieber Forster, Ich bin in einen solchen Sturm und Drang von Bauen und Pflanzen gerathen, daß ich Lesen und Schreiben darüber vergessen habe, und kaum meine eigene Hand noch kenne. In meine Pekesche und einen langen weiten Mantel bis an die Augen eingewickelt, handthiere ich von der Morgendämmerung bis zur Nacht, seit vielen Wochen, Tag auf Tag unter meinen 25 bis 30 Arbeitern im Garten, und beiße zwischen durch mich herum mit allen Zünften des heiligen Römischen Reichs auf meinem Hofplatz und zwischen den Trümmern meines Hauses. Sehen Sie, in dem Augenblicke, da ich Ihnen dieses schreibe, brechen sie mir von der Bachseite in mein Zimmer, und ich sehe wirklich durch die Bresche; neben an werfen sie die Wände ein, unterdessen man mir im Vorzimmer Thüre und Fenster zumauert. Glauben Sie, daß ein Philosoph so etwas erleben und seine Personalität salviren kann? Die meinige ist längst dahin, und wenn ich es etwa nicht selbst bin, der an Sie schreibt, so nehmen Sie mir es nicht übel. Wenn Sie doch kommen und mich in integrum restituiren wollten!«248 Jacobi hat sich in dieser Zeit des Umbaus seines Hauses und Gartens so gründlich verloren, daß er einige Zeit braucht, um wieder bei sich selbst anzukommen, wie aus einem etwa eineinhalb Monate später verfaßten Brief an Kleuker hervorgeht: »Von allen diesen gewaltsamen und größten Theils sehr unangenehmen Zerstreuungen, die mir wirklich zwey ganze Monathe lang alle ruhige Besinnung, und, ich möchte sagen, meine ganze Personalität raubten, fange ich doch nun allmählich an mich zu erholen, und fühle mit einer eigenen Art von Wollust, wie ich wieder zu mir selbst komme.«249 Im Kontrast zum Selbstverlust werden hier Identität und Autonomie, Sichselbstgleichheit und Beisichsein als allerhöchste Werte entworfen. Ein weiteres großes äußeres Ereignis, das Jacobi – folgt man den Briefen – vollkommen aus der Bahn geworfen zu haben scheint und das in der Tat existentielle Gefahren für die Familie Jacobi mit sich führt, sind die Revolutionskriege. Insbesondere dadurch, daß ein Teil der Familie in Aachen ansässig ist und dort auch das

248

Brief vom 19.3.1790 (AB II, 20 f.). Brief vom 27.4.1790 (Ratjen: Kleuker, S. 149). – Vgl. auch Susanna Helenas Brief an Marianne Bucholtz vom 8.6.1790 (Handschrift: Staatsarchiv Münster, Nachlaß Bucholtz): »Bald sind wir aus der größten Unruhe heraus. Mir ward oft angst u bange bey dem Hurra der uns unaufhörlich forttrieb und uns unser Selbst nicht mehr mächtig ließ. Es ist auch noch nicht ausgemacht, ob ich nicht dadurch zu einem perpetuum mobile geworden bin, u je wieder zu Ruhe kommen werde? Lotte zweyfelt sehr daran.« Jacobi bemerkt hierzu am Rande: »Auch der Philosoph zweifelt sehr daran, u hat deswegen schon einigemahl Lust bekommen, die Bauleute wegzuschicken, u einige Constabler zu berufen, die ihm Haus u Garten in die Luft sprengten.« 249

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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Vermögen von seinem Schwager verwaltet wird, ist Jacobi auf vielfältige Weise in die Kriegswirren einbezogen. Im Dezember 1792, als Aachen bereits das erste Mal in französischer Hand ist, schreibt er daher an Kleuker: »Endlich, mein Liebster, muß ich Ihnen doch einmahl wieder Nachricht von mir geben, mag sie auch noch so arm, dürftig und trocken ausfallen. Die mannigfaltigen Unruhen zumahl der letzten 14 Tage, haben mir den Garaus gemacht; ich stehe mir mit keinem Theile meiner selbst zu Geboth.«250 Interessant ist nun, daß dieser allgegenwärtige Topos des Selbstverlusts auch im Zusammenhang der Beschreibung der Hypochondrie Jacobis eine entscheidende Rolle spielt und sich dabei eine neue Bedeutungsdimension des Topos eröffnet. Am 16. April 1768 – also in einem sehr frühen Brief – schreibt Jacobi an seinen Bruder Johann Georg: »Ohnmöglich kanst du vergeßen haben, wie frostig und ungefällig ich mich oft gegen dich bezeigt; und schwerlich hältst du dieses für eine Würckung, meiner, damals schon, dem höchsten Gipfel nahen Hypochondrie. Es ist bekant, daß diese Krankheit, in ihrem Anfange, am eigenmächtigsten über unsere Seele herscht, denn diese hat sich noch nicht, durch Erfahrung belehrt, gegen falsche Einbildungen und Urtheile rüsten können; sie glaubt noch immer richtig zu denken und zu empfinden. […] Wem nur in etwa bekant ist, wie geschwinde, so heftige, in Menge vereinigte Anfälle, den ganzen Menschen zerrütten; dem wird es verzeihlich scheinen, daß ich mich im Anfange dabey nicht hinlänglich beseßen. Ich hoffe also, mein liebster, bester Freund, daß du von meinem damaligen Betragen, nicht auf meinen Charackter schließen wirst. Wenn wir uns wiedersehen, denn sollst du mich zärtlicher, liebenswürdiger, und gleichmüthiger als jemahls finden.«251 Hiernach bedeutet »sich nicht zu besitzen« auch und vor allem: sich nicht angemessen, nicht normgerecht, nicht diszipliniert genug zu verhalten. Es geht darum, sich von »falsche[n] Einbildungen« zu befreien und stattdessen »richtig zu denken und zu empfinden«. Die Hypochondrie ist somit auch Ausdruck eines Zivilisationsschubes, eines normativen Umorientierungsprozesses. Sie ist die Hilfskonstruktion einer Übergangszeit, in der Verhalten normiert wurde. Fehlverhalten konnte auf diese Weise wie eine Krankheit kuriert und als Fremdes abgestoßen werden, ohne daß die eigentliche Persönlichkeit, der »Charackter«, wie es im Brief heißt, Schaden nahm. Damit weist die Hypochondrie als Krankheit nicht bloß des Körpers, sondern auch der Seele hinaus über das bloße Problem des Verhaltens zum eigenen Körper in

250

Brief vom 25.12.1792 (Ratjen: Kleuker, S. 183). JBW I,1, 53 f. – Vgl. zur Hypochondrie als Entschuldigung für unangemessenes Verhalten auch den Brief J. G. Hamanns vom 2.6.1787 (Hamann 7, 222). 251

282

IV. Leib

Richtung auf eine Disziplinierung von Empfindungen, Gefühlen und Leidenschaften, die bereits in den vorangegangenen Kapiteln thematisiert wurde.252 In bezug auf den kranken Körper aber bleibt festzuhalten, daß ihm – in der Aufklärungszeit allgemein und auch in repräsentativer Weise bei Jacobi – eine paradoxe Funktion bzw. Bedeutung zukam. Zum einen diente er zur Entlastung angesichts der Unerreichbarkeit der normativen Vorgaben: Noch in der Krankheit wird die bürgerliche Leistungsideologie bestätigt. Dies würde – neben der schon erwähnten Äquivalenz von Empfindsamkeit und Tugend – auch die Attraktivität der Hypochondrie erklären. Zum anderen stellt der (kranke) Körper das leidvolle Hemmnis dar, das der Verwirklichung der Ideale, der Autonomie des Subjekts und dem uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft entgegensteht. Insofern ist die Hypochondrie Zeichen für das Fremdwerden und die Abwertung alles Leiblichen in der Aufklärungszeit; darin kommen rationalistisch ausgerichtete Aufklärung und Empfindsamkeit – gerade auch vor dem Hintergrund des ihnen gemeinsamen Autonomiegebots – überein. Wie in den vorhergehenden Kapiteln bereits deutlich wurde, hat der Vernunftkritiker Jacobi nicht Partei ergriffen für den Leib / Körper als dem »Anderen der Vernunft«. Vielmehr bleibt auch bei ihm der anthropologische Dualismus von Leib und Seele, Körper und Geist voll aufrechterhalten, ja dieser erfährt hier nachgerade eine – deutlich platonisch gefärbte – Steigerung.

2.4.4 Pathologie der Schriftkultur Neben dem möglichen Einfluß von Bürgerlichkeit und Aufklärung, Leistungsideologie und Autonomiestreben, auf die Körperwahrnehmung am Ende des 18. Jahrhunderts nun zum dritten auch der Bedeutung der Verschriftlichung der Kultur für die Hypochondrie nachzuspüren, liegt aus verschiedenen Gründen nahe. Zum einen muß die Expansion der Schriftmedien als eine ähnlich fundamentale und wirkungsmächtige Bewegung angesehen werden wie Aufklärung und Entstehung des modernen Bürgertums, mit denen sie zudem aufs engste verbunden ist. Diese Wirkungsmächtigkeit ist gerade heute, aus der Perspektive einer Universalpräsenz der Bildmedien, offenkundig. Zum zweiten zeigt eine Analyse des Jacobischen Briefwechsels deutlich, daß die Gegenwelt zum autonomiegefährdenden Körper sich mit den neuen Medien verband: Nur während man schrieb oder las, empfand und gerierte man sich als vollkommen bei sich selbst. Dies galt insbesondere für die Mitglieder der sogenannten »Gelehrtenrepublik« sowie für die vornehmlich im Briefkult existierenden 252

Das Prinzip der Abstoßung nicht normgerechten Verhaltens als Krankheit gewann etwa auch Bedeutung im Rahmen der Kontrolle der Leidenschaften (vgl. Mullan: Sentiment and Sociability, S. 233).

2. Der kranke Körper: Die Hypochondrie als Modell

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und miteinander verbundenen Empfindsamen. Zum dritten endlich ergab sich der Bezugspunkt Verschriftlichung – ähnlich wie schon im Falle von Bürgertum und Aufklärung – aus dem Diskurs des 18. Jahrhunderts über die Ursachen der Hypochondrie selbst. »In der Ätiologie der Hypochondrie wird das bevorzugte Medium der Aufklärung, das gedruckte Wort, als Krankheitsrisiko diskutiert. Als Resultat ›unverdauter‹ Lektüre oder als Strafe für den undisziplinierten Umgang mit den Büchern, z. B. in Form des gierigen Verschlingens von schlechten Roman-Speisen, signalisiert die Hypochondrie einen Verstoß gegen die Regeln, nach denen die Theoretiker vernünftigen Lesens die diätetischen Speisekarten der Lektüre zusammenstellen. Leidet der empfindsame Leser an Hypochondrie aus literarischer Völlerei, so der hypochondrische Gelehrte an intellektueller Verstopfung aufgrund unmäßigen Konsums schwer verdaulicher Lesekost.«253 Wie Lothar Müller hier – mit der ihm eigenen Sprachkunst – veranschaulicht,254 ist die Betrachtung des Verhältnisses von Schrift und Körper keineswegs so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenngleich wir heute nicht mehr, wie noch die mittelalterlichen Mönche, über spezielle Organe wie das »palatum cordis« oder das »os cordis« verfügen, mit denen der Geschmack eines Textes empfunden und ausgekostet werden konnte,255 sprechen wir gleichwohl noch davon, Formulierungen »auf der Zunge zergehen« zu lassen, einen Text zu »verschlingen« (oder gar neudeutsch: »sich reinzuziehen«). Ein Buch kann »schwer verdaulich« sein oder – im Gegenteil – »leichte Kost«. Auf der metaphorischen Ebene wird also üblicherweise der Lesevorgang nach dem Modell der Nahrungsaufnahme begriffen, wobei der Schrift die Rolle des Nutriments zukommt. In mythischen, magischen oder psychopathologischen Zusammenhängen wird dies dann konkretistisch ausgeführt. So ißt Hesekiel auf Geheiß Gottes einen auswendig und inwendig beschriebenen Brief, um sich das Wort Gottes vollständig einzuverleiben. In verschiedenen Volkskulturen war der Gebrauch von Eßzetteln zur Therapie von Krankheiten verbreitet.256 Traditionell besteht also

253

Müller: Die kranke Seele, S. 100; vgl. auch S. 99. – Vgl. auch Kreuzer: Gefährliche Lesesucht,

S. 64. 254 Vgl. auch die entsprechenden Beispiele aus der Lesesucht-Kritik bei Assmann: Domestikation des Lesens, S. 101 u. 105; Kreuzer: Gefährliche Lesesucht, S. 64; Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 118 f., Engelsing: Sozialgeschichte, S. 144, Heinz: Wissen vom Menschen, S. 125–132 und Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 406 u. 418. 255 Vgl. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 109. 256 Vgl. Volker Rittner: Handlung, Lebenswelt und Subjektivierung. In: Dietmar Kamper u. Volker Rittner (Hg.): Zur Geschichte des Körpers. Perspektiven der Anthropologie. München 1976, S. 13–66, hier S. 27.

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eine enge Beziehung zwischen Schrift und Körper – wobei die Beschriftung des Körpers selbst noch einer gesonderten Betrachtung bedürfte.257 Es ist wieder einmal – und gewiß nicht zufällig – der sich einer konkret-sinnlichen Sprache bedienende Hamann, in dessen Briefen der benannte Zusammenhang besonders augenfällig wird. Schon in seinem ersten Brief an Jacobi vom 12. August 1782 bekennt er: »Kurz, ein so hungriger Leser, wie mein Magen, hat keinen Gaumen eines Kunstrichters, sondern verschlingt und verdaut mehr als er schmeckt und unterscheidt.«258 So muß es denn auch nicht verwundern, daß er sich – sehr zeitgemäß – den Magen mit zu vieler und zu schneller Lektüre verdirbt.259 Die Verbindung zur Hypochondrie bleibt schließlich auch nicht aus: »Mein Lesen ist also blos ein Betäubungsmittel meiner langen Weile, und der gefährlichste Dünger für das Unkraut meines hypochondrischen Bodens«.260 Tatsächlich scheint sich somit die das ausgehende 18. Jahrhundert kennzeichnende Verschriftlichung der Kultur sehr tiefgehend auf die Körperwahrnehmung ausgewirkt zu haben. Vor allem Erich Schön und Albrecht Koschorke sind den Veränderungen nachgegangen.261 257

Vgl. hierzu etwa das puritanische Verständnis von Krankheit als das in den Körper eingeschriebene Wort Gottes sowie die ganze Kulturtradition der Körperbemalung, -schmückung etc. Hierzu etwa Michel Thévoz: Der bemalte Körper. Zürich 1985; weitere Hinweise findet man bei Alois Hahn: Handschrift und Tätowierung. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München 1993 (= Materialität der Zeichen: Reihe A; Bd. 12), S. 201–217, hier S. 210 u. 214. 258 JBW I,3, 46. – Vgl. auch im Brief an F. K. Bucholtz vom 29.10.1786: »Lesen ist für mich eine [sic] eben so große [sic] Bedürfnis als Nahrung, und wirkt auf meine Lebensgeister. Ferguson schmeckt mir in ähnlichem Maaße, und ist für meinen Seelenhunger eben das, was ein Stück Rindfleisch mit Meerrettig, Pasternack oder Senff, und eine Schüßel weißer durchgeschlagener Erbsen mit einem gefüllten Heeringe für meinen Magen sind.« (Hamann 7, 33.) 259 Vgl. im Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 31.1.1783: »Die Lilienthalsche Auction ist meine letzte Henkersmahlzeit in Ansehung meines Bücherhungers gewesen – und ich hab mich an Ihrem Wust den Magen vollends verdorben, daß mir Schreiben und Lesen fast eckelt.« (Hamann 5, 13.) 260 Brief an J. C. Lavater vom 29.8.1783 (Hamann 5, 71). 261 Auch Hans Ulrich Gumbrecht hat auf die Eliminierung des Körpers als Folge der Schriftmedien aufmerksam gemacht. Im Zentrum seiner Analyse steht die technische Innovation des Buchdrucks und der damit einhergehende Umbruch in den Kommunikationsformen im Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, der wiederum verschiedene mentale und soziale Veränderungen eingeleitet haben soll. Die konstitutive Rolle des Körpers für die (mittelalterliche) Kommunikationssituation verschwindet nach Gumbrecht mit der Erfindung der Buchdruckkunst, um schließlich zu einer gänzlichen Verdrängung des Körpers aus dem Bewußtsein der Kommunikationspartner zu führen: »Die Druckpresse hatte sich zwischen die Körper der Kommunikationspartner gedrängt, um diese innerhalb weniger Jahrzehnte auch aus ihrem Bewußtsein von der Kommunikation zu eliminieren.« (Hans Ulrich Gumbrecht: Beginn von ›Literatur‹ / Abschied vom Körper? In: Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg u. Dagmar Tillmann-Bartylla [Hg.]: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. München 1988, S. 15–50, hier S. 21.)

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Erich Schön hat anhand der Entwicklung von Leserdarstellungen in der bildenden Kunst einerseits und der Veränderung von Möblierungsmoden andererseits die zunehmende Immobilisierung und Zurückdrängung, ja Eliminierung des Körpers im Lesevorgang für das 18. Jahrhundert nachgezeichnet.262 Die Funktion des Körpers, der zunächst noch aktiv am Leseprozeß beteiligt war, wird zunehmend auf den Augenkontakt reduziert, um auf diese Weise eine möglichst störungsfreie, von aller Sinnlichkeit gereinigte Vermittlung der geistig-symbolischen Gehalte zu gewährleisten. »Die Ersetzung physisch-sinnlichen (Nach-) Erlebens durch symbolische Teilhabe hat ihre eigene Faszination. Und so sind es die symbolischen Gebilde, die Bücher selbst, die – Agenten der zivilisatorischen Entwicklung – den Körper stillstellen, damit der Geist frei wird für die Erfahrung von Ideenparadiesen. Bezahlt wird diese Beweglichkeit des Geistes damit, daß der Körper vom Erleben ausgeschlossen wird.«263 Dieser »Verlust der Sinnlichkeit« zeigt sich, so Schön, auch im Übergang vom lauten zum leisen Lesen, der Teil der im 18. Jahrhundert sich ereignenden »Leserevolution« ist.264 Die Zurückdrängung des lauten Lesens aber impliziert noch einen weiteren interessanten Aspekt. Hatte das laute Lesen – in der Mehrzahl religiöser Schriften – dazu gedient, die Eindringlichkeit und Suggestivität der Texte zu erhöhen, so geriet gerade dieses Moment angesichts des Selbstdenkgebots der Aufklärung in Mißkredit. Der Auflösung des Selbst in das göttliche Wort hinein wurde nun der Autonomieanspruch des aufgeklärten Vernunftsubjekts gegenübergestellt. »Das Leise-Lesen bedeutet auch, daß der Leser lesend er selbst bleibt.«265 Und mehr noch: Lesen kann nicht nur als Mittel der Selbsterhaltung, sondern auch als solches der Selbstfindung gesehen werden: »Lesen […] wird zu einem wichtigen Instrument, sich selbst auf die Spur zu kommen.«266 Neben Erich Schön betont auch Albrecht Koschorke die zunehmende Negation des Körpers in der Aufklärung. Anders jedoch als Schön, der den Lesevorgang fo-

262

Vgl. auch Chartier: Geschichte des Lesens, S. 254 u. 260–262. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 97; vgl. auch S. 89 f. 264 Vgl. hierzu ebd., S. 109: »Das laute Lesen und die Wiederholungslektüre gehören ebenso zusammen, wie beider Verschwinden eine Bewegung ist.« Zum lauten Lesen und zu dessen Ende vgl. ebd., S. 99–122. – Im Hinblick auf die Folgen für den Körper thematisiert den Übergang vom lauten zum leisen Lesen auch Kittler: Autorschaft und Liebe, S. 150 f. 265 Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 120. – Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 416. 266 Assmann: Domestikation des Lesens, S. 103; vgl. auch Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 144. – Assmann spricht übrigens in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise vom wilden vs. domestizierten bzw. vom identifikatorischen vs. reflexiven Lesen. 263

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kussierte, hebt Koschorke insbesondere das Moment der Abwesenheit des Körpers im Distanzmedium Schrift hervor: »[…] die Funktion der Alphabetisierung besteht nicht nur darin, intellektuelle Substrate zu übermitteln, sondern auch darin, die Körper, die zuvor die Träger der Verbindung waren, zu unterschlagen. Ihrer medialen Form nach legt Schriftlichkeit die Körper darauf fest, absent zu sein. Sie aktiviert die Aufteilung des Menschen zwischen Geist und Körper, die in den Zeiten Platons gemeinsam mit der Durchsetzung des Alphabets entstand, indem sie den Körper aus dem Spiel nimmt und den Geist verkehren läßt.«267 Nicht zuletzt der Briefkult der Empfindsamen, die Koschorke als »Gemeinschaft Abwesender« bezeichnet, gilt ihm als Ort der »symbolische[n] Inszenierung von Körperferne«:268 Durch die Ausblendung des Körpers können die »schönen Seelen« um so ungehinderter ineinanderfließen.269 Wie sehr alle Sinnlichkeit und Körperlichkeit im Umgang mit den Schriftmedien, insbesondere beim Akt des Lesens, ausgeblendet ist, illustriert Koschorke anhand einer Textpassage aus dem Brief über das Verlangen von Frans Hemsterhuis, dem mit Jacobi befreundeten niederländischen Philosophen: »Die Seele, ewig in ihrem Wesen und allem Zusammenhang mit dem, was wir Raum und Zeitfolge nennen, ihrer Natur nach zuwider, bewohnt einen Körper, der sehr verschiedenartig von der Natur der Seele zu sein scheint. Ihre Verbindung mit diesem Körper ist also sehr unvollkommen. Denn in der Zeit, in der Sie diese Zeilen lesen, haben Sie, wenn ich Sie nicht daran erinnere, keine Vorstellung, keine Idee Ihrer Beine, Ihrer Arme oder der andern Teile Ihres Körpers. Das Nichtdasein aller dieser Teile würde in dem Ich, das in Ihnen denkt, für den Augenblick durchaus keine Änderung hervorgebracht haben.«270 267

Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 609; vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 191; vgl. auch S. 195. 268 Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 614; vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 200. 269 Vgl. zum Verhältnis von Empfindsamkeit und Schriftlichkeit vor allem Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, besonders S. 612 sowie ders.: Körperströme und Schriftverkehr. – Vgl. aber auch Müller: Herzblut und Maskenspiel und Witte: Individualität des Autors, bes. S. 11– 13. 270 François Hemsterhuis: Über das Verlangen. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hg. von Julius Hilß. Bd. 1. Karlruhe u. Leipzig 1912. S. 45–70, hier S. 54 f. (zit. nach Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 612 f.; vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 198). – Zur Ausblendung der Sinnlichkeit vgl. auch in einem Brief Ewald von Kleists an Johann Peter Uz vom 19.12.1746: »Wahre Freundschaft ist auf keine sinnliche Empfindung gerichtet; die persönliche Unbekanntschaft hindert nichts.« (Zit. nach Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 620 f.; vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr, S. 239.)

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Ähnlich wie Schön sieht also auch Koschorke die massive Tendenz zu einer Vergeistigung der Kommunikation, deren Vorbild die himmlische Kommunikation »körperloser Geister«271 ist. Inwiefern können nun diese, im übrigen an die Ausführungen zur »schönen Seele« nahtlos anknüpfenden Überlegungen für die Analyse der Modekrankheit Hypochondrie – verstanden als Inbegriff der Körperwahrnehmung der Aufklärungszeit – fruchtbar gemacht werden? Zunächst einmal läßt sich festhalten, daß die hier vorgestellten Thesen zum Schicksal der Körpers gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich in weiten Teilen mit den bisherigen Ergebnissen decken: Negation des Körpers und Autonomiestreben hatten sich bereits als zentrale Punkte herauskristallisiert. War der Körper angesichts des bürgerlichen Anspruchs auf ununterbrochene Arbeitsleistung als defizient wahrgenommen worden, so wurde er unter der aufklärerischen Forderung nach einem uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft ebenso wie unter der Maßgabe des empfindsamen Ideals der »schönen Seele« als Gefährdung der Autonomie erfahren. Jede leibliche Regung wurde so zum Symptom. Der Körper war per se kranker, hypochondrischer Körper. Die Veränderungen des Lesevorgangs und die Implikationen des Mediums Schrift, wie Schön und Koschorke sie dargestellt haben, forcieren diese Tendenz zur Negation des Körpers, als deren Kehrseite die Modekrankheit Hypochondrie verstanden werden kann. Die Eliminierung des Körpers im Lesen und durch Schrift, die natürlich letztlich illusionär bleiben muß, weist dem Körper die Rolle des Störenfrieds zu und kann somit als eine weitere Quelle der hypochondrischen Körpererfahrung verstanden werden. Es läßt sich aber überdies ein weiterer Zusammenhang zwischen der zunehmenden Verbreitung der Schrift und dem Auftauchen der Hypochondrie denken, der zugleich auch die Symptomatik selbst erhellte. Schrift zeichnet sich, wie bereits ausgeführt,272 gegenüber Oralität dadurch aus, daß sie beständig, permanent ist. Es lag daher schon nahe, die sich im Medium der Schrift – man denke nur an die Verbreitung von Briefen, Tagebüchern und Autobiographien – herausbildende Identität als einen Effekt dieser Suggestion der Schrift zu deuten: Die Permanenz der Schrift unterstellt eine ebensolche Beständigkeit biographischer Zusammenhänge. Identität war natürlich nicht schon ineins mit jener durch Schrift induzierten Unterstellung von Beständigkeit gegeben, sondern mußte erst mühsam konstruiert werden, indem jede innere Regung materialisiert, d. h. verschriftlicht wurde. Man denke hier nur an die Auto-Inquisition der Puritaner und Pietisten oder an Samuel Richardsons Roman 271

Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 110; vgl. auch Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, S. 621. Vgl. hierzu oben das Kapitel II.3.4. – Vgl. überdies Dietmar Kamper: »Der Geist tötet, aber der Buchstabe macht lebendig«. Zeichen als Narben. In: Gumbrecht / Pfeiffer: Schrift, S. 193–200, hier S. 200: »Ein körperloser Geist hat die Herrschaft über die menschliche Erfahrung angetreten und opfert sich alles, was nicht auf den Kopf zu stellen ist.« 272 Vgl. oben das Kapitel I.3.3.1.

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Pamela. Das hiervon ausgehende Rationalisierungspotential kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Wie aber, wenn diese Phantasmatik des Permanenten und Beständigen,273 des Festhalten- und Stillstellen-Wollens sich auch in der Körperwahrnehmung niedergeschlagen hätte? Muß nicht der Körper, insbesondere unter dem Aspekt der Nahrungsaufnahme, Verdauung und Exkrementierung, als die Anmahnung des NichtBeständigen schlechthin angesehen werden? Es ist wiederum der Sinnen- und Körpergenüssen nicht abgeneigte Georg Forster, der dieses Faktum unmißverständlich zum Ausdruck bringt: »Doch ist hienieden keine Gestalt, so wenig als der Mensch selbst, beständig. Unsterblichkeit gab die Natur keinem zusammengesetzten, zerbrechlichen Körper. Der Stoff, aus welchem sie bestehen, ist in beständiger Bewegung. So ist zum Beyspiel in allen organisirten Geschöpfen das Wirken ihrer ihnen eingepflanzten Grundkraft, wodurch immer einige Theile abgesondert, neue dem Körper angeeignet werden, zugleich die erste Ursache ihrer endlichen Auflösung.«274 Mußte daher angesichts des aufklärerisch-empfindsamen Strebens nach Beständigkeit und Unsterblichkeit nicht alles mit dem Verdauungsvorgang Verbundene zwangsläufig in Mißkredit geraten und pathologisiert werden?275 Die Hypochondrie als Krankheit des Verdauungsapparates wäre dann möglicherweise ein Effekt dieses Beständigkeitsphantasmas. Daß ihre Symptomatik insbesondere in heftigen und qualvollen Blähungen bestand, verwundert vor diesem Hintergrund letztlich nicht, denn Blähungen werden erst dann zu einem körperlichen Problem, wenn man sie festhält.276 Der drohenden Ruchbarkeit des memento mori versuchte man, nicht zuletzt durch den exzessiven Gebrauch von Viszeralklistieren zuvorzukommen. Dies war jedenfalls – und zwar durchaus noch in den Bahnen höfischer Praktiken und antiker Krankheitskonzepte277 – die von dem Arzt Johann K. Kämpf empfohlene und durch Publikation und Praxis weit verbreitete Therapieform gegen Hypochondrie. 273

Vgl. hierzu auch Jacobis wiederholte Erwähnung des Petrarca-Zitats: »keiner kann beständig seyn, es gebe es ihm denn Gott«; etwa im oben (zu Beginn des Kapitels IV.2.4.3.1) bereits zitierten Brief an N…. vom 12.6.1792 (AB II, 88 f.). Vgl. Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 183. – Zum Beständigkeitsideal – vor allem der Puritaner – vgl. auch Leites: Puritanisches Gewissen. 274 Georg Forster: Ein Blick in das Ganze der Natur (1779). In: Ders.: Werke, Bd. 8, S. 77–97, hier S. 87. 275 Vgl. zur Kontrolle der Ausscheidungsvorgänge auch Böhme / Böhme: Andere der Vernunft, S. 64–66. 276 Einen etwas anderen Aspekt betont Koschorke, indem er die »Verschließung des Körpers« der Moderne gegenüber dem »pneumatisch-fluidalen Leib […] mit unbestimmter Einheit und unbestimmten Rändern« hervorhebt (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 47, 54 u. 74). Auch von hierher mußten die Exkremente respektive der Verdauungsapparat ins Blickfeld geraten. 277 Vgl. Appelt: »Les vapeurs«, S. 39 f. u. 110 f. – Die Verknüpfung und Vermischung mit älteren

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2.5 Das Phantasma vom organlosen Körper Die Hypochondrie als Modekrankheit der Aufklärungszeit und Modell des aufklärerisch-empfindsamen Umgangs mit dem Körper verweist damit zuletzt auf das grundlegende Begehren nach Unsterblichkeit, das – so eine der Kernthesen dieser Arbeit – in jener radikalen Umbruchzeit neu verhandelt werden und eine neue Gestaltung gewinnen mußte. Der Körper schlechthin wird als Erzfeind der Autonomie und Freiheit des Geistes wahrgenommen; die Verdauungsvorgänge insbesondere werden als eminente Anmahnung der Sterblichkeit zum Gegenstand akribischer Beobachtung, schließlich pathologisiert und umfangreichen Therapieformen unterworfen.278 In diesen Zusammenhang gehören auch zeittypische Utopien einer verlustlosen Verdauung. So sucht beispielsweise der Wiener Arzt Philipp Karl Hartmann in seiner Glückseligkeitslehre »nach einem Mittel, möglichst ›rein‹, d. h. ohne störende, unsaubere Überreste zu verdauen«,279 und der Frankfurter Garnisonsarzt Ehrmann weiß zu berichten: »In Paris haben sich Leute abgesondert, die ein langes Leben und Wunderkraft durch Fasten, Beten, Essen ihres Koths und Trinkens ihres Urins erzwingen wollten; sie sind aber durch Krankheiten, die sie sich zugezogen, von ihrem Irrthum geheilt worden.« Kleinspehn sieht hierin »die konkrete Utopie einer sich selbst reproduzierenden Maschine – der Mensch als perpetuum mobile«.280 Solcherart autonom, d. h. vollständig auf sich selbst gegründet und damit der schuldbeladenen Bedürftigkeit entronnen, scheint die Unsterblichkeit nahe.281 Die Hypochondrie aber – nicht zuletzt als Krankheit des Verdauungsapparates – ist das Symptom des menschlichen Daseins als »Krankheit zum Tode«.282 Die (unsterbliche) Seele erfährt sich als an einen sterblichen Körper gekettet, der eine permanente Grenzanmahnung darstellt für alle hochfliegenden Pläne von unbeschränkter Leistungsfähigkeit, Autonomie, Freiheit, Beständigkeit und Unsterblichkeit. Im Kampf gegen diese als Krankheit konzipierte Grenzerfahrung droht der Körper immerzu die Oberhand zu gewinnen über den Geist, die Seele, wie der besorgte Jacobi die kranke Gallitzin wissen läßt: »Die Anstrengung selbst wird zuletzt mechanisch, und die Seele muß denken, nicht weil sie, sondern weil der Cörper will. Was Körper- und medizinischen Konzepten gilt es grundsätzlich zu bedenken. So haben Verdauungstrakt sowie »Dünste« und »Dämpfe« innerhalb der zu jener Zeit zwar allmählich abgelösten, aber gleichwohl noch wirksamen humoralpathologischen Tradition einen gänzlich anderen Stellenwert als heute (vgl. etwa Stolberg: Homo patiens, S. 222 f.). 278 Vergleichbares gilt für den Sexualitätsdiskurs der Aufklärungszeit. Vgl. hierzu oben das Kapitel III.3.3 sowie Begemann: Furcht und Angst, S. 224. 279 Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich?, S. 303. 280 Ebd., S. 306. Kleinspehn zit. u. a. Ehrmann: Fragmente (1798). 281 Vgl. zu solchem Selbstgründungsbegehren die Auslegung des Ödipuskomplexes durch Rudolf Heinz (etwa in: Philosophische Einführung, S. 14 f. u. 32 f.). 282 Vgl. Goethe: Werther. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, S. 48.

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meinen Sie wohl daß Plato von einem solchen Zustande gesagt haben würde? Sicher ist es die fatalste Umkleidung die man sich gedenken kan; die aller totalste Krankheit; wahrhaftig, die Wesenheit aller Krankheiten!«283 Kein Wunder also, daß vor diesem Hintergrund die Hypochondrie »ein Inbegriff und ein vollkommenes Wörterbuch aller möglichen Kranckheiten«284 zu werden vermochte. Die Konzeption der Grenzerfahrung der Endlichkeit als Krankheit285 aber erlaubt zugleich einen permanenten Einspruch gegen dieses Verfallensein, den Jacobi in einem Brief an einen Neffen geradezu als Rechtsanspruch formuliert: »Es ist eine traurige Sache, daß die unsterbliche Seele mit der sterblichen Schererey um sich herum, so arg behaftet, u mehr des Cörpers ist, als umgekehrt, wie es doch von Rechts wegen seyn sollte.«286 Der organlose Körper (»Keinen Mund. Keine Zunge. Keine Zähne. Keinen Kehlkopf. Keine Speiseröhre. Keinen Magen. Keinen Bauch. Keinen Hintern.«) – gemäß den Autoren des Anti-Ödipus Kennzeichen der Schizophrenie wie auch der schizogenen gesellschaftlichen Produktion selbst287 – wird so zur phantasmatischen Vorstellung empfindsamer Seelen. Im Phantasma des organlosen Körpers findet das todestriebliche Begehren nach Unsterblichkeit seinen adäquaten Ausdruck. Der solcherart entleerte und entkörperlichte Körper ist Voraussetzung für den Zusammenfluß der Seelen im empfindsamen Freundschaftsbund, der die Transzendierung des Endlichen gewährleisten soll und als Eingangspforte in himmlische Gefilde imaginiert wird: »[…] so ganz Organenloß, Unmittelbahr, in ein anders Ich Hineingedrungen! Seelige! 283

Brief vom 18.1.1781 (JBW I,2, 252). Vgl. Anm. 89. 285 Auch Hamann sieht die Hypochondrie so, bewertet sie allerdings – von hier ausgehend – gänzlich anders, nämlich als Garantin einer Gottessehnsucht: »Diese Angst in der Welt ist eben der einzige Beweis unserer Heterogenität. Denn fehlte uns nichts; so würden wir es nicht beßer machen als die Heiden und Transcendentalphilosophen die von Gott nichts wißen, in seine Mutter, die liebe Natur, sich wie Narren vergaffen, und kein Heimweh uns anwandeln. Diese impertinente Unruhe, diese heil.[ige] Hypochondrie ist vielleicht das Feuer, womit wir Opferthiere gesaltzen und vor der Fäulnis des laufenden Seculi bewahrt werden müßen« (Hamann 4, 301 f.). 286 Brief an C. T. A. von Clermont vom 16.3.1786 (JBW I,5, 116). – Vgl. hierzu auch Schiller in seinen Philosophischen Briefen: »unglükseliger Widerspruch der Natur – dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schiksale angejocht – dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen […] Die Vernunft ist eine Fakel in einem Kerker.« (Schiller: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 112.) 287 Gilles Deleuze u. Félix Guatteri: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M. 1977, S. 14. Vgl. auch ebd. ihr Zitat aus Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (Frankfurt u. a. 1973, S. 379): »Präsident Schreber hat ›lange Zeit gelebt ohne Magen, ohne Därme, fast ohne Lungen, mit zerrissener Speiseröhre, ohne Blase, mit zerschmetterten Rippenknochen, (hat) seinen Kehlkopf manchmal zum Teil mit aufgegessen, usw.‹« – Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch, daß Schrebers erste große Krankheitsattacke als ernster Fall von Hypochondrie beschrieben wird. – Zum »organlosen Körper« als phantasmatischem Ideal der Anorexie vgl. auch Heinz: Programmatischer Vorschlag, S. 20–22 u. 25. 284

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Wunderbahr Seelige Empfindung […]!«288 Gerade die Schriftkultur der Empfindsamen scheint diesen »organlose[n] Freundschaftsverkehr« zu ermöglichen: »Das Sprechen ist ein Umweg über den Körper; das Schreiben ein unvermittelter, allen mechanischen Umständen zum Trotz organloser Akt.«289

2.6 Der Einspruch des Körpers? Immerhin denkbar aber bliebe schließlich noch, daß der Körper sich nicht bloß passiv in Abwertung, Zurichtung und potentieller Vernichtung erhält, sondern – im Gegenteil – sich aktiv gegen seine Fortschaffung zur Wehr setzt. Schon Georg Forster hatte mit dieser Vorstellung gespielt, als er an Jacobi schrieb: »Allein Ihr lieben Metaphysiker sorgt immer nicht genug für den Körper, weil Eure Seele ihn so despotisch beherrscht; und wenn Ihr nur Seelenfutter habt, so mag der Körper zu Grunde gehen. Ist es denn ein Wunder, daß er sich rächt?«290 Wenn es, wie Hegel behauptet, eine »List der Vernunft« gibt, vielleicht gibt es dann auch eine »List der Leiblichkeit«291. Die Hypochondrie wäre dann die Abwehr des Körpers gegen seine totale Funktionalisierung und Maschinisierung, ja letztlich gegen seine Aufhebung, denn die wahre Erfüllung der Ideale bestünde doch im Verlassen des »irdischen Schandkörpers«, also im Tod. Die in der Krankheit Hypochondrie sich manifestierende Schmerzerfahrung wäre dann nichts anderes als der »Sanktionseffekt einer Anmaßung«.292 Krankheit also als Garant der Existenz? In Abwandlung des Cartesischen Cogito wäre dann festzuhalten: Ich bin krank, also bin ich. 288

Brief von A. von Gallitzin an F. F. W. M. von Fürstenberg (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1, S. 462). – Die Rede der Gallitzin von dem organlosen Zusammenfluß in der Freundschaft verdankt sich sehr wahrscheinlich Herders Kommentar zu Hemsterhuis’ Brief Über das Verlangen, der 1781 unter dem Titel Liebe und Selbstheit im Teutschen Merkur erschien. (Herder hatte die Schrift von Hemsterhuis für den Merkur übersetzt.) Vgl. Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877–1913, Bd. 15, S. 304–326, hier S. 313; dort heißt es u. a.: »[…] kurz, da in der Freundschaft eine Vereinigung, fast ohne Organe, rein, ganz, thätig und immerwachsend statt hat: so ist sie, dünkt mich, auch der höchste Punkt alles Verlangens«. – Vgl. auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 220 f. Auch Kleinspehn erwähnt für die Zeit um 1800 »die Vorstellung vom Körper ohne Innereien und Ausscheidungsorgane« (Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich?, S. 303). 289 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 221 u. 223. 290 Brief vom 31.7.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 320). – Vgl. auch im Brief von J. Müller vom 24.2.1787: »Wie geht es mit Ihrem Kopfweh? Will die Maschine allezeit sich rächen, daß Sie so weit über sie hinausdenken?« (Müller: Werke, Bd. 38, S. 43.) 291 Vgl. hierzu Ralf Bröer: Die List der Leiblichkeit – zur Krankheitsauffassung Viktor von Weizsäckers. In: Walter Siegenthaler und Rudolf Haas (Hg.): A Delicate Balance. Möglichkeiten und Grenzen der Organtransplantation. Stuttgart u. a. 1994 (= Publikationen der Jung-Stiftung für Wissenschaft und Forschung; Bd. 6), S. 213–223. 292 In dieser Form nur mündlich mitgeteilt von Rudolf Heinz. Vgl. aber sinngemäß etwa Heinz:

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Ein neuer Weg zum Heil durch eine Art ethisch geforderter Restitution des Körpers – wie sie etwa Hartmut und Gernot Böhme unter dem Titel »Leib« im Sinne haben – ist aber damit nicht zugleich schon in Sicht. Vielmehr handelt es sich bestenfalls um eine Binnendifferenzierung, die notwendig ist, um den entropischen Zug des Todestriebs – der organlose Körper oder die Maschine wären Endstationen solcher Sehnsüchte – zu verlangsamen: »[…] notorisch liegt es immer wieder allzu nahe, Immanenzposten dieses Systems, die zugegebenermaßen den Aufschub mittragen, als Transzendierungschancen zu vindizieren: Körper, Sinnlichkeit, Sexualität. Radikal aber stellt sich der Todestrieb zu diesem wie immer auch verständlichen Ansinnen quer. Korporalität nämlich gibt sich ursprünglich nur als Nichterfahrung der Körperentropie, als Entschwinden schon eines Schwunds (Verhüllung […], die sich anfänglich entzogen hat); gibt sich ursprünglich demnach überhaupt nicht.«293

Philosophische Einführung, S. 14, wo von der »menschlichen Gottesleidenschaft« die Rede ist, »deren Erfüllung der Tod ist, die permanent also sanktioniert werden muß, und dies undualistisch mit rein internen (‚erotischen‘) Differierensmitteln«; ebd., S. 15 ist dieses Funktionsmodell zusammengefaßt unter dem Titel einer »Theorie gemaßregelter Selbstabsolutheit«. 293 Rudolf Heinz: Philosophenlesung über Technik – Todestrieb – Tod. In: Reiner Marx u. Gerhard Stebner (Hg.): Perspektiven des Todes. Interdisziplinäres Symposion I. Heidelberg 1990, S. 53–66, hier S. 60.

V. NATUR »Mon pauvre enfant, veux-tu que je te dise la vérité? C’est qu’on m’a donné un nom qui ne me convient pas: on m’appelle nature et je suis tout art«.1

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis Der Begriff »Natur« ist der wohl schillerndste des in dieser Arbeit verwendeten Leitfadens. Ende des 19. Jahrhunderts bemerkte Classen in seiner Abhandlung Zur Geschichte des Wortes Natur, daß »es in der menschlichen Sprache wenige Worte von weiterem Umfang und reicherem Inhalte« gäbe.2 Das war bereits den Zeitgenossen der Aufklärung aufgefallen.3 Der Briefwechsel Jacobis selbst ist ein sprechendes Beispiel für diese Vielfalt.4 In Überblicksdarstellungen wird versucht, das Phänomen zu bewältigen, indem die Naturbegriffe einzelner Denker herausgegriffen und exemplarisch vorgestellt werden. So findet man beispielsweise in dem von Joachim Ritter herausgegebenen Historischen Wörterbuch philosophischer Begriffe zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts eine umfangreiche Darstellung der Kantischen Philosophie.5 Eine klare, übersichtliche Darstellung ist damit gewährleistet, denn präzisere Begriffsdefinitionen als bei einem Denker wie Immanuel Kant lassen sich wohl kaum sonst irgendwo finden. Doch wird die Vielfalt des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert dadurch in inadäquater Weise verkürzt. Rousseau beispielsweise wird im gesamten Artikel Natur lediglich en passant erwähnt.6 1 Voltaire: Dialogue entre le philosophe et la nature. In: Ders.: Oeuvres complètes. Hg. v. Louis Moland. Nendeln / Liechtenstein. Nachdruck der Ausgabe Paris 1875–1885, Bd. 20 (= Dictionnaire philosophique IV), hier S. 116. 2 J. Classen: Zur Geschichte des Wortes Natur. Festschrift der Dr. Senckenbergischen Stiftung zu Frankfurt a. M. an dem Tage ihres einhundertjährigen Bestandes den 18. August 1863. Namens des Lehrer-Collegiums des Gymnasiums gewidmet. Frankfurt a. M. 1898, S. 5 u. 187. Im gleichen Sinne äußert sich Karen Gloy: Das Verständnis der Natur. 2 Bde. München 1995–1996, hier: Erster Band. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, S. 23. 3 Vgl. Basil Willey: The Eighteenth Century Background. Studies on the Idea of Nature in the Thought of the Period (1940). London 1980, S. 2 sowie Nicolson: Mountain Gloom, S. 22 f., die sich wiederum auf Arhur O. Lovejoy bezieht. Vgl. auch Gerhold K. Becker: The Divinization of Nature in Early Modern Thought. In: Thomas Bargatzky u. Rolf Kuschel (Hg.): The Invention of Nature. Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 47–61, hier S. 48. Becker verweist auf Robert Boyle, David Hume und Condorcet. 4 Vergleichbares scheint, wie Hans-Dieter Fronz’ diesbezüglich sehr knappe Analyse zeigt, für die Briefe Heinrich von Kleists zu gelten. Vgl. Hans-Dieter Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur. Variationen über ein Thema im Werk Heinrich von Kleists. Würzburg 2000 (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 296), S. 41. 5 Vgl. F. Kaulbach: Natur. Neuzeit. In: Ritter / Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, Sp. 468–478, bes. Sp. 471–475. 6 Dies scheint den generellen Umgang des Herausgebers mit Rousseau adäquat widerzuspiegeln

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V. Natur

Um eine erste grobe Schneise in die Bedeutungsvielfalt zu schlagen, bietet sich gleichwohl Kants Unterscheidung von formalem und materialem Naturbegriff an. Im formalen Sinne wird dabei Natur verstanden »als Inbegriff der wesentlichen Bestimmungen eines Dinges«, im materialen Sinne ist sie der »Inbegriff von körperlichen Dingen«.7 Beide Dimensionen von »Natur« begegnen uns auch im Briefwechsel Friedrich Heinrich Jacobis. Folgt man den Begriffen »Natur« und »natürlich« in dieser Korrespondenz, so zeigt sich zunächst ein – wohl adäquat als umgangssprachlich zu bezeichnender – Gebrauch, der einer auch heute noch geläufigen Redeweise zu entsprechen scheint und auf den hier nur der Vollständigkeit halber anfänglich verwiesen werden soll. Als Beispiel möge ein kurzer brieflicher Austausch zwischen Jacobi und dem Osnabrükker Theologen Johann Friedrich Kleuker dienen. Als Jacobi die von Kleuker besorgte Herausgabe der Wizenmannschen Schrift Die Geschichte Jesu nach dem Matthäus mit Hilfe von Heinrich Schenk korrigiert, schreibt er angesichts der Fülle anfallender Korrekturen an den Herausgeber: »Daß Schenk und ich und der arme Buchdrucker, während dieser Arbeit nicht wohl auf Sie zu sprechen waren, müssen Sie natürlich finden.«8 Doch ein Jahr später räumt Jacobi ein: »Daß Sie vieles übersahen war sehr natürlich.«9 »Natürlich« bedeutet hier so viel wie »selbstverständlich«, »nachvollziehbar«, »logisch folgend«.10 Aufgrund dieser Bedeutungsdimension können »natürlich« oder »Natur« auch als Kennzeichnung einer positiven Beurteilung dienen. So schreibt Hamann im Hinblick auf Jacobis Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: »Der Zusammenhang u die Identität Deiner Grundsätze u ihrer Resultate ist von der einen Seite so natürl. wie von der andern.«11 Dagegen kritisiert Jacobis Schwester eine Passage der Hamannschen Schrift Golgatha und Scheblimini: »[…]

(vgl. Rainer Warning: Kulturkritik im Namen einer sentimentalen Natur [Jean-Jacques Rousseau]. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 79–91, hier S. 80). 7 Gert König: Naturphilosophie. In: Das Fischer Lexikon Philosophie. Hg. v. Alwin Diemer u. Ivo Frenzel. Frankfurt a. M. 1980, S. 186–209, hier S. 187. – Vgl. zu Kant die Ausführungen bei Robert Spaemann: Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 59–74, hier S. 61 sowie Gloy: Verständnis der Natur, Bd. 1, S. 287 f., Fn. 5. – Bezugspunkt ist Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), A III. In: Ders.: Werke, Bd. V, S. 11. 8 Brief vom 17.2.1788 (Ratjen: Kleuker, S. 102). 9 Brief vom 10.3.1789 (ebd., S. 129). 10 Weitere Beispiele für diesen Sinn des Wortes »natürlich« finden sich etwa in den Briefen an Goethe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 264), von C. M. Wieland vom 12.2.1777 (JBW I,2, 53), von J. Müller vom 10.10.1786 (JBW I,5, 376), an A. von Gallitzin vom 26.6.1787 (Handschrift: Landesmuseum Münster), an Goethe vom 27.10.–2.11.1793 (Hecker: Goethe und Fritz Jacobi, Teil 2, S. 62), von F. L. zu Stolberg vom 19.2.1794 (AB II, 157) sowie im undatierten (etwa vom 24.1.1786) Brief von Goethe (JBW I,5, 36), 11 Brief vom 27.4.1787 (Hamann 7, 174).

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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der Uebergang sey nicht natürlich, oder v einer Natur die nichts tauge.«12 Der normierende Charakter dieser Berufung auf »Natur« kommt hier deutlich zum Ausdruck. Er verdankt sich dem formalen Naturbegriff, demgemäß die »Natur der Sache «13 zugleich ihr Wesen und damit ihre Wahrheit und Richtigkeit meint. In einem anderen Sinne normgebend ist die »Natur« im Hinblick auf die Beurteilung körperlicher Vorgänge. So kann von einer »natürlichen Erhitzung«, aber auch von einem fieberähnlichen Zustand gesprochen werden, der »nicht natürlich« ist.14 Hamann, der – entsprechend seiner hypochondrischen Disposition, aber auch aufgrund seines »kreatürlichen Realismus«15 – Jacobi über seine Körpervorgänge immer hinlänglich auf dem laufenden hält, berichtet in einem Brief vom Dezember 1786: »Donnerstag des Morgens beruhigte mich das Beneficium naturae eines gesunden natürlichen Stuhlganges, an dem ich beynahe verzweifelt hatte.«16 »Natürlich« bedeutet hier so viel wie »normal«, »unauffällig«, »gesund«.17 In einem hiervon abweichenden Sinne rekurriert Hamann wiederholt auf die eigene Natur und ihre jeweilige Beschaffenheit, wenn er von seinen körperlichen Problemen berichtet. Dabei steht die »willige Natur« einer »verstopft[en]« gegenüber: »[…] muste aber des Abends wider Pillen und den Morgen drauf einnehmen; weil meine sonst willige Natur jezt zu verstopft ist.«18 Eine falsche Medikation konnte die Natur verwirren: »Ich nahm Rhabarber ein, die erst diesen Morgen zu wirken anfieng. Meine willige Natur wurde

12

Brief an J. G. Hamann vom 14.3.1786 (JBW I,5, 106). – Um welche der beiden Schwestern Jacobis es sich hier handelt, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Aufgrund der unterschiedlichen Rollen von Lotte und Lene im Hause Jacobi darf jedoch davon ausgegangen werden, daß es sich um letztere handelt. 13 Brief von J. G. Hamann vom 27.4.1787 (Hamann 7, 165); ebenso in Hamanns Brief vom 6.12.1787 (Hamann 7, 368). – Zu dieser Bedeutungsdimension von »Natur« (als das »Wesen«) vgl. auch den Brief an J. G. Hamann vom 30.–31.12.1784 (JBW I,3, 412) sowie im Brief an J. G. Herder vom 22.4.1786: »Die Sache, soweit es ihre Natur zuläßt, soll mir aufs Reine.« (JBW I,5, 159.) 14 Briefe von J. G. Hamann vom 22.–30.10.1785 (JBW I,4, 214) und vom 24.12.1785 (JBW I,4, 293). 15 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 428; Schings bezieht sich hier auf E. Metzke. Vgl. auch ebd., S. 279 (»konkret und sinnlich«). – Christ spricht von der »›dürftigen‹ dialektischen Exkrementalphilosophie des ewigen Wachsens und Verwesens« (Christ: Johann Georg Hamann, S. 251). 16 Brief vom 3.–7.12.1786 (JBW I,5, 422). – Vgl. hierzu auch im Brief vom 2.12.1787: »Bey meiner Ankunft stellte sich ein zweites Beneficium meiner verstockten u überstopften Natur ein.« (Hamann 7, 363.) 17 In diesem speziellen Fall könnte »natürlich« allerdings auch die Konnotation mit sich führen: ohne einleitende therapeutische Maßnahmen. Vgl. hierzu im selben Brief: »[…] genoß des seltenen beneficium eines automatischen Stuhlgangs ohne Vermittelung meiner Chinapillen« (Hamann 7, 361). 18 Brief vom 9.–10.4.1786 (JBW I,5, 143). – Vgl. auch im Brief vom 5.–26.10.1786: »Ohngeachtet meiner willigen Natur hat die Arzney gestern nur ein einzig mal und spät gewürkt.« (JBW I,5, 369.)

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V. Natur

durch einen römischen Camillen Thé irregemacht.«19 Willig war die Natur, wenn sie – gänzlich im Sinne klassischer humoralpathologischer Vorstellungen – schädliche oder das Gleichgewicht der Säfte störende Bestandteile des Körpers absonderte.20 Einer im Gegenteil verstopften Natur mußte mit entsprechenden therapeutischen Maßnahmen geholfen werden: »Die Lavements waren verstärkt, aber meine Natur blieb verstockt, bis ich Mittwochs des Morgens einer kleinen Ladung von Steinen […] entledigt wurde.«21 Der Begriff der Natur scheint hier zusammenzufallen mit dem des Körpers.22 Die jeweilige Beschaffenheit der Natur erklärt den jeweiligen Körperzustand, wobei therapeutische Eingriffe den Charakter der Natur – und damit des Körpers – grundsätzlich verändern können. In der Beschreibung und Beurteilung von Körperwahrnehmungen, wie sie am Beispiel Hamanns nachgezeichnet wurden, überschneiden sich somit der formale und der materiale Naturbegriff. Im Gegensatz zur Veränderbarkeit körperlicher Beschaffenheiten steht die wie festgestellte »Natur« der Persönlichkeit: Der Charakter, so scheint es, ist weniger flexibel als der Körper. In Selbstbeschreibungen wird auffällig häufig von der eigenen »Natur« gesprochen. Hamann beispielsweise behauptet von sich selbst, er sei »von Natur […] ein wenig ängstlich« in bestimmten Dingen23 und Johannes Müller läßt Jacobi wissen: »[…] es ist vielmehr meine Natur, als meine Regel, immer ganz Einer Sache zu seyn«.24 Diese je eigene Natur wird oftmals als Einschränkung wahrgenommen respektive dargestellt. So identifiziert etwa Hamann – in Anspielung möglicherweise auf die Newtonsche Beharrungskraft – »eine unerklärliche und unüberwindliche vis inertiae« in seiner »Natur«25 oder spricht gar von einem »Naturfehler«, der 19 Brief vom 18.1.1786 (JBW I,5, 30). – Bestimmte Medikamente verboten sich so ›von Natur aus‹; Opium etwa ist, so Hamann, »dem ganzen Geschmack meiner Natur zuwieder« (Brief vom 27.2.1788; Hamann 7, 396). – Vgl. im übrigen auch im Brief Jacobis (zus. mit A. K. C. Jacobi) an A. von Gallitzin vom 6.1.1784: »Seit Freytag schienen alle meine Kräfte von neuen [sic] abzunehmen, u. am Sonntage war ich vom Gebrauch der Asafoetida, die meine Natur nicht vertragen konnte, ganz dahin gerichtet.« (JBW I,3, 267.) 20 So etwa beschrieben im Brief J. G. Hamanns vom 4.–10.3.1788: »Alle Abend muß ich eine starke Ausdünstung abwarten, und die Natur bedient sich aller mögl Wege zur Ausführung.« (Hamann 7, 417.) Vgl. auch im Brief an Jacobi vom 5.–26.10.1786: »Endlich bekam die materia peccans durch alle Schleusen ihren Ausfluß.« (JBW I,5, 368.) Zum Begriff der »materia peccans« vgl. Heinz Schott (Hg.): Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 130. Vgl. auch im Brief Hamanns an Jacobi vom 14.3.1787 (Hamann 7, 121) sowie von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 180. 21 Brief vom 3.–7.12.1786 (JBW I,5, 421). 22 Vgl. etwa im Brief an Jacobi vom 5.–26.10.1786: »[…] und währender Zeit scheint meine Natur die crisin glücklich überstanden zu haben.« (JBW I,5, 367.) Und wenig später: »Meine ganze Natur scheint sich geändert zu haben; und ich bin vollig hergestellt« (JBW I,5, 368). 23 Brief vom 16.1.1785 (JBW I,4, 21). – Vgl. auch seinen Brief vom 4.3.1788, wo er von seiner »natürl. Neugierde« spricht (Hamann 7, 410). 24 Brief vom 16.10.1782 (JBW I,3, 64). 25 Brief vom 11.–13.11.1786 (JBW I,5, 409).

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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»incurable« sei.26 Auch Wilhelm von Humboldt gesteht in einem Brief an Jacobi, daß er »[e]ingeschränkt« sei durch seine »natürlichen Anlagen«.27 »Natur« erscheint in allen diesen Fällen als eine unhintergehbare Instanz, die nicht selbst verantwortet ist und folglich eine entlastende Funktion haben kann.28 Wieland nutzt diese Entlastungsfunktion, indem er auf ihrer Grundlage den Anspruch formuliert, ihn so zu akzeptieren und zu tolerieren, wie er ist: »Ich verlange auch nicht zu seyn, wozu mich die Natur nicht gemacht hat.«29 Für Susanna Helena Jacobi ist es in einem vergleichbaren Sinne die Natur selbst, die sie dazu zwingt, in einen Brief Jacobis an Goethe schreibend einzugreifen: »Da es Ihnen dan doch bekannt ist, lieber Göthe, wie es mir zugesetzt haben muß, als ich auf einige Tage die Stimme verlohr; so werden Sie es auch meiner Natur zu gute halten können, daß ich dieses Blatt hier nicht kann müßig liegen sehen, […] ohne geschwinde ein Wörtchen wenigstens daran zu schreiben«.30 Selbstironisch spielt Lene Jacobi hier offenbar auf ihre ›natürliche‹ Redseligkeit an. Auch für Goethe wird im Zusammenhang der »Ettersburger Woldemar-Kreuzigung« die Natur zur exkulpierenden Instanz. Aus entsprechendem zeitlichem Abstand und einen veränderten Charakter in Aussicht stellend, schreibt er an Jacobi: »Es scheint als wenn es eines so gewaltigen Hammers bedurft habe um meine Natur von den vielen Schlacken zu befreyen«.31 Diese Entlastungsfunktion macht

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Brief vom 12.–14.11.1785 (JBW I,4, 241). Brief vom 3.6.1789 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 17). – Vgl. auch den Brief (Entwurf) von J. G. Hamann vom 16.3.1788, in dem er von jenem »μετρον« berichtet, »das aber meinem Ohr wie meinem Gemüthe von der Natur scheint versagt zu seyn« (Hamann 7, 430) sowie im Brief von J. Müller vom 24.2.1783: »Meine ganze Natur (jeder hat seine) macht mich zu lezterm nicht sehr tüchtig.« (JBW I,3, 132.) 28 Zu dieser Funktion von Natur vgl. etwa Lothar Schäfer: Wandlungen des Naturbegriffs. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 11–44, hier S. 11–13. 29 Brief vom 21.10.1774 (JBW I,1, 266). – Vgl. zu diesem Leitspruch auch in Jacobis Brief an M. S. von La Roche vom 1.7.1775: »Jeder sollte, nach dem Ausspruche eines weisen Alten, sich selbst kennen zu lernen trachten, weil wir nicht alle zu Allem gleiche Geschicklichkeit haben. Kennt er nun einmal das, wozu die Natur ihn vorzüglich begabt hat, so widme er sich dem gänzlich, thue nicht, einem unruhigen Geiste dienend, durch öfteres Abwechseln sich selbst Gewalt an.« (JBW I,2, 20.) 30 Brief vom 7.4.1793 (Hecker: Goethe und Fritz Jacobi, Teil 1, S. 68). 31 Brief vom 17.11.1782 (JBW I,3, 90). Wie der Kontext des Briefes zeigt, bezieht sich Goethe hier auf das Modell der Metallgewinnung bzw. -bearbeitung. Goethes Beschäftigung mit Mineralogie und Bergbau ergab sich nicht zuletzt aus seinem Aufgabenbereich als Minister in Weimar. Auch ein Bezug auf die hermetische Tradition wäre denkbar, dergemäß die »Beseitigung von den ›Schlakken‹ aus der Materie […] als unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des alchemistischen Prozesses« gilt (Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen. Köln u. a. 1998, S. 70). – Für Goethe scheint die Natur einen prinzipiell wandelbaren Charakter zu besitzen. Möglicherweise ist dies auf seinen dynamischen Naturbegriff zurückzuführen, den Margit Wyder im Gegensatz zum statischen der Aufklärung sieht, dem der Naturbegriff Jacobis ebenfalls zuzurechnen sei (vgl. ebd., S. 210, 212 u. ö.). 27

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V. Natur

sich auch Jacobi in einem Brief an Hamann und unter Anspielung auf Topoi der Hamannschen Philosophie, zunutze, wenngleich die Natur hier wieder ihren unwandelbaren Charakter erhält: »Was kann ich dafür, lieber Hamann, daß mein Exemplar der Natur gerade diese Buchstaben, diesen Syntax, und diese Lesarten hat?«32 Die exkulpierende Funktion von »Natur« ist nicht notwendig auf die eigene Person beschränkt. In einem Brief an August Wilhelm Rehberg etwa nimmt Jacobi die Person Lavaters gegenüber den Angriffen der Berliner Aufklärer in Schutz, indem er erklärt: »Wie ich ihn sehe, ist er mir immer eine wichtige, höchst interessante Erscheinung; eine Schöpfung, wofür ich der Natur, die sie mir zur Betrachtung und zum Mittel anderer Betrachtungen und Erkenntnisse hinstellte, recht vielen Dank schuldig zu seyn glaube. Wenn es nicht gut ist daß er so ist, wie er ist, so mag es die Natur, die ihn gemacht hat, verantworten.«33 Die Berufung auf »Natur« als unhintergehbares, nicht selbst verantwortetes und unwandelbares Faktum – mit ihrer schöpferischen Kraft tritt sie, wie obiges Zitat zeigt, geradezu an die Stelle Gottes – kann aber nicht nur ent lastend, sondern auch be lastend sein – dann nämlich, wenn das Produkt der »Natur« nicht gut geraten ist. So ist nach Jacobis Urteil sein Sohn Georg Arnold zwar »zur Verstellung und zu Tücken […] von Natur nicht aufgelegt«,34 doch leidet er gleichwohl unter einer »etwas weichen u läßigen Natur«.35 Dieser entgegenzuwirken war das – über weite Strecken allerdings verfehlte – Erziehungsziel Jacobis und der Fürstin Gallitzin.36 Auch Herder ist, Jacobi zufolge, in der unangenehmen Lage, daß »die Natur sein Ganzes nicht mit glücklicher Hand gemischt« hat.37 Die Natur fungiert somit in Selbst- wie auch in Fremdbeschreibungen als Begründungs- und Entschuldungsinstanz für bestimmte Verhaltensweisen oder charakterliche Eigenheiten. In Fremdbeschreibungen wird dabei jedoch häufiger – dies gilt insbesondere für die Briefe Wielands – der aktive Aspekt der Natur hervorgehoben. Die Natur wird aufgefaßt als »natura naturans«, als hervorbringende Natur, im vorliegenden Fall als Schöpferin des individuellen Seins, des jeweiligen Menschen: seines Charakters, seiner Besonderheiten – diese Rolle wurde ihr ja auch von Jacobi in der oben zitierten Briefstelle, die die Verteidigung Lavaters zum Gegenstand hat, zuge32

Brief vom 18.–22.10.1784 (JBW I,3, 372). – In einem ähnlichen Sinne sollte Hamann später, auf seiner »Natur« insistierend, behaupten: »[…] und für meine Natur ist nimis leider! satis.« (Brief vom 22.5.1786; JBW I,5, 216.) 33 Brief vom 2.5.1788 (AB I, 471 f.). 34 Brief an J. F. Jacobi vom 26.5.1785 (JBW I,4, 102). 35 Brief an G. A. Jacobi vom 20.6.1788 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 36 Vgl. oben das Kapitel III.3.2. 37 Brief an G. M. Kraus vom 14.9.1788 (Zoeppritz I, 108).

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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sprochen. Ein Loblied auf einen Menschen kann somit zugleich ein Loblied auf die Natur sein. Für Wieland beispielsweise ist Johann Georg Jacobi »die beste Seele, die die Natur jemals aus allen Ingredienzien, woraus sie die sanftesten dinge bildet, zusammen gewebt hat«,38 und Karl Theodor von Dalberg, Statthalter in Erfurt, gilt ihm als »einer von den auserwählten Sterblichen, aus der Classe derer, welche die Natur con amore macht«.39 Doch die Natur vermag bisweilen auch, ihre rätselhaften Kapriolen zu schlagen. Der kurze Zeit im Jacobischen Hause lebende Dichter Friedrich Werthes entpuppt sich als ein Opfer solcher Laune der Natur: »Die Natur hat den Leimen, woraus sie ihn machte, ein wenig zu fein genommen, mit Lessing zu reden, oder vielmehr, ihre Intention war, ein Weibchen aus ihm zu machen. Nun weiß ich nicht, wie ihr der Einfall kam, erst hintennach den albernen Appendix dran zu setzen; genug, er trägt nun Hosen, und dieß, so viel ich weiß, cum ratione sufficiente; aber im Uebrigen ist er die sanfteste, milchigste, weiblichste Seele, die ich jemals in Hosen gesehen habe.«40 Die Ausbildung der Geschlechtscharaktere ist somit ebenfalls ein Werk der Natur. Die Frau ist ›feiner‹ und ›sanfter‹ als der Mann; das weibliche Geschlecht hat »die Natur weicher und zahmer gebildet«.41 Vor diesem Hintergrund ist Werthes ein Fehltritt der Natur. Die »Natur« kann somit »unnatürlich« sein; sie vermag gegen die »Natur« zu verstoßen. Ein deskriptiver Naturbegriff, der das Faktische als »Natur« anspricht, und ein normativer Naturbegriff, der sozio-kulturelle Werte transportiert, kollidieren mithin an dieser Stelle. 38

Brief vom 9.10.1771 (JBW I,1, 142). Brief vom 3.1.1773 (JBW I,1, 183). – Beispiele für die »schöne Natur« eines Menschen finden sich auch in den Briefen von J. G. Hamann vom 3.–4.5.1786 (JBW I,5, 186) und vom 23.–24.8.1786 (JBW I,5, 334 ), an J. G. Hamann vom 20.7.1787 (Hamann 7, 252) und von Karoline Herder vom 12.5.1793 (Herder: Briefe, Bd. 7, S. 41). 40 Undatierter (etwa vom 2.5.1774) Brief von C. M. Wieland (JBW I,1, 227 f.). Vgl. hierzu auch den Antwortbrief an Wieland vom 8.–11.5.1774 (JBW I,1, 232). 41 Brief von J. G. Hamann vom 17.11.1787 (Hamann 7, 337). – Vgl. zur ›natürlichen‹ Geschlechterdifferenz auch im Brief von J. G. Hamann vom 22.5.1788: »Man muß Kunst nicht Scharfrichter seyn – die Verhältniße der Natur im Geschlecht und Stande niemals aus dem Gesichte verlieren« (Hamann 7, 484 f.) sowie die Diskussion um die ›natürliche‹ (Nicht-)Disposition zur Wollust bei Frauen im Brief an J. G. Hamann vom 29.7.–5.8.1785 (JBW I,4, 146). Zum Rekurs auf »Natur« bei der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (Hausen) im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. auch Glantschnig: Liebe als Dressur, S. 155–170 sowie Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1850. Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 54–58. – Neben der Geschlechterdifferenz konnten auch die Differenzen bzw. Eigenheiten ganzer Völker mit Bezug auf »Natur« erklärt werden. In diesem Sinne zitiert – allerdings nicht zustimmend – Georg Forster in seinem Brief vom 1.11.1789 die Aussage von Christoph Meiners hinsichtlich der Mongolen: »[…] diese aber [sind] von Natur häßlich und mit bösen Neigungen ausgerüstet« (Forster: Werke, Bd. 15, S. 363). Die Rassentheorie sollte später diese Alteritätskonstruktionen pseudobiologistisch ›begründen‹ und vertiefen. 39

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V. Natur

Die schrankenlose, bisweilen rätselhafte Schöpferkraft der Natur präformiert ebenfalls die zwischenmenschlichen Beziehungen. So können Individuen etwa von Natur füreinander geschaffen sein – eine Option, der gerade im Hinblick auf das Ewigkeitsideal empfindsamer Freundschaftsbünde große Bedeutsamkeit zukommt. In jenem nur in Form einer Veröffentlichung überlieferten Brief Jacobis an Sophie von La Roche, der ihre Freundschaft zum Thema hat und sie zugleich problematisiert, wird von der Berufung auf »Natur« ein entsprechender Gebrauch gemacht: »Und nehmen Sie, liebste Mariane, von mir die Erklärung an, daß ich ein so wahres, bündiges Verhältniß gegenseitiger Reize zwischen Ihnen und mir wahrnehme, daß unsere Freundschaft dadurch zu einem Naturgesetze wird. Zufällige Dinge können eine solche Uebereinstimmung der Geister und Herzen nicht zerstören, nicht einmal kränken. Wenn es etwa geschieht, daß Personen, von der Natur berufen, einander Freunde zu seyn, sich aus dem Gesichte verlieren, sich zu verlassen scheinen, um jede einen besondern Weg einzuschlagen, so verhält es sich damit ungefähr wie mit den Verschlingungen der englischen Tänze, wo Mädchen und Jünglinge oft sich trennen, jedes mit einem Dritten davon hüpft, aber beyde, nach einigen Drehungen, sich allemal wieder Hand in Hand treffen, beyde einerley Weg zusammen abmachen und zuletzt gegen einander über ruhig zu stehen kommen.«42 Hat die Freundschaft den Charakter eines Naturgesetzes, so ist ihre Beständigkeit, ihre ewige Gültigkeit garantiert. Nichts vermag sie zu erschüttern, ja ihre Kontinuität ist nicht einmal in das Belieben der beiden Protagonisten der Freundschaft selber gestellt. Sie ist notwendig im strengen Sinne einer Gesetzmäßigkeit der Natur und somit der Willkür menschlichen Zugriffs entzogen. In ebendiesem Sinne hatte Wieland eine Parallele gezogen zwischen der Liebe zu Freunden und derjenigen zu den eigenen Kindern. In beiden Fällen wird die Liebe bewirkt »durch einen eben so sanften, eben so mächtigen Zug der Natur«. Damit ist die emotionale Beziehung gerecht-

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Brief vom 1.7.1775 (JBW I,2, 17). Der Brief ist nur als Druck überliefert und im ersten Band der Werke mit der Überschrift »An Mariane ….« erschienen (WW I, 327–336; vgl. JWA 4,1, 191– 195). Es gibt einige und deutliche Indizien, die auf Sophie von La Roche als Adressatin verweisen. »Mariane« kann übrigens hier eine Bildung von Marie sein, dem ersten Vornamen der La Roche. Der Name ist aber ebenso Modename empfindsamer Romane der Zeit. Vgl. etwa Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux La vie de Marianne; vgl. auch die Protagonistin in Millers Klostergeschichte, aber auch in Gellerts Leben der schwedischen Gräfinn von G*** trägt eine der Hauptfiguren diesen Namen. – Vgl. zur Fundierung der Freundschaft in der »Natur« auch im Brief von H. K. zu Stolberg-Stolberg vom 2.9.1783: »[…] ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie wohl uns unter Ihnen wird, wie lebhaft wir fühlten, nicht daß wir Freunde werden konten, werden müsten, nein daß wir natur Freunden [sic] waren« (JBW I,4, S. 367). Im Brief an J. G. Herder vom 4.3.1786 heißt es: »Wie sehr meine ganze Natur sich in Liebe zu Dir neigt, – kannst Du wissen.« (JBW I,5, 91.)

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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fertigt, ohne einer menschlichen Rechtfertigung und Erklärung zu bedürfen, denn: »Die Natur hat nie Unrecht, liebster Jacobi!«43 Mit derselben unumstößlichen, unhintergehbaren Gesetzmäßigkeit aber vermag die Natur ebenfalls, Freundschaft von vornherein zu vereiteln. Wieland und Klopstock beispielsweise sind, nach Ansicht des ersteren, von derart unterschiedlicher Beschaffenheit, daß eine Verständigung zwischen ihnen als vollkommen unmöglich erscheint: »Ich zweifle, ob die Natur jemals zwei antipodischere Wesen hervorgebracht hat, als Klopstock und mich. Er verachtet mich und meint, ich hasse ihn. Dieß meint er unrecht […] Klopstock ist für mich der Mann im Monde oder im Hundsstern, ein Wesen aus einer mir unbekannten und mit meinen äußeren und inneren Sinnen in gar keiner Beziehung stehenden Reihe von Dingen – kurz, ein Wesen, wovon ich nichts begreife.«44 Sympathie und Freundschaft ebenso wie Antipathie und Feindschaft haben mithin den Charakter eines Naturgesetzes. Die Natur erscheint als eine von menschlichen Begehrungen und Vermögen unabhängige, formende und prägende Kraft. Nicht nur den Freundschaftsbeziehungen sind damit deutliche Grenzen gesetzt; auch die Wirksamkeit erzieherischer Maßnahmen wird in Frage gestellt.45 Sogar die Vernunft, je-

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Brief vom 16.11.1770 (JBW I,1, 99). – Wieland spielt hier möglicherweise auf Rousseau an, in dessen zweitem Discours, der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, von »der Natur […], die niemals trügt«, die Rede ist (vgl. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung, S. 193; vgl. auch ders.: Discours sur l’origine, S. 133: »[…] dans la Nature qui ne ment jamais«). Auch Alexander Pope schrieb in seinen Gedichten von »Unerring Nature« (vgl. Hermann Bauer: Idee und Entstehung des Landschaftsgartens in England. In: Barbara Baumüller, Ulrich Kuder u. Thomas Zoglauer [Hg.]: Inszenierte Natur. Landschaftskunst im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997, S. 18–37, hier S. 24). Im gleichen Sinne äußert sich auch Goethe (vgl. Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. München u. a. 1984 [= Edition Akzente], S. 9), so daß von einem literarischen resp. kulturellen Topos ausgegangen werden darf. 44 Brief von C. M. Wieland vom 9.4.1775 (JBW I,2, 8). – Wieland gehörte nicht zu jener jungen Generation von Schriftstellern, die Klopstock verehrten. Vielmehr war er insbesondere Zielscheibe ihrer Kritik. Vgl. hierzu etwa die Goethesche Satire Götter, Helden und Wieland (1773/74) sowie die Verbrennung Wielandscher Werke im Göttinger Hainbund (vgl. Alfred Kelletat: »Der Bund ist ewig«. Gedanken zur poetischen Topographie des Göttinger Hains. In: Ders.: Der Göttinger Hain, S. 401–446, zur Ablehnung Wielands S. 413–415, sowie ebd. S. 359 den Brief von J. H. Voß an E. T. J. Brückner vom 4.8.1773). – Als weiteres Beispiel für »natürliche« Feindschaft sei hier auf den einleitenden Satz eines Briefes von Mendelssohn an Hamann verwiesen: »Unser öffentlicher so wohl als Privatcharacter zeigt angebohrne Gramschaft« (zit. nach Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 282). 45 Vgl. hierzu im Brief von C. M. Wieland vom 12.2.1777 bezüglich seiner bereits (zu Beginn des Kapitels III.3.1) zitierten negativen Einschätzung des Dessauer Philanthropins (JBW I,2, 53.)

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denfalls in ihrer Gestalt als »Räsonnement und Imagination a priori«,46 muß, so Jacobis vernunftkritische Perspektive, vor der Gestaltungsmächtigkeit der Natur kapitulieren. Hamann zieht gar den fatalistischen Schluß, daß es oftmals ratsam sei, »alles seinem natürlichen vorbestimmten Gange oder Laufe [zu] überlaßen«.47 Wenngleich dieser unwandelbare und unhintergehbare Charakter von »Natur« auf den ersten Blick im Gegensatz zum aufklärerischen Vernunftenthusiasmus, zum zentralen Gedanken der Autonomie und zu den pädagogischen Ambitionen des Jahrhunderts zu stehen scheint, so ist er doch gleichwohl in zweierlei Hinsicht typisch und prägend für die Epoche. Zum ersten ist die Suche nach dem Wesen, verstanden als die »innere Natur«48 – der Vernunft,49 der Leidenschaften,50 des Willens,51 der Seele,52 der Freiheit53 und schließlich des Menschen selbst –, Ausdruck der säkularen Wahrheits- und Erkenntnissuche der Aufklärung. Die Natur ist der neue, ins Diesseits transferierte archimedische Punkt aller Gewißheit.54 Sie ist das auf der Objektseite verankerte Pendant der Vernunft.55 Die Natur wird zur normativen Instanz, ja zur moralischen Autorität.56 Zum zweiten kommt der Berufung auf »Natur« im Par-

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Brief an J. Müller vom 3.10.1787 (AB I, 433). – Vgl. auch den Brief an F. Nicolai vom 28.7.1788 (JWA 5,1, 152). 47 Brief vom 30.4.–1.5.1786 (JBW I,5, 175). – Vgl. Jacobis Brief an J. G. Schlosser vom 23.9.1786 (JBW I,5, 353) sowie den Brief von J. G. A. Forster vom 14.2.1792 (Forster: Werke, Bd. 17, S. 43). 48 Brief an M. Mendelssohn vom 4.11.1783 (JBW I,3, 235 u. 344). 49 Vgl. die Briefe von J. G. Hamann vom 2.–22.11.1783 (JBW I,3, 224) und von J. G. A. Forster vom 16.1.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 248). 50 Vgl. den Brief von J. G. Hamann vom 2.–22.11.1783 (JBW I,3, 224). 51 Vgl. den Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15). 52 Vgl. die Briefe von A. W. Rehberg vom 12.12.1785 (JBW I,4, 272) und von W. von Humboldt vom 7.2.1789 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 9). 53 Vgl. den Brief an ? (= »Circular-Correspondenz«) vom 14.1.1788 (Handschrift: Landesmuseum Münster) 54 Stäcker spricht von der »Natur als ein universelle Wahrheiten repräsentierendes Wesenhaftes« (Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 24). 55 Helmut J. Schneider hat dies – auf die Konstruktion des Naturzustandes abhebend – folgendermaßen beschrieben: »Die Natur, so sei vorläufig formuliert, ist die Schöpfung der Aufklärung. Der progredienten Zersetzung heteronomer Bindungen durch die Vernunft entspricht die regrediente Konstruktion einer autonomen Bindung« (Helmut J. Schneider: Naturerfahrung und Idylle in der deutschen Aufklärung. In: Peter Pütz [Hg.]: Erforschung der deutschen Aufklärung. Königstein i. Ts. 1980, S. 289–315, hier S. 291). Dem möchte ich unter dem Vorbehalt zustimmen, daß es sich hierbei um ein komplementäres – nicht um ein (nachträglich) kompensatorisches – Verhältnis handelt. Vgl. auch ebd., S. 290: »Sie [= die Natur] war das exoterische Heiligtum für die Werte der Vernunft.« 56 Vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 38–50. – Vgl. auch Norbert Rath: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800. Münster u. a. 1996, S. 69: »›Natur‹ [wird] zum Schlüsselbegriff bürgerlicher Normen- und Kulturkritik im Zeitalter des Absolutismus«. – Zum Begriff der »moralischen Autorität der Natur« vgl. auch Lorraine Daston u. Fernando Vidal (Hg.): The Moral Authority of Nature. Chicago u. a. 2004. Dem

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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teienkampf der Zeit um die »wahre Aufklärung«57, die richtige Auffassung von der Vernunft, den Leidenschaften und vom Menschen überhaupt eine ideologische Funktion zu: Die »Natur« ist identisch mit der Wahrheit, und jede Partei beruft sich, um ihrer Position den alleinigen Geltungsanspruch zu sichern, auf »Natur«. Der jeweils anderen Partei wird konsequentermaßen eine Unkenntnis der »Natur« vorgeworfen. Auf diese Weise entwickelte sich Natur »zum wirkungsvollsten Schlagwort der europäischen Aufklärung«58 – letzteres, wie wir noch sehen werden, interessanterweise übrigens auch insofern, als Natur zum Vehikel der Autonomie des neuzeitlichen Subjekts wurde: Man berief sich auf Natur und setzte unter diesem Namen die eigenen Regeln durch. Im Briefwechsel Jacobis wird die Strategie, Natur als Schlagwort im Kampf der aufklärerischen Parteien einzusetzen, besonders deutlich an der Auseinandersetzung mit den Berliner Aufklärern59 und der Kantischen Vernunftphilosophie. So äußert Thomas Wizenmann in seinem Brief an Jacobi vom 17. Juli 1786 sehr nachdrücklich: »Ich weiß nun gewiß, daß alles Berlinische und Kant ’sche Achselzucken über die Vernunft bloße Unkunde ihrer Natur ist. Denn sie hat nur eine einzige, ewig geltende, absolut wahre Regel: idem est idem.«60 Damit sind die Grenzen der Vernunft für Wizenmann benannt: Entgegen den Positionen der Aufklärungsphilosophie ist sie im Bereich von Moral und Religion nicht zuständig. Jacobi geht noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur die Unfähigkeit der Vernunft, zu Gott zu führen, postuliert, sondern ihr die geradezu entgegengesetzte Tendenz attestiert: Es sei nämlich »das natürliche Bedürfniß der Vernunft, nicht einen Gott zu finden, sondern ihn entbehging ein Projekts gleichen Namens am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, voraus. 57 Vgl. Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg u. a. 1974. 58 Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 289; vgl. auch Kondylis: Aufklärung, S. 350. Für den französischen Raum vgl. Wolf Lepenies: Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem achtzehnten Jahrhundert. In: Hubert Markl (Hg.): Natur und Geschichte. München 1983 (= Schriften der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung; Bd. 7), S. 263–288, hier S. 263–266. – Die Berufung auf »Natur« als Legitimationsinstanz hat eine lange Tradition. Schon Platon diente die Naturlehre (Kosmologie) als »naturalistische Legitimation seiner politischen Konzeptionen« (Lothar Schäfer: Wandlungen des Naturverständnisses. In: Günther Bien, Thomas Gil u. Joachim Wilke [Hg.]: »Natur« im Umbruch. Zur Diskussion des Naturbegriffs in Philosophie, Naturwissenschaft und Kunsttheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 [= problemata; Bd. 127], S. 23– 47, hier S. 35). Diese Funktion von Natur »als Norm und handlungsleitende Instanz für unsere Verhaltensformen und Strebensziele« ist bis heute bewahrt (Franz Böckle [Hg.]: Der umstrittene Naturbegriff. Person – Natur – Sexualität in der kirchlichen Morallehre. Düsseldorf 1987 [= Schriften der Katholischen Akademie in Bayern; Bd. 124], S. 9). Sie wird unterdessen auch für Marktstrategien genutzt (vgl. Thomas Zoglauer: Das Natürliche und das Künstliche: Über die Schwierigkeit einer Grenzziehung. In: Baumüller / Kuder / Zoglauer: Inszenierte Natur, S. 145–161, hier S. 149). 59 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung unten das Kapitel VI.4. 60 Von der Goltz: Wizenmann, Bd. 2, S. 164.

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ren zu können«.61 Die vermeintliche Einsicht in die wahre Natur der Vernunft dient Jacobi und Wizenmann als Basis für die Kritik an der Vernunftphilosophie der Aufklärungszeit. In derselben Weise und mit dem gleichen Ziel wird auch die »Natur« des Menschen angeführt. »Unkunde der menschlichen Natur«, so lautet die Diagnose, die Jacobi den Berliner Aufklärern stellt, wenn sie davon ausgehen, daß der Mensch durch »Räsonnement und Imagination a priori« bestimmt werde und nicht vielmehr – wie er selbst meint – durch »Triebe, Leidenschaften, allgemeines Beispiel und Meinung«.62 Die Vernunft wird damit erneut in ihre Schranken gewiesen. Der Mensch unterliegt, so Jacobi, vielfältigsten Einflüssen, die sein Denken und Handeln bestimmen und gegen die sich mit Vernunft nicht viel ausrichten läßt. Unkenntnis dieser menschlichen Natur führt, so hatten wir bereits gesehen, nach Jacobis Auffassung in den Terror.63 Die vordringlichste Aufgabe der Metaphysik müsse daher – angesichts des aufklärerischen Vernunftenthusiasmus – die Zergliederung der menschlichen Vernunft selbst sein – vornehmlich wohl zwecks Grenzbestimmung und zur Untersuchung ihrer Leistungsfähigkeit. »Auf Metaphysik«, so schreibt Jacobi anläßlich der Übersendung der Wizenmannschen Schrift Resultate der Jacobischen und der Mendelssohnschen Philosophie an Johannes Müller, »halte ich selbst nur so viel, als sie Naturlehre des Menschlichen Verstandes ist. Wenn Vernunft das höchste ist was wir kennen, die Summa der Menschheit, so muß alles Studium auf wohlverstandene Metaphysik hinaus laufen.«64 Metaphysik und Anthropologie sind im ausgehenden 18. Jahrhundert auf das engste miteinander verknüpft. Kant hatte die Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?« als die Grundfragen der Philosophie bestimmt, die ihm zufolge sämtlich auf eine einzige Frage zulaufen: »Was ist der Mensch?«65 Die Spuren der Suche nach einer Antwort auf diese Frage sind im Briefwechsel Jacobis allgegenwärtig.66 Die »Natur des Menschen« ist zentraler Bezugspunkt der zeit-

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Brief an J. G. Hamann vom 14.11.1786 (JBW I,5, 412). Brief an J. Müller vom 3.10.1787 (AB I, 432 f.). Hamanns Kritik am »Purismum« der Vernunft zielt in dieselbe Richtung (vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 9 u. 16–43). – Vgl. auch Jacobis Stellungnahme zur »Kryptokatholizismus«-These im Brief an C. Garve vom 27.4.1786: »Von leeren Vorspiegelungen sich dergestalt verblenden zu laßen, daß man das factum aller factorum, die menschliche Natur selbst darüber platt vergißt, und nachdem man daran erinnert worden, gar behauptet, dieses Grund factum komme gegen so herrliche Urkunden und Beweise gar nicht in Betrachtung« (JBW I,5, 172). 63 Vgl. oben das Kapitel III.2. 64 Brief vom 12.6.1786 (JBW I,5, 244). – Jacobi artikuliert hier den insbesondere mit dem Namen Immanuel Kant verknüpften Schritt von der Ontologie zur Erkenntnistheorie innerhalb der Metaphysik. 65 Immanuel Kant: Logik, A 25. In: Ders.: Werke, Bd.III, S. 448. 66 Vgl. hierzu die Briefe an T. Wizenmann vom 17.6.1784 (JBW I,3, 323), von J. G. Hamann 62

1. »Natur« im Briefwechsel Jacobis

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genössischen Diskussion. Sprechendster Ausdruck hierfür ist die Tatsache, daß sich Anthropologie als Wissenschaft zu ebendieser Zeit erstmalig konstituierte.67 Auf unterschiedliche Weise versuchte man, den Menschen zu entschlüsseln. Eine der Näherungsweisen bestand darin, sich – angeregt durch Rousseaus Utopie eines Naturzustandes und die etwa zeitgleichen Entdeckungen fremder, »primitiver« Kulturen68 – ein Bild vom sogenannten »ersten« oder »natürlichen Menschen« zu machen.69 Dabei interessierte im Umkreis Jacobis vor allem die Frage nach der Religiosität dieses Menschen.70 Das zentrale Anliegen der Jacobischen Philosophie, Moral und Religion auf ein Prinzip zu gründen, das sowohl jenseits der Vernunft (im Sinne eines bloß formallogisch – und damit mechanistisch – operierenden Vermögens) als auch jenseits historischer Offenbarung liegt und allen Menschen gemeinsam ist, mußte auf den »natürlichen Menschen« zurückführen. Wenn es eine Anlage im Menschen gibt, »ihn dahinauf zu organisieren«, dann muß sie, so behauptet Jacobi in einem Brief an Hamann, auch den ersten Menschen schon ausgezeichnet haben: »Muß also nicht im Menschen eine Kraft liegen, schon im natürlichen Menschen – deren Richtung ihn fähig macht den Geist zu empfangen, von dem wir nicht wißen v wannen er kommt noch wohin er fährt, der aber die Wahrheit selbst ist.«71 Dies ist die drängendste Frage der Jacobischen Dichtung und Philosophie; sie liegt letztlich allen seinen Schriften zugrunde.72

vom 28.9.–3.10.1785 (JBW I,4, 191) und vom 22.4.1787 (Hamann 7, 154) sowie von M. Claudius vom 19.3.1792 (Matthias Claudius: Briefe an Freunde. Hg. v. Hans Jessen. Berlin 1938, S. 345). – Vgl. zum Begriff der »menschlichen Natur« in den Werken Jacobis die von Verra zusammengetragenen Stellen (Valerio Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F. H. Jacobi. In: Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 259–280, hier S. 275, Fn. 61). 67 Vgl. Rath: Zweite Natur, S. 26–49 sowie Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1989 und den Forschungsüberblick von Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. 68 Durch die Flut an Reiseliteratur fanden diese Darstellungen immense Verbreitung. – Vgl. zur »Entdeckung« des »noble savage« in Kürze: Willey: Eighteenth Century Background, S. 12–14. Vgl. auch Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (= Hermaea; N. F. Bd. 66), S. 417–442. 69 Dieser erste oder ›primitive‹ Mensch wird nicht immer mit Rousseau als der ›edle Wilde‹ gesehen. Vgl. aber den Brief von J. G. A. Forster vom 12.2.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 268–271), die Briefe von J. J. W. Heinse vom 29.8.1780 (JBW I,2, 166) und vom 26.1.1781 (JBW I,2, 261) sowie von J. W. L. Gleim vom 21.10.1781 (JBW I,2, 354). 70 Vgl. hierzu etwa die Briefe von C. Garve vom 24.6.1786 (JBW I,5, 272–275), von F. L. zu Stolberg vom 29.1.1794 (AB II, 145), von J. G. A. Forster vom 16.1.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 247 f.) und von J. Müller vom 20.3.1786 (JBW I,5, 119). 71 Brief vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15). 72 Insofern ist der These Homanns, daß sich »Jacobis Denken [nirgendwo] fundamental an der – menschlichen oder nichtmenschlichen – Natur orientiert [zeigt]«, nur mit Einschränkung beizupflichten (Homann: Jacobis Philosophie, S. 59; vgl. auch S. 103).

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2. Natur als Leitbild und Norm der Dichtungstheorie Auch das Romanschaffen Jacobis steht im Zeichen dieser Suche nach der »Natur« des Menschen. In seinem bedeutenden Brief an Johann Georg Hamann vom 16. Juni 1783 teilt Jacobi mit, daß sein »[Hauptgegenstand] sowohl bey’m Allwill, als bey dem Woldemar u dem Kunstgarten […] gewesen ist, Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen zu liefern«.73 Die erste Ausgabe des Woldemar aus dem Jahre 1779 trug daher nicht zufällig den Untertitel Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte.74 Zu dieser Bestimmung seines Hauptgegenstandes, die Auskunft gibt über die Veranlassung seines Schreibens und auch Einblicke in sein Selbstverständnis als Autor gewährt, führt Jacobi dann im folgenden näher aus: »Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers: Daseyn zu enthüllen. Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt; das Einfache, das Unauflösliche. – Hievon Ein u Andres darzustellen, ins Auge zu bringen: überhaupt, Sinn zu regen, u durch Anschauung zu überzeugen, war meine Absicht […] Ich glaubte, und ich glaube noch, daß ein Gedicht nicht moralischer zu seyn braucht, als die Geschichte im eigentlichen Verstande; nicht erbaulicher, als die würkliche Natur.«75 Diese Orientierung an der »Natur« läßt sich bis in die Anfänge seiner schriftstellerischen Tätigkeit zurückverfolgen. Bereits während der Arbeit an seinem ersten Roman Eduard Allwills Papiere offenbart Jacobi in einem Brief an Ferdinand Kobell, Kabinettsmaler am Mannheimer Hof, sein künstlerisches Credo, in dem die Aufgabe der Kunst ebenso bestimmt wird wie die sich hieraus ergebende Aufgabe des Künstlers: 73

JBW I,3, 163. Zur »Naturgeschichte«, die »sich im 18. Jahrhundert als ›Leitwissenschaft‹ der Epoche« konstituierte (Wyder: Goethes Naturmodell, S. 3), vgl. etwa Phillip R. Sloan: Natural history, 1670–1802. In: R. C. Olby, G. N. Cantor u. J. R. R. Christie (Hg.): Companion to the History of Modern Science. London u. a. 1990, S. 295–313 sowie Wolf Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 21–41. – Daß Jacobis Rede von »Naturgeschichte« an dieser Stelle auch in die Irre führen konnte, zeigt der Brief Johann Heinrich Mercks an Herzog Karl August vom 20. Oktober 1781, demgemäß ein Professor der Naturgeschichte das Werk bestellt hätte im Glauben, es handle sich im Falle Woldemars tatsächlich um eine neu entdeckte Spezies (vgl. David: Jacobis »Woldemar«, S. 94). 75 JBW I,3, 163. Vgl. auch den Brief an M. Mendelssohn vom 4.11.1783 (JBW I,3, 237; vgl. JWA 1,1, 29). – Vgl. zu dieser Textpassage auch Renate Knoll: Jacobi und Hamann. In: Kurz: Düsseldorf, S. 121–137, hier S. 122, wo der abweichende Brieftext der Werkausgabe einer Deutung unterzogen wird (vgl. WW I, 364; vgl. auch XIII bzw. JWA 6,1, 89). – Klaus Hammacher liest diese Äußerungen Jacobis vor dem Hintergrund der Romantheorie Friedrich Blanckenburgs (vgl. Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 176 f.; vgl. auch 180). 74

2. Natur als Leitbild und Norm der Dichtungstheorie

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»Nach meinem Gefühle hat die Kunst nichts Anderes zum Zweck, als das Leben der Natur, welches überall aus ihr hervorquillt und der schöpfenden bloßen Hand so leicht entrinnt – welche auch nicht genug davon aufnehmen kann – in Gefäße zu sammeln. Leben strömt durch alle Dinge; in jedwedem wohnt ein Geist, der sich mit dem unsrigen zu vermischen strebt: es kommt nur darauf an, ob wir mächtig zum Genusse sind.«76 Geht man davon aus, daß in dieser Briefpassage das Prinzip des Jacobischen Romanschaffens ausgesagt ist, so wäre dieses in der zeitgenössischen Rezeption gleich mehrfach auf Unverständnis gestoßen. In dem größten und bedeutendsten Rezensionsorgan des deutschsprachigen Raums etwa, der Allgemeinen deutschen Bibliothek,77 ist im Jahre 1780 bei Gelegenheit einer Rezension der von Johann Georg Jacobi und Heinse herausgegebenen Frauenzeitschrift Iris zu lesen: »Was aber die guten Leserinnen mit dem unnatürlichen bombastischen Zeuge, genannt: Allwills Papiere, (das auch im deutschen Merkur steht, wie mehrere Stücke sich in beyden finden) machen sollten, werden sie ohne Zweifel so wenig gewußt haben, als wir. Dieser Kraftton sticht gar sonderbar mit dem übrigen weichlichen Wesen der sanften Iris ab.«78 Jacobis »Natur« schien also nicht jedermann »natürlich« zu sein. Die Diskrepanz zwischen seinem Selbstverständnis und dieser Rezeption des ersten Romans macht deutlich, daß »Natur« und »Natürlichkeit« zugleich Normvorgaben und Kampfbegriffe sind. Wie das Beispiel der Berliner Rezension zeigt, können sich diese nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf den Stil beziehen. Der gegen die Poetik der Aufklärung aufbegehrende »Ton« von Empfindsamkeit und Sturm und Drang wird in Berlin abgelehnt79 – und nicht nur dort. Wieland beispielsweise gibt sich zwar Jacobi

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Brief vom 27.2.1776 (JBW I,2, 39). – Vgl. auch den Brief an J. G. Jacobi vom 15.10.1785 (JBW I,4, 210). 77 In seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen sollte Jacobi von ihr als dem »paraphrasierten allgemeinen Meßcatalogus des Herrn Nikolai« sprechen (JWA 1,1, 330). 78 Allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zu Bd. 25–36, 1780, 6. Abt., S. 3426; zit. nach: JBW II,2, 243. – Vgl. auch die Briefe an G. E. Lessing vom 28.11.1780 (JBW I,2, 225) und an G. J. Göschen vom 6.4.1788 (Handschrift: SLUB Dresden). – Daß die Beiträge von Friedrich Heinrich Jacobi zur Iris – ebenso übrigens wie diejenigen von Goethe und Heinse – sich in der Zeitschrift »recht fremdartig« ausnahmen, darauf hat – mit gänzlich anderer Bewertung allerdings! – auch Manfred Dick aufmerksam gemacht (vgl. Manfred Dick: Wilhelm Heinse in Düsseldorf. In: Kurz: Düsseldorf, S. 179–195, hier S. 182). 79 Vgl. etwa Friedrich Nicolai in seiner Parodie Freuden des jungen Werthers (1775): »Viele unsrer jetzigen Schriftsteller glauben, original zu schreiben, wenn sie die Vokalen zwischen den Consonanten herausheben, den Wörtern Kopf und Schwanz abreißen, und einen Apostroph, statt des Pflasters, auf die leere Stelle kleben.« (Zit. nach: Volkmar Hansen [Hg.]: Goethe in seiner Zeit. Katalog der ständigen Ausstellung. Goethe-Museum Düsseldorf, Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung. Düsseldorf 1993, S. 57.)

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gegenüber begeistert von dessen Romanfragmenten, kritisiert aber gleichwohl mit Nachdruck »den Herderischen Ton in unserer Prosa«: »Was hilft unser ewiges Pochen auf Natur, Natur, wenn wir die Natur nicht kennen?«80 Wieland problematisiert somit »Natur« als Norm der Dichtkunst, obwohl er sich selbst an anderer Stelle zu dieser klassischen Norm bekennt.81 Insbesondere für eine »Naturgeschichte des Menschen«, die Jacobis ausdrückliches Anliegen ist, stellt sich das Problem einer objektiven, verallgemeinerbaren Darstellung von »Natur« in spezifischer Weise, wie Johann Georg Schlosser in seinem im Deutschen Museum gedruckten, offenen Brief an Jacobi vom 1. Juni 1787 feststellt. Im Hinblick nun auf die philosophischen Schriften Jacobis – die erste Ausgabe des Spinoza-Buches und der David Hume waren zu diesem Zeitpunkt erschienen – urteilt er: »Ich sehe die Spekulazion über den Menschen, über die ersten Grundsäze des Denkens, eben so an, wie die Naturgeschichte eines jeden andern Geschöpfs; Nun ist der große Unterschied dabei, daß in der Naturgeschichte der Körper, jeder Beobachter so viele und so vielerlei Exemplare vor Augen haben kan als er will; bei der Naturgeschichte des innern Menschen aber, muß jeder sich mit seinem eignen Exemplar begnügen; und nur daß [sic] Zusammentragen der Erfahrnugen [sic], die ein jeder machte, muß jede einzelne Erfahrung berichtigen. Je mehrere also gereizt werden, mit Aufrichtigkeit, und ohne Parteigeist und Schulsinn, sich auf solche Erfahrungen zu legen, sie mit den Erfahrungen anderer zu vergleichen, und Hypothesen, die alle erklären, zu finden, desto mehr gewinnt diese Wissenschaft.«82 Nicht wenige Zeitgenossen hatten ihre Zweifel, ob Jacobi tatsächlich »Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen« geliefert hat oder nicht vielmehr, wie Friedrich Schlegel in seiner Rezension des Woldemar aus dem Jahre 1796 bissig behauptet, seine »Friedrich-Heinrich-Jakobiheit«83 zur Darstellung brachte. Schon Wieland und Lavater hatten vorsichtig Zweifel an der »Natürlichkeit« seiner Darstellung geäußert. Wieland hatte – vielleicht auch in seiner Eigenschaft als Herausgeber des Teutschen Merkur, der auf Beiträge für seine Zeitschrift hoffte – sich zunächst geradezu euphorisch über 80

Brief vom 9.12.1774 (JBW I,1, 271). – Vgl. auch den Brief von C. M. Wieland vom 2.5.1774 (JBW I,1, 228). 81 Vgl. im Brief vom 27.1.1777: »denn was ist in der Kunst, das sie nicht von der Natur empfangen hat?« (JBW I,2, 52). Zu Wielands Naturbegriff vgl. Karin Stoll: Christoph Martin Wieland, Journalistik und Kritik. Bedingungen und Maßstab politischen und ästhetischen Räsonnements im »Teutschen Merkur« vor der Französischen Revolution. Bonn 1978 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; Bd. 269), S. 94–146, zu seiner Kritik des Sturm und Drang ebd., S. 39–44 u. 162. 82 [Johann Georg] Schlosser: Geheimen Hofrath Schlossers Schreiben an Herrn Geheimenrath Jacobi in Düsseldorf über dessen David Hume. In: Deutsches Museum (1787), 2. Bd., S. 338–344, hier S. 342 f. 83 Schlegel: Jakobi’s Woldemar (PLS 1.1, 263).

2. Natur als Leitbild und Norm der Dichtungstheorie

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Jacobis Romane ausgesprochen. Die an Jacobi gerichteten brieflichen Äußerungen legen nahe, daß er das Dichtungskonzept Jacobis erkannt hat, teilte und die Umsetzung desselben als gelungen betrachtete: »Was für ein Naturmaler, was für ein Seelenmaler Du bist!« heißt es in seinem Brief vom 25. April 1777, mit dem er auf die Zusendung des ersten Woldemar-Manuskripts für den Teutschen Merkur reagierte. Und weiter: »Nicht Kunst-, nicht Stückwerk, sondern Werk einer großen Natur, zu bloßem Kunstwerk sich verhaltend ungefähr wie ein schönes Kind, von der Liebe erzeugt und von Grazien erzogen, zu der schönsten Pariser Puppe.«84 Damit beschwört Wieland selbstverständlich zugleich die gängigen Topoi – wenn nicht gar: Klischees – zeitgenössischer Ästhetik. Doch finden sich in Wielands Briefen bisweilen auch kritische Andeutungen.85 Lavater stellt dann – im Hinblick auf die Neuausgabe des Woldemar im Jahre 1794 – vollends die ›natürliche‹ Herkunft der Jacobischen Romangestalten in Frage: »Ich habe lang’ in keinem Buche so viel für mich angestrichen – So wenig oder nichts gegen Einzelnes einzuwenden gewußt – aber – freilich – fast überweiblich groß sind die göttlichen Geschöpfe Henriette und Luise [sic]. O! könnt’ ich ihre Wirklichkeit glauben! Glücklich Du, fandest Du sie in der Natur! Selig Du – wenn sie Dein Herz empfand. Ich kenne die edelsten Frauenspersonen – aber so, wie diese beide, kenn’ ich keine.«86 Göttliche Geschöpfe als Nachbildungen der (menschlichen) Natur? Dies wollte Lavater, wie es scheint, nicht einleuchten. Jacobis Antwort auf die zweifelnde Nachfrage Lavaters enthält einen Hinweis auf die Ursache der hier thematischen Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis des Autors und der Leserrezeption: »Ob ich sie in der Natur gefunden, oder aus meinem Herzen erschaffen habe? – Weder das Eine ganz, noch ganz das Andere. Ich könnte sagen, daß ich sie ganz erfunden habe; denn durch das was ich fand wurde mir dieses Gesicht, und wäre mir sonst nie geworden.«87 Was auch immer Jacobi mit dieser Erläuterung genau gemeint haben mag: in jedem Fall eröffnet er hiermit in seiner Dichtungskonzeption einen Raum für idealisierende Darstellungen. Wenn die »Natur« des Menschen, wie Jacobi – in durchaus 84

JBW I,2, 56. – Die Entgegensetzung von »Natürlichkeit« und »Künstlichkeit« bzw. »Affektation« als Topos der Empfindsamkeit findet sich in diesem Zitat ebenso wie die Ablehnung des französischen Stils, der das Hofleben prägte. Insofern war »Natürlichkeit« nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine Charakternorm. Vgl. hierzu etwa J. G. A. Forsters Beschreibung seiner Frau im Brief an Jacobi vom 10.10.1785 (JBW I,4, 201). 85 Vgl. die Briefe vom 10.5.1776 (JBW I,2, 43) und vom 27.1.1777 (JBW I,2, 51). 86 Brief vom 3.5.1794 (AB II, 166 f.). Mit »Luise« ist »Allwina« gemeint, wie Jacobi in seinem Antwortschreiben auch anmerkt. 87 Brief vom 17.5.1794 (AB II, 169). – Sehr ähnlich hatte Wieland bereits 1777 im Teutschen Merkur formuliert, vgl. Christoph Martin Wieland: Gedanken über die Ideale der Alten. In: Der Teutsche Merkur, 1777, III, S. 121–169, hier S. 133.

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aufklärungstypischem Dualismus – meint, aus einem göttlichen und einem »thierischen« Trieb besteht,88 so sind die rein »göttlichen Geschöpfe« Henriette und Allwina eben auch Teil dieser menschlichen Natur. Jacobi gibt, so könnte man seine Antwort an Lavater auch interpretieren, dem menschlichen Begehren Ausdruck, ein göttliches Geschöpf zu sein. In den Idealbildungen der Empfindsamkeit ist ebendies die »schöne«, von allen »thierischen Trieben« befreite »Seele«, deren Inkarnation Henriette darstellt. Für Jacobi ist daher – wie er gegenüber Wilhelm von Humboldt vehement verteidigt – die von aller Leidenschaft freie, unerotische Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar ebenfalls Teil der Natur.89 Ein ganz anderes Mißverständnis, zu dem die Romane aufgrund ihres Anspruchs, »Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen zu liefern«, Anlaß gegeben haben, spricht sich in dem Brief des Johann Albert Henrich Reimarus vom 10. Oktober 1781 aus. Nach Lektüre der marginal überarbeiteten Fassung des Allwill in den Vermischten Schriften wirft Reimarus Jacobi vor, er preise in diesem Werk die »Herrschaft der Leidenschaften« und begünstige dadurch die nach seinem Dafürhalten inakzeptable Tendenz des Jahrhunderts zur »Ausschweifung der Begierden in Wollust«.90 In seinem ausführlichen Antwortbrief zeigt sich Jacobi bestürzt über diese Aufnahme seines Romanes und verwahrt sich ausdrücklich gegen ein solches Verständnis. Doch scheint ihm gleichwohl nachvollziehbar zu sein, wie es von seiten Reimarus’ zu einem derartigen Mißverstehen kommen konnte. Jacobi zeichnet – die Frauen müssen hiervon wohl ausgenommen werden – keine ausschließlich weißen oder schwarzen, guten oder schlechten Charaktere, die keinen Zweifel an der didaktisch-moralischen Absicht des Autors zulassen. Vielmehr ist für Jacobi gerade die Darstellung aller, auch der einander widerstrebenden menschlichen Eigenschaften und Begierden der Königsweg zu wahrer Moralität: Was kann dem Menschen, so fragt er Reimarus, »förderlicher seyn, als den ganzen Inhalt seiner Natur, so klar, so vollständig, so unverstellt als möglich vor Augen zu haben. Lehrreiche Fabeln mögen gut seyn; aber reine Geschichte, wenn sich dieselbe gleich nicht der Moral wegen zugetragen hat, behauptet dennoch ihren höheren Wert.«91 Aufklärung des Menschen über seine Natur 88

Von der »Herrschaft der thierischen Triebe« ist mehrfach die Rede; vgl. etwa Jacobis Brief an C. M. Wieland vom 30.7.1775 (JBW I,4, 329). Vgl. hierzu aber auch schon im Brief an denselben vom 27.10.1772 die Unterscheidung zwischen dem »Interesse meines besseren Selbstes« und »dem Interesse meines niedrigern Selbstes« (JBW I,1, 170). 89 Vgl. den Brief vom 2.9.1794 (AB II, 175 f.). – Das Prinzip der Naturnachahmung und die Darstellung »ideale[r] Formen« in der Kunst schlossen sich traditionell keineswegs aus, wie auch das Beispiel Wieland zeigt (Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 158–164). 90 JBW I,2, 350. – Vgl. hierzu oben das Kapitel III.2. 91 Brief vom 23.10.1781 (JBW I,2, 356 f.). Zu den Problemen dieser Jacobischen »Methode« vgl. Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 16.6.1783 (JBW I,3, 163), insbesondere die überarbeitete Fassung in WW I, 365. – Auch Wieland behauptete – vermutlich folgten hier beide einem Topos der Zeit –, »daß lebende Beispiele […] mehr nutzen als moralische oder metaphysische Dissertationen«

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als notwendige Voraussetzung erfolgreicher Moralerziehung – so ließe sich das Jacobische Programm zusammenfassen. Jacobis umfassende Antwort an Reimarus darf neben dem oben bereits erwähnten Brief an Hamann als das deutlichste, seine Autorschaft betreffende Zeugnis angesehen werden. Gegen »philosophische oder moralische falsche Münzer« und »moralische Alchemist [en]« setzt er hier sein eigenes Autorideal: »Für unverwerflich aber halte ich denjenigen – für der unschuldigsten einen, wenn er gleich nicht der nützlichste heißen kann – der mir jedes Ding in seiner eigenen wahren Gestalt; jede menschliche Kraft in ihrem wahren würklichen Maaße zu zeigen bemüht ist; ohne erbaulicher seyn zu wollen, als es die ganze liebe Schöpfung selber ist: der treue Naturforscher; der unbefangene Seher.«92 Mit dem Habitus eines Aufklärers, der nicht zufällig in einem Brief an Reimarus seinen Ort hat,93 malt Jacobi das Bild des Dichters als Naturforscher: als eines Naturforschers der menschlichen Seele.94 Die Bestimmung der Poesie von der Natur her und auf diese hin verankert Jacobi im ästhetischen Diskurs seiner Zeit. »Natur« war das Leitbild der neuen Dichtergeneration, insbesondere der Stürmer und Dränger: Goethe und Heinse, Herder und Stolberg definierten sich als Künstler über sie.95 Das ausschließlich der Natur verpflichtete Genie wurde einer regelgeleiteten Dichtkunst entgegengestellt, und so hieß »das alles Neue umgreifende Leitwort […] immer wieder: Natur«.96 Insbesondere Jacobis langjähriger »Hausgenoße«97 Wilhelm Heinse gelangte dabei – wohl nicht zuletzt

(Hacker: Ordnungsutopien, S. 93). Vgl. auch Witte: Gellert: »Das Leben der schwedischen Gräfinn von G***«, S. 128 f. 92 JBW I,2, 358. Vgl. auch JWA 6,1, 89. 93 Vgl. in demselben Brief etwa: »Sie, mein Theuerster, Sie wenigstens sind doch auch dafür, daß man – nicht den Menschen, sondern nur den Pferden Augenklappen (die wir Scheuleder hier zu Lande nennen) anschnalle. Sie wollen nicht unseren Körper, damit er fein gerade u wohl gewachsen bleibe, von Jugend auf eingeschnürt, bewickelt – und damit er nicht verletzt werde, immerdar gegängelt haben. Der Mensch, verlangen Sie, soll sich mit seinen eigenen Gliedern rühren, soll mit seinem eigenen Kopfe denken, mit seinem eigenen Herzen wünschen, mit seiner eigenen Seele handeln.« (JBW I,2, 356.) 94 Diese »Naturforscherattitüde« behauptet auch Wieland (vgl. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 155). Vgl. hierzu den Untertitel seines Werkes Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen (Leipzig 1770). Jacobi hat diese Schrift am 2.5.1770 bei seinem Buchhändler, Weidmanns Erben und Reich, bestellt (vgl. JBW I,1, 92). 95 Vgl. hierzu das erste Kapitel »Das Naturbild der Empfindsamkeit« in: Stäcker: Aufruhr der Seele. 96 Peter Boerner: Johann Wolfgang von Goethe. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 32. 97 Brief J. G. Hamanns an C. Hill vom 21.–23.9.1787 (Hamann 7, 296). Vgl. auch den Brief J. Müllers vom 10.10.1786 (JBW I,5, 378) sowie Dick: Wilhelm Heinse, S. 187 und Heinrich Pröhle: Lessing, Wieland, Heinse. Nach den handschriftlichen Quellen in Gleims Nachlasse dargestellt. Zweite Ausgabe. Berlin 1879, S. 147–156.

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auch unter dem direkten Einfluß Goethes und Jacobis98 – zu einer vergleichbaren Auffassung von dem höchsten Ziel der Poesie. Zum Verhältnis von Kunst und Natur führt Heinse in seinem umfangreichen Brief an Jacobi vom 7. Februar 1775 aus: »Das Genie stellt die Gegenstände in der Natur, deren Oberfläche und Wesen, und die Gefühle im Menschen und dessen Handlungen, oder seine eignen dar, entweder: schön und häßlich, groß und klein, stark und schwach, gut und bös, und natürlich und gekünstelt – wie sie sind, oder: die Flekken aus ihrer Schönheit gewischt, die Häßlichkeit alles Schönen beraubt, und die Mängel an ihrer Vollkommenheit ausgefüllt, oder: zu Idealen und Karikaturen erhöht. Man findet diese drey Arten von Darstellung oft in dem nämlichen Werke vereinigt. […] Welcher Art von Darstellung gebührt der Vorzug? Sonder Streit derjenigen, welche den Menschen lebendiger macht; da das Privatinteresse einzelner Secten von Lesern dem allgemeinen Wohle nachstehen muß. Die Natur, wie sie wirklich ist, hat immer mehr Gefühl im Menschen gemacht, als wie sie seyn könnte; und er empfindet sie folglich auch immer stärker wieder, als vollkommen gemachte oder idealische Natur.«99 Eine ungeschönte Darstellung der Natur ist somit auch für Heinse oberstes Ziel der Kunst. Doch während Jacobi die Darstellung der Natur des Menschen in den Dienst einer Morallehre stellte, ohne daß sie dieselbe schon gleich mitzuliefern hätte,100 ist Heinses Begründung innerästhetisch: Die Darstellung der Natur hat, so argumentiert Heinse, eine ungleich größere Wirkung auf den Menschen – im Sinne einer Extensivierung und Intensivierung von Gefühlen, Empfindungen – als eine ideale Schöpfung.101 Die Berufung auf »Natur« erweist sich wieder einmal als für vielfältige Zwecke instrumentalisierbar, und auch die jeweils hervorgebrachten Werke waren keineswegs kompatibel: Jacobi lehnte Heinses Dichtungen als der ›thierischen Natur‹ verpflichtet ab,102 während er selbst nicht zuletzt der Darstellung einer ›göttlichen‹ Natur im Menschen breiten Raum gab.103 98

Vgl. Dick: Wilhelm Heinse, S. 183. JBW I,1, 286 f. 100 Bechmann hat gezeigt, daß dieses Konzept Jacobis mit zeitgenössischen Romantheorien übereinstimmt (vgl. Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 14, 36, 55 f., 57 u. ö.). Vgl. dagegen Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 177. 101 Insofern Empfindsamkeit als »Genie zur Tugend« galt, weist diese ästhetische Begründung allerdings selbstverständlich immer schon über den Bereich der Ästhetik hinaus. Vergleichbares gilt auch für den Sturm und Drang (vgl. hierzu Luserke: Bändigung der wilden Seele, S. 288–291). 102 Vgl. die Briefe an Goethe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 265) und an C. M. Wieland vom 29.10.1777 (JBW I,2, 67). – Zu Heinses Festhalten an der Genie-Utopie und seiner Glorifizierung sinnlich-erotischen Lebens vgl. in Kürze Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 484–487. 103 Vgl. etwa Friedrich Schlegel, der in seiner Woldemar-Rezension davon spricht, daß in Jacobis 99

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Diese Diskrepanz hielt Jacobi jedoch nicht davon ab, Heinse großzügig zu unterstützen und ihm Anfang der 1780er Jahre eine dreijährige, den »bezaubernden Schönheiten der Natur und Kunst« gewidmete Reise durch die Schweiz und Italien zu finanzieren, die Heinse seit vielen Jahren herbeigesehnt hatte.104 Italien, schon lange Ziel des »Grand Tour« junger Adliger – der sogenannten »Kavalierstour« –, wurde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts exponiertes Reiseland (nicht nur) deutscher Intellektueller: »Es gibt keinen Künstler, keinen Dichter, keinen geistig interessierten Menschen, der sich von dem unmittelbaren Erlebnis der antiken Kunstdenkmäler in Italien nicht die höchste Steigerung seiner Fähigkeiten versprechen würde.«105 Als Beispiele aus dem engsten Freundeskreis Jacobis wären etwa die große Italienreise Goethes (1786-1788) zu nennen, während derer er nach eigener Auskunft »die größten Gegenstände der Kunst und Natur fast zwey Jahre auf sich würcken ließ«,106 sowie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, der im Frühsommer 1791 in Begleitung seiner Frau sowie zweier junger Männer – nämlich des 24jährigen Georg Heinrich Ludwig Nicolovius und des ein Jahr jüngeren Georg Arnold Jacobi – zu einer eineinhalb Jahre währenden Reise durch die Schweiz und Italien aufbrach. Jacobi selbst hat diese Länder – sieht man einmal von seinem frühen Bildungsaufenthalt in Genf und einer sehr späten Reise in die Schweiz im Juli 1812 ab – zeitlebens nicht bereist. Der vertraute Hausgenosse Wilhelm Heinse wurde so vielleicht auch stellvertretend für Jacobi auf die Reise geschickt; er ließ letzteren in Form umfangreicher und detailgenauer Briefe, die – wie in solchen Fällen üblich – zur Publikation bestimmt waren,107 an seinen Eindrücken partizipieren. Entsprechend den Stationen der Reise enthalten diese Briefe zunächst eindringliche Naturschilderungen der Schweizer Alpen; ihnen folgen ausführliche Beschreibungen der italienischen Landschaften und Kunstdenkmäler. Dabei bleibt der Bezug auf »Natur« maßgebend. Ein Bild erhält dann den Beifall Heinses, wenn es »voll Natur und Leben« ist;108 um »Meisterstücke« handelt es sich dann, wenn »alles nach der Natur« gemalt wurde: »Es bleibt dabey: Kunst, wenn sie gut seyn soll, muß die Natur um sich nachahmen, sonst kann sie platterdings

Roman »das göttliche Princip des Menschen in lebendiger Wirksamkeit […] dargestellt wird« (Schlegel: Jakobi’s Woldemar; PLS 1.1, 255). 104 Brief von J. J. W. Heinse vom 21.8.1783 (JBW I,3, 180). – Auch Gleim beteiligte sich an der Finanzierung dieser Reise (vgl. Dick: Wilhelm Heinse, S. 188). 105 Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953). München 1990, S. 661. 106 Brief von Goethe an Jacobi vom 21.7.1788 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,9, S. 3). 107 Vgl. hierzu etwa schon den erschlossenen Brief (etwa vom 20.11.1781) an H. C. Boie (JBW I,4, 357). – Vgl. als Beispiel auch Georg Arnold Jacobi: Briefe aus der Schweiz und Italien von Georg Arnold Jacobi in das väterliche Haus nach Düsseldorf geschrieben. 2 Bde. Lübeck u. Leipzig 1796. 108 Brief von J. J. W. Heinse vom 21.8.1783 (JBW I,3, 189).

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V. Natur

nicht täuschen, und nichts neues wahres hervorbringen.«109 Die Natur ist somit Vorbild und Norm auch der bildenden Kunst.110 Bei aller Begeisterung für die Kunst erreicht dieselbe jedoch niemals jenes Ausmaß an Euphorie, das der Natur selbst zuteil wird. Unter dem Eindruck der alpinen Landschaft formuliert Heinse – und folgt hiermit einem auf Addison zurückgehenden Topos der Zeit – das notwendige Zurückbleiben der Kunst hinter der Natur: »Die Natur allein löscht den Durst, und erquickt das leben mit Wirklichkeiten.«111 Angesichts der Natur gelten ihm selbst die größten Künstler nichts. Die Natur, nicht die Kunst, ist der Ort des Höchsten, des Heiligen, wie Heinses – im Duktus des Sturm und Drang verfaßte – Beschreibung des Rheinfalls von Schaffhausen zeigt: »Der Perlenstaub, der überall, wie von einem großen wüthenden Feuer herumdampft, und wie von einem Wirbelwind herumgejagt wird, und allen den großen Massen einen Schatten ertheilt, oder sie gewitter wolkicht macht, bildet ein so fürchterliches Ganzes mit dem Flug und Schuß und Drang, und An und Abprallen, und Wirbeln und Sieden und Schäumen in der Tiefe, und dem Brausen und dem majestätischen Erdbebenartigen Krachen dazwischen, daß alle Tiziane, Rubense, und Vernets vor der Natur müssen zu kleinen Kindern und lächerlichen Affen werden. O Gott, welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm durch all mein Wesen! heilig! heilig! heilig! brüllt es in Mark und Gebein.«112 Diese Heiligsprechung bleibt – sieht man einmal von der Freundschaft ab – auch angesichts der späteren Begeisterung für die italienischen Kunstwerke allein der Natur vorbehalten.113 Als diese »heilige« Natur ist sie dann auch Vorbild der Kunst: »O

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Ebd. (JBW I,3, 195). Seinen deutlichsten Ausdruck findet diese Überzeugung Heinses in seinen (fingierten) Briefen an Gleim über die Düsseldorfer Gemäldegalerie, die 1776/77 in Wielands Teutschem Merkur erschienen, insbesondere im zweiten Teil, der gänzlich den Werken von Rubens gewidmet ist (vgl. Heinse: Werke, Bd. 9, S. 328–363). Heinses Kunstauffassung sowie die Art der Bildbeschreibungen steht dabei exemplarisch für die neue Kunstbetrachtung des Sturm und Drang (vgl. Ernst H. Lehmann: Die Anfänge der Kunstzeitschrift in Deutschland. Leipzig 1932, S. 102). 111 Brief vom 7.3.1781 (JBW I,2, 281). – Vgl. zu diesem Topos Addisons Unterscheidung von »primary pleasures«, deren Gegenstand die Natur ist, und »secondary pleasures«, die sich auf die Kunst beziehen (Nicolson: Mountain Gloom, S. 308). In Spectator 414 lautet das Thema seines Artikels dann programmatisch The works of nature more pleasing to the imagination than those of art. Diese These vertreten dann in der Folge unter anderem auch der Spectator-Übersetzer Barthold Heinrich Brockes und Johann Georg Sulzer (vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 54 f.). 112 Brief aus Luzern vom 29.8.1780 (JBW I,2, 169). 113 Vgl. auch die Briefe von J. J. W. Heinse vom 10.9.1780 (JBW I,2, 173), vom 22.11.1780 (JBW I,2, 222) und vom 31.1.1781 (JBW I,2, 269). 110

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heilige Natur, die du alle deine Werke hervorbringst in Liebe, Leben und Feuer, und nicht mit Zirkel, Lineal, Nachäfferey, dir allein will ich ewig huldigen!«114 Die Orientierung an der »Natur« war keine wirklich neuartige Erscheinung im Bereich der Dichtungstheorie – nicht zuletzt aufgrund der seit der Antike wirksamen Regel, derzufolge Poesie die Aufgabe hat, die Natur nachzuahmen (»imitatio naturae«-Prinzip). Die Berufung auf »Natur« diente somit jeder neuen Generation als Legitimationsinstanz ihres künstlerischen Credo: »The Nature of one age becomes the Art of the next, and each new school has to fight against the Nature of the last age.«115 Mit dem im Heinse-Zitat augenfällig werdenden Anbetungsgestus der Geniezeit scheint diese Vorbildfunktion der Natur einen Höhepunkt erreicht zu haben. Tatsächlich jedoch wird das Nachahmungsprinzip mit der Genieästhetik, spätestens jedoch in Klassik und Romantik verabschiedet.116 In der Übergangszeit aber fallen, so Norbert Rath unter Rekurs auf Hans Blumenberg, Anknüpfung und Verabschiedung nachgerade zusammen: »Der Abschied von dem ehrwürdigen Theorem, daß die Kunst eine Nachahmung der Natur sei, vollzieht sich im 18. Jahrhundert in Etappen und anfangs unter dem Titel gerade dieses zu verabschiedenden Theorems.«117 Die durchaus traditionelle Orientierung an der Natur erhielt somit innerhalb der Genieästhetik ihre spezifische – und damit jegliche Tradition eigentlich zerbrechende – Konnotation. Der Natur und nicht mehr den Regeln zu folgen hieß letztlich: seiner Natur, sich selbst zu folgen, d. h. alles – original und genialisch – aus sich selbst zu schöpfen. Die Natur fungierte somit als eine Art Transportmittel für das seine Autonomie reklamierende Subjekt der Moderne, wie sich im folgenden noch deutlicher zeigen wird.

114

Heinses Brief an Gleim (= Gemäldegalerie-Brief) vom Mai-Juli 1777 (Heinse: Werke, Bd. 9,

S. 344). 115

Willey: Eighteenth Century Background, S. 18. In diesem Sinne auch Nicolson: Mountain Gloom, S. 132: »For centuries man had turned to the supposedly eternal and immutable heavens for proof of his ethics and aesthetics.« Vgl. auch ebd., S. 271. 116 Vgl. Hans Robert Jauß: Kunst als Anti-Natur: Zur ästhetischen Wende nach 1789. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 209–243, hier S. 212 u. 218. 117 Rath: Zweite Natur, S. 68. Vgl. das Blumenberg-Zitat ebd., S. 70: »So mächtig ist die in der metaphysischen Tradition verwurzelte Urformel von der ›Nachahmung der Natur‹, daß ihre Sanktion für die Deutung des menschlichen Werkes auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn das genaue Gegenteil ihrer genuinen Bedeutung gesagt, ja ›proklamiert‹ werden soll!« – Zu den Anfängen der Auflösung des »imitatio naturae«-Prinzips vgl. auch Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 151, 154 f. u. 164.

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V. Natur

3. Die »heilige« Natur »In short, whether you looked without or within, Nature (without any supernatural revelation) offered you all that was needful for salvation.« 118 »The Eighteenth century […] did not cease to bow down and worship; it only gave another form and a new name to the object of worship: it deified Nature and denatured God«.119

3.1 Die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur in der Moderne Die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur, die in Heinses Briefen exemplarisch zum Ausdruck kommt, ist ein Novum der Aufklärungszeit und steht für das neue, spezifisch moderne Naturverhältnis. Joachim Ritter hat die Ästhetisierung der Natur identifiziert als Komplementärereignis zu der Herausbildung moderner Naturwissenschaft: Die antike Vergegenwärtigung des Ganzen – auch verstanden als des Göttlichen – der Natur im philosophischen Begriff ging, so Ritter, mit der für die naturwissenschaftliche Betrachtung grundlegenden Zergliederung, Verdinglichung und Beherrschung der Natur verloren und mußte daher durch ein neues, alsdann ästhetisches Organ kompensatorisch aufgefangen werden: »Die ästhetische Natur als Landschaft hat so im Gegenspiel gegen die dem metaphysischen Begriff entzogene Objektwelt der Naturwissenschaft die Funktion übernommen, in ›anschaulichen‹, aus der Innerlichkeit entsprungenen Bildern das Naturganze und den ›harmonischen Einklang im Kosmos‹ zu vermitteln und ästhetisch für den Menschen gegenwärtig zu halten.«120 Die Ästhetisierung der Natur in Form der Entstehung von »Landschaft« ist somit nach Ritter Produkt und Ausdruck der für die moderne Subjektivität typischen Entzweiungsstruktur;121 in ihr ist die Entfremdung des Menschen von der Natur zugleich Garant und Preis menschlicher Freiheit.122 Insofern zieht Ritter das

118

Willey: Eighteenth Century Background, S. 8. Carl L. Becker, zit. nach Becker: Divinization of Nature, S. 58. 120 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963). In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974, S. 141–163 u. 172–190, hier S. 153. – Unklar bleibt bei Ritter, warum dieser Verlust kompensatorisch aufgefangen werden mußte, woher sich das Bedürfnis also speist. Er behauptet lediglich, daß die »ganze Natur« zum »Dasein des Menschen gehört«, begründet dies aber nicht weiter (ebd., S. 157). Vgl. hierzu auch kritisch Ruth Groh und Dieter Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung. In: Dies.: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a. M. 1991, S. 92–149, hier S. 104. 121 Vgl. hierzu auch Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution (1956). In: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a. M. 1977, S. 183–233. 122 Diese Position Ritters, derzufolge auch eine rückhaltlose Ausbeutung der Natur als Freiheitsgarantie a priori gerechtfertigt erscheint, ist vielfach kritisiert worden. Vgl. etwa Begemann: Furcht und Angst, S. 110 sowie Groh / Groh: Bergen, S. 100–104; zur Kritik der Kompensations119

3. Die »heilige« Natur

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Fazit: »Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.«123 Im Ausgang von dieser These Ritters und ihrer Kritik haben Ruth und Dieter Groh sich – fast dreißig Jahre später – der Frage nach den Bedingungen für die Ästhetisierung der Natur in der Moderne erneut zugewandt. Auf der Grundlage umfangreichen historischen Quellenmaterials und der entsprechenden Forschungsliteratur verfolgen sie den Prozeß der Ästhetisierung bis zu seinem vermeintlichen Ursprung, den sie in den Entdeckungen der neuzeitlichen Astronomie und der auf diese reagierenden Physikotheologie ausmachen. Der kopernikanische Schock eines unendlichen – da ins Unendliche sich ausdehnenden – Weltalls, nach Freud die historisch erste der drei großen narzißtischen Kränkungen der Menschheit,124 wurde von den Physikotheologen aufgefangen durch die Identifikation des Göttlichen mit dem Kosmos selbst: Die Unendlichkeit der Natur entsprach nun der Unendlichkeit Gottes.125 Die metaphysische Aufladung des physikalischen Begriffs der Unendlichkeit wird von Groh / Groh als Dreh- und Angelpunkt der neuen ästhetischen Naturbetrachtung gesehen: »Es war jedoch genau diese Identifizierung der Prädikate Gottes mit denen des Raumes, mit deren Hilfe eine ästhetische Kategorie entstand, die in ihrem Begriff selbst die Vermittlung von Sinnlichem und Übersinnlichem, von Physik und Metaphysik leistete: der Begriff der Unendlichkeit. Die ›Ästhetik des Unendlichen‹ (Tuveson) wurde zum Ursprung der Ästhetik des Naturerhabenen.«126

these vgl. auch dies.: Zur Entstehung und Funktion der Kompensationsthese. In: Dies.: Weltbild und Naturaneignung, S. 150–170. 123 Ritter: Landschaft, S. 162. 124 Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 294 f.; vgl. auch ders.: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (ebd., Bd. 12, S. 6–12). – Zum revolutionären Charakter dieses Zerbrechens eines finiten Kosmos vgl. Alexandre Koyre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Frankfurt a. M. 1969 sowie Marjorie H. Nicolson: The Breaking of the Circle. Evanston, Ill. 1950 und Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a. M. 1975. 125 Nach Hacker assistierte hierbei noch die Vorstellung der »chain of being«, derzufolge alles Sein nach dem Prinzip der Ähnlichkeit vom Niedrigsten bis zum Höchsten geordnet ist. Vgl. Hakker: Ordnungsutopien, S. 34. Vgl. auch Wyder: Goethes Naturmodell sowie – grundlegend – Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M. 1985. 126 Groh / Groh: Bergen, S. 123; vgl. auch Klaus Poenicke: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Pries: Das Erhabene, S. 75–90, hier S. 79 f. Beide beziehen sich auf Nicolson: Mountain Gloom. Die Begriffsprägung »the Aesthetics of the Infinite« verdankt Nicolson, nach eigener Auskunft, Ernest Lee Tuveson (ebd., S. xiii). Die Lektüre des Buches von Nicolson läßt deutlich werden, wie viel Groh / Groh dieser Studie zu verdanken haben.

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V. Natur

Mit dieser Einschätzung folgen Groh / Groh den Ergebnissen der grundlegenden ideengeschichtlichen Studie von Marjorie H. Nicolson Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. Die Wirkungsmächtigkeit dieser neuen Ästhetik aber läßt sich noch bis zu Kant verfolgen, der in seiner Kritik der Urteilskraft definiert: »Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.«127 Die Offenbarung Gottes in der Natur war das Grundthema aller physikotheologischen Werke: Erkenntnis und Bewunderung, ja Anbetung der Natur fielen nun zusammen mit derjenigen Gottes. Den Anfang machten dabei die Cambridger Platoniker,128 die übrigens – dies sei beiläufig in Erinnerung gerufen – von Gerhard Sauder zunächst auch als ideengeschichtlicher Ursprung der europäischen Empfindsamkeit identifiziert worden waren.129 Nach Groh / Groh kommt dabei Henry More, dem »Kopf« der Cambridger Platoniker, eine »Schlüsselrolle« zu, da dieser bereits in seinem 1671 erschienenen Werk Enchiridion Metaphysicum »dem unendlichen Raum die Prädikate des unendlichen Gottes [zuspricht]: unum, simplex, aeternum, a se existens, omnipraesens etc.«130 Die physikotheologische Argumentation weist Nicolson bereits in Mores 1652 erschienenen Werk An Antidote against Atheism nach; Nicolson pointiert: »Henry More was the first English poet to express and the first English philosopher to teach the idea of infinite space and an infinity of worlds«.131 Ihre Ausführungen zu Henry More schließen daher mit den Worten: »We have found the beginning of ›The Aesthetics of the Infinite.‹«132 127

Kant: Kritik der Urteilskraft, B 93. In: Ders.: Werke, Bd. V, S. 342. Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 114. – Vgl. auch G. A. John Rogers: Die Cambridger Platoniker. In: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3 (England). 2 Halbbde. Basel 1988 (= Grundriß der Geschichte der Philosophie, begr. v. Friedrich Ueberweg), 1. Halbbd., S. 240–290. 129 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1995), S. 94. Vgl. aber jetzt Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung, S. 331 u. 334. – Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund stellt sich die Kritik von Groh / Groh an Ritter als problematisch dar. Abgesehen davon, daß Ritter m. E. seine These nicht dogmatisch auf das ausgehende 18. Jahrhundert festlegt, wie Groh / Groh behaupten (Groh / Groh: Bergen, S. 99), ist das Beispiel England immer geeignet, Quellen, Vorläufer und Anfänge gesamteuropäischer Entwicklungen der Aufklärungszeit und damit auch der Moderne aufzuspüren. Daß zudem Ritter im Ernst behauptet hätte, die moderne Subjektivität sei Ende des 18. Jahrhunderts quasi vom Himmel gefallen und nicht vielmehr »Endpunkt eines jahrhundertelangen Prozesses« (ebd., S. 108), kann ich nicht sehen. Von der früheren Datierung einmal abgesehen – wobei fraglich bleiben muß, ob es vor dem Hintergrund des Problems von Epochenschwellen ratsam ist, in diesem spezifischen Fall die »Mitte des 17. Jahrhunderts« (ebd., S. 114) als vormodern (ebd., S. 108 u. 136) zu bezeichnen – scheinen Groh / Groh demgegenüber an zentralen Thesen Ritters festzuhalten (vgl. etwa ebd., S. 114, 124 u. 131). 130 Ebd., S. 123. Das vollständige Zitat aus Mores Werk findet sich bei Nicolson: Mountain Gloom, S. 135; dort auch S. 114–140 zu der herausragenden Rolle Henry Mores. 131 Ebd., S. 115 f. Das Zitat befindet sich auf S. 134. 132 Ebd., S. 140; vgl. auch S. 143. – Das entscheidende Modell für die meisten physikotheologischen Traktate stellt dagegen John Rays Werk The Wisdom of God (1691) dar (ebd., S. 253). 128

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In Deutschland fand die neue, physikotheologisch inspirierte Naturbetrachtung Verbreitung vor allem durch die Werke des Spectator- und Pope-Übersetzers Barthold Heinrich Brockes, insbesondere durch seine zwischen 1721 und 1748 erschienene neunteilige Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, welche als das »meistgelesene poetische Werk der ersten Jahrhunderthälfte« gelten kann.133 Der Titel ist Programm: Bei allem Bezug auf Gott als den Schöpfer der Natur ist die Physikotheologie früher Ausdruck einer Säkularisierungsbewegung, die in diesem Stadium bereits die orthodox christliche, rein biblische Offenbarung überschreitet.134 Dies impliziert zunächst zweierlei: Zum ersten ist die »Heilige Schrift« nicht mehr (alleiniger) Ort der Offenbarung Gottes: das »Buch der Natur« tritt allmählich an ihre Stelle.135 In seinem programmatischen Text Über die Fülle des Herzens führt der Hainbündler Friedrich Leopold Stolberg entsprechend aus: »[…] ihre [= der Natur] Schönheit ansehen, um die Zeit zu vertreiben, den Blick daran zu weiden wie an einer Theaterdekoration, und nicht in ihr hören, sehen, fühlen Stimme Gottes, Spuren Gottes, Nähe Gottes, Offenbarung Gottes, sie, so heilig wie die schriftliche, allgemeiner, älter, und ans Herz redend wie sie, o, das ist des Menschen unwürdig«.136 Dies ist ganz in der Tradition Brockes’ gesprochen, der in seinem Werk Irdisches Vergnügen in Gott gemahnt hatte, »wer Gott nicht in einem Baum erkenne, sei ›ein Atheist, ein Vieh, ein Klotz, ein Fels, ja noch was Gröberes‹«.137

133

Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 296. Das Werk erfuhr in den folgenden 23 Jahren sieben Auflagen. – Vgl. zu Brockes’ Werk auch Hans-Georg Kemper: Gottesebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981 (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 64 u. 65), hier Bd. I, S. 9–25 u. 310–361. Hierauf bezieht sich auch Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, S. 34; ihre Deutung unterstreicht den Übergangscharakter der Physikotheologie im Säkularisierungsprozeß. 134 Vgl. Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 296 f. 135 Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 116. – Zur Frühgeschichte der Metapher vom »Buch der Natur«, das hier gleichberechtigt als Medium der Offenbarung neben die Bibel tritt, vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 323–329. Vgl. auch Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981. 136 Friedrich Leopold Stolberg: Über die Fülle des Herzens (1777). In: Kelletat: Der Göttinger Hain, S. 231–243, hier S. 237 f. Der Text erschien 1777 im Deutschen Museum. Vgl. dazu etwa Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 25–31. 137 Zit. nach Adrian von Buttlar: Das Grab im Garten. Zur naturreligiösen Deutung eines arkadischen Gartenmotivs. In: Heinke Wunderlich (Hg.): »Landschaft« und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, 20.–23. November 1991. Heidelberg 1995 (= Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts; Bd. 13), S. 79–119, hier S. 85. Vgl. auch Brockes’ Gedicht mit dem vielsagenden Titel »Unempfindlichkeit über Göttliche Wohltaten, ein Verbrechen« (zit. nach Wolfgang Kehn: »Natur und Tugend führen zu Gott« – Metaphysik und Moralphilosophie in der deutschen Gartenkunst der Spätaufklärung. In: Das Gartenamt 34 [1985], S. 77–82, hier S. 82).

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Mit der Anbetung der Natur wird diese aber nicht nur zur Offenbarungsstätte Gottes, sondern ineins damit fällt zum zweiten auch die Lehre von der unhintergehbaren Heillosigkeit der Welt.138 Mit Blick auf die Überwindung des Gegensatzes von Himmel und Erde in der Poesie Klopstocks führt Meredith Lee hierzu aus: »The contemptus mundi tradition, with its opposition of earthly misery and heavenly bliss, is banished in the proclamation that the entire temple is the dwelling of God – he is ›allgegenwärtig‹«139 Von diesem Moment an, der vielleicht – paradoxerweise gerade in seiner partiellen Negation der biblischen Lehre vom Sündenfall – als der »Sündenfall« der Moderne bezeichnet werden könnte, ist die Bedingung der Möglichkeit für den Menschen geschaffen, in dieser Welt sein Heil zu suchen, wobei, wie bereits dargestellt, »Natur« und »Natürlichkeit« zum neuen Maßstab in nahezu allen Bereichen der Kultur wurden: »Erst mit dem Verblassen der christlichen Erbsündenlehre, der die Natur durch die Sünde entstellt ist, kommt das aufklärerische Naturideal zur Entfaltung, das die Mängel der bestehenden Zustände nicht mehr an einem außer- und überirdischen Jenseits mißt, sondern an einem Diesseits: sei es, daß eine dem Menschen natürliche Vernunft, ein natürliches Gefühl, eine natürliche Moral, natürliche Religion, natürliche Gesellschaft, natürliche Gerechtigkeit, natürliche Kunst gedacht werden; sei es, daß Mutter Natur als letztes schöpferisches Prinzip im Menschen und außer ihm gefeiert wird; sei es, daß natürliche, frei gewachsene Landschaft als Resonanzraum menschlicher Sehnsucht nach Freiheit und Harmonie erlebt wird.«140 Mit der physikotheologischen Hinwendung zur Natur war aber darüber hinaus ein Prozeß in Gang gesetzt, in dessen Verlauf der Mensch allmählich an die Stelle Gottes trat, indem die göttlichen Qualitäten der Natur zunehmend dem Subjekt selber zugesprochen wurden. Diese Wende zum Subjekt ist in den physikotheologischen Schriften bereits angelegt: Der subjektive Anteil wird schon bei Dennis, Shaftesbury und Addison betont, nicht zuletzt in Gestalt eines »Transfer[s] des Erhabenen von Gott über die äußere Natur zur Seele des Menschen und umgekehrt«.141 Auch für Brockes und Klopstock läßt sich diese Wende zum Subjekt aufzeigen, die übrigens

138

Vgl. hierzu Willey: Eighteenth Century Background, bes. S. 4, 7 f., 10 u. 59. Lee: Klopstock’s Temple Imagery, S. 216. 140 Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 12. 141 Groh / Groh: Bergen, S. 134; wie Nicolson: Mountain Gloom, S. 315. – Auch für Henry More kann diese Tendenz bereits nachgewiesen werden (vgl. ebd., S. 136 f.; zum allgemeinen Charakter wie auch zum umfassenden Anspruch [= Transzendenz des Todes] dieser Tendenz vgl. ihr Resümee S. 142 f.). 139

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mit einer Wende zur Wirkungsästhetik im Bereich der Kunst Hand in Hand geht.142 Das Verschmelzen des Subjekts mit der Natur (= Gott) durch das Prinzip der Ähnlichkeit,143 d. h. aufgrund der spezifischen Beschaffenheit der menschlichen (= unsterblichen) Seele, diente, so scheint es, im Sinne einer »List der Vernunft« als Einfallstor der Identifizierung des Ich mit Gott, wie Rousseau es in dem Naturerlebnis seiner Rêveries später beschreiben sollte: »De rien d’extérieur à soi, de rien sinon soimême et de sa propre existence, tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu.«144 Rousseau markiert den (vorläufigen) Gipfel einer Entwicklung, die auf vielfältige und bedeutende Weise mit der Physikotheologie verknüpft ist.145 Den mit der Physikotheologie einsetzenden Prozeß der Ästhetisierung von Natur haben Ruth und Dieter Groh – sowie vor ihnen bereits Christian Begemann und Carsten Zelle – an der Herausbildung der ästhetischen – und darüber hinaus auch die Alltagserfahrung prägenden – Kategorie des Erhabenen aufgezeigt, die sich exemplarisch anhand der veränderten Wahrnehmung des Gebirges, insbesondere der Alpen, darstellen läßt.146 Die Frage nach den Ursachen und der Durchsetzung der veränderten Wahrnehmung des Gebirges zu Beginn der Moderne war daher auch Fokus jener Untersuchung von Marjorie Nicolson, in welcher sie für Großbritannien den radikalen Umbruch im Denken des 17. Jahrhunderts in den Bereichen Literatur, 142

Vgl. zu Brockes etwa das bei Groh / Groh: Bergen, S. 122 zitierte Gedicht Das Firmament; zu Klopstock vgl. Jacob: Heilige Poesie, S. 160, Fn. 95. 143 Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 126. 144 Rousseau: Rêveries, 1047; vgl. auch Rousseau: Träumereien, S. 699. – Ganz ähnliche Beispiele wie das angeführte von Rousseau finden sich im übrigen bei Birgit Wagner: Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung. Wien u. a. 1985 (= Junge Wiener Romanistik; Bd. 7), S. 37 f. 145 Insofern überzeichnen m. E. Groh / Groh die Differenz zwischen Rousseau und der vorhergehenden Naturwahrnehmung (vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 137–140): Nicht nur der Subjektbezug ist zuvor schon gegeben, auch der Selbstverlust war früher schon konstitutiver Bestandteil der Erfahrung des Erhabenen / Göttlichen. Leere und Fülle sind zudem nicht – wie Groh / Groh dies darstellen – unvermittelte Gegensätze, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille. 146 Zur zentralen Bedeutung der Ästhetik des Erhabenen in diesem Übergangsprozess vgl. auch Nicolson: Mountain Gloom, S. 27: »The discovery that makes the most profound difference between older and ›modern‹ landscape was of what we now call the ›Sublime‹ in Nature.« Nicolson insistiert zugleich darauf – und vermag dies auch zu zeigen –, daß »the natural Sublime« keineswegs als Effekt des »rhetorical Sublime« mißdeutet werden darf, wie es im Traktat peri hypsous des PseudoLonginus entwickelt wurde, welches 1674 von Boileau übersetzt und kommentiert erschien (vgl. ebd., S. 29–31, 143, 280 f. u. 295; Nicolson beurteilt Addison allerdings differenzierter: ebd., S. 300 f. u. 310 f.). – Zu einer anderen Einschätzung Longins gelangt Carsten Zelle (vgl. Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung). Zelle unterscheidet zwei Traditionslinien der Erhabenheitsdiskussion: eine französische und eine englische, wobei letztere der Trennung eines ›natural sublime‹ von der Tradition eines ›rhetorical sublime‹ verpflichtet sei. Die Differenz zu Nicolson dürfte hierin begründet sein. – Zu genauen Differenzierungen innerhalb der ästhetischen Theorien vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart u. a. 1995, etwa S. 124 u. 134 f.

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Theologie, Philosophie, Astronomie und Geologie darstellt. Sie vermochte dabei zu zeigen, daß die neue Sicht des Gebirges »was a result of one of the most profound revolutions in thought that has ever occured«.147 Nach ihrer Auskunft war John Milton »the first English poet to practice the ›Aesthetics of the Infinite,‹ the transfer of vastness from God to interstellar space, then to terrestrial mountains.«148 Auch Groh / Groh sehen England als das Ursprungsland der neuen Ästhetik: »Für die Entstehung der Ästhetik des Erhabenen war das Alpenerlebnis der englischen Aristokraten ein auslösender Faktor.«149 John Dennis, der Earl of Shaftesbury und Joseph Addison, sämtlich dem Gedankengut der Cambridger Platoniker verpflichtet und ebenso sämtlich mit der Erfahrung eines »Grand Tour« durch die Alpen ausgestattet, führten dann um die Wende zum 18. Jahrhundert die Ästhetik des Erhabenen im einzelnen aus.150 Nicht zuletzt bedingt durch die Rezeption dieser Werke setzte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Ästhetisierung des Gebirges allgemein durch. Geprägt wurde dieser neue Blick im deutschen Sprachraum durch die Lektüre weiterer epochemachender literarischer Werke wie etwa Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1732) oder Rousseaus Briefroman La Nouvelle Héloise, ou lettres de deux amans habitans d’une petite ville au pied des Alpes (1761/64).151 In Hallers stark rezipiertem Lehrgedicht figurieren die Alpen als idyllisch-utopischer Aufenthaltsort unverdorbener, anspruchsloser, glücklicher Bewohner. Die Schweiz wurde auf diese Weise zum Arkadien der Moderne.152 Rousseau aber blieb es vorbehalten, mit seinem Werk wie kein anderer den Blick auf die Schweizer Bergwelt gelenkt zu haben.153 Zum Teil noch bis ins 18. Jahrhundert hinein »mißliche Durchgangsstation für ein amön-antikisches Italien« wie auch zum »garden Italy« entwickelten sich unter diesen Einflüssen im Verlauf der Aufklärungszeit die Alpen zu einer touristischen Attraktion ersten Ranges.154 Bestimmte Orte kristallisierten 147

Nicolson: Mountain Gloom, S. 3; vgl. auch S. 113: Das 17. Jahrhundert »was a ›century of revolutions‹, affecting every field of thought«. 148 Ebd., S. 273. 149 Groh / Groh: Bergen, S. 126. 150 Vgl. ebd., S. 121 u. 128–134. (Dort ist irrtümlich von der »Wende zum 17. Jahrhundert« die Rede.) Vgl. auch Nicolson: Mountain Gloom, S. 276 ff. (= »The Aesthetics of the Infinite«); zu Dennis S. 285. – Vgl. auch Zelle: Schönheit und Erhabenheit, S. 65 f. 151 Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 95 f. – Eine vergleichbare Rolle scheint im englischen Sprachraum Thomas Burnets Sacred Theory of the Earth zugekommen zu sein. Der Transfer des Gedankenguts der Cambridger Platoniker erfolgte vornehmlich über dieses Werk (vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 128 u. ö. sowie Nicolson: Mountain Gloom, S. 218 f. u. 226 ff. [= »The Burnet Controversy«]). Zum Einfluß von Burnet in Deutschland vgl. ebd., S. 234. 152 Vgl. Barbara Piatti: Rousseaus Garten. Eine kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel von Jean-Jacques Rousseau über die Schweizer Kleinmeister bis heute. Basel 2001, S. 45–49. 153 Norbert Oellers spricht von der Nouvelle Héloise als »dem vielleicht einflußreichsten ausländischen Werk im Deutschland des 18. Jahrhunderts« (Oellers: Brief als Mittel, S. 28). 154 Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 294. – Vgl. hierzu auch: Nicolson: Mountain Gloom

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sich dabei als Pflichtprogramm jeder Reise heraus: so etwa der Rheinfall bei Schaffhausen, der Staubbachfall, die Teufelsbrücke, das Urnerloch und die Jungfrau.155 Dieselben Orte, die einst Grauen erregten und als häßlich und ungeordnet wahrgenommen wurden, sind nun solche höchsten Genusses und sakraler Erlebniswelten. Die Furcht, die das frühneuzeitliche Naturverhältnis prägte,156 bleibt allerdings auch für die Wahrnehmung des Gebirges als Prototyp157 des Erhabenen in der Natur bestimmend. Doch vermischt sie sich zunehmend, und zwar aufgrund der, so Begemann, Sicherheit allererst ermöglichenden, theoretischen und zum Teil auch schon praktischen Naturbeherrschung, mit einem Gefühl der Lust.158 John Dennis etwa beschreibt in seinem vielzitierten Brief aus Turin vom 25. Oktober 1688 die Empfindungen anläßlich der soeben beendeten Alpenüberquerung mit den Worten: »The sense of all this produced different motions in me: a delightful Horror, a terrible Joy, and at the same time, that I was infinitely pleased, I trembled.«159 Diese sowie Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Landschaften. Frankfurt a. M. 1981, S. VIII, wo erwähnt ist, daß »noch Winckelmann« angesichts der »Unförmigkeit« der Alpen »die Kutschenfenster verhängte«. 155 Vgl. Petra Raymond: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit. Niemeyer 1993 (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 123), S. 111–120. 156 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 67–77. 157 Vgl. zur Hierarchie erhabener Gegenstände etwa das Beispiel John Dennis: »An der Spitze steht Gott, darunter stehen als göttliche Manifestationen das Weltall und die Himmelskörper, auf der nächsten Stufe das Meer, die Ströme, die Berge der sublunaren Welt.« (Groh / Groh: Bergen, S. 129; vgl. Nicolson: Mountain Gloom, S. 282 sowie das Beispiel Burnet ebd., S. 214). In historischer Perspektive »wandern« jene Empfindungen, die im 18. Jahrhundert als »sublime« bzw. »erhaben« bezeichnet werden, so führt Nicolson für das Beispiel Großbritannien aus, von Gott über den interstellaren Raum (frühes 17. Jahrhundert) hin zur sublunaren Welt (Ende des 17. Jahrhunderts) (ebd., S. 224; vgl. auch S. 321). 158 Zusammenfassend heißt es bei Begemann hierzu: »Es hat sich gezeigt, daß Sicherheit, die die Bedingung ist, unter der erst das Furchterregende, vielfach aber auch das niederdrückende Große und Unermeßliche in der Natur als erhaben beurteilt werden können, als Ergebnis von Prozessen theoretischer und praktischer Naturbeherrschung anzusehen ist.« (Begemann: Furcht und Angst, S. 136.) Das Paradebeispiel praktischer Naturbeherrschung sieht Begemann dabei in der Erfindung des Blitzableiters, »dessen Bedeutung für die aufklärerische Haltung zur Natur und zur Furcht vor ihr gar nicht überschätzt werden kann« (ebd., S. 90). Zur selben Zeit wandelte sich auch die Bedeutung des Gewitters; vgl. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 18. – Zum von Begemann immer wieder unterstrichenen, für das Lustgefühl unabdingbaren »erforderlichen Mindestabstand«, der durch das Gefühl der eigenen Sicherheit gewährleistet sei, vgl. auch Poenicke: Geschichte der Angst, S. 83 f. sowie die Darstellung von Burkes Theorie des Erhabenen in Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; Bd. 10), S. 186–202. 159 Zit. nach Groh / Groh: Bergen, S. 128; vgl. Zelle: Schönheit und Erhabenheit, S. 63 f. u. Nicolson: Mountain Gloom, S. 277. – Vgl. auch Henry More, der etwa von »a pleasing Horror and Chillness« spricht (Groh / Groh: Bergen, S. 124; vgl. Nicolson: Mountain Gloom, S. 139). Eine Fülle von englischen, französischen und vor allem deutschen Beispielen bietet Zelle: »Angenehmes

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für das Erhabene konstitutive »vermischte Empfindung«160 findet, so Begemann, im deutschsprachigen Raum zwei Erklärungsansätze.161 Im einen Fall wird als Quelle der Lust die zunehmende Annäherung des Subjekts an den erhabenen Gegenstand identifiziert, deren eigentlicher Effekt in einer Erhebung, Erhöhung, mithin einer Selbststeigerung des Subjekts besteht. Diesen – zeitlich früheren – Ansatz vertrete etwa Johann Georg Sulzer in seiner Anfang der 1770er Jahre erschienenen vierbändigen Schrift Allgemeine Theorie der schönen Künste.162 Innerhalb des anderen Modells, das Begemann durch Kant und Schiller repräsentiert sieht, sei vielmehr eine Distanzierung von der Natur Grundlage der angenehmen Empfindung: Gegen die übermächtige, die physische Existenz des Menschen potentiell bedrohende Natur setzt das (Vernunft-)Subjekt seine eigene Größe und Kraft: die unsinnliche, nicht dem physischen Verfall anheimgegebene, mithin unsterbliche, Seele oder den Geist. Mit diesem Akt der Selbstbehauptung, die immer auch eine Selbstüberhebung ist, wird die moralische Existenz gegen die physische, die Freiheit gegen den Tod aufgeboten.163

Grauen«. – Marjorie H. Nicolson registriert bereits in Thomas Burnets Werk The Sacred Theory of the Earth (1684) diese »apparently paradoxical attitude toward mountains, combining violent disparagement of the ugliest objects in Nature with an almost lyrical rhapsody on the exalted emotions he had experienced among the Alps«. Nicolson sieht den ambivalenten Charakter der Wahrnehmung, wie er sich in Burnets Schrift zeigt, allerdings als Merkmal eines historischen Übergangs und nicht so sehr als konstitutiv für den erhabenen Gegenstand (Nicolson: Mountain Gloom, S. VIII; vgl. auch S. 299 u. 322 f.). 160 Hartmut Böhme spricht von der »oxymoronale[n] Affektform des Erhabenen« (Hartmut Böhme: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des »Menschenfremdesten«. In: Pries: Das Erhabene, S. 119–141.). – Zu Moses Mendelssohns einflußreicher Theorie der vermischten Empfindungen vgl. Zelle: »Angenehmes Grauen«, S. 315–358. Zelle zufolge bot »Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen […] das allgemein akzeptierte psychologische Grundaxiom popularphilosophischer bzw. spätaufklärerischer Ästhetik und Anthropologie« (vgl. Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 172). 161 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 142–159. – Zur weiteren und genaueren Differenzierung vgl. Zelle: »Angenehmes Grauen«. 162 Viëtor zufolge hat Sulzer in diesem Werk die »frühidealistische Kunstanschauung« zusammengefaßt (vgl. Karl Viëtor: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur. In: Ders.: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 234–266, hier S. 252). Gemäß Zelle bietet »Sulzers Darstellung […] die communis opinio der Spätaufklärung« (Zelle: Die doppelte Ästhetik, S. 141). Vgl. zum Motiv der Selbststeigerung auch ebd. S. 146 die Zitate von Schlosser und Große. – »Zur Frühgeschichte des Erhabenen im 18. Jahrhundert« vgl. Carsten Zelle: Einleitung. In: Immanuel Jakob Pyra: Über das Erhabene. Mit einer Einleit. u. einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes u. Pyras hg. von Carsten Zelle. Frankfurt a. M. u. a. 1991 (= Trouvaillen; Bd. 10), S. 7–35. 163 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 142–158.

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3.2 Säkularisierung, Sakralisierung und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit Innerhalb des Kant-Schillerschen Erhabenheitsmodells tritt also an die Stelle der Unendlichkeit des Naturgegenstandes die Unendlichkeit der Vernunft(idee).164 Das Erlebnis des Erhabenen wird so zu einer Heilserfahrung, und wenn Kant »das Erhabene als Fühlbarmachung der Vernunft« auffaßt,165 so erscheint im Erhabenheitserlebnis nicht bloß die christliche Überwindung des Todes qua Auferstehung ins Diesseits transferiert, indem die Freiheit gegen den Tod aufgeboten wird, sondern der Auferstehungsleib selbst gleichsam säkularisiert, insofern die sinnliche Erfahrung der Vernunftideen eine vergleichbare ›Verklärung‹ der Materie zu leisten scheint. Zentrales Element der Inszenierung des Naturerhabenen ist dabei die Abfolge von empfundenem Untergang und gestärktem Hervorgang aus der Bedrohung. Klaus Poenicke hat gezeigt, daß das Zwei-Phasen-Modell von Übermächtigtwerden und anschließendem Übermächtigen schon für Edmund Burkes 1757 erstmals und 1759 in zweiter, wesentlich erweiterter Ausgabe erschienenes Werk Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful gilt: »Das Erhabene konstituiert sich also schon für Burke in jedem Fall als ein ›Sprung‹ des Bewußtseins in etwas erdrückend Bedrohliches, dem in Sekunden ein Aufschrei der Erlösung folgt, weil das Ich sich selber der Gefahr entzogen und ihr darum für einen Augenblick titanisch gewachsen fühlt. Der unmittelbare pay-off äußerster Angst ist also ein ihr strikt umkehrgleiches Gefühl äußerst gesteigerter Macht.«166 Ganz analog hierzu spricht Kant von »einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung derselben«.167 164

Vgl. Zelle: Einleitung, S. 8 f. – Kant nimmt die Bestimmungen früherer Theorien zum Erhabenen auf, vor allem solche von Burke (vgl. u. a. Wolfgang Teubert: Das Erhabene. Aufstieg und Niedergang eines Konzepts. In: Busse / Hermanns / Teubert: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, S. 212–258, hier S. 221 sowie Zelle: Die doppelte Ästhetik, S. 126). Sehr viel weitgehender als seine Vorgänger aber begründet Kant diese Bestimmungen – und zwar auf transzendentalphilosophischer Grundlage. 165 Zelle: Rhetorik und Spätaufklärung, S. 172. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, A 104. In: Ders.: Werke, Bd. V, S. 350 sowie ebd., A 167 f. (S. 397 f.) 166 Poenicke: Geschichte der Angst, S. 85. – Dieses Prinzip der Selbstüberhebung oder -ermächtigung (und damit der Unterwerfung der Natur) betonen für die Kantische Theorie des Erhabenen etwa Pries: Einleitung. In: Dies.: Das Erhabene, S. 1–30, hier S. 10 sowie vor allem Böhme: Das Steinerne, S. 120 f. Für Böhme wird die Natur in der Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Prototyp des Erhabenen, um die noch nicht unterworfene Natur – als das Andere – der Beherrschung durch das bürgerliche Subjekt zuzuführen (ebd., S. 123 u. 125). 167 Kant: Kritik der Urteilskraft, B 75. In: Ders.: Werke, Bd. V, S. 329. – Zelle nennt es ein »zweitaktiges psychisches Geschehen«, das er bereits bei Bodmer entdeckt (Zelle: Die doppelte Ästhetik, S. 135).

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Damit wird deutlich, weshalb die mit dem Erhabenheitserlebnis verknüpfte Inszenierung sich exakt auf diese Weise abspielen muß: Die Bedrohung durch den Tod muß vorausgehen, damit die imaginative Erfüllung des phantasmatischen Begehrens nach der Verfügung über den Tod sich überhaupt erst herzustellen vermag. Nur durch den imaginären Vorausgang des Todes im Gefühl äußerster Gefahr kann das Schauspiel von Tod und Auferstehung, mithin jenes von der Selbsterlösung des Menschen, aufgeführt werden. Was in der Kantischen Analyse des Erhabenen allerdings geleugnet zu sein scheint, ist das auch im Akt der Selbstauflösung – und nicht bloß in jenem der Selbstrestitution – enthaltene Genußmoment.168 Damit mag zusammenhängen, daß die mit der Unendlichkeit immer auch gesetzte Indifferenz – letztlich der Tod – ebenfalls unreflektiert bleibt. Doch erst, wenn auch dieses gesehen wird, vermag ins Blickfeld zu rücken, daß gerade das Gebirge als das Steinerne in hervorragender Weise geeignet ist, jenes todestriebliche Begehren zu manifestieren, das Freud als Rückkehr in den »anorganischen Zustand« beschrieben hat.169 Schon Thomas von Aquin hat argumentiert, daß der Stein (lapis), das Festgelegte, Tote, im Gegensatz zum Menschen vollkommen und vollendet sei und in dieser Hinsicht Gott näher stehe als Tier und Mensch. »Darum ist der Kristall mit seiner erkennbaren Struktur der Höhepunkt, in dem das Tote perfekt, vollendet, zu Ende gekommen ist. […] Das Tote ist perfekter als der Mensch, es steht in diesem Sinne näher bei Gott«.170 In der Esoterik Rudolf Steiners ist diese gottgleiche Nicht-Bedürftigkeit des Toten, des Steines, mit einer dem Mythos eigenen Konkretion ausgeführt: »Im Devachan [= (Sanskrit) geistige Welt, Welt der Sphärenharmonien, Welt der Inspiration; C.G.] leben die Seelen der Minerale. Deshalb sind sie für den Menschen nicht erreichbar. […] Der Steinleib hat weder Begierde noch Trieb, deshalb stellt er uns Menschen ein Ideal vor, dahingehend, daß unsere Triebe vergeistigt werden sollen. Und in ferner Menschenzukunft wird das erreicht werden: Leiber ohne Begierde und Triebe werden die Menschen haben. Einst wird der Mensch diamantgleich sein, er wird 168

Eine Tendenz, die sich im übrigen in der Forschungsliteratur durchhält. Vgl. etwa Begemann: Furcht und Angst, S. 116 u. ö. – Vgl. dagegen Borsò: Foucault und Binswanger, S. 122. 169 Jean Laplanche u. Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1972, S. 494 (= Artikel »Todestriebe«). – Vgl. Böhme: Das Steinerne, S. 127 u. 141. – Der nahezu perfekten Architektonik Kants dort noch forthelfend, wo sie scheinbar lückenhaft blieb, hat Martin Seel – analog zu den »drei Modi der schönen Übereinstimmung mit der Natur« – eine »dreifache Erfahrung des Erhabenen« postuliert, die das von Kant Übergangene teilweise wieder mit umgreifen würde (vgl. Martin Seel: Kants Ethik der ästhetischen Natur. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 181–208, hier S. 198 f.). 170 Max Müller: Philosophische Anthropologie. Hg. v. Wilhelm Vossenkuhl mit e. Beitrag »Zur gegenwärtigen Anthropologie«. Freiburg u. a. 1974, S. 80 f.

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nicht mehr innerliche Triebe haben, sondern solche sind dann äußerlich beherrscht. Der Stein stellt schon heute diese Keuschheit dar, er ist begierdelose Materie. […] In diesem Sinn steht der Stein über Tier, Pflanze und Mensch.«171 Diese »Keuschheit«, Begierde- und Trieblosigkeit der Steine – und nicht bloß das Faktum ihrer Unberührtheit – mag dann wohl auch die Assoziation von Jungfräulichkeit hervorgebracht haben. In einem Brief an Charlotte von Stein vom 28. Oktober 1779 beschreibt Goethe etwa die Savoyer Eisgebirge als »eine heilige Reihe von Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt«.172 Die Jungfräulichkeit ist der Ort der Unschuld, da sie den Zustand vor jener Produktion des Lebens repräsentiert, die immer auch den Tod in die Welt bringt und sich somit verschuldet.173 Die von Steiner in dem oben zitierten Passus beschworene Aussicht aber für die Menschen, in ferner Zukunft »Leiber ohne Begierde und Triebe« zu haben, kann als Ausdruck jenes in eine innerweltliche Heilsgeschichte transferierten Begehrens gelesen werden, welches ebenfalls dem christlichen Glauben an den verklärten Auferstehungsleib zugrundeliegt: Die höchste Form der Erlösung ist nicht die Erlösung der Seele vom Leib, sondern die Erlösung des Leibes, der Materie selbst.174 Die bisherige Forschung hat den Fokus ihres Interesses nahezu ausschließlich auf das Phänomen der Ästhetisierung der Natur gelegt: teils im allgemeineren Sinne einer neuen Naturwahrnehmung, teils im engeren Sinne der Herausbildung neuer ästhetischer Kategorien (Zelle). Das – schon auf der sprachlichen Ebene – unübersehbar sakrale Moment in diesem Prozeß wurde als ein zu wahrender, aus der neuzeitlichen Naturwissenschaft ausgestoßener und an einem neuen Ort untergekommener Traditionsbestand (implizit: eines anthropologischen Grundbedürfnisses) gedeutet (Ritter), mit Rekurs auf das Übergangsstadium der Physikotheologie (Nicolson, Groh / Groh) oder schlicht als säkularisierter Pietismus (Langen) erklärt.175 Demge171

Rudolf Steiner: Edelsteine und Metalle in ihrem Zusammenhang mit der Erden- und Menschheitsevolution. Vortrag. Leipzig 1906. In: Ders.: Das christliche Mysterium. Dornach 1968, S. 281–287, hier S. 282 f. 172 Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,4, S. 109. Vgl. auch den Brief J. J. W. Heinses an Jacobi vom 10.9.1780 (JBW I,2, 173). 173 Das Motiv der Jungfräulichkeit im Umkreis der Heilssuche in der Natur bedürfte noch einer näheren Betrachtung. So wird etwa auch die Geliebte, insbesondere in der romantischen Poesie, zugleich als Natur und Mutter sowie als Jungfrau (Maria) imaginiert (vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur). 174 Der Auferstehungsleib trägt alle Merkmale der Immaterialität an sich (vgl. hierzu etwa Johannes Paul II.: Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe. Katechesen 1981–1984. Hg. v. Norbert u. Renate Martin. Vallendar-Schönstatt 1985). 175 Vgl. etwa August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum

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genüber gilt es, die Sakralisierung der Natur nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern in umfassender Weise als Säkularisierung im Sinne einer nunmehr innerweltlichen Einlösung der christlichen Heilsversprechen zu lesen – inklusive der dem Heilsgeschehen selbst immanenten Dialektik von Todesabwehr und Todestrieb. Das Erhabenheitserlebnis ist vor diesem Hintergrund nicht nur ein Musterbeispiel »sprachlicher Säkularisation« (Langen) im 18. Jahrhundert, es stellt nicht nur in retrospektiver Perspektive eine ideengeschichtliche Nahtstelle par excellence im Übergang zur säkularen Moderne dar, sondern es ist in mentalitätshistorischer Hinsicht der Ort der Inszenierung, Einübung und Verbreitung des basalen Programms der bürgerlichen Moderne, das sich als Selbstschöpfungsprogramm des Menschen bestimmen läßt, mit dem wesentlichen Bestimmungszusatz allerdings, daß diese Selbstschöpfung zugleich Selbsterlösung sein soll. Das Moment der Erlösung verweist dabei auf den Charakter des Heils, das als Transzendierung der Endlichkeit bestimmt worden ist. Vor diesem Hintergrund bieten die dargestellten Forschungsergebnisse zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Frage nach Ursache und Funktion einer Heiligsprechung gerade der Natur: Die Identifikation der Natur mit Unendlichkeit – und zwar des Raumes wie der Zeit176 – prädestiniert sie als Ort einer phantasmatischen Erfüllung des basalen menschlichen Begehrens nach Überwindung der Endlichkeit. In dem imaginierten Zusammenfluß mit der unendlichen Natur177 scheint daher auch die »Fundamentalschuld der Sterblichkeit«178 aufgehoben, der Sündenfall rückgängig gemacht. Die Natur selbst wird zum Paradies. Nicht mehr Jesus Christus, sondern die Natur ist nunmehr Erlöserin der Menschheit.179

70. Geburtstag des Verfassers ausgewählt u. hg. v. Karl Richter, Gerhard Sauder u. Gerhard SchmidtHenkel. Berlin 1978, S. 21–86. – The Divinization of Nature ist dagegen das explizite Thema von Gerhold K. Becker; vgl. aber auch Willey: Eighteenth Century Background, S. 61–65, der unter diesem Stichwort vor allem Shaftesbury behandelt. 176 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 119 u. 122 sowie Nicolson: Mountain Gloom, S. 250– 253. – Vgl. auch Groh / Groh: Bergen, S. 124 u. 133 sowie Nicolson: Mountain Gloom, S. 157 f., wo die Anfänge einer Theorie unbegrenzter bzw. absoluter Zeit nachgezeichnet werden. Entsprechende Beispiele von Shaftesbury und Addison findet man ebd., S. 291, 307 u. 315. 177 Als für die romantische Naturerfahrung repräsentatives literarisches Zeugnis zit. Nicolson: »Are not the mountains, waves, and skies, a part / Of me and of my soul, as I of them?« (ebd., S. 14.) Das Motiv des Zusammenflusses ist hier deutlich. Es verknüpft sich in für uns bedeutsamer Weise mit dem Ideal von »indefiniteness and vastness«, das die Wahrnehmung der Natur – insbesondere des Gebirges – seit dem 17. Jahrhundert dominiert (ebd., S. 16 u. ö.). – Vgl. hierzu auch ebd., S. 270: »In the wide seas and the mountains of the earth, men were discovering a new ›Magnificence of Nature,‹ finding that their ›elastical souls‹ expanded with the vastness and expansiveness of Nature« sowie das Zitat aus Edward Youngs überaus einflußreichen Night Thoughts: »Great objects make great minds« (ebd., S. 272). Vgl. auch ebd., S. 283 u. 285. 178 Heinz: Pathognostische Äquivalente, S. 26. 179 Vgl. Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 297.

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Wie diese erlöste Menschheit selber dann aussehen könnte und sollte, gewinnt Gestalt in der Idyllendichtung, wobei etwa die den Steinen attestierte Begierdelosigkeit hier den Menschen selber zugesprochen wird.180 Es ist demnach kein Zufall, daß die »große Geschichte der Idylle und des Idyllischen im deutschen Kulturraum […] mit der Aufklärung [beginnt]«.181 In der literarischen Kunstform der Idylle, die sich aus antiken Vorlagen speist (Theokrit, Vergil) und im 18. Jahrhundert eine Renaissance erlebte, kommt die neue Rolle der Natur in spezifischer Weise zum Ausdruck: In der Tradition der Bukolik wird das Landleben identisch mit jenem Arkadien, dem zentrale Momente des Paradiesischen eignen.182 Von der Schäferdichtung sich entfernend, figuriert das Ideal vollkommener Harmonie mit Natur und Mitmensch als Zustand höchster Seligkeit, der seinen Erfüllungsort in Elysium hat, welches seiner mythischen Bedeutung nach als Ort für die Unsterblichkeit selber steht. Die Natur wird so zum Paradigma und Symbol einer erlösten Menschheit. Der dieser Entwicklung inhärente Säkularisierungsschub läßt sich – wie bereits mehrfach angedeutet – gleichfalls auf der Grundlage der hier vorgestellten Arbeiten nachzeichnen: Das sich zunehmend von physikotheologischen Prämissen entfernende Genießen der Natur183 geht über in den Selbstgenuß des sich als autonom, als quasi göttlich erfahrenden modernen Subjekts. Im Hinblick auf den AutonomieGedanken kommt der Tatsache, daß neben der räumlichen und zeitlichen (= Ewigkeit) Unendlichkeit vor allem das Sich-selbst-sein-eigener-Grund-Sein (a se existens, causa sui) zu den drei herausragenden Bestimmungen gehört, die von Gott auf die Natur übertragen wurden, besondere Bedeutung zu.184 Gemäß den zwei von Begemann unterschiedenen Erhabenheitstheorien kann die »schrankenlose[ ] Selbsterhö-

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Vgl. hierzu die satirische Passage aus Friedrich (Maler) Müllers Idylle Die Schafschur: »Wo gibt’s dann Schäfer wie diese? Was? Das Schäfer? Das sind mir kuriose Leute, die, weiß der Henker, wie leben; fühlen nicht wie wir andre Menschen Hitze und Kälte; hungern oder dursten nicht; leben nur von Rosentau und Blumen und was des schönen, süßen Zeugs noch mehr ist, das sie bei jeder Gelegenheit einem so widerlich entgegenplaudern, das einem, mein Seel, wider den Mann geht« (zit. nach Pia Schmid: Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens. Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums. Ein Lesebuch. Berlin 1985, S. 95; vgl. hierzu auch Jacobis Brief an den Autor J. F. [»Maler«] Müller vom 14.12.1775; JBW I,2, 34). 181 Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 11. Kaiser datiert den »Neubeginn der Gattung« auf das Jahr 1756, in welchem Salomon Geßners Idyllenbändchen erschien (ebd., S. 13). 182 Vgl. die Aussage Gerhard Kaisers, wonach die »Erhebung der Natur zur anthropologischen Leitvorstellung […] die geistesgeschichtliche Voraussetzung für die große Renaissance der Gattung Idylle im 18. Jh.« bildet (zit. nach Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 1977 [= Sammlung Metzler; M 63: Abt. E, Poetik], S. 155; die genaue Quelle ist leider nicht angegeben und konnte auch nicht eruiert werden). 183 Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 135. 184 Vgl. Becker: Divinization of Nature, S. 58. Im Sinne der Terminologie von Rudolf Heinz wäre dies der Ödipuskomplex, verstanden als das Begehren, sich selbst an den eigenen Ursprung zu setzen, kurz: das »Begehren der Selbstgründung« (Heinz: Philosophische Einführung, S. 14).

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hung«185 des Subjekts sich einstellen über die Imagination eines Zusammenflusses mit der göttlich aufgeladenen Natur oder auch in Form einer Selbstbehauptung des Subjekts gegen die durch Natur vermittelte Vergänglichkeitserfahrung. Die Natur ist mithin »heilig« nicht nur, weil sie – so die Physikotheologie – göttliche Schöpfung ist, sondern vor allem als Quelle der Erfahrung von raum-zeitlicher Unendlichkeit. In diesem Sinne heißt es etwa bei Friedrich Stolberg: »[…] dann umschweben mich Gedanken vom Unendlichen, von der Ewigkeit und meiner eignen Unsterblichkeit. Meine Seele entfleugt dieser Welt.«186 Damit ist der säkulare Bezug hergestellt: der Bezug auf den Menschen, das neuzeitliche Subjekt. In der empfindsamen Naturerfahrung werden, ebenso wie im empfindsamen Freundschaftskult, die Grenzen der endlichen Subjektivität innerweltlich transzendiert.187 Deshalb wird der Freundschaft wie der Natur das Attribut »heilig« zugesprochen.188 Deshalb bieten Freundschaft wie auch Natur einen »Vorschmack des Himmels«.189 Deshalb werden der Freundschaft Altäre errichtet und Tempel geweiht, während gleichzeitig von »temples of Nature« und »natural cathedrals, or natural altars« die Rede ist.190 Freundschaft und Natur sind somit die beiden exponierten Heilsräume, aber auch die beiden ausgezeichneten Inszenierungsorte des basalen Programms der bürgerlichen Gesellschaft, eines Programms, das später ins Makrounbewußte gesellschaftlicher Strukturen eingehen sollte.

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Begemann: Furcht und Angst, S. 147. Stolberg: Fülle des Herzens, S. 237. 187 In diesem Sinne formuliert auch Schneider: »Der wahre Traum der schönen Landschaft war eine innerweltliche Transzendenz.« (Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 298.) Allerdings benutzt Schneider offensichtlich einen anderen Begriff von Transzendenz, denn kurz zuvor heißt es bei ihm: »Das Paradies ist nicht jenseits irdischer Vergänglichkeit und Veränderlichkeit.« (S. 297) Im Gegensatz hierzu nämlich würde ich mit Nachdruck daran festhalten wollen, daß im Transzendieren ebendieses und gerade dieses zurückgelassen wird und werden soll: die irdische Vergänglichkeit und Veränderlichkeit. Säkularisiert, d. h. ins Diesseits transferiert, ist einzig der Ort, an dem sich das Transzendenzerlebnis (imaginativ) einstellt. – Vgl. im übrigen auch Koschorke, der in seinem Kapitel über den »erhabene[n] Raum« von »einer immanenten Totalität« spricht (Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a. M. 1990, S. 123). 188 Vgl. Papmehl-Rüttenauer: Das Wort HEILIG. – Vgl. als ein Beispiel unter vielen Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der Natur. Frankfurt a. M. 1971 (Faksimiledruck nach der Ausgabe Berlin 1770), S. 12: »Sie [= die Natur] ist ein Heiligthum, da nur unschuldige Seelen hinkommen.« 189 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Die Insel. Mit einem Nachwort von Siegfried Sudhof. Heidelberg 1966 (Faksimiledruck nach der Ausgabe Leipzig 1788), S. 60: »Sophron: Unser würden weniger sein, aber welches Häuflein Freunde und Freundinnen! La Riviere: Ein Vorschmack des Himmels ist in der Idee.« sowie im Widmungsgedicht von Carl Friedrich Drollinger in Brockes Irdisches Vergnügen in Gott, wonach jeder Blick in die Natur »alhier des Himmels Vorschmack« bringt (zit. nach Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 297). 190 Nicolson: Mountain Gloom, S. 2; vgl. zur Freundschaft das Kapitel II.3 in dieser Arbeit. Vgl. auch die bei Langen angeführten Beispiele von Salis-Seewis und Matthisson (August Langen: Die 186

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3.3 Der Erlösungscharakter von Natur in Briefwechsel und Romanen Jacobis Nicht zuletzt die Briefe Heinses an Friedrich Heinrich Jacobi sind repräsentativer Ausdruck der neuartigen Naturerfahrung.191 Bereits angesichts der Rheinlandschaft zwischen Bonn und Koblenz, die auch Stolberg einige Jahre später begeistern sollte,192 beschreibt Heinse die Unsterblichkeitserfahrung: »Und so giengs durch mancherley komische und erbauliche Auftritte hindurch bis hinter die sieben Berge: als ich auf einmal wie ins fruchtbarste Füllhorn der Mutter Natur hineingezaubert mich und alles Gedächtniß verlor, und wie die Seelen in der Ewigkeit nur genoß und da war.«193 Die Rückkehr in den Mutterschoß der Natur, in dem alles Eins ist, Ich und Welt zusammenfallen, wird hier zum Vorgeschmack des ewigen Lebens der unsterblichen Seelen, das ebenfalls durch keine Differenzerfahrung getrübt ist. Anläßlich einer Fahrt über den Zuger See, inmitten der alpinen Gebirgslandschaft, wird diese Transzendenzerfahrung – versinnbildlicht nicht zuletzt in dem Erlösungsmotiv der Vereinigung von Himmel und Erde – zu einem rauschhaften Erlebnis: »Man ist so recht seelenvoll in stiller lebendiger Natur, so recht im Heiligthum empfindungsvoller Herzen. Ich kanns nicht aussprechen; Gottes Schönheit dringt in all mein Wesen, ruhig und warm und rein; ich bin von allen Banden gelöst, und walle Himmel über mir Himmel unter mir im Element der Geister wie ein Fisch im Quelle, Seeligkeit einathmend und ausathmend. Alles ist still und schwebt im Genuß; nichts regt sich als die plätschernden Flosfedern von meinem Nachen, der unmerkliche Taktschlag zu dem wollüstigen geistigen Concerte. Immer stärker läuft mir das Entzücken wie ein Felsenquell durch alle Gewebe meines Rückgrads.«194 Feier der Natur. Zur Geschichte des Topos im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ders.: Gesammelte Studien, S. 128–140, hier S. 132). Auch Heinrich von Kleist (1777–1811) schreibt noch von der »Kathedrale der Gottheit« und Felder erscheinen ihm als »Altäre« (Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 67). 191 Auch Groh / Groh und Pia Schmid wählen Heinse als exemplarischen Vertreter dieser Naturwahrnehmung. Vgl. Groh / Groh: Bergen, S. 92 und Schmid: Zeit des Lesens, S. 91–93. 192 Vgl. dazu im Brief an Jacobi vom 5.8.1791: »Welche Natur von Bonn bis Coblenz! Wie bleibt doch auch die freudigste Erwartung hinter der großen Natur zurück!« (AB II, 61; vgl. Stolberg: Briefe, S. 275.) – Vgl. auch Jacobis Empfehlung an die Fürstin Gallitzin in seinem Brief vom 28.– 31.8.1787 (Handschrift: Landesmuseum Münster). Zum Beginn der Rheinromantik vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Erfahrene und erfundene Landschaft. Aurelio de‘ Giorgi Bertòlas Deutschlandbild und die Begründung der Rheinromantik. Opladen 1974 (= Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 52). 193 Brief vom 14.7.1780 (JBW I,2, 151). – Vgl. auch in seinem Brief vom 26.1.1781: »Wie beseufz ich die Jahre meiner Jugend, wo ich nichts von diesem ewigen leben kosten durfte! Dank dem gütigen Himmel, daß ich endlich einmal in das füllendste Heiligthum der Natur hinein kam!« (JBW I,2, 261.) 194 Brief aus Luzern vom 29.8.1780 (JBW I,2, 161 f.). – Vgl. zum Motiv der Himmelsspiegelung im Wasser auch Langen: Verbale Dynamik, S. 73. Zur Vereinigung von Himmel und Erde in der Malerei vgl. Renate Fechner: Natur als Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft.

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Heinse konnte sicher sein, daß sein Adressat nicht unempfänglich war für solche Art erlebnishafter Naturschilderungen. Schon Jacobis Brief an den Grafen Chotek legte von dem empfindsamen Naturverhältnis nachdrücklich Zeugnis ab.195 Unter dem Einfluß Goethes – und insbesondere in den Briefen an jenen – erhält dann die Darstellung einen sturm und drängerischen Zug. Zugleich tritt die Erlösungsfunktion der Natur für das endliche Subjekt deutlich hervor, wie Jacobis Beschreibung eines Abendspaziergangs zeigt: »Das Zusammenziehen des Innersten, das peinliche Krümmen, um v. allen Seiten ab ein wenig Asche über die Gluth im Mittel zu schütteln – Du kennst es – So schlich ich vorgestern am Abend eine Anhöhe hinan. Es hatte den ganzen Tag geregnet, regnete noch da ich ausging: nun verdünnte sich die Luft; sanftes Sonnenlicht nahm den ganzen Himmel ein, theilte die Wolken, strahlte nicht sondern schwebte hernieder; Felder, Wiesen, Gebüsche richteten sich empor u. umzingelten mich; alles, die ganze Natur ein Bild der Erquickung, des Trostes, der Verheissung. Meinen Lebensgeistern ward’s Brüderlich. Ich erreichte den Gipfel. Nicht mehr mich windend u. krümmend um Löschung zu sammeln, aufgerichtet stand ich, daß die hallenden Winde die Asche wegfachten, u. mir die Gluth ins Angesicht flog. – Ha unzerstörbar Doch, obschon hinfällig. – Bangst mein Herz, zagst, gedenkst in Abgrund zu schwindeln, willst davon, hinunter, willst u. kannst nicht sinken, wirst immer wieder aufgeschwungen v. unendlicher Kraft in Dir. – Ja neüe Himmel, u. neüe Erden, u. da müßen erst die Sterne fallen u. die Sonne sich verfinstern u. der Mond zu Blut werden.«196 Die apokalyptische Vision von der Erlösung der Welt ist nicht zufällig Bezugspunkt Jacobis, denn in seiner Darstellung geht es um nichts Geringeres als die (Selbst-)Erlösung des endlichen Subjekts qua innerweltlicher Auferstehung, die hier symbolisiert wird durch das Aufstehen der Natur einerseits (»richteten sich empor«) und den Aufstieg des Subjekts andererseits (»Ich erreichte den Gipfel.«). Eine betrübte Seele findet in der Natur Trost und neuen Lebensmut. Alle Bedrängnisse fallen im Angesicht der Natur von ihr ab. Wie der Freund, so ist auch die Natur jenes Alter Ego, das das endliche Ich aufgehen läßt im Anderen, ohne es um den Selbstgenuß zu betrügen: »Meinen Lebensgeistern ward’s Brüderlich.« Eben noch am »Abgrund«,

Frankfurt a. M. u. a. 1986 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte; Bd. 64), S. 328. Ziel dieser kunsthistorischen Arbeit ist es, die Thesen Ritters »an Werken der Kunst zu verifizieren« (ebd., S. 2). 195 Vgl. JBW I,1, 109–114. Vgl. hierzu oben das Kapitel II.1. 196 Brief an Goethe vom 12.8.1775 (JBW I,2, 25). – Vgl. Apk 21,1, Joel 3,4 u. 4,15 sowie Mt 24,29; ich folge hier dem Kommentarband der Briefausgabe.

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erfährt das Ich sich in der Begegnung mit Natur als »unzerstörbar«; es gelangt zur Gewißheit »unendlicher Kraft« in sich selbst. Das gleiche Gefühl der Unverletzbarkeit hatte bereits Addison in einem 1712 im Spectator erschienenen Artikel als Effekt eines einfachen Spazierganges durch die Natur beschrieben: »Such an habitual Disposition of Mind consecrates every Field and Wood, turns an ordinary Walk into a morning or evening Sacrifice, and will improve those transient Gleams of Joy, which naturally brighten up and refresh the Soul on such Occasions, into an inviolable and perpetual State of Bliss and Happiness.«197 Deutlich wird hiermit, wie stark die ästhetisch-sakrale Wahrnehmung der Natur durch literarische Vorbilder geprägt war und – nicht zuletzt von diesen Vorlagen ausgehend – nachhaltig eingeübt wurde.198 Sie dienten somit als Inszenierungsmuster, die für eine mentalitätsgeschichtliche Verankerung des neuen Naturverhältnisses – aber auch der mit ihm transportierten Leitkategorien der modernen Kultur – sorgten. Jacobi besaß diese Vorlagen nachweislich.199 Ebenfalls deutlich wird an diesem Beispiel, daß die mit der Ästhetisierung und Sakralisierung verknüpfte Erlösungsfunktion der Natur keineswegs auf »erhabene« Gegenstände (Weltall, Meer, Gebirge) beschränkt blieb, sondern allmählich auch der »schönen« Natur zuwuchs – mithin auf den gesamten Bereich der Natur ausgedehnt wurde.200 Die Rolle der Natur als Freund, als Trösterin, gar als Heilerin, ist ein zentraler Topos auch empfindsamer Romane.201 In Goethes Werther tritt die Natur (zunächst) 197

Zit. nach Willey: Eighteenth Century Background, S. 65. – Ein »Evening-Walk in the Fields« diente ebenfalls in Shaftesburys Dialog The Moralists: A philosophical Rhapsody als herausragendes Beispiel für ein enthusiastisches Naturerlebnis (vgl. ebd., S. 61). 198 Vgl. hierzu Groh / Groh: Bergen, S. 95: »Die sinnliche, die ästhetische Wahrnehmung von Natur ist immer durch Ideen, durch Vorstellungen präformiert. Ideen, Vorstellungen generieren zuallererst den Gegenstand der Erfahrung. […] Ohne vorgängige Lektüre von Texten oder vorgängige Aneignung von Sichtweisen, die durch Bilder vermittelt werden, kann also Natur als Landschaft gar nicht wahrgenommen werden.« Diese Überzeugung liegt auch der umfassenden Studie von Nicolson zugrunde, auf die sich Groh / Groh stützen. 199 Die achtbändige englische Ausgabe des Spectator (London 1767) gehörte ebenso zum Bestand der Jacobischen Bibliothek wie eine sich auf Auszüge beschränkende deutsche Übersetzung (Berlin 1782) desselben (vgl. Wiedemann: Bibliothek Jacobis, Bd. 1, S. 46 [= Nr. 172 f.]. Die Lektüre des Spectator sowie anderer periodischer Schriften von Addison / Steele war Jacobi bereits von G.-L. Le Sage in seinem Brief vom 27.1.1762 (dem ersten überlieferten Brief der Gesamtkorrespondenz!) empfohlen worden (vgl. JBW I,1, 5). 200 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 159 sowie Groh / Groh: Bergen, S. 134. – Zur »schulmäßigen« Unterscheidung von »schön« und »erhaben« vgl. ebd., S. 129. Zur Herausbildung der Unterscheidung von »schön« und »erhaben« vgl. Nicolson: Mountain Gloom, S. 222, 279 u. 288 sowie Groh / Groh: Bergen, S. 129. Nach Zelle war es Johann Jacob Bodmer, der 1741 in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter erstmals »in der deutschen Poetikgeschichte […] Schönheit und Erhabenheit« explizit entgegensetzte (Zelle: Schönheit und Erhabenheit, S. 68). 201 Vgl. hierzu Thomas Stäckers Resümee seiner Werther-Analyse (Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 10; vgl. auch S. 41.)

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in Gegensatz zu einer entfremdeten Gesellschaft.202 Auch in Jacobis Romanen, insbesondere in seinem zweiten Roman Woldemar, findet sich diese für die Empfindsamkeit typische Konstellation: Nur in der Freundschaft zu Henriette und Allwina und in der Natur vermag der Protagonist jene Momente der »einsamen Wehmuth«203 zu vergessen, in der er sich seiner Endlichkeit, seines Abgetrennt- und Unterschiedenseins von allen Dingen, von allen Menschen bewußt wird: »In den mannigfaltigen Millionen Blätter [sic], welch unendliches Spiel! welch ein Wallen und Wühlen der Aeste! – Unter und über das luftige Laub-Meer! – Ergriffen von seinen Wogen schwamm mein Auge hinweg in die schöne Fluth, und ließ sich von ihr verschlingen. – – Leise rieselte unterdeß der liebe Bach an meiner Seite; gauckelte kleine Wellen daher, Wirbel und Schlünde […]. Der mächtige Stamm an den ich gestützt war, schwankte, fast unmerklich, hin und her – bald stärker bald schwächer; wiegte meinen Rücken, und bewegte sanft schauerlich mein Haupt. – – – Nie war meine Seele so in allen meinen Sinnen! – Lauter Genuß mein ganzes Wesen! – Ewigkeit, mein fliehendes Daseyn! – Hülle der Gottheit um den Endlichen!«204 Wie in Heinses Briefen wird auch in Jacobis Roman die Natur zum Mittel, die Grenzen der endlichen Subjektivität zu transzendieren.205 Die Natur ist das Medium einer Transzendenzerfahrung: der Erfahrung einer göttlichen Absolutheit, die dem Menschen aber nicht (bloß) in der Natur als Schöpfergott entgegentritt, sondern zum einen die umhüllende Natur und zum anderen das empfindsame Ich selber an die Stelle Gottes treten läßt.206 Am Ende der intensiven Begegnung mit Natur steht die Doppelerfahrung von Selbstverlust und Identität: »[…] und ich schwebte wie in der Mitte der Schöpfung, aufgelöst, und an mich ziehend aus dem feinsten Aether eine neue Bildung.«207 202

Vgl. hierzu die Ausführungen Wegmanns zum Werther: »Wächst die Distanz zur Gesellschaft bis hin zum Antagonismus, wird die (Landschafts-)Natur nicht selten die einzige Instanz, die Selbstbestätigung gibt.« (Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 97.) 203 Jacobi: Woldemar (1779), S. 127 (vgl. zum folgenden auch S. 126); vgl. JWA 7,1, 61. 204 Jacobi: Woldemar (1779), S. 122 f.; vgl. JWA 7,1, 60. – Vgl. hierzu auch aus dem Werther: »Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, […] und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten […]« (Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, S. 9). 205 Von »einer verklärten unio mystica Woldemars mit der Natur« spricht auch Christ (Christ: F. H. Jacobi, S. 326). 206 Vgl. hierzu Jacobi: Woldemar (1779), S. 123, wo von »Allgenugsamkeit« die Rede ist; vgl. JWA 7,1, 60. 207 Jacobi: Woldemar (1779), S. 125 f.; vgl. JWA 7,1, 61. – Vgl. zur Freundschaftserfahrung ganz

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Das Moment der Auflösung des Selbst ist in den Naturbeschreibungen – im übrigen auch schon in den frühen, physikotheologischen, die wiederum an neuplatonisch-mystische Vereinigungsimaginationen anknüpfen konnten208 – omnipräsent: Heinse verlor »alles Gedächtniß«, war »von allen Banden gelöst«, Jacobis Woldemar, im Schoße der Natur, »ließ sich von ihr verschlingen«, seine Seele fiel zusammen mit seinen Sinnen, »aufgelöst« schwebte er »in der Mitte der Schöpfung«.209 Beschrieben wird damit ein vollständiger, wenngleich nur vorübergehender Bewußtseinsverlust: ähnlich dem Zustand der Drogierung. Bewußtsein – genauer: Selbstbewußtsein – ist Spaltung, Differenz,210 und zugleich Anmahnung der Zeitlichkeit, der Endlichkeit des Menschen. Im Verschmelzen mit der Natur kann, für kurze Momente der Glückseligkeit, eine Indifferenz hergestellt werden, in der sich der Mensch am Ort absoluter Erfüllung wähnt. Als Aufgehobensein im und Selbstauflösung in den »Schoß der Natur« – eine »bildliche Floskel«, deren erstmalige Verwendung Hans-Dieter Fronz in die Aufklärungszeit datiert211 – symbolisiert dieser Erfüllungsort immer auch jenes Rückgängigmachen der Geburt, das Lacan als das todestriebliche Begehren des Menschen identifiziert hat.212

ähnlich und in Anspielung auf bestimmte Bibelpassagen einige Seiten später (Jacobi: Woldemar [1779], S. 128 f.; vgl. JWA 7,1, 62); hier zit. in Kap. II.3.4. 208 Vgl. hierzu aus dem Gedicht Das Firmament von Brockes: Angesichts der Unendlichkeit des Weltalls »entsatzte sich mein Geist […] / Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder, / Verzweiflung drohete der ganz verwirrten Brust / Allein, o heylsams Nichts! glückseliger Verlust! / Allgegenwärtiger Gott, in Dir fand ich mich wieder.« (Zit. nach Groh / Groh: Bergen, S. 122; vgl. auch das Beispiel S. 130.) In der neuplatonischen Philosophie Plotins erhebt sich die (unsterbliche) Seele, aller irdischen Begrenztheit entledigt, zu Gott und wird eins mit ihm (vgl. Müller: Geschichte des Begriffs). 209 Vgl. hierzu auch Kaisers Kommentar zum Werther: »Sein [= Werthers] Naturerlebnis ist auf enthusiastische Selbstentgrenzung angelegt« (Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 43) sowie Langen: Verbale Dynamik, S. 76 f. – Dieses Moment der Selbstauflösung zitieren und registrieren Groh / Groh zwar wiederholt, sie sind ihm aber nicht weiter nachgegangen. 210 Vgl. hierzu Rousseau: Abhandlung über den Ursprung, S. 200; vgl. auch ders.: Discours sur l’origine, S. 138. – Vgl. hierzu auch Heinrich von Kleists Schrift Über das Marionettentheater (dazu Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 91 f., Fn. 3). 211 Ebd., S. 12, Fn. 7. 212 Dies erklärt dann allerdings auch die Affinität von religiösem Naturgefühl und Todesgedanken, die bereits Verra als »sehr bemerkenswert« auffiel (Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 262). – Vgl. hierzu auch – insbesondere vor dem Hintergrund der Lacanschen These, daß erst im Stadium der Ablaktation das Trauma der Geburt sich offenlegt – die zeitgenössischen Beispiele von Friedrich Leopold zu Stolberg: »Aus deiner Fülle möcht ich nun schöpfen, o du, die ich als Mutter ehre, die ich liebe als Braut, Natur! Natur! an deren Brüsten ich allein ungestörte reine Wollust atmen kann!« (ders.: Fülle des Herzens, S. 237 f.) sowie Herder: »Ich schäme mich nicht, an den Brüsten dieser großen Mutter Natur nun als ein Kind zu saugen« (Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume. In: Ders.: Werke, Bd. 4, S. 327–393, hier S. 331).

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Auffällig ist, daß sowohl im Falle des empfindsamen Freundschaftskultes als auch in jenem der Naturverherrlichung das – aufgrund der todestrieblichen Indifferenzierung – notwendig in solcher Erfülltheit / Mangellosigkeit abgeschaffte (endliche) Ich213 gleichwohl als genießende, von der Erfahrung des Verschmolzenseins profitierende Instanz im Spiel bleibt.214 Begehrt ist tatsächlich die Quadratur des Kreises. Dem Erfüllungsort des Begehrens lassen sich immer gegenläufige, widersprüchliche Bestimmungen zuschreiben. Dies traf bereits auf jene göttlichen Attribute zu, die den Gegenstand scholastischer Bemühungen bildeten.215 Und diese Widersprüchlichkeit erhält sich in den säkularen Konstrukten, die in verschiedenen Entwürfen und immer wieder neu die Versöhnung zu entwerfen trachten. Die Spuren sind lesbar in Programmen der Vermittlung von Natur und Vernunft, von Unmittelbarkeit und totaler Vermittlung, sei es als Idealkonstrukt der Idylle,216 als »objektive Realität« der Vernunftideen217 oder auch als Philosophie der Identität von Geist und Natur. Konsequent und folgenreich zugleich gewinnt das Vermittlungswesen Gestalt in dem Konzept einer »zweiten Natur«,218 das zunächst noch als ein Erziehungsprogramm des Menschen geschrieben wurde. Sein innerweltlicher Erfüllungsort aber, der perfekte Mensch, wäre in letzter Konsequenz die tote Maschine, der Automat,219 womit die weitere historische Entwicklung schon vorgezeichnet ist. In dem Konzept einer »zweiten Natur« liegt das Projekt der Moderne beschlossen: Der Mensch tritt an die Stelle des Schöpfergottes, indem er sich nun selbst schöpft und zwar mit dem Ziel, die depravierte Schöpfung in Richtung auf eine ursprüngliche, paradiesische hin zu überbieten. Letztlich geschieht dies mittels der Technik, d. h. in Form der Dingproduktion, wobei die Dinge als (selbstredend perfektionierte) Körperdouble begriffen werden können.220 Prototypen derartiger Doppelgänger des Lebendigen, zumal des

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Vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 72, Fn. 7 das Beispiel des Werther: »Solche identifikatorische Aneignung von Natur geht bis zum Drang nach Verschmelzung mit ihr, die nur im Tod möglich wäre«. Vgl. hierzu auch Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 10. 214 Vgl. hierzu die Briefe von J. G. A. Forster vom 17.10.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 356) und vom 8.2.1789 (ebd., S. 263). Vgl. zu dieser paradoxen Zweiheit den Begriff der »Transdeszendenz« bei Borsò: Foucault und Binswanger, S. 122. 215 Gemeint sind die zentralen Attribute Güte, Gerechtigkeit, Weisheit und Macht (vgl. Jaeschke: Philosophische Theologie). 216 Vgl. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 22–24. 217 Vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 50 sowie Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, A 167 f. In: Ders.: Werke, Bd. V, S. 397 f. 218 Vgl. Rath: Zweite Natur, S. 26 u. ö. – Dies entspricht letztlich der Idylle-Konzeption Schillers, »den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elisium« zu führen (Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 472). 219 Vgl. Rath: Zweite Natur, S. 47. 220 Diese These ist Kern der pathognostischen Theorie von Rudolf Heinz. Vgl. hierzu oben das

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menschlichen Körpers, sorgten daher nicht zufällig gerade in der Aufklärungszeit für Furore.221

3.4 Natur als Kultur- und politischer Raum: Einblicke in den ›Alltag‹ »Und was meint hier ›Natur‹ anderes als: die antiständische Menschengemeinschaft, das Naturrecht, die als Republik wiedererstehende Antike.« 222

Die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur im 18. Jahrhundert stellt keineswegs ein in erster Linie kompensatorisches und eskapistisches Phänomen dar, eine Flucht also des – vorzugsweise deutschen – Bürgers in die Innerlichkeit aufgrund mangelnder politischer Wirksamkeit.223 Die sich in der Entwicklung der Naturwahrnehmung manifestierende Wende zum Subjekt sowie die Inanspruchnahme göttlicher Qualitä-

Kapitel I.3.1.1. – Vgl. auch Marie-Anne Berr: Die Kadenzen der Schöpfung: Gott – Mensch – Maschine. In: Kamper / Wulf: Anthropologie, S. 203–215. 221 Berühmt wurden vor allem die Automaten von Jacques Vaucanson, darunter ein mechanischer Flötenspieler und eine Ente, die verdaut. Vgl. aber auch Wolfgang von Kempelen: Mechanismus der menschlichen Sprache nebst Beschreibung einer sprechenden Maschine. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970 (Faksimile-Neudruck der Ausgabe Wien 1791) (Grammatica universalis; Bd. 4) sowie die Diskussion über diese Automaten in den Zeitschriften der Aufklärungszeit. 222 Hans-Wolf Jäger: Politische Kategorien in Poetik und Rhetorik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1970, S. 53. 223 Diese These vertritt im Anschluß an Wolf Lepenies etwa Thomas Stäcker (vgl. Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 12, 14, 17–19, 21 f., 32, 52 u. ö.). Odo Marquard nennt dies die »Carl-SchmittLepenies’sche These von der Geburt der bürgerlich moralhypertrophen oder melancholischen Innerlichkeit aus dem Geiste der Handlungshemmung durch absolutistischen Ordnungsüberschuß« (Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S. 39–66, hier S. 42). Marquards eigene Kompensationstheorie greift jedoch, wie meine bisherigen und die nachfolgenden Ausführungen zeigen sollten, ebenfalls zu kurz. Im übrigen teilt er mit Lepenies die Fokussierung des eskapistischen Aspekts – lediglich die Anlässe zur Flucht sind jeweils andere: Die Hinwendung zur »unberührte[n] Natur« deutet Marquard als »Ferien vom angeklagten Ich«, als Suche nach einem schutzgewährenden Versteck »auf der Flucht vorm identifizierend-ertappenden Zugriff der totalen Rechtfertigungszumutung« (ebd., S. 52). – Vgl. dagegen die kritische Auseinandersetzung mit der »Eskapismus«-These bei Grams: Karl Philipp Moritz, S. 102: »Es drohen aber unter dem Topos der Naturflucht emanzipatorische Aspekte bürgerlicher Naturwahrnehmung generell unbemerkt zu bleiben.« In diesem Sinne auch Begemann: Furcht und Angst, S. 106: »Daß insofern Natur in der Tat die Funktion eines Fluchtraums übernimmt, in dem das Individuum Entlastung sucht, rechtfertigt nicht, den bürgerlichen Zug zur Natur generell und unter Absehung von seinen sonstigen Funktionen mit dem Etikett des ›bürgerlichen Eskapismus‹ zu versehen. Unterschlagen wird dabei insbesondere die utopische Potenz, die der Anschauung der äußeren Natur innewohnt.« Ebenfalls kritisch urteilt Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 295 f. – Vgl. auch die Diskussion um die Hypochondrie als Eskapismusphänomen oben in Kapitel IV.2.4.2.

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ten für den Menschen war vielmehr allererst Voraussetzung und zugleich Ausdruck emanzipatorischer Bestrebungen. Der Gang in die Natur ist nicht – oder nicht bloß, nicht zuallererst – nachgängig kompensatorisch, sondern vorgängig konstitutiv. Die ausschließliche Lesart als eskapistisches Phänomen stellt sich somit als in einem zweifachen Sinne anachronistisch dar: zum einen, indem sie – zu sehr von einem späteren gesellschaftlichen Entwicklungsstand ausgehend – das Resultat des Prozesses (= Anspruch auf politische Wirksamkeit und soziale Gleichheit) absolut setzt und die historischen Bedingungen der Möglichkeit jener Anspruchsformulierung außer acht läßt; zum anderen, indem sie – in einem geradezu gegenläufigen Anachronismus – die historische Distanz nicht nutzt, um auch das noch zu sehen und zu formulieren, was den Zeitgenossen zu sehen und zu formulieren so zunächst nicht möglich war: nämlich den Zusammenhang zwischen Individualisierung und Subjektivierung (inklusive des Moments der Innerlichkeit) einerseits und der Konzeption einer neuen bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsordnung andererseits.224 Die emanzipatorische Kraft wird insbesondere deutlich an dem im Naturerleben sich artikulierenden Autonomie- bzw. Freiheitsbegehren.225 Die Natur war zuförderst deshalb schön, erhaben und heilig, weil sie frei und gut war. (In einem gewissen Sinne könnte man sagen, daß die moralische Güte aus der Freiheit selber folgt, da die absolute Freiheit eine restlose Differenztilgung – und damit die Eliminierung von Schuld – inkludiert.) Mit der Natur – ebenso wie mit der Freundschaft – verband sich die gesamtgesellschaftliche (bürgerliche) Utopie226 einer auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gründenden Gesellschaftsordnung, die der vom Adel geprägten höfischen ›Unnatur‹ sowie der von ihm dominierten ständischen Gesellschaft entgegengestellt wurde.227 Die ›gute‹ Natur war – mit Rousseau – ein Gegenbild zur ›entarteten‹, moralisch verkommenen Gesellschaft und gab zugleich das Modell ab für eine neue, auf Freiheit, Gleichheit und Humanität basierende Soziali-

224

In diesem Sinne unterstreicht auch Meyer-Krentler, daß erst die Empfindsamkeit und nicht schon die Frühaufklärung die »individuell-emotionale Befindlichkeit des Einzelnen« einbringt und darüber nicht nur maßgeblich ein Bewußtsein von Individualität hervortreibt, sondern auch den Boden bereitet für die Herauslösung des Einzelnen aus den ständischen Bindungen (Meyer-Krentler: Bürger als Freund, S. 69). 225 Vgl. in diesem Sinne etwa Schneider: Deutsche Landschaften, S. VIII: Die »Entdeckung der Natur war der Aufbruch des autonomen Individuums in den offenen Raum, der Durchbruch ›ins Freie‹.« 226 Vgl. Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 47; vgl. auch S. 53 u. 55. – Stäcker bezieht sich hier allerdings ausschließlich auf den englischen Garten. 227 Vgl. Jäger: Politische Kategorien, S. 79 f., Fn. 192. Jäger spricht hier explizit von der »Affinität von ›Natur‹ und antiständischem Gesellschaftsideal, welche bis zur Identifikation beider geht«, wobei die Natur – etwa bei Pestalozzi – entweder selbst für den »Zustand einer freien und gleichen Gesellschaft« steht oder zumindest »deren Garant und Bringer« ist.

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tät.228 Die das Alltagsleben wie auch literale und literarische Selbst- und Gemeinschaftsentwürfe dominierende Orientierung an der Natur ist Ausdruck eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels mit weitreichenden politischen Implikationen. Mit Familie und Freunden hinauszusehen und hinauszugehen in die ›freie‹ Natur229 kann somit als Übungsterrain für neue Formen der Gemeinschaftsbildung angesehen werden, auf welchem sich mentale, kulturelle, soziale und politische Aspekte des Wandels vielfältig überschnitten und wechselseitig durchdrangen. Der Briefwechsel Jacobis gibt einen repräsentativen Einblick in die alltagsprägende Kraft dieses Amalgamats. Das Ineinander von Naturwahrnehmung, Freiheitsstreben und Unendlichkeitsbegehren (im doppelten Sinne einer räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit) wird in einem vielzitierten Ausspruch Addisons in nuce greifbar: »On the contrary, a spacious Horizon is an Image of Liberty … Such wide and undetermined Prospects are as pleasing to the Fancy, as the Speculations of Eternity or Infinitude are to the Understanding.«230 Vor diesem Hintergrund ist noch der »harmloseste […] Spaziergang hinaus vor die Tore der Stadt« als Ausdruck jenes »Willens zum Transzendieren« zu begreifen,231 der die Aufklärung so nachdrücklich kennzeichnet. In derselben Weise läßt sich auch für die politischen Ideale – »Liberté, Égalité, Fraternité« – konstatieren, daß sie das todestriebliche Begehren repräsentieren, denn die absolute Freiheit, die restlose Gleichheit (Indifferenz) und die vollkommene Brüderlichkeit (Indifferenzierung der Generation und des Geschlechts) würden nur im Tode ihre Erfüllung finden. Der nicht zu unterschlagende Zusatz »ou la mort« ist demnach auch als Identitätsbehauptung lesbar. Die vermeintlich abstrakte, isolierte Innerlichkeit steht damit nicht wie eine unvermittelte Zufluchtsstätte neben den gesellschaftspolitisch relevanten Kräften: sie sind vielmehr beide des gleichen Wesens. Das Begehren nach innerweltlicher Transzendenz und die mit jeder Transzendenzerfahrung notwendig verknüpfte todestriebliche Indifferenzierung sind mit der Umbildung der gesellschaftlichen Strukturen innigst verwoben. An der Nahtstelle der Verbindung von Natur und Freiheit wird dieser Zusammenhang für den Alltag produktiv: Das Hinaustreten in die ›freie Natur‹ war für den Zeitgenossen der Aufklärung immer zugleich ein Eintreten in die Freiheit, einer Freiheit, die sich zu gestalten wußte etwa in der Form eines idealerweise freien Gesprächs: ein quasi »herrschaftsfreier Diskurs«, in welchem nicht Her-

228

Vgl. hierzu etwa Ph. Fr. Nla. Fabre-d’Églantine: Calendrier de la République francaise, une et indivisible. Bryeres 1794, S. 3: »Je t’annonce un Évangile des Républicains. Sa morale est douce, pure, et bienfaisante, comme la nature qui en est la source éternelle.« (Zit. nach Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 289). 229 Begemann spricht für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts von dem »Entstehen einer breiten alltagskulturellen Bewegung in die Natur« (Begemann: Furcht und Angst, S. 98). 230 Addison. In: The Spectator Nr. 412; zit. nach Poenicke: Geschichte der Angst, S. 82; vgl. Nicolson: Mountain Gloom, S. 314. 231 Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 295.

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kunft und Stand, sondern Leistung, Bildung und Tugend zählen sollten.232 Auf diese Weise wird der Gang in die als reale Freiheit gesetzte Natur symbolisch und konstitutiv für eine neue Sozialform. In der Lebenswelt Jacobis, seiner Familie und seines Freundeskreises gewinnt der Zug ins Freie Gestalt in Form von Aufenthalten im Garten, Ausflügen in die Natur sowie einer deutlichen Distanz zur Stadt. Der Topos von der ungesunden und unreinen Stadt – letzteres auch und gerade im moralischen Sinne verstanden – und dem dieser gegenüberstehenden sauberen, gesunden, moralisch besseren und bessernden Land ist in den Schriftquellen des 18. Jahrhunderts ubiquitär.233 Repräsentativen Ausdruck findet sie in Stolbergs Text Über die Fülle des Herzens: »Viele werden erfahren haben, was ich alle Jahre erfahre: Das Herz kränkelt in der Stadt. Mit geschwächten Geistes- und Leibeskräften verlasse ich jeden Frühling die Stadt, schöpfe aus der Fülle Gottes in der Natur und freue mich meiner jährlichen Genesung. […] In solchen Augenblicken fühlt sich wieder in allen ihren Kräften und Unsterblichkeiten die ganze Seele, das wahre, beßre Ich; denn die Larve, die man mit sich herumschleppt in dem Taumel der Welt, umtönt von den Schellen der Torheit, gähnend und angegähnt, o, wem ist sie nicht in Stunden des Selbstgefühls bis zum Anspeien verhaßt!«234 Doch auch die Korrespondenz Jacobis bietet hierfür eine Reihe von Beispielen.235 Aus Düsseldorfer Perspektive naheliegende Ziele der durch diesen Topos initiierten ›Stadtflucht‹ waren zum einen die Ufer des Rheins in Richtung Köln – bisweilen bis

232

Vgl. hierzu auch Peter-Paul Schneider: Die ›Denkbücher‹ Friedrich Heinrich Jacobis. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986 (= Spekulation und Erfahrung: Abt. 2, Untersuchungen; Bd. 3), S. 138. 233 Vgl. etwa die bei Stäcker: Aufruhr der Seele, angeführten Beispiele von Geßner (S. 40), Rousseau (S. 42) und Stolberg (S. 29). Vgl. für Frankreich: Wagner: Gärten und Utopien, S. 36 f.; für England: Thomas: Man and the Natural World, S. 243–254. – Insbesondere große Städte, wie etwa Berlin oder Paris, galten als Sündenpfuhl und wurden immer wieder entsprechend dargestellt (vgl. Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur, S. 56 u. 63–66 sowie den Brief J. G. A. Forsters an Jacobi vom 23.–26.4.1779; JBW I,2, 91–96). – Zum bessernden Charakter der Naturbetrachtung vgl. vor allem Sulzer: Unterredungen über die Schönheit, S. 133 f.: »Gleichwie aber der Geist sich nach einem vollkommenen Muster bildet, Charites, so bildet sich auch das Gemüthe und die moralischen Eigenschaften der Seele, durch die Betrachtung der Natur. Der moralische Geschmak stehet in einer sehr genauen Verbindung mit den Einsichten und dem Geschmak des Geistes. Wer das Schöne in der Natur einsiehet, der wird auch das moralische Schöne oder das Gute, das eben denselben Ursprung hat, desto leichter erkennen: und es scheinet fast, daß derjenige, welcher von dem natürlichen Schönen hohe Begriffe hat, keiner niederträchtigen Empfindungen des Herzens fähig sey.« 234 Stolberg: Fülle des Herzens, S. 238. 235 Vgl. etwa die Briefe von J. G. A. Forster vom 12.–21.2.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 271) und vom 31.7.1789 (ebd., S. 320) sowie jene von W. von Humboldt vom 20.6.1790 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 29) und vom 22.8.1791 (ebd., S. 36). – Vgl. auch den Brief Jacobis an J. Müller vom 2.5.1786 (JBW I,5, 180).

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zum Ehrenbreitstein der La Roches236 – sowie das Tal der Wupper, aus dem Jacobis Stiefmutter stammte, das Jacobi aus seiner Tätigkeit als Hofkammerrat sehr gut kannte und zu dessen pietistischen Kreisen – Heinrich Jung-Stilling wäre hier beispielhaft zu nennen – er freundschaftliche Kontakte pflegte.237 Die Briefe Heinses etwa an den Halberstädter Kreis, den er im April 1774 verlassen hatte, um in Düsseldorf gemeinsam mit Johann Georg Jacobi die Redaktion der Frauenzeitschrift Iris zu übernehmen, gewähren entsprechende Einblicke in die Aufenthalte an der Wupper.238 Der Topos vom »Wunschbild Land und Schreckbild Stadt«239 findet seinen Ausdruck jedoch nicht nur in Ausflügen in die Natur, sondern auch in den Wohnverhältnissen der Familie. Der berufliche Wechsel Jacobis vom Kaufmann zum Hofkammerrat im Jahre 1772 etwa wurde sogleich genutzt, um aus der Mitte der Stadt in deren Randlage zu ziehen: Das neue Haus – direkt am Wall und neben dem Flinger Tor gelegen, durch welches das vor den Toren der Stadt gelegene väterliche Wohnhaus mit seinem Garten leicht zu erreichen war – bot »an der Wallseite […] über die Festungswerke und die diese gegen Morgen umkränzenden Gärten und Lustanlagen hinaus in die überall bebauete Umgegend und die daran sich schließende Gebirgskette die lustigste Aussicht« dar.240 Jacobis Arbeitszimmer war an ebendieser Wallseite untergebracht. Dem sich von dort aus ergebenden Ausblick in die Landschaft wird in einem Brief an Goethe vom August 1774 – also kurz nach dessen erstem Aufenthalt in Düsseldorf – die Funktion einer Inspirationsquelle zugeschrieben: »Am verwichenen Sonntag sitzend am Fenster meines Wallzimmers, schauend bey hellem Sonnenglanz rund um mich her in die vor mir verbreitete herrliche Gegend, schoß mir auf einmahl, wie ein Blitz, in die Seele der Gedanke, welch ein sündlich Wesen es doch sey, diese herrliche Pracht Gottes so, über Wäll und Grä236

Vgl. Heinses Briefe an Gleim vom 23.6.1774 (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 215), vom 15.4.1779 (ebd., S. 406) und vom 14.9.1779 (ebd., S. 413). 237 Vgl. den Brief an M. S. von La Roche vom 26.4.1775 (JBW I,2, 12). – Vgl. zur Kenntnis der Gegend insbesondere die Briefe an M. S. von La Roche vom 29.11.1772 (JBW I,1, 178), an C. M. Wieland vom 29.5.1774 (JBW I,1, 236 f.), an Goethe vom 26.8.1774 (JBW I,1, 249) und an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 204); zu Elberfeld vgl. JBW II,1, 186 f. 238 Vgl. etwa die Briefe Heinses an Gleim vom 23.6.1774 (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 214 f.) und vom 5.7.1774 (ebd., S. 216). Vgl. auch Heinses Brief an Klamer Schmidt vom 8.7.1774 (ebd., S. 223). – Ein Ausflug nach Elberfeld, der über das Neandertal führt, ist auch Gegenstand des Briefes von F. L. zu Stolberg aus Pempelfort an J. H. Voß vom 29.7.1791 (Stolberg: Briefe, S. 274). 239 Friedrich Sengle: Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. In: Studium generale 16 (1963), S. 619–631. Sengle geht in diesem Beitrag der Entwicklung der deutschen Bauerndichtung nach; für den Stadt-Land-Topos des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist er kaum von Belang. – Zur langen Tradition des Stadt-Land-Topos vgl. Wagner: Gärten und Utopien, S. 33. 240 Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 19r–19v. – Vgl. auch JBW II,1, 169.

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ben hin, nur zu beschielen; nur etwa am Abend ein wenig daran vorbey zu schleichen, da doch nichts wehre, sich hinein zu lagern in diese Herrlichkeit ganze Tage lang […] Meinem frommen Weibe, den Mädchen und Rost [= Heinse] entdeckt ich ohnverzüglich, wie mir geschehen, und wie ich gehorchen wolle der Stimme, die mich geweckt. Da schwur Rost bey seinem Haupte, sie sey des Altvaters, woll’ ihr folgen. Die Mädchen beschlossen uns den ersten Tag zu begleiten; und Betti erbot sich, uns, gegen Mittag, in den nächsten Wald Speise zu bringen; dort sollten wir uns zu ihr versammeln. Am Dienstag, bey Anbruch des Tages, zogen wir aus, und nahmen Besitz von den grünen Wiesen, und den rieselnden Bächen, und von den schattichten Höhen […] Da schmiegten die Mädchen sich an mich, hier am Fuße des Berges, auf dessen Gipfel ich schreibe, in einer (anderthalb Stunden weit von Düsseldorf entfernten) herrlichen Gegend«.241 In der weiteren Schilderung werden sämtliche kulturellen Topoi der Zeit bemüht. Das einfache Leben in der Natur wird in diesem, den Goetheschen Stil adaptierenden Brief zum wahren, echten, eigentlichen Leben stilisiert, demgegenüber der bürgerliche Alltag als unfrei und entfremdet erscheint. Unverkennbar hat hier auch Rousseau Pate gestanden, der in seinen zivilisationskritischen Schriften der entfremdeten Gesellschaft seiner Zeit den im Naturzustand mit sich selbst im Einklang lebenden ›guten Wilden‹ entgegengehalten hatte. Bilder der Schönheit und Erhabenheit der Natur, der Einfachheit des Landlebens und der Gastfreundschaft seiner Bewohner werden dem »vermaledeyte[n] Gefangensitzen in der Festung« gegenübergestellt. Die Stadt, Inbegriff einer ›entarteten‹ Zivilisation, war eben auch – in explizitem Gegensatz zur Natur – der Ort der Unfreiheit. Vor dem Regen findet man Zuflucht in der »Garten-Laube eines Eremiten«. Als der Regen nachläßt, öffnet man »unter einer großen Eiche« das von einem Bauern zusammengestellte »EßKörbelein« und genießt die Aussicht auf einen von Eichen umgebenen »Rasensaal[]«. Die Eiche galt Klopstock und seinen Anhängern im Göttinger Hainbund als der heilige Baum der Vorfahren; Eichenhaine waren die Opferstätten von Kelten, Germanen und Slaven. In der »vaterländischen« Dichtung der Hainbündler hatte sie mithin einen festen Platz. Die Eiche symbolisierte vor allem Kraft und Freiheit und war auf diese Weise mit der Genieästhetik des Sturm und Drang engstens verknüpft. Die vermeintlich unfreiwillige Pointe dieses Ausflugs symbolisiert schließlich die Besetzung des alten durch den neuen Kultraum. Der Regen nämlich wurde doch so 241

Brief Jacobis an Goethe vom 26.8.1774 (JBW I,1, 247 f.). – Vgl. hierzu auch [Friedrich Heinrich Jacobi:] Eduard Allwills Papiere. In: Iris 4 (1775), S. 193–236, hier S. 218 f., im Brief von Clerdon an Sylli vom 8. März (vgl. JWA 6,1, 18). – Das im Brief an Goethe beschriebene Picknick ist im übrigen Erfindung und Mode jener Zeit.

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stark, daß man sich in die »helle luftige Capelle« eines »Eremiten« retten mußte: »Rost [= Heinse] wollte über meinen Vorschlag sich krank lachen, und weiß nun nicht genug sich darüber zu freuen, daß er und ich, mit alle unserm Dichten und Trachten, einem heiligen Altar gegen über sitzen, und da nach unserer Weise sinnen und sagen.«242 Die »heilige« Poesie hält Einzug in die Kirche und tritt letztendlich an ihre Stelle.

3.5 Die heilige Trias von Natur, Freundschaft und Poesie In dieser Szene klingt auch beiläufig an, was zuvor im Brief mit dem in die Beschreibung der Naturidylle eingebetteten Passus »Fritz schreibt an seinem Roman. – Will seinen Brief an Göthe vollenden.«243 explizit thematisiert wurde: Der empfindsame Topos vom Lesen und Schreiben in der Natur. Schon im Juni 1772 hatte Jacobi bei Gelegenheit eines Besuchs der Familie La Roche die Festung Ehrenbreitstein verlassen, um sich in die Natur zu begeben: »Meinem Wieland, dachte ich zugleich, will ich in der angenehmsten Gegend im Schatten eines Baums schreiben, und steckte in der Absicht mein englisches Schreibzeug in die Tasche.«244 Heinse malt in einem Brief an Jacobi das komplementäre Bild einer Lektüre in freier Natur: »Eh ich anfange, ein gutes Gedicht zu lesen, muß ich gewiß versichert seyn, daß mich nichts stören werde. Deswegen unterhalt’ ich mich mit meinen Lieblingen immer um Mitternacht, wenn ich in der Stadt lebe; und im Sommer, leg’ ich mich unter eine Eiche, und liege so still da, so still, daß ich die herumirrenden schüchternen Rehe zu zweifeln bewege, ob ich wohl auch einer ihrer Verfolger sey, oder ein Waldgewächs. Und nur von diesen meinen lieben Freunden laß ich darinn gerne mich stören; ihre Unschuld hat mich oft entzückt. O heilige Poesie! nach Liebe und Freundschaft, nach Wald und Thal und Strom und Sturm und Donnerwetter, beseelst du am meisten mein Leben.«245 Heinses Brief macht deutlich, daß der literarische Topos von der »Lektüre in freier Landschaft«246 mehr bedeutet als eine bloß zufällige Verbindung von Natur und

242

JBW I,1, 248 f. JBW I,1, 249. Vgl. zu diesem Topos der Empfindsamkeit auch im selben Brief: »[…] hier am Fuße des Berges, auf dessen Gipfel ich schreibe« (JBW I,1, 248) sowie die Briefe von C. M. Wieland vom 9.5.1777 (JBW I,2, 59) und von J. G. Herder vom 29.5.1783 (JBW I,3, 155). 244 Brief an C. M. Wieland vom 23.6.1772 (JBW I,1, 157). – Vgl. auch Heinses Brief an Gleim (= Gemäldegalerie-Brief) von Mai-Juli 1777 (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 354). 245 Brief von J. J. W. Heinse an Jacobi vom 6.2.1775 (JBW I,1, 279). Vgl. auch Jacobis Brief an C. M. Wieland vom 30.7.1775 (JBW I,4, 328 f.). 246 Vgl. Piatti: Rousseaus Garten, S. 85–89 sowie vor allem Thomas Koebner: Lektüre in freier 243

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Schrift: Es handelt sich keineswegs um die kontingente Verknüpfung einer literalen Gesellschaft mit einer naturbegeisterten. Freundschaft, Natur und Poesie sind vielmehr die exponierten Heilsräume, die neuen heiligen Stätten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, insbesondere aber diejenigen der Empfindsamkeit.247 Die Poesie steht dabei vor allem für die innerweltliche Vermittlungsstätte des Heiligen / Göttlichen: Als Ort des neuen Kultes tritt sie an die Stelle der Kirche. Auf vielfältige Weise wird die verwandtschaftliche Verwobenheit von Natur, Freundschaft und Poesie in den literarischen Dokumenten kenntlich gemacht. So etwa konnte, wie bereits gesehen, die Natur zum Freund werden.248 Gleiches gilt auch für die Poesie bzw. den Dichter.249 Goethe stellt seinem Werther die Anweisung voran, »laß das Büchlein deinen Freund sein«,250 und schon in den überaus einflußreichen Discourse der Mahlern (1721– 23) führten die Schweizer Bodmer und Breitinger aus, daß das Verhältnis zwischen Autor und Leser eine ähnliche Seelenverwandtschaft erfordert wie die Freundschaftsbeziehung. Bei ihnen ist es insbesondere jener Dichter, der im 18. Jahrhundert als Vorbild für die Abkehr von der einengenden Stadt und als Apologet des freien Landlebens gefeiert wurde, Horaz nämlich, der dem Leser zum Freund zu werden vermag. Die sakralen Momente der Freundschaft – etwa ihre Erlösungsfunktion sowie die Hypostasierung des Freundes zum Gott – eignen ebenfalls der ländlichen Lektüresituation: »Landleben und Lektüre erhalten von den Schweizern eine gemeinsame Weihe im Namen des Horaz. Die Gemeinschaft zwischen Leser und dem Dichter-

Landschaft. Zur Theorie des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. Studien. Heidelberg 1993 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; Bd. 121), S. 9–27. – Die nachfolgenden Ausführungen verdanken sich dem von Koebner ausgebreiteten Material, das den Topos auch in die Tradition einrückt. Koebners Deutungen hingegen kann ich nur partiell folgen. 247 Daß diese ›heilige Trias‹ insbesondere der Empfindsamkeit zugerechnet werden kann, unterstreicht u. a. Lothar Müllers Analyse des Anton Reiser: »Gemeinsame Lektüre, gemeinsame Naturerfahrung und die wechselseitige mündliche oder schriftliche Versicherung der Freundschaft bilden sich im Umgang zwischen Anton und Philipp Reiser als empfindsame Rituale heraus.« (Müller: Die kranke Seele, S. 342.) – Vgl. hierzu auch im Brief von Heinse an Gleim vom 30.12.1777: »[…] und fuhr hernach mit dem Graf [= Nesselrode] auf seines Vaters Güter, die zwischen Gebürg und Wald liegen; und philosophierte und musicierte, und hielt in der Einsamkeit tausend trauliche Gespräche über Kunst und Liebe und Natur mit ihm […] lagerte mich mit ihm an klare Wasserfälle, spazierte mit ihm durch blühende Pommeranzen bey Abendroth und Mondenschein, ritt mit ihm, und seinem Bruder voll Witz und Laune, am Morgen über die bethauten Wiesen, und jagte auf meinem raschen Engländer durch Thal und Wald und über Berg« (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 373). – Vgl. auch Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 14. 248 Vgl. oben das Kapitel V.3.3. 249 Vgl. hierzu etwa im Brief Heinses an Gleim vom 15.3.1785: »Mein größtes Vergnügen nach meiner Arbeit war diesen Winter Sophokles und Aristophanes, und öftrer brüderlicher Umgang mit den andern hohen und heitern Griechen.« (Heinse: Werke, Bd. 10, S. 261.) 250 Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, S. 7.

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Vorbild-Freund erinnert an die persönliche Begegnung zwischen dem protestantischpietistischen Gläubigen und ›seinem‹ Gott.«251 Tatsächlich initiiert in Bodmers Poesie die Lektüre des Horaz in freier Natur einen Übergang, eine Transzendenz, in jenen paradiesischen Raum, dem alle Merkmale einer Gegenwelt eignen. Horaz wird somit zum »Seelengeleiter ins ›Jenseitsreich‹«: »Die Landschaft erscheint als Bindeglied oder Zwischenreich zwischen Wirklichkeit und Traum. Sie erhält dadurch die Funktion, den Übergang zu ermöglichen, wird symbolisch gleichsam als Vorraum des Tempels (der utopischen ›neuen Welt‹) aufgefaßt und verehrt. Lektüre in freier Landschaft führt zu einer Art ekstatischer Verzückung und damit in die Traumvision der ›Paradiesschau‹ hinüber. Lektüre wird auf diese Weise zu einer transzendierenden Zeremonie, zu einer heiligen Handlung: zu einem Ritual.« Die »sakrale Dimension des Lektürerituals« ist damit offenkundig.252 Die erträumte andere Welt firmiert unter den Namen »Arkadien«, »Elysium«, »goldenes Zeitalter« oder »Paradies«.253 Diese Gegenwelt wird der sozialen und politischen Realität mit emanzipatorischer Kraft entgegengesetzt. In den Idyllen Salomon Geßners beispielsweise erhält die Lektüreszenerie »den Charakter eines verschobenen sozialen Höhenflugs, nimmt demokratische Gleichheit im Bild der Konversation zwischen den Geistern: in der Lektüre, vorweg.«254 Auch Karl Philipp Moritz, der die Lektüreträume seines Helden Anton Reiser bereits mit deutlich kritischer Distanz schildert, greift noch auf dieselben Merkmale der Gegenwelt zurück: Die Lektüresituation steht hier

251

Koebner: Lektüre in freier Landschaft, S. 12 f. – Vgl. auch ebd., S. 15, wo von der »quasiheilige[n] Konversation des einsamen Lesers / Gläubigen mit dem vergöttlichten Dichter / Gott« die Rede ist. – Zum 18. Jahrhundert als »aetas Horatiana« vgl. Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung, S. 355–357, dort insbesondere aus dem Horaz betitelten Gedicht Friedrich von Hagedorns: »Horaz, mein Freund, mein Lehrer, mein Begleiter.« (Ebd., S. 357.) 252 Koebner: Lektüre in freier Landschaft, S. 14 f. 253 Von »Elysium« ist etwa die Rede in den Briefen von Heinse an Klamer Schmidt vom 8.7.1774 (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 223) sowie an J. G. Jacobi vom 19.1.1776 (ebd., S. 259), im oben zitierten Brief an J. W. L. Gleim vom »Paradiese des Landlebens« und »arkadische[n] Spaziergänge[n] und Lauben«. – Vgl. daneben Heinses Brief an den Anakreontiker Gleim vom 17.5.1774, der Heinses Ankunft in Düsseldorf gänzlich im anakreontischen Stil schildert (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 211). – Mit »Elysium« als dem Aufenthaltsort der Seligen verknüpft sich in signifikanter Weise die »Beatus ille«-Formel des Horaz (»Formel der Seligpreisung«) (vgl. Wagner: Gärten und Utopien, S. 35 f.). 254 Koebner: Lektüre in freier Landschaft, S. 17. – Zur emanzipatorischen Kraft der Idylle allgemein vgl. auch Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 19 f.: »Schon im Barock ist eine herbe Hofkritik geläufig; bei Geßner findet solche Kritik kaum statt, aber sie ist unausgesprochen in eine ideale Gegenposition eingegangen. Nicht als Abbild, aber als Idealbild gewinnt diese Idylle ihren Realitätsbezug, und nicht im Darstellen eines wirklichen, aber eines sein sollenden Menschen hat sie ihre Wirklichkeit: als Wirkungspotential.« Vgl. auch Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 309.

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für eine Form des sozialen Miteinanders, »die auf Gleichheit und gegenseitiger Anerkennung beruht«.255 Das »Leben in den Gelehrtenrepubliken«, das nach übereinstimmender Auskunft von Jacobi und Heinse »sich noch am meisten dem goldnen Stande der Natur [nähert]«,256 versuchte bereits, diese soziale, konfessionelle und territoriale Grenzen überwindende gesellschaftliche Utopie in einem insularen Raum vorwegnehmend zu realisieren. Herders erster Brief an Jacobi vom 29. Mai 1783 legt davon Zeugnis ab, wie Lektüre, Natur, freundschaftliche Seelenverwandtschaft und der Traum einer besseren Welt nicht bloß als Zitationen literarischer Topoi oder als »Leben im Zitat«, sondern als Beschwörungsformeln eines gemeinsamen kulturellen Raumes fungieren:257 »Ich las Ihre vermischten Aufsätze an einer schönen Quelle zwischen Mond u. Abendroth in dem erquickenden Schatten nach einem schwülen Tage. Mein Geist flog zu Ihnen herüber u. die ganze schöne Aussicht der Zukunft, die Sie uns vorzeichnen, umfing mich an Ihrer Seite, wie der Traum eines Wachenden in glücklichen Gefilden. […] Endlich kam Ihr ›Etwas von Leßing‹ u. wenn Sie einen zustimmenden Bruder-Leser in Europa haben, bin ichs gewesen.«258 Die Erwähnung der vermutlich wirkungsvollsten politischen Schrift Jacobis, Etwas das Leßing gesagt hat (1782), in welcher er mit deutlich liberaler Gesinnung Absolutismus und Willkürherrschaft kritisiert, läßt die emanzipatorische Tendenz des Natur, Freundschaft und Medien (namentlich Poesie, Schrift und Kunst) umgreifenden ›heiligen‹ Raumes offenkundig werden.259

255

Koebner: Lektüre in freier Landschaft, S. 24; vgl. auch zusammenfassend S. 25. Brief von J. J. W. Heinse vom 7.2.1775 (JBW I,1, 280). 257 Zur Kritik an der verkürzenden Deutung der Naturwahrnehmung als »Leben im Zitat« (Lothar Müller) vgl. Grams: Karl Philipp Moritz, S. 142–147. Auch Begemann betont, daß es sich bei dem Naturerleben mit dem Buch in der Hand keineswegs um ein rein literarisches Phänomen handelt (Begemann: Furcht und Angst, S. 102–104). 258 JBW I,3, 155. 259 Die Diagnose von Norbert Elias, der auch Stäcker folgt, daß die der »Gelehrtenrepublik« zuzurechnende Schicht einer mittelständischen Intelligenz »kaum in politischen und erst zaghaft in nationalen Kategorien denkt« (zit. nach Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 12), wird nach meiner Wahrnehmung durch den Briefwechsel Jacobis, aber auch durch Dichtung und Biographie beispielsweise Klopstocks, widerlegt. 256

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3.6 Der empfindsame Garten – auch eine Ästhetik des Unendlichen »Was ich sagen wollte! Zum vollkommenen Park Wird uns wenig mehr abgehn. Wir haben Tiefen und Höhn, Eine Musterkarte von allem Gesträuche, Krumme Gänge, Wasserfälle, Teiche, Pagoden, Höhlen, Wieschen, Felsen und Klüfte, Eine Menge Reseda und andres Gedüfte, Weimutsfichten, babylonische Weiden, Ruinen, Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, Moscheen und Thürme mit Kabinetten, Von Moos sehr unbequeme Betten, Obelisken, Labyrinthe, Triumphbogen, Arkaden, Fischerhütten, Pavillons zum Baden, Chinesisch-gothische Grotten, Kiosken, Tings, Maurische Tempel und Monumente, Gräber, ob wir gleich niemand begraben, Man muß es alles zum Ganzen haben«.260

Sprechendster Ausdruck für Konzeption und Etablierung eines solchen Raumes ist die Gartenmode des 18. Jahrhunderts. In ihr liefen die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur auf der einen und die politische Dimension des Naturbegriffs auf der anderen Seite, die über die Gleichsetzung von Natur und Freiheit immer schon auf das engste miteinander verknüpft waren,261 zusammen und entfalteten alltagsprägende Kraft. Aufenthalt und Gespräch mit Freunden im Garten, dem die Funktion zukam, die paradiesisch ›freie Natur‹ zu repräsentieren, lesen oder dichten in einsamen Lauben, schließlich der Gesundung dienende Spaziergänge oder Badekuren – all dies gehörte zur Kulisse empfindsamer Romane ebenso wie zum Alltag der Zeitgenossen.262 Jeder, der es sich leisten konnte, besaß einen Garten, meist außerhalb der 260

J. W. Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. XVII, S. 37 f.). 261 Vgl. hierzu etwa Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989 (= DuMont-Dokumente), S. 9: »Ebenso bedeutsam aber war, daß die Aufklärung ihren Naturbegriff unlösbar mit dem Freiheitsgedanken verband. Wo Freiheit aus dem Naturrecht begründet wurde, konnte umgekehrt Natur selbst zum Freiheitssymbol werden.« Die hier angedeutete eindimensionale Kausalität erscheint mir allerdings modifizierungsbedürftig. Vgl. auch ebd., S. 17 sowie Bauer: Idee und Entstehung, S. 20. 262 Vgl. das Beispiel des dichtenden Johann Georg Jacobi im Pempelforter Garten (Georg Arnold Jacobi: Aufzeichnungen, Bl. 26v sowie Heinses Brief an Gleim vom 14.9.1779; Heinse: Werke, Bd. 9, S. 413). Vgl. auch den Brief von J. G. Hamann an C. Hill vom 21.9.1787 (Hamann 7, 297). – Über Hamanns Trinkkur an diesem Ort geben u. a. seine Briefe an J. G. Herder vom 1.9.1787 (Hamann 7, 284) und an E. R. Hamann vom 15.9.1787 (Hamann 7, 287) Auskunft. – Zur Trias von freundschaftlicher Geselligkeit, Lektüre und Natur im Garten vgl. im Brief von C. M. Wieland vom 9.5.1777: »Nun kann ich nichts weiter sagen, als dieß: Warte, bis Georg kommt, und dann leset das

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Stadtmauern. Wieland und Goethe berichten in Briefen an Jacobi von den ihrigen, Hamann – während seines Aufenthaltes in Münster – von dem Garten Sprickmanns, und die Laube im Garten Gleims dürfte wohl eine ähnliche Berühmtheit erlangt haben wie sein Freundschaftstempel.263 Auch Friedrich Heinrich Jacobi hielt sich mit Familie und Freunden während des Sommers häufig im väterlichen Garten in Pempelfort auf, der im Stile eines französischen Gartens gestaltet war und nicht weit vor den Toren der Stadt Düsseldorf lag.264 Im Jahre 1776 war er aufgrund einer umfangreichen Erbschaft seiner Frau in der Lage, seinem – durch den Ruin seiner Zuckerfabrik hochverschuldeten – Vater einen großen Teil des Gartens sowie einige Gebäudekomplexe abzukaufen. In den kommenden Jahren wurde zunächst der Wohnraum zwecks Unterbringung von Familie und Gästen ausgebaut. Dann wandte man sich, vornehmlich in jedem Frühjahr, der Neugestaltung des Gartens zu.265 Die Briefe, die Johann Georg Hamann von seinem dreimonatigen Aufenthalt in Pempelfort im Herbst 1787 an den Königsberger Familien- und Freundeskreis, insbesondere diejenigen, die er an seine Tochter Elisabeth Regina schrieb, geben einen genauen Einblick in die Anlage des Pempelforter Gartens: »Der Garten besteht aus vier Partieen, einem großen grünen Platze der mit lauter Orange- und Myrthenbäumen besetzt ist; darauf kommt ein Salon von Ulmen; hierauf ein schönes Bosquet voll exotischer Gewächse, worin ein großer Teich, wo der Geh. Rath [= Jacobi] alle Mittage die Karpfen selbst füttert, so wie seine schönen Tauben. Nach dem Teich kommt ein Bach, und hinter demselben noch eine

Ding zusammen in eurem Cirkel, wenn ihr alle aufgeräumt seyd, an einem Abend, im Garten, bei Mondschein.« (JBW I,2, 59.) 263 Vgl. die Briefe von C. M. Wieland vom 28.5.1774 (JBW I,1, 235) und vom 10.5.1776 (JBW I,2, 43) sowie die Briefe Goethes vom 21.7.1788 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,9, S. 3) und vom 18.8.1792 (ebd., Bd. IV,10, S. 6). – Zum Garten Sprickmanns vgl. Hamanns Brief vom 16.5.1788 (Hamann 7, 474); seinen eigenen Garten erwähnt Hamann in seinen Briefen vom 30.1.1787 (Hamann 7, 100) und vom 27.4.1787 (Hamann 7, 171). Zu Gleims Garten und Laube vgl. die Briefe Jacobis an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 206) und an M. Mendelssohn vom 4.11.1783 (JBW I,3, 242), von J. G. Herder vom 29.5.1783 (JBW I,3, 156) und vom 6.2.1784 (JBW I,3, 279) sowie von J. W. L. Gleim vom 23.9.1783 (JBW I,3, 210). 264 Vgl. etwa den Brief Heinses an Gleim vom 14.5.1776 (Heinse: Werke, Bd. 9, S. 276). – Zum folgenden vgl. die ausführlichere Darstellung in Götz: Pempelfort. – Einen Plan des väterlichen Gartens findet man etwa bei Müller: Herrschaft, S. 148. 265 Vgl. hierzu etwa den Brief von J. G. A. Forster vom 17.3.1780 sowie Jacobis Brief an J. G. A. Forster vom 27.3.1780 (JBW I,2, 138 f.). Von Forster erhielt Jacobi zu diesem Zeitpunkt auch das Werk von Christoph Heinrich Böttger Verzeichnis derjenigen fremden und einheimischen Bäume und Stauden, welche in den angelegten englischen Parks und Gärten des Fürstlichen Lustschlosses Weißenstein dermalen befindlich sind (Cassel 1777) (JBW I 2, 136 bzw. JBW II,2, 152 [zu 136,19]).

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Anhöhe voller Blumenstöcke und fremder, seltener Bäume und Gesträuche. Zur Seite steht das Gewächshaus, wo der Gärtner wohnt.«266 Präzise Angaben zur Größe des Gartens folgen kurze Zeit später: »Ich habe unsern Garten beym Brunnen ausgemessen. Er beträgt über 300 Schritte in die Länge und gegen 200 in die Breite. Zwey schöne Myrthenbäume stehen in voller Blüthe jetzt am Eingange und neben ihnen zwey blühende Granatbäume. Die Orangerie ist außerordentlich mit Früchten gesegnet. Der darauf folgende Sallon aus lauter Ulmen, fast 14 Reihen in die Länge und 12 in die Breite.«267 Die Familie – nicht selten umgeben von zahlreichen Gästen268 – lebte zu dieser Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst in Pempelfort, wovon nicht zuletzt die in den Briefen vermerkten aufwendigen Umzüge aufs Land – respektive in die Stadt – Zeugnis ablegen.269 Kurz nach Hamanns Besuch, im Winter 1787/88, wurde dann das Stadthaus verkauft; im darauffolgenden Frühjahr zog die Familie zum letzten Mal nach Pempelfort. Der »böse[n] Stadt« war damit endgültig der Rücken gekehrt.270 Doch der letzte, langwierigste und wohl auch kostspieligste Umbau des Landgutes stand noch aus. Nach dem Tod des Vaters Johann Conrad Jacobi am 28. Dezember 1788 fiel das gesamte Pempelforter Gelände Jacobi zu. Eine umfassende Veränderung des Wohn- und Gartenraumes wurde geplant und schließlich auch umgesetzt. Im Frühjahr des Jahres 1790 beginnen die Bauarbeiten und stürzen Pempelfort in ein Chaos.271 Von dem Umbau war insbesondere der Garten betroffen, der nun endgültig die Gestalt eines englischen Landschaftsgartens erhalten sollte.

266

Brief J. G. Hamanns an seine Tochter E. R. Hamann vom 27.8.1787 (Hamann 7, 280). Brief J. G. Hamanns an E. R. Hamann vom 15.9.1787 (Hamann 7, 287). – »Beym Brunnen« bedeutet hier: Während er im Garten zum Zwecke einer Gesundheitskur »Pyrmonter« Mineralwasser trank. Vgl. etwa auch den Brief J. G. Hamanns an J. G. Herder vom 1.9.1787 (Hamann 7, 284). 268 Aufenthalte im Garten sind erwähnt in den Briefen Jacobis an J. F. Kleuker vom 4.–5.4.1782 (JBW I,3, 19), an A. von Gallitzin vom 8.–9.7.1784 (JBW I,3, 336), an J. G. Hamann vom 22.5.1787 (Hamann 7, 211), an C. S. L. Reimarus vom 6.8.1792 (AB II, 94) und von Goethe vom 7.7.1793 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,10, S. 89). 269 Vgl. etwa die Briefe an T. Wizenmann vom 6.11.1783 (JBW I,3, 246), an J. G. Herder vom 13.11.1784 (JBW I,3, 383), an M. E. Reimarus vom 7.11.1785 (JBW I,4, 234 sowie JWA 1,1, 277) und an J. F. Kleuker vom 23.10.1787 (Ratjen: Kleuker, S. 93). 270 Brief an M. E. Reimarus vom 4.11.1783 (JBW I,3, 246). Vgl. auch den Brief an »Julia Gräfinn R***« (= Reventlow) vom 7.1.1788 (WW III, 509) sowie jenen an G.-L. Le Sage vom 30.1.1788 (AB I, 452). 271 Vgl. den Brief an J. G. A. Forster vom 19.3.1790 (AB II, 20 f.; oben zit. in Kapitel IV.2.4.3.1). In einem Brief an seine Frau Therese aus Pempelfort vom 29.3.1790 bestätigt Forster dann die ihm geschilderten Vorgänge: »Wir fanden wirklich eine Scene der Verwüstung in Haus und Garten.« (Forster: Werke, Bd. 16, S. 46.) 267

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3.6.1 Paradiesische Entgrenzungen: Der englische Landschaftsgarten In expliziter Frontstellung zum geometrisch angelegten französischen Barockgarten, der den Zeitgenossen als Ausdruck von Absolutismus und Subordination, Künstlichkeit und Unfreiheit galt, sollte der Landschaftsgarten, der Vorbild der empfindsamen Gartenkunst war, die ›freie Natur‹ nachbilden. Die neue Gartenmode hatte damit von Beginn an eine nachhaltig politische Dimension und Intention, die insbesondere in ihrem englischen Ursprung deutlich hervortrat: Gegen die Repräsentanten einer als korrupt angesehenen politischen Macht formierten sich die wenig einflußreichen, liberal gesinnten, oppositionellen Whigs zu einer »Country«-Partei, die bei ihren Zusammenkünften auf den Landsitzen außerhalb Londons nach Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strebende Reformideen diskutierten und reklamierten. Die Moral wurde der Macht, das Land der Stadt entgegengesetzt. In diesem Umfeld entstanden Konzeption und erste Realisierungen des neuen Gartenmodells, das immer zugleich auch ein neues Staats- und Gesellschaftsmodell meinte: Die zurechtgestutzte Natur entsprach dem zurechtgestutzten Höfling, der frei wachsende Baum dem freien Menschen.272 Im Garten sollte jenes Reich der Freiheit realisiert werden, das die Züge des Paradieses trug.273 Popularisiert wurde das neue Gartenkonzept vor allem durch die Schriften von Shaftesbury, Addison und Pope, wobei letzterer zudem mit seinem Garten in Twickenham die vermutlich erste bewußt freie Gestaltung eines Gartens vornahm.274 Pope ging dabei von drei grundlegenden Gestaltungsprinzipien aus: überraschende Effekte, Reichtum an Abwechslung und Kontrasten und Vertuschung der Grenzen, d. h. Einbindung des Parks in die ihn umgebende Landschaft, von der er nicht durch Mauer oder Zaun, sondern durch einen weithin unsichtbaren Graben getrennt wurde.275 Den drei von Pope vorgeschlagenen Gestaltungsprinzipien gemeinsam ist der Charakter der Offenheit

272 So argumentierte etwa der englische Dichter Alexander Pope (vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 12 f.; vgl. zum Vorhergehenden ebd., S. 17 f.). – Auch Jacobi nutzt in der Fortsetzung seines Woldemar gartentheoretische Erörterungen als Grundlage und Ausgangspunkt für moral- und gesellschaftstheoretische (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande des Woldemar. In: Deutsches Museum [1779], 1. Bd., S. 307– 348 u. 393–427, hier S. 340 f.; vgl. JWA 7,1, 152). – Den Zusammenhang von Garten- und Staatsmodell unterstreicht auch Bauer: Idee und Entstehung, S. 21. 273 Vgl. hierzu Addisons im Tatler (1710) geschilderter Traum vom Paradies als dem »Reich der Göttin der Freiheit« (zit. nach von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 12). – Zum zentralen Begriff der Freiheit vgl. zudem den immer wieder zitierten Satz aus Hirschfelds einbändiger Theorie der Gartenkunst von 1775: »Wir hassen Einschränkung und lieben Ausdehnung und Freyheit« (zit. nach Heinke Wunderlich: Garten. In: Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 143 f., hier S. 144). 274 Vgl. Herbert Keller: Kleine Geschichte der Gartenkunst. 2., neubearb. u. erw. Aufl. Berlin u. a. 1994 (= Blackwell-Fachwissen: Fachbibliothek Grün), S. 133. 275 Vgl. Bauer: Idee und Entstehung, S. 25 f.

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oder Entgrenzung.276 An die Stelle abgezirkelter Beete und gerader, auf das zentrale Gebäude hin orientierter Wege, wie sie den Barockgarten auszeichneten – Garten und Schloß von Versailles galten als dessen vollendeter Ausdruck und wirkten mustergültig für ganz Europa –, traten nun der Hogarthschen »line of beauty«, einer wellenförmigen Schönheitslinie, folgende gewundene Wege, die immer neue und überraschende Ausblicke freigaben, d. h. – in der Sprache der Zeitgenossen – für eine »beständige Abwechslung der Prospecte« sorgten.277 Die sich auf den Spaziergängen von Zeit zu Zeit eröffnenden Ausblicke in die umgebende Landschaft bezeichneten die Gartenkünstler als »Aha’s«; der bedeutende deutsche Gartenarchitekt Friedrich Ludwig Sckell sollte später von »Ha-Has« sprechen.278 Die Forderung nach Abwechslung, Kontrasten und Mannigfaltigkeit ist nicht zuletzt auch Ausdruck eines Aufbegehrens gegen überkommene ästhetische Prinzipien, das sich, wie bereits gesehen, zeitgleich in der Literatur in Form einer Absage an die regelgeleitete Dichtkunst manifestierte.279 Die Abkehr von der Architektur und die Zuwendung zur Landschaftsmalerei als leitende Bezugsdisziplin der Gartenkunst wird vor allem in den überraschenden Ausund Anblicken deutlich: »Der Landschaftsgarten präsentiert ideale Natur in dreidimensionalen, begehbaren ›Bildern‹.«280 Zu diesen Bildern gehörte auch eine bisweilen erhebliche Anzahl von – zumeist miniaturhaften – Gebäuden als Bildstaffage mit hohem symbolischem Wert, vielfach auch mit emblematischer Bedeutung. In ihnen wird der in die Totalität gehende Charakter dieser auf dem Boden der Aufklärung sprießenden Offenheit281 oder Entgrenzung deutlich: In Form von Grotten, Felsen und Wasserfällen versuchte man, die erhabene Natur nachzustellen; türkische Zelte oder Moscheen, chinesische Brücken und Pagoden sowie ägyptische Pyramiden repräsentieren einen Schnitt durch die Räume der Weltkulturen; klassische Tempel, 276

Mit Bezug auf Friedrich Georg Jünger (Gärten im Abend- und Morgenland. München u. a. 1960, S. 39) spricht Ritter von der »Entgrenzung« als dem »Grundgesetz« des englischen Parks (Ritter: Landschaft, S. 188). – Koschorke hebt das Moment der »Entgrenzung« als wesentliches Moment der Erhabenheitserfahrung hervor (Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 127). 277 Hirschfeld, zit. nach Bauer: Idee und Entstehung, S. 27. – Zur »ondulierenden Linie« Hogarths vgl. auch Wagner: Gärten und Utopien, S. 48 f. 278 Vgl. Keller: Kleine Geschichte, S. 136 u. 150 f. sowie Siegmar Gerndt: Idealisierte Natur. Die literarische Kontroverse um den Landschaftsgarten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland. Stuttgart 1981, S. 17. 279 Vgl. zu dieser neuen, auf Irregularität und Asymmetrie zielenden (Natur-)Ästhetik auch Nicolson: Mountain Gloom, S. 15 f. u. ö. Sie ist auf das engste mit der neuen Ästhetik des Unendlichen verbunden (ebd., S. 137). 280 Von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 14. – Die meistgenannten Bezugsmaler sind Salvatore Rosa, Nicolas Poussin und Claude Lorrain (vgl. etwa Gerndt: Idealisierte Natur, S. 67). 281 »Offenheit« als (ideologisches) Grundprinzip einer bürgerlichen, d. h. nicht ständisch organisierten Gesellschaft, einer »Weltbürgergesellschaft«, macht auch Witte geltend (Witte: Gellert: »Das Leben der schwedischen Gräfinn von G***«, S. 133–137).

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römische Ruinen und gotische Kapellen gingen darauf aus, die Vergangenheit gegenwärtig zu halten.282 Unverkennbar verdanken sich die gewählten Staffagen eigenen oder literarisch vermittelten Reiseeindrücken, insbesondere der Begegnung mit der Antike in Italien.283 Die für den Klassizismus kennzeichnende Orientierung an der Antike stand dabei selbst wiederum im Zeichen der Rückwendung zu einem Ursprünglichen und Natürlichen, das mit dem Humanen schlechthin identifiziert wurde.284 Indem das Prinzip der Offenheit sich somit in der Versammlung von Weltkulturen und Weltgeschichte im Garten gestaltete, war es Ausdruck eines Begehrens nach Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit, das im übrigen ebenfalls als entscheidendes Movens der Reisekultur – mitsamt ihres imperialen Charakters – angesehen werden kann: Die Endlichkeit wurde transzendiert in einer »kleinen Weltlandschaft, in einem grünen Universum jenseits der Geschichte«285 – so Peter Sagers zusammenfassende Charakteristik von Painshill Park, jenem Landschaftsgarten, der für Jacobis Umgestaltung Vorbildcharakter gewinnen sollte. Im Medium des Gefühls, das in der Exklamation »Aha« seinen adäquaten Ausdruck findet, wurde die im Garten repräsentierte Welt mit dem Subjekt vermittelt, quasi in dieses hineingeholt, angeeignet, inkorporiert.286 Von besonderer Bedeutung ist hierbei, daß der Terminus »Aha’s« für jene Ausblicke reserviert war, die den Eindruck von Grenzenlosigkeit oder Unendlichkeit vermittelten. Konstruiert wurden 282

Auch die bei Wagner: Gärten und Utopien, S. 42, erwähnten, im Garten verteilten »maison de plaisance«, wovon jedes nach den Ideen und Modellen eines fremden Landes gestaltet wurde, weisen in diese Richtung. Einblicke in die Vielfalt gibt u. a. der reich bebilderte DuMont-Band (von Buttlar: Landschaftsgarten). »Pyramide, Tempel und Kathedrale« können zudem »als Sinnbilder der verschiedenen Religionen« fungieren (vgl. ders.: Grab im Garten, S. 103). – Die Grotte ist dabei – als »Inbegriff der bergenden Natur von Vergil bis zu Stifters ›Bergkristall‹« – in besonderer Weise Symbol der Verschmelzung mit der Natur (Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 18) oder auch der Rückkehr in den Mutterschoß. 283 Von Buttlar spricht bezüglich des Parks von Dessau-Wörlitz vom »Stil der Reiseerinnerungen« (von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 150). 284 Vgl. hierzu Bauer: Idee und Entstehung, S. 29: »Antikische Architektur war das Korrelat zum ›natürlichen‹ Garten. Dem liegt eine Gleichsetzung von antiker Kunst, oder auch des Menschen, des griechischen Menschen, mit Natur oder dem Natürlichen schlechthin zugrunde. Daß in der griechischen Antike die Natur sich frei entfaltet habe, ist die klassizistische Prämisse schlechthin, und nicht erst seit Winckelmann gibt es die Gleichung: Antike = Natur.« – Vgl. auch Bubner: Einleitende Betrachtungen, S. 21 f. sowie Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 306. 285 Peter Sager: Südengland. Von Kent bis Cornwall. Architektur und Landschaft, Literatur und Geschichte. Köln 1996 (= Dumont Kunst-Reiseführer), S. 90. – Zum Begriff »Weltgarten« vgl. Paul Landau und Camillo Schneider: Der deutsche Garten. Ein Jahrtausend-Naturerleben. Berlin 1928, S. 264. 286 Vgl. auch Schneider, der bezüglich des empfindsamen Naturkults allgemein festhält: »In einer Art ästhetisch-moralischer Eucharistie wurde die Natur dem empfindsamen Herzen einverleibt.« (Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 300.)

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diese zum einen durch die bereits erwähnte Vertuschung der Grenzen, zum anderen durch einen an der Außengrenze des Gartens verlaufenden Gürtelweg (»belt«).287 Die den Akt der Inkorporation begleitende Lautfolge – »Aha« oder »Ha-Ha« – ist dabei alles andere als zufällig: Keine andere Sequenz von Vokal und Konsonant erzwingt eine vergleichbar weite Öffnung des Mundes. Trotz der infantil anmutenden Geste konnte der bloß ›natürliche‹ Mensch hierbei allerdings wenig gewinnen: »Natur im Landschaftsgarten war vielmehr in Dichtung, Malerei und Geschichte gespiegelte Natur, deren verständige Wahrnehmung beim Betrachter ein geschultes ästhetisches Empfinden und eine umfassende, fast elitäre Bildung voraussetzte.«288 Doch zeigt der kindlich wirkende, körperliche Ausdruck vielleicht nur dies: daß der infantile Narzißmus nicht zu einem ›reifen‹ wird, indem er ersteren überwindet und hinter sich läßt. Vielmehr scheint in der kindlich-leiblichen Geste das gesamte, kulturell verfeinerte und rational überhöhte Weltverhältnis selbst schon angezeigt und vorgebildet zu sein.289 Wie die Staffagen, so ging auch die Pflanzenwahl in die Totale – und zwar sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. William Chambers, Wegbereiter des empfindsamen Landschaftsgartens, wurde um 1750 mit der Planung von Kew Gardens beauftragt, bei dessen Verwirklichung dann 11.000 Pflanzenarten zum Einsatz kamen.290 Dem Bestreben nach größtmöglicher Mannigfaltigkeit der Pflanzengattungen verdankte sich auch die Verwendung einer Vielzahl seltener, exotischer Arten, die Hamann bereits im Herbst 1787 im Pempelforter Garten entdeckt hatte. Dies legt die Vermutung nahe, daß dort schon vor dem großen Umbau des Frühjahres 1790 einzelne Elemente des englischen Landschaftsgartens realisiert wurden. Allerdings kann das Exotische nicht als genuines Stilmerkmal des englischen Gartens bezeichnet werden, denn auch in seinem französischen Vorläufer hatte es seinen festen Platz.291 287

Vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 26. Von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 14; vgl. auch S. 18. – Vgl. dagegen die von Michael Gamper dargestellten Demokratisierungstendenzen (Michael Gamper: Zwischen allegorischer Entzifferung und Schwärmerei. Imagination und Bedeutungsproduktion im deutschen Gartendiskurs des 18. Jahrhunderts. In: Günter Oesterle u. Harald Tausch [Hg.]: Der imaginierte Garten. Göttingen 2001 [= Formen der Erinnerung; Bd. 9], S. 45–70). 289 Vgl. hierzu die Kritik von Rudolf Heinz an der Narzißmustheorie von Heinz Kohut etwa in Rudolf Heinz: Heinz Kohut in memoriam. In: Kaum. Halbjahresschrift für Pathognostik 1 (1984), S. 79–83; ebenso in ders.: Logik und Inzest, Bd. 3, S. 149–152, hier insbesondere S. 151: »Der psychoanalytische Subjektivismus fände allererst darin ein Ende, daß die narzißtische Defizienz des Menschen selber, zentriert um die Infantilität, als Produktionsmotiv überhaupt anerkannt würde.« Hierzu auch ders.: Psychoanalyse, S. 288 f. 290 Vgl. Bauer: Idee und Entstehung, S. 37; ebd. auch: »Man sprach von einer ›Welt auf einem Hektar‹.« – Auch die Repräsentation mehrerer Landschaftsarten in einem Park, wie etwa in Ermenonville, mag diesem Begehren nach Totalität geschuldet sein (vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 115 f.). 291 Vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 70 und 107. 288

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Gleichwohl verweisen auch frühere Aussagen Jacobis auf zentrale Leitideen der neuen Gartenkunst. So etwa ist in einem Brief aus dem Jahre 1780 bereits zu lesen, sein Gärtner hätte ihm »aus spätblühenden Gewächsen der vier Welttheile einen neuen Frühling erschaffen«.292 Hier zeigt sich wieder einmal die doppelte Transzendierung von Raum und Zeit: Nicht nur ist die ganze Welt im Garten versammelt, auch die Zeit wird listig außer Kraft gesetzt und der alte Menschheitstraum vom ewigen Frühling – eine der zentralen Bestimmungen des »Goldenen Zeitalters«293 – scheint verwirklicht. Es ist das ewige, das durch keine Eintrübung, durch keinen Verfall unterbrochene Blühen und Fruchtbringen, wie es auch das himmlische Jerusalem kennzeichnet. Der paradiesische Charakter des Ortes, seine Sakralität, ist somit konstruiert. Das himmlische Jerusalem scheint im Diesseits verwirklicht.294 In Jacobis Ausruf »Mein war die ganze Welt.«295 schwingt wohl beides mit: Die Versammlung der »vier Welttheile« im Garten und eine Versöhnung mit der Welt, wobei letztere ein Erlösungsmoment impliziert. Nicht verwundern kann es daher, daß auch die Verwandtschaft der beiden großen Heilsräume, Natur und Freundschaft, ihre Repräsentation im Garten fand: Es gab kaum einen Landschaftsgarten, der nicht einen Freundschaftstempel oder -altar enthalten hätte. In den empfindsamen Zirkeln wurden letztere durch einen entsprechenden Freundschaftskult ergänzt oder auch ersetzt.296 Zudem reihte man sich durch

292 Brief (zus. m. S. H.Jacobi) an A. von Gallitzin vom 31.8.1780 (JBW I,2, 170). – Zur allgemeinen Tendenz, durch Pflanzenvielfalt »Dreiviertel des Jahres einen blühenden Flor im Garten erhalten« zu können, vgl. Keller: Kleine Geschichte, S. 138 sowie Clemens Alexander Wimmer: Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989, S. 461 f. Auch dieses Ziel dürfte allerdings älteren Gartenmodellen nicht fremd gewesen sein. 293 Vgl. Ovids Darstellung der »Goldene[n] Zeit« im ersten Buch der Metamorphosen. – Einblick in schon in der Antike geläufige Idealgestalten eines Gartens gibt etwa auch der um ca. 200 n. Chr. entstandene Schäferroman Daphnis und Chloë des Longos, der im 18. Jahrhundert innerhalb der Anakreontik stark rezipiert wurde. Vgl. Longus: Daphnis und Chloë. Übersetzt v. Friedrich Jacobs. Mit einem Nachwort v. Niklas Holzberg. Düsseldorf u. a. 2002 (= Bibliothek der Alten Welt), S. 71 f. 294 Vgl. hierzu die Vision des neuen Jerusalem, der heiligen Stadt, in der Apokalypse des Johannes (Kap. 21 u. 22): In ihr ist die Zeit aufgehoben, es gibt nur noch Tageshelle und die Bäume tragen jeden Monat Früchte. – In anderer Weise wurde im Gebirge die Zeit aufgehoben: Daß man hier »›die vier Jahreszeiten (…) an einem Tag‹ sehen und erleben kann, wird zu einem Topos der Bergliteratur« (Groh / Groh: Bergen, S. 112). – Meine, die Aufhebung der Zeit fokussierende Deutung steht in einem gewissen Gegensatz zu jener Interpretation, die Wegmann in Anknüpfung an zentrale Thesen Kosellecks vorschlägt. Danach wird im Garten eine »Natur-Zeit« inszeniert, die dem Zweck dient, Unmittelbarkeit zu suggerieren und Kontingenz zu kompensieren (vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 91–99). 295 Brief an J. J. W. Heinse vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 208). 296 Vgl. hierzu etwa Jacobis Brief an seinen Sohn Georg Arnold vom 9.–12.11.1791, der die Geburtstagsfeier für den abwesenden Grafen Stolberg im Pempelforter Garten zum Inhalt hat (Zoeppritz I, 154–158; oben zit. in Kapitel II.3.2.3) sowie aus dem Darmstädter Kreis den Brief

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Gedenksteine, Denkmäler oder in Tempel gemeißelte Namen in eine große Kette von Geistern ein, die für Freundschaft und Tugend, Naturnähe und Freiheit eingetreten waren.297 Im Landschaftsgarten verband sich somit die Sakralität der Natur mit der Sakralität der Gebäude,298 die wiederum Zeit und Raum vollständig umfassend – und damit die mit ihnen gesetzte Endlichkeit transzendierend – nunmehr die mitmenschliche Welt in toto zu versammeln bestrebt waren. Dies alles wurde arrangiert im Zeichen eines – Versöhnung mit Natur und Mitmensch anstrebenden – Humanitätsideals, dessen Realisierung in einer vollkommenen Tugend zugleich den Ort der Unschuld repräsentierte und damit den paradiesischen Charakter des Gartens unterstrich. Auf dem Kontinent, wo mit einer Verzögerung von etwa einem halben Jahrhundert der Landschaftsgarten sich nach englischem Vorbild durchzusetzen begann, war insbesondere Jean-Jacques Rousseau, Mittler und Repräsentant der neuen Ideen, Gegenstand der Verehrung. Im Park von Ermenonville, wo Rousseau im Leben wie (zunächst) im Tode seine letzte Bleibe fand, erinnert die Rousseau-Insel mit Sarkophag an den großen Philosophen der französischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Sie entwickelte sich zu einem Wallfahrtsort und zu einem feststehenden ›Zitat‹ der in der Folge in Deutschland entstehenden Landschaftsgärten.299 Überdies wurden – insbesondere in Frankreich – Szenen aus Rousseaus wirkungsmächtigem Roman La Nouvelle Heloise, der wesentlich zur Popularisierung des englischen Gartens

Luise von Zieglers an Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder (zit. in Ulrike Flitner: Landschaftsgärten der Goethe-Zeit. Eine Sonderausstellung des Goethe-Museums-Düsseldorf, Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung anläßlich der Bundesgartenschau. Hg. v. Jörn Göres. Düsseldorf [1987], S. 14). Zu den »Darmstädter Empfindsamen« vgl. auch Gerndt: Idealisierte Natur, S. 71–77, bes. S. 75. 297 Vgl. ebd., S. 34 u. 43–48. Auch das Selbstverständnis als Nation wurde im Garten repräsentiert und auf diese Weise verstärkt und befördert. Vgl. ebd., S. 34 u. 43 sowie Adrian von Buttlar: Das »Nationale« als Thema der Gartenkunst des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Zum Naturbegriff der Gegenwart, Bd. 1, S. 327–350. 298 Besonders deutlich wird die sakrale Dimension später im Seifersdorfer Tal, einem herausragenden Beispiel für den ganz im Sinne der Empfindsamkeit gestalteten Landschaftsgarten in Deutschland. Die »menschenfreundlichen Handlungen« des Fürsten wurden hier »wie säkularisierte Wundertaten« dargestellt. Im Hinblick auf den in diesem Park enthaltenen »Tempel des Andenkens guter Menschen« und dem davor befindlichen »Altar der Tugend« eröffnete der Fürst seinen Untertanen, »daß der Tempel allen Menschen ohne Rücksicht auf ihren Stand, also auch ihnen offenstehe, wenn sie nur zuvor auf dem ›Altar der Tugend‹ geopfert hätten.« (Von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 156 f.) 299 Vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 118 f., ders.: Grab im Garten, S. 82 sowie Gerndt: Idealisierte Natur, S. 53 f. Eine ausführliche Beschreibung mitsamt Abbildung findet sich auch in: Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 2 Bde. Hildesheim u. a. 1985 (Reprint der 5bändigen Ausgabe Leipzig 1779–1785 [fälschlich: 1780]), hier Bd. 2, Abschn. 2, S. 59 ff. u. Bd. 5, S. 261 f.

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auf dem Kontinent beigetragen hat, in den Gartenanlagen nachgebildet300 – und dies nicht nur in der Architektonik, wie zwei Briefe Jacobis vom Januar 1784 zeigen: Die Vision Julies nämlich, ihre Kinder sollten später zu »kleinen Gärtner[n]« werden, wird darin als in Pempelfort realisiert dargestellt.301 In Deutschland setzte sich der neue Gartenstil innerhalb kurzer Zeit und mit solcher Breitenwirkung durch, daß der diese Popularisierung maßgeblich vorantreibende Kieler Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld von einer »Gartenrevolution« sprechen konnte.302 Neben den Schriften Hirschfelds trug auch der Artikel über »Gartenkunst« im ersten Teil von Johann Georg Sulzers mehrbändigem Werk Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771-1774) zur Popularisierung dieser Kunst bei. Den Band, in welchem Sulzer deutlich für den neuen, englischen Gartenstil votiert, hatte Jacobi bereits im Jahre 1771 bei seinem Buchhändler bestellt.303 Bemerkenswert ist, daß der Zug in die Totalität, der die Leitlinien des neuartigen Gartenbaus prägt, sich auch in der Gartenliteratur selbst spiegelt, wie insbesondere Hirschfelds fünfbändige Theorie der Gartenkunst zeigt. Im enzyklopädischen Stil der Aufklärung werden in seinem umfangreichen Werk alle Gärten unter allen denkbaren Aspekten dargestellt, besprochen und kritisiert. Zudem versucht sich Hirschfeld an einer vollständigen Systematik von Gartentypen unter verschiedenen Gesichtspunkten.304 Auch in theoretischen Grundlegungen zur Gartenkunst wird immer wieder mit dem ›totalen‹ Charakter argumentiert. So etwa wird behauptet, daß die Gartenkunst, wie keine andere Kunst, alle Sinne anspräche und involviere. Zudem seien in ihr alle anderen Künste vereint.305 Der Garten präsentiert sich demnach als ein »Übergesamtkunstwerk«.306 Die »Gartenrevolution«, die sich vornehmlich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland vollzog, hielt im Frühjahr 1790 auch auf dem Pempelforter Landsitz Friedrich Heinrich Jacobis Einzug. Die einschlägige Literatur war frühzeitig 300

Vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 119 f. – Zu weiteren Reminiszenzen an für die Empfindsamkeit wesentliche Literatur – insbesondere deren Schlüsselszenen – vgl. auch das Beispiel des Seifersdorfer Tals (ebd., S. 154 sowie Gerndt: Idealisierte Natur, S. 51 f.). 301 Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 45. Vgl. die Briefe Jacobis an J. A. von Clermont vom 23.1.1784 (JBW I,3, 270) und an M. Claudius vom 26.1.1784 (JBW I,3, 272). 302 Christian Cajus Laurenz Hirschfeld: Kleine Gartenbibliothek. Bd. 1. Kiel 1790, S. V–VII (zit. nach Michael Niedermeier: Goethe und die »Revolution« in der Gartenkunst seiner Zeit. In: Harri Günther [Hg.]: Gärten der Goethe-Zeit. Leipzig 1993, S. 9–27, hier S. 9 u. 285). Vgl. hierzu auch Niedermeier: Goethe, S. 10: »Es ist dies der vielleicht radikalste Umbruch, von dem die europäische Kulturgeschichte der Neuzeit zu berichten weiß.« In diesem Sinne auch Kehn: Natur und Tugend, S. 77. 303 Vgl. JBW I,1, 146 sowie Wiedemann: Bibliothek Jacobis, Bd. 1, S. 305 (= Nr. 1310). 304 Vgl. hierzu Keller: Kleine Geschichte, S. 143 f. 305 Vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 62 f. 306 Von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 16. Dieser Begriff geht auf Hans Sedlmayr zurück (vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 62).

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rezipiert und die obligatorische Englandreise mit den entsprechenden Besichtigungstouren bereits im Sommer 1786 absolviert worden. Konkretes Vorbild wurde unter anderem der Landschaftspark »Painshill«, wie ein späterer Brief Jacobis an seine damalige Gastgeberin Julie von Reventlow bezeugt:307 »Wenn Sie Lust haben, beste Julie, Pains Hill wieder zu sehen, ohne über das Meer zu gehen, so machen Sie eine Reise nach Pempelfort. Ich habe das leibhafte Pains Hill aus meinem Garten gemacht, die Grotte, den Thurm, das Gothische Gebäude und dergleichen ausgenommen. Er ist ohngefähr noch einmal so groß geworden, als Sie ihn gesehen haben. Der Düßelbach hat einen andern Lauf genommen; es sind Berge und Thäler entstanden.«308 Einblick in das Resultat der enormen Umgestaltung gibt der Brief Friedrich Leopold Stolbergs aus Pempelfort vom 29. Juli 1791: »Den schönen Garten im englischen Geschmack hat er [= Jacobi] mit eigner Empfindung angelegt. Bäume, bald einzeln, bald in Gruppen, stehen auf frischem Rasen. Mitten durch schlängelt sich die Düssel, und bildet einen rauschenden Wasserfall. Hohe Pappeln, ein Ulmenhain, ein Teich mit schönen Thränenweiden geziert, viele fremde Gewächse, die sich an unsern Himmel gewöhnen, und eine gewählte Orangerie, welche vor den Zimmern duftet, geben diesem Garten die anmuthigste Mannigfaltigkeit.«309 Ob die Auslassung der Gebäude, die für die Wirkung des Parks zentral sind, ökonomisch motiviert war, der mangelnden Größe des Pempelforter Geländes zuzuschreiben oder theoretisch begründet ist, läßt sich nicht rekonstruieren. Die Entwicklung von Theorie und Praxis der Landschaftsgärten zeigt allerdings, daß eine Überladung des Gartens mit Staffagen – im übrigen auch mit zu vielen und fremdartigen Pflanzengattungen – von einigen Vertretern abgelehnt wurde.310 Auch der Garten Julies

307

Zum Gartentourismus in England vgl. Keller: Kleine Geschichte, S. 139 und von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 141. – Zu Painshill Park vgl. Sager: Südengland, S. 90–92; Michael Symes: William Gilpin at Painshill. The Gardens in 1772. Cobham, Surrey: Painshill Park Trust, 1994 sowie Painshill Scenes. Hg. v. Painshill Park Trust, o. O., o. J. 308 Brief vom 22.2.1790 (AB II, 19). 309 Zit. nach Beatrix Müller u. Marianne Tilch (Hg.): Düsseldorf. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart 1991, S. 70; ebenfalls abgedruckt in: Düsseldorfer Jahrbuch 59 (1984), S. 123. Zur genauen Rekonstruktion und gartentheoretischen Kennzeichnung des Jacobischen Gartens vgl. Gundula Lang: Der Jacobi-Garten in Düsseldorf. Ein englischer Landschaftsgarten in Deutschland? In: Rheinische Heimatpflege 41 (2004), S. 94–108. Für den Hinweis auf diesen Aufsatz danke ich Cornelia Ortlieb, Berlin. 310 Zur entsprechenden gartentheoretischen Diskussion vgl. Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 470 und Gamper: Entzifferung und Schwärmerei. – Literarische Satiren verfaßten unter anderem Pope, Justus Möser und Goethe (vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 159 f. sowie Bauer:

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in Rousseaus Nouvelle Héloise trug nicht jene Merkmale der Offenheit, die noch für Pope maßgeblich waren. Vielmehr wurde das Streben nach »Natürlichkeit« – wie bereits von einem der ersten großen Praktiker des Landschaftsgartens, Lancelot Brown, vertreten311 – im Sinne strikter Einfachheit ausgelegt und umgesetzt. Die Tendenz zur Versammlung der Welt im Garten erhielt sich gleichwohl.312 Zudem war Julies Garten ein gegen die Welt abgegrenztes »Elysium«: ein paradiesischer Zufluchtsort fernab vom Treiben der Welt.313 Der Transzendierung endlicher Subjektivität durch die gefühlsvermittelte Aneignung der im Garten repräsentierten Welt steht bei Rousseau also das Modell einer Transzendierung der Welt durch Separation einer dem Subjekt eigenen Welt gegenüber: eine Idylle im Jean Paulschen Sinne des »Vollglücks in der Beschränkung« 314 – eine fragile Idylle allerdings, die jene Sehnsucht nach grenzenloser Erfüllung, welche im Erlebnis erhabener Natur der Schweizer Bergwelt sich offenbarte, nur notdürftig im Zaum zu halten vermochte.315 Auch Heinse und Jacobi sehen die letztlich nicht tilgbare Differenz zwischen erhabener Natur und der beschränkten Kunstnatur eines Gartens: »[…] das vollkommenste Gartenwerk«, so schreibt Heinse, ist »immer sklavisches Wesen gegen freye schöne Natur selbst«.316 Jacobis Protagonist Woldemar postuliert sogar, daß jeder Versuch, die Erhabenheit der Natur im Garten nachzuahmen, notwendig mißlingen muß: »Lieber Bruder Dorenburg, das läßt sich nicht in Mauren ziehen oder mit Zäunen einschliessen, was uns hier so mächtig ergreift. Die fünf Eichen dort alleine, mit ihrem erhabenen Gewölbe, würden deinen halben Garten zu nichte schatten. Und überhaupt, auf solch’ einem Plaze, was wär’ es? Dergleichen Szene will die offene

Idee und Entstehung, S. 35–37). Zur unabdingbaren Mindestgröße einer Gartenanlage vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 16; dort auch S. 81–91 zum »Landschaftsgarten in satirischer Kritik«. 311 Vgl. Bauer: Idee und Entstehung, S. 32–34. 312 Vgl. Wagner: Gärten und Utopien, S. 43 u. 45. 313 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou la Nouvelle Héloise. Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes. In: Ders.: Oeuvres complètes, Bd. 2, S. 471 u. 478. – Zur theoretischen Diskussion um Entgrenzung oder Abgrenzung des Gartens vgl. Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 456 f. 314 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 73. In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 5. München 1963, S. 258. 315 Vgl. Flitner: Landschaftsgärten, S. 11. Flitner hebt einzig die positive, Leidenschaft zähmende und mithin disziplinierende Wirkung von Julies »Elysium« hervor, der die entfesselte Leidenschaft in der erhabenen Natur gegenübersteht. Tatsächlich aber ist das Gelingen von Disziplinierung im Roman immer wieder gefährdet und gebrochen. – Zum Inselcharakter schon der Gegend um Clarens, dem Schauplatz der Nouvelle Héloise, wobei dann Julies »Elysée« »eine Insel in dieser Insel« darstellt, vgl. Warning: Kulturkritik, S. 84 f.; zu Rousseaus »wirkliche[n] und imaginäre[n] Inseln« vgl. Piatti: Rousseaus Garten, S. 53–65. 316 Brief Heinses vom 21.8.1783 (JBW I,3, 197).

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weite Welt zum Gerüst. Ich kenne nichts armseligers als die nachgemachte, in tausend Fesseln sich windende freie Natur. Gewiß weiß der gar nicht was er will, der so etwas auf die Welt sezt. Wo Nachahmung ist, da muß sich Kunst zeigen, schaffende Menschenhand; da muß wenigstens von Einer Seite gethan sein, was kunstlose Natur nicht vermag; denn was kunstlose Natur ganz und allein vermag, daran wird alle Nachahmung zu Schanden.«317

3.6.2 Inszenierungen von (Selbst-)Schöpfung und Selbsterlösung des Menschen Die hier von Woldemar vorgetragene Überzeugung,318 die schließlich in ein Plädoyer für den kunstvoll zugerichteten Garten mündet, hielt Jacobi jedoch nicht davon ab, sich mit großem Aufwand und nach englischem Vorbild ein eigenes »Elysium« schaffen zu wollen319 – ein Titel übrigens, den Hamann Pempelfort schon während seines Aufenthaltes im Herbst 1787 wiederholt verlieh.320 Diese Bezeichnung – »Paradies« oder (»heidnisch«) »Elysium« – war im übrigen nicht neu, sondern traditionell. Neu war dagegen, daß diese Bezeichnungen nicht mehr »rein metaphorisch« gebraucht wurden. Der sich selbst an die Stelle des Schöpfergottes setzende Mensch der bürgerlichen Moderne war nun vielmehr der »Überzeugung, daß man dieses Paradies durchaus auch auf Erden ›rekonstruieren‹ könne«.321 Daß diese neue Menschenrolle gerade in der Gestaltung eines englischen, »natürlichen« Gartens exemplarisch Gestalt gewann und mit einer Erlöserrolle verknüpft war, thematisiert Johann Carl

317

Jacobi: Ein Stück Philosophie, S. 338. Dieser Text erschien 1781 in den Vermischten Schriften unter dem Titel Der Kunstgarten (Zitat dort S. 58 f.); vgl. JWA 7,1, 150 f. 318 Nach Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 209, »äußert [Jacobi] diese Gedanken als erster. Ihm folgen zu Racknitz, von Ramdohr, Alison, Price, Repton, Goethe, A. W. Schlegel, Percier / Fontaine, Tieck, Hegel und Loudon.« Vgl. auch ebd., S. 432 sowie von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 152 u. 163. Zur allgemeinen Theorie vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 14 u. 22; vgl. ebd., S. 72 auch das Beispiel Merck. 319 Insofern ist Wimmers Schlußfolgerung aus der Woldemar-Passage, daß nämlich Jacobi für eine »Rehabilitierung des geometrischen Gartens am Ende des 18. Jh.« steht, nicht ohne weiteres zutreffend (Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 446). Vgl. zur Kurzschlüssigkeit solcher Folgerungen auch die Beispiele Justus Möser und Goethe in Gerndt: Idealisierte Natur, S. 83, 85 u. 87. Vgl. im übrigen Jutta Heinz: »Ein Park, der blosse einfache Natur ist«. Zu einigen Parallelen von Gartenkunst und Romantheorie im 18. Jahrhundert. In: Oesterle / Tausch: Der imaginierte Garten, S. 253–270, hier S. 262. 320 Vgl. etwa seine Briefe an C. Hill vom 21.8.1787 (Hamann 7, 276), an J. G. Herder vom 1.9.1787 (Hamann 7, 283), an seine Tochter E. R. Hamann vom 15.9.1787 (Hamann 7, 287) und an C. J. Kraus vom 1.6.1788 (Hamann 7, 502). Nach dem Umbau Pempelforts sollte auch Karoline Herder dieses als »Elysium« bezeichnen (vgl. ihren Brief an Jacobi vom 11.11.1792; Herder: Briefe, Bd. 6, S. 289). 321 Gerndt: Idealisierte Natur, S. 68.

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Wezel in seinem Roman Kakerlak oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhunderte (1784) in satirischer Form: »Glücklicher Kakerlak, […] wie kannst du eines Vergnügens satt werden, das dich dem Schöpfer der Natur gleich sezt? Du riefst Berge, Thäler, Wasserfälle, Seen und Wälder aus dem Nichts, pflanztest Schatten, wo die Sonne den Kopf verwundete, und bahntest Wege, wo die Wildheit keinen Fuß wandeln ließ. Glücklicher Kakerlak! Du wirst deine Beschützerin erlösen.«322 Auch Jacobi hat sich in der Schöpferrolle nachhaltig geübt. Die bereits in Rousseaus Nouvelle Heloise unterstrichene Ambivalenz von natürlich wirkender, aber in höchstem Maße künstlich hergestellter Natur323 läßt sich an den Pempelforter Vorgängen deutlich ablesen. Ähnlich wie der empfindsame Brief, so erscheint auch der Garten in der paradoxen Gestalt der »Kunst einer gewollten Kunstlosigkeit«324, wobei in beiden Fällen das Leitideal der ›Natürlichkeit‹ das Ziel gelungener Disziplinierung vorgibt: Die Verinnerlichung des Zwangs derart, daß die zweite »Natur« sich ganz an die Stelle der ersten setzt. »Erst dann ist der Transfer von der Trieb- zur Tugendnatur restlos gelungen.«325 Zu diesem Zweck ging es, ähnlich wie in der Dichtkunst, wo das »imitatio naturae«-Prinzip im Sinne einer Verbesserung und Vervollkommnung der Natur ausgelegt wurde,326 auch in der Gartenkunst darum, die Leistungen der Natur zu überbieten. Ganzheit und Harmonie waren dabei leitende Ideale.327 Der Bericht Jacobis an Johann Friedrich Kleuker vom 4. März 1790 gibt einen repräsentativen Einblick in die aus einem solchermaßen ausgelegten Prinzip der »Natürlichkeit« resultierenden weitreichenden Veränderungen: »[…] eine Gelegenheit, die mich so ganz aus mir herauswürfe, wie meine neue Gartenanlage, wird sobald nicht kommen. Sie würden lachen, wenn Sie meinem stundenlangen Nachdenken über den Lauf eines Weges, die Stelle eines Baumes oder Strauches zusähen. Und nun stellen Sie sich vor, daß ich meines seeligen Vaters Garten mit dem meinigen zu vereinigen, dem Düsselbach einen neuen

322 323

Zit. nach ebd., S. 84. Vgl. Rousseau: Julie, ou la Nouvelle Héloise, S. 472 u. 478 sowie Stäcker: Aufruhr der Seele,

S. 44 f. 324

Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 85. Vgl. auch Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 91, wo dieser selbst die Parallele zieht. – Diese Gemeinsamkeit von Brief und Garten steht vermutlich in engstem Zusammenhang mit der Tatsache, daß Schrift und Natur – auf jeweils eigene Weise – Medien darstellen und als Spiegel des Ich fungieren. Vgl. hierzu oben das Kapitel I.3.3.1. 325 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 435. 326 Vgl. hierzu Walter Müller-Seidel: »Er [= der Dichter] übertrifft sogar die Natur dort, wo diese sich als unvollkommener Künstler erweist und dann vom Dichter verbessert, verschönt wird.« (Zit. nach Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 58.) 327 Vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 21 u. 68 f.

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Lauf vorzuschreiben, Berg und Thal mit einander zu vergleichen, alles, ohne Ausnahme, minder oder mehr zu verändern hatte.«328 Die Eingriffe in die Natur um der Herstellung einer »natürlichen« Natur willen waren enorm und wurden mit einem erheblichen finanziellen Aufwand betrieben.329 Dabei erklärten sich scheinbar nicht immer alle Familienmitglieder bereit, die Opfer der vormaligen Natur billigend in Kauf zu nehmen, wie Jacobis amüsanter Bericht an August von Kotzebue vom April 1790 zeigt, der – unter Rückgriff auf bereits gängige Topoi einer kritischen Gartenkunst330 – die Pempelforter Vorgänge in einem skurrilen Licht erscheinen läßt: »Ein kranker Mann ein armer Mann! – Und wenn nun über diesen Armen noch gar das Verhängniß kommt, daß man ihm das Haus über dem Kopfe abbricht, um ihm ein neues zu bauen; wenn man ihn beym Arm nimmt, ihn in seinen Garten schleppt, und fragt: Wie soll denn der Düßelbach nun laufen; nach welchem Plan soll dieser Hügel gesenkt werden; wie soll dieser Weg sich wenden; wie sollen jene zwei Wege sich vereinigen; hier das Gebüsch, und das andere dort, wie richten wir sie auf einander; wie trennen wir hinten die zwey anderen Partien? – Was! Das herrliche Berceau wollen Sie verderben? Ach! Die prächtige Lindenallee, die soll weg? – Nein, ruft Lena zürnend und außer Athem für Eile – so unsinnig wirst Du doch nicht seyn, daß Du den großen Apelbaum umhauen läßt – erblickt indem einen Birnbaum, dem die Axt schon an die Wurzel gelegt war; fliegt, von Thränen erstickt, ihm zu Hülfe und deckt ihn mit ihrem Leben. – – – Die Hände seiner Seele ringend, steht der bis über die Ohren in seine Pekesche, und bis an die Augen in seinen Mantel gehüllte Gartentyrann da«.331 Entsprechend den Prinzipien der neuen Gartenkunst diente die aufwendige und verlustreiche Umgestaltung des Pempelforter Gartens nicht bloß der Herstellung einer ›natürlichen‹ Natur. Der Landschaftsgarten mußte vielmehr so arrangiert sein, daß er – im Dienste der Erfüllung des empfindsamen Wertekanons – zu einer quantitativen und qualitativen Steigerung der Gefühle beitrug. Letztere führte dann, so die 328

Ratjen: Kleuker, S. 147. Vgl. hierzu Schenk: Vermögensaufstellung, bes. S. 337 u. 340. – Zur allgemeinen Tendenz vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 19 und Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 303. 330 Man vergleiche etwa aus dem von Hirschfeld herausgegebenen Taschenbuch für Gartenfreunde 7 (1789), S. 183: »›Es drohet unsern Gärten eine bevorstehende Verwüstung‹: einst habe man einen ehrwürdigen Baum umgeschlagen, weil er nicht in die strengen Linien des französischen Gartens paßte – und jetzt haue man den, mit eben so viel Sorgfalt und Mühe wieder groß gezogenen Baum nieder, weil er gar zu alltäglich in der Linie stehet‹.« (Zit. nach Andrea van Dülmen: Das irdische Paradies. Bürgerliche Gartenkultur der Goethezeit. Köln u. a. 1999, S. 236, Fn. 62.) 331 Brief vom 14.4.–16.5.1790 (Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 6 [1914], Heft 1, S. 30–32, hier S. 30). 329

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empfindsame Grundüberzeugung, zwangsläufig zu einer Läuterung des Charakters, mithin zu tugendhafter Gesinnung, zu wahrer mitfühlender Menschenfreundlichkeit. Obwohl also die Natur an sich als gut galt und schon dem Anblick schöner und erhabener Natur eine bessernde Wirkung auf den Menschen zugesprochen wurde, ging es im Landschaftsgarten um eine künstlerische – letztlich künstliche – Gestaltung der Natur, wobei es allerdings genau dies zu verbergen galt.332 Die grundlegende Forderung für den englischen Garten, daß die Spuren seiner Hergestelltheit getilgt sein müssen, vermag auch neues Licht auf den ihm zugesprochenen paradiesischen Charakter zu werfen. Wenn hier mit Rudolf Heinz davon ausgegangen wird, daß die Schuld schon im Akt der Produktion selber – und nicht, wie etwa der Marxismus behauptet, in den Produktionsverhältnissen, auch nicht, wie aktuelle Debatten über die moralischen Grenzen des Machbaren suggerieren, erst in einer falschen Anwendung an sich wertneutraler Technik – beschlossen liegt, so ist der empfindsame Garten die vorgebliche oder imaginative Realisierung einer schuldlosen Produktion – anders formuliert: die Simulation einer Produktion, die keine ist und sich insofern nicht verschuldet haben kann.333 Nur in einer solchen ungeschaffenen Geschaffenheit334 vermochte sich jene »Erstlingsparadieswonne«335 einzustellen, die Rousseau in seiner Nouvelle Heloise beschrieben hatte: Der Protagonist Saint-Preux betritt den Garten (»Elysée«) Julies, als sei er der erste Sterbliche, der sich ihm nähert.336 Diese Simulation eines Daseins vor dem Sündenfall, einer nicht-depravierten Schöpfung, wurde 332

Vgl. Rousseau: Julie, ou la Nouvelle Héloise, S. 472 u. 478 sowie Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 138. Vgl. auch ebd., Bd. 2, S. 88: »Wo durch die Kunst Seen angelegt werden, da ist alles sorgfältig zu verbergen, was diese Schöpfung verrathen könnte; und vornehmlich ist in Ansehung der Bildung der Ufer viel Aufmerksamkeit nöthig, um wenigstens den Anschein der Natur nicht zu verfehlen.« 333 Zur Produktionslogik, d. h. der versuchten Ent- und der tatsächlichen Verschuldung in / durch Produktion, vgl. etwa Heinz: Programmatischer Vorschlag, S. 10–13. – Hier drängt sich übrigens abermals eine Parallele zum Brief auf: Gemäß Gellerts Briefsteller sollte man idealiter dem Brief die Mühe nicht anmerken, die dessen Abfassung tatsächlich bereitet hat. Vgl. hierzu Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830. Mit einem Beitr. von Edith Anna Kunz. Göttingen 2001, S. 50, 56 u. 58. 334 Schneider spricht diesbezüglich von einem »›inszenierten Ansich‹«. Er deutet es als ein Zugleich von »Weltbemächtigung« und »Welthinnahme«, wobei letztere ihm persistierendes Element einer verschwundenen »religiösen Einstellung«, Ausdruck eines dem »Cogito« eingeschriebenen »unabweisbaren Abhängigkeitsgefühls« und Kompensation einer spezifisch modernen Kontingenzerfahrung ist (Helmut J. Schneider: Selbstbescherung. Zur Phänomenologie des Landschaftsblicks in der Empfindsamkeit. In: Garber / Széll: Projekt Empfindsamkeit, S. 129–138, hier S. 132 u. 136). – Vgl. überdies die Deutung bei Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 431–437. 335 Dieser Ausdruck stammt von Eduard Mörike (vgl. Langen: Verbale Dynamik, S. 62). Vorbild war vermutlich Miltons Paradise Lost (vgl. Schneider: Selbstbescherung, S. 132 f.). 336 Vgl. Rousseau: Julie, ou la Nouvelle Héloise, S. 471: »[…] et il me sembloit d’être le premier mortel qui jamais eut pénétré dans ce desert.«

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vielfach kopiert. So etwa auch in jenem Mitte des 18. Jahrhunderts von Charles Hamilton geplanten, finanzierten und realisierten Park in England, den Jacobi sich zum Vorbild nahm: Painshill. In dem Brief eines englischen Besuchers heißt es: »I sauntered through the Elysium of Mr. Hamilton’s gardens [sic] till eight in the evening like the first solitary man through paradise.«337 War der Garten so einerseits Sinnbild jenes phantasmatischen Begehrens, welches die moderne bürgerliche Gesellschaft an- und umtreibt, so war er andererseits auch bereits Teil des ausdifferenzierten Programms zur »Erziehung des Menschengeschlechts«. Auch in der mitmenschlichen Welt nämlich war ein Handeln angestrebt, das frei ist von Schuld. Die von Menschenhand zugerichtete Natur wurde diesem Zweck untergeordnet. Das kunstvolle Arrangement der englischen Gärten stand im Zeichen einer Beförderung von Tugend. Ziel war es, durch gestaltende Eingriffe die erzieherische und bessernde Wirkung der Natur – vor allem durch Evokation von Stimmungen und Empfindungen – zu verstärken. In den frühen Landschaftsgärten war das pädagogische Programm mit Hilfe der Staffagen geradezu plakativ umgesetzt: Verschiedene Wegführungen symbolisierten mögliche Lebenswege – richtige und falsche, d. h. solche, die in die Tugend, und andere, die in Laster mündeten. In Dessau-Wörlitz, dem ersten, klar nach englischem Vorbild gestalteten Landschaftspark in Deutschland, führte der Gang durch das Labyrinth – an ›Abwegen‹ vorbei – schließlich ins »Elysium«, die »Gefilde der Seligen«.338 Auf dem Weg durch die Natur, stilisiert als Weg der Selbsterkenntnis und Bildung, konnte man sich aller irdischen Irrtümer, Unzulänglichkeiten und Begrenztheit entledigen – und somit aller Schuld. Es ist der Weg der Erlösung des Menschen, der zugleich die Menschheit mit erlöst. Utopie war – wie in der Freimaurerei, die auf vielfältige Weise in die Symbolik der Landschaftsgärten einging – der tugendhaft geläuterte Mensch als Grundlage einer tugendhaften Gesellschaft.339 Wie wenig dieser Subjektbezug individuell gedeutet werden darf, wie nachhaltig er vielmehr normierenden Charakter hatte, zeigt das

337

Letter of John Wilkes to his daughter from 9th June 1772. In: John Wilkes: Correspondence. Vol. 4. 1805. (Zit. nach Painshill Scenes, cover.) 338 Vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 145 f. sowie Bauer: Idee und Entstehung, S. 23 f. – Vgl. auch das Beispiel Addison in Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, S. 142–144. – Im Seifersdorfer Tal ergab sich der Anblick des Elysiums von jenem Tempel aus, der dem »Andenken guter Menschen« gewidmet war (vgl. Gerndt: Idealisierte Natur, S. 32 f.). Voraussetzung für den Zutritt war dabei – wie bereits erwähnt –, daß man zuvor auf dem »Altar der Tugend« geopfert hatte, der sich vor dem Tempel befand. 339 Vgl. von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 162 und ders.: Grab im Garten, S. 86 f., 98 u. ö. – Besonders weit geht diesbezüglich der Optimismus August von Hennings’: »Wohl möglich ist es also, daß indem der politische Reformator vergebens daran arbeitet, eine Revolution in der Denkart der Menschen zu würken, unvermerkt die schöne Gartenkunst eine gänzliche Reform in den Gesinnungen und in den Vorstellungen der Menschen würken wird.« (In: Genius der Zeit 10 [1797], 1. Stück, S. 20; zit. nach Gerndt: Idealisierte Natur, S. 116.)

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V. Natur

Beispiel des Landschaftsgartens im Seifersdorfer Tal bei Dresden: Jeder Ort darin war – in Form entsprechender Bezeichnungen – mit »Regieanweisungen zu einer angemessenen Gefühlslage« versehen.340 Naturempfindung dient auf diese Weise zugleich der Einübung soziokultureller Verhaltensstandards.341 Hieran zeigt sich abermals, in welchem Maße der übersteigert erscheinende empfindsame Kultus, das mit religiösem Pathos versehene Streben nach dem Äußersten – der Schuldfreiheit und Gottähnlichkeit – untrennbar verwoben sind mit der mentalitätsgeschichtlichen Durchsetzung einer neuen, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne. Das mit den zentralen bürgerlichen Werten der Autonomie, der Leistung und der Produktivität engstens verknüpfte – letztlich freilich phantasmatische – Ideal einer Selbstschöpfung, die – die ursprüngliche, noch nicht depravierte göttliche Schöpfung nachbildend – zugleich eine Selbsterlösung wäre, wird analog zur Auferstehungssimulation im Erlebnis des Erhabenen auch in der Gartenkunst inszeniert. Durch bestimmte Pflanzenarten wie etwa Pappeln und babylonische Weiden (Trauerweiden) sowie durch kleine, stehende, dunkle Gewässer – beide sollten Gefühle von Melancholie und Trauer evozieren –, überdies durch »Denkmäler der Vergänglichkeit«342 wie Ruinen und Kultstätten des Totengedenkens – beispielsweise Urnen und Grabmäler – wird ein Memento mori erzeugt, das der Todessimulation dient, die im Extremfall auch konkretistisch in Form einer vorzeitigen Grablegung praktiziert wurde, »um das Sterben im voraus zu empfinden«.343 Das mittels eines solchen Arrangements hervorgerufene Gefühl der Vergänglichkeit, die Zitation des Todes, ist aber lediglich eine Durchgangsstation für das den Garten durchschreitende empfindsame Subjekt. Nur vor dem Hintergrund des empfundenen Todes vermag – im Kontrast nämlich – eine »Intensivierung des Lebensgefühls« sich einzustellen.344 In der – sich der Natur bloß noch bedienenden – menschlichen Schöpfung wird der Tod fühlbar gemacht und zugleich überwunden. Es ist dasselbe Muster, welches auch das Erha340

Von Buttlar: Landschaftsgarten, S. 154. – Hierzu paßt auch, daß etwa Hirschfeld »genaueste Anweisungen [gab], nach welchen ästhetischen Regeln gepflanzt werden solle« (ebd., S. 19). Vgl. auch den kritischen Begriff der »Programmgärten« bei Gerndt: Idealisierte Natur, S. 91 u. 89. 341 Vgl. Schmid: Zeit des Lesens, S. 80. – Vgl. hierzu auch Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 294: »Wie ein Programm der Aufklärung lesen sich die Frühlingsspaziergänge hinaus aufs Land, mit denen die Verfasser der frühen moralischen Wochenschriften zu Achtsamkeit und ›Empfindlichkeit‹ noch für die geringsten Eindrücke ermahnten.« 342 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 2, Abschn. 5, S. 102. 343 Gerndt: Idealisierte Natur, S. 75; vgl. auch S. 19 f., 22, 40, 51 f. – Von Buttlar spricht von dem »sentimentalen Vergänglichkeitskult, der gerade die deutschen Landschaftsgärten seit den 1770er Jahren mit der Durchschlagskraft einer Mode prägte« (von Buttlar: Grab im Garten, S. 79, vgl. auch S. 82 f.). Beispiele lassen sich auch finden bei Betka Matsche-von Wicht: Das Grabmal im Landschaftsgarten. In: Hans-Kurt Boehlke (Hg.): Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750–1850. Ausstellungskatalog Kassel. Mainz 1979 (= Kasseler Studien zur Sepulkralkultur; Bd. 1), S. 45–56. 344 Gerndt: Idealisierte Natur, S. 181, Fn. 103.

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benheitserlebnis prägt: Auf den Tod folgt somit die Erweckung zu neuem und vollerem Leben. In beiden Fällen handelt es sich um eine Simulation von Tod und Auferstehung,345 um den ästhetisch-symbolischen Ausdruck also des modernen, bürgerlichen Programms von der Selbsterlösung des Menschen. Elemente einer solchen Inszenierung sind nachweislich auch im Pempelforter Garten zu finden: etwa die babylonischen Weiden oder jener Teich, »wo der Geh. Rath [= Jacobi] alle Mittage die Karpfen selbst füttert«.346 Zu einem kultischen Höhepunkt getrieben wird diese der Anlage des Gartens selber schon immanente Symbolik in der brieflich überlieferten Geburtstagsfeier für Friedrich Stolberg, die am 7. November 1791 im Pempelforter Garten stattgefunden haben soll. Der dort geschilderte nächtliche Gang durch den dunklen Garten, der auf eine erleuchtete Pyramide zuführt, entspricht der Inszenzierung von symbolischem Tod und geistiger Auferstehung, die zudem identisch ist mit einer Läuterung zu wahrhafter Humanität und von daher mit dem Freundschaftskult, der in dieser Szenerie seinen aufs höchste gesteigerten Ausdruck findet, verbunden ist.347

3.6.3 Die Natur als Ich-Double Doch auch schon das »stundenlange […] Nachdenken über den Lauf eines Weges, die Stelle eines Baumes oder Strauches« in Pempelfort stand im Dienste des Arrangements von möglichst effektvollen »Auftritten«348 der empfindsamen und mithin tugendhaften Seele. Die Natur selbst drohte dabei zur Staffage zu werden, zum Instrument der Selbstbespiegelung des empfindsamen Ich:

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Ähnlich wie schon die Bezeichnung des Gartens als »Paradies« oder »Elysium« ist auch die Veranschaulichung von Tod und Erlösung im Garten durchaus traditionell. Hier wie dort gilt jedoch, daß nunmehr der Mensch selbst – respektive eine vom Menschen instrumentalisierte Natur – Erlösung schafft. Vgl. von Buttlar: Grab im Garten, S. 80, Fn. sowie Matsche-von Wicht: Grabmal im Landschaftsgarten, S. 47. 346 Vgl. hierzu im Reisebericht Georg Forsters den Eintrag vom April 1789 (Georg Forster: »Reisebericht, April 1789«. In: Ludwig Geiger [Hg.]: Therese Huber. 1764 bis 1829. Stuttgart 1901. S. 64 f.; zit. nach Schury: Ueberflüßiges Taschenbuch, S. 291) sowie den oben bereits zitierten Brief J. G. Hamanns an seine Tochter E. R. Hamann vom 27.8.1787 (Hamann 7, 280). 347 Vgl. Jacobis Brief an seinen Sohn Georg Arnold vom 9.–12.11.1791 (Zoeppritz I, 154–158; zit. oben in Kapitel II.3.2.3). Als Vorbild hierzu mag gedient haben: Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständiger Text nach den Erstdrucken 1777–1817. München 1968, S. 318–320. – Zur Symbolik vgl. von Buttlar: Grab im Garten, S. 94–98. 348 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 94 f. – Vgl. zur Pflanzenvielfalt im Garten zum Zwecke eines größtmöglichen Effekts auf das empfindende Subjekt auch das von Andrea van Dülmen Johann Georg Jacobi zugeschriebene Gedicht (van Dülmen: Das irdische Paradies, S. 20).

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V. Natur

»Ihr [= der Gartenbaukunst] Vorbild ist eine Anlage, deren kunstvoller Aufbau exakt jenen ›wohlproportionierten Wechsel‹ angenehmer Empfindungen ermöglicht, der die moralisch positive wie sinnlich angenehm empfundene Bestimmung des Ich-Gefühls garantiert: Der Empfindsame fühlt und genießt die Natur subjektiv in der Wahrnehmung des eigenen Selbst. Noch die kleinsten technischen Details werden an dieser Maxime gemessen. Über Weganlage, Pflanzenwahl oder Wasserführung entschieden wird aufgrund der je möglichen Wirkung auf die (empfindsame) Wesensnatur.«349 Die Inszenierung der Natur diente so letztlich der Inszenierung des empfindsamen Subjekts, wobei Inszenierung hier nicht, wie Wegmann nahezulegen scheint, die Repräsentation eines vorgängig Gegebenen, sondern die Konstruktion eines Ideals bedeutet – einschließlich dessen Phantasmen. Parallelen zum Freundschaftskult drängen sich hier auf: Freundschaft hatte sich als Ort der Ichkonstitution wie auch als solcher der Einübung neuer, bürgerlicher Formen der Gemeinschaftsbildung erwiesen. In vergleichbarer Weise präsentiert sich auch der Garten als »Ort für das Durchspielen von spezifischen Verhaltensweisen und Diskursen der Moderne«, »als Handlungsfeld […], das den idealen Rahmen für die Einübung in den Diskurs der Subjektivität […] darstellt«.350 Doch auch in anderer Hinsicht scheint die Natur ein ähnliches Schicksal zu ereilen wie den Freund: Die Aneignung des Anderen – der Natur als Welt – mußte zwangsläufig ihren dialektischen Umschlag in die Unterwerfung des Anderen finden: War die Welt zunächst im Garten repräsentiert und im Medium des Gefühls – mithin empfindsam – inkorporiert, so offenbarte sich als von Anbeginn vorhandene Kehrseite dieses Konstrukts die Welt als Ich-Double. Unter der expliziten Maßgabe einer Bereicherung des Ich durch das und um das Andere ging es de facto stets um eine Instrumentalisierung desselben im Dienste und als Spiegel des Selbst. Eine besondere Ausprägung und Entwicklung erfährt diese Doppelbödigkeit innerhalb der Dichtung, wo die Natur zunehmend zur »Seelenlandschaft« wird. Goethes Werther und Jacobis Woldemar sind hierfür repräsentative Beispiele.351 Landschaft erweist sich so nicht mehr als »etwas primär Räumliches«, sondern als »der funktions349

Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 94. – Bauer spricht bereits im Hinblick auf Popes Garten in Twickenham von einer »Subjektivierung der Monumente«, die letztlich nur als »Katalysatoren der individuellen Empfindungen« dienen (Bauer: Idee und Entstehung, S. 25). 350 Harald Tausch: Locke, Addison, Hume und die Imagination des Gartens. In: Oesterle / Tausch: Der imaginierte Garten, S. 23–43, hier S. 41 u. 40. 351 Vgl. zum Werther etwa die Ausführungen bei Stäcker: Aufruhr der Seele, S. 8; zum Woldemar vgl. Schury / Mues: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 54. Goethe sollte später in Wilhelm Meisters Wanderjahre von »Ich-Landschaft« sprechen – übrigens im Kontext einer Szene, die sich gänzlich als Werther-Reminiszenz lesen läßt (vgl. Niedermeier: Goethe und die »Revolution«, S. 12). – Die These, daß »die Erhebung der äußeren Landschaft zum Symbol einer Seelenlandschaft […] erst in nach-

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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geschichtliche Effekt eines Subjekts, das sich einer solchen Gegend zum Zwecke seiner Selbstthematisierung bedient«.352 Die ästhetisch vermittelte Naturerfahrung steht damit keineswegs im Gegensatz zu jener wissenschaftlichen Naturaneignung, welche vornehmlich das Verwertungsinteresse für den Menschen fokussiert. Vielmehr entpuppt sich erstere als der höchste Ausdruck einer restlosen Aneignung der Natur. Die Natur hat ihre Selbständigkeit eingebüßt, denn an die Stelle auch noch der Natur ist das Subjekt selber getreten, wie um von dieser Stelle aus zu verkünden: »Ick bin allhier.«353

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang »Unglükselig! Unglükselig! die es wagen Götterfunken aus dem Staub zu schlagen.« 354

Die Natur galt – so hatten wir gesehen – im 18. Jahrhundert als »heilig«, insofern sie Medium der Unsterblichkeitserfahrung des Subjekts war. Auch die neue Gartenarchitektur stand im Dienste solcher Transzendenzerfahrung des Subjekts, wobei hier selbstverständlich der Spielraum größer war als im Erlebnis des Erhabenen, ein neues Modell von Subjekt und Mensch zu konstruieren und einzuüben. Es würde jedoch eine unzulässige Verkürzung bedeuten, es im Hinblick auf die Naturwahrnehmung des 18. Jahrhunderts bei dieser Darstellung zu belassen. Für die zeitgenössische Diskussion und für Jacobi mindestens ebenso wichtig ist jene mechanistische Betrachtungsweise der Natur, die der neuzeitlichen Naturwissenschaft zugrundeliegt. In Joachim Ritters kompensatorischem Erklärungsmodell war sie erst die Ursache und Voraussetzung einer Ästhetisierung der Natur. Der »heiligen« Natur steht vor diesem Hintergrund eine sterbliche, endliche Natur gegenüber, der nichts Göttliches anhaftet. Natur, wenn sie nicht Ausdruck göttlicher Schöpfermacht, Medium der Unsterblichkeitserfahrung oder Spiegel der Seele ist, aufklärerischer Zeit statt[finde]«, läßt sich daher m. E. nicht ohne weiteres halten (vgl. Heinke Wunderlich: Landschaft. In: Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 235 f., hier S. 236). 352 Carsten Zelle: »Landschaft« und Landschaften im 18. Jahrhundert. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in Wolfenbüttel vom 20. bis 23. November 1991 (Tagungsbericht). In: Das Achtzehnte Jahrhundert 16 (1992), S. 11 f., hier S. 12. 353 Dies ist womöglich Ausdruck jenes spektakulären ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Wandels, den Hegel unter dem Begriff des »absoluten Wissens« faßt und der genau diesen spezifischen Zusammenfall von Ich und Ding meint. Vgl. hierzu Walter Jaeschke: Das absolute Wissen. In: Andreas Arndt, Karol Bal u. Henning Ottmann (Hg.): Phänomenologie des Geistes. Erster Teil. Berlin 2002 (= Hegel-Jahrbuch 2001), S. 286–295, bes. S. 289. 354 Friedrich Schiller: Melancholie. An Laura. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, S. 114 f.

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stellt sich Jacobi dar als ein rein kausalmechanischer Zusammenhang und damit als die Negation göttlicher und menschlicher Freiheit schlechthin.355 Gott mit Spinoza in die Endlichkeit hineinzuholen, ja – nach Jacobis Lesart – mit der endlichen Natur selbst gleichzusetzen, ist für ihn undenkbar.356 Mit einem solchen Verlust an Transzendenz ist ihm die Natur, die Worte Werthers aufgreifend, ein »ewig verschlingendes, ewig widerkäuendes Ungeheuer«.357 Die Rettung einer außerweltlichen Transzendenz, d. h. eines Gottes, der die Natur zwar hervorgebracht hat, aber nicht mit ihr identisch ist, – »einen extra mundanen Gott, comme il faut«358 also – kann als das Grundanliegen Jacobis spätestens seit Beginn der 1780er Jahre angesehen werden. In der Auseinandersetzung um die Philosophie Spinozas, die Jacobis Veröffentlichung des Lessingschen Bekenntnisses zum Pantheismus in Gang gesetzt hatte, wird dieses Grundanliegen ausgetragen und diskutiert. »Man ist gegenwärtig darüber aus den Begriff von [sic] Goettlichen Verstande auf eine sonderbare Weise zu verwirren«, schrieb er am 26. Juni 1787 an die Fürstin Gallitzin. »Meine Hauptabsicht bey der Herausgabe meiner Briefe über Spinoza, war dieser Verwirrung entgegen zu arbeiten.«359 Was es hierbei – gegen Spinoza – vornehmlich zu verteidigen galt, benennt Jacobi in jenem Brief an Hemsterhuis, der auch Eingang in das Spinoza-Buch gefunden hat: »l’intelligence et la personalité du premier principe, la volonté libre et les causes finales«.360

355

Vgl. im Brief Heinses aus Italien »Wer kennt die Freyheit? ach, in der Natur ist alles eins dem andern unterworfen. Die Sonne hängt an Ketten, und kein Gestirn kann sich aus seiner Bahn bewegen.« (JBW I,3, 137.) Es mag wohl dem Adressaten Jacobi geschuldet sein, daß ausgerechnet Heinse ein solches, deterministisches Bild der Natur malt, das sich wie ein Fremdkörper innerhalb seiner übrigen Naturschilderungen ausnimmt. 356 Zur zeitgenössischen Bestimmung des Verhältnisses von Spinozismus und Pantheismus vgl. JWA 1,2, 393 (zu 17,19–20). 357 Brief an A. von Gallitzin vom 27.7.1781 (JBW I,2, 327). Vgl. Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. VI, S. 53. – Zu Vorgeschichte und Herkunft dieses Bildes vgl. Hammacher: Jacobis Beziehungen, S. 70, Fn. 24. Vgl. auch ebd., S. 57 zu Jacobis »Zwangsvorstellung eines blinden endlosen Getriebenseins«, die jedoch nicht als psychopathologisch ausgelegt werden dürfe (ebd., S. 69 f., Fn. 24). – Ganz ähnlich heißt es auch im Brief an J. G. Herder vom 13.11.1784 von einem »Gott ohne Erbarmung«: »Ja, ich fürchte mich nicht, ihn zu lästern, ihn ein scheußliches Thier zu nennen, das in einem ewigen Fressen, Ausspeien und Wiederfressen seiner selbst da ist, ohne Selbst und Anderes.« (JBW I,3, 384.) 358 Brief von J. G. Herder an Jacobi vom 16.9.1785 (JBW I,4, 182). 359 Brief (zusammen mit Lene Jacobi) (Handschrift: Landesmuseum Münster). Vgl. auch Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 166, Fn.: »Unmöglich kan mir also jenes Spiel gefallen, worin der Deismus allein gewinnen, der Theismus hingegen nur verlieren kann. In der Absicht es zu stören, gab ich meine Schrift über die Lehre des Spinoza heraus, und bekannte mich zu dieser Absicht.« (Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 166; dieser Passus wurde in die Werkausgabe nicht übernommen.) 360 Brief vom 7.8.1784 (JBW I,3, 358; vgl. JWA 1,1, 87; vgl. dort auch die deutsche Übersetzung: »den Verstand und die Persönlichkeit der ersten Ursache, […] den freyen Willen und die Endursachen«).

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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4.1 Ueber die Lehre des Spinoza: Gott und Freiheit, Natur und Vernunft Im Zentrum des Spinoza-Buches stand nicht die Auseinandersetzung mit »Natur«, sondern die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Vernunft.361 Jacobis Intention in den zwei Ausgaben seines Werkes Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785 und 1789) war es zu zeigen, daß man mittels der Vernunft, d. h. auf rationalem Wege, nicht zu Gott gelangen kann,362 sondern daß dieser Weg, im Gegenteil, zu Determinismus und Fatalismus führe,363 was für Jacobi zugleich Atheismus und Immoralität impliziert. Um diesen Beweis anzutreten, bedient sich Jacobi der Philosophie des Spinoza, mithin jenes philosophischen Systems, das nach seiner Auffassung als das konsequenteste rationalistische System überhaupt gelten kann. Alle andere rationalistische Philosophie sei nur weniger konsequent und müsse sich, wolle sie ihren Ansatz wirklich durchführen, zur Philosophie des Spinoza bekennen. Von der »Leibnitz-Wolffischen Philosophie«, in deren Tradition auch die Berliner Aufklärer standen, ist im Spinoza-Buch insbesondere zu lesen, daß sie »nicht minder Fatalistisch [ist], als die Spinozistische, und […] den unablässigen Forscher, zu den Grundsätzen der letzteren zurück[führt]«.364 Die größere Konsequenz der spinozistischen Philosophie sieht Jacobi vor allem in der Erkenntnis, daß der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen nicht (rational) demonstriert zu werden vermag. Spinoza selbst »löst« dieses Problem, indem er – im Verständnis Jacobis und der nachfolgenden Pantheisten – den Unterschied zwischen Endlichem und Unendlichem eliminiert und stattdessen eine Identitätsbehauptung setzt: Deus sive natura, Gott oder die Natur. Anstelle des cartesischen Dualismus von res cogitans und res extensa, also Geist und Materie, Denken und Sein, Gott und Natur, tritt bei Spinoza ein Monismus der einen Substanz, die zugleich ausgedehnt und denkend ist.365 Danach gibt es keine extramun-

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Vgl. hierzu Beiser: Fate of Reason, S. 47: »It [= the pantheism controversy] has an outer shell – the biographical issue of Lessing’s Spinozism; an inner layer – the exegetical question of the proper interpretation of Spinoza; and a hidden inner core – the problem of the autority of reason.« 362 Die Überzeugung von der (rationalen) Unerkennbarkeit Gottes ist im Briefwechsel Jacobis schon recht früh dokumentiert. In einem Brief an C. M. Wieland vom 20.8.1772 heißt es hierzu: »Wir wissen nichts von der Natur eines unendlichen Wesens« (JBW I,1, 161). 363 Mit diesen Begriffen wurde im 18. Jahrhundert das System des Spinoza üblicherweise charakterisiert (vgl. JWA 1,2, 394 [zu 18,3–4]). Vgl. zur Spinozakritik vor Jacobi auch Hermann Timm: Die Bedeutung der Spinozabriefe Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie. In: Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi (1971), S. 35–81, hier S. 60 sowie Beiser: Fate of Reason, S. 48–54. Hierzu ausführlich Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie; Bd. 451). 364 JWA 1,1, 123. 365 Vgl. JWA 1,1, 250. Zur Verwerfung des Übergangs vgl. JWA 1,1, 18; vgl. JBW I,3, 230.

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V. Natur

dane Ursache der Welt, sondern nur mehr einen intramundanen Gott: Gott in allem, hen kai pan – so das pantheistische Credo. Mit dem Verlust einer »verständige[n] persönliche[n] Ursache der Welt«366 aber geht für Jacobi auch der Garant von Willensfreiheit und Moralität verloren; alles löst sich in eine innerweltliche Abfolge von Kausalitäten auf. In seinem Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing über die Philosophie des Spinoza erläutert Jacobi die Konsequenzen dieses Standpunkts folgendermaßen: »Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das zusehen; sein einziges Geschäfte ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit, nebst den Begriffen davon, und den Begriffen von diesen Begriffen. Der Erfinder der Uhr erfand sie im Grunde nicht; er sah nur ihrer Entstehung aus blindlings sich entwickelnden Kräften zu. Eben so Raphael, da er die Schule von Athen entwarf; und Leßing, da er seinen Nathan dichtete. Daßelbe gilt von allen Philosophien, Künsten, Regierungsformen, Kriegen zu Waßer und zu Lande, kurz von allem Möglichen.«367 Deutlich wird hier die Auffassung Jacobis, daß die endliche Natur rein kausalmechanisch funktioniert. In einer solchen, deterministischen Sicht ist für Freiheit kein Platz mehr. Diese aber sei Voraussetzung für Gott und Moralität. Ein Gott, dessen Wille nicht der Tat vorausgeht, läßt sich für Jacobi nicht denken.368 »Das Daseyn unserer Welt und Natur muß auf einer Begebenheit beruhen, eine Begebenheit sein, oder es ist kein Gott.«369 Die Existenz Gottes kann nun, so Jacobi, durch keine Philosophie, durch kein rationalistisches System bewiesen werden: Es kann »keine natürliche Philosophie des Uebernatürlichen geben«.370 Vielmehr endet ein jeder solcher Versuch notwendig in Atheismus und Immoralität. Anders als Spinoza zieht Jacobi daher aus der Unmöglichkeit eines rationalen Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen den Schluß, daß sich bestimmte Dinge nicht erklären, nicht demonstrieren lassen. Die Vernunft muß ihre Grenze sehen und eingestehen. Jacobi macht daher einen »Sprung«, einen »Salto mortale«, wie er es selbst nennt, »aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den

366

JBW I,3, 231; vgl. JWA 1,1, 20. JBW I,3, 231; vgl. JWA 1,1, 20 f. – Vgl. hierzu auch Jacobis Insistieren darauf, »daß ich thue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich thue« (JBW I,3, 236; vgl. JWA 1,1, 28). 368 Vgl. den Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 16). 369 Brief an F. L. zu Stolberg vom 14.12.1789 (Zoeppritz I, 125). 370 JBW I,3, 238; vgl. JWA 1,1, 31. 367

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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Fatalismus«.371 Wenn die Vernunft ihre Grenze nicht sieht, wenn sie schlechterdings alles erklären will, kommt sie zu »ungereimte[n]« Dingen. Vernunft schlägt an dieser Stelle in Unvernunft um.372 Sie muß daher dem Glauben Platz geben – einem Glauben allerdings, der – Jacobi zufolge – die Grundlage aller Rationalisierungsleistungen selber noch darstellt und in der basalen Erfahrung menschlicher Freiheit wurzelt,373 aus der letztlich auch die Gottesvorstellung resultiert: »Der Glaube an Gott ist uns allein in dem Geheimnisse unserer Freiheit […] gegeben.«374 In diesem Punkt, dem kritischen Impetus gegen die ihre eigene Grenze nicht sehende rationalistische Philosophie, befindet Jacobi sich im Einklang mit Kant. Mit nicht geringer Verwunderung über das hohe Maß an Übereinstimmung konstatiert er, daß Kant mit ihm »den Glauben an Gott auf das factum der Causalität menschlicher Vernunft gründet, und kein Mittel gegen den Spinozismus weiß, wenn man nicht Freyheit geradezu annimmt und voraussetzt.«375 Während Kant jedoch die Freiheit als eine der Vernunft selbst immanente Idee begründet, verortet Jacobi das Faktum der Freiheit gerade jenseits der Vernunft. Letztere trägt lediglich ex negativo zum

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JBW I,3, 231; vgl. JWA 1,1, 20. JBW I,3, 236; vgl. JWA 1,1, 28 f. 373 Diese argumentative Pointe behutsam und klar herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der Habilitationsschrift von Sandkaulen (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache). Mit dieser Arbeit ist eine wirklich neue Sicht Jacobis erstmals eröffnet. In besonderer Klarheit zugespitzt findet sich das von Sandkaulen offengelegte Hauptargument, einschließlich der mit ihm verbundenen Konsequenzen, zusammengefaßt in einer Fußnote ihrer Arbeit, die – stellvertretend für die Irrwege der Rezeptionsgeschichte Jacobis – Schellings Kritik aufgreift: »Dies bedeutet zum andern, daß Jacobi im Vollzug des Sprungs vor ›dem reinen Rationalismus‹ auch keineswegs ›recht eigentlich die Waffen‹ streckt, um lediglich ›im Gefühl‹, ›aber vergebens‹, über ihn hinauszustreben […] Entscheidend ist vielmehr, daß der Widerspruch des Sprungs, indem er die positiven Voraussetzungen des ›Rationalismus‹ selbst explizit zu Tage fördert (und ohne solche heimlich wirksamen Voraussetzungen eben auch gar keine ›elastische Stelle‹ für den Akt des Absprungs fände), die ›Allein-Philosophie‹ nicht einfach unangetastet hinter sich läßt, sondern im Kern destruiert.« (S. 256) 374 Brief an J. A. H. Reimarus vom 29.12.1790 (AB II, 48 f.). In der Allwill-Zugabe An Erhard O** (1792), die teilweise Formulierungen dieses Briefes übernimmt, liest sich dies folgendermaßen: »Der Glaube an ein höchstes Wesen überhaupt, als der Quelle alles Seyns und alles Werdens; und der Glaube an einen Gott, der ein Geist ist, sind beyde dem Menschen in der unerforschlichen Thatsache seiner Spontaneität und Freyheit […] gegeben.« (Jacobi: Eduard Allwills Briefsammlung [1792], S. 315 f.; vgl. JWA 6,1, 240) – Vgl. auch das Spinoza-Buch, wo »das Bewußtseyn unserer Selbstthätigkeit bey der Ausübung unseres Willens« als »ein Analogon des Uebernatürlichen, das ist des nicht mechanisch wirkenden Wesens in uns« aufgefaßt wird (JWA 1,1, 262). Vgl. zu letzterem Homann: Jacobis Philosophie, S. 166. Vgl. zudem Jacobis Schrift Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft, die 1799 als »Beylage II« Jacobi an Fichte beigefügt (JWA 2,1, 232–237) und später unter o. g. Titel in die Werkausgabe aufgenommen wurde (WW II, 311–323). 375 Brief an J. F. Kleuker vom 13.10.1788 (Ratjen: Kleuker, S. 118). – Weiter heißt es dann allerdings: »Und dennoch gehen wir in der Vorstellungsart und in den Principien so ganz voneinander ab« Vgl. zu den damit benannten Differenzen: Stolzenberg: Was ist Freiheit?. 372

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V. Natur

Glauben an Gott bei, insofern sie nämlich ihre eigene Grenze und Begrenztheit sieht und damit zugleich über sich selbst hinauszuweisen vermag.376 Jacobis wiederkehrende Rede vom bloß geliehenen Charakter unserer Existenz kann auch vor diesem Hintergrund gedeutet werden.377 Die Verweisungspotenz des Endlichen oder der Vernunft hat aber bei Jacobi – ganz anders als bei Kant, in dessen System für eine Erkenntnis jenseits der Vernunft kein Platz ist – den Status eines Wissens im Sinne einer geoffenbarten Gewißheit, wie er in seinem Brief an Kant vom 16. November 1789 unmißverständlich herausstellt:378 »Ich behaupte nehmlich eine dem Menschen eben so evidente als unbegreiffliche Verknüpfung des Sinnlichen mit einem Uebersinnlichen, des Natürlichen mit einem Uebernatürlichen […] Wie sich das Bedingte auf ein erstes Unbedingtes; wie sich jede Empfindung auf eine reine Vernunft, auf Etwas das sein Leben in sich selbst hat zuletzt bezieht: so bezieht aller Mechanismus sich zuletzt auf ein nicht mechanisches Prinzip der Aeußerung und Verkettung seiner Kräfte; alles Zusammengesetzte auf ein Nichtzusammengesetztes der Unzertrennlichkeit; alles nach Gesetzen physischer Nothwendigkeit erfolgendes auf etwas Nichterfolgtes, ursprünglich handelndes, Freyes […] Und es entspringen diese Erkenntniße nach meiner Meynung aus der unmittelbaren Anschauung, welche das vernünftige Wesen von sich selbst, von seinem Zusammenhange mit dem Urwesen, und einer Abhängigen Welt hat. Bey der Frage, ob diese Erkenntniße wirkliche oder nur eingebildete Erkenntniße sind; ob ihnen Wahrheit, oder Unwißenheit und Täuschung entspreche, wird die Verschiedenheit zwischen Ihrer Theorie und meiner Ueberzeugung auffallend.«379 376

Vgl. etwa JWA 1,1, 257 f.: »Aber um dieser Unbegreiflichkeit willen, hat die Vernunft nicht nöthig in die Irre zu gerathen, da sich ihr die Erkenntniß gleichsam aufdringt: es liege die Bedingung der Möglichkeit des Daseyns einer successiven Welt, ausser dem Gebiete ihrer Begriffe, nehmlich ausser dem Zusammenhange bedingter Wesen, das ist der Natur.« – Vgl. auch JWA 1,1, 262, wo vom »bloße[n] Instinct der Vernunft« die Rede ist. 377 Vgl. etwa im Brief an J. K. Lavater vom 14.11.1787: »Die Ichheit endlicher Wesen ist nur geliehen, von Andern genommen, ein gebrochener Stral des transcendentalen Lichts, des allein Lebendigen.« (AB I, 436.) Vgl. auch den Brief an J. G. Hamann vom 16.6.1783 (JBW I,3, 164) sowie Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 162; vgl. JWA 5,1, 114. Vgl. schließlich Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 78. 378 In seinem Brief an J. G. Schlosser vom 6.3.1792 betont Jacobi daher auch im Zusammenhang der Erörterung der Kantischen Position die Nicht-Erkennbarkeit Gottes bei Kant: »Metaphysik heißt nur in so fern Metaphysik, als sie allgemeinere Naturlehre, Naturlehre a priori ist. Wir sind also sicher genug, daß wir uns nicht versteigen, da Seele und Gott, als zu dem Innbegriff sinnlicher Erscheinungen (Natur) nicht gehörig, daraus ausgeschlossen sind, und nur als Nicht wahrnehmbar und Nicht erkennbar vorkommen.« (WW III, 549.) 379 Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 101 f.; vgl. WW III, 530 f. – Stolzenberg stellt für Jacobi noch eine ganz andere als von mir hier namhaft gemachte Verknüpfung zwischen Endlichkeit (endlichen Wesen) und Unendlichkeit (reiner Selbsttätigkeit / Freiheit) heraus (vgl. Stolzenberg: Was ist Freiheit?, S. 24 f.).

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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Endliche Vernunft und endliche Natur, beide dem Kausalmechanismus unterworfen, verweisen auf ein Unendliches, das Jacobi vor allem als Aseität oder absolute Freiheit denkt.380 Er teilt also mit Kant die Entgegensetzung von Gott und Natur. Im Hinblick auf die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes aber differieren sie. Mittels der (theoretischen) Vernunft ist Gott nicht demonstrierbar, da sind sich Kant und Jacobi in ihrem kritischen Impetus gegen die rationalistische Schulphilosophie einig. Aber Jacobi zufolge gibt es gleichwohl eine andere, ebenso sichere Erkenntnisquelle: Gefühl oder Anschauung, Offenbarung im und durch das Dasein.381 Im Bewußtsein der Differenz zu Kant schreibt Jacobi drei Monate später an den Verbreiter der Kantischen Lehre, Karl Leonhard Reinhold: »[…] ich schlage mich gern zu ihm [= Kant], so lange er Krieg führt, aber unter seinen Gesetzen kann ich nicht leben, bin wider ihn, sobald er Friede hat.«382 Dem Generalverdacht Jacobis, der sich gegen alle rationalistische Philosophie richtet, daß sie nämlich (inkonsequenter) Spinozismus – und damit Atheismus – sei, entging auch die Kantische Philosophie letztlich nicht.383

380

Man könnte hier auch an den Begriff der »causa sui« im Sinne einer Selbstgründung Gottes denken. In einer Fußnote zur Beilage VII des Spinoza-Buches verwirft Jacobi diesen Begriff jedoch, weil er für ihn eine jener widersprüchlichen Konstruktionen der Metaphysik darstellt, die allesamt aus der Nicht-Unterscheidung von »Grund« und »Ursache« resultieren (JWA 1,1, 256 f., Fn. 3). Daß und inwiefern Jacobi zufolge in der Vermischung der Begriffe »Grund« und »Ursache« der basale Irrtum aller metaphysischen Systeme beschlossen liegt, hat Birgit Sandkaulen herausgearbeitet (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 157, 246 u. ö.). – Zum Verweisungscharakter des Endlichen vgl. auch Sandkaulen: Vernunft, S. 429: »Es bedeutet, das Dasein aufzuklären: darüber nämlich, daß das Wahre in ihm auf anwesende Weise abwesend – oder umgekehrt auf abwesende Weise anwesend ist.« 381 Eine andere als die »logische«, nämlich eine »moralische Gewißheit« kennt allerdings auch Kant; um ein intersubjektiv vermittelbares Wissen handelt es sich hierbei aber ausdrücklich nicht (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 828. In: Ders.: Werke, Bd. II, S. 693; vgl. auch S. 694 [= A 830]). – Zu Jacobis Ansatz vgl. etwa Hammacher: Philosophie Jacobis und Baum: Vernunft und Erkenntnis. 382 Brief vom 11.2.1790 (Reinhold: Leben und Wirken, S. 228). Vgl. hierzu auch Jacobis Brief an J. G. Hamann vom 4.–5.9.1786: »Die Jenaer Litteratur Bengel sind gar zu schlimme Vögel, daß sie mich zwischen dem blinden u dem Kantischen Glauben, wie Buridans Esel, in die Mitte stellen […] Den Kantischen Glauben kann ich unmöglich auf mir sitzen laßen. Ich möchte eben so lieb den Verdacht ich weiß nicht welcher unnatürlichen Sünde auf mir haben.« (JBW I,5, 348.) Vgl. auch den Brief W. von Humboldts an Jacobi vom 20. Juni 1790 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 31). – Vgl. zur Differenz von Jacobi und Kant auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 137 f., 205–218, 227 u. ö. 383 Vgl. JWA 1,1, 96, Fn. 1. Jacobi behauptet hier, Teile der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft seien »ganz im Geiste des Spinoza«. Zu den Reaktionen der Zeitgenossen und Kants vgl. JWA 1,2, 437. In der zweiten Auflage der Spinozaschrift nimmt Jacobi seine Formulierung zurück und setzt an diese Stelle: »Daß die Kantische Philosophie dadurch des Spinozismus nicht beschuldigt werde, braucht man keinem Verständigen zu sagen.« (JWA 1,1, 96.) Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979, S. 448, kommentiert hierzu, daß Jacobi seine »Behauptung nur verbal revoziert«. Vgl. auch Kants Entgegnung in einer Fußnote seines Aufsatzes Was

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V. Natur

Indem Jacobi zu diesem Zeitpunkt die von Kant vorgenommene Unterscheidung von Verstand und Vernunft im Rahmen seiner eigenen Philosophie nicht explizit vollzieht,384 haben seine – zumeist polemisch überspitzten – Aussagen zur Rolle der Vernunft im Hinblick auf die Gotteserkenntnis widersprüchlichen Charakter. Einerseits bringt er auf dem Höhepunkt des Spinozastreits in einem Brief an Hamann seine Überzeugung auf die dramatische Formel: »Auch ist das natürliche Bedürfniß der Vernunft, nicht einen Gott zu finden, sondern ihn entbehren zu können.«385 Andererseits hebt er in seinem Briefwechsel mit Kant, der im Kontext der zweiten Auflage der Spinoza-Briefe steht, hervor, daß es die Vernunft selbst ist, die zu Gott führt.386 Aus letzterem Grund setzt sich Jacobi auch gegen die von Reinhold vorge-

heißt: sich im Denken orientieren? In: Kant: Werke, Bd. III, S. 279 [= A 324]. – Vgl. hierzu auch Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 37 f.; ebd. auch generell zur Kantkritik Jacobis und Wizenmanns, bes. S. 69–79. 384 Diese Nicht-Unterscheidung wird u. a. in der VII. Beilage des Spinoza-Buches sehr deutlich. – Die Entscheidung Sandkaulens, die in der Beilage VII antizipierte und später von Jacobi explizit vorgenommene (vgl. die »Beylage II.« in Jacobi an Fichte; JWA 2,1, 232 sowie im dritten Brief an Köppen; JWA 2,1, 370) Unterscheidung von »adjektiver Vernunft« (= Verstand) und »substantiver Vernunft« »aus begriffsökonomischen Gründen […] bereits den Überlegungen zur Beilage VII […] zugrundezulegen«, ist heuristisch zweifelsohne von großem Wert, vermag aber m. E. die Ambivalenzen Jacobischer Begrifflichkeit letztlich nicht zu tilgen (Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 86; vgl. auch S. 65–68, 84, 88 f. u. 137 f.). Zudem gerät m. E. auch der Interpret unweigerlich in Schwierigkeiten, wenn er sich anheischig macht, in jedem Einzelfall eine eindeutige Zuordnung vornehmen zu wollen. Auf dieselbe Schwierigkeit verweisen schon Gerhard Höhn in seiner Rezension des Jacobi-Buches von Günther Baum (Kant-Studien 62 [1971], S. 113–120, hier S. 119 f.) sowie Klaus Düsing in seiner Besprechung desselben Werkes (Düsing: Rezension, S. 114). – Vgl. zur sich wandelnden Bestimmung von Verstand und Vernunft bei Jacobi: Homann: Jacobis Philosophie, S. 144– 146 sowie S. 166; zur Begrifflichkeit Jacobis ferner S. 163 u. 186. Vgl. auch Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 113–129. 385 Brief vom 14.11.1786 (JBW I,5, 412). – Vgl. hierzu auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 245. 386 Vgl. hierzu insbesondere das Ende seines Briefes an Kant vom 16.11.1789, wo Jacobi darauf insistiert, daß auch für ihn der »Compaß der Vernunft« von grundlegender Bedeutung sei (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 102 f.; vgl. WW III, 532), sowie die in Anm. 376 angeführten Zitate aus der Beilage VII. – Diese Auffassung der Vernunft als Vermittlungsinstanz sollte Jacobi in den folgenden Jahren stärker betonen. So heißt es etwa im Brief an Fichte aus dem Jahre 1799: »So lehret mich meine Vernunft instinktmäßig: Gott.« (Jacobi an Fichte; JWA 2,1, 210.) Noch deutlicher wird Jacobi in seinem anläßlich der Stolbergschen Konversion geschriebenen Brief an Graf Holmer vom 5.8.1800: »Gleichwohl erkenne auch ich eine Erhebung über die Vernunft. Ich erhebe mich nehmlich über meine menschliche Vernunft, indem ich, Kraft meiner Vernunft, ihren Urheber, eine unabhängige Intelligenz, das ist – die Gottheit denke, die als ein schlechterdings Erstes und Einziges, mir schlechterdings unbegreiflich bleiben muß. Wer auf eine andre Weise, d. i. nicht mit, aus und durch Vernunft, sondern ohne sie und außer ihr mit seinem Dünkel, mit seinen Vorurtheilen sich über sie erhebt, der ist Fanatiker, der verrückt sich, und es hängt von nun an einzig und allein vom Ungefähr seiner Einbildungen, seiner Empfindungen und Gemüthsbewegungen ab, wie und wohin er getrieben werde mit seinem Geiste und Herzen.« (Zoeppritz II, 227.) Am

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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nommene Klassifikation als »Supernaturalist« mit aller Deutlichkeit zur Wehr:387 Selbst wenn die Vernunft nur insofern zu Gott führt, als sie sich ihrer eigenen Beschränktheit sowie ihrer Voraussetzungen bewußt ist und Freiheit als Faktum anerkennt, so ist es doch nicht historische Offenbarung, sondern ein jedem Menschen von Natur aus innewohnendes Vermögen, das ihn zum Übernatürlichen leitet. Wenn Herder demnach Jacobi attestiert, er erweise sich in seinen Spinoza-Briefen als ein »wahrer orthodoxer Christ«388, so ist dies nur insofern zutreffend, als er in der Tat (»comme il faut«) an einem extramundanen Gott festhält.389 Jacobi folgt aber dort nicht mehr der Orthodoxie, wo er die Offenbarung Gottes nicht in der »Heiligen Schrift«, sondern im menschlichen Geist selber zu finden glaubt. Damit bezieht Jacobi deutlich eine aufklärerische Position,390 wenngleich der Autorität der Lehre nicht diejenige der Vernunft, wohl aber eine Unmittelbarkeit des Gefühls gegenübergestellt ist und zwar, wie man mit Sandkaulen präzisieren kann und muß, des Gefühls der Freiheit im Akt des Handelns. Diese Differenz zum – dem biblischen Offenbarungsglauben verpflichteten – positiven Christentum hat Kant – so Jacobis Vermutung – womöglich nicht gesehen, als er an ihn schrieb: »Ob nun Vernunft, um zu diesem Begriffe des Theismus zu gelangen, nur durch Etwas, was allein Geschichte lehrt, oder nur durch eine, uns unerfaßliche übernatürliche innere Einwirkung, habe erweckt werden können, ist eine Frage, welche blos eine Nebensache, nämlich das Entstehen und Aufkommen dieser Idee, betrift.«391 Jacobi vermochte seinen eigenen Standpunkt in diesen Alternativen nicht wiederzufinden: Ende seines Lebens wird Jacobi dann explizit zwischen Verstand und Vernunft unterscheiden und der Vernunft die Rolle eines Offenbarungsorgans Gottes zusprechen (vgl. JWA 2,1, 376 ff., bes. 378 f.). In der Düsseldorfer Zeit aber – und das heißt auch: im Kontext des Spinozastreites – bleibt die Bestimmung der Vernunft ambivalent. 387 Vgl. im Brief an I. Kant vom 16.11.1789: »Ich wollte nicht gern daß Sie mich für einen Supranaturalisten nach den Beschreibungen des Herrn Profeßor Reinhold hielten.« (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 102; vgl. WW III, 532.) – Vgl. hierzu auch Reinholds Briefe an Jacobi vom 24.1.1790 (Zoeppritz I, 128) und vom 13.3.1790 (Zoeppritz I, 134 f.). 388 Brief von J. G. Herder vom 16.9.1785 (JBW I,4, 182). 389 Jacobi selbst bestimmt Gott in der VII. Beilage seines Spinoza-Buches als »ein durchaus unabhängiges, supramundanes und persönliches Wesen« (JWA 1,1, 263). Diese auch schon in der Erstauflage des Spinoza-Buches vorgetragene Position bringt Jacobi in einem Brief Herders die schöne Anrede »lieber bester extramundaner Personalist« ein (JBW I,3, 280). 390 Vgl. Baum: Vernunft und Erkenntnis; zum »Einfluß der vernichtenden Bibelkritik Voltaires« auf Jacobi vgl. Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 336 f. – Nicolai spricht von der »traditionell-theistischen Glaubensvorstellung« Jacobis (Heinz Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi. Zu Goethes Weltbild und Naturanschauung. In: Maria Honeit u. a. [Hrsg.]: Gratulatio. Festschrift für Christian Wegner zum 70. Geburtstag am 9. September 1963. [Privatdruck] Hamburg 1963, S. 40–62, hier S. 48). Richtiger wäre es wohl, zwar von einem theistischen Gottesbegriff, keineswegs aber von einer traditionellen Glaubensvorstellung auszugehen. 391 Brief von I. Kant vom 30.8.1789 (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 74; vgl. WW III, 522 f.).

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V. Natur

»Was mich so sehr bey dieser Stelle beschäfftigte, war die Frage: Wie sie sich auf meine Theorie beziehen, oder wie sie auf dieselbe sich nicht beziehen könne? Da ich meinen Theismus überall nur aus dem allgegenwärtigen facto menschlicher Intelligenz, aus dem Daseyn von Vernunft und Freyheit hergeleitet habe; so konnte ich die Möglichkeit einer Beziehung auf meine Theorie nicht einsehen.«392 Jacobi hat die Grundlage des Glaubens an Gott nicht in historischer Offenbarung gesehen. Er suchte vielmehr in der Natur des Menschen selbst, diese allerdings verstanden als Schöpfung Gottes, jenes Vermögen offenzulegen, das »dahinauf« organisiert.393 Er fand es in dem »Geheimnisse unserer Freiheit« und postuliert im Brief an Reimarus vom 29. Dezember 1790: »Darum dringt sich dieser Glaube allen Menschen auf, und wir müssen, durch den geilsten Mißbrauch des Vermögens willkürlicher Bezeichnung, alles Leben erst verloren, ich möchte sagen verhurt haben, ehe wir ihn los werden können«.394 Diese Passage beschreibt in drastischer Sprache die Überzeugung von einer inneren – gleichwohl, wie man mit Sandkaulen festhalten muß, allererst im Handlungsvollzug sich manifestierenden – Offenbarung Gottes.395 In der Allwill-Ausgabe von 1792 – genauer: in der Zugabe An Erhardt O** – nimmt Jacobi die Ausführungen des Briefes teils wörtlich auf und setzt überdies ausdrücklich hinzu: »Darum ist der Glaube überhaupt an einen Gott dem Menschen natürlich; und am natürlichsten der Glaube an einen lebendigen Gott.«396 Insofern könnte man sagen, daß es auch Jacobi um die Grundlegung einer »natürlichen Religion« ging. Was ihn mit den Vertretern einer »natürlichen Religion« verband, war die Überzeugung, daß es in jedem Menschen ein »Organ« gibt, das Gott offenbart, sowie die daraus abgeleitete Überzeugung, daß eine »unsichtbare Kirche« existiert, in der die herausragenden Menschen aller Zeiten und Völker, auch Heiden und Christen, im Sinne einer »Gemeinschaft aller Heiligen« miteinander verbunden sind.397 Was ihn von den Ver392

Brief vom 16.11.1789 (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, 101; vgl. WW III, 529). – Vgl. auch den Brief an J. G. H. Feder vom 13.–14.9.1789 (AB I, 511 f.). Wie wenig Kants Alternativen Jacobis Position beschreiben, hat Sandkaulen sehr deutlich dargelegt (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache). Gleichwohl wurde Jacobis Spinoza-Buch im Sinne einer Rückkehr zum positiven Glauben rezipiert (vgl. JWA 1,1, 446 f. [zu 115,4]). 393 Vgl. die Briefe an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15) und vom 18.–22.10.1784 (JBW I,3, 373). 394 AB II, 49. – Vgl. auch im Spinoza-Buch: »Mögen wirs nun Gewissen, innern Sinn, Vernunft, den λογον in uns nennen, oder wie wir wollen; genug, es spricht laut und deutlich, zumal in der Jugend, ehe es durch wilde Stimmen von außen und innen, durch das Gebrause der Leidenschaft und das Geschwätz einer klügelnden Unvernunft allmählig geschweigt oder irre gemacht wird.« (JWA 1,1, 143.) 395 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 195. 396 Jacobi: Allwill (1792), S. 316; vgl. JWA 6,1, 240. – Bei Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 279, finden sich weitere Belegstellen aus späteren Schriften für diese Sicht Jacobis – dort ist von »Instinkt« oder »Grundtrieb« die Rede. 397 Vgl. hierzu die Briefe an A. von Gallitzin vom 9.3.1787 (Sudhof: Kreis von Münster, Bd. 1,1,

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tretern einer »natürlichen Religion« – etwa von einem Hermann Samuel Reimarus – unterschied, war die Überzeugung, daß die Vernunft (im Sinne dessen, was Jacobi am Ende seines Lebens als »Verstand« definieren sollte) jene Offenbarungsstätte nicht sein kann.398 Zudem hielt Jacobi an einem theistischen Gottesbegriff fest und verwarf den reduzierten des Deismus – das »hundmagre Thier Deismus«, wie Johann Kaspar Häfeli es nannte.399 Im Sinne dieser Überzeugungen insistiert Jacobi im Spinoza-Buch darauf, daß sich Religiosität nicht aus Vernunfterkenntnis, nicht aus der Erkenntnis der Natur – verstanden als »Inbegriff aller bedingten Wesen«400 –, herleiten läßt. Die Vernunft sei endlich und ihre Erkenntnis auf endliche Dinge, auf die Erkenntnis der Natur oder des Natürlichen eingeschränkt. »Alles was die Vernunft durch Zergliedern, Verknüpfen, Urtheilen, Schließen und Wiederbegreifen herausbringen kann, sind lauter Dinge der Natur, und die Vernunft selbst gehört, als eingeschränktes Wesen, mit zu diesen Dingen.«401 Gemäß Jacobi aber hat der Mensch nicht nur eine Vorstellung vom Endlichen, sondern auch eine Vorstellung vom Unendlichen, wobei letztere für ihn sogar die Voraussetzung der ersteren ist: »Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Daseyn dieselbige, ja eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem eigenen bedingten Daseyn haben.«402 Einige Seiten später führt er hierzu genauer aus: »Dennoch gehört schon etwas Nichtmechanisches zu der Möglichkeit einer Vorstellung überhaupt, und kein Mensch ist im Stande sich das Prinzip des Lebens, die innere Quelle des Verstandes und Willens, als ein Resultat mechanischer Verknüpfungen, das ist, als etwas bloß VERMITTELTES vorzustellen.«403

S. 336.) sowie an Sophie Stolberg vom 2.8.1800 (Zoeppritz II, 224). Die Wurzeln dieser Überzeugung scheinen teils im Pietismus, aus welchem der Begriff der »unsichtbaren Kirche« stammt (vgl. Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. 6, 52 u. ö.), teils im Deismus zu liegen (vgl. etwa Nicolson: Mountain Gloom, S. 239.) – Vgl. auch Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 185. 398 Zu Reimarus vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Mit einer Einleit. unter Mitarb. v. Michael Emsbach u. Winfried Schröder hg. v. Günter Gawlik. Bd. 1. Göttingen 1985 (= Veröffentlichung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg; Nr. 53). 399 Zit. nach Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 271; vgl. auch Heinz: Wissen vom Menschen, S. 171. 400 JWA 1,1, 259. – Vgl. auch JWA 1,1, 261, wo von der Natur als dem »Inbegriff des Bedingten« die Rede ist. 401 JWA 1,1, 259. – Vgl. hierzu auch JWA 1,1, 249: »Alles Verstehen geschiehet aber dadurch, daß wir Unterschiede setzen und wieder aufheben; und auch die aufs höchste ausgebildete menschliche Vernunft ist, explicite, keiner andern Operation, als dieser, worauf alle übrige sich zurückführen lassen, fähig. Wahrnehmen, Wiedererkennen und BEGREIFEN, in steigenden Verhältnissen, macht die ganze Fülle unseres intellectuellen Vermögens aus.« Vgl. auch im Brief an J. G. Hamann vom 14.11.1786: »Nach meiner Einsicht sagt die Vernunft nie mehr als idem u non idem.« (JBW I,5, 412.) 402 JWA 1,1, 260. 403 JWA 1,1, 263; vgl. auch S. 163. – Vgl. auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 84.

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4.1.1 Gott als Effekt des Freiheitsbegehrens Damit ist der Dreh- und Angelpunkt der Philosophie Jacobis markiert: jene »elastische Stelle«, auf die Lessing treten sollte und die er doch nicht zu erreichen vermochte.404 Birgit Sandkaulen hat genau diesen Charakter des Immer-schon-gefunden-Habens als den bisher nicht entwickelten Kern der Jacobischen Philosophie offengelegt. Das Unbedingte, Nicht-Vermittelte, im Sinne Jacobis, ist demnach »ein Meta-Physikum im Wortsinne dessen, was sich dem Versuch seiner naturalistischen Erklärung genau deshalb widersetzt, weil es in Wahrheit seine Grundlage bildet.«405 Anders gewendet: Die Freiheit, als absoluter Anfang, ist dasjenige, was »im Handeln selbst und ganz unabhängig von den Bedürfnissen der Spekulation immer schon ins Werk gesetzt wird«.406 Diese Argumentationsfigur erinnert nachdrücklich an das Begründungsmuster der Transzendentalpragmatik – mit dem Unterschied allerdings, daß dort das »Prinzip des zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruchs« als Argument für die zwingende Geltung der zu begründenden Normen fungiert.407 In Jacobis Fall dagegen ist letztlich die im Handlungsvollzug notwendig mitgesetzte Empfindung der Freiheit Beweisgrund ihrer Faktizität. Jacobi spricht zwar auch davon, daß die Freiheit sich ebenfalls »durch die That beweist«.408 Mit dem ›Beweis‹ durch die Tat scheint aber nicht gemeint zu sein: das Geschehene (das Handlungsergebnis, die Veränderung in der Wirklichkeit) steht für die Freiheit,409 sondern: im Geschehenmachen, im Hervorbringen – und insofern »durch die That« – stellt sich das Bewußtsein der Selbsttätigkeit ein. Das begleitende »Gefühl« ist somit von entscheidender Relevanz.410 In ebendiesem Sinne schließt man, Jacobi zufolge, auch nicht direkt von einer Veränderung in der Welt auf eine dahinterstehende Ursache, denn letztere ist aus der Empirie nicht ableitbar. Vielmehr gründet dieser Schluß in der Erfahrung 404

JWA 1,1, 30. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 185. 406 Ebd., S. 213; vgl. auch S. 227 u. 243 f. Wie Verra nochmals zwischen zwei Formen der Selbsttätigkeit zu unterscheiden, scheint mir dagegen überflüssig (vgl. Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 266). – Vgl. überdies Sandkaulen: Vernunft, bes. S. 420, 424 u. 428 sowie Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 42. 407 Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: Philosophie und Begründung. Hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt a. M. 1987, S. 116–211, hier S. 188. Eine lesbare Darstellung des transzendentalpragmatischen Ansatzes bietet Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg u. a. 1985. 408 JWA 1,1, 164; vgl. auch 167. 409 Vgl. hierzu auch den in Jacobis Brief an T. Wizenmann vom 25.5.1783 thematisierten Aspekt (JBW II,3, 122 f.); vgl. auch JWA 1,1, 158–162, vor allem 162 sowie 164, Pkt. XXXII. 410 Vgl. JWA 1,1, 165, Pkt. XXXVI. – Gemäß Stolzenberg stellt sich das Gefühl der Freiheit allerdings nur im Falle jener Handlungen ein, in welchen man sich als unabhängig von den »natürlichen Begierden« erfährt (Stolzenberg: Was ist Freiheit?, S. 25 u. 27). 405

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seiner selbst als einer Ursache: »Ich habe die Vorstellung der Ursache blos dadurch, daß ich mich selbst als Ursache erfahre, daß ich mich selbst bestimme.«411 Dieses »Gefühl« aber erfährt zwei sehr konträre Wertungen. Auf der einen Seite ist es ein »unwidersprechliches Zeugniß der Freyheit« und gehört zur natürlichen Grundausstattung des Menschen,412 auf der anderen Seite wird es gleich in zweierlei Hinsicht konterkariert. Zum einen nämlich erscheint bisweilen fraglich, ob dieses Gefühl nicht selbst ein trügerisches ist.413 Zum anderen steht diesem Gefühl ein ebenso dominantes, ebenso basales gegenüber – nämlich das der Unfreiheit, der Passivität, der Endlichkeit des Menschen.414 Dem »Gefühl« der Freiheit, das als »Offenbahrung« des »Uebernatürlichen« wie ein Fremdkörper sich ausnimmt in der Kette des Vermittelten, des bloß Mechanischen, haftet somit – innerhalb der Endlichkeit – immer auch ein kontrafaktischer Charakter an.415 In den Momenten höchster Fraglichkeit, die naturgemäß weniger in den philosophischen Schriften als vielmehr in den Briefen imponieren, vermag Jacobi dann – aller postulierten Herleitung der Gottesvorstellung aus dem »Faktum« menschlicher Freiheit zum Trotz416 – einzig noch einen personalen, transzendenten Gott als Garantposten von Freiheit, Ewigkeit, 411

Kladdeneintrag Jacobis, zit. nach Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 208; vgl. auch S. 129– 131, 176 u. 183–185. Auch Sandkaulen unterstreicht explizit die Relevanz des Gefühls: »[…] im Unterschied zu diesem in Reflexionsverhältnissen vermittelten Selbst ist das qualitative Selbst-Verständnis freien Handelns sich selbst nur im Gefühl zugänglich.« (Ebd., S. 131.) 412 JWA 1,1, 165, Pkt. XXXVI. – Vgl. hierzu auch die bereits angeführten Stellen aus der Spinozaschrift (JWA 1,1, 143), dem Brief an J. A. H. Reimarus vom 29.12.1790 (AB II, 49) und der Allwill-Zugabe An Erhardt O** (Jacobi: Allwill [1792], S. 316; vgl. JWA 6,1, 240). 413 Mehr oder weniger deutlich ausgesprochen findet sich dies in verschiedenen Briefen Jacobis. Vgl. etwa im Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785: »Daß alles was geschieht, jede Veränderung u Bewegung, aus einem Willen hervorgehe, ist eine allgemeine Offenbahrung – oder Lüge der Natur.« (JBW I,4, 15.) 414 In den Briefen an A. von Gallitzin vom 14.3.1782 (JBW I,3, 13) und an J. G. Hamann vom 16.6.1783 (JBW I,3, 164), die auch Sandkaulen zitiert (Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 203 f., Fn. 63), mag dies noch als »erklügelt« und aus der intensiven Beschäftigung mit der Philosophie Spinozas resultierend erscheinen. Im Brief an J. G. Herder vom 8.–14.6.1783 wird aber deutlich, daß dieses Gefühl ebenfalls erfahren wird, wobei die Empfindung der Unfreiheit, die Jacobi durchgängig als Verfallenheit an die körperlich-sinnliche Existenz versteht, konsequenterweise vor allem in Krankheitsphasen dominant ist (vgl. JBW I,3, 159 f.). 415 Klaus Hammacher hat sehr treffend vom »Gegenbewußtsein der Freiheit« gesprochen (Hammacher: Rezension zu Günther Baum, S. 630; vgl. auch S. 631, wo von »Gegensinnigkeit« die Rede ist). 416 Vgl. hierzu im Brief an J. N. Graf Windisch-Graetz vom 30.11.1788: »Vous remarquerez, Monsieur, que loin d’etablir la liberté de l’homme sur cette de Dieu j’etablis au contraire la liberté de Dieu sur cette de l’homme«. (Zit. nach Homann: Jacobis Philosophie, S. 189.) Vgl. auch die bei Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 179, Fn. angeführten Belegstellen im Werk Jacobis. – Vgl. hierzu die interessante, platonisierende Deutung des Jacobischen Übergangs von der Erfahrung der Freiheit zum Gottesglauben bei Stolzenberg: Was ist Freiheit?, S. 26 f. Auch die Rede von Gott als einem Garantposten menschlicher Freiheit stellt sich vor diesem Hintergrund noch einmal anders dar.

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Unvergänglichkeit herbeizuzitieren – als Rettungsanker vor dem Sturz in den Abgrund des Fatalismus und Nihilismus.417 Ohne den Garantposten einer wahrhaften und also weder trügerischen noch eingeschränkten Freiheit jenseits der Endlichkeit scheint ihm dann nichts gewonnen: ohne Gott weder Freiheit noch Moralität.418 In jenen Momenten wird auch offenkundig, daß es das Begehren nach (absoluter) Freiheit, nach Vollkommenheit und Unsterblichkeit selber ist, das die Entwicklung der Gottesidee motiviert. Am Ende jenes Briefes an Frans Hemsterhuis, der einen Teil der Spinozaschrift bildet, wird dieser Ursprung Gottes im Begehren selber deutlich – aber gewiß nicht kritisch – ausgesprochen: »Je laisse là Spinoza, impatient de me jetter dans les bras du génie sublime qui a dit: Qu’un seul soupir de l’ame, qui se manifeste de tems en tems vers le meilleur, le futur, et le parfait est une demonstration plus que géometrique de la divinité.«419 Damit ist, als letztes Motiv des »Sprungs«, ein Begehren offengelegt. Der Sprung ist, in Anlehnung an Sandkaulen, ein Immerschon-gesprungen-Sein, aber dieses darf m. E. nicht – Jacobi folgend – im Sinne einer Faktizität, aus der sich dann Gott, Tugend und Unsterblichkeit ableiten ließen,420 sondern muß – Jacobi-kritisch – im Sinne eines grundlegenden Begehrens – der »menschlichen Gottesleidenschaft«421 nämlich – verstanden werden – ein Begehren, das Jacobi dann eben auch als (stets zugleich negiertes) Movens der Metaphysik 417

Vgl. hierzu etwa die Briefe an J. G. Hamann vom 16.6.1783 (JBW I,3, 164) und an J. G. Herder vom 8.–14.6.1783 (JBW I,3, 160). – Vgl. auch in einer Anmerkung der Schrift Einige Betrachtungen über den frommen Betrug: »Ohne einen Gott, der ein wahrhaft lebendiger, ein persönliches Wesen ist, hat nichts in der Welt mehr einen Werth für mich, und mein Daseyn ist mir ein Ekel« (Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 166; dieser Passus wurde nicht in die Werkausgabe übernommen). Vgl. auch JWA 1,1, 139. 418 Gewisse Mißverständnisse in Jacobis Freiheitskonzeption waren daher naheliegend (vgl. für das Beispiel Fichte: Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹, S. 20). 419 Brief vom 7.8.1784 (JBW I,3, 358; vgl. JWA 1,1, 85 f.). – In Wider Mendelssohns Beschuldigungen zitiert Jacobi diese Stelle abermals: »In dem gesunden durchaus wohl beschaffenen Menschen, ist ein einziges heisses Verlangen der Seele, das sich in ihr von Zeit zu Zeit nach dem Besseren, zukünftigen und vollkommenen offenbaret, eine mehr als geometrische Demonstration von der Natur der Gottheit.« (JWA 1,1, 322.) 420 Vgl. hierzu JWA 1,1, 167–169. – Am Rande sei hier nur bemerkt, daß diese ›Ableitung‹ m. E. auch nur ›gelingt‹, weil sich nach und nach der Begriff des ›freien Handelns‹ als ein inhaltlich wundersam gefüllter erweist. Vgl. hierzu auch Ingo Kauttlis: Von »Antinomien der Überzeugung« und Aporien des modernen Theismus. In: Walter Jaeschke (Hg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Hamburg 1994 (= Philosophisch-literarische Streitsachen; Bd. 3) [im folgenden PLS 3 mit Seitenzahl], S. 1–34, hier S. 10, wo Kauttlis u. a. ein Mißverhältnis »zwischen proklamierter Unmittelbarkeit und verdeckter Vermittlung« konstatiert; vgl. auch S. 19. 421 Heinz: Philosophische Einführung, S. 14. – Worum es inhaltlich dabei geht, bestimmt Jacobi etwa in der Beilage C der Göttlichen Dinge: »Der oberste Begriff aber in der Vernunft [nunmehr als Gegenbegriff zum Verstand konzipiert; C.G.] und mit ihr Eines und dasselbe, ist der Begriff der Ursache, des in sich Seyenden und allein aus sich hervorbringenden, des unerschaffenen Schaffenden – des absolut Unbedingten.« (JWA 3, 132 f.)

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selber offengelegt hat. Der Verweisungscharakter von menschlicher (= endlicher) Vernunft und menschlicher (= endlicher) Freiheit auf Gott muß m. E. ebenfalls vor diesem Hintergrund gesehen werden: Beide verweisen, so Jacobi, auf ihre Geburtsstätte, den Ort der Fülle. In diesem Sinne heißt es etwa in der Allwill-Ausgabe von 1792: »Der Trieb der vernünftigen Natur zum an sich Wahren und Guten ist auf ein Daseyn an sich, auf ein vollkommenes Leben, ein Leben in sich selbst gerichtet; er fodert Unabhängigkeit; Selbstgenugsamkeit; Freyheit! – Aber in wie dunkler, dunkler Ahndung nur!«422 Doch dieser nur dunkel geahnte Ort der Fülle ist schwerlich mehr als der Ausdruck des Begehrens als der causa finalis menschlichen Handelns. Der Verweis des Endlichen auf das Unendliche wurzelt somit im Begehren nach Transzendierung der Endlichkeit.423 Nicht zufällig schließt somit Jacobis Abhandlung »Der Mensch hat Freyheit« aus der Vorrede zur zweiten Auflage des Spinoza-Buches mit dem Satz: »Ist sein Gegenstand [= der Gegenstand des Affekts der Freude; C.G.] das Unvergängliche und Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst, und seine Beute Unsterblichkeit.«424 Auch in Jacobis Briefen spiegelt sich die ganze Leidenschaft dieses Begehrens: Gott oder das Nichts, Erlösung oder ein auf Dauer gestelltes Unheil. In ebendiesem Sinne schreibt Jacobi in seinem ersten Brief an Herder: »Ich knüpfe Ihre Liebe und die meine an das Ewige, ohne welches alles, und am mehrsten Freundschaft, Trug und Täuschung ist, jedes Gelübde eitel, Lüge jedes Wort, und der beste Trost die ärgste Quelle der Verzweiflung.«425 422

Jacobi: Allwill [1792], S. 299 f.; vgl. JWA 6,1, 231. – Vgl. auch im Brief an J. G. Fichte: »So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschlichen Vernunft nicht die Vollkommenheit des Lebens, nicht die Fülle des Guten und des Wahren; und so gewiß ich dieses mit ihr nicht besitze, UND ES WEISS; so gewiß WEISS ich, es ist ein höheres Wesen, und ich habe in ihm meinen Ursprung. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: ICH; sondern, Mehr als Ich! Beßer als ich! – ein ganz Anderer. […] So lehret mich meine Vernunft instinktmäßig: Gott.« (Jacobi an Fichte; JWA 2,1, 209 f.) Im Anhang 3 zu diesem Brief wird die angeführte Stelle aus dem Allwill zitiert (vgl. JWA 2,1, 255). Vgl. ebenfalls im Anhang 4 das Zitat aus dem Woldemar, gemäß welchem mit dem Selbstbewußtsein (»Ich!«) auch immer schon das Begehren nach Transzendierung des endlichen Ich auf etwas Absolutes hin gesetzt zu sein scheint (»Mehr als ich! – Beßer als ich!«). (JWA 2,1, 256; vgl. Jacobi: Woldemar [1796], Th. 1, S. 140; vgl. JWA 7,1, 269. In der Ausgabe von 1794 ist diese Stelle noch nicht enthalten.) Sämtliche Anhänge sind in der Werkausgabe von 1812–25 nicht, jedenfalls nicht als Anhänge zu dieser Schrift, enthalten. – Vgl. zu Jacobis »Analogieschluß« auf Gott auch Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 180. 423 Vgl. hierzu den Brief an J. W. Goethe vom 28.4.–8.5.1784 (JBW I,3, 314); ganz ähnlich auch im Brief an A. von Gallitzin vom 27.4.1784 (JBW I,3, 313). 424 JWA 1,1, 168 f. 425 Brief vom 8.–14.6.1783 (JBW I,3, 160). Vgl. auch im Brief an J. G. Hamann vom 16.6.1783: »Ich kann Ihnen nicht sagen wie mir wurde, liebster Hamann, als ich dieses ungeheure Loch gewahr wurde, u nun weiter nichts, als einen finstern Ungeheuern Abgrund vor mir sah … […] Alles Endliche gebiert den Tod u vertilgt so gar zuletzt das Bild der Gottheit …. […] Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. – Wenn Sie mich verstehen, so sagen Sie mir, ob für den Rechtschaffenen, der an

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Da die Vernunft, an die endliche Natur gekettet, die Tür zum Heil nicht eröffnet, sondern den Menschen allenfalls davor positioniert, bleibt nur die Setzung – eine Setzung, die sich als ›Findung‹ letztlich bloß geriert:426 »Und ferner: da alles, was ausser dem Zusammenhange des Bedingten, des natürlich vermittelten liegt, auch ausser der Sphäre unserer deutlichen Erkenntniß liegt, und durch Begriffe nicht verstanden werden kann: so kann das Uebernatürliche auf keine andre Weise von uns angenommen werden, als es uns gegeben ist; nehmlich, als Thatsache – ES IST! Dieses Uebernatürliche, dieses Wesen aller Wesen, nennen alle Zungen: DEN GOTT.«427

4.1.2 Deus contra naturam Vor diesem Hintergrund stehen sich Natur als Gegenstand der Vernunfterkenntnis und Gott als das Übernatürliche innerhalb der Philosophie Jacobis unversöhnlich gegenüber.428 In der siebten Beilage des Spinoza-Buches, dem »heimliche[n] Hauptwerk« Jacobis,429 wird der Gegensatz von Natur und Gott besonders deutlich. Jacobi argumentiert in dieser Beilage, daß auch das monistische System des Spinoza in Widersprüche führe, da er genötigt sei, »eine ewige Zeit, eine unendliche Endlichkeit« anzunehmen.430 Die Ursache des Widerspruchs sieht Jacobi in dem Irrtum, rein mechanistisches Verstehen, zu welchem die Vernunft einzig in der Lage und welches der endlichen, bedingten Natur adäquat sei, auch auf das »Prinzip […] des Mechanismus« selbst anzuwenden.431 Zwischen diesen beiden aber, der mechanisch funktiodiese öde Stelle hingeängstigt wurde, eine andre Hülfe ist, als aus den Händen selbst des Unerforschlichen; ALS DURCH EIN WUNDER SEINER GNADE.« (JBW I,3, 164.) – Vgl. auch später in der »Beylage II« zu Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 236). 426 Zur Entgegensetzung von Finden und Setzen resp. Konstruieren vgl. JWA 1,1, 29 sowie Sandkaulen: Vernunft, S. 420 f. u. ö. 427 JWA 1,1, 261. – Vgl. auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 61. 428 In seiner Vorrede zum dritten Band seiner Werke aus dem Jahre 1816 verteidigt sich Jacobi allerdings gegen den ihm von Friedrich Schlegel – in seiner Rezension des Jacobischen Werkes Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung – gemachten Vorwurf, er vertrete einen derart unversöhnlichen Dualismus von Natur und Gott, daß eine Verbindung zwischen beiden gar nicht mehr gedacht werden könne (vgl. WW III, VIII ff. sowie PLS 3.1, 337). Vgl. hierzu auch das Schelling-Zitat bei Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 228. 429 Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 64 u. ö. Sandkaulen unterzieht ebendieses »heimliche Hauptwerk« einer »zusammenhängenden Lektüre« (ebd., S. 103, Fn. 1). 430 JWA 1,1, 251. 431 JWA 1,1, 260, an anderer Stelle spricht Jacobi stattdessen von »Kausalität überhaupt« (JWA 1,1, 263). – Vgl. hierzu auch den analogen Vorwurf, man habe »den Begriff der Ursache mit dem Begriffe des Grundes vermischt« (JWA 1,1, 255; vgl. auch 263 f.). – Dieser Satz Jacobis bzw. die »Schlüsselbe-

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nierenden Natur sowie der diese mechanistisch begreifenden Vernunft einerseits und dem Urheber beider andererseits, bestehe, so Jacobi, ein kategorischer Gegensatz: der Gegensatz von bloß wirkender Natur und dem frei handelnden Gott.432 Die korrespondierenden Dualismen durchziehen daher Jacobis Text: endlich vs. unendlich, bedingt vs. unbedingt, mechanisch vs. selbsttätig, natürlich vs. übernatürlich, vermittelt vs. unmittelbar etc.433 Natur und Vernunft (bzw. Verstand) sind dagegen auf eine frappierende Weise kompatibel: »Die Gesetze des Verstandes beziehen sich subjectiv und objectiv auf die Gesetze der Natur«.434 Man kann hier – mit Homann – nachgerade eine Identitätsbehauptung konstatieren: »Was beider Funktion angeht, sind sie für Jacobi nahezu austauschbar; es wird lediglich einmal auf den Gegenstand Natur und einmal auf das Erkenntnisorgan Vernunft (qua Verstand) abgehoben.«435 Jacobis Denken ist offenbar nachhaltig beeinflußt von der mechanistischen Naturwissenschaft seiner Zeit. Insbesondere auf die durch die Mathematisierung der Natur436 erzielten »bewunderungswürdigen Fortschritte« in der »Naturlehre« geht er

griffe« Grund und Ursache bilden den Ausgangspunkt und das Zentrum der detaillierten Analyse und Interpretation von Birgit Sandkaulen (Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 78 f.). Der »unzulässigen Kompetenzüberschreitung der Logik rationaler Erklärung« liege demnach die »Vermischung von Grund und Ursache« (ebd., S. 246), d. h. von bloß logischer Folgerung und realer, zeitlicher Sukzession zugrunde. Dabei sei letztere in Gestalt der »Erfahrung zeitlicher Existenz« zwar Movens aller metaphysischen Anstrengung überhaupt (ebd., S. 168) und Quelle einzelner Differenzierungen innerhalb des Systems (ebd., S. 146 u. 151), kann jedoch andererseits nicht wirklich zum Gegenstand einer rein rationalen Weltkonstruktion werden und wird daher in dieser auch zugleich ausgesagt und getilgt (ebd., S. 148, 162, 166 u. 246): »[…] weder essentiell noch existentiell besehen, kennt die Logik der Immanenz ein Außen. Daß sie aber glaubt, im Binnenraum dieser Logik über die Existenz der Dinge tatsächlich unverkürzt sprechen zu können, ist die Täuschung, die Jacobi mit der These einer ›ewigen Zeit‹ ins Visier nimmt und dann auf den scharfsinnigen ›Mißverstand‹ von Grund und Ursache zurückführt.« (Ebd., S. 157.) – Überaus interessant scheint mir, daß Koschorke am Beispiel der Schriftphantasmen für das ausgehende 18. Jahrhundert einen ganz ähnlichen Prozeß beschreibt (Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 321). 432 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 130 f. – Zur Entgegensetzung von Natur und Freiheit in den späteren Werken Jacobis vgl. auch Homann: Jacobis Philosophie, S. 181; insbesondere das prägnante Zitat aus Fliegende Blätter: »Wo hat die Natur ein Ende? Sie hat ein Ende da, wo die Freiheit anhebt.« (WW VI, 208 f.) – Vgl. aber auch schon den Auszug aus dem Allwill im Anhang 3 zu Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 255; vgl. Jacobi: Allwill [1792], S. 300; vgl. JWA 6,1, 231). 433 Zum dualistischen Denken Jacobis, seinen binären Oppositionen, vgl. auch Homann: Jacobis Philosophie, S. 190 f. 434 JWA 1,1, 263. 435 Homann: Jacobis Philosophie, S. 153. – Vgl. in ebendiesem Sinne auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 119: »[…] die epistemologischen ›Fähigkeiten‹ des Verstandes [decken sich] mit den von ihm tatsächlich verstandenen ontologischen Zusammenhängen«; vgl. auch S. 212 u. 83. 436 Vgl. William R. Shea (Hg.): Nature Mathematized. Historical and Philosophical Case Studies in Classical Modern Natural Philosophy. Vol. 1. Dordrecht u. a. 1983 (= The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science; Bd. 20) sowie Lothar Schäfer: Zur Geschichte des Naturbegriffs. In: Baumüller / Kuder / Zoglauer: Inszenierte Natur, S. 9–17, hier S. 13 f. – Die Vorausset-

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wiederholt – teils explizit, teils implizit – ein. Ihr Prinzip sieht er in der Reduktion der »unendlichen Verschiedenheiten der Qualität, auf einige bestimmte Beschaffenheiten der Quantität«.437 Unter letzteren versteht er wiederum, ganz in der Tradition Descartes’, vornehmlich »Figur, Zahl, Lage und Bewegung«.438 Auch die Auffassung des Begreifens nach dem Muster technischer Machbarkeit verdankt sich diesem naturwissenschaftlichen Modell: »Diejenigen Dinge, wovon wir das Vermittelnde eingesehen, das ist, deren Mechanismus wir entdeckt haben, die können wir, wenn die Mittel selbst in unsern Händen sind, auch hervorbringen. Was wir auf diese Weise, wenigstens in der Vorstellung, construiren können, das begreifen wir; und was wir nicht construiren können, das begreifen wir auch nicht.«439 Von großem Einfluß auf Jacobis diesbezügliche Vorstellungen dürfte sein Genfer Lehrer und Mentor gewesen sein, der Mathematiker und Physiker Georges-Louis Le Sage, der sich mit Problemen des Newtonschen Gravitationsgesetzes beschäftigte und die Ursache der Gravitationsphänomene mechanistisch zu erklären versuchte.440 Mit einem solchen, aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft gewonnenen Verständnis von Natur ließ sich eine pantheistisch begriffene göttliche Natur schlechterzungen für die »Aufwertung der Natur« und ihre Mathematisierung bzw. Quantifizierung in der neuzeitlichen Naturwissenschaft beschreibt sehr detailliert Kondylis: Aufklärung, S. 59–119. 437 JWA 1,1, 250. 438 JWA 1,1, 258, Fn. 1; vgl. auch 250, wo von »Undurchdringlichkeit, Gestalt, Lage, Größe und Bewegung« die Rede ist. Seine Darstellung der in diesem Erkenntnis- als Reduktionsprozeß stattfindenden Vernichtung der Vielfalt des Gegebenen weist schon auf den Nihilismus-Vorwurf an Fichte und Kant voraus. Gleichwohl intendiert Jacobi keineswegs, worauf Sandkaulen nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, die Rückkehr zu einer »wirklichen« Welt – im Sinne der ›eigentlichen‹ und ›wahren‹ – jenseits rationalistischer Instrumentalisierung (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 128 f.; vgl. auch S. 125). Dies positioniert Jacobi in wohltuendem Abstand zu dominanten Tendenzen lebensphilosophischer Ansätze. 439 JWA 1,1, 260. Zu diesem »weltkonstruierende[n] Rationalisierungsprozeß im Zeichen des Mechanismus« vgl. auch Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 119 f. – Vgl. ebenfalls die bei Homann zusammengetragenen Zitate aus späteren Briefen und Werken Jacobis zur positiven Bewertung der Mathematisierung der Natur und zur Bestimmung des Zwecks der Einzelwissenschaften als Herstellung technischer Verfügbarkeit (Homann: Jacobis Philosophie, S. 144; vgl. auch S. 166). Vgl. auch Homanns Diskussionsbeitrag zu Olivetti in Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 116 f. – Vgl. aber auch schon Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 167; vgl. JWA 5,1, 117 f. 440 Diese Herleitung der Jacobischen Position nahm bereits Schelling vor. Bei ihm hat sie die Funktion, Jacobi als Cartesianer auszuweisen, was Sandkaulen als »erstaunliches Mißverständnis Jacobis« wertet (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 228). – Zum Einfluß Le Sages vgl. ferner Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 334 sowie ders.: Der persönliche Gott im Dialog? J. G. Hamanns Auseinandersetzung mit F. H. Jacobis Spinozabriefen. In: Bernhard Gajek (Hg.): Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976. Frankfurt a. M. 1979, S. 194–210, bes. S. 204 f. Vgl. überdies Jacobis autobiographische Darstellung seines Verhältnisses zu Le Sage im David Hume (JWA 2,1, 40–42). – Zu Le Sage vgl. Dictionary of Scientific Biography. Hg. v. Charles Coulston Gillispie. 18 Bde. New York 1970–1990, hier Bd. VIII, S. 259 f. sowie JBW II,1, 4.

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dings nicht vereinbaren. Die Identität Gottes mit einem mechanischen System hieße die Vernichtung Gottes. Im Gegensatz aber zu den nachfolgenden Pantheisten – nicht zuletzt Goethe und Herder – konnte Jacobi die Natur nicht anders als mechanistisch auffassen. Selbst die Vorstellung der Natur als Organismus fiel für ihn noch unter das Verdikt des bloß Mechanischen.441 Konsequenterweise war die Spinozistische Allnatur für Jacobi eine Schreckensvision und wurde entschieden zurückgewiesen: »Am Seyn ohne Bewußtseyn, ohne Personalität ist mir nichts gelegen, u ich will lieber die dürftigste unter den naturis naturatis seyn, als eine Spinozistische Natura naturans«.442 In Spinozas System war, nach Jacobis Verständnis, Gott »eine blosse natura naturans« und kein »von der Natur wirklich unterschiedenes Wesen« mehr,443 eine unmögliche Entität, wie Jacobi zu demonstrieren suchte, die sich allenfalls symbolisieren ließe gemäß dem in der Folgezeit (insbesondere für Goethe) wirkungsmächtigen Modell von »Expansion und Contraction«: ein »gehaltenes Verbreiten, und gleichsam Athmen der Natur. Es ist der wahrhafte Gott des Spinoza, der aus Unendlichem Unendliches unaufhörlich hervorbringt.«444

4.2 Der »pantheistische Vitzliputzli« oder Neue Wege zum Heil (Herder und Goethe)445 Es gibt wohl kaum irgendein philosophisches Werk, dessen Rezeption sich so sehr im Widerspruch zu den Intentionen des Autors entfaltete, wie Jacobis SpinozaBuch.446 Schon der Zeitgenosse Johann Georg Scheffner hatte diese im Werk selbst

441

Vgl. Hammacher: Jacobis Beziehungen, S. 56 sowie Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 119. Vgl. auch die Gleichsetzung von Organismus und Mechanismus in der Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, wo Jacobi sich auf Kant beruft (JWA 3, 104). Vgl. ebenso in der »Beylage I« zu Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 230, Fn. 1). – Auch Verra betont, daß nach Jacobi das Lebendige ebenso mechanistisch erklärt werden kann (vgl. Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 265 f.) wie das Denkvermögen (ebd., S. 272–274). 442 Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 16). 443 JWA 1,1, 254. 444 JWA 1,1, 255, Fn. 3; vgl. auch den Brief an J. G. Herder vom 30.6.1784 (JBW I,3, 327). – Vgl. hierzu Hammacher: Jacobis Beziehungen zu Lessing, S. 59 u. 71, Fn. 38 u. 39 sowie JWA 1,2, 401–403 (zu 23,21–23). 445 Eine vollständige Darstellung dieser Positionen kann hier nicht erfolgen, da sie zu weit führen würde. Ausgehend von dem Briefwechsel Jacobis soll es in diesem Kapitel primär um den Kontrast zu Jacobi gehen. Zudem soll die Bedeutung der pantheistischen Position für die Folgezeit deutlich werden. – Der Begriff des »pantheistischen Vitzliputzli« stammt von Ernst Bloch und ist zit. bei Schmidt: Goethes Natur, S. 18. 446 Vgl. etwa Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, der von der »positiven Fehlwirkung« (S. 191) oder auch vom »positivem Mißerfolg« (S. 307) Jacobis spricht. Vgl. auch ebd., S. 184: »Das wollte er [= Jacobi] in der Tat. Sie [= die Philosophie] ans Kreuz des Spinozismus bringen. Den Titanen

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angelegte Dimension aus christlicher Perspektive kritisch vermerkt: »Wenn er [= Jacobi] aber glaubt durch seine Schrift Einen vom Spinosismus zurückzuführen, so irrt er wahrlich; seine Entwickelungen dienen dazu ihn mehr drinn zu bestärken, und es ist überhaupt schwer nicht ein Spinozist zu seyn wenn man über Gott philosophiren und nicht lieber an ihn glauben will.«447 Herder und Garve haben sich in Briefen an Jacobi ähnlich geäußert.448 Jacobi, gemäß Heinrich Heine der »wüthendste […] Gegner Spinozas«,449 hatte, auch und gerade weil er den advocatus diaboli perfekt zu spielen vermochte450 und damit die Position Spinozas eindringlich zu vermitteln wußte, dieser Philosophie erst eigentlich den Weg bereitet. Sie wurde auf diese Weise, so konnte Heine fünfzig Jahre nach Veröffentlichung des Spinoza-Buches resümieren, zur Religion der Intellektuellen in Deutschland.451 Im Spinozastreit manifestiert sich ein neues Weltbild. Hinsichtlich seiner Wirkungsmächtigkeit für die Epoche, vornehmlich für die nachfolgende Philosophie, ist das Jacobi-Lessingsche-Gespräch über die Lehre des Spinoza Kants Kritik der reinen Vernunft an die Seite zu stellen.452 Insbesondere bei den Weimarer Freunden fiel dieses Gespräch auf fruchtbaren Boden. Dem pantheistischen Credo Lessings und der Lehre Spinozas schloß man

Faust auf ewig an das ›und doch‹ des Kinderglaubens ketten. – Aber das ist ihm, wie wir bereits wissen, zum spekulativen Ostergeläut mißraten.« – Einen Hinweis auf den Grund dieses Mißratens gibt Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 52. – Vgl. auch Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 33, der sich allerdings vornehmlich auf Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung bezieht. 447 Brief von J. G. Hamann vom 30.11.–4.12.1785 (JBW I,4, 263). 448 Vgl. hierzu die Briefe von C. Garve vom 24.6.1786 (JBW I,5, 274 f.) und von J. G. Herder vom 6.2.1784 (JBW I,3, 280). 449 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Ders.: Werke, Bd. 8/1, S. 62. 450 Vgl. zu dieser Fähigkeit auch JWA 1,1, 296, 303, 313 u. 329 f. – Herder hatte Jacobi vor dieser Darstellung gewarnt, da sie ihn selbst als Spinozisten erscheinen lassen könnte (vgl. seinen Brief an Jacobi vom 6.6.1785; JBW I,4, 109). Verwechselungen dieser Art hat es in der Tat dann auch gegeben. Auch Kondylis spricht von Jacobis »Widerspruch zwischen antispinozistischen Absichten« und seinem latenten Spinozismus (Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979, S. 159). – Zur Adäquatheit bzw. Inadäquatheit der Spinoza-Darstellung im Kontext des Spinozastreites vgl. etwa Hammacher: Jacobis Beziehungen, S. 51 u. 59 f. 451 Vgl. Heine: Geschichte der Religion und Philosophie. In: Ders.: Werke, Bd. 8/1, S. 61 f. – Vgl. auch Beiser: Fate of Reason, S. 59: »After 1785 public opinion of Spinoza changed from almost universal contempt to almost universal admiration, largely as a result of the publication of Jacobi’s Briefe, in which he revealed Lessing’s Spinozism.« – Vgl. auch Heinrich Scholz (Hg.): Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hg. u. mit einer historischkritischen Einleitung versehen v. Heinrich Scholz. Berlin 1916 (= Neudruck seltener philosophischer Werke; Bd. 6), S. XXVIII sowie Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 41. 452 Vgl. Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 68 u. 75 f. sowie Beiser: Fate of Reason, S. 44 u. 59.

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sich hier enthusiastisch an.453 Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung wurden Goethe und Herder in Jacobis Debatte mit Mendelssohn über den Spinozismus Lessings einbezogen. Im November 1783 hatte er Herder das für Mendelssohn454 aufgezeichnete Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing zugesandt und ihm anheimgestellt, es auch Goethe mitzuteilen.455 Daß Herder diese Möglichkeit gleich genutzt hat, geht aus einem Brief Goethes vom Dezember desselben Jahres hervor, in dem dieser berichtet: »Wir haben uns mit dir und Lessing unterhalten. Herder wird dir geschrieben haben.«456 Tatsächlich hatte Herder noch nicht geschrieben. Seine Antwort erfolgte erst Anfang Februar 1784 und enthält ein nachdrückliches Bekenntnis zum Lessingschen Pantheismus. Die Formel »Εν και παν«. ist dem Brief demonstrativ vorangestellt und in demselben heißt es: »Im Ernst, liebster Jacobi, seitdem ich in der Philosophie geräumt habe, bin ich immer u. jedesmal neu die Wahrheit des Leßingschen Satzes inne worden, daß eigentlich nur die Spinozistische Philosophie mit ihr selbst ganz Eins sei.« Ferner gibt der Brief Auskunft darüber, daß Herder sich »[s]eit 7. Jahren u. länger […] mit einer Parallele der Dreimänner […] Spinoza, Shaftesburi, Leibniz « trägt und bisher nur nicht zu einer schriftlichen Ausarbeitung hat kommen können. Er verspricht bei dieser Gelegenheit, sie in Kürze zu vollbringen.457 Im Mai 1787 erscheint unter dem Titel Gott. Einige Gespräche Herders öffentliche Lobpreisung Spinozas.458 Angesichts des Spinozastreites war der Rest der »Dreimänner« in den Hintergrund geraten.459 In seiner Spinoza-Schrift entwickelt Herder, dessen frühere Schriften bereits pantheistisches Gedankengut enthielten,460 auf der Grundlage eines 453

Zu Lessings Position vgl. Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 15–135. – Vgl. auch Alexander Altmann: Lessing und Jacobi. Das Gespräch über den Spinozismus. In: Lessing-Yearbook 3 (1971), S. 25–70 und Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 67–76 (= »Neuansatz«). 454 Vgl. den Brief an M. Mendelssohn vom 4.11.1783 (JBW I,3, 227–246; vgl. JWA 1,1, 13– 47). 455 Vgl. den Brief an J. G. Herder vom 22.11.1783 (JBW I,3, 257). 456 Brief von Goethe vom 30.12.1783 (JBW I,3, 266). 457 Brief von J. G. Herder vom 6.2.1784 (JBW I,3, 279). 458 Vgl. Martin Bollacher: »Gespräche sind keine Entscheidungen […]«. Herders Spinoza-Aristeia in Gott. Einige Gespräche. In: Ders. (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, S. 229–238. – Vgl. auch den Brief von J. G. Herder an J. W. L. Gleim vom 17.2.1786, in dem dieser ausdrücklich bekennt: »Ich bin ein Spinosist.« (Herder: Briefe, Bd. 5, S. 172.) – Vgl. dagegen im Brief an Jacobi vom 6.2.1784: »Ich würde also auch mein System nie Spinozismus nennen« (JBW I,3, 279). 459 Vgl. die Vorrede zu Gott. Einige Gespräche (Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 16, S. 403). Zu Herders Beschäftigung mit Shaftesbury und Leibniz im Rahmen der Entwicklung seines »panentheistischen Gebilde[s]« vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 620–624 sowie S. 628 f., bes. Fn. 362. 460 Vgl. Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 306 sowie Wyder: Goethes Naturmodell, S. 214: »In Deutschland, wo die Lehre von den Kräften und die ganzheitliche Sicht der Natur durch Herders Ideen schon vorbereitet waren, […]« Hierzu auch JWA 1,2, 457 (zu 123,7–22). – Zur Diskussion um den frühen Spinozismus Herders vgl. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien

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nicht zuletzt mit Leibniz uminterpretierten Spinoza einen »geläuterten Spinozismus«, der dem von Mendelssohn für Lessing reklamierten nicht unähnlich ist.461 Denn auch dieser pantheistische Vitalismus oder vitalistische Pantheismus zeichnet sich, nach Meinung seines Verfechters, dadurch aus, keineswegs in Fatalismus und Atheismus zu münden, sondern – im Gegenteil – eine glückliche Verbindung moralischer und religiöser Überzeugungen mit Vernunft und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gewährleisten.462 Einen persönlichen und übernatürlichen Gott im Sinne Jacobis, auf dessen Spinoza-Schrift er sich vornehmlich im vierten Gespräch wiederholt explizit bezieht, weist Herder dabei als anthropomorphistisch und dem unendlichen und umfassenden Charakter Gottes nicht gerecht werdend zurück, wie er es bereits in seinen Briefen an Jacobi vom Februar und Dezember 1784 getan hatte.463 Dagegen offenbart sich Herders Gott in Natur und Geschichte: »In jeder Naturerscheinung und jedem geschichtlichen Phänomen läßt sich, in Herders Version des spinozistischen Denkens, ein ordnender Bezug auf die kontinuierliche und geregelte Entfaltung dieser Substanz festhalten, ohne daß dieser Gott als Person in Erscheinung treten müßte.«464 An die Stelle der Jacobischen Heilsfigur tritt bei Herder die im Dasein und durch Palingenesie sich vollziehende – vom Menschen auch aktiv vollzo-

zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1969 (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 18), S. 135–167 sowie Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung, Bd. II, S. 114 f. – Auch den Zeitgenossen blieb diese Affinität Herders zum Pantheismus nicht verschlossen. Vgl. etwa im Brief Jacobis an G. M. Kraus vom 14.9.1788: »Daß nicht allein Herders neuesten Ideen, sondern allen seinen Ideen überhaupt Pantheismus zu Grunde liege, dieser Meynung bin auch ich vollkommen.« (Zoeppritz I, 106.) Der Brief enthält im übrigen auch einen kurzen Abriß der Beziehungen zwischen Jacobi und Herder. Vgl. auch den Brief von T. Wizenmann an Jacobi vom 4.7.1784 (JBW I,3, 332 f.). 461 Vgl. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berlin 1785; vgl. Mendelssohn: Schriften, Bd. 3,2. – Vgl. Klaus Hammacher: Die Stellung des JacobiKreises zu Religionsfragen; Lessing und der Pantheismusstreit. In: Kurz: Düsseldorf, S. 79–101, hier S. 93 sowie Bernhard Suphan: Goethe und Spinoza. 1783–86. In: Festschrift zu der zweiten SäcularFeier des Friedrich-Werder’schen Gymnasiums zu Berlin. Berlin 1881, S. 158–193, hier S. 188. – Daß zumal Herder keinen reinen Spinozismus vertritt, sondern eine erhebliche Uminterpretation Spinozas vornimmt, ist in der Forschung Konsens. Vgl. etwa Suphan: Goethe und Spinoza, S. 186 f. sowie Beiser: Fate of Reason, S. 162 f. – Bezüglich der Mendelssohnschen Spinoza-Darstellung äußert sich Jacobi sehr deutlich in seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 290); dort heißt es u. a.: »Nur aus einem solchen platterdings erdichteten – (nicht einmal erschlichenen) Spinozismus, konnte jener Pantheismus von ganz eigener Erfindung geläutert werden«. Vgl. auch JWA 1,1, 304 f. 462 Vgl. Beiser: Fate of Reason, S. 159 u. 163. 463 Vgl. JBW I,3, 281 u. 406. – Zu Herders Kritik an Jacobi vgl. Rudolf Haym: Herder. 2 Bde. Berlin 1954 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1880/85), hier Bd. 2, S. 319. 464 Proß: Das »Notwendige« und das »Überflüssige«, S. 164. – Vgl. zur Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte bei Herder auch Kondylis: Aufklärung, S. 631–635 sowie zu Hamanns Vorläuferschaft in diesem Punkt Beiser: Fate of Reason, S. 21.

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gene – Teilhabe an einem organisch sich entwickelnden und teleologisch gedachten Ganzen von Natur und Geschichte, das schon innerweltlich keinen Tod mehr kennt.465 In diesem organologisch-teleologischen Prozeß ist der Gegensatz von Transzendenz und Immanenz ebenso aufgehoben wie jener zwischen Materie / Körper und Geist: In beiden waltet dieselbe, alles durchdringende Kraft.466 Unsterblichkeit, »Vergeistigung der Materie«467 – ein phantasmatisches Ziel, das einst die mythische Gestalt des Auferstehungsleibs hatte – und Aufgehobensein im Unendlichen sind damit innerweltlich je schon garantiert. Die Erlöser-Figur Christus scheint in diesem System weitgehend überflüssig. Bei Hermann Timm klingt das so: »Die externe Zweckbeziehung der Moral- und Physikotheologie auf die transzendente Synthesis des extramundanen Gottes wird in die Immanenz der ontotheologischen Aseität absorbiert.«468 Tod und Auferstehung – »Dieses: Stirb und werde!«, wie Goethe es formulieren sollte469 – sind nunmehr Teil des Lebensprozesses selbst. In der zweiten Auflage des Spinoza-Buches von 1789 – genauer: in der IV. und V. Beilage – unterzieht Jacobi sowohl Herders Spinoza-Auslegung als auch dessen Verwerfung der Rede von Gott als Person einer scharfen Kritik. Der modifizierte Spinozismus Herders erscheint ihm als vollständig verfehlt und unhaltbar. Dessen Argument nämlich, Spinozas System führe nur aufgrund eines falschen, inkonsequenterweise dem cartesischen Dualismus noch verhafteten Begriffs von Materie bzw. Ausdehnung zu Determinismus und Fatalismus, weist Jacobi als völlige Fehldeutung der Lehre Spinozas zurück. Diese unterschiedliche Sicht Spinozas war bereits im Briefwechsel der Jahre 1784/85 zwischen Herder und Jacobi diskutiert worden;470

465

Vgl. etwa im fünften Gespräch von Herders Gott : »Kein Tod ist in der Schöpfung, sondern Verwandlung« (Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 16, S. 569). – Vgl. auch in den Ideen: »Nehmet die äußere Hülle weg und es ist kein Tod in der Schöpfung; jede Zerstörung ist Uebergang zum höhern Leben« (ebd., Bd. 13, S. 178). 466 Vgl. Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung, Bd. I, S. 111 f. sowie Bd. II, S. 128 f. 467 Kondylis: Aufklärung, S. 622 u. ö. 468 Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 279. – Vgl. auch Schneiders: Aufklärung als memento mori?, S. 86. 469 Die Zeile stammt aus dem Gedicht Selige Sehnsucht (Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. II, S. 19). 470 Vgl. J. G. Herders Briefe vom 6.2.1784 (JBW I,3, 279), vom 20.12.1784 (JBW I,3, 407) und vom 6.6.1785 (JBW I,4, 111 f.) sowie Jacobis Kritik in seinen Briefen an J. G. Herder vom 30.6.1784 (JBW I,3, 328) und an Goethe vom 28.4.–8.5.1784 (JBW I,3, 315). – Angesichts dieser Differenzen erstaunt die Mitteilung Herders am Ende der Beilage zu seinem Brief vom 6.6.1785: »Das System Spinoza’s ist hier im Wesentlichen dargestellt, wie ich’s mir denke.« (JBW I,4, 113.) Vgl. auch im Brief von Goethe vom 9.6.1785: »Darüber sind wir einig und waren es beym ersten Anblicke, daß die Idee die du von der Lehre des Spinoza giebst derienigen die wir davon gefaßt haben um vieles näher rückt als wir nach deinen mündlichen Äusserungen erwarten konnten, und ich glaube wir würden im Gespräch völlig zusammenkommen.« (JBW I,4, 118.)

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V. Natur

in den Werken wurde der Differenzpunkt deutlicher entwickelt und öffentlich gemacht – mit wiederum nachhaltigen Folgen für den Briefwechsel, der lange Zeit nicht fortgesetzt wurde.471 »Den Syncretism des Spinozismus mit dem Deism in Herders Gott«, den Jacobi, wie ihm Kant in seinem Brief vom 30. August 1789 attestiert, »aufs gründlichste wiederlegt« hat,472 verwirft Jacobi schließlich mit dem Argument, daß es kein »Mittelsystem« geben könne »zwischen dem System der Endursachen, und dem System der bloß wirkenden Ursachen«, d. h. zwischen der »vernünftigen Freiheit« und der »Naturnotwendigkeit«.473 Herders Entwurf einer »dynamistisch revidierten Ontotheologie«474 aber war ein ebensolcher – nach Jacobis Vorstellung zum Scheitern verurteilter – Vermittlungsversuch, wie er in seinem Brief an die Fürstin Gallitzin vom 27. Februar 1789 im Ausgang von einer Behauptung Hemsterhuis’ drastisch klarstellt: »Freylich ist der Theismus eines Herders und andrer welche den Spinozismus auf eine ähnliche Weise eingekleidet haben, un Theisme difficile à comprendre. So bald er wirklich verstanden wird, verschwindet der Theismus, und wir haben den klaren Atheismus.«475 Das Festhalten Jacobis an der »innerliche[n] Consistenz der Philosophie« des Spinoza476 zeigt sich ebenfalls in seiner Kritik des Herderschen Gottesbegriffs. Dessen 471

In der Gesamtausgabe von Herders Briefen datiert der (zunächst) letzte Brief Herders an Jacobi vom 7.5.1787. Der nächste – aus Aachen – ist vom 3.7.1792. In der Briefausgabe von Roth ist ein Brief Jacobis an Herder aus dem Juli 1792, ein weiterer vom 31.6.1792 (vermutlich 31.7.) verzeichnet (AB II, 91–94). 472 Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 74; vgl. WW III, 523 (hiernach datiert der Brief vom »October 1789«). So auch Wilhelm von Humboldt in seinem Brief an Jacobi vom 7.2.1789: »Ueber Ihre Widerlegung Herders weiss ich Ihnen fast nichts zu sagen. Denn ich bin völlig Ihrer Meinung. Auch mir kam es immer so vor, als hätte Herder Spinozas System weder, so wie Spinoza es lehrte, noch so wie ers hätte lehren sollen, vorgetragen. Ich sehe so wenig als Sie, ein Mittelsystem zwischen dem System der Endursachen und der wirkenden Ursachen.« (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 6.) – Kondylis spricht von einer »an den Haaren herbeigezogene[n] Interpretation Spinozas« durch Herder (Kondylis: Aufklärung, S. 629). – Anders urteilt der Herder-Kenner Wolfgang Proß: Ihm zufolge ist es im Gegenteil Jacobi, der sich in unüberwindbare Widersprüche verstrickt (vgl. Proß: Das »Notwendige« und das »Überflüssige«, S. 164 f.; dort insbesondere zur Auffassung Gottes als Person). 473 JWA 1,1, 228 u. 230. 474 Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 275. Vgl. auch ebd., S. 277, wo von »prozessuale[r] Vermittlungstheologie« die Rede ist. 475 JWA 1,2, 505; vgl. auch schon den Brief an J. G. Herder vom 30.6.1784 (JBW I,3, 328). – Vgl. auch im Brief Jacobis an I. Kant vom 16.11.1789: »Wirklich ist Herders Gespräch, als philosophische Kritik betrachtet, unter aller Kritik, u. enthält beynah kein wahres Wort.« (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 103; dieser Passus fehlt in der Werkausgabe Jacobis.) – In eine ähnliche Richtung zielen auch andere zeitgenössische Rezensionen (vgl. JWA 1,2, 516 f. sowie Kondylis: Aufklärung, S. 630, Fn. 368). Vgl. zur Kritik an Herder außerdem ebd., S. 622–626 u. 630. 476 Brief an J. G. Herder vom 24.4.1785 (JBW I,4, 89). – Zu Jacobis »Glorifizierung des Maledictus« vgl. auch Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 311 f.

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»dichterische[ ] Philosophie«,477 die Theismus und Spinozismus meint vereinen zu können, bleibt – so Jacobis Vorwurf – auf halbem Wege stehen, indem sie Gott Persönlichkeit ab-, Intelligenz aber zuspricht, denn das schließt sich gemäß Jacobi aus. Etliche Zeitgenossen sollten ihm hierin beipflichten.478 Spinoza erweise sich wieder einmal als der konsequentere Denker, indem er Gott auch Intelligenz abspricht. Jacobi argumentiert hier also mit Spinoza gegen Herder. Seine eigene Position hatte er bereits im Jahr des Erscheinens von Herders Gott in einem Briefwechsel mit Lavater über ebendieses Werk deutlich gemacht. Lavaters Aussage, daß die Personifikation Gottes Produkt des »Kindersinn[s] der Menschheit« sei, hält Jacobi entgegen: »Mir ist Personalität α und ω; und ein lebendiges Wesen ohne Personalität scheint mir das Unsinnigste, was man zu denken vorgeben kann. Seyn, Realität, ich weiß gar nicht, was es ist, wenn es nicht Person ist. Und nun gar Gott! Was für ein Gott wäre das, der nicht zu sich selbst sagen könnte: Ich bin, der ich bin!«479 In seinen späteren Werken verteidigte Jacobi explizit die »anthropomorphistische« Gottesvorstellung.480 Goethe dagegen war ganz auf der Seite Herders und formulierte in den Xenien, an die Adresse Jacobis gerichtet: »Was soll mir euer Hohn / Über das All und Eine? / Der Professor ist eine Person, / Gott ist keine«.481 Für Goethe war das Lessingsche Bekenntnis ähnlich wirkungsvoll wie für Herder, und auch bei ihm fiel die spinozistische Philosophie auf fruchtbaren Boden. Goethes 477

JWA 1,1, 221. So etwa Kant im oben zitierten Brief an Jacobi vom 30.8.1789 (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. XI, S. 74; vgl. WW III, 523); vgl. auch den Brief von J. G. A. Forster vom 16.1.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 245). Letzterer hatte sich schon bezüglich der Mendelssohnschen Variante des Spinozismus in seinem Brief an Soemmerring vom 8.–12.6.1786 entsprechend geäußert: »Gegen Mendelssohn ist’s leicht sich zu rechtfertigen, allein nicht so leicht gegen den gesunden Menschenverstand, der doch durch den gläubigen Spinozismus unwiederbringlich beleidigt wird.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 488.) 479 Brief vom 14.11.1787 (AB II, 436). Vgl. dazu Lavaters Brief an Jacobi vom 5.9.1787 (AB II, 423–429). – Zur späteren Verteidigung dieses Gottesbegriffs vgl. JWA 1,1, 350. 480 Vgl. hierzu die Allwill-Zugabe An Erhardt O**; zu dieser und weiteren Belegstellen zum anthropomorphistischen Gottesbegriff aus späteren Werken Jacobis vgl. Homann: Jacobis Philosophie, S. 169–171 sowie Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 55. 481 Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. I,5i, S. 87. – Vgl. auch in Goethes Ballade Groß ist die Diana der Epheser: »Als gäb’s einen Gott so im Gehirn / Da! hinter des Menschen alberner Stirn, / Der sei viel herrlicher als das Wesen, / An dem wir die Breite der Gottheit lesen.« (Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. I, S. 286.) Die Ballade entstand 1812 als Reaktion auf Jacobis letzte große Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811). – Daß insbesondere »die Rede von Gott als Person« als Hauptdivergenzpunkt auch zwischen Goethe und Jacobi gelten kann, unterstreichen unter anderem Anton: Jacobi und Goethe, S. 149 und Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 49. Zu dieser Frage als Scheidepunkt der Geister sowie Forsters Position hierzu vgl. Klaus-Georg Popp: Bemerkungen zum Briefwechsel zwischen Georg Forster und Friedrich Heinrich Jacobi. In: Hans Werner Seiffert (Hg.): Studien zur neueren deutschen Literatur. Berlin 1964, S.75–94, bes. S. 88–91. 478

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erste Berührung mit Spinoza hatte bereits im Frühjahr 1773 stattgefunden.482 Im Sommer des darauffolgenden Jahres war dann anläßlich seiner ersten Begegnung mit Jacobi in Düsseldorf Spinoza ein herausragender Gesprächsgegenstand.483 Die Faszination, die Spinoza – wenngleich in unterschiedlicher Weise – auf beide ausübte, wurde nicht zuletzt zu einer wichtigen Grundlage ihrer problematischen Freundschaft.484 Darüber hinaus fand die Spinoza-Lektüre auch und gerade in Goethes schriftstellerischem Werk ihren Niederschlag. Schon »Goethes Jugendwerk ist mit der Geschichte des Spinozismus aufs engste verbunden«. Der Prometheus-Dichtung kommt dabei eine besondere Rolle zu: »Goethes Spinozismus gipfelt in der ›Prometheus‹-Dichtung, die die Facette der in der Geschichte realisierten ›Deus-seu-Natura‹Formel in einem für Goethes Jugendwerk repräsentativen Sinn zusammenfaßt«.485 Diese Einschätzung läßt die Kontinuität zum Spinozastreit sinnfällig hervortreten, an dessen Anfang wiederum die Prometheus-Dichtung stand: Die Prometheus-Hymne – die sturm und drängerische Ausdrucksform eines reinen Immanenzmodells – war, folgt man der Jacobischen Berichterstattung, Anlaß für das Bekenntnis Lessings zur Philosophie des Spinoza und fungierte somit – wie Goethe rückblickend in Dichtung und Wahrheit schrieb – als »Zündkraut einer Explosion«.486 Unter äußerlich wie auch innerlich veränderten Bedingungen487 konnte Goethe im Jahre 1784 an seine frühe Spinoza-Rezeption anknüpfen. Auf die schon erwähnte, bloß medial inszenierte, Unterredung mit Lessing und Jacobi folgten im September 1784 in Weimar Gespräche, die wohl auch Spinoza zum Inhalt hatten – diesmal unter Jacobis leibhaftiger Anwesenheit.488 Sowohl für Herder als auch für Goethe waren

482

Vgl. Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 41 f. Vgl. J. W. Goethe: Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 14. Buch. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. X, S. 34–36. 484 Zur Relevanz Spinozas für das Freundschaftsverhältnis zwischen Goethe und Jacobi vgl. Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 41 sowie Anton: Jacobi und Goethe, S. 140. 485 Bollacher: Goethe und Spinoza, S. 237 f. Bollachers nachdrückliches Ziel ist es, bereits den frühen Goethe als Spinozisten auszuweisen. Diesem Ziel wird manche Differenzierung geopfert. Vgl. aber auch Anton: Jacobi und Goethe, S. 144. Zum hier nicht näher thematisierten Spinozismus der Goetheschen Dichtung im allgemeinen vgl. etwa ebd., S. 150. 486 Goethe: Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 15. Buch. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. X, S. 49. Hierzu Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 451. 487 Vgl. Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 44 f. 488 Über den Verlauf der Gespräche ist wenig überliefert (vgl. JWA 1,2, 374). Dennoch hat Suphan für sie den Begriff »Spinoza-Konferenzen« geprägt (Suphan: Goethe und Spinoza, S. 166). Sie fanden wohl in der Zeit zwischen dem 18. und dem 29. September statt (vgl. Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, S. 68). Als weitere Teilnehmer der »Konferenzen« erwähnt Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 307 noch Claudius und Knebel. Vgl. hierzu auch die Briefe Jacobis an A. von Gallitzin vom 11.–12.10.1784 (JBW I,3, 367), an J. G. Hamann vom 18.10.1784 (JBW I,3, 371) und an G. M. Kraus vom 14.9.1788 (Zoeppritz I, 107) sowie Donovan: Der christliche Publizist, S. 30–32. 483

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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diese Gespräche Anlaß zu einer abermaligen und intensivierten Beschäftigung mit Spinoza, in die auch Charlotte von Stein eingebunden war. In ihrem Spinoza-Verständnis stimmten sie dabei – so ihr beiderseitiger Eindruck – vollkommen überein.489 Hatte Herder sein pantheistisches Credo bereits im oben erwähnten Brief an Jacobi vom 6. Februar 1784 formuliert, so erfolgte das Goethesche Glaubensbekenntnis erst wenige Monate vor der Publikation des Spinoza-Buches. Am 9. Juni 1785 schrieb der von Jacobi mehrfach zu einer Stellungnahme gedrängte Goethe an denselben: »Er [= Spinoza] beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen.«490 Sieht man die Menschwerdung Gottes in Christus als das zentrale Moment des Christentums an und sieht man überdies in diesem die Überwindung der Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem, Erde und Himmel, Diesseits und Jenseits, so kann auch die spinozistische oder pantheistische Gleichsetzung von Natur und Gott als die grundlegende Botschaft des Christentums ausdrückend und vollziehend angesehen werden.491 Das Göttliche ist dann – mit Goethe – »in herbis et lapidibus« zu suchen.492 Spinozas Ethik, in deren Naturvorstellung Goethe sich wiederfinden zu können meinte,493 sowie insbesondere die 489

Vgl. den Brief von J. G. Herder vom 20.12.1784 (JBW I,3, 407). – Vgl. für Goethe seinen Brief an Jacobi vom 12.1.1785 (JBW I,4, 18). Vgl. auch Suphan: Goethe und Spinoza, S. 190 sowie Wyder: Goethes Naturmodell, S. 152 f., die allerdings auch auf mögliche Differenzen hinweist. – Zur Rolle Charlotte von Steins vgl. den Brief Goethes vom 12.11.1784 (JBW I,3, 383) sowie Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 307 f. und Nicolai: Goethe und Jacobi, S. 157 f. u. 311. 490 JBW I,4, 118. – Vgl. zur Deutung dieser Stelle Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 48 f. sowie ders.: Goethe und Jacobi, S. 161 f., wo allerdings – wie so oft in der Goethe-Philologie – vieles Zeittypische als Spezifikum Goethes dargestellt ist. Vgl. auch Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Düsseldorf als Zentrum von Wirtschaftsreform, Literatur und Philosophie im 18. Jahrhundert. Düsseldorf 1985, S. 90 (Nr. 8.40). Vgl. auch ebd., S. 89 (Nr. 8.37 und 8.38), wo von der christlich-kabbalistischen Tradition die Rede ist, in die Goethe sich stellt. 491 Vgl. hierzu T. Wizenmann in seinem Brief an Jacobi vom 9.11.1783: »Der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen bleibt den Philosophen unbegreiflich – aber siehe, der Mittelpunkt des Menschengeschlechts ist der Sohn Gottes, in dem das Endliche im Unendlichen haftet.« (JBW I,3, 249.) Ähnlich Jacobi in seinem Brief an J. G. Jacobi vom 22.12.1784: »Aber das ist mir seit ganz kurzem erst auffallend geworden, daß alle die Gott mit Ernst gesucht haben, im Grunde einen Xstus suchten, ein nahes u festes Band des niedrigsten u Höchsten.« (JBW I,4, 372.) – Vgl. auch Timm bezüglich der an Lessing anknüpfenden Position Herders: »Es sei ›jeder Übergang des Unendlichen zu Endlichen‹ aufzuheben. Nach diesem ›Geist‹ ist Herders ›Gott‹ konstruiert.« (Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 323.) 492 Brief von Goethe vom 9.6.1785 (JBW I,4, 119). – Vgl. auch in Goethes Brief vom 5.5.1786: »Dagegen hat dich aber auch Gott mit der Metaphisick gestraft und dir einen Pfal ins Fleisch gesezt, mich dagegen mit der Phisick geseegnet, damit mir es im Anschauen seiner Wercke wohl werde […] Wenn du sagst man könne an Gott nur glauben […] so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen« (JBW I,5, 196). 493 Vgl. hierzu im Brief Goethes vom 21.10.1785: »Du weißt daß ich über die Sache selbst nicht deiner Meinung bin. Daß mir Spinozismus und Atheismus zweyerley ist. Daß ich den Spinoza wenn

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V. Natur

»Amor Dei intellectualis«-Konzeption Spinozas wiesen ihm hier den Weg. Danach erkennt und liebt der Mensch Gott durch die Erkenntnis der Einzeldinge, und in dieser intellektuellen Liebe des Menschen zu Gott liebt Gott sich zugleich selbst.494 Naturforschung wird auf diese Weise – wie auch bei Herder495 – zum Gottesdienst, und Goethe hat sie in der Tat so betrieben. Schon durch seine Tätigkeit am Weimarer Hof mit Bergbau, Forstwirtschaft und Gartenbau zwangsläufig beschäftigt, wandte er sich in dieser frühen Phase bereits intensiv dem Studium von Mineralogie und Geologie, darüber hinaus aber auch der Osteologie und Anatomie zu. 1790 erschien Die Metamorphose der Pflanzen, die Ausarbeitung der Schriften zur Morphologie der Tiere fiel in die erste Hälfte der 1790er Jahre. Später dehnte sich sein Interesse auf die Bereiche Optik, Akustik, Chemie und Metereologie aus. In den Briefen Goethes an Jacobi zeigen sich die Spuren jener Naturforschungen.496 Goethes Naturstudien waren von dem Leitgedanken getragen, im Einzelding das Wesen, das allgemeine Gesetz, den Urtypus aufzuspüren.497 »In den Gesetzen aber […], nach denen die Natur schafft, in den Urbildern, die sich gesetzmäßig entfalten und abwandeln, findet Goethe die vestigia dei, hier manifestiert sich für ihn das Wirken der Gottheit. […] Das ›Urphänomen‹ ist die sinnlich faßbare Erscheinungsform des Gesetzlichen, damit der Punkt an dem sich für Goethe die Gottheit zu erkennen gibt. So führt die Beobachtung der ›Urphänomene‹ auf die religiöse Frage zurück. Alle Naturforschung Goethes hat letztlich weltanschaulich-religiösen Sinn.«498

ich ihn lese mir nur aus sich selbst erklären kann, und daß ich, ohne seine Vorstellungs art von Natur selbst zu haben, doch wenn die Rede wäre ein Buch anzugeben, das unter allen die ich kenne, am meisten mit der meinigen übereinkommt, die Ethik nennen müsste.« (JBW I,4, 213.) 494 Vgl. Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Lat. u. dt. Übers. v. Jakob Stern. Stuttgart 1977, S. 667–687 (= Teil V, vor allem Lehrsätze 24, 32, 33, 35, 36 u. 37). 495 Vgl. Suphan: Goethe und Spinoza, S. 191: »Den Forscher, der Gesetze der Organisation auffinde, hatte der Theophron der Gott-Gespräche […] gepriesen als Beförderer der schönsten Gottesverehrung.« 496 Vgl. etwa Goethes Briefe vom 12.1.1785 (JBW I,4 17 f.), vom 1.6.1791 (Goethe: Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. IV,9, S. 269 f.) und vom 2.5.1793 (ebd., Bd. IV,10, S. 57). 497 Vgl. den Brief von Goethe an Jacobi vom 9.6.1785: »Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne« (JBW I,4, 118). 498 Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 51 f. – Vgl. auch Suphan: Goethe und Spinoza, S. 180 sowie Wyder: Goethes Naturmodell, S. 14; dort auch S. 196 genauer zur »Urpflanze«, die als das »ideelle Urbild aller Pflanzen« gedacht ist. Vgl. zum anatomischen Typus, dem Pendant im Tierreich, ebd., S. 229. Grundsätzlich zu Goethes zentralen, aufeinander bezogenen Begriffen »Typus« und »Metamorphose« ebd., S. 228–257, bes. S. 240.

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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Seine an Spinozas »Scientia intuitiva« orientierte Methode des »anschaulichen Denkens«499 ermöglicht die im Gottesdienst zu leistende Huldigung Gottes. Christoph Wulf zufolge ist »das Ziel des anschauenden Denkens [dabei nicht; C.G.] die Gewinnung eines Standpunktes, von dem aus die Naturphänomene in objektiver Distanz zu beschreiben und zu vermessen sind. Vielmehr gilt es, sich ›lebendig und bildsam‹ wie die Natur zu verhalten, mit den Augen ihrem Wachsen und Gestalten zu folgen und sich in ›nachschaffender Bildsamkeit‹ zu üben. Goethe zielt nicht auf die Entwicklung logischer Korrelationen zwischen den Dingen; ihm geht es um die kreative Nachschöpfung des Entstehungsprozesses, z. B. der Pflanzen.«500 Wulf interpretiert die Goethesche Art der Naturforschung als eine »Erforschung der Natur ohne ihre Unterwerfung«. »Das mimetische Denken Goethes hatte gegen die Verdinglichung und Objektivierung der Welt im Namen von Anschauung und lebendiger Erfahrung Einspruch erhoben.«501 Diese Lesart, die sich auch aus Goethes heftiger Polemik gegen das mechanistische Naturverständnis Newtons speist, kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon Rudolf Steiner, Carl Friedrich von Weizsäcker und Adolf Muschg sahen in dem Goetheschen Modell »einen Gegenentwurf zur herrschenden positivistischen Naturwissenschaft«.502 Auch Gernot Böhme sieht in Goethes Art der Naturforschung das Modell für eine heute zu entwerfende alternative Form von Wissenschaft.503 Gemeinsam ist diesen Positionen »eine dezi-

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Vgl. den Brief von Goethe vom 5.5.1786 (JBW I,5, 196) sowie Nicolai: Goethe – Spinoza – Jacobi, S. 50 f. Zum zentralen Begriff der »Anschauung« bei Goethe vgl. etwa Wyder: Goethes Naturmodell, S. 16: »Die Anschauung sollte demnach als Erkenntnisverfahren zwischen Deduktion und Induktion – oder in Goethes Begrifflichkeit: zwischen Idee und Erfahrung – vermittelnd wirken.« Vgl. zur Vermittlung von Idee und Erfahrung unter dem Einfluß Schillers auch ebd., S. 231. 500 Christoph Wulf: Auge. In: Ders.: Vom Menschen, S. 446–458, hier S. 454. 501 Ebd., S. 455. 502 Wyder: Goethes Naturmodell, S. 309; vgl. auch S. 2, wo Wyder die Ahnherrschaft Goethes für die New Age- und Ökologie-Bewegung thematisiert. Alfred Schmidt bezieht sich dagegen vor allem auf Ernst Bloch (vgl. Schmidt: Goethes Natur, S. 17–19). Vgl. auch Georg Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart 1989 (= Vorlesungen und Schriften / Georg Picht), S. 148 f.; vgl. auch S. 38 u. 43–45. – Zur diesbetreffenden Rezeption der Goetheschen Naturforschung vgl. den Artikel »Naturwissenschaften« im Goethe Handbuch (Bernd Witte u. a. [Hg.]: Goethe Handbuch in vier Bänden. Stuttgart u. a. 1996–1999, hier Bd. 4/2, S. 781–797, bes. S. 795 f.) – 503 Vgl. Gernot Böhme: Ist Goethes Farbenlehre Wissenschaft? In: Ders.: Alternativen der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1980, S. 123–153 sowie Manon Andreas-Grisebach: Idee plus Erfahrung. Goethes Begründung eines neuen Typs von Naturwissenschaft. In: Michael Hauskeller (Hg.): Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme. Frankfurt a. M. 1998, S. 227–237.

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dierte Kritik an […] [der] mechanistisch aufgefassten, reduktionistisch erklärten und technomorph vorgestellten Natur der europäischen Neuzeit«.504 Doch könnte man den nicht zu leugnenden Abstand zwischen moderner Naturwissenschaft und Goethescher Naturforschung505 geschichtsphilosophisch nicht auch anders denken? Die Verbindung von Religiosität und Naturwissenschaft, wie sie sich bei Goethe – und schließlich in der romantischen Naturphilosophie – findet, kann rückblickend ebenso als eine notwendige Übergangsform erscheinen, in der das Neue als in den alten Mantel gehüllt sich präsentiert, um – desto ungehinderter – seinen Siegeszug antreten zu können. So gesehen wäre sie eine entscheidende Stufe in der Durchsetzung des modernen naturwissenschaftlichen Denkens, in dem Gott keine Rolle mehr spielt, wohl aber grundlegende Motive der christlichen Heilslehre in einem immanenten Modell weiterleben: Nicht mehr Christus ist es, der den Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, der die Unsterblichkeit selber garantieren oder herbeiführen soll, sondern die moderne Naturwissenschaft und Technik. Spinoza und dem sich auf ihn berufenden Pantheismus scheint in dem gewiß langfristigen und multifaktoriellen Wandlungsprozeß eine wesentliche ideen- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung zuzukommen: Der kosmische Gott Spinozas war geeignet, die Religion der (Natur-)Wissenschaft selbst zu werden.506 Angesichts dessen liest sich Herders Widmung in jenem Exemplar der Ethik Spinozas, das er Charlotte von Stein zu ihrem Geburtstag, dem ersten Weihnachtstag, übersandte, wie eine sprach-

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Thomas Gil u. Joachim Wilke: »Natur« im Umbruch. Zur Einführung. In: Bien / Gil / Wilke: »Natur« im Umbruch, S. 11–21, hier S. 12. Man vergleiche hierzu etwa auch die Einleitung von Karen Gloy im ersten Band ihres zweibändigen Werkes Das Verständnis der Natur, dessen zweiter Band Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens zum Gegenstand hat. Hierin wird eine »organisch-lebensweltliche Naturauffassung« einer »mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen bzw. technologischen« (S. 9) gegenübergestellt. Erstere sieht die Natur »als organisches Ganzes, als lebendigen Organismus« (S. 17). Ihr korrespondiere ein schonender Umgang mit und ein partnerschaftliches Verhältnis zur Natur. Dagegen wird innerhalb des letzteren Natur zum »Objekt eines beschreibenden, analysierenden und sezierenden Subjekts« (S. 9 f.), Subjekt und Objekt sind gespalten; die Natur tritt dem Menschen als »Anderes, Fremdes, Differentes« (S. 18) entgegen. In ihrer Darstellung der ganzheitlichen Sicht der Natur verschwindet der Naturforscher Goethe allerdings weitgehend hinter Schelling, Novalis und Hölderlin. 505 Einen guten Überblick geben die Artikel »Gesetz«, »Naturwissenschaften« und »Phänomen« im Goethe Handbuch (Witte: Goethe Handbuch, Bd. 4/1, S. 375–377, Bd. 4/2, S. 781–797 und 844– 847). 506 Vgl. hierzu Beiser: Fate of Reason, S. 60: »Of course, Spinoza’s rationalism, and in particular his use of the geometric method in metaphysics, had been largely discredited by the 1780s, and no one was so naive as to believe in its infallibility. But it was more the content of Spinoza’s system (its naturalism) than its form (its geometric method) that commanded the respect of the eighteenth century. The belief in Spinoza’s cosmic God seemed to be the religion of science itself.« – Vgl. auch Burkhard Gladigow: Pantheismus und Naturmystik. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 119–143, hier S. 142 f.

4. Die »unheilige« Natur: Natur als kausalmechanischer Zusammenhang

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liche Verdichtung des wesentlichen Schrittes in die neue Richtung: »und Spinoza sei euch immer der heilige Christ«.507 Vor diesem Hintergrund erscheint es mir fraglich, ob Goethes Naturforschung, die in der Tat einem kritischen Impetus gegen eine bloß analytisch und quantitativ verfahrende Wissenschaft entsprang, als Modell einer alternativen Form von Wissenschaft fungieren kann. Denn sie hat – gemeinsam selbstverständlich mit der romantischen Naturphilosophie – der modernen Naturwissenschaft durch die Gleichsetzung von Gott und Natur einen entscheidenden Antrieb gegeben. Hiermit verknüpft war eine Wendung zur Objektivität, zur naturwissenschaftlichen Forschung, die Goethe und Herder – von der Subjektzentriertheit des Sturm und Drang her kommend – als neuen Weg beschritten.508 Diese Wende gibt sich bescheiden, entsagend, passiv, anschauend. Die phänomenologische Methode scheint allem Herrschaftswillen abhold. Doch steckt nicht – sicher nicht im Sinne einer bewußten Intentionalität – in dem Modell eines Nachschaffens der Natur letztlich derselbe Geist der Bemächtigung? Und ist nicht gerade das Modell einer »kreative[n] Nachschöpfung des Entstehungsprozesses«, von der Wulf spricht, Ausdruck der Hybris menschlicher Schöpferkraft, der prometheischen Selbstermächtigung? Goethe hat sich in Schillers Charakteristik seiner Naturforschung wiedergefunden: »Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt für Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen.«509 Schafft dies nicht allererst die Voraussetzung dafür, nun auch im Bereich der Natur – wie ehedem im Bereich der Kunst – zum Schöpfer, zum »alter deus«, zu werden – und auch zu einem Menschenschöpfer? »Die Natur ist jeweils das Gesetz, nach dem ein einzelnes Seiendes wird und vergeht, sich ausformt, zum Wesen wird und wieder ver-west. Dieses Gesetz kann man aber prinzipiell jeweils erkennen. Und hat man es erkannt, so hat man das, was nach diesem Gesetz wird, in der Hand. Man beherrscht es.«510 Einsicht in den Bildungsgang der Natur ist letztlich Voraussetzung für deren Manipulation, auch wenn Dichter und Philosophen sich ihrer enthalten.511 507

Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 29, S. 697. – Zu Herders Verbindung von Christentum und Spinozismus vgl. auch Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, bes. S. 286–288 u. 305. 508 Vgl. ebd., S. 285, 288 u. 312 f. sowie Beiser: Fate of Reason, S. 160 und Schmidt: Goethes Natur, S. 84. 509 Brief Schillers an Goethe vom 23.8.1794 (Schiller: Werke. Nationalausgabe, Bd. 27, S. 25). 510 Bernhard Casper: Zur Bedeutung und zum Gebrauch des Wortes Natur im abendländischen Denken. In: Böckle: Der umstrittene Naturbegriff, S. 31–44, hier S. 36. – Vgl. hierzu auch Classens Hinweis auf den gleichen ethymologischen Ursprung von »zeugen« und »erkennen« (Classen: Geschichte des Wortes Natur, S. 7, Fn.). 511 Vgl. hierzu auch Grams’ Analyse des Naturverständnisses von Karl Philipp Moritz, in welcher die Berührungspunkte mit Goethes Naturauffassung hervorgehoben werden (Grams: Karl

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5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung: Deus sive ego oder Was zählt, ist einzig »unser wunderbares Ich« 512 Der Prozeß der Sakralisierung der Natur im 18. Jahrhundert verlief so von der Physikotheologie über die vor allem mit dem Namen Rousseaus verknüpfte empfindsame Naturverherrlichung, in welcher die Wende zum Subjekt ihre stärkste Ausprägung erfuhr, bis hin zum Pantheismus, der in der romantischen Naturphilosophie, insbesondere bei Schelling, seine volle Ausgestaltung finden sollte.513 Der Einsatz dieser Entwicklung in der Physikotheologie ist dabei m. E. zu einseitig begriffen, wenn man ihn – beispielsweise mit Groh / Groh – als Reaktion auf den drohenden Verlust Gottes in der neuzeitlichen Naturwissenschaft, mithin als bloß nachträgliches Rettungsmanöver, sieht.514 Gewiß, dies war oftmals das explizit proklamierte, polemische Philipp Moritz, S. 35). Auch Moritz wurde von der Forschung ein pantheistisches Naturverhältnis und eine alternative, ganzheitliche Naturauffassung zugeschrieben (ebd., S. 38). Auch er läßt sich historisch in die Suche nach »Gegenmodelle[n] zum instrumentellen Naturverständnis und zur Beherrschung innerer wie äußerer Natur« (ebd., S. 17) einreihen. Auch bei ihm ist ein Interesse am »Entwurf ganzheitlicher Naturvorstellungen« (ebd., S. 237) nachweisbar. Doch die abschließende Einordnung bereitet Grams dann Schwierigkeiten und deutet vielleicht am besten auf die Unmöglichkeit einer Alternative hin (ebd., S. 264 ff.): Letztlich siedelt er Moritz’ Konzeption an »zwischen Mimesis und Beherrschung« (ebd., S. 267). 512 Jacobi: Ein Stück Philosophie, S. 409; vgl. JWA 7,1, 178 f. 513 Zu den Vorbereitern und dem Beginn der »deutschen romantischen Naturphilosophie, der in historischer Perspektive auch Goethe zuzurechnen ist«, vgl. Wyder: Goethes Naturmodell, S. 214. Die »Initialzündung« datiert sie hier auf das Jahr 1793. Zu den Differenzen zwischen (dem empirisch ausgerichteten) Goethe und der (spekulativen) Naturphilosophie vgl. ebd., S. 224 u. 238. Vgl. auch Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 29 f. 514 Besonders explizit ist dieses (wenn nicht Kompensations-, so doch immerhin reine Reaktions-)Modell in Groh / Groh: Bergen, S. 114: »Die Physikotheologen wollten der Etablierung eines mechanistischen Weltbildes, den Entzweiungstendenzen der objektivierenden Naturwissenschaften entgegenwirken. Ihr großes Harmonisierungsprogramm zur Rettung der alten Einheit eines christlich-platonisch verstandenen Kosmos war die Antwort auf den Schock der Kopernikanischen Wende.« Vgl. auch Hacker: Ordnungsutopien, S. 14 und Begemann: Furcht und Angst, S. 110. Anders klingt dies andeutungsweise bei Groh / Groh: Bergen, S. 129 f. – Gegen die Nachträglichkeit der Übertragung des Unendlichkeitsbegriffs spricht m. E. zudem, daß Unendlichkeit bereits vor der Entdeckung kosmischer Unendlichkeit Gott als Prädikat zukam. Mit der Behauptung eines unendlichen Raumes wäre damit per se schon der Welt ein göttliches Attribut zugeschrieben. Anders gewendet: Die Entdeckung selbst war zwangsläufig schon die Entdeckung einer bisher Gott vorbehaltenen Qualität an der Welt. Dies gilt sowohl für die räumliche als auch für die zeitliche Unendlichkeit (vgl. zu letzterem Nicolson: Mountain Gloom, S. 250–253). Eine nachträgliche, kompensatorische Übertragung war gar nicht mehr vonnöten. – Vgl. in diesem Sinne auch Kaiser in seiner Kritik Blumenbergs: »[…] man denke etwa an das weite Feld der Physiko-Theologie im 18. Jahrhundert, der übrigens die Unendlichkeit des Raumes keineswegs, wie Blumenberg für Newton nachzuweisen versucht […], eine Verlegenheit ist, die mit einer unverbindlichen theologischen Metaphorik zugedeckt werden müßte, sondern willkommenes Gleichnis für die Unendlichkeit Gottes.« (Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S. XXXI.)

5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung

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Interesse physikotheologischer Werke.515 Doch einem ausschließlich reaktiven Modell steht nicht nur die Tatsache entgegen, daß beispielsweise Newton in seiner Optik eindeutig ein physikotheologisches Glaubensbekenntnis ablegte.516 Dies ließe sich möglicherweise noch – wie man im Falle Descartes’ optiert hat – als bloßes Lippenbekenntnis abtun.517 Schwerer wiegt m. E. das Faktum, daß die Physikotheologen selber begeisterte Anhänger der neuen, naturwissenschaftlichen Betrachtung waren. Nicht nur die ästhetische Naturwahrnehmung, auch die wissenschaftliche Naturerkenntnis galt ihnen als Gotteserkenntnis und Gottesdienst: »Seziermesser, Mikroskopen und Teleskopen werden als Instrumente der Offenbarung Gottes gerühmt, die die Herrlichkeit und innere Zweckmäßigkeit aller Kreaturen (nicht nur der lebendigen Wesen, wie der Tiere, sondern auch der physischen und kosmischen Phänomene, wie Ebbe, Flut, Sturm, Wind, Licht, Sternenbewegungen usw.) hervorleuchten lassen, und damit die fortdauernde schöpferische Wirkung Gottes in der Natur bestätigen.«518 Nicht also bloß Natur, sondern Natur-Wissenschaft wurde zum Ort einer anderen Offenbarung, die (zunächst) neben die Offenbarung der Schrift trat. Denn die aus dem physikotheologischen Naturbild – Natur als Werk Gottes – resultierende Überzeugung, daß die Natur Gott offenbart, konnte unmittelbar kurzgeschlossen werden mit der Auffassung von Naturerkenntnis als Gottesdienst. Die Physikotheologen trugen so entscheidend zur »Popularisierung wissenschaftlicher Kenntnisse« und zur »Entzauberung der noch magisch bestimmten vormodernen Welt« bei.519 Kondylis’ Einsicht, »daß die Aufwertung der Natur als Demonstrationsobjekt für die Manifestationen Gottes letztlich auf ihre Autonomisierung hinauslief und die Physikotheologie damit für ihren Gegner, den Materialismus, die ›Rolle eines nützlichen Idioten‹ gespielt habe«,520 ist also möglicherweise noch zu kurz gegriffen. In jedem 515

Für das Beispiel Wieland vgl. Hacker: Ordnungsutopien, S. 14 f. Vgl. ebd., S. 14. 517 Dies ist vermutlich eine anachronistische Sichtweise. Vgl. dagegen die Charakteristik von G. Wieland, der im Hinblick auf die »Mathematisierung und Geometrisierung der Natur, wie sie […] im späten Mittelalter und in der Neuzeit (bei Galilei, Descartes und Hobbes) entwickelt wurde«, konstatiert, daß in ihrem Rahmen »Natur nicht ein ›von sich aus Seiendes‹, sondern Artefakt eines die Natur ins Werk setzenden Gottes ist, und folglich wird in dieser Perspektive wissenschaftliche Naturerkenntnis Rekonstruktion einer (im göttlichen Wissen realisierten) rationalen Ordnung der Natur« (G. Wieland: Skizze des Projekts »Mensch und Natur. Zu den anthropologischen Voraussetzungen des Mensch-Natur-Verhältnisses«. In: Fritz Thyssen Stiftung. Jahresbericht 2000/2001, S. 14). 518 Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 262 f. – Vgl. auch Udo Krolzik: Der Gedanke der Perfektibilität von Natur. In: Bubner / Gladigow / Haug: Trennung von Natur und Geist, S. 145–159, hier S. 153–155. Krolzik geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er argumentiert, daß für die Physikotheologen nicht nur Naturerkenntnis, sondern auch »Naturnutzung und -gestaltung« Gottesdienst war. Vgl. auch Schneider: Naturerfahrung und Idylle, S. 300. 519 Groh / Groh: Bergen, S. 116. 520 Hacker: Ordnungsutopien, S. 17 sowie Kondylis: Aufklärung, S. 243. – Ebenso auch Becker: 516

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Fall aber ist sie aus der Perspektive der nachfolgenden Entwicklung im Sinne der Formel des Goetheschen Zauberlehrlings zutreffend. Das von Marjorie H. Nicolson en détail nachgezeichnete Schicksal von Thomas Burnet kann hierbei als repräsentatives Beispiel dienen: Sein Programm, die Erkenntnisse der neuen Naturwissenschaft, die er enthusiastisch begrüßte, mit den alten theologischen Positionen zu verbinden, erwies sich als zum Scheitern verurteilt.521 Die Heilige Theorie der Erde lief in letzter Konsequenz auf eine Heiligung des Irdischen hinaus – etwa in derselben Weise, wie das Konzept einer »Heiligen Poesie« in eine geheiligte poiesis mündete.522 Im Rahmen ästhetischer Naturbetrachtung entwickelte sich parallel – und mit dem dargestellten Prozeß eng verknüpft – eine auf vielfältigen Ebenen sich manifestierende Wende zum Subjekt, die zugleich eine Wende zum gestaltenden Menschen ist.523 Für den theoretischen Bereich ist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Bedeutung wirkungsästhetischer Aspekte zu verweisen, die in Empfindsamkeit und Sturm und Drang ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichen sollte.524 Im Zuge dieses »epochalen kunsttheoretischen Paradigmenwechsel[s]«525 wird eine »objektive« von einer »subjektiven Ästhetik« abgelöst.526 »Die brennende Frage für sie [= die Naturenthusiasten] war weniger: was ist das Schöne? als: was bewirkt das Schöne in mir? Diese Ausrichtung auf die emotionale Wirkung […] ist gerade ein Charakteristikum empfindsamer Theorie und empfindsamer Ästhetik.«527 Die Effekte der Tendenz, das Subjekt zum Maßstab und Ziel zu erheben, waren weitreichend. Die Natur – als Landschaft – wurde in der Literatur zunehmend Ausdruck und Spiegel Divinization of Nature, S. 51 u. 56. Für die Deisten formuliert er diese, den artikulierten Überzeugungen davonlaufende Eigendynamik folgendermaßen: »Despite all counterclaims by the deists themselves, it seems safe to say that they in fact greatly contributed to nature’s taking over the place vacated by God and acquiring the divine predicates for herself.« (Ebd., S. 58.) 521 Vgl. Nicolson: Mountain gloom, S. 188, 195 f. u. 238 f.: »By the end of the [17th] century, the man who had sincerely tried to combine Genesis and geology into a new Revelation found himself hailed as a master by the freethinkers damned by the orthodox, and out of favor with the Church and with royalty.« (Ebd., S. 238.) 522 Vgl. hierzu das Kapitel I.3.4 in dieser Arbeit. 523 Diese Wende ließe sich auch für die Ethik darstellen. Vgl. etwa Christian Wolffs innerweltliche Begründung ethischer Normen durch Berufung auf Natur und Vernunft (Christian Schröer: Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant. Stuttgart u. a. 1988 [= Münchener philosophische Studien; N. F. Bd. 3], bes. S. 213; vgl. auch S. 142–146 u. 155). 524 Vgl. etwa Zelle: Schönheit und Erhabenheit. – Vgl. zu dieser Wende innerhalb der Ästhetik auch Nicolson: Mountain Gloom, S. 222. 525 Begemann: Furcht und Angst, S. 101. 526 Michael Albrecht: Descartes, Hutcheson, Hume, Kant und andere Ästhetiker. Historische Erkundungen der subjektiven und relativistischen Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Angela Giebmeyer u. Helga Schnabel-Schüle (Hg.): »Das Wichtigste ist der Mensch«. Festschrift für Klaus Gerteis zum 60. Geburtstag. Mainz 2000 (= Trierer Historische Forschungen; Bd. 41), S. 3–20. 527 Wagner: Gärten und Utopien, S. 52.

5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung

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des Subjekts selbst: Sie geriet zur Seelenlandschaft und war als solche instrumentalisiert. In der Ästhetik des Erhabenen kommt es zu einer Verschiebung des Wirkungsaspektes: Das Subjekt nimmt – in der Nachfolge neuplatonisch-mystischer Vereinigungs- und Transzendierungserlebnisse – göttliche Qualitäten an bzw. setzt seine gottgleiche Autonomie gegen die endlich-vergängliche, todesbedrohte und lebensbedrohende Natur. In beiden Varianten tritt das Subjekt an die Stelle Gottes. Von Zedlers Lexikoneintrag »Erhaben, nennet sich der große GOtt« bis zu Kants »Umkehrung des Sachverhalts« ist philosophisch ein langer, zeitlich aber nur ein kurzer Weg.528 Auch die ästhetische Naturbetrachtung enthielt somit ihre eigene Dynamik: Die Anbetung Gottes in der Natur entpuppte sich – dies darf man durchaus buchstäblich im Sinne einer Metamorphose verstehen – als Selbstvergottung des Menschen. Damit hätten wir es mit einem Vehikel zu tun, das dem Trojanischen Pferd nicht unähnlich ist.529 In der neuzeitlichen Naturwissenschaft – und eben auch in der Genieästhetik, die unter diesem Aspekt keineswegs bloß kompensatorisch zu sehen ist! – wurde der Mensch selbst zum Schöpfer. Den letzten Schritt zur Verdiesseitigung der Gottesposition wurde dann im Pantheismus vollzogen: Gott war nicht mehr, wie noch in der Physikotheologie, transzendenter Schöpfer der Welt / Natur und diese seine Offenbarung, sondern Gott selbst wurde identisch mit der Natur, ging in dieser restlos auf, wurde in die Immanenz vollständig absorbiert.530 Aller berechtigten Kritik an Herders Hang zu ungenauen, widersprüchlichen Darstellungen zum Trotz hat er mit seiner – an Hamann anschließenden – Formel, daß Gott sich in Natur und Geschichte offenbare, die Leitlinie des 19. Jahrhunderts vorweggenommen.531 Natur und Geschichte bildeten seit dem 18. Jahrhundert über die (wiederbelebten) Konzepte einer »great chain of being« (Lovejoy) und einer ›great chain of mankind‹ zentrale Formen innerweltlicher Totalität. Insofern ist m. E. auch die pantheistische Naturphilosophie zu einseitig betrachtet, wenn man sie ausschließlich – nach der bekundeten Intention ihrer Protagonisten – auffaßt als ganzheitliche Gegenbewegung zur mechanistischen Naturwissenschaft oder auch als – letztlich fehlgeschlage528

Zelle: Einleitung, S. 17. Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit. Tübingen 1987, S. 22. 530 Vgl. hierzu Lorenz Oken, einer der führenden Vertreter der romantischen Naturphilosophie: »Die Naturphilosophie ist die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes in die Welt.« (Zit. nach Wyder: Goethes Naturmodell, S. 216.) – Vgl. auch Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 25: »Sie [= die spinozistisch aufgefaßte Natur] offenbart nicht einen sie schaffenden und in ihr handelnden Gott, sondern ihre eigene Göttlichkeit.« 531 Den »höchst zukunftsreiche[n]« Charakter der Herderschen Konzeption betont auch Kondylis: Aufklärung, S. 636; Herders herausragende Rolle unterstreicht Timm: Gott und die Freiheit, Bd. 1, S. 305. Herder griff viele Gedanken von Hamann auf, die er dann zum einen popularisierte, zum anderen in einer deutlich säkularen Variante faßte. Dies gilt etwa auch für Hamanns Aussage: 529

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V. Natur

nen – Versuch, dem drohenden Auseinanderbrechen von Philosophie und (Natur-)Wissenschaft zu begegnen.532 Ineins hiermit nämlich geht die pantheistische Naturphilosophie einen entscheidenden Schritt weiter in dieselbe Richtung und ist mit ihrer radikalen Verdiesseitigung Gottes Voraussetzung für den Siegeszug einer sich selbst als heilbringend gerierenden Naturwissenschaft und Technik, wie sie sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickeln und durchsetzen sollte. Auch der Organismus-Begriff und das Modell des Nachschaffens der Natur wurden schließlich in die Modelle wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung integriert und erweiterten so auf produktive Weise – und wider die Intention ihrer Urheber – die Möglichkeiten der Erfassung, Durchdringung und Beherrschung der Natur. In diesem Sinne ließe sich Kondylis’ These vom »nützlichen Idioten« gleichfalls auf die spekulative Naturphilosophie übertragen. Damit wäre sie kein bloßes »totes Gleis«,533 sondern diese Sicht als »totes Gleis« erwiese sich nur als Resultat jener Verdeckung des Begehrens, die Rationalität – und mithin Normalität – strukturell kennzeichnet.534 Jacobi scheint in diesem Prozeß, dem Ausmaße seines eigenen Immanenzstrebens sich selbst kaum bewußt, auf halbem Wege stehengeblieben zu sein. Er begleitete seine Zeitgenossen ein gewaltiges Stück, dessen transzendenzvernichtende Implikationen – aufgrund der Fixierung auf die Oberfläche seiner Transzendenzverteidigung – m. E. bisher zu wenig gesehen wurden. Vor dem letzten Schritt aber schreckte Jacobi zurück: visionär – im Sinne Wilhelm Buschs – auf das Ende sehend, das dann in der Tat auch so erfolgte.535 Zur in der Forschungsliteratur beschworenen Vieldeutigkeit des Jacobischen Naturbegriffs536 bleibt zu bemerken, daß sie keinesfalls im Sinne einer unüberblickbaren »Natur und Geschichte sind daher die 2 grossen Commentarii des Göttlichen Wortes und dies hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen.« (Johann Georg Hamann: Brocken. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Josef Nadler. 6 Bde. Wien 1949–1957, Bd. I, S. 298–309, hier S. 303.) 532 Zu letzterem vgl. Homann: Jacobis Philosophie, S. 144. In diesem Sinne auch Burkhard Gladigow: Pantheismus und Naturmystik, S. 120 f. 533 Homanns Diskussionsbeitrag zu Olivetti in Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi (1971), S. 116. 534 Vgl. hierzu Heinz: Programmatischer Vorschlag, S. 11 f. 535 Vgl. hierzu Jacobi an Fichte; JWA 2,1, vor allem 202 u. 220. – Zu Schellings Vorwurf der »Consequenzmacherey« vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen ec. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus. In: PLS 3.1, 242–314, hier 251, vgl. auch 312. Vgl. hierzu auch Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 273. – Die historisch-faktische Bestätigung Jacobis betonen etwa Scholz: Hauptschriften zum Pantheismusstreit, S. CXI, Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 32 und Jaeschke: Philosophische Theologie, S. 318. 536 Vgl. etwa Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 260 u. 280 sowie Homann in seinem Diskussionsbeitrag zu Olivetti (Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 116).

5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung

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Vielfalt oder gar Widersprüchlichkeit – und in weiten Teilen auch nicht, wie Verra es tendenziell darstellt, als eine Besonderheit Jacobis537 – ausgesagt werden kann. Vielmehr situieren Jacobis Referenzen auf den Naturbegriff ihn gerade im Diskussionshorizont der Spätaufklärung. Der formale Naturbegriff und – mit demselben eng verknüpft – die Berufung auf Natur als ethische und ästhetische Norm hat nicht nur eine lange Tradition, sondern nimmt insbesondere im Säkularisierungsprozeß der Aufklärung als diesseitige Begründungsinstanz eine zentrale Rolle ein. Das dem materialen Naturbegriff zuzuordnende Naturverhältnis Jacobis impliziert dagegen in der Tat einen Dualismus von »heiliger« und »unheiliger« Natur, der aber ebenfalls in seiner Zeit verankert werden kann: Der »unheiligen« Natur korrespondiert die mechanistische Naturwissenschaft, der »heiligen« die neue, ästhetische Naturwahrnehmung. Anders als bei den Pantheisten Heinse und Goethe bleibt die Ästhetisierung und Sakralisierung der Natur bei Jacobi jedoch verhalten und gebrochen. Auf der einen Seite erweist sich Jacobi, wie gezeigt, als in dieses historische Feld eingebunden: An den sich massiv mit Natur verknüpfenden kulturellen Konstrukten der Zeit und den Moden, die sie hervorbringen, hat Jacobi regen Anteil. Wesentliches Moment der Konstruktion aber ist das Verständnis von Natur als eines Ortes innerweltlichen Heils. Auf der anderen Seite kann aber auch nicht übersehen werden, daß Natur als intramundaner Erlösungsraum in einem expliziten Sinn lediglich in wenigen Briefen an Goethe, die offenbar unter dessen direktem Einfluß entstanden sind und in seiner Manier verfaßt wurden, sowie in seinen Romanen dargestellt wird. Beide Quellen eignen sich nicht für einen identifizierenden Kurzschluß des in ihnen Dargestellten mit der Position Jacobis, wenngleich – dies muß insbesondere für die Romangestalten festgehalten werden – die konträre Behauptung, daß es sich hierbei um etwas dem Jacobischen Standpunkt diametral Entgegengesetztes handelt, der Gefahr einer Kurzschlüssigkeit ebensowenig entgeht. Desgleichen steht Jacobi den zeitgenössischen Konzeptionen des Erhabenen, mit denen er offenbar hinlänglich vertraut war,538 kritisch gegenüber. An Lavater schreibt er diesbezüglich Ende des Jahres 1781: »Zu einem transcendentalen Begriff des Erhabenen weiss ich keinen Weg, sintemal sich das Unendliche aus dem Endlichen wohl nicht wird abstrahieren lassen.«539 Diese Aussage markiert die stetige Grenze, die Jacobi von einer expliziten 537

Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 275. Vgl. hierzu die in JBW II,2 aufgeführte, im Briefwechsel erwähnte Literatur (u. a. S. 376: Burke, S. 392: Jaucourt / Encyclopédie sowie Kant, S. 399: Mendelssohn, S. 405: Schlosser / PseudoLonginus, S. 407: Sulzer). Das entsprechende Werk Sulzers hatte Jacobi in dem Brief an seinen Buchhändler P. E. Reich vom 19.11.1771 in Form einer dringlichen Bestellung angefordert (JBW I,1, 146). Vgl. im übrigen auch Johann Georg Jacobi: Vom Erhabnen. In: Iris 4 (1775), S. 106–132. 539 Brief an J. K. Lavater vom 21.11.–6.12.1781 (JBW I,2, 383; vgl. auch 363). – Vgl. auch im Brief an J. G. Herder vom 8.–14.6.1783: »[…] und dabey der Gedanke, daß Unendliches aus End538

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V. Natur

Heiligsprechung der Natur fernhielt, wenngleich er an jenen Diskursen, Konstrukten und Moden der Zeit teilnahm, deren Basis eine sakralisierte Natur war – eine Ambivalenz, die innerhalb der Jacobi-Forschung allzuoft zugunsten eines eindeutigen Diktums übergangen wurde.540 Hauptbezugspunkte bilden dabei die Romane, denen aber, bei näherer Betrachtung, selbst eine Ambivalenz eingeschrieben ist, insofern einer falsch verstandenen »Natur« eine ›echte‹ entgegengesetzt wird.541 Vor diesem Hintergrund verankert der Dualismus von »heiliger« und »unheiliger« Natur Jacobi nicht nur in wichtigen Grundtendenzen seiner Zeit, sondern bezeichnet zudem genau die spezifische Position Jacobis im Säkularisierungsprozeß. Durchaus noch in der Tradition der Physikotheologie steht Jacobis Sicht der Natur als »bedeutende[r] Kosmos und Zeichen Gottes«542. Was ihn von ihr unterscheidet,

lichem zu entwickeln, zu sichten und zu sondern – das Unbedingte Selbstständige, aus dem Zufälligen Bedingten – und in diesem jenes dargestellt zu finden, ganz unmöglich ist« (JBW I,3, 160). In diesem Sinne äußerte sich Jacobi bereits in seinem Brief an Wieland vom 20.8.1772 (JBW I,1, 161). 540 Verra hat hervorgehoben, daß bereits die Arbeiten von Bollnow und Nicolai das einseitige Diktum Schellings widerlegt hätten (vgl. Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 259 f.). Hammacher dagegen formuliert apodiktisch: »In Jacobis Naturverständnis fehlt überhaupt trotz mancher Formulierungen das Bewußtsein eines Heilsweges gänzlich, wodurch es bei Rousseau ausgezeichnet ist.« (Hammacher: Einfluß französischen Denkens, S. 347; ihm folgt auch Sandkaulen: Vernunft, S. 422 f. Beide sehen m. E. auch Rousseau zu eindimensional.) Hammacher verweist allgemein auf Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, der jedoch als Beleg für diese These kaum in Frage kommt (vgl. etwa dessen ambivalente Darstellung S. 276, bes. Fn. 67). Gleichwohl behauptet auch Verra, daß Jacobi eine Vergötterung der Natur strikt ablehnte (ebd., S. 271). M. E. werden diese Urteile der Ambivalenz der Jacobischen Darstellung und Position nicht gerecht. 541 So etwa beruft sich Verra (ebd., S. 276, Fn. 67) auf den Allwill (WW I, 69, 187–189 u. 208– 211; dem entsprechen in der Allwill-Ausgabe von 1792 die Seiten 80 f., 230–233 u. 257–260; vgl. JWA 6,1, 132 f., 196 f. u. 207–209), der in der Tat belegt, daß Jacobi sich der Problematik einer Berufung auf Natur bewußt ist. Doch wird gerade an diesen Romanpassagen auch deutlich, daß die Kritik an der Natur als Norm sich selbst wiederum auf einen normativ verstandenen Naturbegriff beruft: Einer mißverstandenen Natur, die als Generalvollmacht für das Ausleben ›egoistischer‹, letztlich in der Sinnlichkeit gründenden ›Triebe‹ dient, wird die ›wahre‹ Natur entgegengesetzt. Im Woldemar wird, in vergleichbar ambivalenter Weise, zwar der »Naturbetrieb« empfindsamer Zirkel kritisiert, letztlich aber mit dem Argument, daß deren Ideal einer »blos natürliche[n] Natur« in der Ausführung seinen dialektischen Umschlag ins schiere Gegenteil erfährt und somit in die »ärgste […] aller Zierereyen« mündet (JWA 7,1, 280; vgl. Jacobi: Woldemar [1794], S. 77–79). Sowohl im Allwill als auch im Woldemar sind es im übrigen die Frauen, die zur Erkenntnis dieses Selbstbetrugs vordringen. – Vgl. zum Allwill auch Lindner: Gefühl und Begriff, S. 35–38. Lindner sieht überdies eine starke Diskrepanz zwischen der frühen (Allwill) und der späten (Vorrede zur Werkausgabe des David Hume) »Bestimmung der Natur« durch Jacobi (ebd., S. 217). 542 Olivetti: Einfluß Hamanns, S. 91. Olivetti versucht in seinem Aufsatz zu zeigen, »daß Jacobi die Konzeption der Natur als bedeutsames Universum dem Denken des Magus im Norden entlehnt hat« (ebd., S. 110; vgl. auch S. 106, 108 u. 114). Er bezieht sich dabei vor allem auf Jacobis HamannZitate, insbesondere jene, wo von der Natur als »Chiffre Gottes« die Rede ist. Diese monokausale

5. Halbierte Sakralisierung – halbierte Säkularisierung

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verweist auf das Gemeinsame der beiden (scheinbar) entgegengesetzten Naturanschauungen. Für Jacobi nämlich kann – im Unterschied zur Physikotheologie, aber auch zu den nachfolgenden Pantheisten – die wissenschaftliche Naturbetrachtung zu keiner Enthüllung des Göttlichen führen.543 Vielmehr hat die neuzeitliche Naturwissenschaft einzig den Zweck, durch technische Innovationen die Bequemlichkeiten für den Menschen zu vermehren. Der von der Physikotheologie postulierte Verweisungscharakter des Endlichen auf das Unendliche, der Natur auf Gott, kann sich Jacobi zufolge nur über den Menschen, nur über das Subjekt, herstellen, insofern letzteres das Göttliche in sich enthält. Das Endliche verweist auf seine Quelle: Gott als den Urheber, d. h. als das vollkommen freie, selbsttätige Wesen. Aber dieser Verweis kann nur vom Menschen entschlüsselt werden, insofern er selbst – und zwar als das einzige endliche Wesen – sich als selbsttätig erfährt, d. h. (absolute) Freiheit als Möglichkeit denken kann.544 In der ästhetisch vermittelten Sakralisierung der Natur wie im Rahmen der Auseinandersetzung mit der »unheiligen« Natur und den Diskussionen um eine pantheistische Position zeigt sich gleichermaßen jene Wende zum Subjekt, die den Säkularisierungsprozeß der Spätaufklärung kennzeichnet: Die Natur ist bei Jacobi nur göttlich als und im Medium des Subjekts. In diesem Sinne hält Jacobi dem Herderschen Bekenntnis, »exsistirt Gott nicht in der Welt, überall in der Welt, […] so exsistirt er nirgend«,545 das eigene Glaubensbekenntnis in seinem Antwortbrief vom 30. Juni 1784 plakativ entgegen: »Der Eingang ins Allerheiligste ist im Menschen selbst, oder nirgend. Das Gewebe seiner Triebe ist die finstere Decke; seine Freiheit die verborgene Schechina. Ist im Menschen Nichts davon, so hat das All [resp. die Natur; C.G.] sie noch viel weniger, und aus dem Willen, aus dem Geiste ist niemals

Herleitung, die den zeithistorischen Gesamtkontext weitgehend ausblendet, geht m. E. in die Irre. Dem von dem Verfasser selbst vorgebrachten Einwand, »daß das Thema der Natur als Chiffre und Sprache ein in der Kultur der damaligen Zeit sehr häufiges Motiv ist« (ebd., S. 90), geht er nicht weiter nach. Auch die von ihm angeführten Belege für Jacobis vorsichtige Adaption des Hamannschen Konzeptes lassen sich m. E. hinreichend mit der im zeitgenössischen Kontext noch wirksamen physikotheologischen Tradition erklären (ebd., S. 99 u. 101). Auch Homann weist in seinem Diskussionsbeitrag zu Olivetti auf die lange Tradition des Topos von der Natur als »Chiffre Gottes« hin (Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi [1971], S. 117). 543 Vgl. Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung, S. 262 f. 544 Vgl. ebd., S. 271: »[…] so gilt im Gegenteil bei Jacobi nur die ursprüngliche Offenbarung Gottes im inneren Gefühl des Menschen als Maßstab jeder möglichen Offenbarung sowohl in der Schrift wie in der Geschichte wie in der Natur.« Vgl. auch die ebd., S. 279 angeführten Zitate aus späteren Schriften Jacobis, in welchen jeweils die »ursprüngliche Offenbarung« ins innere Gefühl verlegt und eine solche in »Wort und Bild« bestritten wird. – Mit Sandkaulen muß allerdings korrigierend festgehalten werden, daß das – zwar entscheidende – Gefühl sich allererst im Handlungsvollzug herstellt und damit keineswegs in einer von jeglichem Außenbezug separierten Innerlichkeit (vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 195). 545 Brief von Herder vom 6.2.1784 (JBW I,3, 281).

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V. Natur

Etwas hervorgegangen; dann ist Gott der Creatur unterworfen, und nicht sie dem Gotte.«546 Das Festhalten an einem persönlichen und extramundanen Gott ist nur scheinbar rückwärtsgewandt, denn letztlich ist für Jacobi Gott in, durch und für den Menschen oder das Subjekt. Zum einen ist nämlich der Mensch gottähnlich, insofern er sich als frei handelndes Wesen erfährt und diese Erfahrung menschlicher Freiheit ist zugleich der einzige Ort göttlicher Offenbarung. Zum anderen wird, wann immer die Faktizität erfahrener, d. h. gefühlter Freiheit an die Existenz Gottes als eines Garantposten absoluter Freiheit gekoppelt ist, Gott für die Göttlichkeit des Menschen funktionalisiert: ohne Gott keine Freiheit und ohne Freiheit kein Mensch, der sich als »Urheber« und »Schöpfer« gerieren kann.547 Der (teilweise) Rückgriff auf eine überkommene Dogmatik fördert folglich, ohne daß dies von Jacobi intendiert wäre, die kulturelle Produktion eines autonomen und damit des modernen, bürgerlichen Subjekts.548 Es ist nicht die Hölle, die Jacobi schreckt, sondern die Möglichkeit, daß Freiheit nicht »die verborgene Schechina«, sondern eine Schimäre ist.549 Damit ist er in der Tat und unbedingt unter die »Freyheitsmänner[ ]« zu rechnen.550

546 Brief an Herder vom 30.6.1784 (JBW I,3, 326). – Vgl. im übrigen auch Jacobis Formulierung in seiner späteren Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung: »Genau so verhält es sich mit der Natur: sie giebt nur stumme Buchstaben an. Die heiligen Vocale, ohne welche ihre Schrift nicht gelesen, das Wort nicht ausgesprochen werden kann, das aus ihrem Chaos eine Welt hervorruft, sind im Menschen« (JWA 3, 66). – Vgl. auch die Diskussionsbeiträge von Olivetti und Homann in Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobi (1971), S. 113 u. 116. – Zur schon unter den Zeitgenossen – vor allem im Anschluß an das scharfe, polemische Diktum gegenüber Schelling – umstrittenen Frage nach der »Funktion der Natur [bei Jacobi] im Hinblick auf die Offenbarung Gottes für den Menschen« vgl. Olivetti: Einfluß Hamanns, S. 101 f. u. 104 f., Fn. 46. 547 Vgl. die »Beylage II« zu Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 233 f.). 548 Beiseite gelassen habe ich hier die von Sandkaulen thematisierte Differenz zwischen dem »Paradigma der Subjektivität«, das die nachkantische Philosophie prägt, und der »Philosophie der Person«, für die Jacobis Position steht, da beide doch die moderne Wende zum Menschen und zum Subjekt repräsentieren und somit die benannte Differenz eine – allerdings wichtige – Binnendifferenz darstellt (vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Jaeschke / Sandkaulen: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 217–237). 549 Insofern gebe ich Sandkaulen recht, wenn sie die Frage ›Fatalismus oder Freiheit?‹ zur für Jacobi zentralen Frage erklärt (vgl. etwa Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 55–57). – Vgl. auch die von Homann – unter Berufung auf Otto Friedrich Bollnow – vertretene Auffassung, »daß das christliche Bewußtsein der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bei Jacobi abgeblaßt ist zum Bewußtsein ontologischer Endlichkeit und Unvollkommenheit.« (Homann: Jacobis Philosophie, S. 174; Homann bezieht sich auf Bollnow: Lebensphilosophie Jacobis, S. 105 f., treffender wäre wohl 106 f. [in der Ausgabe von 1933].) 550 Brief Goethes an Knebel vom 8.4.1812 (PLS 3.1, 319).

VI. PHANTASIE

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis Folgt man dem Briefwechsel Jacobis, so hat die Phantasie einzig im ›kasernierten‹ Raum der Kunst ihren uneingeschränkt positiven Wert. Ob Dichter, Maler oder Musiker1, die Phantasie gehört zur unabdingbaren Ausstattung des Künstlers; sie ist die Grundvoraussetzung künstlerischer Produktivität. Ein Mangel an Phantasie ist daher die Ursache mangelhafter Kunstwerke. In Wilhelm Heinses Briefen aus Italien kommt diese herausragende Rolle der (künstlerischen) Phantasie besonders sprechend zum Ausdruck. Heinse, nach Jacobis Einschätzung selbst mit einer hervorragenden dichterischen Phantasie ausgestattet,2 lobt jene der italienischen Künstler und empfindet ein Kunstwerk dann als gelungen, wenn es »voll Mahlerphantasie« ist.3 Als den italienischen Meistern vorbehalten erscheint ihm diese Begabung allerdings nicht, wie sein Vergleich von Rubens und Veronese zeigt: »Rubens hat den Paul Veronese fleißig studiert, und ihre Manier hat gemeinschaftliches; doch übertrift er diesen weit an Kraft und Reichthum der Phantasie für Gestalt.«4 Was für den Künstler im engeren Sinne gilt, ist partiell ebenfalls auf die Tätigkeit des Schriftstellers übertragbar. So etwa beklagt Georg Forster an seiner »literarischen Existenz« nicht nur die »Dependenz von Buchhändlern, vom guten Wetter, von einer guten Verdauung«, sondern ebenfalls die Abhängigkeit von »einer heitern Phantasie«.5 Letztere lobt er auch an Herders philosophischem Werk Gott. Einige Gespräche, was immer man sonst an diesem Werk auch kritisieren mag: »Seine Göttin heißt Phantasie, und ist ein schönes Kind, das man küssen, und dem man den Willen thun muß, wider bessere Ueberzeugung.«6

1

Vgl. etwa im Brief von J. G. Hamann vom 25.5.1786: »Er [Crispus = Christian Jacob Kraus] ist zu allen Handarbeiten im Hause brauchbar, auch ein guter Phantast in der Musik« (JBW I,5, 222). 2 Vgl. den Brief an C. M. Wieland vom 4.6.1774 (JBW I,1, 239). 3 Brief (aus Mantua) vom 21.8.1783 (JBW I,3, 192). – Vgl. auch in demselben Brief: »Man erkennt schon darin die mahlerische Phantasie, die Gestalten schaft« (JBW I,3, 184); des weiteren S. 190: »Solchen Ausdruck und Faunsgestalten hat er gut in der Phantasie gehabt.« 4 Ebd. (JBW I,3, 195). 5 Brief vom 1.11.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 364). 6 Brief vom 19.11.1788 (ebd., S. 209). – Vgl. hierzu auch Jacobis eigene Rede von der »dichterischen Philosophie« Herders in der IV. Beilage des Spinoza-Buches (JWA 1,1, 221).

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VI. Phantasie

Außerhalb dieses künstlerischen Raumes hat die Phantasie allerdings nur in seltenen Ausnahmefällen den Charakter eines harmlosen Spiels.7 Derselbe Heinse, der die künstlerische Phantasie hochschätzt, schließt seine Beurteilung des Goetheschen Verhaltens im Zusammenhang der »Ettersburger Woldemar-Kreuzigung« mit den Worten: »Ach, wenn man immer bey einander wäre, so würde manches nicht geschehen! […] Des Menschen Sinn ist gerecht und gut, aber seine Phantasie ist ein Teufel.«8 In diesem Fall habe sie Goethe von dem, was als moralisch schicklich gelten kann, weit entfernt. Auch Sophie von La Roche ist, folgt man Jacobis kritischem, unter dem Titel An Mariane veröffentlichten Brief, ein Opfer ihrer Phantasie. Ihr Charakterfehler, sich ausschließlich über ihre Wirkung auf andere zu bestimmen, führt mittels der auf diesem Wege freigesetzten Phantasie zu einem beklagenswerten Selbstverlust: »Eine so vielfältige Bespiegelung in Andern entfremdet uns von uns selbst; die Menge von Schatten dünkt uns mehr zu seyn als unsere einzelne wesentliche Gestalt; und so schreiten wir aus dem Gebiete der Wirklichkeit in den endlosen Raum der Phantasie.« Folge dieser ausschweifenden Phantasie sei dabei nicht nur ein Selbstverlust, sondern überdies ein aus demselben notwendig folgender Mangel an Selbstgenuß: »Noch tiefer schmerzt mich, daß Sie, durch die oben berührten Verirrungen Ihrer Phantasie sich an viel besseren Freuden, an dem Genusse Ihrer selbst verkürzen, Ihre Kräfte zerstreuen und die schönsten Stunden Ihres Lebens mit Unruhe und Bitterkeit vermischen.«9 Auch in selbstkritischer Perspektive wird die Phantasie bisweilen als eine unheilvolle Kraft verworfen. So etwa formuliert Hamann in seinem Brief an Jacobi vom Januar 1786 mit dem Gestus eines betrogenen Opfers: »Man kann den Täuschungen seiner Phantasie nicht trauen; mit diesen Irrlichtern läuft man Gefahr in Sumpf u Morast zu gerathen.«10 Phantasie, so scheint es, ist dort zulässig, wo es explizit und per definitionem um Dichtung, Erfindung geht oder wo sie sich im Rahmen eines bewußten und daher arglosen Spiels entfaltet. Die bewußte Distanz – und damit die Wahrung der Autonomie – stellt offenbar in beiden Fällen den entscheidenden Grund für ihre Legitimität dar. Fällt diese Schutzmauer, so kommt es zur Verwirrung: Im lebenspraktischen Alltag nämlich kann die Phantasie keine Orientierung geben, sondern läßt den Menschen von der Realität und von sich selbst abirren. Der für die Aufklärung, ins-

7

Beispiele hierfür findet man etwa im Brief von J. G. A. Forster an Jacobi vom 3.1.1789 (Bezugspunkt der Aussage ist sein Wunsch, England und Italien einmal zu sehen): »Wenn man seine Tage froh hinlebt im häuslichen Kreise, also nicht ängstlich hofft, sind diese Spiele der Phantasie eher ergötzlich.« (Forster: Werke, Bd. 15, S. 238.) – Vgl. auch Hamann in seinem Brief vom 1.–5.12.1784 bezüglich eines von Jacobi zu Beginn des Spinoza-Buches verwendeten Gleichnisses: »Meine Phantasie hat auf eine andere Art mit dieser Figur gespielt.« (JBW I,3, 394.) 8 Brief (aus Venedig) vom 8.12.1780 (JBW I,2, 237). – Vgl. auch oben das Kapitel II.3.2.2. 9 Brief vom 1.7.1775 (JBW I,2, 20; vgl. JWA 4,1, 194 f.). 10 Brief vom 4.–5.1.1786 (JBW I,5, 10).

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis

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besondere aber für die »Geniezeit« typische hohe, ja unbedingte Wert künstlerischer Produktivität fließt in diese ambivalente Bewertung der Phantasie ebenso ein wie der aufklärerische Drang nach Wahrheit und – vor allem – Autonomie. Letzterem ist es geschuldet, daß die Phantasie als alltagsuntauglich verworfen wird – bezeichnenderweise auch von jenen, die nicht einer (rational ausgerichteten) Aufklärung im engeren Sinne, sondern ihren (vermeintlichen) Gegenströmungen zuzurechnen sind. Ganz ähnlich wie der Phantasie ergeht es auch ihrer Schwester, der Einbildungskraft oder Imagination. Phantasie und Einbildungskraft werden bisweilen synonym verwendet,11 wenngleich die Kunst gänzlich der Phantasie zugeordnet zu sein scheint.12 Auch ist der Bereich der Einbildungskraft anders definiert: Die Einbildungskraft gehört nicht zur Grundausstattung des Künstlers, sondern des Menschen überhaupt. Ohne diese Kraft, das Abwesende in der Vorstellung präsent zu halten, wäre Gedächtnis, wäre Denken nicht möglich. Die Einbildungskraft spielt daher eine bedeutsame Rolle in der Aufklärungszeit, insbesondere als Untersuchungsgegenstand der sich als Disziplin allererst entwickelnden »Anthropologie«.13 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum im Rahmen des Jacobischen Briefwechsels eine »lebhafte« Einbildungskraft durchaus ein bedeutender Charaktervorzug sein kann.14 In dem Empfehlungsschreiben beispielsweise, das Wilhelm von Humboldt seinem Bruder Alexander für einen Besuch im Hause Jacobis mitgab, hebt er die Vorzüge desselben im Vergleich mit seinen eigenen Fähigkeiten durch folgende Charakteristik hervor: »Sein Kopf ist schneller und fruchtbarer, seine Einbildungskraft lebhafter, sein Sinn fürs Schöne schärfer«.15 In vergleichbarer Weise charakterisiert Hamann Theodor Gottlieb von Hippel als einen Mann mit »einer sehr lebhaften u. fruchtbaren Einbildungskraft«,16 und Jacobi schließlich stellt in dem oben zitierten Brief an Sophie von La Roche seinen höchst kritischen Einlassungen ein 11

So etwa benutzt Heinse in seinem Brief vom 21.8.1783 das Wort »Phantasie« in einem Zusammenhang, in dem ansonsten von »Einbildungskraft« die Rede sein würde: »Ich will Ihnen im Fluge die vorzüglichsten Merkwürdigkeiten anführen, die ich hier [= in Mantua] gefunden habe, um in der Phantasie Ihre künftige Gegenwart zu genießen, und sinnlicher alsdenn im Geiste bey ihnen zu seyn, wenn es nicht persönlich geschehen kann.« (JBW I,3, 183 f.) 12 Auch hier gibt Heinse ein Ausnahmebeispiel; vgl. seinen Brief vom 7.2.1775, wo es im Hinblick auf die Poesie heißt: »[…] und erlaubt der Einbildungskraft die völligste Freyheit.« (JBW I,1, 282.) 13 Vgl. zum Verhältnis von Gedächtnis und Einbildungskraft das Kapitel II.3 des zweiten Teils der Arbeit von Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998 (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 148), S. 205–229. 14 Auch für den »philosophischen Arzt« Melchior Adam Weickard ist die »lebhafte Einbildungskraft« »Zielvorstellung«, d. h. Kennzeichen eines gesunden und klugen Geistes (vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 99). 15 Brief vom Juli 1789 (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 22). 16 Brief vom 30.11.–4.12.1785 (JBW I,4, 264).

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VI. Phantasie

positives Charakterbild entgegen, indem er ihr attestiert: »Sie erhielten von der Natur einen behenden, wirksamen Geist, eine blühende Einbildungskraft, ein zärtliches, theilnehmendes Herz«.17 Aufgrund des hohen Wertes der Freundschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert nimmt es nicht Wunder, daß der Einbildungskraft, gerade als dem Vermögen, den abwesenden Freund lebendig zu vergegenwärtigen, kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit zukam. So etwa schreibt Forster Anfang Dezember 1778 an Jacobi: »In meiner Einbildungskraft stehen Sie vor mir.«18 Bald darauf, im April 1779, überbietet er dieses Bekenntnis noch, indem er die Fähigkeit, den abwesenden Freund als anwesend zu imaginieren, als für ihn einmalig auszeichnet: »Und ists nicht wunderbar, Lieber; meine Einbildungskraft ist nichts weniger als lebhaft, ich kann mir das Bild meiner nächsten Anverwandten, und der besten Menschen aus meiner Bekanntschaft, nicht in Gedanken vorstellen; von Ihnen allein kan ichs; es ist mir als sähe ich Sie, wie ich Sie in Düßeldorf sahe.«19 Man wird davon ausgehen müssen, daß die Medienexplosion – insbesondere der intensive und extensive Briefverkehr – eine Antwort auf das nun auf innerweltliche Erfüllung drängende Begehren darstellt, die Grenzen des Raumes, die Grenze, die der eigene Körper darstellt, zu überwinden. Auch die ›Verschriftlichung der Kultur‹ steht im Kontext des Großunternehmens der Moderne, die (Grenzen der) Endlichkeit innerweltlich zu transzendieren. Die innere Dynamik solcher Prozesse – eine Befriedigung des Begehrens, aber keineswegs dessen restlose – führt unweigerlich dazu, die verbleibenden Grenzen deutlicher zu spüren. Ist der Ort einer potentiellen Erfüllung des Begehrens erst ins Diesseits verlagert, so folgt hieraus unweigerlich eine Endlosspirale, in welcher – einem perpetuum mobile gleich – jede neue Runde Anspruch darauf erhebt, den in der Vorrunde verbliebenen Rest nun endgültig zu tilgen. Dabei griff man auch auf den Einsatz weiterer Medien zurück. So etwa wurde, wie schon mehrfach geschildert, die Kompensation der Ferne des Freundes medial unterstützt durch einen regen Austausch von Bildnissen, vornehmlich in Form von Schattenrissen, Portraits oder Büsten. Wenn das Abbild – wie des öfteren geschehen – nicht hinreichend ähnlich geraten war, mußte wiederum die Einbildungskraft korrigierend eingreifen. So schreibt Jacobi in seinem Brief an August von Kotzebue vom 14. April 1790: »Ihre Büste ist erst vorigen Monath angekommen […]. Das Profil ist ähnlich, aber mit dem Vollgesicht kann ich mich nicht befreunden: da fällt es recht auf, wie viel am Munde fehlt. Wäre ich Bildhauer, ich wollte Sie anders tref-

17 JBW I,2, 18; vgl. JWA 4,1, 192. – Vgl. auch Jacobis Beschreibung von Diderot in seinem undatierten (etwa Mitte Oktober 1773) Brief an C. M. Wieland: »[…] waß sich von ihm rühmen läßt: Belesenheit, Witz; Imagination.« (JBW I,1, 218.) 18 Brief vom 1.12.1778 (JBW I,2, 84). 19 Brief vom 23.–26.4.1779 (JBW I,2, 93).

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis

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fen. Meine Einbildungskraft stellt Sie mir dar, als säh ich Sie mit Augen, und es ist als wenn sie nur noch immer mehr Fertigkeit darin bekäme.«20 Entfernt sich die Einbildungskraft aber von ihrer positiven Bestimmung, das zeitlich oder räumlich Abwesende zu vergegenwärtigen oder das Denkmögliche und Wünschenswerte, welches allerdings zugleich realistischen Charakter haben mußte, zu antizipieren, so wird sie – wie die Phantasie – zu einer teuflischen Kraft, die den Menschen auf Irrwege führt. Die Einbildungskraft vermag eben nicht nur, reale, aber abwesende Gegenstände in der Vorstellung präsent zu halten, sondern auch prinzipiell Nicht-Seiendes in einer real erscheinenden Weise im Inneren entstehen zu lassen und sogar in die Realität, als Realität, zu projezieren. Durch entsprechende Kooperationen mit anderen Seelenkräften, wie beispielsweise Wille oder Verstand, konnten auf diese Weise Trugbilder entstehen, die den Menschen nachhaltig in seinem Denken und Handeln bestimmen. Löst sich ein solches Trugbild auf, so folgt nicht selten die – letztlich ent-täuschende – Erkenntnis, daß man für wahr hielt, was man für wahr halten wollte. Als Jacobi kurz nach dem Ettersburger Vorfall in einem Brief an Forster seiner Freundschaft zu Goethe im Rückblick gedenkt, führt er hierzu selbstbezichtigend aus: »Wir erdichten Menschen, daß sie aussehen, als müßten sie irgendwo lebendig seyn, und aus den würklichen Menschen machen wir uns etwas, das sehr viel von einem bloßen Hirngespinnste hat. Kein Wunder, da fast jeder Charackter von unendlichem Umgange ist. Da legt unsere Einbildungskraft uns gleich hundert Plane vor, aus denen wir denjenigen wählen, der uns am besten ansteht.«21 Dieser Mechanismus, in dessen Gefüge der Einbildungskraft eine wesentliche – und zwar nachgerade desaströse – Rolle zukommt, ist auch Hamann nicht unbekannt. Kopfschüttelnd nimmt er zur Kenntnis, daß »man sich Dinge, die weder sind noch seyn können als würklich vorstellt und gleich Theorien fertig hat die Wunder seiner eignen Einbildung zu erklären und wahrscheinlich zu machen, figmenta als data voraussetzt und sich in Schlüßen darüber verliert, daß man nicht wider herausfinden kann.«22 Anders als in Jacobis Fall, wo die Einbildungskraft in den Dienst des Willens trat, ist es bei Hamann der Verstand, der der Einbildungskraft zuarbeitet.

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Brief vom 14.4.–16.5.1790 (Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 6 [1914], Heft 1, S. 30–32, hier S. 31). 21 Brief vom 13.11.1779 (JBW I,2, 129). 22 Brief vom 12.–14.11.1785 (JBW I,4, 241). – Vgl. auch im Brief Jacobis an F. Nicolai vom 28.–29.7.1788: »[…] wir begreifen nicht, warum, was sich einiger maaßen denken läßt, und in der Einbildung erscheinen kann, nicht auch wirklich gemacht und in der That erscheinen könnte« (JWA 5,1, 151 f.).

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VI. Phantasie

Ein herausragendes Beispiel für eine »aufgebrachte«23 und »magnetische Einbildungskraft«24 bieten Hamanns Äußerungen im Vorfeld der geplanten Reise zu seinen Freunden nach Münster und Düsseldorf, die viele Jahre hindurch Gegenstand des Briefwechsels war. Welche Ängste ihn bezüglich der Reise schon frühzeitig heimsuchten, zeigt etwa sein Brief an Jacobi vom Juni 1785: »Wie leicht ein Wald von Grillen in meinem Gemüthe aufschießt durch die Feerie [sic] meiner dithyrambischen Einbildungskraft, ist mir noch unbegreiflicher. Außer der hypochondrischen Furcht wegen meines Reisepaßes, quälte ich mich mit der getäuschten Erwartung bey der wirklichen Erscheinung meiner lächerlichen Gestalt, und leeren Figur, daß ich mich selbst nicht auszustehen und zu leiden im stande bin – und je mehr man mir zuvorkommt, desto verstockter und ärgerlicher über mich selbst werde, und an allem irre, was mich umgiebt. Ist noch einige Erleichterung von diesem Radical Uebel möglich, so bin ich auch der einhelligen Meinung, daß nichts in der Welt mir so zuträglich seyn wird, als Vor- und Nachschmack einer solchen Wallfahrt und heiligen Kreuzzuges der seit so viel Jahren wie ein Embryo in meinem Gemüthe die tollsten molimina und saltus gemacht«.25 Da Hamann keinen Urlaub erhielt, zerstreuten sich die Reisepläne zunächst. An dem Vorsatz zu reisen aber hielt Hamann unverändert fest und wurde darin auch von seinen Freunden, vor allem der Fürstin Gallitzin und Jacobi, nachhaltig unterstützt. Fast eineinhalb Jahre später, im Oktober 1786, vermag daher andauerndes Regenwetter immer noch seine Ängste zu schüren: »Seit gestern ist der Himmel ein wenig klarer, aber die Wettergläser fallen schon wider so stark wie möglich. Die Wege müßen impraticable seyn, und meine Einbildung schaudert schon, wenn ich sie mir in Gedanken vorstelle.«26 Im Frühjahr darauf und unter dem Eindruck der Abschrift seines »dritten Bettelbriefes um Urlaub« scheinen die andauernden und sich andau-

23 Brief von J. G. Hamann vom 22.–25.7.1785 (JBW I,4, 139); vgl. auch den Brief vom 6.– 7.1.1785 (JBW I,4, 5). 24 Brief von J. G. Hamann vom 31.7.–1.8.1785 (JBW I,4, 149). – Schings hebt in seiner Darstellung der Hamannschen Hypochondrie und Schwärmerei die Exzeptionalität Hamanns hervor: Er mag anregend für die Empfindsamen und jungen Genies gewesen sein, entziehe sich aber selbst einer solchen Zuordnung (vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 278–292 u. 428–433). Auf der anderen Seite entspricht Hamann vollkommen jenem – von Christian Begemann beschriebenen – allgemeinen Typus des unter seiner eigenen Phantasie leidenden Zeitgenossen der Aufklärung (vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 258 u. 260, wo Begemann darauf hinweist, daß dieser Typus bereits bei Shakespeare und Montaigne zu finden sei). 25 Brief vom 1.–2.6.1785 (JBW I,4, 105 f.). – Möglicherweise ist die wie ein Schreibfehler wirkende »Feerie« eine bewußte Konstruktion Hamanns. Vgl. hierzu den Hinweis bei Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 432, Fn. 44: »Zum Bildkreis der ›Wolken‹ gehört auch die Anrede an die ›Fee des vapeurs‹ in der ›Lettre néologique‹«. 26 Brief vom 5.–26.10.1786 (JBW I,5, 366 f.).

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis

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ernd verzögernden Reisepläne Hamann vollkommen zermürbt zu haben: »Die Geschichte des Beseßenen im Evangelio, der in Feuer und Waßer fiel, ist immer ein trauriges Beyspiel meiner selbst gewesen; und die Sorge für meine Gesundheit, der tägl. Gebrauch meiner Reisestiefel unterhält meine Einbildungskraft – daß es schlechterdings unmögl. ist an Arbeit zu denken, und im Zusammenhange mit mir selbst zu bleiben.«27 Durch bestimmte äußere Anlässe initiiert, eröffnen sich der auf diese Weise in Gang gesetzten Einbildungskraft schier endlose Entfaltungsräume; sie sieht »immer das ärgste und äußerste«,28 beschäftigt unermüdlich den Geist, macht den von Ängsten, Befürchtungen und Vermutungen Geplagten unfähig zur Arbeit und entfremdet ihn schließlich von sich selbst. Ähnlich wie im Falle von Jacobis kritischem Brief an Sophie von La Roche ist es also auch hier der Selbstverlust, der als besonders bedrohlich empfunden wird. Das Autonomieideal fehlt somit weder in den Zirkeln der Empfindsamen noch beim »Magus in Norden«. Unter der planen Oberfläche einer Entgegensetzung von Vernunftenthusiasmus und – gegebenenfalls bloß vermeintlicher – Vernunftfeindschaft verbirgt sich so ein einhelliges Streben, das möglicherweise einen Effekt der Schriftkultur selber darstellt, die nicht nur für die Aufklärung als Ganze, sondern insbesondere auch für die Empfindsamkeit und den exzessiven Leser und Schreibenden Hamann kennzeichnend ist.29 Naheliegend ist die unterstellte Allianz von Autonomiestreben und Verschriftlichung etwa deshalb, weil ersteres mit den Phantasmen der Authentizität und Identität engstens verwoben ist, diese aber bereits als Effekte des Schriftmediums selber entziffert wurden.30 Auch der Briefwechsel von Freunden kann Anlaß zu ungesunden Eskapaden der Einbildungskraft geben. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den Berliner Aufklärern um das Spinoza-Buch etwa, als für Jacobi die Frage, wie Kant sich zu dieser Streitsache äußern würde, von großem Gewicht war, beklagt er sich bitter über eine Stelle in Hamanns Brief, die hierzu Stellung nahm, es aber an wünschenswerter Deutlichkeit fehlen ließ: »Du sagst, der erwartete Aufsatz v ihm [= Kant] werde im October erscheinen, u solle sich auf das Geniewesen beziehen. Ich habe Dich schon einmahl gebeten, Lieber, u bitte Dich itzt nochmahls, mir nie dergleichen dunkle Nachrichten zu schreiben. Meine Einbildungskraft wird dadurch aufgebracht, u mein Geist zerstreut, ohne Frucht.«31 Doch auch Hamann findet, anläßlich einer

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Brief vom 17.–19.4.1787 (Hamann 7, 151). Brief vom 27.4.1788 (Hamann 7, 452). 29 Zur Empfindsamkeit vgl. vor allem Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr; zu Hamann vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 280 u. 284. 30 Vgl. oben das Kapitel I.3.3.1. 31 Brief vom 5.–6.10.1786 (JBW I,5, 362). – Gemeint ist Kants Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren?, der tatsächlich im Oktober 1786 in der Berlinischen Monatsschrift erschien und in welchem Kant zum Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi Stellung nahm. Vgl. hierzu Werner Euler: Orientierung im Denken: Kants Auflösung des Spinoza-Streits. In: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horst28

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VI. Phantasie

ihm unverständlich gebliebenen Äußerung in einem Brief Jacobis, kurze Zeit später Grund zu eben derselben Klage: »Das ist auch dunkel für mich, bringt meine Einbildungskraft wie Deine eigene auf und zerstreut mich im hin und herdenken ohne Frucht.«32 Aufgrund der mißlichen Nebenwirkungen einer losgelassenen Einbildungskraft gilt es, dem anderen nicht unnötig Anlässe zu solchen Ausschweifungen zu geben. Das weibliche Geschlecht scheint in dieser Hinsicht besonderen Schutz zu benötigen, wie Hamann meint. Nach einem in Briefen an Jacobi detailliert geschilderten Schlaganfall(?) bittet er diesen: »Von meinem schief gewesnen Maul melden Sie lieber nichts; Sie wißen, wie man die Einbildungskraft der jungen Weiber schonen muß, und wie unwillkührlich es ihnen ist, sich abwesende Dinge als gegenwärtig vorzustellen.«33 »Sich abwesende Dinge als gegenwärtig vorzustellen«, kann als das Grundvermögen der Einbildungskraft identifiziert werden.34 Doch gerade dieses basale Vermögen begründet die »Janusköpfigkeit der Einbildungskraft«,35 denn es ist einerseits elementare Voraussetzung menschlicher Intellektualität – und damit des Menschen überhaupt –, andererseits ist es das Einfallstor für irreale und somit letztlich schädliche Vorstellungen aller Art.36 Diesen mißlichen Einflüssen und Auswüchsen der Einbildungskraft konnte nun nicht in derselben Weise begegnet werden wie im Falle der Phantasie, deren Anwendungsbereich – so jedenfalls stellt es sich im Briefwechsel Jacobis dar – gleichsam auf den der Kunst eingeschränkt wurde. Die Disziplinierungsstrategie hat im Falle der Phantasie die Form eines simplen Wegschlusses, wobei allerdings zu bedenken bleibt, daß diese »Kasernierung« – zumindest im Anfang auch – im Dienste einer Durchsetzungsstrategie stand: Im kasernierten Raum der Kunst – gipfelnd im Geniekult – wurde nichts Geringeres entworfen als der Mensch der Moderne – der Mensch nämlich als (Selbst-)Schöpfer, als causa rerum und causa sui. Im Fall der Einbildungskraft aber kam die zweifach wirksame Strategie des Wegschlusses – Fernhalten aus der bestehenden und Experimentierfeld für eine neue

mann u. Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Hg. im Auftr. der Kant-Gesellschaft e. V. Bd. 5: Sektionen XV–XVIII. Berlin 2001, S. 166–175. Vgl. auch Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 66–69. 32 Brief vom 5.–26.10.1786 (JBW I,5, 371). – Vgl. auch in Jacobis Brief an J. C. Lavater vom 28.8.1787: »[…] schon einmahl hast Du mir etwas ähnliches geschrieben u dadurch meiner Imagination ein sehr weites Feld eröffnet.« (Handschrift: Zentralbibliothek Zürich) 33 Brief vom 14.–15.12.1785 (JBW I,4, 283). – Hamann wollte verhindern, daß die Familie Bucholtz, insbesondere wohl Marianne Bucholtz, von dem Vorfall erfährt. 34 Vgl. hierzu auch Kants berühmte Definition: »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 151. In: Ders.: Werke, Bd. II, S. 148.) 35 Heinz: Wissen vom Menschen, S. 101. 36 Zu der Vielzahl zeitgenössischer Konzepte zur Einbildungskraft vgl. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung.

1. Phantasie und Einbildungskraft im Briefwechsel Jacobis

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Gesellschaft – kaum in Frage. Vielmehr mußte es darum gehen, die ›Mißgeburten‹ einer ›krankhaften‹ Einbildungskraft dem kritischen Seziermesser der Vernunft zu unterwerfen. An dieser Stelle ist der Kampf der Aufklärung gegen Enthusiasmus und Schwärmerei, Aberglaube, Phantasterei37 und Fanatismus zu verorten. Im Rahmen dieser Debatte rückte allerdings zunehmend die Gefahr ins Blickfeld, zuviel wegzuschneiden und damit das Unternehmen der Aufklärung selber zu gefährden. Denn nicht nur auf die reproduktive Einbildungskraft, auch und insbesondere auf die produktive38 konnte die Aufklärung, der es um Selbstdenken und Emanzipation aus den vorgegebenen Bahnen der Tradition ging, eigentlich nicht verzichten. In diesem Sinne unternimmt sogar Kant, der den Früchten einer losgelassenen Einbildungskraft – wie nicht anders zu erwarten – äußerst kritisch gegenüberstand, einen Rettungsversuch: »Die Originalität (nicht nachgeahmte Production) der Einbildungskraft, wenn sie zu Begriffen zusammenstimmt, heißt Genie; stimmt sie dazu nicht zusammen, Schwärmerei.«39 Es galt offenbar, durch sorgsame begriffliche Distinktionen zu verhindern, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Diese Gefahr sahen dennoch viele, beispielsweise Friedrich Wilhelm von Schütz, der Herausgeber des zwischen 1787 und 1791 in Altona erschienenen Archiv für Schwärmerey und Aufklärung: »Man darf nur den nicht gewöhnlichen Gang der Ideen gehen, etwas Neues, zur Zeit noch wenigen Bekanntes zur Untersuchung empfehlen, mit Wärme darüber sprechen, und gleich wird man von kaltblütigen Menschen, deren träger Geist nicht denken, nicht untersuchen mag, als Schwärmer gescholten«.40 Produktive Einbildungskraft und leiden37

Zur Definition der Phantasterei resp. des Phantasten, die in dieser Arbeit gegenüber den anderen Begriffen in den Hintergrund tritt, vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 142 sowie JWA 1,1, 327 und Norbert Hinske: Zur Verwendung der Wörter ›schwärmen‹, ›Schwärmer‹, ›Schwärmerei‹, ›schwärmerisch‹ im Kontext von Kants Anthropologiekolleg. In: Ders. (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer. Hamburg 1988 (= Aufklärung; Jg. 3, H. 1), S. 73–81. 38 Zu dieser Unterscheidung vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 152. In: Ders.: Werke, Bd. II, S. 149. 39 Hinske: Verwendung der Wörter, S. 80. Vgl. hierzu auch den § 49 in der Kritik der Urteilskraft (Kant: Werke, Bd. V, S. 413–420). – Im (Antwort-)Brief an seinen ehemaligen Schüler Marcus Herz vom 7.4.1786 hatte er Jacobi allerdings noch »affectirte Genieschwärmerey« attestiert (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. X, S. 419). 40 Zit. nach Manfred Engel u. Gernot Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes im Archiv für Schwärmerey und Aufklärung. Diskursanalytische Überlegungen zu einer Zeitschrift der Spätaufklärung. In: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; Bd. 24), S. 416–432, hier S. 419. Der Beitrag wurde vermutlich zu Beginn des Jahres 1788 publiziert (vgl. ebd., S. 416). Vgl. auch Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 472 f. – In den Romanen der Spätaufklärung wird diese positive Rolle der Einbildungskraft – möglicherweise sogar stellvertretend für Emanzipation und Fortschritt der Gattung – am Beispiel der Entwicklung einzelner Protagonisten aufgezeigt (ebd., S. 486). Auch hier gilt es aber, ›Einschnitte‹ vorzunehmen. So lautet in der Deutung Schings’ das Problem in Wielands Roman Die Geschichte des Agathon: »Wie läßt sich die Schwärmerei destruieren, ohne dabei Agathons Substanz – oder ›Tugend‹ – preiszugeben? Wie kann man die Schwärmerei des Kopfes beseitigen und

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VI. Phantasie

schaftliches Engagement prinzipiell zu verwerfen, hätte aber geheißen, die Ideale der Aufklärung selber zu verraten, nicht zuletzt eine ihrer Lieblingsideen: die Idee eines Fortschritts der Menschheit zum Guten – hinter der sich allerdings letztlich das keineswegs harmlose Programm einer Selbstschöpfung der Menschheit verbirgt, die ihre Selbsterlösung mit einschließt.

2. Enthusiasmus und Schwärmerei Unter den in der Aufklärungszeit umstrittenen Hervorbringungen einer lebhaften Phantasie oder Einbildungskraft ist der Enthusiasmus gewiß die harmloseste Gestalt. Auf das engste nicht nur mit der Phantasie, sondern vor allem mit dem Gefühl verbunden, gehört er in den Kontext der Empfindsamkeit – aber auch der Kritik derselben. Der Enthusiasmus zeigt als exzeptionelle Begeisterung einen Zustand höchsten gefühlsmäßigen Engagements an und ist als solcher ein positiver Ausdruck der empfindsamen Seele. Von einem Menschen zu behaupten, er habe Enthusiasmus, ist daher eine Auszeichnung des jeweiligen Charakters.41 Auch für die Autorschaft ist der Enthusiasmus, insbesondere unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten, ein wichtiges Ingredienz. Überschwenglich lobt Jacobi jene Gedichte Wielands, die unter dem Einfluß seiner Freundschaft und Liebe zu Sophie von La Roche entstanden sind: »[…] Wieland wird niemals feürigere, und mit einem wahren [sic] Enthusiasmus beseelte Verse machen, als diejenigen sind, die ihm diese reine und tugendhafte Liebe eingegeben hat.«42 Über das 1771 in London anonym erschienene Werk des Franzosen Louis-Sébastien Mercier L’An deux mille quatre cent quarante urteilt er in einem Brief an Sophie von La Roche: »Au reste ce livre est rempli d’un bout à l’autre d’idées grandes et fortes: c’est le véritable enthousiasme qui l’a dicté, cet enthousiasme qui est l’oeil du génie; qui découvre et rend visible aux autres, les principes d’où découlent les vérités et les erreurs.«43 dabei den Enthusiasmus des Herzens retten?« (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 202.) – Vgl. im übrigen auch die Aussage Johann Martin Millers: »Ohne ihn [= den Enthusiasmus] unternimmt man selten etwas Großes, was viele Ueberwindung kostet.« (Zit. nach Sauder: Empfindsamkeit [1974], S. 138.) 41 Vgl. etwa im Brief an M. M. Rey vom 25.8.1769 über Rijklof Michael van Goens in Utrecht: »Cest un partisan de notre cher Rousseau, éclairé et plein d’enthousiasme.« (JBW I,1, 79.) – Vgl. auch Heinses Urteil über den Physiker Guillaume-Antoine De Luc in seinem Brief aus Genf vom 9.10.1780: »Er ist kurz und bündig in seinen Reden wie in seinem Schreiben, und hat viel beobachtungsgeist bey viel Enthusiasmus.« (JBW I,2, 199.) 42 Brief an J. R. Graf Chotek vom 16.6.1771 (JBW I,1, 109, Fn.). 43 Brief vom 18.1.1772 (JBW I,1, 150). – Vgl. auch das Lob eines Gedichts von Johann Georg Jacobi im Brief an diesen vom 16.4.1768 (gemeinsam mit J. K. S. Fahlmer) (JBW I,1, 56). Zur Übersetzungsarbeit an dem Werk von Frans Hemsterhuis Alexis, ou de l’âge d’or schreibt Jacobi dem

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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Jacobis Verwendung des Begriffs »Enthusiasmus« verweist gerade durch den Zusatz »wahr«, durch seine Identifikation mit dem Genie und durch die ihm zugesprochene Fähigkeit, Wahres von Falschem scheiden zu können, auf die Rehabilitation des »Enthusiasmus« durch Shaftesbury in dessen Letter Concerning Enthusiasm (1708), der 1711 als Teil der Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times erschien – ein Werk, das Jacobi sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung besaß.44 Zur Zeit Shaftesburys, im England der ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts, war die positive Bewertung des Enthusiasmus eine Ausnahmeerscheinung; gleichwohl ging von ihr die größte Wirkung für das Jahrhundert aus.45 Der Begriff Enthusiasmus hat seinen Ursprung in der Antike: Der Enthusiast ist der »Gotterfüllte«; er ist derjenige, dessen sich Gott – wie eines Instrumentes – bedient.46 Einen neuen und ganz anderen Sinn erhielt der Begriff dann im Kontext der Reformation: Als Enthusiasten – respektive Schwärmer, für die es im Englischen oder Französischen allenfalls das Äquivalent »Enthusiast« oder »Fanatiker« gibt47 – wurden von Luther jene beschimpft – etwa Sebastian Franck und Thomas Müntzer –, die, ihrer inneren Stimme als der göttlichen selber ausschließlich folgend, sich allem äußerlich Gesetzten, aller Positivität mithin (Gesellschaft, Kirche, Bibel), zu entziehen respektive diese gar zu revolutionieren trachteten: Die Enthusiasten standen gewissermaßen für die Gefährdung der Ordnung, für Chaos und Regellosigkeit.48 In der Folge entwickelte sich das Wort »Enthusiast« zum Kampfbegriff und vielfältig einsetzbaren Schlagwort der Orthodoxie gegen unliebsame Abweichler. In dieser Tradition wurde noch 1718 im fortschrittlichen Free-Thinker der Enthusiast als ein Autor im Brief vom 6.1.1788: »[…] je l’ai fait avec un veritable enthousiasme« (Handschrift: Landesmuseum Münster). 44 Vgl. Wiedemann: Bibliothek Jacobis, Bd. 2, S. 264 (= Nr. 1124 u. 1125). – Vgl. zu Shaftesburys Letter : Karl Tilman Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung. Enthusiasm im englischen Sprachgebrauch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 29–47, hier S. 43–45 sowie Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 179–184. Auch Hamann hatte eine Übersetzung des Letter angefertigt, die aber nicht publiziert wurde; vgl. ebd., S. 289 sowie Hamann: Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 133–153. 45 Vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 42 sowie Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 180. 46 Vgl. hierzu auch das Plutarch-Zitat in der Woldemar-Ausgabe von 1779 (JWA 7,1, 47). 47 Auf entsprechenden nationalen Differenzen besteht vor allem Winfried Schröder: Schwärmerei. In: Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 372 f., hier S. 372. 48 Hans H. Schulte: Zur Geschichte des Enthusiasmus im 18. Jahrhundert. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 39 (1969), S. 85–122, hier S. 87 f. – Vgl. auch Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 140 (hier zu »Luthers Wortschöpfung ›Schwarmgeist‹ [1527]«) sowie Norbert Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer – Sinn und Funktion einer Kampfidee. In: Ders.: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 3–6, hier S. 5, wo zudem die Definition aus Zedlers Universal Lexicon angeführt ist. – Noch ganz in diesem Sinne schreibt Friedrich Schlegel in seiner Woldemar-Rezension: »Gefährlicher Indifferentism gegen alle Formen. Mysticism der Gesetzesfeindschaft.« (Schlegel: Jakobi’s Woldemar; PLS 1.1, 269.)

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VI. Phantasie

Mann definiert, »who may be driven by his Frenzy to disturb the world«.49 War mit Ordnung einst die durch die kirchliche Autorität oder die »Heilige Schrift« vorgegebene gemeint, so trat an deren Stelle allmählich die durch Vernunft sanktionierte Ordnung.50 Auf eine vorsichtige Aufwertung des Begriffs wirkten die »Cambridge Platonists« hin,51 die in dieser Arbeit schon mehrfach als maßgebliche Quelle für die Moderne basaler gesamteuropäischer Entwicklungen der Ideen- und Mentalitätsgeschichte identifiziert wurden. Die mit Abstand bedeutendste Wirkung aber ging auch in diesem Fall von Shaftesbury aus. Er unterschied in seinem 1708 erschienenen Letter Concerning Enthusiasm zwei Varianten des Enthusiasmus: einen vulgären, den er zurückweist, den es zu ächten gilt, der eine Gefährdung darstellt für das Individuum und die gesellschaftliche Ordnung, und einen plausiblen, vernünftigen.52 Dabei sollte der »test of ridicule« – ein Verfahren, das in dem großen Dialog der Moralists erprobt wurde – helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Der positiv verstandene Enthusiasmus erhält bei Shaftesbury allerhöchste Dignität. Er ist ihm Ausdruck der schöpferischen und moralischen Kräfte der freien Persönlichkeit. Damit rückt der Enthusiasmus zum einen in die Nähe des Begriffs der Empfindsamkeit, die ja als das »Genie zur Tugend« definiert worden war. Zum zweiten ist er Ausdruck jener »freie[n] Selbsttätigkeit der schöpferischen Individualität als eines ›second Maker‹«,53 die in der Gestalt des künstlerischen Genies und in jener der sittlichen Autonomie des Subjekts – also in den Bereichen Kunst und Moral – zuerst den Typus des modernen, bürgerlichen Menschen repräsentierte, der sich in Deutschland (etwa) ab den 1770er Jahren – parallel zum rasanten Anstieg der Buchproduktion – als fortan geschichtlich

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Zit. nach Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 90; vgl. – mit orthographischen Abweichungen – auch: Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 38. 50 Vgl. ebd. – Zur Enthusiasmus- resp. Schwärmerkritik von Locke über Addison (Spectator) und Morgan bis zum Free-Thinker vgl. ebd., S. 32–35; vgl. auch das Resümee S. 46. 51 Vgl. Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 89, wobei beachtenswert ist, daß Henry More – wenngleich unter Pseudonym – mit seinem programmatischen Werk Enthusiasmus Triumphatus in diesem Kontext wiederum eine bedeutsame Rolle spielt. Ihm folgte John Dennis, der vor allem den Enthusiasmus des Künstlers als unabdingbare Voraussetzung für künstlerische Produktivität propagierte und zelebrierte. Dennis unterschied übrigens nicht zwischen einer positiven und einer negativen Form des Enthusiasmus, sondern zwischen einer positiven und einer vulgären Form der Leidenschaft (»passion«), wobei der Enthusiasmus per se ausschließlich mit ersterer identifiziert wird (vgl. Zelle: Schönheit und Erhabenheit, S. 65). – Zu More vgl. auch Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 156–162, wobei Schings, seinem erklärten Interesse an Melancholie und Anthropologie folgend, sich hauptsächlich auf deren Spuren begibt. 52 Vgl. Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 92 f. 53 Ebd., S. 91. – Vgl. auch Humes partielle Rehabilitierung des Enthusiasmus: Bei aller Kritik sieht er ihn als notwendige Konsequenz der Freiheit, auch und gerade der Freiheit des Glaubens (vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 44 sowie Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 473).

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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unhintergehbare Gestalt herausbildete. Im Kontext von Hochempfindsamkeit und Sturm und Drang setzte sich entsprechend – unter Rückgriff nicht zuletzt auf Shaftesbury – die positive Neubestimmung des Enthusiasmus durch. Herder etwa feiert den Enthusiasmus, die »Begeisterung«, als »eine Ideen- und Thaten-gebährende Kraft«54. Im Duktus der Stürmer und Dränger weiß er in Briefen an Freunde »die wunderbare Schöpferskraft« zu besingen und auch zu mobilisieren.55 Es galt allerdings auch in diesem Rahmen, weiterhin streng zwischen einer erlaubten Variante und einer zu verwerfenden, die dann als Fanatismus tituliert wurde, zu unterscheiden.56 So durfte beispielsweise der Enthusiasmus nicht zum Selbstzweck werden: »triviales Zeug mit Enthusiasmus schreiben«, mag – so ließ Jacobi im Jahre 1777 Wieland wissen – vielleicht den Publikumsgeschmack vorübergehend treffen, darf aber nicht Prinzip des Schriftstellers sein.57 Im Sinne der von der Empfindsamkeit geforderten, nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Steigerung der Gefühle sind es – ganz ähnlich wie schon im Falle von Begierde und Leidenschaft58 – bestimmte Gegenstände, die den Enthusiasmus auszeichnen. An erster Stelle und sehr allgemein sind hierunter – ganz in der Tradition Shaftesburys – das Gute, Wahre und Schöne zu rechnen.59 Im Einklang damit heißt es in Wielands einflußreicher und von Jacobi ausführlich gewürdigter Verteidigung des Enthusiasmus aus dem Teutschen Merkur des Jahres 1775: »Aber es giebt auch eine Erhitzung der Seele die nicht Schwärmerey ist; sondern die Würkung des unmittelbaren Anschauens des Schönen und Guten, vollkommenen und Göttlichen in der Natur, und unserm Innersten, ihrem Spiegel! Eine Erhitzung, die der menschlichen Seele, so bald sie mit gesunden, unerschlaften, 54

Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 24, S. 149. Undatierter Brief (etwa vom 20.9.1770) Herders an Merck aus Straßburg (Herder: Briefe, Bd. 1, S. 226). 56 Vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 44 f. 57 Brief vom 29.10.1777 (JBW I,2 , 67). 58 Vgl. oben das Kapitel III.1. 59 Vgl. den Brief von C. M. Wieland vom 26.8.1771, in welchem er an Jacobi unter anderem lobt: »[…] vous joignez l’enthousiasme du beau au discernement du vrai« (JBW I,1, 128). – Vgl. auch in Jacobis Brief an P. E. Reich vom 22.10.1771: »Ich verlaße mich auf Ihren Enthusiasmus für das Schöne und Gute, und für die Ehre unseres Vaterlandes« (JBW I,1, 145). – Das »Vaterland« erscheint im übrigen mehrmals als herausragender Gegenstand des Enthusiasmus. Dies trifft sich mit der Wertordnung Klopstocks und der Hainbündler (vgl. Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 105 sowie – allgemein – Kaiser: Pietismus und Patriotismus); aber auch Kant hält noch in seinen z. T. kryptischen Aufzeichnungen zum Anthropologiekolleg fest: »Dagegen enthusiastisch in Freundschaft und patriotism.« (Hinske: Verwendung der Wörter, S. 80.) Für Beispiele aus dem Briefwechsel Jacobis sei hier verwiesen auf seinen Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 17.7.1771 (JBW I,1, 120) und die Briefe von J. Müller vom 2.1.1788 (Müller: Werke, Bd. 38, S. 54) sowie vom 6.2.1788 (ebd., S. 63). In diesen Kontext gehört auch der Enthusiasmus für die eigene Sprache: vgl. Jacobis Brief an seinen Buchhändler Rey vom 25.11.1768 (JBW I,1, 67). 55

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VI. Phantasie

unverstopften, äußern und innern Sinnen sieht, hört und fühlt was warhaft schön und gut ist, eben so natürlich ist, als dem Eisen im Feuer glühend zu werden. Diesem Zustand der Seele weiß ich keinen schicklichern angemeßnern Nahmen als Enthusiasmus. Denn das, wovon dann unsere Seele glüht, ist göttlich; ist (menschenweise zu reden) Stral, Ausfluß, Berührung von GOtt; und diese feurige Liebe zum Wahren Schönen und Guten ist ganz eigentlich Einwürkung der Gottheit; ist (wie Plato sagt) GOtt in uns.«60 An die von Shaftesbury vorgegebenen Grundlinien – wozu auch die vorzüglichen Gegenstände: Natur und (tugendhafte) Seele gehören – wird hier ebenso angeknüpft wie an die Gotterfülltheit Platons – an letztere jedoch mit einer signifikanten Bedeutungsverschiebung. »GOtt in uns« heißt nun nicht mehr: Wir sind das Werkzeug Gottes, willenlos seinem Willen unterworfen.61 Es heißt vielmehr: Wir sind als diejenigen, die sich für das Wahre, Schöne und Gute begeistern, wie Gott. Ja, diese Eigenschaft, dieser Enthusiasmus ist das Göttliche in uns, und ebendies gilt es zu sein: göttlich. Gott wurde so allmählich aus dem Jenseits in den Menschen selbst hineingeholt. An die Stelle »des alten Konzepts von der Gotterfülltheit« tritt somit in der Moderne der »Aufschwung zur Gottheit«.62 Der Enthusiasmus in diesem neuen Sinne ist mithin eine Gestalt der Säkularisierung; er steht für das Immanent-Werden des Transzendenten.63 Folgt man dem Briefwechsel Jacobis weiter auf den Spuren des positiv besetzten Enthusiasmus, so zeigt sich, daß es im Einzelfall etwa eine Schrift sein konnte, die enthusiasmiert,64 ein Autor, der und dessen Werk enthusiastisch stimmt65 oder ein Freund, dem man mit Enthusiasmus begegnet.66 In allen diesen Fällen ist der Enthu60

Christoph Martin Wieland: Zusatz des Herausgebers [zu Leonhard Meister: Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerey. Bern 1775]. In: Der Teutsche Merkur, 1775, IV, S. 151–155, hier S. 152 f. – Schings nennt Leonhard Meister einen »der ungeduldigsten Wortführer des Antienthusiasmus« (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 273; vgl. zu diesem auch Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 96 u. 117). 61 Vgl. hierzu ebd., S. 86: »Der griechischen Lehre von enthousiasmos als schöpferischer Gottergriffenheit fehlt (zumindest vor Plotin) noch jede Idee menschlicher Selbsttätigkeit.« 62 Ebd., S. 85 f. 63 Den Zusammenhang zwischen Enthusiasmus-Diskussion und Säkularisierung thematisiert auch Michael Heyd: »Be Sober and Reasonable«. The Critique of Enthusiasm in the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries. Leiden u. a. 1995 (= Brill’s Studies in Intellectual History; Bd. 63), S. 274–279. 64 Vgl. etwa den undatierten (vermutlich Anfang April 1769) Brief an M. M. Rey: »A-t-on deja en françois une traduction d’un ouvrage anglois, vojages sentimenteux de Yorick? j’en sui enthousiasmé.« (JBW I,1, 74.) – Vgl. auch den Brief an F. F. W. M. von Fürstenberg vom 17.7.1771 (JBW I,1, 122). 65 Vgl. etwa Wieland, der nach abermaliger Lektüre der Neuen Heloise »für J. J. Rousseau von neuem eine Art von Enthusiasmus bekommen« hat (Brief vom 2.12.1771; JBW I,1, 147). 66 Vgl. etwa im Brief von T. Wizenmann vom 22.5.1783: »[…] ich bewundre Ihren Unglauben

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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siasmus nicht nur angebracht, sondern nachgerade gefordert, wie Jacobis Brief an seinen Bruder Johann Georg vom März 1772 zeigt: »Ich werfe mir vor, daß ich dir – über deine beste Welt nicht mit dem Enthusiasmus geschrieben habe, den du zu erwarten berechtiget warest.«67 Richtet sich dagegen der Enthusiasmus auf einen unwürdigen Gegenstand, so ist er unangebracht und wird entsprechend verworfen. Wielands »Enthusiasmus für den seichten, niederträchtigen Linguet« erscheint Jacobi beispielsweise als dumm,68 und Stolberg wendet sich aus der Perspektive des bibeltreuen Christen in seinem Roman Numa mit Nachdruck »wider den übertriebenen Enthusiasmus für die Alten«,69 d. h. für die antike Philosophie. Im Rahmen solcher Kritik bleibt der Enthusiasmus an sich jedoch unangetastet. Er wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Allerdings zeigen diese Beispiele auch, in welchem Maße die Unterscheidung von angemessenem und inakzeptablen Enthusiasmus, insofern sich seine Legitimität an bestimmte Inhalte oder Gegenstände knüpfte, im Dienste der Durchsetzung bestimmter Werte stand. Strittig war dagegen erwartungsgemäß, welche Verhaltensweise unter welche Art von Enthusiasmus zu subsumieren sei: Was den einen als Erscheinungsform eines »wahren Enthusiasmus« galt, war den anderen Ausdruck einer übertriebenen, Verhältnismäßigkeiten nicht mehr wahrenden Begeisterung. In seinen Briefen etwa greift Christoph Martin Wieland den Enthusiasmus der Jacobi-Brüder wiederholt an: Diese »jungen Enthusiasten« nehmen zu »hohe Flüge«:70 »Es ist eine vortreffliche Sache um den Enthusiasmus der edeln Seelen schreibt mir heute jemand, aber – er macht ein wenig intolerant. Dies hat Shaftesbury schon gesagt, und es ist wahr.«71 Der Enthusiasmus, den Jacobi Wieland entgegenbringt und der enthusiastische Ton, in welchem er seine Briefe verfaßt, »läßt« Wieland daher auch zunehmend »kalt«.72 Aus der Not einer krisengeschüttelten Freundschaft zu Jacobi heraus verbittet sich Wieland gerade und liebe Ihren Geist mit einem Enthusiasmus, der meine ganze Seele bewegt!« (JBW I,3, 146.) Vgl. auch Wielands Brief vom 3.1.1773, in welchem geschildert wird, wie Jacobis Portrait auf seine Familie wirkt. Insbesondere das erst 18 Monate alte Dorchen »geräth«, so schildert Wieland, »bei Erblickung dieses wunderthätigen Bildes in Enthusiasmus und streckt ihm ihre Händchen entgegen« (JBW I,1, 182). Vgl. auch im Brief an P. E. Reich vom 27.5.1771: »[…] dergleichen Art zu handeln darf mann nur von einem feurigen Liebhaber der Künste, und von einen [sic] enthusiasten der Freundschaft erwarten.« (JBW I,4, 319.) 67 Undatierter (etwa von Mitte März 1772) Brief (JBW I,1, 154). 68 Brief an M. E. Reimarus vom 28.5.1781 (JBW I,2, 310). 69 Brief Jacobis an F. L. zu Stolberg vom 29.1.1794 (AB II, 142; vgl. auch 148). 70 Brief vom 11.4.1771 (JBW I,1, 105). 71 Undatierter (etwa vom 4.7.1773) Brief (JBW I,1 190). – Vgl. auch in seinem Brief vom 9.10.1771: »Was hilft alle die ungeheüre Menge von Enthusiasmus, den wir für einander haben, wenn wir einander nicht ertragen lernen?« (JBW I,1, 142.) – Vgl. auch Jacobis Brief an C. M. Wieland vom 10.7.1773 (JBW I,1, 191). 72 Brief vom 30.9.1773 (JBW I,1, 212). – Vgl. hierzu auch den undatierten (etwa vom 2.5.1774) Brief (JBW I,1, 228).

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VI. Phantasie

in bezug auf sie, dem ureigenen Terrain empfindsamen Gefühlsüberschwangs, jeglichen Enthusiasmus: »Nur wenigstens keinen Enthusiasmus von Freundschaft mehr!«73 Schließlich geht Wieland gar so weit, in der Weise eines Predigers vor dem Enthusiasmus als einer teuflischen Macht zu warnen: »Bei allem dem – resistite Diabolo, d. i. widerstehet dem Enthusiasmo, so sehr er auch die Gestalt eines Engels des Lichtes annimmt.«74 Von seinem eigenen, im oben bereits erwähnten Merkur-Text aufgestellten Grundsatz, »die Namen Enthusiast und Schwärmer nicht länger als Schimpfwörter zu gebrauchen«,75 ist Wieland hier, in der ersten Hälfte der 1770er Jahre, also noch recht weit entfernt. In Wielands Kritik des Enthusiasmus überhaupt und des Jacobischen im Besonderen spiegelt sich die aufklärerische Kritik an allen Formen eines ungezügelten, d. h. vernünftiger Kontrolle entratenden Überschwangs, sei es des Gefühls, sei es der Phantasie. Diese Kritik, die im Falle Wielands abermals auf seine Distanz zu den »Kraft«- und »Original-Genies« des Sturm und Drang verweist, hinterläßt auch ihre Spuren im Briefwechsel Jacobis. Auf der einen Seite kann zwar bis zum Ende der 1780er Jahre von einem Menschen oder einer Schrift mit Enthusiasmus gesprochen werden,76 doch wird durch entsprechende Zusätze eine aufklärungsadäquate Form nachdrücklich zu legitimieren versucht: Erlaubt ist er als warmer, vernünftiger, ehrlicher Enthusiasmus.77 Die Wirksamkeit der aufklärerischen Kritik, als deren Exponenten etwa Locke und Kant zu nennen sind,78 zeigt sich im Briefwechsel in Gestalt 73

Brief vom 11.3.1774 (JBW I,1, 223). Brief vom 1.7.1774 (JBW I,1, 241). 75 Wieland: Zusatz des Herausgebers, S. 155. 76 Vgl. etwa im Brief von J. G. Hamann vom 22.–30.10.1785: »Hippel erinnert sich Ihrer mit einem Enthusiasmo der Freundschaft.« (JBW I,4, 223.) In dem gemeinsam mit S. H. Jacobi verfaßten Brief an A. von Gallitzin vom 11.–15.11.1785 schreibt Lene Jacobi bezüglich des Eindrucks, den die Fürstin in Weimar hinterlassen haben soll: »Die Herderin schrieb auch voll Enthousiasmus über Sie, liebe Amalia, an Lottchen. Geist, Herz, Seele u Gestalt hatten Sie hingerißen« (JBW I,4, 238). – Vgl. zudem im Brief von T. Wizenmann vom 6.7.1786, wo dieser Hausleutner mit den Worten zitiert: »Abel sprach mit Enthusiasmus von Deinem Buche [= den Resultaten]; konnte den herrlichen Styl und schönen Ausdruck nicht genug loben« (JBW I,5, 289), im Brief an J. Müller vom 20.8.1787: »[…] u es darf Ihnen nicht ganz gleichgültig seyn, wenn ich Ihnen versichere, daß dieser Mann [= Hamann] nie anders als mit Enthusiasmus von Ihnen spricht, u sich unaussprechlich nach Ihrer Bekanntschaft sehnt.« (Handschrift: Stadtbibliothek Schaffhausen) und schließlich von W. von Humboldt vom 18.10.1789: »Er [= Alexander von Humboldt] hat mir von Ihnen mit einer Wärme und einem Enthusiasmus geschrieben, der mich […] innig gefreut hat.« (Leitzmann: Briefe Humboldt, S. 27 f.) 77 Vgl. den Brief an J. R. Graf Chotek vom 16.6.1771 (JBW I,1, 109) sowie in den Briefen an Wieland vom 15.10.1774 (JBW I,1, 262) und vom 23.2.1777 (JBW I,2, 54.) – Der »vernünftige Enthusiasmus« wurde übrigens schon 1765 von Voltaire empfohlen; auch die Enzyklopädisten legten ihn allen Künstlern nahe (vgl. Sauder: Empfindsamkeit [1974], S. 139). 78 Vgl. Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 94 f. – Zu Locke vgl. auch Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 32 f. Die Einschätzung Kants fällt bei Pries deutlich anders 74

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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einer Verteidigung des Enthusiasmus, die die möglichen Einwände explizit oder implizit aufgreift. Insbesondere jene Adressaten, die kaum als Exponenten der empfindsamen Tendenz bezeichnet werden können, spricht man gerne auf diese Weise an. So etwa ist in einem Brief Jacobis an August Wilhelm Rehberg zu lesen: »Wenn ich von mir selbst etwas halte, so ist es allein wegen dieses freien Sinnes, der mich nach allem hinzieht, was Leben, Mittelpunkt, eigenen Genuß und Daseyn hat, und mich nur vom Todten und Verschnittenen zurückhält. – Ja, für diese Pan’sche Art und Kunst, oder auch Religion (im Sinne der römischen Sprache), bin ich ein Eiferer; wenn man will, ein Enthusiast, ein Schwärmer; ich kann es nicht abläugnen, alle meine Schriften beweisen es.«79 Der Begriff »Enthusiast« wird somit sehr nachdrücklich in Verbindung mit einem defensiven Gestus gebraucht, und die Verteidigung muß höchste Güter anführen, um den Enthusiasmus rechtfertigen zu können. Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit ist es wenig überraschend, daß gerade die Schrift eines Freundes hinreichende Rechtfertigung bietet. Begeistert über den Anfang des dritten Teils seiner Geschichte der Schweiz schreibt Jacobi an Johannes Müller: »Schelten Sie mich einen Enthusiasten, aber es ist wahr, daß ich in eine Art von Fieber bey dem Lesen gerieth.«80 Enthusiast, so wird hier deutlich, ist – der Wielandischen Aufforderung zum Trotz – im Diskurs der Aufklärung immer noch als Schimpfwort gebräuchlich; dessen ist man sich wohl bewußt.81 Der Enthusiasmus wird – implizit oder explizit – Vernunft und (rationaler) Philosophie gegenübergestellt82 und stand daher nach wie vor im Verdacht, das Projekt der Aufklärung zu gefährden. Innerhalb bestimmter, vor allem rationalitätsfixierter Strömungen galt der Enthusiast daher als ein Feind der Aufkläaus als bei Schulte. Während letzterer ausschließlich die Kantische Abwertung des Enthusiasmus betont, streicht erstere die durchaus auch positive Komponente heraus (Pries: Einleitung, S. 11). Dem liegt eine Ambivalenz in der Sache zugrunde. Kant definiert in der Kritik der Urteilskraft den Enthusiasmus als die »Idee des Guten mit Affekt«; aufgrund des negativen Affektbegriffs bei Kant bleibt der Enthusiasmus aber dennoch verworfen: Zwar kann er ästhetisch als erhaben gelten, verdient aber nicht das »Wohlgefallen der Vernunft« (Kant: Werke, Bd. V, S. 362 f. [= B 121 / A 119 f.]). Auch die von Hinske aus dem Anthropologiekolleg angeführten Beispiele lassen deutlich werden: Bei aller – z. T. äußerst nachdrücklichen – Ablehnung, ja Pathologisierung von Enthusiasmus und Schwärmerei bleibt ein positiver Grundton, sofern es sich um »an sich wahre und bewährte Ideen« handelt (Hinske: Verwendung der Wörter, S. 81; vgl. auch S. 80). 79 Brief vom 2.5.1788 (AB I, 468). 80 Brief vom 28.7.1788 (Handschrift: Stadtbibliothek Schaffhausen). 81 Vgl. hierzu auch im Brief von J. G. A. Forster vom 24.5.1783: »Aber solange es einen blauen gestirnten Himmel giebt, wird es trotz ihnen Leute geben, die da lesen, und sich freuen werden, daß man sie Enthusiasten schimpft.« (JBW I,3, 152.) 82 Vgl. etwa im Brief J. G. Hamanns vom 15.6.1786: »Er [= Dr. Motherby, der seinen Sohn Johann Michael inoculierte; C.G.] war einer der sonderbarsten Menschen in seiner Diät u Denkungsart, die eben so philosophisch als enthusiastisch war.« (JBW I,5, 251.)

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VI. Phantasie

rung und teilte somit das Schicksal des Empfindsamen, wobei eine Personalunion beider ohnehin mehr oder weniger unterstellt wurde – die übrigens auch den Hypochonder mit einschloß.83 Eine ebensolche und weit größere Gefahr sah die Aufklärung aber in der Schwärmerei, die – sofern nicht beide Begriffe mehr oder weniger synonym verwendet wurden – durchgängig mit dem zu verwerfenden Enthusiasmus identifiziert wurde.84 Dies läßt auch Wielands Plädoyer für eine strikte Abgrenzung von Enthusiasmus und Schwärmerei deutlich werden:85 Mehr noch als der Enthusiast hatte sich der Schwärmer durch eine überschwengliche Phantasie und Einbildungskraft von der Realität entfernt und hing Grillen und Hirngespinsten nach. »Ich nenne«, so definiert Wieland denn auch, »(mit Hrn. ** und meines Wissens, mit der ganzen Welt) Schwärmerey eine Erhitzung der Seele von Gegenständen die entweder gar nicht in der Natur sind, oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht.«86 Die Schwärmerei war daher – anders als der Enthusiasmus – durchgängig negativ besetzt, wenngleich es auch hier harmlosere – und insofern tolerable – Formen gab.

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Vgl. zum Zusammenhang von Enthusiasmus / Schwärmerei und Hypochondrie vor allem Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 21, 197, 199 u. ö. Auf den Konnex dieser beiden mit der Empfindsamkeit verweist vor allem Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 137 f.: »Die Polemik gegen die Empfindsamen operiert häufig mit den Schlagwörtern ›Enthusiasten‹ und ›Schwärmer‹. Dabei wird ›Empfindsamkeit‹ gelegentlich als ›Art‹ der ›Gattung Enthusiasmus‹, ›Schwärmerei‹ als ›ausschweifende Empfindsamkeit‹ oder ›ausschweifender Dichtergeist‹ charakterisiert.« Vgl. hierzu auch Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 476. – Interessant ist, daß nicht nur die Hypochondrie, wie in Kapitel IV.2.4.2 dargestellt, als »englische Krankheit« bezeichnet wurde, sondern ebenfalls der Enthusiasmus (vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 43). Überdies will man nicht nur die Empfindsamen ins »Arbeitshaus« stecken (vgl. Doktor / Sauder: Nachwort, S. 215), sondern auch die Schwärmer, wenn sie nicht schon gleich ins »Spinn- oder Raspelhauß« gehören (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 285 u. 288). 84 Eine kurze Übersicht über Stationen, Erscheinungsformen und Entwicklung der Schwärmerdebatte in den 1770er bis 1790er Jahren gibt Heinz: Wissen vom Menschen, S. 167 f. 85 Vgl. in dem oben bereits erwähnten Zusatz des Herausgebers: »Ich finde, daß viele Gelehrte (so wie der Verf. der vorstehenden Blätter [= Leonhard Meister]) noch immer Schwärmerey und Enthusiasmus als gleichbedeutende Wörter gebrauchen, und dadurch Begriffe, die mit äußerster Sorgfalt auseinander gesezt werden sollten, dergestalt verwirren, daß sie immer Gefahr lauffen, ihren Lesern halbwahre Sätze für voll zu geben, und in ohnehin übel aufgeräumten Köpfen noch mehr Unordnung anzurichten.« (Wieland: Zusatz des Herausgebers, S. 151 f.; Hervorhebung von mir, C.G.) – Schulte macht allerdings darauf aufmerksam, daß »Adelung als führender deutscher Lexikograph der Zeit« von solchen Unterscheidungen bis zum Ende des Jahrhunderts unbeeindruckt blieb (Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 96). – Auf nationale Differenzen verweisen Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 139; Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 5 und ders.: Verwendung der Wörter, S. 75. 86 Wieland: Zusatz des Herausgebers, S. 152. – Vgl. hierzu die bei Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 419 wiedergegebene, fast gleichlautende Definition der Schwärmerei im Archiv für Schwärmerey und Aufklärung, die nach Meinung von Engel / Helmreich »durchaus dem zeitgenössischen Mainstream-Urteil [entspricht]«. Damit wird auch der repräsentative Charak-

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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Das zumeist paarweise Auftreten von Enthusiasmus und Schwärmerei innerhalb der Aufklärungskritik läßt sich im Briefwechsel Jacobis wiederum anhand der Wielandschen Briefe verfolgen. Dessen Kritik am Enthusiasmus der empfindsamen Seelen, insbesondere demjenigen der Brüder Jacobi, ist nämlich ständig begleitet von dem Vorwurf der Schwärmerei: »Ihr seyd alle zusammen mehr oder weniger Schwärmer; eines steckt das Andere an; und Gott allein kan euch helfen!«87 Neben Johann Georg und Friedrich Heinrich Jacobi sind es vor allem die Dichter Heinse und Gleim, deren Schwärmerei ins kritische Visier Wielands rückt. Die Kritik an Heinse läßt dabei abermals deutlich werden, in welch hohem Maße sich hier unterschiedliche Tendenzen der Aufklärungszeit gegenüberstanden, die nicht zuletzt auch eine Frage der Dichtergeneration waren:88 »Mit dieser Mode, immer, wie Heinse, über die gesunde Vernunft und die gelassene Untersuchung, als ein paar gefrorne alte Weiber, zu spötteln, nichts für wahr gelten lassen wollen, als was den Sinnen und einer erhitzten Imagination so vorkommt, wird man in kurzer Zeit allen Menschenverstand aus Deutschland wegdichten und wegschwärmen.«89 Er bittet denn auch Jacobi, mäßigend auf Heinse einzuwirken: »Wenn Sie ihn dahin bringen könnten, richtiger zu denken und weniger zu schwärmen, so würden Sie ihm und der Welt einen Dienst gethan haben.«90 Die Entfernung aus den Händen Gleims und der Aufenthalt in Düsseldorf schien die notwendige Voraussetzung für eine solche, heilsame Einflußnahme zu bieten, denn, so formulierte es nunmehr Jacobi, der »schwärmerische, unphilosophische Gleim würde in kurzem ihn ganz verdorben haben«.91 Auch Wieland sah im Falle Jacobis, der sich ja von ihm ebenfalls den Vorwurf der Schwärmerei hatte gefallen lassen müssen, noch Anlaß zur Hoffnung: »Die Hitze […] ist, danck sey Gott, nur in Ihrem Blute; Ihr Herz ist groß und edel, und Ihr Kopf (wenn er nicht schwärmt) gesund.«92 Die typischen Konturen, die die Aufklärung der Schwärmerei verleiht, treten in dieser – gemessen am Zeitraum des Briefwechsels – frühen Schwärmerkritik bereits deutlich zutage: Die Schwärmerei wird nicht nur der »gesunde[n] Vernunft«, der »gelassene[n] Untersuchung«, dem »Menschenverstand« und einer phiter der Wielandschen Definition bestätigt. – Vgl. im übrigen die von Hinske aus dem Anthropologiekolleg Kants zusammengetragenen Definitionen (Hinske: Verwendung der Wörter, vor allem S. 78). 87 Brief vom 8.–9.9.1771 (JBW I,1, 134). 88 Vgl. hierzu oben die Kapitel V.1 und V.2 sowie Wielands Brief an Jacobi vom 8.11.1774 (JBW I,1, 269). – Als Beispiel für die aufklärerische Gegnerschaft zum Geniewesen sei hier Johann August Eberhards Beitrag zur von Wieland im Teutschen Merkur initiierten Schwärmerdebatte genannt, in welchem von den »kraftrufenden Vernunftfeinden« die Rede ist (zit. nach Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 271); vgl. hierzu auch Gottscheds Angriff auf Klopstock (ebd., S. 272). 89 Brief vom 9.12.1774 (JBW I,1, 271). 90 Brief vom 28.5.1774 (JBW I,1, 235). 91 Brief an C. M. Wieland vom 4.6.1774 (JBW I,1, 239). 92 Brief vom 16.7.1773 (JBW I,1, 193).

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VI. Phantasie

losophischen Haltung entgegengesetzt, sondern auch in aufklärungsadäquater Manier pathologisiert.93 Die Pathologisierung des von der Normvorgabe der Vernunft abweichenden, des Devianten also, kann als ein wesentliches Instrument der aufklärerischen Normierungsstrategien angesehen werden: Das Unvernünftige ist immer zugleich das Kranke.94 Diese Pathologisierung geriert sich allerdings nicht selten als eine Form der Mäßigung:95 Das vormals Verteufelte – übrigens auch das vormals Heilige – wird in der Aufklärung zum Therapiebedürftigen. Beispielsweise wendet sich Wieland – als Herausgeber des Teutschen Merkur und wie oben bereits erwähnt – gegen die Verwendung der Begriffe Enthusiasmus und Schwärmerei als Schimpfworte und bestimmt: »Ein Schwärmer seyn, ist nicht schimpflicher als ein hitziges Fieber haben; ein Enthusiast seyn, ist das liebenswürdigste, edelste, und beste seyn, was ein Sterblicher seyn kann.«96 Jacobi zitiert aus diesem »kurzen Aufsaze[] von so seltnem Werthe« in seinem 1783 im Deutschen Museum publizierten Beitrag Ueber und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werkes, »Des lettres de Cachet et des prisons d’état« und setzt in der Fußnote fast den gesamten Text hinzu.97 Wenngleich Wieland die dort aufgestellten Richtlinien für den Sprachgebrauch – erstlich die präzise Unterscheidung von Enthusiasmus und Schwärmerei, zum zweiten deren Nicht-Verwendung als Schimpfworte – in seinen Briefen an Jacobi, wie gesehen, nicht beherzigt, so kann sich Jacobi den Bestimmungen Wielands, die sich eindeutig in die Tradition Shaftesburys einreihen, offenbar vorbehaltlos anschließen. Dasselbe gilt im übrigen für Georg Forster, wie dessen Brief an Jacobi vom Mai 1783 zeigt: »Was Sie von Wieland über Enthusiasmus u Schwärmerey citiren, müßte man an die Milchstraße schreiben, damit es jedermann läse und zu Herzen nähme.«98 Im Gegensatz zu Wielands strikter Ablehnung jedweder Form von Schwärmerei99 stehen Jacobi und einige seiner Korrespondenzpartner – wie beispielsweise Forster, Hamann und Herder – ihr gelassener, bisweilen sogar wohlwollend gegenüber. Auf 93

Vgl. schon das Beispiel Gilbert Burnet, dessen 1718/19 im Free-Thinker erschienene Essays den Enthusiasmus als eine therapiebedürftige Krankheit beschreiben (vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 15; vgl. auch das weitere Beispiel S. 36). 94 Vgl. auch Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 23. – Dies konnte bis zur konkreten Vision einer Ansteckungsgefahr gehen (vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 39 und Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 475). Vgl. hierzu auch das Beispiel Kant (Euler: Orientierung im Denken, S. 167, Fn.). 95 Vgl. Begemann: Furcht und Angst, hier insbesondere das Zitat aus dem Hypochondrie-Buch Johann Ulrich Bilguers S. 261 f. 96 Wieland: Zusatz des Herausgebers, S. 155. Ebd., S. 153 hieß es bereits: »Schwärmerey ist Krankheit der Seele, eigentliches Seelenfieber: Enthusiasmus ist ihr wahres Leben!« 97 Deutsches Museum (1783), 1. Bd., S. 361–394 u. 435–476, hier S. 373 f.; vgl. JWA 4,1, 367– 425, hier 377 f. 98 Brief vom 24.5.1783 (JBW I,3, 152). 99 Vgl. hierzu auch Wielands Briefe vom 21.10.1774 (JBW I,1, 266 f.) und vom 8.11.1774 (JBW I,1, 269).

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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der einen Seite findet man zwar auch bei ihnen eine Kritik schwärmerischen Verhaltens,100 und sie sehen sich selbst ungern dem Vorwurf der Schwärmerei ausgesetzt.101 Auch werden Freunde vor dem Verdacht der Schwärmerei in Schutz genommen, wie beispielsweise Jacobis Charakteristik von Claudius in einem Brief an Heinse zeigt: »Er hält so gar, wie Lavater, auf den wunderthätigen Glauben. Dieses muß Ihnen seltsam vorkommen, und Sie werden mir schwerlich glauben, wenn ich Ihnen sage, daß dieser Mann von aller Schwärmerey so weit entfernt ist, als Sie nicht leicht einen gesehen haben mögen, und voll Luzianischen Geistes.«102 Auf der anderen Seite wird Schwärmerei aber auch gelobt, nur im Ausnahmefall allerdings in einer so scheinbar bedingungslosen Form, wie in jenem frühen Brief Jacobis an seinen Bruder Johann Georg, in welchem er »die liebliche Schwärmerey, (ce charmant delire)« eines seiner

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Vgl. etwa Claudius’ Kritik an der Gestalt Woldemars, die Jacobi im Brief an J. G. A. Forster vom 5.11.1781 zitiert: »Ueberhaupt […] dieser Biederthal ist mein Mann, und obwohl Woldemar oft noch scharfsinniger und mächtiger als er zu seyn scheint, so verfällt er mir auch dagegen hie und da in Schwärmereien« (JBW I,2, 370). – Vgl. auch im Brief an J. G. Hamann vom 1.–4.2.1785: »Nachher verlautete, es würde nichts aus diesem Buchholtz, er ließe seinen Geist verwildern, flatterte u schwärmte nach allerhand Gegenständen, ohne sich mit irgend etwas ernsthaft zu befaßen.« (JBW I,4, 36.) – Vgl. überdies in den Briefen von J. G. Hamann vom 3.–7.12.1786: »Es [= Wilhelm Abraham Teller] ist der unsinnigste und unwißendste Schwärmer!« (JBW I,5, 427) und vom 8.– 9.4.1787: »[…] ungeachtet ich weder die Uebersetzung noch übrige theolog. Grillen und Schwärmereyen mit genauer Noth aushalten kann« (Hamann 7, 136); in demselben Brief heißt es über die verstorbene Frau des Freundes und Arztes Andreas Miltz: »Ihre Gutherzigkeit muß aber bis zur Schwäche und Schwärmerey gegangen [sein]« (Hamann 7, 138). Vgl. überdies Jacobis Brief an C. K. W. von Dohm vom 4.5.1790: »Wirklich scheint der Lütticher Aufstand mehr durch Erbitterungen einzelner Menschen, denen Schwärmerei und Uebermuth zu Hülfe kam, erregt; als von selbst aus einem gemeinsamen Triebe, dem ein wahres Bedürfniß zum Grunde lag, entstanden zu seyn.« (AB II, 26.) 101 Vgl. etwa im Brief an J. A. H. Reimarus vom 23.10.1781, wo Jacobi seine Darstellung des Allwill verteidigt: »Um bey dieser seltsamen Gattung von Schwärmern nur einiger Maaßen Gehör zu finden, muß man sich beweisen als einen aus ihrer Mitte, als einen der zu allem was sie hochschätzen reichlich den Zeug hat« (JBW I,2, 356). Vgl. überdies den Brief an J. G. A. Forster vom 25.10.1779 (JBW I,2, 118). – Vgl. auch im Brief von L. Westenrieder vom 27.12.1784: »Ich lebe einsamer, als die Einsamkeit selbst, bin bei keiner Innung, werde meiner Schriften wegen, wo ich immer von Herstellung der Sittlichkeit, und von Anstrengung spreche, als ein Schwärmer verlacht, oft auf das empfindlichste mitgenommen.« (JBW I,3, 409 f.) 102 Brief vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 203 sowie erläuternd unten Anm. 220); ganz ähnlich muß es Soemmerring in seiner persönlichen Begegnung mit Lavater ergangen sein, wie sich aus Georg Forsters Brief an ihn vom 23.7.1786 erschließen läßt: »Allein daß Du glaubst, ein Mann der hocus pocus mit seiner Frau macht [Lavater hatte seine Frau selbst magnetisiert und war seitdem überzeugter und eifriger Anhänger des sogenannten »tierischen Magnetismus«; C.G.], sei im Ernst ein billig denkender Mann, das ist mir unbegreiflich.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 516.) – Jacobis Brief an Wieland vom 15.10.1774 deutet übrigens auf eine ähnliche Erfahrung: »Ich erinnere mich nicht, kürzlich jemand mit so vielem Geist und einem so warmen und zugleich so vernünftigen Enthusiasmus reden gehört zu haben, als Lavater.« (JBW I,1, 262.)

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VI. Phantasie

Gedichte hervorhebt.103 In der Regel ist die Akzeptanz der Schwärmerei an gewisse Kautelen gebunden. Vermutlich nicht zuletzt als Tribut an seinen Adressaten stellt Jacobi im Rahmen seiner kritischen Würdigung des Wielandischen Romans Die Geschichte des Agathon die Vernunftverträglichkeit als eine der Bedingungen tolerabler Schwärmerei heraus: »Agathon ist, bei seiner Schwärmerei, ein Jüngling voll Geist und Scharfsinn; seine Empfindungen, Erfahrungen und Ideen hängen gut zusammen; in seiner Schwärmerei ist nichts Ungereimtes, nichts Phantastisches; sie ist natürlich, die reine Vernunft kann neben ihr bestehen«.104 Dieser Bezug auf Vernunft erhält sich auch noch in Forsters Plädoyer für die Schwärmerei angesichts von Lichtenbergs gänzlich unschwärmerischem Wesen: »Nun noch das merkwürdigste; so heiter, so aufgehellt es in seinem [= Lichtenbergs] Verstande aus sieht, so lebhaft, und originell er denkt, sowenig fällt er doch ins andre Extrem der Genie-schaft. Mit einem Worte, er schwärmt gar nicht. Soll ich treuherzig sagen, was ich davon denke, auf die Gefahr ausgelacht zu werden? Ich wollte lieber, er schwärmte ein ganz klein wenig. Ich weis, ich schwärme selbst sowenig, als ein Mensch auf Erden (freilich aus einer andern Ursache,) allein ich finde es so liebenswürdig, besonders so lange man sich selber bewußt ist, daß man schwärmt. Wenn es diese Gränzen übersteigt, so phantasirt man im hizigen Fieber.«105 Etwa so mag Forster zu jener Zeit Jacobi gesehen haben: als jemanden, der mit Vernunft – oder zumindest mit Bewußtsein – schwärmt. Sein Plädoyer ist somit – wie oftmals – zweifellos dem Adressaten Jacobi geschuldet. Die Abgrenzung unzulässiger Schwärmerei und deren Pathologisierung – in der Weise Wielands – findet sich jedoch auch bei ihm. Den entscheidenden Unterschied macht wiederum die Disponibilität, mithin die Erhaltung der Autonomie. Enträt das Wirken der Einbildungskraft der eigenen Willkür, so ist der Ernstfall der Krankheit gegeben. Für Jacobi selbst war Schwärmerei vor allem dann zulässig, wenn der Gegenstand derselben von hohem moralischen Wert ist. Das Gute, Wahre und Schöne als oberste und allgemeinste Werte erfordern nachgerade eine schwärmerische Haltung, wie Jacobi in einer auf Verteidigung angelegten Briefpassage an Wieland deutlich herausstellt: »Es mag meinetwegen Schwärmerei seyn, aber ich bin nun einmal so organisirt, daß ich glauben muß, ich habe nichts in der Welt zu verlieren, das besser wäre, als der Muth, den ich in mir fühle, mich in allen Fällen zu dem, was ich für wahr, gut und

103 104 105

Brief vom 16.4.1768 (gemeinsam mit J. K. S. Fahlmer) (JBW I,1, 56). Brief vom 20.8.1772 (JBW I,1, 160). Brief vom 10.10.1779 (JBW I,2, 112).

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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schön halte, zu bekennen«.106 Shaftesburys Definition eines »vernünftigen« Enthusiasmus klingt in dieser Briefstelle aus dem Jahre 1772 deutlich mit und wird sich später in Wielands Definition im Teutschen Merkur ebenfalls finden lassen.107 Neben diesen allgemeinen und abstrakten Werten ist es allerdings wieder einmal der Inbegriff empfindsamer Ausdrucksformen schlechthin, der freundschaftliche Brief nämlich, der – so das epistolare Szenarium – selbst jene Menschen zu Schwärmern werden läßt, die eigentlich hierzu nicht die geringste Neigung besitzen: »Tausend Dank, beste Amalia, für Ihren herzigen Brief«, heißt es in Jacobis gemeinsam mit seiner Schwester Lene verfaßten Brief an die Fürstin Gallitzin vom 15. Juli 1780, »tausend Dank von mir u von Bruder Helenus [= Lene Jacobi], der durch Sie zum ersten mal in seinem Leben zum Schwärmer geworden ist.«108 Allerdings vermögen auch sehr schmerzvolle Ereignisse den Nährboden für eine zulässige – nach Maßgabe der normgerechten Selbststilisierung sogar notwendige – Form der Schwärmerei zu bereiten. In Zeiten großer Trauer, so etwa nach dem Tod seiner Ehefrau Betty, scheint Jacobi die Tiefe des Schmerzes und die Größe des Verlustes nur durch eine schwärmerisch anmutende Übertreibung adäquat ausdrücken zu können: »Soll ich sagen daß ich die Welt betraure, weil Betty sie verließ; weil sie Betty nichts mehr geben, nichts mehr seyn kann? Es klänge ausschweifend, thöricht, schwärmerisch; dennoch käme dieß am nächsten dem was ich empfinde.«109 Die angeführten Beispiele zeigen, daß sich das schon im Falle von Begierde110 und Enthusiasmus angetroffene und entwikkelte Muster, demzufolge der Gegenstand den entscheidenden Unterschied darstellt, auch für die Schwärmerei bestätigen läßt, wobei die Trauer überdies einen ›kasernierten‹ Raum innerhalb der Gesellschaft markiert, in welchem zulässig ist, was außerhalb desselben mit Sanktionen belegt würde. Die nach Inhalten differenzierende Einschätzung der Schwärmerei ermöglicht es auch, zwischen guten und schlechten Schwärmern zu unterscheiden. So spricht Georg Forster etwa vom »lieben Schwärmer Woldemar«111 und von »ehrwürdigen Schwärmer[n] wie Fénelon u. A.«112. Letzterer ist auch für Jacobi der »göttliche Mann, den die christliche Welt als einen Schwärmer ausstieß«.113 Selbst Kant nahm derartige Differenzierungen vor. So gilt ihm beispielsweise Rousseau als »ein Achtungswürdiger Schwärmer«. Dem gegenüber steht eine ganz andere Gattung: die »Abscheulichen

106

Brief vom 27.10.1772 (JBW I,1, 169 f.). Vgl. zu dieser gegenstandsabhängigen Bewertung auch Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 472. 108 JBW I,2, 157. – Vgl. auch den Brief J. G. Hamanns vom 2.12.1787 (Hamann 7, 358 f.) 109 Brief an A. von Gallitzin vom 23.2.1784 (JBW I,3, 294). 110 Vgl. oben das Kapitel III.1. 111 Brief vom 1.12.1778 (JBW I,2, 85). 112 Brief vom 8.2.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 263). 113 Brief an F. L. zu Stolberg vom 29.1.1794 (AB II, 144). 107

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VI. Phantasie

Schwärmer «.114 Zu ihnen zählt Jacobi – in völligem Einklang mit den Topoi der Aufklärungsdebatten – etwa Knipperdolling und Müntzer, deren moralische Überzeugungen »den Eigendünkel auf den Thron« setzen.115 Exakt diese Variante der Schwärmerei sollte später ins Zentrum der Auseinandersetzung Jacobis mit den Berliner Aufklärern rücken, die in die zweite Hälfte der 1780er Jahre zu datieren ist.116 Der gewiß nicht definitorisch festgelegte, aber durch die Tradition der Enthusiasmus-Verteidigung Shaftesburys sanktionierte Unterschied von guter und schlechter, ehrwürdiger und abscheulicher Schwärmerei, gab freundschaftlichen Verhältnissen zu Schwärmern117 ebenso Raum wie Selbstbekenntnissen zur Schwärmerei. Insbesondere Hamann benutzt diese Figur höchst absichtsvoll118 – sei es im Sinne einer entschuldigenden Geste,119 sei es um der Selbstkritik willen, in die er bisweilen auch Jacobi einschloß.120 Vor allem aber liebt es Hamann, mit seiner ›schwärmerischen‹ Haltung zu kokettieren. »Leben sie mit den lieben Ihrigen gesund und recht wohl«, heißt es etwa zum Abschluß eines Briefes an Jacobi vom Dezember 1785, »Denken Sie – quantum sufficit, an Ihren zwar nicht gesunden aber auch gar nicht kranken sondern in glücklicher Mitte schwebenden Schwärmer, Mitarbeitenden und mitleidenden Freund Johann Georg Hamann«.121 Zum Zwecke der Selbststilisierung und 114

Zit. nach Hinske: Verwendung der Wörter, S. 78; vgl. aber auch S. 80: »Es giebt auch […] schwärmerische, aber gute Köpfe.« – Die Möglichkeit eines »liebenswürdige[n] Schwärmer[s]« oder »liebenswürdigen Enthusiasten«, wenn der Gegenstand des Enthusiasmus von großer Bedeutsamkeit ist, erwähnt auch Daniel Jenisch in seinem Beitrag Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten (1787) (vgl. Sauder: Empfindsamkeit [1974], S. 140 f.). 115 Brief an J. H. Campe vom 1.11.1782 (JBW I,3, 76). Vgl. auch Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 475. – Vgl. zur transnationalen Tradition solcher Vorwürfe und Termini auch das Beispiel Thomas Hobbes (vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973, S. 22). 116 Vgl. hierzu unten das Kapitel VI.4.2. 117 Vgl. etwa im Brief von J. G. Hamann vom 23.–24.8.1786: »Mein schwärmender zwischen Catholicismo und Herrnhutianismo schwankender Freund Mayer« (JBW I,5, 334). 118 Auch Schings macht in seinem Hamann-Kapitel (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 278–292) deutlich, in welchem Maße Hamann den Vorwurf der Schwärmerei, dem er immer wieder ausgesetzt ist, ummünzt in eine spezifische Selbstkonstruktion über das Etikett der Schwärmerei. 119 Vgl. etwa in den Briefen vom 8.–9.4.1787: »[…] und daher so manchen Bock in meinen schwärmerischen Urtheilen« (Hamann 7, 136) und vom 16.5.1788: »Mein Kopf schwärmt und schwindelt ärger wie Deiner.« (Hamann 7, 480.) 120 Vgl. seinen Brief vom 29.–30.1.1786: »Zufällig erbrach ich den [Brief] vom 5 dieses zuerst, worinn Sie meine Schwärmerey beynahe auszustechen schienen. Was Sie nachher erhalten, wird selbige ein wenig abgekühlt haben. Wir haben beyde Ursache vor unserm Geist uns in Acht zu nehmen.« (JBW I,5, 36.) 121 Brief vom 14.–15.12.1785 (JBW I,4, 285). – Vgl. hierzu auch die Beschreibung der Hypochondrie bei Johann Ulrich Bilguer: »Die Hypochondrie ist eine langwierige Krankheit, bey welcher man sich selten recht krank, und niemals recht gesund befindet.« (Bilguer: Nachrichten an das Publicum, S. 1 f.)

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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gewiß nicht ohne Koketterie bedient man sich zudem besonders gerne des oftmals synonym verwendeten, tendenziell jedoch harmloseren Ausdrucks des »Grillenfängers«. »Leben Sie wohl und haben Sie Mitleiden mit Ihrem alten Grillenfänger«,122 fordert Hamann im Mai 1785 von Jacobi, der von seiner »mikrologischen Mückenseiherey und Grillenfängerey [alle Posttage beynahe bisher] authentische Beläge erhalten« habe.123 Er fordert dies von einem Adressaten, der sich selbst bereits gegenüber Heinse als »stiller, einsiedlerischer Grillenfänger« bezeichnet hat.124 Der Begriff des »Grillenfängers« zielt auf das, was Inhalt oder Ursache der Schwärmerei ist, nämlich die Grille oder das Hirngespinst. Während letzteres immer negativ konnotiert ist, reicht das Spektrum der Grille – analog zu dem der Einbildungskraft selbst – von der bloßen Idee oder dem witzigen Einfall125 bis hin zu beängstigenden, unrealistischen, den Geist übermäßig beanspruchenden oder in eine falsche Richtung lenkenden Vorstellungen.126 Schwärmerei, so kann resümiert werden, war für Jacobi, Hamann oder auch Georg Forster nicht per se schädlich, doch war man ebenso weit davon entfernt, jedweder Form von Schwärmerei das Wort zu reden. Die Diskussion über die Schwärmerei macht deutlich, wie nachhaltig der Briefwechsel Jacobis im Diskurs der Aufklärung verankert ist: Sie bewegt sich zwischen den beiden von der auf Vernunft verpflichteten Aufklärung vorgegebenen Polen, nämlich der Kampfansage gegen die vernunftgefährdende Schwärmerei auf der einen Seite und der Verteidigung gegen den Vorwurf der Schwärmerei auf der anderen: »vernünftig« in einem emphatischen Sinne wollte letztlich jeder sein.

122

Brief vom 17.–23.5.1785 (JBW I,4, 99). Brief vom 30.4.–1.5.1786 (JBW I,5, 174). 124 Brief vom 20.–24.10.1780 (JBW I,2, 200). 125 Auf folgende Reihe von Beispielen sei hier verwiesen: Brief (zus. m. J. G. Jacobi) an J. W. L. Gleim vom 12.3.1782 (JBW I,3, 12) und Brief von J. W. Goethe vom 12.11.1783 (JBW I,3, 251). Insbesondere Hamann bediente sich ausgesprochen gerne dieses Wortes: vgl. seine Briefe vom 10.–12.1.1786 (JBW I,5, 16), 15.1.1786 (JBW I,5, 20), 25.–26.2.1786 (JBW I,5, 74), 3.–7.12.1786 (JBW I,5, 430), 22.3.1787 (Hamann 7, 128), 8.–9.4.1787 (Hamann 7, 135) und 27.4.–3.5.1787 (Hamann 7, 164 u. 180). 126 In Hamanns Briefen findet sich eine Fülle von Beispielen für den Gebrauch des Wortes »Grille« im Sinne einer beängstigenden, beunruhigenden Vorstellung; sie beziehen sich fast durchgängig auf seine eigene Person. Vgl. etwa seine Briefe vom 14.–15.11.1784 (JBW I,3, 385), 22.– 25.7.1785 (JBW I,4, 142), 29.–30.1.1786 (JBW I,5, 38), 4.–6.2.1786 (JBW I,5, 50), 25.5.1786 (JBW I,5, 220 f.), 23.–24.8.1786 (JBW I,5, 332), 3.–7.12.1786 (JBW I,5, 423) und 4.–10.3.1788 (Hamann 7, 418). – Im Sinne einer falschen oder unrealistischen Idee ist die Rede von »Grille« etwa in den Briefen von J. G. A. Forster vom 20.12.1783 (JBW I,3, 264), an J. G. Hamann vom 5.1.1786 (JBW I,5, 11) und an J. G. Kleuker vom 26.10.1787 (Ratjen: Kleuker, S. 95). In diesen Briefpassagen ist »Grille« eindeutig negativ konnotiert, ja geradezu als gefährlich eingestuft. Sie wird hier auch nicht mehr im Hinblick auf die eigene Person, sondern ausschließlich in bezug auf andere Personen verwendet. 123

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VI. Phantasie

Enthusiasmus und Schwärmerei waren – dies ist ein Aspekt – die erklärten Gegenpole einer vernunftfixierten Aufklärung; sie waren die von ihr selbst als solche erst hervorgebrachten Negativbilder und Inkarnationen all dessen, was in dem normierenden Prozeß der Rationalisierung, den die Brüder Böhme (nicht nur) am Beispiel Kants sehr eindringlich beschrieben haben, geächtet, ja vernichtet werden sollte. Insofern ist die durchaus repräsentative Feststellung von Friedrich Wilhelm von Schütz, dem Herausgeber des Archiv für Schwärmerey und Aufklärung, daß die Schwärmerei »nie so vielen Einfluß auf das moralische Uebel der Menschheit gehabt hat, als gegenwärtig«, nichts anderes als ein Konstrukt der Aufklärung selber.127 Die Schwärmerei scheint allerdings nicht nur Konstrukt, sondern ebensosehr auch Effekt der Aufklärung zu sein, wie dies ja auch schon für die Hypochondrie festgestellt wurde.128 Die Romane der Spätaufklärung, zu denen neben »Wielands Schwärmerkuren«129 Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (»geradezu die Verkörperung von Shaftesburys Spott-Probe«130) und Agathon eben auch Jacobis Schwärmeranalysen Allwill und Woldemar gehören, lassen dies in ihrem umfassenden Beitrag zur »Pathogenese, Symptomatik und Bewertung des Schwärmens«131 deutlich werden. Insbesondere der für die Schwärmerei seit jeher kennzeichnende Zug, das »innere Gefühl« als den einzigen Hort der Wahrheit und als untrüglichen Wegweiser zum Guten anzusetzen, wird sowohl in Jacobis Romanen als auch in Wielands Agathon heftig kritisiert.132 127

Zit. nach Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 419. – Vgl. hierzu auch die Beobachtung von Engel / Helmreich: »Kurz: Es kommt zu einem ähnlich paradoxen Phänomen, wie es Foucault am Diskurs über die Sexualität beschrieben hat: Wo Esoterik konsequent tabuisiert wird, wie etwa in der Berlinischen Monatsschrift, wird fatal viel von ihr geredet.« (Ebd., S. 426.) Das Wort »tabuisiert« ist insofern irreführend, als darunter üblicherweise gerade die Nicht-Thematisierung verstanden wird. Tatsächlich geht es hier um Ausgrenzung, wobei das Auszugrenzende als solches in der Debatte allererst produziert wird. Es wäre ja etwa vollständig anachronistisch, den voraufklärerischen – etwa frühneuzeitlichen – Wunderglauben mit dem Begriff »Esoterik« belegen zu wollen. 128 Vgl. hierzu oben das Kapitel IV.2.4.3. 129 Vgl. hierzu Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 197–203. Vgl. zusammenfassend auch Heinz: Wissen vom Menschen, S. 172 f. 130 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 198; vgl. auch S. 201 f. 131 Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 479. Engel zählt die Romane Jacobis wie selbstverständlich unter jenen »anthropologischen Roman der Spätaufklärung«, der ihm »ein wahres Kompendium der Schwärmerkunde« ist (ebd.). Vgl. auch Heinz: Wissen vom Menschen. – Vgl. zur Verwendung des Begriffs bei Jacobi auch Jacobi: Woldemar (2000), S. 249, Fn. 248 (= Kommentar von Iovino). 132 Das von Winkler hervorgehobene Moment der Instabilisierung der Ordnung durch Schwärmerei (vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung) ist ein zentrales Motiv in Jacobis Romanen. Seine dort formulierte Empfindsamkeits- und Geniekritik etwa ist von der Frage getragen, in welcher Weise der einzelne seinem Inneren zu folgen resp. nicht zu folgen hat, wenn eine verträgliche gesellschaftliche Ordnung bewahrt bleiben soll (hierzu Winkler, S. 40). Letztlich geht es

2. Enthusiasmus und Schwärmerei

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Die zeitgenössischen Romane offenbaren, daß zur Symptomatik des Schwärmers die Projektion (innerer) Wunschwelten in die (äußere) Realität gehört.133 Was unter dem Stichwort der Schwärmerei als Realitätsverlust erscheint und entsprechend kritisiert wird, ist aber immer zugleich auch das Programm der Aufklärung selber: Herstellung einer besseren, humaneren, ja vollkommenen Welt. Mehr noch: Wenn es, wie angenommen, in dem Projekt der Moderne tatsächlich darum geht, sich selbst und alles aus sich selbst zu schöpfen, die Realisierung dieser narzißtischen Absolutheitsposition (die vormals die dem Menschen gegenüberstehende, transzendente Gottesposition war) aber mit dem Tod identisch wäre, weil in ihr alle Differenz getilgt sein müßte und kein Nicht-Ich mehr existieren dürfte, dann ist der Schwärmer mit dem für ihn typischen »manisch-depressive[n] Verhaltensmuster«, das sich auch als »Wechsel von Allmachts- und Selbstvernichtungsphantasien« darstellen kann,134 der Repräsentant ebendieser heillosen Heilsdialektik selber. Insofern wäre die Gestalt des Schwärmers in der Tat, wie Hans-Jürgen Schings sagt, »eine säkulare Erscheinung«135 – in dem Sinne allerdings, daß der Schwärmer das offengelegte (und in dieser offenen Form per se kranke!) Aufklärungsbegehren selber darstellt: Es sind die enthüllten Triebkräfte bürgerlicher Produktivität (wobei hier »bürgerlich« eigentlich »menschlich« meint und zwar dessen moderne, säkulare Gestalt). Am Rande sei immerhin die Frage erlaubt, ob dies nicht ebenfalls für die berühmten Schwärmer und Geisterseher des 18. Jahrhunderts – für Swedenborg, Cagliostro, Mesmer, Lavater, Gaßner etc. – gilt, ob diese nicht sämtlich nur eines im Sinne haben: »schon in diesem Leben mit den höhern Geistern in Gemeinschaft zu kommen«, wie es Wielands Agathon formuliert.136 Der Schwärmer ist unmittelbar zu Gott. Und wäre nicht ebendies auch das Programm der Moderne selber, jenes nämlich, das sich im »schwindenden Jenseits der Götter« zu realisieren sucht? Die Gottesnähe bleibt allerdings in dem einen Fall immer noch auf einen jenseitigen Gott bezogen, im anderen geht es um dessen Verlegung in den Menschen selber. auch in den Romanen Jacobis um eine Kritik der »Verabsolutierung der eigenen Auffassung« (ebd., S. 42); es geht um die Ächtung einer falschen und die Auszeichnung der erstrebten »Form sozialen Verhaltens« (ebd., S. 45). Vgl. hierzu auch Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹. – Zu Wielands Agathon vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 201. 133 Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 483. 134 Ebd., S. 484. 135 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 148. 136 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung (= 1766/67). In: Ders.: Werke in 12 Bden. Bd. 3. Hg. v. Klaus Manger (= Bibliothek deutscher Klassiker; Bd. 11). Frankfurt a. M. 1986, S. 209; zit. nach Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 483. – Vgl. auch Kants Definition in seinem Anthropologiekolleg: »Schwärmer: die ietzt schon nach den Empfindungen der künftigen Welt leben und sprechen.« (Hinske: Verwendung der Wörter, S. 78.) – Vgl. hierzu auch Schmidt-Biggemann: Schwärmer / Schwarmgeister, S. 373–375. Dort wird beispielsweise »Johann Caspar Lavaters [Werk] Aussichten in die Ewigkeit« als »das vielleicht nachhaltigste Stück Chiliasmus im 18. Jh.« bezeichnet (ebd., S. 374).

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VI. Phantasie

Damit betreten wir nun den größten Kriegsschauplatz der Schwärmerdebatte: das Terrain der Religion oder des Glaubens, des gemäß Aufklärungskonvention gefährlichsten Gebietes der Schwärmerei, auf welchem letztere – so die sprachliche Übereinkunft in der Debatte – in Fanatismus ausartet.137 Daß vor dem Hintergrund des Immanent-Werdens der Gottesposition – mithin des Übergangs von der Transzendenz in die Immanenz und des Versuchs der Selbstgründung in Vernunft – gerade der Glaube an einen transzendenten Gott teils in Gefahr geriet, teils in Gefahr geraten sollte,138 vermag aber kaum mehr zu verwundern.

3. Schwärmerei und (Aber-)Glaube139 »Ziemlich gleichgültig wird es nun zu dieser Absicht, ob man mich für einen Schwärmer in der Religion oder in der Irreligion nehmen will«.140

Das von der Aufklärung gesteckte Ziel, allem Aberglauben ein für allemal durch rigorose Vernunftprüfung den Garaus zu machen, ließ – nicht zuletzt auch als Folge der historisch-philologischen Bibelkritik – den Offenbarungsglauben des Christentums selbst verdächtig werden. Der Versuch, über die Vermittlung von Vernunft und Offenbarung eine Grenze zu ziehen zwischen Glaube und Aberglaube, mündete nicht selten in einer Zurückweisung des positiven Christentums selbst.141 Insbesondere dem Berliner Aufklärer und Juden Moses Mendelssohn unterstellt Herder in seinen Briefen an Hamann und Jacobi, zunehmend von einem »Haß gegen die Christen« getrieben zu sein, die sich ihm »als gebohrne oder wiedergebohrne Schwärmer « darstellten:142 137

Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (1974), S. 141. Hierzu auch Wielands Bemerkung: »Dem Worte Schwärmerey, in dieser Bedeutung genommen, entspricht das Wort Fanaticismus ziemlich genau wiewohl dies leztere durch den Gebrauch einer besondern Gattung von Schwärmerey, nehmlich der religiosen, zugeeignet worden ist.« (Wieland: Zusatz des Herausgebers, S. 152.) 138 Vgl. hierzu auch Ingo Kauttlis: »Erkenntnistheoretische Skepsis entsteht nie ohne Hintergedanken; sie nimmt stets nur den zweiten Rang hinter dem Interesse ein. So lange man ein Interesse am Dasein Gottes hat, weiß man auch sehr viel über ihn zu sagen.« (Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 19.) 139 Norbert Hinske bemerkt, daß zwei der zentralen Kampfideen der Aufklärung, Aberglauben und Schwärmerei, »im 18. Jahrhundert […] von zahlreichen Autoren in einem Atemzug« genannt werden (Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 4). Kant hätte deren Verhältnis »im Rahmen seiner Anthropologievorlesungen immer wieder neu durchdacht« (Hinske: Verwendung der Wörter, S. 75). 140 Jacobi: Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 299 f.). 141 Mit der Bibelkritik Voltaires war Jacobi hinlänglich vertraut. Vgl. hierzu die Bestellungen bei seinem Amsterdamer Buchhändler Rey noch aus den 1760er Jahren. – Vgl. auch Jacobis Darstellung der Lessingschen Position in Wider Mendelssohns Beschuldigungen (vgl. JWA 1,1, 310). 142 Brief von J. G. Herder an J. G. Hamann vom 2.1.1786 (Herder: Briefe, Bd. 9, S. 372 f.); vgl. auch das Zitat im Brief von J. G. Hamann an Jacobi vom 15.1.1786 (JBW I,5, 22).

3. Schwärmerei und (Aber-)Glaube

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»Denk doch einmal, lieber, Seckendorf, (der in parenthesi envoyé des Preußischen Hofes im Reich ist) kommt von Berlin, hat mit Mendelsohn auch über die Ideen gesprochen u. weißt Du, was dieser fürchtet? Daß es zuletzt ›auf Schwärmerei herausgehen u. zuletzt oben ein Flämmchen brennen werde, das nicht für uns ist‹ Er scheint sich über die Schwärmerei der Christen noch weiter ausgelaßen zu haben; […] Schwärmerei u. Christenthum scheinen ihm les inseparables zu seyn u. er hat nicht unrecht. Christus schwärmte u. wir sollten alle schwärmen.«143 Die offenbar mündlich kolportierte Kritik Mendelssohns an dem gerade erschienenen ersten Teil der Schrift Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit mögen Herders Angriff auf Mendelssohn mitbedingt haben. Interessant ist hier aber, daß sich der (vermeintliche) Vorwurf der Schwärmerei an dieser Briefstelle wandelt von einem defensiven in einen offensiven Gestus: von der Empörung gegen die vorgeblichen Attacken Mendelssohns zu einer trotzig anmutenden Verteidigung christlicher Schwärmerei nämlich. Hamann hatte sich bereits einschlägig zur »Schwärmerei« der Christen geäußert.144 In ganz ähnlicher Weise geht auch Lavater in die Offensive; gegenüber Jacobi bekennt er: »Bis wir in eine Art von Correspondenz mit dem Herrn kommen, und sicher sind, daß Er keine Antwort uns schuldig bleibt – – ist all’ unser Glaube noch eine Art von Schwärmerey.«145 Das schwärmerische Element als wesentliches und unverzichtbares für den (christlichen) Glauben attestiert auch Thomas Wizenmann, wenn er beispielsweise von den ›Heiligen Drei Königen‹ wie beiläufig als den »Schwärmern aus [sic] Morgenland« schreibt, denen ein Stern »leuchtete zur Krippe nach Bethlehem«.146 In solch passagerer Verwendung scheint Wizenmann den Vorwurf der Schwärmerei gegen das Christentum gewissermaßen ad absurdum zu führen, insofern er implizit behauptet, daß ohne Schwärmerei christlicher Glaube nicht denkbar sei. Das alte credo, quia absurdum kommt hier also zu neuen Ehren. Diese Offensive konnte sich jedoch dann ins Gegenteil verkehren, wenn es darum ging, den rechten vom falschen Glauben zu unterscheiden. Am Ende blieb oftmals nur die Übereinstimmung mit der »Heiligen Schrift« als letztes, unhintergehbares, aber eben auch bloß (willkürlich) gesetztes Kriterium.147 Aus einer anderen Perspektive analysiert Georg Forster in einem längeren Brief an Jacobi, der die ihm im Manuskript zugesandten Beilagen IV und VII der zweiten Auflage der Spinoza-Briefe kommentiert, den Zusammenhang von Vernunft und Offenbarung. Die Schwärmerei ist ihm dabei eine mögliche, keineswegs aber die notwendige Konsequenz christlicher Religion: 143 144 145 146 147

Brief vom 25.2.1785 (JBW I,4, 55). Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 291; vgl. auch S. 282 u. 285. Brief vom 2.12.1786 (JBW I,5, 418). Brief vom 8.6.1784 (JBW I,3, 317). Vgl. Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 476.

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VI. Phantasie

»Christus endlich versuchte es nie, die Gottheit begreiflich zu machen. Das einzige Bild, das er sich erlaubt, und zugleich das hinreißendste, war die Liebe. Er empfahl Glauben an Gott, und Vertrauen auf die Liebe dessen, der selbst lauter Liebe ist; und er versprach in diesem Glauben eine Vereinigung, durch welche Erkenntniß allein möglich wird. Damit öffnete er eine Thüre, zur Beruhigung Aller, die sich an ihrer Unwissenheit und an der Hingebung in das Bewußtseyn einer alles erfüllenden Realität begnügen; und zur ausschweifendsten Schwärmerei Aller, die sich einer zügellosen Einbildungskraft überlassen, weil sie die Vernunft als Richterin des Unendlichen verwerfen, und nicht zugleich gewahr werden, daß auch der Einbildungskraft der Eingang in jenes Heiligthum nicht offen steht. Wer also für Offenbarung empfänglich ist, der freue sich ihrer; wer sich ohne Offenbarung nicht zu rathen weiß, der bitte um Glauben oder um Geduld, und hüte sich vor Schwärmerei. – Keiner verachte den Andern.«148 Im Kern der christlichen Botschaft, an Gott zu glauben als den Gott der Liebe, um auf diesem Wege zur Vereinigung mit dem Göttlichen und zur höchsten Erkenntnis fortzuschreiten, sieht Forster somit die Anlage zur »ausschweifendsten Schwärmerei«. In der die Spätaufklärung dominierenden Diskussion um Glaube und Wissen, Offenbarung und Vernunft, herrscht – legt man den Briefwechsel Jacobis zugrunde – überraschend breite Übereinstimmung darüber, daß der Glaube selbst und der Zugang zum Göttlichen dem Zuständigkeitsbereich der Vernunft entzogen ist.149 Doch was an ihre Stelle treten soll, darüber ist man sich uneins. Forster macht deutlich, daß die Einbildungskraft hier ebensowenig zuständig ist wie die Vernunft. Um nicht der Schwärmerei zu verfallen, sollte man sich an seiner »Unwissenheit und an der Hingebung in das Bewußtseyn einer alles erfüllenden Realität begnügen«. Auch das Gefühl lehnt Forster als Zugangsinstanz zum Göttlichen ab: »Die Vernunft findet hier keine Auskunft, keine endliche Entscheidung – und das Gefühl dünkt mich eine gar zu unzuverlässige Quelle, es scheint mir damit ungefähr darauf hinaus zu laufen, daß ein jeder sich selbst die Götter schafft, die er anbeten soll; denn wo wäre das Kriterion, um Schwärmerei der Einbildung von Einwirkung des wahrhaft Uebernatürlichen (Theopneustie) zu unterscheiden? Un-

148

Brief von J. G. A. Forster vom 16.1.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 249). – Im Briefwechsel mit Forster ist übrigens von den Beilagen 2 und 5 die Rede. Jacobi hat offenbar für den Druck eine andere Zählung gewählt bzw. weitere Beilagen eingeschoben (vgl. ebd., S. 468 f. [zu 23234]). 149 Vgl. hierzu auch Ingo Kauttlis: »Hinsichtlich der Möglichkeit einer philosophischen Gotteserkenntnis gebührt Jacobi der Schreckenstitel des ›Alleszermalmers‹ nicht weniger als Kant, vielmehr in noch verschärfter Radikalität.« (Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 2; vgl. hierzu auch Hegels Kritik an Jacobi in Glauben und Wissen.) Mendelssohn hatte Kant in dem »Vorbericht« zu seiner Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes den »alles zermalmenden« genannt (Mendelssohn: Schriften, Bd. 3,2, S. 3).

3. Schwärmerei und (Aber-)Glaube

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ser Werkzeug des Unterscheidens ist ja schon vorhin als unzulänglich über diesen Gegenstand verworfen worden; die Vernunft ist hier nicht Richter, mithin keiner, und ein jeder muß sich an eine innere Existenz der Ueberzeugung halten, die der Schwärmer so gut haben kann, wie der Inspirirte, und von jeher auch hatte, weil sonst keine Verschiedenheit der Meinungen über diesen Punkt stattfinden könnte.«150 Der Preis für die Suspendierung der Vernunft ist hoch, denn damit scheint man sich auch jeder weiteren Möglichkeit einer Grenzziehung beraubt zu haben. Jacobi hat sich zeitlebens bemüht, eine Grenze festzusetzen – respektive zu finden – und eine Instanz jenseits der Vernunft, aber auch jenseits von Offenbarung, kenntlich zu machen, die jenen »objektiven«, nicht von Exzessen der Einbildungskraft oder eigensüchtigen Gefühlen bestimmten Weg zum Göttlichen freigibt.151 Bereits Lessing hatte ihn in dem berühmten Wolfenbütteler Gespräch über Spinoza vor den Gefahren eines solchen Weges gewarnt. Schon mit der Bestimmung der Grenze, die ja, um gesetzt werden zu können, irgendeine Art von (nicht-vernünftiger?) Erkenntnis dessen, was jenseits derselben liegt, voraussetzt, ist man, Lessing zufolge, vor unauflösliche Schwierigkeiten gestellt: Ich. […] – Und das war es ja was ich behauptete: daß auch der größte Kopf, wenn er alles schlechterdings erklären, nach deutlichen Begriffen mit einander reimen, und sonst nichts gelten laßen will, auf ungereimte Dinge kommen muß. Leßing. Und wer nicht erklären will? Ich. Wer nicht erklären will was unbegreiflich ist, sondern nur die Grenze wißen wo es anfängt, und nur erkennen daß es da ist: von dem glaube ich, daß er den mehresten Raum für echte Menschliche Wahrheit in sich ausgewinnt. Leßing. Worte, lieber Jacobi, Worte! Die Grenze, die Sie setzen wollen, läßt sich nicht bestimmen. Und an der andern Seite geben Sie der Träumerey, dem Unsinne, der Blindheit freyes offenes Feld.«152 Doch Jacobi bestand gegenüber Lessing auf der Möglichkeit und Notwendigkeit einer solchen Grenzbestimmung, die er in seinen zwei Ausgaben des Spinoza-Buches 150

Brief von J. G. A. Forster vom 12.–21.2.1789 (Forster: Werke, Bd. 15, S. 269). – Vgl. zu dieser Diskussion auch oben das Kapitel II.2.2. 151 Es dürfte in dieser Arbeit bisher klargeworden sein, daß »jenseits der Vernunft« bei Jacobi keineswegs eindeutig zu verstehen ist. Auf der einen Seite gilt es zwar zweifelsohne für die Vernunft, die er später als »adjektive« Vernunft, am Ende seines Lebens als »Verstand« bezeichnen sollte, und ebenso gewiß gilt es nicht für die »substantive« Vernunft, die aber mit Sicherheit von Kant oder den Berliner Aufklärern auch nicht als solche akzeptiert worden wäre. Wie es sich aber mit jener Vernunft verhält, von der Jacobi im Brief an I. Kant vom 16.11.1789, in Jacobi an Fichte (1799) und im Brief an Graf Holmer vom 5.8.1800 spricht, dies bleibt bis auf weiteres unklar (vgl. hierzu die Anm. 386 im vorangegangenen Kapitel). Der intensivste Klärungsversuch zum Verhältnis von Verstand und Vernunft bei Jacobi findet sich wohl bei Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 113–129. 152 JBW I,3, 236 f.; vgl. JWA 1,1, 28 f.

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VI. Phantasie

und in seiner Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus darzustellen suchte. Im Hinblick jedoch schon auf das Manuskript zur Erstausgabe des Spinoza-Buches bemerkt Herder, daß die Darstellung nicht wirklich überzeugend geraten sei. Er gibt Jacobi nachdrücklich zu bedenken: »Die lezten Abschnitte wird er [= Mendelssohn] Dir völlig für Schwärmerey rechnen, und so wahr sie sind, so unbestimmt hat in der Kürze manches werden müssen.«153 Aber wie schon gegenüber Lessing, so hält Jacobi auch in seinem Antwortbrief an Herder daran fest, daß ebendies seine »eigenste Philosophie«, »ein Kind« seiner »wärmsten Liebe«154 sei. Tatsächlich hatte er bereits in seinem allerersten Brief an Herder vom Juni 1783 seine tiefste, innerste und unverzichtbarste Überzeugung folgendermaßen geschildert: »Nur dies Einzige: daß ich dennoch eine Ahndung von Ihm habe, den nichts Endliches mir vorstellt; daß ich, zuwider allen meinen deutlichen Begriffen, Freyheit wittre und Urkraft: diese Scientia abrupta, wie es Baco nennt; und dabey der Gedanke, daß Unendliches aus Endlichem zu entwickeln, zu sichten und zu sondern – das Unbedingte Selbstständige, aus dem Zufälligen Bedingten – und in diesem jenes dargestellt zu finden, ganz unmöglich ist; der Gedanke, daß – so wie jedes Licht sich selbst offenbar macht, und auch Finsterniß und Schatten offenbart – die Wahrheit in sich selbst allein erscheinen, in sich selbst allein sich offenbaren kann: dies Einzige ist der Schimmer der mir leuchtet, und mich in der Ferne eine Hülfe sehen lässet, deren Erwartung mich vielleicht zum Schwärmer brandmarkt, aber ohne die ich vollends trostlos wäre.«155 Dieses Bekenntnis Jacobis enthält bereits in nuce die in seinem Spinoza-Buch dargelegten Überzeugungen; zudem läßt es den persönlich-existentiellen Antrieb zu Jacobis Autorschaft deutlich werden. Die selbst gesehene und von Herder prognostizierte Aussicht, mit diesen Überzeugungen von den Berliner Aufklärern, allen voran von dem Adressaten Mendelssohn, als Schwärmer tituliert zu werden, vermag Jacobi nicht von der Publikation abzuhalten. Allerdings ahnt er recht bald nach der Publikation, daß Herder mit seinen Voraussagen recht behalten werde – und mehr als dies: »Von den Berlinern erwarte ich das Schlimmste, u alle Schliche, welche der dort herschende Geist der piae fraudis, nur ersinnen kann. Nach den letzten Stücken der dortigen Monatsschrift, muß ich so gar erwarten, daß sie mich als einen Martinisten, Lavaterianer u Papisten sörglich warnend angeben werden.«156

153 154 155 156

Brief Brief Brief Brief

von J.G. Herder vom 6.6.1785 (JBW I,4, 112 f.). an J.G. Herder vom 2.–3.9.1785 (JBW I,4, 165). an J.G. Herder vom 8.–14.6.1783 (JBW I,3, 160). an J. G. Hamann vom 13.10.1785 (JBW I,4, 208).

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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Die Streitigkeiten Jacobis mit den Berliner Aufklärern, die im Mittelpunkt der nun folgenden – zunächst vorwiegend historisch-rekonstruktiven – Darstellung stehen werden, sollen in diesem letzten großen Kapitel nochmals eine Situierung Jacobis innerhalb der Parteienlandschaft der (Spät-)Aufklärung ermöglichen. Dabei wird sich zeigen, daß die zentrale Debatte um Schwärmerei vs. Vernunft auf zweierlei Weise mit dem Säkularisierungsgeschehen engstens verknüpft ist: zum einen, insofern in ihr der für die Aufklärung typische religionskritische Impetus und die religionsphilosophische Streitfrage zum Verhältnis von Glauben und Wissen (Hegel) greifbar werden, zum anderen, insofern Jacobi im Rahmen dieser Streitsachen die Vergöttlichung der Vernunft zugleich enthüllt und beklagt und damit – analog zur Kritik an der Vergöttlichung der Natur im Rahmen pantheistischer Positionen – den zweiten großen intramundanen Legitimationsposten der Moderne radikal in Frage stellt.

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung »Aujourd’hui dans tous les pays policés on entend presque également invoquer la seule raison, comme on invoquait autrefois la grace d’en haut«.157 »[…] das heimliche Gefühl der Möglichkeit, daß die überwiegende Idee, die IdeeKöniginn selbst, mitten auf ihrem Throne Gefahr laufen könnte, dieses setzt die Leidenschaft in Bewegung: nicht die trägen Leidenschaften des Mitleidens, oder der Verachtung; sondern die Furien des Hasses, und der grausamsten Verfolgung.« 158

Wenn im Briefwechsel Jacobis von den »Berlinern« die Rede ist,159 so sind damit im engeren Sinne die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Johann Erich Biester und Friedrich Gedike, sowie der Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Friedrich Nicolai, gemeint. Im weiteren Sinne bezeichnet er die Mitglieder der »Berliner Mittwochsgesellschaft«,160 zu denen neben den bereits erwähnten etwa auch Johann Jakob Engel und Moses Mendelssohn zu rechnen sind, sowie wahlweise auch alle Mitarbeiter der Berlinischen Monatsschrift. Ganz allgemein kann aber schließlich jeder zum 157

Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 175). JWA 1,1, 273 f., Fn. (Jacobi zit. hier aus Alexis, ou l’âge d’or [1787] von Frans Hemsterhuis.) 159 Eine Kollektivbezeichnung übrigens, gegen die sich »die Berliner« selbst wiederholt verwahrt haben: vgl. etwa [Friedrich] Gedike und [Johann Erich] Biester: Ueber das itzige Streiten mancher Schriftsteller, besonders Lavaters, gegen die Berliner (Berlinische Monatsschrift 9 [1787], S. 353– 395) und Nicolai in seinem Brief an Jacobi vom 20.6.1788 (Zoeppritz I, 99). 160 Vgl. hierzu in Kürze Norbert Hinske: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. Ausgewählt, eingeleit. u. mit Anm. versehen v. Norbert Hinske. Darmstadt 1973 (Unveränderter reprografischer Nachdruck aus der Berlinischen Monatsschrift, 1.–7. Bd. Berlin 1783–1786), S. XXIV–XXXI. Vgl. auch Hans-Dietrich Dahnke: »Was ist Aufklärung?« In: Ders. u. Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin u. a. 1989, S. 39–134, bes. S. 60 f. 158

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VI. Phantasie

»Berliner« erklärt werden, der im »Berlinischen Geist« denkt oder schreibt.161 Aus dieser Zuordnung ergibt sich bereits, daß die eigentliche Auseinandersetzung mit den »Berlinern« frühestens im Jahre 1783 ihren Anfang nehmen konnte, jenem Jahr, in dem die »Berliner Mittwochsgesellschaft« und – aus ihr hervorgehend – die Berlinische Monatsschrift gegründet wurden. Letztere muß als das wichtigste publizistische Organ der deutschen Spätaufklärung angesehen werden.162 Kontakte zu und Auseinandersetzungen mit einzelnen Personen dieses Berliner Umkreises hat es jedoch zuvor schon gegeben.163 Auch läßt sich bereits zu Beginn des Jahres 1779 ein spezifisch »berlinisches« Klima identifizieren, das Georg Forster nach seinem Berlin-Aufenthalt in einem Brief an Jacobi in den dunkelsten Farben malt. Danach herrschen in Berlin Eitelkeit und Oberflächlichkeit, »zügellose Freigeisterei« und Immoralität.164 In diesem Sinne warnt Jacobi bereits Ende 1781 den Preußischen Kriegsrat Dohm, der immerhin zwei Jahre später selbst Gründungsmit-

161

Vgl. etwa den Brief von J. G. Hamann vom 4.–9.11.1786 (JBW I,5, 397). Vgl. Martin Fontius: Berlin. In: Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 57 f., hier S. 58. – Vgl. auch Hinske: Was ist Aufklärung?, S. XX. 163 Der Herausgeber der im Jahre 1765 gegründeten Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Friedrich Nicolai, war bereits in den 1770er Jahren zum Feind Jacobis avanciert, nachdem er Jacobis Bruder Johann Georg wiederholt kritisiert hatte (vgl. den Brief an C. M. Wieland vom 10.7.1773; JBW I,1, 192) und auch Jacobis erster Roman Eduard Allwills Papiere in seinem Rezensionsorgan negativ besprochen worden war (vgl. den Brief an G. E. Lessing vom 28.11.1780; JBW I,2, 225). Mit den anderen Mitgliedern des engeren Berliner Kreises gab es keine vergleichbaren Auseinandersetzungen. Die Geschichte der Bekanntschaft zwischen Mendelssohn und Jacobi ist von Kurt Christ ausführlich behandelt worden. Bemerkenswert ist, daß diese Bekanntschaft bis zum Beginn der 1780er Jahre sogar von einer Verehrung Jacobis für Mendelssohn gekennzeichnet ist (vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn, S. 25, 29 u. 64). Biester und Gedike hingegen sind in der Korrespondenz Jacobis im Jahre 1786 erstmalig erwähnt. Zu Christian Wilhelm (von) Dohm, mit dem Jacobi zunächst nur über Georg Forster in losem Kontakt stand, hatte Jacobi – trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten – ein freundschaftliches Verhältnis. Persönlich lernte er Dohm im Juli 1780 bei der Fürstin Gallitzin in Münster kennen. Von diesem Zeitpunkt an bestand auch ein direkter brieflicher Kontakt. Dohms Besuch in Pempelfort Anfang September 1786 scheint vor allem ihre Übereinstimmung in politischen Fragen bestätigt zu haben (vgl. den Brief von Jacobi an J. G. Hamann vom 5.–6.10.1786; JBW I,5, 361). – Für die Stimmungslage nicht unwichtig dürften im übrigen jene Streitigkeiten gewesen sein, in die Jacobi nicht direkt involviert war. An erster Stelle ist hier der Streit zwischen Lavater und Mendelssohn zu erwähnen. Eine kurze Zusammenfassung findet sich in JWA 1,2, 470–472 (zu 145, 29–30); vgl. ebenfalls Mendelssohn: Schriften, Bd. 24, S. 187–189. Ausführlicher dokumentiert ist er ebd., Bd. 7. Vgl. auch Rolf-Bernhard Essig: Der Disput zwischen Moses Mendelssohn und Johann Kaspar Lavater von 1769/70. Ein exemplarischer Fall für den Einsatz Offener Briefe in der aufgeklärten Öffentlichkeit. In: Gudrun Schury u. Martin Götze: Buchpersonen, Büchermenschen. Heinz Gockel zum Sechzigsten. Würzburg 2001, S. 49–60. – An zweiter Stelle wäre auch Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohn zu nennen. Einen kurzen Überblick über das Verhältnis zwischen Mendelssohn und Hamann findet man in Mendelssohn: Schriften, Bd. 24, S. 231–233. 164 Brief vom 23.–26.4.1779 (JBW I,2, 92). 162

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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glied der »Berliner Mittwochsgesellschaft« werden sollte, vor dem »berlinischen Geist«.165 Die eigentliche Geschichte der Auseinandersetzung Jacobis mit den »Berlinern« aber nimmt ihren Anfang mit dem Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn um den Spinozismus Lessings, dem sogenannten Spinoza- oder Pantheismusstreit.

4.1 Der Streit mit Mendelssohn oder Die Schwärmerei der »Vernunftfeinde« Die Veröffentlichung des Spinoza-Buches sorgte in Berlin für erhebliches Aufsehen, wobei der größte Stein des Anstoßes zunächst einmal nicht in Jacobis ›schwärmerischer‹ Position selber bestand. Als anstößig empfand man vielmehr vor allem den Kontext, in den Jacobis Selbstbekenntnis eingebettet war, und die Umstände seiner Publikation: also zum einen die ›Denunziation‹ Lessings als Spinozist – mithin als Atheist, wie Jacobi im Spinoza-Buch ausdrücklich definiert – und zum anderen die Bekanntmachung von Gegenständen einer Privatkorrespondenz mit Mendelssohn ohne Einwilligung oder auch nur vorzeitige Unterrichtung desselben. In diesem Sinne schrieb letzterer am 16. Oktober 1785 anläßlich der Übersendung seiner Morgenstunden an Immanuel Kant: »Mit welchem Rechte aber macht man sich jeziger Zeit so allgemein erlaubt, eine Privat Correspondenz ohne Anfrage u Bewilligung von Seiten des Briefschreibenden, öffentlich bekannt zu machen, ist mir unbegreiflich. Noch mehr, Leßing soll Ihm, Jacobi nehmlich, gestanden haben, daß er mir, seinem vertrautesten 30jährigen philosophischen Freunde seine wahren philosophischen Grundsätze nie entdeckt habe. Ist dieses, wie hat Jacobi sich denn überwinden können, dieses Geheimniß seines verstorbenen Freundes nicht nur mir, vor dem er es geflißentlich verborgen; sondern der ganzen Welt zu verrathen? Seine eigne Person bringet er in Sicherheit, u verläßt seinen Freund nakt u wehrlos auf freyem Felde, daß er ein Raub oder ein Spott der Feinde werde. Ich kann mich in dieses Betragen nicht finden, und möchte wissen, was rechtschaffene Männer davon denken. Ich fürchte, die Philosophie hat ihre Schwärmer, die eben so ungestüm verfolgen und fast noch mehr auf das Proselyten machen gesteuert sind, als die Schwärmer der positiven Religion.«166 165

Brief von C. K. W. Dohm vom 18.12.1781 (JBW I,2, 391; vgl. auch 387). Moses Mendelssohn: Briefwechsel der letzten Lebensjahre. Sonderausgabe. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, S. 313. – Vgl. auch im Brief Mendelssohns an Christian Garve vom 7.11.1785: »Sonderbar! der Mann kennt mich nicht, ich kenne ihn nicht. Er fordert mich durch eine dritte Person zu einem Briefwechsel auf; und macht ohne meine und dieser Person Erlaubniß, ohne unser Vorherwissen aus diesem Briefwechsel bekannt, was ihm beliebt: aus Furcht, wie er vorgiebt, ich 166

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VI. Phantasie

Zumindest in letzterem Punkt sollten – wie sich noch zeigen wird – Jacobi und Mendelssohn übereinkommen – allerdings mit jeweils gänzlich anderer Besetzung für den Part des Schwärmers. Ebenso aufgebracht über die Enthüllungen Jacobis wie Mendelssohn war auch Elise Reimarus, die den Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Jacobi vermittelt hatte, als sie von Claudius ohne Begleitbrief und ohne jede Vorankündigung zwei Exemplare der Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn erhielt: »Schon der bloße Anblick des Titels«, so schrieb sie am 18. Oktober an Mendelssohn, »machte mir das Blut ins Gefühl steigen: aber wie sehr stieg mein Unwille da ich in der Schrift selbst nicht nur jeden kleinsten nicht daher gehörigen Umstand einer privat Corespondenz, sondern auch jeden kleinsten nicht daher gehörigen Umstand einer privat Unterredung ja eines vertraulichen privat Spaßes unsers verstorbenen Freundes vor den Augen des spottenden oder trauernden Publicums zur Schau gestellt sah.«167 Selbst Gleim, der in diese Angelegenheit nicht direkt involviert war, sollte kurze Zeit später in vergleichbarer Weise Stellung beziehen: »Mußten, mein theurer Jacobi, Sie’s loß seyn vom Herzen: Leßing war ein Spinozist, mußten Sie ihn denunziren als solchen? Mußten Sie alles was Leßing gesagt hatte noch einmahl sagen, und kan man’s? Sie mußten, sie wurden gedrengt, gestoßen! gar [sic] denn, konnten sie’s anders nicht machen? Ein Brief, und alles was Sie wußten oder zu wißen glaubten von Leßing in den Brief, und diesen Brief an Mendelssohn gerades Weges an Mendelssohn so hättet glaub’ ich, ihr Euch gleich verstanden. Man zankt sich aber nicht, so bald man sich versteht.«168 Über die Vorgehensweise Jacobis herrschte mithin allgemein Ratlosigkeit, Erschütterung, ja Entsetzen. Tatsächlich beruhte die Publikation Jacobis, zu der ihn auch Herwürde den statum controversiae unrichtig angeben, oder ihn gar selbst öffentlich mißhandeln; – nichts von der unwürdigen Art und Weise zu sagen, wie er Lessing mitspielt, der sein Freund gewesen seyn soll. Mit einem Worte, mir ist diese ganze Verfahrungsart so fremd, daß ich ihr noch gar keinen Namen zu geben weiß. Ist es Unbesonnenheit, Schwachheit oder böser Wille? Will Jacobi heucheln oder schwärmt er in der That?« (Ebd., S. 324 f.) – Jacobi hatte übrigens in der ersten Ausgabe des Spinoza-Buches Mendelssohns Briefe nicht abgedruckt. 167 Ebd., S. 315. – Nach Donovan kam Claudius die Aufgabe zu, Jacobis Schriften – vor allem jene zum Spinozastreit – im gemeinsamen norddeutschen Freundeskreis zu verteilen (vgl. Donovan: Der christliche Publizist, S. 32). Vgl. auch den erschlossenen Brief (etwa von Anfang od. Mitte November 1781) an M. Claudius (JBW I,4, 357). 168 Brief vom 9. Mai 1786 (JBW I,5, 198). – Dieser Brief könnte sich durchaus auch bereits auf die Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen beziehen, denn letztere hat Jacobi am 27. April 1786 C. Garve (JBW I,5, 169), am 1. Mai S. T. Soemmerring (JBW I,5, 179) und am 2. Mai J. Müller (JBW I,5, 181) zugesandt.

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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der ermuntert hatte, wohl auf der irrigen Annahme, Mendelssohn würde in seiner zeitgleich verfaßten Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes selbst schon ausdrücklich auf das Lessingsche Bekenntnis zum Spinozismus und den Briefwechsel mit Jacobi über diesen Gegenstand eingehen. Nicht wenig überrascht war Jacobi daher, als er zur Kenntnis nehmen mußte, daß in den Morgenstunden, deren Übersendung sich mit demjenigen des Spinoza-Buches überkreuzte,169 des »eigentlichen Streits noch nicht ausdruklich erwehnt« wird.170 Gegenüber der Fürstin Gallitzin bekennt er jedenfalls: »Mendelssohns Morgenstunden sind Ihnen vermuthlich auch schon zu gesicht gekommen. Ich erschrak bey’m Durchblättern, indem ich mir den Schrecken vorstellte, worin der Mann bey Ansicht meines Buchs gerathen mußte.« Von Berlin war ihm unterdessen bereits übermittelt worden, daß sein Büchlein in der Tat den Zorn Mendelssohns erregt hatte, denn er fährt fort: »Wie ich durch die 3te Hand vernehme, soll er ganz erstaunlich aufgebracht u erbittert gegen mich seyn. Sodoma u Gomorra wird es erträglicher ergehen, als mir in der Allgemeinen Bibliothek u der Berliner MonathsSchrift.«171 Mendelssohn brach jede weitere persönliche Korrespondenz mit Jacobi ab und entschloß sich, Lessing öffentlich gegen die Vorwürfe Jacobis zu verteidigen.172 Nachdem er seine gegen Ende des Jahres 1785 eilig verfaßte Verteidigungsschrift An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza selbst zum Druck befördert hatte, erkrankte Mendelssohn allerdings schwer und starb kurz darauf am 4. Januar 1786. War die »Berlinische Clique« schon durch Jacobis Vorgehen – insonderheit aufgrund seines Betragens gegenüber Lessing und Mendelssohn – »in einem hohen Grade […] aufgebracht und erbittert«,173 so war Jacobi durch diese unvorhersehbare, tragische Wendung endgültig diskreditiert, denn man gab ihm die Schuld an Mendelssohns Tod.174 Eine unverhohlen direkte Verbindung stellte Karl Philipp Moritz in seiner anonymen Anzeige des Mendelssohnschen Werkes An die Freunde Lessings her, in welcher er ebenfalls auf Lavaters öffentlichen Bekehrungsversuch aus dem Jahre 1769 anspielt: Mendelssohn »starb auf die edelste Art, die ein Sterblicher sich wünschen kann – er ward ein Opfer der Freundschaft für seinen Lessing, und starb als 169

Vgl. die Briefe an J. G. Hamann vom 17.–18.11.1785 (JBW I,4, 247) und an J. W. Goethe vom 13.–14.12.1785 (JBW I,4, 277). 170 So Mendelssohn in seinem Begleitschreiben an Jacobi vom 4.10.1785 (JBW I,4, 196). – Zu Jacobis gegenteiliger Vermutung vgl. auch JWA 1,1, 302. 171 Brief vom 22.11.1785 (JBW I,4, 252); vgl. auch den Brief an J. G. Hamann vom 17.– 18.11.1785 (JBW I,4, 247). 172 Vgl. den Brief an Elise Reimarus vom 21.10.1785 (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 320 f.). 173 Brief an J. W. Goethe vom 13.–14.12.1785 (JBW I,4, 277). – In seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen setzt sich Jacobi unter anderem gegen den Vorwurf der Indiskretion zur Wehr (vgl. JWA 1,1, 278–280). 174 Vgl. hierzu Birgit Nehren: Eine Dokumentation zum Streit über den Tod Moses Mendelssohns. In: Aufklärung 7 (1992), S. 93–116.

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ein Märtyrer seiner Vertheidigung der unterdrückten Rechte der Vernunft gegen Fanatismus und Aberglauben. – Lavaters Zudringlichkeit gab seinem Leben den ersten Stoß, Jakobi vollendete das Werk.«175 Schon vor, zumindest aber jenseits aller inhaltlichen Auseinandersetzungen waren die Fronten also sehr verhärtet, was dem Willen zur Verständigung höchst abträglich und dem Wunsch nach schonungsloser Bloßstellung äußerst zuträglich war. Die Heftigkeit der nachfolgenden Auseinandersetzungen und Angriffe ist sicher von diesen Geschehnissen entscheidend mitgeprägt. Was waren nun konkret die gegenseitig erhobenen Vorwürfe? Jacobi hatte in seinem Spinoza-Buch die Auffassung vertreten, daß aus der Vernunft selbst niemals Prinzipien der Moral und Religion abgeleitet werden könnten, da die Vernunft in sich leer sei.176 Jede Vernunftdemonstration münde, da sie nur rein mechanisch vorgehe, in Determinismus und Fatalismus und damit für Jacobi zugleich notwendig in Atheismus und Immoralität. Die Verknüpfung von Vernunft und Offenbarung mit dem Ziel, allen Aberglauben zu vernichten, aber war ein zentrales Anliegen der Berliner Aufklärer. Anstelle einer auf Vernunftprinzipien basierenden Religion und Moral setzte Jacobi den »Sprung« in den Glauben, gewährleistet und gesichert durch ein jedem Menschen innewohnendes (moralisches) Gefühl, die eigentliche göttliche Instanz im Menschen – wobei der »Sprung« allerdings als das Aufdecken des aller Rationalität vorausliegenden Immer-schon-gesprungen-Seins verstanden werden muß.177 Einen derartigen Angriff auf die Vernunft – also auf die Grundlage jedweder Aufklärung –, verbunden mit dem Vorwurf des Atheismus, mußte den heftigsten Widerspruch unter den »Berlinern« hervorrufen. Jacobi wurde – neben anderen – zum Feind der Vernunft erklärt;178 zudem wurden ihm Schwärmerei, Aberglaube und Fanatismus vorgeworfen.179 175

Zit. nach Nehren: Dokumentation zum Streit, S. 100. Vgl. auch im Brief Jacobis an seinen Neffen C. T. A. von Clermont vom 16.3.1786: »Daß ich mittlerweile, im Vorbeygehen, einen Todschlag begangen haben soll, werden Sie in den Zeitungen gelesen haben.« (JBW I,5, 116.) – Zu Lavaters Bekehrungsversuch vgl. die Hinweise in Anm. 163. 176 Teils begreift Jacobi die Vernunft als bloßes Vermögen, Identitäten zu prüfen. Vgl. dazu den Brief an J. G. Hamann vom 14.11.1786: »Nach meiner Einsicht sagt die Vernunft nie mehr als idem u non idem.« (JBW I,5, 412). Teils definiert er die Vernunft als reines Vermögen zu schließen. Vgl. Jacobi: Einige Betrachtungen S. 161 u. 173; vgl. JWA 5,1, 113 u. 123, sowie Jacobi: Brief an Laharpe (JWA 5,1, 181). – Vgl. hierzu auch oben das Kapitel V.4.1. 177 Es handelt sich also nicht schlicht um einen »salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit« (Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 263). Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache. Ihr zufolge führt der »Sprung« keineswegs von den Grundfesten rationaler Philosophie weg-, sondern zu diesen hin – indem nämlich die Bedingungen ihrer Genese namhaft gemacht werden. 178 Vgl. die Briefe von J. G. Hamann vom 4.–9.11.1786 (JBW I,5, 397) und an J. G. Hamann vom 20.7.1787 (Hamann 7, 252) sowie den Brief an A. W. Rehberg vom 2.5.1788 (AB I, 469). – Vgl. auch den Beitrag von J[ohann] A[ndreas] v. Scholten: Ueber Moses Mendelssohn. Schreiben an den

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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Tatsächlich teilte Jacobi einige Grundpositionen der Schwärmergeschichte, wie etwa die ins Innere verlegte Offenbarung Gottes und die damit verknüpfte Ablehnung aller im Äußerlichen fixierten Kultformen. Alles Formelle galt ihm als Aberglaube. Ihm ist, wie er unter Berufung auf Hamann sagt, »alles Hangen an Worten und buchstäblichen Lehren der Religion […] Lama-Dienst «.180 Dies hat nun keineswegs, wie man meinen könnte, schlechthin einen aufklärerischen Zug – allenfalls, soweit es sich gegen die katholische Kirche richtet. Vielmehr zeichnet nicht zuletzt der damit angedeutete Rückzug aus der Objektivität in die Subjektivität oder Innerlichkeit – die Beschwörung des Geistes wider den Buchstaben – den Schwärmer seit Luthers Zeiten aus.181 Die Tatsache, daß sich Reminiszenzen an die Schwärmergeschichte im Falle Jacobis allzu deutlich aufdrangen, mag ein Grund dafür gewesen sein, daß nicht nur die Empörung über Jacobis Indiskretion, sondern auch der Vorwurf der Schwärmerei keineswegs den »Berlinern« alleine vorbehalten blieb. Aus Wilna schrieb Georg Forster am 16. Januar 1786 an seinen Mainzer Freund Samuel Thomas Soemmerring: »Jacobi hat ein sehr frommes Buch herausgegeben über Spinoza und dergleichen. Ich fürchte, des guten Mannes Schwärmerei nimmt eine falsche Richtung.«182 Noch schärfer fiel das Urteil nach einer gründlicheren Lektüre aus: jüdischen Kaufmann D[avid] F[riedländer] in Berlin (Berlinische Monatsschrift 7 [1786], S. 398–406, bes. S. 401) und die Rezension der Schriften zum Spinozastreit (Allgemeine Deutsche Bibliothek 68 [1786], S. 311–379). – Vgl. auch Mendelssohn in seinem Brief an den Herzog von Anhalt-Dessau: »Freunde und Feinde der Tugend scheinen sich vereinigt zu haben, die Vernunft des Menschen zu verschreien.« (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 311.) Ebenso auch in seinem Brief an August Hennings vom 5.11.1785 (ebd., S. 323). 179 Vgl. Nehren: Dokumentation zum Streit, S. 95 u. 99 f. – Vgl. auch die Briefe von J. E. Biester an I. Kant vom 6.3.1786 (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. X, S. 410) und vom 11.6.1786 (ebd., S. 429–434) sowie den Brief von I. Kant an M. Herz vom 7.4.1786 (ebd., S. 419); ebenso den Brief von M. Mendelssohn an F. Nicolai vom 8.10.1785 (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 309). – Vgl. auch Jacobis Kompilation der Vorwürfe in Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 319 f. u. 325) und im David Hume (Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus [1787]. With the Vorrede to the 1815 Edition. New York u. a. 1983. [Reprint der Ausgabe Breslau 1787] [= The Philosophy of David Hume; Bd. 11], S. 16 f.; vgl. JWA 2,1, 18 f.). 180 Brief an F. L. Stolberg vom 29.1.1794 (AB II, 143). – In dieselbe Richtung – wenngleich mit anderer Konnotation – zielt auch eine Stelle in Jacobis 1783 im Deutschen Museum erschienenen Beitrag Ueber und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werkes, »Des lettres de Cachet et des prisons d’état«: »Wer kan läugnen, wenn er Geschichte, Erfahrung und Vernunft zusammen nimmt, daß Religion, als äußerliches Mittel gebraucht, von Schwärmerei und Aberglauben unbegleitet, nichts; in dieser Begleitung aber, lauter Böses würket.« (1. Bd., S. 361–394 u. 435–476, hier S. 393; vgl. JWA 4,1, 392) Diese Passage ist wiederholt in einer Fußnote in Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 315). 181 Vgl. Schulte: Geschichte des Enthusiasmus, S. 87 f. sowie Schmidt-Biggemann: Schwärmer / Schwarmgeister, S. 374 f. 182 Forster: Werke, Bd. 14, S. 427. – Vgl. auch im Brief von Georg Forster an Soemmerring vom 8.–12.6.1786: »Wie kläglich vom guten Fritz Jacobi die Bibel deswegen zu schützen, weil sie Sensation gemacht.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 486.)

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»Ich habe dieser Tage Jacobi über den Spinoza, und auch seine Antwort auf die Beschuldigung gelesen (mit dem Frontispice, wo Du sitzest) und ersehe daraus, was ich schon selbst aus den Morgenstunden urtheilte, daß Mendelssohn gar der große Kopf nicht ist, wofür ihn seine Berliner ausschreien, zugleich aber, daß Jacobi so fürchterlich schwärmt, ja so gefährlich schwärmt, als je ein Schwärmer gethan«.183 Es war also keineswegs nur die wenig wohlgesonnene Haltung der »Berliner«, die Jacobi nachhaltig unter den Verdacht der Schwärmerei geraten ließ, und Forster beeilt sich denn auch, auf der Unabhängigkeit seines Urteils zu insistieren: »Die Berliner haben mich nicht umgestimmt; denn im Grunde: non amo homines.«184 Es ergeben sich hier denn auch noch ganz andere Allianzen. Wie schon für Herder und Goethe ist auch für Forster die »Vieldeutigkeit des Glaubens«185 Gegenstand der Kritik, genauer: der Schluß von der Notwendigkeit eines alltagsweltlichen Glaubens, der eine basale sinnliche Gewißheit meint, auf einen religiös-christlichen. In der Lesart, daß Jacobi am Ende seines Buches – sich »auf seinen inneren Sinn« berufend186 – unter die »Kanone des Glaubens« flüchtet,187 trafen sich mithin interessanterweise so unterschiedliche, auch in unterschiedlichem Grade involvierte, Geister wie Mendelssohn, Lessings Bruder Karl Gotthelf, Goethe und Forster – und Herder hatte ebendies in seiner Kritik des Manuskripts vorhergesehen.188 Doch seinen diesbezüglichen Rat hatte Jacobi ebenso ausgeschlagen wie jenen, Mendelssohn doch mit »dem Prediger in der Wüste« zu »verschonen«189 – ein folgenschwerer Fehler, wie sich zeigen sollte, denn gerade das Bekenntnis zu Lavater war ein ausgesprochenes Ärgernis und dazu angetan, den Vorwurf der Schwärmerei nachhaltig zu untermauern. Dieser hatte sich bei den »Berlinern« nicht nur durch seinen ins Jahr 1769 zu datierenden 183

Brief vom 10.9.1786 (ebd., S. 550). Ebd., S. 551. – Abschließend hält Forster noch einmal fest, was er »an Jacobi tadle, nämlich […] die grenzenlose Schwärmerei, grenzenlos, weil man durchaus keinen terminum ad quem hat, sondern mit dem Strom immer weiter geht, und zuletzt allemal unfehlbar auf Absurda kommt« (ebd.). 185 Brief von J. G. Herder vom 6.6.1785 (JBW I,4, 112). – Vgl. zu Herder und Goethe oben das Kapitel V.4.2. 186 Brief von K. G. Lessing an M. Mendelssohn vom 24.10.1785 (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 322). 187 Brief Mendelssohns an I. Kant vom 16.10.1785 (ebd., S. 312). 188 Man vergleiche etwa die von Forster im eben zitierten Brief an Soemmerring vom 10.9.1786 geschilderte Lesart (Forster: Werke, Bd. 14, S. 550 f.) mit derjenigen, die der Bruder Lessings, Karl Gotthelf, in seinem Brief an M. Mendelssohn vom 19.10.1785 darstellt (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 319). – Zu Herder vgl. in seinem Brief an Jacobi vom 6.6.1785: »Das Ende dissonirt sonst mit dem Anfange u. Mendelssohn kann sagen: siehe da der Christ, der im Anfange als Vernunftfechter so kühn hervortritt u. sich zuletzt doch unter die Flügel des Glaubens verkriecht u. verlieret.« (JBW I,4, 110.) Zu Goethe vgl. den Brief von J. W. Goethe vom 21.10.1785 (JBW I,4, 213). 189 JBW I,4, 113. 184

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öffentlichen Bekehrungsversuch an Mendelssohn höchst unbeliebt gemacht, sondern galt als »[…] ein berüchtigter Erz-Schwärmer […], der durch seinen katholizismusverdächtigen Gebets- und Wunderglauben und durch seine Affiliationen mit so suspekten Figuren wie Gaßner, Schröpfer und Cagliostro bei den Berlinern schon längst zur Persona non grata geworden« war.190 Mendelssohn schien, wie sein Briefwechsel zeigt, zunächst ratlos, wie man auf Jacobis Veröffentlichung – »dieses beinahe hämische Verfahren der schwärmerischen Parthei«191 – reagieren sollte. In der Schwärmer-Debatte war schon lange diskutiert worden, ob und inwiefern vernünftige Argumente geeignet seien, Besserung und Bekehrung zu bewirken. Oftmals bestand bezüglich der Wirksamkeit große Skepsis – so auch im Falle Jacobis. Lessings Bruder etwa ließ verlauten: »Er schwärmt und heuchelt zugleich; und eher wird der größte Schelm zum ehrlichen Mann, als ein solcher zur halben Vernunft kömmt.«192 Mendelssohn hatte sich ratsuchend nicht zuletzt auch an Immanuel Kant gewandt, der sich dann, auch auf Drängen von Biester und Herz,193 mit seinem im Oktober 1786 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? in die Debatte einschaltete. Überzeugt davon, daß »es kein einziges sicheres Mittel, alle Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten, [gibt] als jene Grenzbestimmung des reinen Vernunftvermögens« – mithin seine eigene kritische Philosophie194 – teilt er nach beiden Seiten aus, wobei al-

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Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 423 f. – So auch Lessings Urteil im Brief an Nicolai vom 2.1.1770: »Lavater ist ein Schwärmer, als nur einer des Tollhauses werth gewesen.« (Zit. nach Mendelssohn: Schriften, Bd. 24, S. 187.) Vgl. auch Nicolais Brief an Joachim Heinrich Campe vom 14.7.1780, in welchem es darum geht, die Schriften Lavaters und seines Umkreises auch weiterhin in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek negativ zu besprechen, um damit »dem stinkenden Lavater‘schen Fanatismus« etwas entgegenzusetzen (Friedrich Nicolai: Verlegerbriefe. Ausgewählt u. hg. v. Bernhard Fabian und Marie-Luise Spieckermann. Berlin 1988, S. 128). 191 Brief an F. Nicolai vom 8.10.1785 (Mendelssohn: Briefwechsel, S. 309). 192 Brief von K. G. Lessing an M. Mendelssohn vom 19.10.1785 (ebd., S. 319). – Ganz ähnlich auch in seinem Brief vom 24.10.1785: »Ich sehe auch im Voraus, sie [= Lavater, Herder etc.] werden Ihnen mehr zu schaffen machen, als alle Vernunfttheologen. Von der Vernunft wollen sie nichts; und Sie können ihnen nichts als Vernunft sagen.« (Ebd., S. 322.) – Vgl. zur allgemeinen Skepsis auch Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 470. 193 Vgl. die Briefe von Marcus Herz vom 27.2.1786 (Kant: Gesammelte Schriften. AkademieAusgabe. Bd. X, S. 408 f.) und von J. E. Biester vom 11.6.1786 (ebd., S. 429–434). 194 Kant: Werke, Bd. III, S. 279, Fn. [= A 324]. – In dieselbe Richtung weisen auch die Kantischen Definitionen zur Schwärmerei in seinem Anthropologiekolleg: »Der, so sich eine andere Art moglicher Erfahrungen als durch die Sinne und eine andere Art moglicher Erkenntnis als durch Begriffe verspricht, ist ein Schwarmer.« Oder: »Wenn aber gewisse Urtheile und Einsichten als unmittelbar aus dem innern Sinn (nicht vermittelst des Verstandes) hervorgehend, sondern dieser als für sich gebietend und Empfindungen für Urtheile geltend angenommen werden, so ist das baare Schwärmerei, welche mit der Sinnenverrückung in naher Verwandtschaft steht.« (Hinske: Verwendung der Wörter, S. 79; vgl. auch S. 75 u. 78.) – Vgl. hierzu überdies Schröder: Schwärmerei, S. 372 f.

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lerdings Jacobi mit Abstand die meiste Prügel einstecken muß. Zunächst kann er nicht umhin, eine über die Grenzen der Anschauung hinaus sich wagende Spekulation – wie sie Mendelssohn noch im Einklang mit der Schulmetaphysik Leibniz-Wolffischer Prägung vertrat – zu tadeln: »Mendelssohn dachte wohl nicht daran, daß das Dogmatisieren mit der reinen Vernunft im Felde des Übersinnlichen der gerade Weg zur philosophischen Schwärmerei sei, und daß nur Kritik eben desselben Vernunftvermögens diesem Übel gründlich abhelfen könne.«195 Gleichwohl begrüßt er Mendelssohns Prinzip, die Vernunft überall als obersten Richter einzusetzen,196 und besteht in seiner Erläuterung des in seinem eigenen System an die Stelle des Wissens gesetzten »Vernunftglaube[ns]« darauf, daß keine andere Quelle als die Vernunft richtungweisend sein dürfe. Insbesondere »Eingebung« und »erteilte Nachricht« seien als erste Quellen des Gottesglaubens unzulässig.197 Und so lautet denn sein an die Adresse Jacobis gerichtetes Diktum: »Wenn also der Vernunft in Sachen, welche übersinnliche Gegenstände betreffen, als das Dasein Gottes und die künftige Welt, das ihr zustehende Recht, zuerst zu sprechen, bestritten wird: so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte geöffnet. Und doch scheint in der Jacobischen und Mendelssohnischen Streitigkeit alles auf diesen Umsturz, ich weiß nicht recht, ob bloß der Vernunfteinsicht und des Wissens (durch vermeinte Stärke der Spekulation), oder auch so gar des Vernunftglaubens, und dagegen auf die Errichtung eines andern Glaubens, den sich ein jeder nach seinem Belieben machen kann, angelegt.«198 195 Kant: Werke, Bd. III, S. 273, Fn. [= A 313]. Vgl. auch ebd., S. 274 f. [= A 316 f.]: »Es ist also nicht Erkenntnis, sondern gefühltes Bedürfnis der Vernunft, wodurch sich Mendelssohn (ohne sein Wissen) im spekulativen Denken orientierte. […] so fehlte er hierin allerdings, daß er dieser Spekulation dennoch so viel Vermögen zutraute, für sich allein auf dem Wege der Demonstration alles auszurichten.« – Ein Beispiel für Mendelssohns geistige Zugehörigkeit zur Leibniz-Wolffischen Schule bietet auch sein 1785 in der Berlinischen Monatsschrift erschienener Artikel Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder äußerliche Verbindung entgegenarbeiten? (Bd. 5, S. 133–137). Vgl. im übrigen auch seine Briefe an Jacobi vom 1.8.1784 (JBW I,3, 340; vgl. dazu JWA 1,1, 296) und vom 4.10.1785 (JBW I,4, 197). In diesem Sinne ist auch seine Äußerung im Gespräch mit Johann Friedrich Reichardt zu verstehen: »Ein Mann von Jacobi’s Geist (…) mußte auch von mir schon hinlänglich wissen, daß es mit mir zu spät wäre, mich mit ihm auf neue Wege und Lehren einzulassen; ich bin in Leibnitzischer und Wolfischer Philosophie alt geworden, und kann platterdings mit keinem einen Schritt vorwärts thun, der mir in neuer Sprache und –« (Beyträge zum gelehrten Artikel des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten. Zweytes Stück, 1. Februar 1786; zit. nach Christ: Jacobi und Mendelssohn, S. 147). 196 Vgl. Kant: Werke, Bd. III, S. 275 [= A 317]: »Indessen bleibt ihm doch das Verdienst, daß er darauf bestand: den letzten Probierstein der Zulässigkeit eines Urteils hier, wie allerwärts, nirgend, als allein in der Vernunft zu suchen«. Vgl. auch ebd., S. 282 f. [= A 329]. 197 Ebd., S. 276 f. [= A 318–321]; vgl. auch S. 278 [= A 322]. – Zum Begriff »Vernunftglaube« vgl. Euler: Orientierung im Denken, S. 171 und Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 68. 198 Kant: Werke, Bd. III, S. 278 f. [= A 322 f.].

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Ebendies, das Außerkraftsetzen der Vernunft, der »Angriff« auf dieselbe, und deren vermutete Ersetzung durch eine genialische Eingebung, die aller Leitung durch die Vernunft vollständig entsagt, kritisiert nun Kant – mit einem geradezu flehentlich anmutenden Gestus – im Namen des Erhalts der Denkfreiheit, bei welcher Gelegenheit auch die auf seiten Jacobis vermutete Position das entsprechende Etikett erhält: »Die alsdann angenommene Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden Vernunft nennen wir gemeine Menschen Schwärmerei; jene Günstlinge der gütigen Natur aber Erleuchtung.«199 Diese sich am Spinoza-Buch entzündende Debatte über Offenbarung und Vernunft, Glauben und Wissen, in der Jacobi neben Kant eine Schlüsselrolle zukam, wurde nun überlagert von und vermengt mit einer zweiten: Sie betraf die These der »Berliner« von der Unterwanderung der geheimen Gesellschaften – und darüber endlich der gesamten Gesellschaft – durch den Jesuitismus: eine Art großangelegte und strategisch durchorganisierte Gegenaufklärung katholisch-»papistischer« Provenienz. Diese Verschwörungstheorie war Anlaß zu einer Großoffensive gegen alle, die sich den Geltungsansprüchen der Vernunft in irgendeiner Form widersetzten. Sie war aber auch willkommener Anlaß für Jacobi, eine bestimmte Erscheinungsform der Aufklärung, vertreten vor allem von den Berliner Aufklärern, nun ihrerseits der Schwärmerei, des Fanatismus und des Aberglaubens zu bezichtigen: Die »schwärmerische[] Parthei« holt zum Gegenschlag aus.

4.2 Der Streit um den »Kryptokatholizismus« oder Die Schwärmerei der Vernunftenthusiasten »[…] u bewies, daß es keinen schrecklicheren u gefährlichern Aberglauben gäbe, als das Vertrauen auf die gesunde Vernunft. In Absicht der letzteren that mir die Geschichte des Illuminatismus so treffliche Dienste, daß ich fühlte, wie mir der Lorbeer rund um den Kopf hervor wuchs.« 200

Friedrich Nicolai hatte bereits in seiner seit 1783 in Fortsetzung erscheinenden Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 vor dem bedenklichen Einfluß der Jesuiten und deren angeblich gegenaufklärerischen Zielen nachdrücklich gewarnt.201 1784 begann auch die Berlinische Monatsschrift ihren Kampf ge199

Ebd., S. 281 [= A 327]. – Vgl. zur Zurückweisung solcher Zuschreibungen durch Jacobi oben das Kapitel V.4.1. 200 Brief an J. G. Hamann vom 16.11.1787 (Hamann 7, 333). 201 Hierauf bezieht sich Jacobis Aussage in seinem Brief an J. F. Kleuker vom 5.12.1785: »Sie wißen, was für einen Lärm seit ohngefähr 3 Jahren Nikolai von den heimlichen Unternehmungen der Jesuiten und den Absichten des römischen Hofes macht.« (JBW I,4, 268.) Bis zum Jahre 1785 waren die ersten sechs Bände der Nicolaischen Schrift erschienen. – Vgl. auch die Thesen Nicolais

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gen den Katholizismus.202 Das Verbot des im Jahre 1776 von Adam Weishaupt gegründeten, aufklärerischen Zielen gewidmeten Illuminatenordens und die Verfolgung der Illuminaten in den katholischen Ländern203 mag dann den entscheidenden Nährboden für die Verschwörungstheorie gegeben haben.204 Mittelpunkt der Auseinandersetzungen war die Affäre um Johann August Starck, evangelisch-lutherischer Oberhofprediger in Darmstadt.205 Unter dem anonym erscheinenden Titel Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei206 wurde Starck im Jahre 1785 in der Berlinischen Monatsschrift beschuldigt,207 er habe als Mitglied einer von Jesuiten zum Zwecke zur Herkunft der Freimaurerei, deren Kritik durch Herder im Teutschen Merkur und die Lebhaftigkeit, mit der dieser Streit etwa von Gleim und Jacobi registriert wurde (vgl. JBW I,3, 25 u. 27). – Georg Forster kommentierte Nicolais Thesen in seinem Brief an Soemmerring aus Wilna vom 12.12.1784: »Ich bin nun von allem was die [Rosenkreuzer] in Polen angeht, genau unterrichtet, und weiß nunmehr, daß es mit Freund Nicolais Behauptung so ziemlich blauer Dunst ist. […] Aber mit den Jesuiten stehen sie [= die Rosenkreuzer] doch schwerlich in unmittelbarem Nexu.« (Soemmerring: Werke, Bd. 19/I, S. 64; vgl. auch S. 458 f.) 202 Eröffnet wurde er im Februar 1784 mit dem Beitrag von »Akatholikus Tolerans« (= Johann Erich Biester): Falsche Toleranz einiger Märkischen und Pommerschen Städte in Ansehung der Einräumung der protestantischen Kirchen zum katholischen Gottesdienst (Berlinische Monatsschrift 3 [1784], S. 180– 192). – Zeitgleich findet man solche Artikel im Deutschen Museum (vgl. Soemmerring: Werke, Bd. 19/I, S. 217). – Gemäß Manfred Agethen beginnt der Kampf der Berlinischen Monatsschrift gegen Jesuitismus und Katholizismus mit dem Januarheft des Jahres 1785 (Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung. München 1984 [= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution; Bd. 11], S. 282). 203 Eine umfassende Analyse des Illuminatenordens mit umfangreicher Dokumentation der Quellen (etwa zwei Drittel des Buches) bietet Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975; dort S. 83 ff. zu Verbot und Verfolgung der Illuminaten. 204 Zum Thema Verschwörungstheorien allgemein vgl. Ute Caumanns und Mathias Niendorf (Hg.): Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück 2001 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; Bd. 6). 205 Vgl. hierzu etwa Wilhelm Kreutz: »L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines des trônes, […] peut être conçue dans ces deux mots: ›L’ouvrage de l’Illuminatisme!‹« Johann August Starck und die ›Verschwörungstheorie‹. In: Weiß: Von ›Obscuranten‹ und ›Eudämonisten‹, S. 269– 304. 206 Berlinische Monatsschrift 5 (1785), S. 59–80. – Auch für Wübben ist dies jener Artikel, »welcher der These einer jesuitischen Verschwörung in der BM als erster größeren Raum verleiht« (Yvonne Wübben: Von ›Geistersehern‹ und ›Proselyten‹. Zum politischen Kontext einer Kontroverse in der Berlinischen Monatsschrift [1783–1789]. In: Ursula Goldenbaum u. Alexander Košenina [Hg.]: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2, Hannover-Laatzen 2003, S. 189– 220, hier S. 207). 207 Der Name Starck fiel allerdings erst im Jahre 1786 in dem anonym erscheinenden Beitrag Noch etwas über Geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland (Berlinische Monatsschrift 8 [1786], S. 44–100). Bekannt war er jedoch schon zuvor, wie Jacobis Brief an J. F. Kleuker vom 5.12.1785 belegt: »Der Protestantische Prediger, der ein Jesuit von der 4ten Ordnung seyn soll, ist Stark zu Darmstadt. Es war leicht zu errathen; aber Leuchsenring hat es dem H. von Stein auch ausdrücklich gesagt.« (JBW I,4, 270.)

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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der Verbreitung des Katholizismus unterwanderten Geheimgesellschaft heimlich die Priesterweihe empfangen. Starck begegnete diesen Vorwürfen mit einer in zwei Teilen erscheinenden Apologie,208 zu der die Berlinische Monatsschrift wiederum Stellung bezog. Der bis ins Jahr 1790 andauernde Streit wurde mit einer beide Parteien empörenden Heftigkeit ausgetragen.209 Für die »Berliner« stand die Aufklärung selbst auf dem Spiel: Starck wurde zum exemplarischen Fall für die Theorie einer katholischgegenaufklärerischen Unterwanderung der Gesellschaft stilisiert. Gegen »dies Werk der Finsterniß« sollte mit der »beleuchteten Fackel der Wahrheit« vorgegangen werden.210 Die Besonderheit der Darstellung in der Berlinischen Monatsschrift bestand nun darin, daß dem vermeintlich unter jesuitischen Einfluß geratenen Starck keineswegs eigene, gegen den Protestantismus gerichtete strategische Zielsetzungen unterstellt wurden. Vielmehr sei dieser aufgrund seiner naiven Gutgläubigkeit, seines Hanges, in Religionsangelegenheiten dem Gefühl vor der Vernunft den Vorzug zu geben, und seiner Angst vor der Bedrohung der christlichen Religion in aufgeklärten Zeiten quasi blindlings auf diesen Pfad gelangt. Auf diese Weise war es nunmehr möglich, alle diejenigen, die nicht die Berlinische Vernunftreligion vertraten oder die gar in irgendeiner Form das Papsttum oder Katholiken verteidigten, der wissentlichen oder unwissentlichen Beförderung des Katholizismus zu bezichtigen. Durchaus zutreffend ist daher Jacobis Einschätzung in seinem Brief an den Osnabrücker Theologen Johann Friedrich Kleuker vom Dezember 1785: »Nun haben die Verfaßer der Berliner Monathschrift die [von Nicolai initiierte; C.G.] Sache noch weiter getrieben, und verschiedene Beyträge zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherey geliefert, die, nach meinem Urtheil, nicht sowohl gegen die Jesuiten, als gegen den Geist aller Offenbarung gerichtet sind. Wer nicht Deist oder Berlinischer Christ ist, der ist, wißentlich oder unwißentlich, ein Krypto Jesuit, und muß bis zum Austrag der Sache unter die Alchymisten, Schröpfianer, Lavaterianer und Martinisten gerechnet werden.«211 208

Johann August Starck: Über KryptoKatholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachte Beschuldigungen. 2 Tle. Frankfurt u. Leipzig 1787. 209 Wie heftig es in dieser Auseinandersetzung zuging, macht eine Bemerkung Jacobis in seinem Brief an J. F. Kleuker vom 23.11.1787 deutlich: »Wenn Biester nach Durchlesung dieses 2ten Bandes [= der Starckschen Apologie] sich nicht eine Kugel vor den Kopf schießt, so muß er das Leben sehr lieb haben.« (Ratjen: Kleuker, S. 98.) 210 [Anonym:] Beitrag zur Geschichte, S. 60 u. 67. 211 Brief vom 5.12.1785 (JBW I,4, 268). Vgl. auch den Brief Jacobis an F. L. zu Stolberg vom 7.5.1788 (AB I, 478) sowie Stolbergs voraufgegangenen Brief vom 28.4.1788 (AB I, 461). – Zum Begriff »Martinisten« vgl. das im Brief an A. von Gallitzin vom 10.5.1782 erwähnte, von Claudius ins Deutsche übersetzte Werk (»das hirnlose Ding«) von Louis Claude de Saint-Martin (JBW I,3, 27; vgl. auch JBW II,3, 22–24 u. 373 [zu 403,27]). Hierzu auch Wübben: Von ›Geistersehern‹ und ›Proselyten‹, S. 208.

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VI. Phantasie

Lavater und Matthias Claudius wurden in diesem Zusammenhang gleich namentlich erwähnt.212 Bei etwaigen Aufenthalten in Berlin wurde man über die neuesten Entwicklungen des Verschwörungsgeschehens detailgenau unterrichtet.213 Dem Verfolgungsgeist scheint dabei ein Verfolgungswahn paßgenau korrespondiert zu haben: »Überall wimmelt es von Theosophen und Chiliasten, Rosenkreuzern und Alchimisten, hermetischen Philosophen und Parazelsisten, Geistersehern und Geisterbannern, Inspirirten und apokalyptischen Träumern«, so ließ sich bereits im Jahre 1784 Friedrich Gedike vor der »Berliner Mittwochsgesellschaft« verlauten.214 Unweigerlich geriet auch Jacobi in diesen Sog. Durch die Aussagen zum Papsttum in seiner Schrift Etwas das Leßing gesagt hat 215 sowie durch seine Vernunftkritik und die im Spinoza-Buch dargelegte »Gefühls- und Glaubensphilosophie« (im Verständnis [nicht nur] der Berliner Aufklärer) – nicht zuletzt auch durch das Lavater-Zitat am Ende seines Spinoza-Buches216 – hatte er sich ohnehin schon verdächtig gemacht – 212

Vgl. [Anonym:] Beitrag zur Geschichte, S. 64 u. 79. So berichtet beispielsweise Georg Forster in seinem Brief an S. T. Soemmerring vom 1.– 5.12.1785: »In Berlin habe ich mit Biester, Dohm, Nicolai, Gedike, viel Umgang gehabt; Theden sah ich im Club einmal, Wöllner begegnete ich einmal, ohne ihn zu sprechen. Theden sprach mit mir nur von Vukassewicz, und da er selbst nicht von Rosen Creuzern anfieng, so fieng ich auch nicht an. Von der Gegenparthei erfuhr ich, daß alle Arbeiten jetzt suspendirt wären, daß die Rosen Creuzer seelzagten, und daß wahrscheinlich die Jesuiten eine andere Hülle suchen würden, indem diese zu ihrem Endzweck nichts mehr tauge.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 394.) 214 Zit. nach Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 6. Ganz ähnlich äußert sich auch Nicolai in seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. VII, Anhang, S. 109 f.; zit. bei Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 144. – Auch der Brief J. G. A. Forsters an S. T. Soemmerring vom 22.5.1784 gibt einen Einblick in die irritierende Abgründigkeit einer Verschwörungstheorie (vgl. JBW II,3, 373 [zu 403,27]). – Zur »quantitativen[n] Dimension der Berliner Geisterkritik« vgl. Wübben: Von ›Geistersehern‹ und ›Proselyten‹, S. 190. Wübben unterstreicht zudem die politische Dimension der »Geisterkritik« sowie die eigenen, machtpolitischen Interessen der Berliner Aufklärer (ebd., S. 192, 210 u. 214, Fn. 27). 215 Jacobi war im Zusammenhang dieser 1782 erschienenen Schrift vorgeworfen worden, die päpstliche Hierarchie verteidigen zu wollen. Er reagierte darauf mit dem lancierten Beitrag Gedanken Verschiedener bey Gelegenheit einer merkwürdigen Schrift und den sich auf diesen beziehenden Erinnerungen gegen die in den Januar des Museums eingerückten Gedanken über eine merkwürdige Schrift (Deutsches Museum [1783], 1. Bd., S. 3–9 u. S. 97–105; vgl. JWA 4,1, 349–364), in denen er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückwies. – Vgl. hierzu auch JWA 1,1, 291. – Die Bezugsschrift des Etwas, Johannes Müllers Reisen der Päpste, hatte dem Verfasser, wie er selbst in seinem Brief an S. T. Soemmerring vom 29.10.1785 berichtet, gleichlautende Vorwürfe eingebracht: »Drittens: wenn je irgend ein Protestant an einem solchen Orte zu stehen verdient, so dünkt mir, kann derjenige, welcher der erste unter allen Protestanten dieser Zeit in den Reisen der Päpste die Hierarchie vertheidigt, wohl vorzüglichen Anspruch darauf machen. Ich bin gewissermaßen ein Martyrer derselben, da die allgemeine teutsche Bibliothek für gut befunden, mich einer [sic] Verständniß mit den Jesuiten zu insimuliren, die zwar falsch ist (weil ich nur nach meiner Ueberzeugung schrieb), die mir aber wenigstens doch zu Mainz nicht schaden soll.« (Soemmerring: Werke, Bd. 19/I, S. 235.) 216 An dem »Engelreinen Munde« Lavaters, aus dem Jacobi zu zitieren vorgibt (JWA 1,1, 145), hatten die Berliner Aufklärer erwartungsgemäß besonderen Anstoß genommen. In welchem Aus213

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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und dies nicht nur bei den »Berlinern«.217 Von Interesse ist die »Verschwörungstheorie« aber nicht, weil Jacobi infolgedessen bezichtigt wurde, den Katholizismus befördern zu wollen.218 Vielmehr lassen sich an dieser Episode verschiedene Momente aufzeigen, die zum einen spezifische Einblicke geben in Jacobis Auseinandersetzung mit der Aufklärung im allgemeinen und die zum anderen die Vernunft als das auf der Subjektseite verankerte Pendant zur Natur – und das heißt letztlich: als zweiten großen, an die Stelle Gottes tretenden Immanenzposten – ins kritische Visier rücken lassen. Beeindruckend an dieser Debatte ist, in welchem Ausmaße von den Kontrahenten auf längst, ja – wie etwa ein Blick auf England zeigt – seit einem Jahrhundert geläufige Argumente, Feindbilder und Argumentationsmuster zurückgegriffen wurde. Dies gilt etwa für den Vorwurf der »Verabsolutierung der inneren Eingebung als göttliche Wahrheit« ebenso wie für »Antikatholizismus und Gegnerschaft gegenüber dem Jesuitenorden«.219 Neuartig ist allerdings die Wendung gegen die Aufklärung selber. Zwar hatten Empfindsamkeit und Sturm und Drang schon seit geraumer Zeit dem »kalten Verstand« als dem vermeintlich einzig legitimen Regenten des Menschen den Krieg erklärt. Auch Wielands die Schwärmerdebatte des Teutschen Merkur im Jahre 1776 eröffnende Frage220 wies bereits in Richtung einer Mäßigung nicht nur der maße hier mit Empfindlichkeiten zu rechnen war, macht der Kommentar zu dieser Stelle deutlich (JWA 1,2, 470–472 [zu 145,29–30]). Jacobi kannte die Auseinandersetzung zwischen Lavater und Mendelssohn sehr gut. Vgl. seine Bestellung im Brief an seinen Buchhändler vom 2.5.1770 (JBW I,1, 92; vgl. auch Wiedemann: Bibliothek Jacobis, Bd. 1, S. 215 [= Nr. 907]). – Vgl. auch Jacobis Verteidigung in Wider Mendelssohns Beschuldigungen (JWA 1,1, 326). 217 Vgl. etwa Forsters Brief an Soemmerring vom 8.–12.6.1786: »Ich bedaure Jacobi sehr, daß er so für’s Glauben eingenommen scheint; denn noch kann ich ohne data ihn nicht für interessirt in der Sache, für Partisan halten; sondern ich denke, was er für seine Meinung ausgiebt, davon ist er überzeugt, und zwar ohne Rücksicht auf jesuitische Verbindungen. Gehe zu ihm und horche. Z. B. Wie ist er mit der jetzt in Bayern herrschenden Parthei zufrieden? Das wäre denn doch ein Probirstein.« (Forster: Werke, Bd. 14, S. 488.) 218 Vgl. den Brief an A. von Gallitzin vom 10.10.1786: »Es ist wieder ein Buch über den Jesuitismus heraus, worinn ich u Witzenmann einer listigen Beförderung des Catholizismus beschuldiget werden.« (JBW I,5, 380.) 219 Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, S. 38. – Vgl. auch Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 148 ff. 220 In der Ausgabe vom Januar 1776 (S. 82) stellte Wieland »seine berühmte Schwärmerfrage, die sofort heftige und paradigmatische Reaktionen auslöst: ›Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses als Gutes gestiftet? und in welchen Schranken müßten sich die Antiplatoniker und Luciane halten, um nützlich zu seyn?‹« (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 270; vgl. auch S. 202.) Mit leicht abweichender Orthographie auch zit. bei Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 469, der in seinem Beitrag die spätaufklärerische Schwärmerdebatte auf breiter Quellengrundlage aufrollt (S. 474). Engel macht u. a. darauf aufmerksam, daß »kaltblütige Philosophen« und »Lucianische Geister« »nicht nur für zwei Diskursarten – begriffliche Abhandlung und Satire –, sondern vor allem für die zwei traditionsreichen Hauptlinien der Schwärmerkritik [stehen]«, wobei die Form

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VI. Phantasie

Genies, sondern auch ihrer gänzlich »kaltblütige[n]« Gegner – gemäß der schönen Parole Jacobis: »curirt die Leute von der Empfindsamkeit, so werden sie euch mit der Unempfindsamkeit spuken. Ich begreife die gescheidten Leute nicht, die das nicht sehen können, und immer glauben, es läge beim Narren an der Kappe.«221 Daß sich die Narrheit auch unter der Kappe der Aufklärer verstecken kann, ja daß sich dort gar diesselbe Narrheit zu verbergen vermag, die diese zu bekämpfen trachteten und gänzlich auszurotten sich auf ihre Fahnen geschrieben hatten, klingt bei Jacobi schon früh an. In seinem Brief an Forster vom Oktober 1779 etwa heißt es hierzu: »[…] mag kein Schwärmer, weder pro noch contra, weder für die Wärme noch für die Kälte seyn«.222 Diese Schwärmerei auf der ›anderen‹ Seite, auf der Seite der »kaltblütigen Philosophen«, sollte nun – nach der Lesart Jacobis und doch keineswegs nur nach der seinigen – durch das Verhalten der Berliner Aufklärer im Kontext der Verschwörungstheorie besonders augenfällig geworden sein. So wird denn jener Absolutheitsanspruch, der schon im Rahmen der frühen Enthusiasmus-Debatte in England gegen den Katholizismus vorgebracht wurde,223 nun gegen die Berliner Aufklärer – vorzugsweise unter dem Titel des »Eigendünkels« – ins Feld geführt.224

4.2.1 Jacobis Analyse der »Dialektik der Aufklärung« Wie der Briefwechsel zeigt, hat Jacobi die Affäre Starck und das Vorgehen der »Berliner« gegen den sogenannten »Kryptokatholizismus« bzw. »Kryptojesuitismus« von Anfang an intensiv verfolgt. Auch konstatiert er schon früh die Notwendigkeit, öf-

der Satire an Shaftesburys »test of ridicule« anknüpft (ebd., 469 f.). – Vgl. auch Jacobis kurze Erwähnung des anonym erschienenen Beitrags von Johann Kaspar Häfeli, den er irrtümlich Herder zuschreibt, zur von Wieland aufgeworfenen Frage im Brief an M. S. von La Roche vom 24.9.1776 (JBW I,2, 49). 221 Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 128 f.). 222 Brief vom 25.10.1779 (JBW I,2, 118). – Vgl. hierzu auch den Titel der Antwort Herders auf die Wielandische Frage: Philosophei und Schwärmerei, zwo Schwestern. In: Der Teutsche Merkur, 1776, IV, S. 138–149. 223 Vgl. Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung, 38 f.: »Den Spielarten des Protestantismus als einer Form des Glaubens, der auf ›a reasonable free Obedience to the Will of God‹ beruht, stellte man die Dogmatik der Katholischen Kirche gegenüber, indem die Festlegung der Glaubensinhalte mit dem Anspruch des Enthusiasmus gleichgesetzt wurde, durch die innere Eingebung über eine höhere und absolute Wahrheit zu verfügen, die es notfalls mit Gewalt durchzusetzen gelte.« Vgl. auch ebd., S. 34. Ein weiteres Beispiel aus dem Jahre 1728 zeigt, daß bereits zu jener Zeit diejenigen, die ihre eigene Meinung absolut setzten, als »perfect Papists in Politicks« bezeichnet wurden (ebd., S. 42). 224 In seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen spricht Jacobi schon zu Beginn von der »Morgue berlinoise« (JWA 1,1, 282).

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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fentlich gegen die »Jesuitenriecherei«225 und den ›Verfolgungsgeist‹ der »Berliner« vorzugehen.226 In eigener Sache tut er dies bereits im Kontext des Spinozastreits, und zwar in der 1786 erschienenen Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza. Die eigentliche öffentliche Auseinandersetzung Jacobis aber erfolgt erst 1788 und zwar mit dem im Deutschen Museum publizierten Aufsatz Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Er erschien dort in der Gestalt eines »Briefe[s] an den Herrn geheimen Hofrath Schlosser«. Grundsätzlich lassen sich drei Kritikmomente unterscheiden. Das erste betrifft die mutmaßliche Leichtgläubigkeit der Berliner Aufklärer. Einer Information zufolge, die Jacobi von einem seiner Besucher erhält, läßt sich Franz Michael Leuchsenring als Urheber der Verschwörungstheorie ausmachen.227 Diesem Leuchsenring, der Jacobi aus früheren Zeiten – insbesondere aus den Hochzeiten der Empfindsamkeit – sehr vertraut ist, hätten die »Berliner« die erfundene Geschichte nur allzu bereitwillig geglaubt. Nicht etwa, weil es gute Gründe für die Annahme einer solchen Verschwörung gäbe, sondern weil sie hervorragend in das Konzept der »Berliner« paßte. Dagegen urteilt Jacobi im Hinblick auf die These vom Kryptojesuitismus mit einem geradezu aufklärerisch anmutenden Gestus: »Das ganze Mährchen kommt mir so ungereimt vor, daß ich eher jede andre noch so sehr verspottete Wundergeschichte glauben möchte; und mich kaum irgend eines Aberglaubens mehr schämen würde, als wenn ich von diesem mich hätte berücken, und so tolles Zeug mir aufbinden laßen.«228 Der Aberglaube der Berliner Aufklärer, so wird man Jacobi wohl verstehen müssen, ist in seiner Lächerlichkeit kaum von irgendeinem anderen – sei es historischen, sei es zeitgenössischen – Aberglauben zu überbieten.229 Den Feldzug jener gegen Aberglaube und Fanatismus, zwei der zentralen »Kampfideen« der Aufklärung,230 greift Jacobi somit auf und verkehrt ihn gegen die Streiter selbst: »Wenn

225

Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 282 sowie – zur Herkunft des Begriffs – Agethen: Geheimbund und Utopie, S. 284. 226 Vgl. die Briefe an J. F. Kleuker vom 5.12.1785 (JBW I,4, 270), an S. T. Soemmerring vom 20.2.1786 (JBW I,5, 71) und an A. von Gallitzin vom 21.4.1786 (JBW I,5, 157). 227 Vgl. hierzu und zum folgenden den Brief an J. F. Kleuker vom 5.12.1785 (JBW I,4, 268–271) sowie die Briefe an C. Garve vom 27.4.1786 (JBW I,5, 170–172) und an J. G. Schlosser vom 23.9.1786 (JBW I,5, 352 f.). – Zur Rolle Leuchsenrings vgl. auch Agethen: Geheimbund und Utopie, S. 284 f. 228 Brief an J. F. Kleuker vom 5.12.1785 (JBW I,4, 270). – Vgl. auch JBW I,4, 269 sowie die Briefe an J. G. Hamann vom 22.8.1786 (JBW I,5, 329 f.), vom 30.4.–1.5.1787 (Hamann 7, 186) und den Brief an J. Müller vom 3.10.1787 (AB I, 431). 229 Vgl. auch Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 155; vgl. JWA 5,1, 108 (»die Mähre vom CryptoCatholicismus«). 230 Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 3.

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Eifer für Hirngespinste das Charakteristische des Fanatismus ist, so giebt es jetzt in Deutschland keine ärgere Fanatiker als die Berliner.«231 Ob nun Leuchsenring tatsächlich Erfinder und Urheber der Verschwörungstheorie war und ob diese Theorie tatsächlich jeglicher Grundlage entbehrte – beides wird selbst von Jacobi nahestehenden Personen bezweifelt232 – ist hier nicht entscheidend. Festzuhalten bleibt lediglich der Kern des Vorwurfs an die »Berliner«: ihre dem Aufklärungsbegehren selbst entgegenstehende, unvernünftige Leichtgläubigkeit und ihr nicht minder unvernünftiger »Eifer« für inexistente Gegenstände, mithin für Produkte einer überschießenden, ungezügelten Einbildungskraft. Ein weiteres, wesentlicheres Moment der von Jacobi erhobenen Kritik ist mit dem Wort »Eifer« bereits angedeutet. Es sind nämlich keineswegs in erster Linie die inhaltlichen Überzeugungen der »Berliner«, an denen Jacobi Anstoß nimmt, sondern es ist der totalitäre Anspruch, mit dem sie ihre Überzeugungen geltend machen. Am 7. November 1785 schreibt er diesbezüglich an Elise Reimarus: »Das ist nun einmahl in den Berlinern, daß sie einen Göttlichen Beruf fühlen, die Einsichten aller übrigen Menschenkinder zu leiten, und gemäß den Rechten ihrer Infallibilität, dem bösen Unverstande überall zu Leibe gehen müßen, um ihm, entweder den Willen zu brechen, oder wenigstens doch, zur allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt an ihm ein Exempel zu statuiren. Da wird dann jedes Mittel gut und heilig.«233 Die »Jesuiten-« oder »Katholikenjagd«234 war ein für Jacobi höchst willkommenes Beispiel, um aufzuzeigen, wie eine bestimmte Form der Aufklärung umschlagen kann

231 Brief an J. G. Hamann vom 23.1.1786 (JBW I,5, 33). – Vgl. auch im Brief an J. G. Schlosser vom 23.9.1786: »So fanatisch wie die Berliner, ist Leuchsenring wohl nicht; aber er ist ein weit ärgerer Grillenfänger.« (JBW I,5, 352.) 232 So glauben beispielsweise Thomas Wizenmann (vgl. den Brief Jacobis an J. F. Kleuker vom 5.12.1785; JBW I,4, 268) und Hamann (Brief vom 2.–3.6.1787; Hamann 7, 220) nicht, daß es sich bei der Verschwörungstheorie um ein bloßes Märchen handelt, während Johannes Müller die zentrale Rolle Leuchsenrings bezweifelt (vgl. seine Briefe an Jacobi vom 3.6.1786; JBW I,5, 232 und vom 10.10.1786; JBW I,5, 378). Zur unterschiedlichen Sicht Hamanns und Jacobis in dieser Sache vgl. Christ: Johann Georg Hamann, S. 272–276. – Vgl. auch Georg Forsters kritische Bemerkung zu Leuchsenring in seinem Brief an Soemmerring vom 8.–12.6.1786 (Forster: Werke, Bd. 14, S. 488); die Verschwörungstheorie hingegen hält Forster für durchaus realistisch. In seinem Brief an Soemmerring vom 10.9.1786 heißt es etwa: »Crypto-Jesuitismus existirt gewiß; nur vielleicht nicht in dem Grade und Umfange, wie die Berliner sagen; allein der Partheigeist muß so sprechen, und sobald man dem Crypto-Jesuitismus zu Leibe will, ist es natürlich, daß Alles mit verdächtigt wird, was ähnliche Symptomen zeigt.« (Ebd., Bd. 14, S. 551.) 233 JBW I,4, 236. 234 Vgl. die Briefe von J. Müller vom 10.10.1786 (JBW I,5, 379) und vom 2.1.1788 (Müller: Werke, Bd. 38, S. 52).

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in einen Despotismus der Vernunft235 und eine quasi-inquisitorische Verfolgungsjagd, in deren Verlauf sich die Aufklärung jenen annähert, die sie zu bekämpfen trachtet und dabei die Grundsätze der Aufklärung selber vollständig suspendiert: »Wir treten Facta, Geschichte, die bündigsten Schlußfolgen und die einleuchtendsten Resultate unter die Füße, nach einem gewissen Eigendünkel des Nützlichen, und kraft eines mehr als römischen Papismus, dessen Seelsorge und Eifer sich bis zur göttlichen Gerechtigkeit eines Großinquisitors erhebt.«236 Die Jesuitenjäger bedienen sich somit jesuitischer Mittel. Im Illuminatismus fand dieses Prinzip seinen reinsten und unverhüllten Ausdruck. Die 1787 publizierten Originalschriften des Illuminatenordens ließen das Programm offenkundig werden, »Universalpatriarchismus durch antijesuitischen Jesuitismus einzuführen«.237 Doch anders als die Berliner Aufklärer, die sich in diesem Punkt vom Illuminatentum abzugrenzen suchten,238 sah Jacobi in der berlinischen Aufklärung und im Illuminatismus das gleiche Prinzip am Werk. Ganz im Sinne dieses Kritikpunktes, in dessen Fokus nicht etwa einzelne inhaltliche Positionen der Berliner Aufklärer stehen, sondern eine sich notwendig gegen sich selbst kehrende Aufklärung, argumentiert Jacobi in seiner Schrift Einige Betrachtungen über den frommen Betrug. Denn auf der einen Seite macht er gegen den orthodoxen Geist der Starckschen Apologie geltend, daß »nicht der Deismus unserer Illuminanten [sic], sondern allein ihr Papismus und Verfolgungsgeist […] aufgedeckt und angegriffen« werden mußte.239 Auf der anderen Seite hält er den »Berlinern« entgegen, daß, selbst wenn Starck unter jesuitischen Einfluß 235

Schings spricht in Anlehnung an Christian Gottfried Körner vom »Despotismus der Aufklärung« (Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, S. 163 f.). 236 Brief Jacobis an S. T. Soemmerring vom 20.2.1786 (JBW I,5, 71). Jacobi bezieht sich im ersten Teil dieses Satzes sehr konkret auf zentrale Gebote der Aufklärung (vgl. Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 425) und spielt so gewissermaßen die Aufklärung gegen die Aufklärung aus. – Vgl. im übrigen die fast gleichlautende Formulierung in JWA 1,1, 328. Vgl. auch ders.: Einige Betrachtungen, S. 157; vgl. JWA 5,1, 109; sowie den Brief an J. G. A. Forster vom 3.2.1789 (AB I, 498). 237 Brief von J. K. Lavater vom 13.12.1787 (AB I, 440); derselben Meinung war auch der Herausgeber des Archiv für Schwärmerey und Aufklärung (vgl. Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 421). – Vgl. auch Schings: Brüder des Marquis Posa, S. 174. 238 Vgl. den Brief von F. Nicolai vom 20.6.1788 (Zoeppritz I, 102) und seine mit diesem Brief übersandte Schrift Öffentliche Erklärung über seine Verbindung mit dem Illuminatenorden (Berlin u. Stettin 1788). 239 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 178; vgl. JWA 5,1, 127; vgl. auch S. 156 (108). – Anstelle von »Deismus« ist in der Werkausgabe von »Theismus« und anstelle von »Illuminanten« von »Aufklärer« die Rede. Die erste Auswechselung wird durch Jacobis Fußnote hinreichend relativiert (vgl. ebd., S. 475 f.). Die zweite Korrektur ist aufgrund der schon zur Zeit der Erstfassung von Jacobi vertretenen Ansicht, daß Berlinische Aufklärung und Illuminatismus eines Wesens seien, einerseits unwichtig und andererseits hinlänglich durch die damals ausgesprochen positive Besetzung des Begriffs »Aufklärung« zu erklären. Vgl. hierzu auch Homann: Jacobis Philosophie, S. 68 f.

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geraten wäre und es überhaupt mit »der ganzen Crypto-Hypothese die ausgemachteste Richtigkeit hätte«, das Verfahren gegen ihn »empörend« und »verabscheuungswürdig« bliebe.240 »Mir schaudert«, so schrieb Jacobi bereits am 20. September 1787 an Franz Kaspar Bucholtz, »die Haut wenn ich an den Satanischen Hochmuth unserer Aufklärer u Weltverbeßerer denke, u an die unmenschliche Grausamkeit die er zur Folge hat.«241 Die »Jesuitenriecherei« und der »Verfolgungsgeist« der »Berliner« stießen jedoch nicht nur bei Jacobi, sondern auch in den Reihen der Schwärmerei bislang unverdächtiger Zeitgenossen auf Widerspruch, wie insbesondere Garves Auseinandersetzung mit Biester und Nicolai zeigt.242 Doch durch diese Offensive geriet Garve offenbar seinerseits in Verdacht, wie Soemmerring in einem Brief an Johannes Müller vom Juli 1786 enthüllt.243 Die Distanz zu den »berliner Biester[n]«244 und die zunehmende Skepsis gegenüber deren Verschwörungstheorie offenbart auch der Briefwechsel Samuel Thomas Soemmerrings. Gegen den Vorwurf Lavaters etwa, er würde sich in seinem Urteil über den Magnetismus zu sehr dem Zeitgeist beugen, wehrt er sich mit den Worten: »Von dem Genius saeculi laße ich mich so wenig hinreissen, daß ich längst die Berliner und andre zu lesen gänzlich aufgehört habe. Schlechten Predigern bleibt man aus der Kirche bis sie sich gebessert haben. Sie haben wohl recht daß ich Schande hätte wenn ich ihm folgte. […] Ich habe es Biestern Leuchsenring u.s.f. deutsch genug gesagt. Aber schreiben werde ich es ihnen nie, damit sie nicht durch gegenschreiben Bögen anfüllen und Geld erhaschen was ihre Absicht ist. Ein Mittel gegen diese Herrn daß [sic] ich jedermann empfehle ist, sie nicht zu lesen, noch weniger zu kauffen, thäte man dies so würde sich ihr Patriotismus zu 240

Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 156; vgl. JWA 5,1, 108; vgl. auch den Brief an F. Nicolai vom 28.7.1788 (JWA 5,1, 148) sowie den Brief an F. L. zu Stolberg vom 7.5.1788 (AB I, 476). 241 Handschrift: Staatsbibliothek Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Lessing-Sammlung. 242 Vgl. den Briefwechsel zwischen Garve und Biester in der Berlinischen Monatschrift der Jahre 1785 und 1786 (auch in: Hinske: Was ist Aufklärung?, S. 182–357) sowie die Auseinandersetzung zwischen Nicolai und Garve (Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. 7. u. 8. Bd. Hildesheim 1994 [Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Berlin und Stettin 1786 und Berlin und Stettin 1787] [= Friedrich Nicolai: Gesammelte Werke. Hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spiekermann; Bd. 18], hier: Bd. 7, Anhang, S. 1–144). Vgl. auch Garves Brief an J. J. Engel vom 12.2.1786 (Engel: Briefwechsel, S. 105). Wübben spricht diesbezüglich von einer »Spaltung innerhalb der Aufklärungsfraktion« (Wübben: Von ›Geistersehern‹ und ›Proselyten‹, S. 194). 243 Vgl. das Zitat aus einem Brief Groschkes an Soemmerring, das letzterer in seinem Brief an Johannes Müller vom 24.7.1786 anführt (Soemmerring: Werke, Bd. 19/I, S. 394 f.). 244 Brief Soemmerrings an J. H. Merck vom 8.4.1786 (ebd., S. 345).

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dem sie kein Drang treibt bald legen. Auf eignen Kosten lassen sie sicher nicht drucken.«245 Soemmerring gibt damit nicht nur seiner Antipathie Ausdruck, sondern macht zudem auf einen äußerst bedeutsamen Punkt aufmerksam: auf die Eigendynamik der Medien und der Marktgesetze. Georg Forster, der enge Freund Soemmerrings, kommt letztlich zu einer ähnlichen Einschätzung, wenngleich seine Einstellung zu den »Berlinern« sich als durchaus ambivalent erweist. Im September 1786 bekundet er entschlossen: »non amo homines.«246 Doch im März 1788 setzt er zu einer Verteidigung gegenüber Soemmerring an: »Nicolai, Biester und diese Leute beurtheilst Du doch sehr unrichtig. In der Sache, glaube ich, haben sie Unrecht; denn es hat mit dem Jesuitismus lange nicht soviel zu sagen, als sie daraus machen wollen. Allein rechtschaffene, aufgeklärte Menschen sind es, die ein wahres, unauslöschliches Verdienst um deutsche Litteratur haben.«247 Indes, der Glaube an den Kryptojesuitismus, der einst auch Forster in Bann gezogen hatte, scheint im Sommer 1788 endgültig verloren. Ähnlich angewidert wie Jacobi schreibt er in einem Brief an Soemmerring, der ihm gegenüber schon bekundet hatte, daß ihm »Biester und Nicolai in ihrer Thorheit gegen die Rosen Creutzer zu weit [zu] gehen« scheinen:248 »Alles, was in Berlin über, für und wider Geheimnißkrämerei und Rosen Creuzer geschieht, ekelt mich an. Auf einer Seite sehe ich Aberglauben, Schwärmerei, Dummheit und Schurkerei, auf der andern unbefugte Richter, Voreiligkeit und Suffisance, auf beiden Seiten zugleich Intoleranz und blinden beinahe wüthenden Eifer und Verhetzung. Ich lasse mich auf alles das nicht ein, und spreche nicht einmal gern davon«.249 Sehr wohl darauf eingelassen hat sich dagegen das berlin-kritische Archiv für Schwärmerey und Aufklärung, das von 1787 bis 1791 in Altona erschien. Dessen Analyse durch Engel und Helmreich zeigt, daß der Vorwurf an die »Berliner«, sich jesuitischer Prak-

245

Undatierter (nach dem 24.10.1787) Brief an J. K. Lavater (ebd., Bd. 19/II, S. 642). Vgl. auch im Brief an Georg Forster vom 12.2.1788: »Die Nicolai- und Biester’sche Parthie hat doch immer gegen sich, daß sie ums Geld schreiben« (ebd., S. 700). 246 Brief vom 10.9.1786 (Forster: Werke, Bd. 14, S. 551). 247 Brief vom 16.3.1788 (Ebd., S. 132). Forster hat sich im Januar und Februar des Jahres 1788 in Berlin aufgehalten; vermutlich ist seine gewandelte Position auf positive Erfahrungen in jener Zeit zurückzuführen. 248 Brief vom 15.8.1788 (Soemmerring: Werke, Bd. 19/I, S. 751). Vgl. auch den Brief vom 26.7.1788 (ebd., S. 742). 249 Brief vom 20.8.1788 (Forster: Werke, Bd. 14, S. 184).

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tiken zu bedienen, dort ebensowenig fehlte wie jener, »die Kryptokatholizismus-Paranoia [sei] […] selbst eine Form der Schwärmerei«.250

4.2.2 Die »herrschende Göttinn selbständiger Vernunft« und der Terror Während somit Jacobis Erklärung der Identität von Berlinismus, Illuminatismus und Jesuitismus durchaus keinen Einzelfall darstellt, geht er doch recht deutlich über die Diskussionen in der populären Presse hinaus, wenn er diese Kritik mit einer – wie mir scheint: von Hamann deutlich beeinflußten – Vernunftkritik verbindet. Der Fall der Illuminaten war für Jacobi kein »Betriebsunfall einer fehlgesteuerten Aufklärung«,251 sondern notwendiges Produkt des Herrschaftsanspruchs der aufklärerischen Vernunft selbst. »Der Prozeß der Aufklärung«, verstanden als »Prozeß der Freisetzung der Vernunft, die endliche Vereinigung der partikulären Wahrheiten zur einen und ungeteilten Wahrheit«,252 wird von Jacobi radikal in Frage gestellt: »Die Infallibilität und allerhöchste Befugniß einer zwischen Himmel und Erde schwebenden Phantasie, die sich Vernunft nennt, woran also jeder Mensch Ansprüche hat; ist eine Lehre, die zu den schrecklichsten Anmaßungen nicht allein führen kann, sondern die mehresten Menschen, man nehme sie aus welcher Claße man wolle, nothwendig führen muß. Wozu hat sie Weishaupten, einen so vorzüglichen Mann, nicht verleitet, dem es gewiß Ernst war, da er schrieb: Mon but est de faire valoir la raison.«253 »Schärfer«, so kommentiert Hans-Jürgen Schings diese Passage, »kann man die ›Dialektik der Aufklärung‹ kaum fassen.«254 Es ist der Geist der Zeit selber, der Aufklärung, der sich für Jacobi im »Berlinismus« ebenso zeigt wie im »Illuminatismus«,255 250

Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 420. – Vgl. auch Wübben: Von ›Geistersehern‹ und ›Proselyten‹, S. 210. 251 Schings: Brüder des Marquis Posa, S. 178. Für den Hinweis auf dieses Werk danke ich Volkmar Hansen, Düsseldorf. – Das Zitat in der Kapitelüberschrift stammt aus Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 184; vgl. JWA 5,1, 131. 252 Hinske: Was ist Aufklärung?, S. XIX. – Vgl. auch Stuke: Aufklärung, S. 245: »Als Basis der Aufklärung erscheint somit die absolut gesetzte, für unwandelbar und allgemein gültig gehaltene Vernunft.« 253 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 182; vgl. JWA 5,1, 130. – Vgl. auch ebd., S. 173 f. (resp. JWA 5,1, 123) u. S. 175–177 (124–126) sowie den Brief an A. W. Rehberg vom 2.5.1788 (AB I, 466 f.). 254 Schings: Brüder des Marquis Posa, S. 180. 255 Vgl. den Brief an F. Nicolai vom 28.7.1788 (JWA 5,1, 150) sowie Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 176, Fn.; vgl. JWA 5,1, 124 f., Fn. – Den gleichen Vorwurf erhebt ein anonymer Beiträger im Archiv für Schwärmerey und Aufklärung (vgl. Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 421 f.). Dort heißt es: Was die Berliner mit der »Societas Jesu« verbinde, sei vor allem die Anmaßung des »Monopolium[s] über den Menschenverstand und die Religionsbegriffe« (ebd., S. 422).

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und dieser Geist ist die Gestalt der Vernunft als einer – und damit sind wir bei dem dritten Kritikmoment Jacobis – »zwischen Himmel und Erde schwebenden Phantasie«. Die »Infallibilität«, die sich die »Berliner« anmaßen, haben sie demnach nicht nur mit den »Papisten« gemeinsam, sondern sie verweist auch auf jene Instanz, die infallible Wahrheiten zu verkünden im Stande sein soll und die quasi an die Stelle Gottes gerückt ist. Diese Instanz ist die Vernunft. Doch von genau dieser Vernunft behauptet nun Jacobi, sie sei in sich leer, könne nur Identitäten und Nicht-Identitäten feststellen, urteilen und schließen. Die Vernunft muß – und darauf kommt es Jacobi an – vom Gegebenen ausgehen und ist nicht in der Lage, irgendetwas aus sich selbst hervorzubringen; sie ist, wie er es später im Brieffragment an La Harpe formulieren sollte, »ni législatrice, ni exécutrice, mais purement judiciaire, purement applicative de déterminations données à des objets donnés.«256 Die Vernunft hat somit – wie bereits mehrfach ausgeführt – gemäß Jacobi nur sehr beschränkte Fähigkeiten. Insbesondere könne durch sie weder Gott erkannt noch moralisches Handeln begründet werden.257 Der Vernunft mehr zuzutrauen, als sie tatsächlich zu leisten imstande ist, hat fatale Folgen. Zum einen: Indem die Vernunft als isoliertes und autonomes Vermögen postuliert wird, das zugleich alles »aus sich selbst allein hervorzubringen« imstande,258 und den Menschen nach seinen Maßgaben vollständig zu leiten befähigt sein soll, wird sich das auf diese Weise negierte »Nicht-Vernünftige«, das aber ebenso zum Menschen gehört, unbemerkt einschleichen. »Darin aber besteht«, so Klaus Hammacher, »der ›fromme Betrug‹, daß sie sich selber durchaus gesichert glauben, und daher eintritt, was sie durch ihre Vernunftforderung verhindern wollten, daß ihre Leidenschaften ohne Kontrolle herrschen können, da sich auf sie nie die Rechenschaft der folgerichtigen Begründungen erstrecken kann.«259 Unter dem Aspekt der Affektkontrolle überbietet Jacobi die Aufklärung somit gewissermaßen. In bewußter Anspielung auf Kant kritisiert Jacobi nicht die Vernunft als solche, sondern lediglich eine »überschwengliche Vernunft«, welche er die »ungesunde « nennt.260 »Denn«, so Jacobi, »die wahre Vernunft erkennet ihre Grenzen, und ist sich ihres Unvermögens be-

256

JWA 5,1, 172. Vgl. die oben im Kapitel III.2 bereits zitierten Briefe an J. Müller vom 3.10.1787 (AB I, 432 f.) und an F. Nicolai vom 28.7.1788 (JWA 5,1, 152). 258 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 161; vgl. JWA 5,1, 112. Vgl. auch ebd., S. 162 (113). 259 Hammacher: Philosophie Jacobis, S. 114; vgl. auch ebd., S. 130 f. – Der Begriff »frommer Betrug« oder »pia fraus« ist für Jacobi schon frühzeitig der Inbegriff des Irrwegs der Berliner Aufklärer (vgl. etwa die Briefe an J. G. Hamann vom 13.10.1785 [JBW I,4, 208] oder an J. W. Goethe vom 13.–14.12.1785 [JBW I,4, 277]). – Zur Herkunft des Begriffs vgl. Hammacher: Philosophie Jacobis, S. 111. 260 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 161; vgl. JWA 5,1, 113; vgl. auch S. 162 (113) sowie 160 (112), wo Jacobi von der »perversa ratio« spricht. 257

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wußt«.261 Jacobi macht sich somit den kritischen Impetus der Philosophie Kants, der in dem Aufsatz über das »Orientieren« gegen ihn zum Einsatz gelangt war, zunutze – nicht zuletzt auch, um an die Kantisch inspirierten Darlegungen den Vorwurf der »Schwärmerey« gegen die »ungesunde Vernunft« zu knüpfen.262 Die List dieses Vorgehens liegt allerdings darin, daß er die »reine« Vernunft des Kantischen Systems gleich mittreffen möchte, denn es bleibt für Jacobi beschlossene Sache, daß aller Weg der Vernunft zu inhaltlichen Erkenntnissen ein ›verunreinigter‹ ist, d. h. sich etwas nicht aus der Vernunft selber Stammendem verdankt.263 Zum zweiten: Wenn die Grenzen der Erkenntnis weder gesehen, noch gar akzeptiert werden, gleichwohl aber Anspruch darauf gemacht wird, inhaltliche Bestimmungen für Verhalten und Zusammenleben der Menschen aus reiner Vernunft ableiten zu können, so führt dies – Jacobi zufolge – unweigerlich in den Terror. An dieser Stelle lassen sich bei Jacobi zwei Argumentationslinien verfolgen. Die eine – auf sie hat Walter Jaeschke aufmerksam gemacht – hebt darauf ab, daß Vernunft, insofern sie ausschließlich dem Subjekt entspringen und mit Gewalt der Objektivität oktroyiert werden soll – und sei es auch um des ›allgemeinen Besten‹ willen –, keine Vernunft mehr ist, weil sie sich selbst widerspricht, ja in Unvernunft umschlägt. Grund hierfür ist die die Vernunft kennzeichnende »duale Struktur«, ihr Angewiesensein auf ein Außen. Diese »Korrespondenzstruktur der Vernunft« hat Jacobi, so Jaeschke, offengelegt. »Das Programm der ›Alleinherrschaft der Vernunft‹ lebt hingegen vom Dementi der Korrespondenzstruktur, in der doch die Signatur der Vernunft liegt.«264 Die zweite Argumentationslinie geht darauf aus, daß, da die Vernunft an sich leer ist, die inhaltlichen Bestimmungen nur willkürlicher Natur, Ausdruck einer Meinung 261 Jacobi: Einige Betrachtungen, 170; vgl. JWA 5,1, 120. – In Wider Mendelssohns Beschuldigungen bedient sich Jacobi zum Zwecke der Verteidigung längerer Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft, in welchen es um die »Vereitelung aller ehrsüchtigen Absichten einer, über die Grenzen aller Erfahrung hinaus herumschweifenden Vernunft« geht (vgl. JWA 1,1, 320–322, hier 320). 262 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 162; vgl. JWA 5,1, 113; vgl. zum Vorwurf der Schwärmerei auch S. 170 (120). – Vgl. hierzu auch den Grundtenor des Verweises auf Kant in Wider Mendelssohns Beschuldigungen, der etwa so lautet: Was ihr mir vorwerft, müßtet ihr Kant noch viel eher – und schon viel länger – vorwerfen (JWA 1,1, 320–322). – Zur Planung dieses strategischen Zitierens vgl. auch Jacobis Brief an J. W. Goethe vom 13.–14.12.1785: »Nun will ich es [= Kant] fürs erste mitnehmen gegen die Berliner, und an die andre Hand den Hemsterhuis. Ich denke, sie sollen unter meinem Commando treffliche Dienste leisten, und mir die schlimmsten Angriffe vom Leibe halten.« (JBW I,4, 276.) 263 Vgl. hierzu Klaus Hammacher, der Jacobis Insistieren auf der Eingebundenheit der Vernunft, ihr Angewiesensein auf »Empfindungen und Wahrnehmungen« (Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 161; vgl. JWA 5,1, 113), besonders hervorhebt (vgl. Hammacher: Philosophie Jacobis, bes. S. 96 ff.) 264 Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung. In: Jaeschke / Sandkaulen: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 199–216, hier S. 210.

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sein können, die man für wahr erachtet. Unter dieser Maßgabe wäre es gar nicht die Vernunft, die absolut gesetzt wird, sondern unter ihrem Namen würde eine letztlich beliebige persönliche Meinung absolut gesetzt. Auf diese Weise bestimmt Jacobi im Zusammenhang des Streits um den Kryptojesuitismus, was es mit jener »zwischen Himmel und Erde schwebenden Phantasie, die sich Vernunft nennt« eigentlich auf sich hat: »Das Geschrey dieser Männer zum Lobe und zum Schutze der Vernunft mag zum Theil ganz unschuldig seyn. Sie glauben in der That, daß ihre Meynung die Vernunft, und die Vernunft ihre Meynung sey. Schwärmer soll man sie darum nicht nennen, da Schwärmerey nur übertriebener Enthusiasmus ist; dieser aber einen wahren Gegenstand voraussetzt. Der Begeisterte für einen nicht wahren Gegenstand, für ein Unwesen, heißt nicht Schwärmer, sondern nur Phantast. Und das ist der eigentliche Name für dies Geschlecht: sie sind Phantasten. Geschieht es aber, daß der Eifer für Hirngespinste bis zur Predigt seiner Wahrheit, seines Worts und seiner Wunder, ja seiner allein seligmachenden Religion entflammt: dann heißt seine Gabe Fanatismus.« Jacobi zeichnet hier ein geschicktes Abbild der Berlinischen Argumentationsweise. Die »Berliner« hatten ja zunächst attestiert, daß Starck gewiß keine eigenen, bösartigen Absichten gegen Protestantismus und Aufklärung verfolge, um am Ende mit dem Vorwurf aufzuwarten, dieser sei katholisch geworden und damit eine Gefahr für die Aufklärung. Exakt nach diesem Muster und unter Zuhilfenahme aller Definitionen und Schlagworte der älteren und jüngeren Schwärmerdebatten agiert hier Jacobi. Am Ende registriert er die Selbstvernichtung der Aufklärung: »[…] und sie selbst schlagen sie [= die Vernunft] ans Creuz.«265 Das Hirngespinst, von dem Jacobi spricht, ist nun nicht mehr bloß, wie noch in jenem ersten Kritikmoment, in welchem es um die Glaubwürdigkeit der Verschwörungstheorie ging, die These vom Kryptojesuitismus. Das Hirngespinst ist nun vielmehr die Vernunft selbst: »Worauf stützt sich also die mehr als vorzügliche, die absolute Authorität eurer Meynung? Ihr erschaffet euch selbst diese Authorität durch eine seltsame Einbildung, als wohnte in euch ein besonderes Wesen, welches euch, man weiß nicht wie, die reine Wahrheit sagt. Ihr nennt es die Vernunft, und verwirret dadurch die Begriffe auf eine unverzeihliche Weise. Denn die Vernunft ist kein Orakel; sie kann nur urtheilen und schließen«.266

265 266

JWA 1,1, 326 f. Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 173; vgl. JWA 5,1, 123.

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Die Vernunft ist mithin das nicht, wofür die Berliner Aufklärer sie halten, und das, was sie dafür halten, ist nichts anderes als ihr »hypostasierte[r] Eigendünkel«.267 Anklänge an den Schwärmer, der sein Innerstes abhorcht, sind unüberhörbar. Angeklagt wird unter bewußter Inszenierung solcher Konnotationen die »schnöde Selbstvergötterung, die sichtbarer in Berlin zuerst gepflegt«.268 Jacobi gesteht durchaus zu, daß es dem Menschen natürlich, ja unvermeidlich sei, seine Meinung für die Wahrheit zu erachten und dieselbe auch verteidigen und durchsetzen zu wollen – diese Auffassung teilt er mit Hemsterhuis, aus dessen Alexis, ou de l’âge d’or er zur Unterstützung seiner Meinungslehre zu Beginn der Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen zitiert,269 und mit Georg Forster, der sich unter dem Titel Über Proselytenmacherei 1789 in der Berlinischen Monatsschrift ebenfalls entsprechend äußert.270 Doch wann immer, so Jacobis in dieser Debatte wohl weitestgehender Vorwurf, die Meinung sich unter dem Namen »Vernunft« absolut zu setzen trachtet und Unfehlbarkeit beansprucht – »der hypostasierte Eigendünkel spricht Orakel aus, die alles meistern und von nichts gemeistert werden dürfen«271 –, muß es unweigerlich zu despotischen Akten kommen – insbesondere dann, wenn der »Eigendünkel« sich mit medialer oder politischer Macht paart: »Keine Meynung ist gefährlich, sobald ein jeder die seinige frey sagen darf. Eine jede aber ist es, wenn sie die einzige seyn will, und zu einem gewissen Grade der Herrschaft würklich gelangt.«272

267

JWA 1,1, 327. Brief Jacobis an S. T. Soemmerring vom 20.2.1786 (JBW I,5, 71). Vgl. auch JWA 1,1, 328. – Wie eine Illustration zu dieser Anklage Jacobis, mit welcher er allerdings unterdessen – wie schon erwähnt – keineswegs alleine dastand, liest sich Georg Forsters Kommentar zu Mendelssohns Morgenstunden in einem Brief an Soemmerring: »Anstatt mir einen Gott zu beweisen wie er ist, beweist mir Mendelssohn weiter nichts, als wie er selbst sich denkt, wenn er Gott wäre; das ist: Mendelssohn, der die Rollen Gottes spielt. Nun mag ich aber nicht Mendelssohn zu meinem Gott.« (Brief vom 19.–20.3.1786; Forster: Werke, Bd. 14, S. 453 f.) – Vgl. auch ebd., S. 454: »[…] und daß sie [= die Metaphysiker] nun doch behaupten wollen, vom Glauben an ihre Lehre hienge Glück der Staaten und Seligkeit der Menschen ab. Das thut Mendelssohn noch in seiner letzten Schrift.« 269 JWA 1,1, 273 f. – Vgl. zu Jacobis »Meinungslehre«: Hammacher: Philosophie Jacobis, S. 96– 131, bes. S. 113 ff. In dem Aufsatz über den Frommen Betrug entwickelt Jacobi diese Lehre schon recht weitgehend (vgl. Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 176 f.; vgl. JWA 5,1, 125). Der zentrale Text ist für Hammacher der 1795 in Schillers Horen erschienene Beitrag Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers (vgl. JWA 5,1, 187–222). Aber auch schon in der Allwill-Ausgabe von 1792 heißt es: »Uebrigens, da dem Menschen jede Meynung lieber als sein Leben werden kann, so liegt die Gewalt überhaupt der Begriffe, die überwiegende Energie der VERNÜNFTIGEN NATUR (nicht des Gedankendinges Vernunft) damit so klar zu Tage, daß nur ein Thor sie läugnen kann. Und wie sollte ihre Gewalt nicht die höchste […] seyn« (Jacobi: Allwill [1792], S. 297; vgl. JWA 6,1, 229 f.). 270 Vgl. Forster: Werke, Bd. 8, S. 194–219, hier S. 197; vgl. auch S. 201. Der Erstdruck erschien in: Berlinische Monatsschrift 14 (1789), S. 543–579. 271 JWA 1,1, 327. 272 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 176; vgl. JWA 5,1, 125. 268

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Der Medienpapst Nicolai hatte zweifellos jene Gewalt, die öffentliche Meinung entsprechend seiner eigenen zu manipulieren. Diese Form des Despotismus vermag Jacobi in seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen nur noch zynisch zu karikieren273 und den Berlinern die Rolle der »öffentlichen Richter deutscher Nation« zuzusprechen.274 Insofern standen die Debatten der Spätaufklärung auch in direktem Zusammenhang mit dem Medienwandel jener Jahrzehnte. Jacobi, der sich nicht zuletzt als Opfer solcher Gegebenheiten sah, verurteilte den »Fanatismus« und »Aberglaube[n]«, der hierbei am Werke war, als noch erheblich grausamer und gefährlicher als den »priesterliche[n]«.275 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen derart konzentrierter und einflußreicher, historisch übrigens bis dahin einzigartiger, medialer Macht – man denke etwa auch an den Fall Struensee276 – fielen die Hochrechnungen für eine prospektive politische Macht entsprechend desaströs aus:

273

Vgl. JWA 1,1, 320, Fn.: »Aber was wollen alle Zeugnisse; alle innerlichen und äusserlichen Beweise sagen – wenn HERR NIKOLAI sagt, daß Er sagen kann! – (am gewissesten sagen, kann er immer, und sagt nie anders) – wenn er sagt, daß Er Selbst über eine Materie DISSERIRT hat!« – Zu Bedeutung und Einfluß Nicolais vgl. im übrigen Ute Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995 (= Mainzer Studien zur Buchwissenschaft; Bd. 1). 274 JWA 1,1, 275. – Zur geballten, auf Jacobi einstürmenden Medienmacht vgl. JWA 1,1, 330. Vgl. auch Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 180; vgl. JWA 5,1, 128: »Eine Nation, die unter der Influenz ihrer Journalisten steht, gleicht einem Hofe, wo die Antichambre und der Gewißensrath die erste Rolle spielen.« Gemeint ist hier wohl ein Hof, der nach dem Modell der Inquisition funktioniert. – Vgl. auch Jacobi: Einige Betrachtungen, 182; vgl. JWA 5,1, 130: »Der Mangel äußerlicher Gewalt bedeutet wenig, und kann fürchterlich ersetzt werden.« 275 JWA 1,1, 319; vgl. hierzu auch 328 f.: »Denn kann etwas verkehrteres, und das mehr empörte wohl gedacht werden, als eine menschliche Weisheit, die über die Wahrheit selbst herrschen; was, wie, und wann sie gelten darf entscheiden will?« So auch schon im Brief an S. T. Soemmerring vom 20.2.1786 (JBW I,5, 71). – Festzuhalten gilt es allerdings auch, daß ein anderer im Herbst desselben Jahres Jacobi just derselben Anmaßung, Alleinweisheit und Herrschsucht schuldig sprechen sollte (vgl. Forsters Brief an Soemmerring vom 10.9.1786; Forster: Werke, Bd. 14, S. 550 f.). – Vgl. auch Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 174; vgl. JWA 5,1, 123: »Nennt mir einen Aberglauben, eine Schwärmerey, welche dem, was sich aus dieser [= der Vernunft; C.G.] mit Zuverläßigkeit weißagen läßt, an schädlichen und schändlichen Folgen gleich käme?« Vgl. auch ebd., S. 176 (vgl. JWA 5,1, 125); ebenso und noch schärfer S. 177 f. (vgl. JWA 5,1, 126). 276 Vgl. Christine Keitsch: Der Fall Struensee – ein Blick in die Skandalpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Hamburg 2000 (= Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte; Bd. 26). Vgl. hierzu auch Klaus Bohnen: Johann Friedrich Struensee und die Folgen. Aus Anlaß von Christine Keitschs Der Fall Struensee. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), S. 272–278, hier S. 273: »Der Mut zur Aufklärung schlägt allerdings in sein Gegenteil um: Es entsteht eine Presse, die ihre Marktchancen durch einen Appell an die niedrigen Instinkte ihrer Leser wittert und durch personenbezogene Hetze die öffentliche Debatte in unerhörtem Maße emotionalisiert«. Vgl. zu diesem Thema auch die heftige Diskussion zwischen Pockels und Moritz um den Kurs des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 147, vor allem das S. 367, Fn. 31, angeführte Zitat von Moritz).

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»Sagt, was fehlt eurem Eifer, um Feuer und Schwerd wider eure Gegner zu gebrauchen? Wahrlich nichts, als ein politisches Uebergewicht. […] warum nicht wenige einzelne Personen aufopfern, welche dem höchsten Interesse der Menschheit, der Alleinherrschaft der Vernunft, entgegen würken? Wäre nicht die Unterlaßung bey dem festen Glauben an die aus eurem Innern hervor gehenden Göttersprüche, im höchsten Grade inconsequent und thöricht?«277 Einige Jahre später scheint in der Französischen Revolution manches hiervon real geworden zu sein: Statt eines Gottes wurde im »Kult des höchsten Wesens« die Vernunft angebetet,278 und während der Schreckensherrschaft kam es zu Massenguillotinierungen. Tatsächlich hatte Jacobis bereits im Frühjahr 1790, die Revolution war noch kein Jahr alt, in einem Brief an seinen Sohn Georg Arnold die Parallele gezogen zwischen dem deutschen Vernunftenthusiasmus und der Verfahrensweise der Revolutionäre: »Ich ärgre mich über die Inconsequenz der mehrsten Deutschen, welche über die Maaßregeln der französischen Nationalversammlung urtheilen u sie mißbilligen; denn ihre Grundsätze, ihr philosophischer Glaube, ihre hohe Meinung von der Causalität der reinen Vernunft, muß sie zu demselbigen System führen, welches die Demokraten der Nationalversammlung begeistert u verblendet«.279 Jacobi rückt mit dieser Aussage in eine deutliche Nähe zu jenen Aufklärungs- und Revolutionsgegnern, die »immer wieder einen unhaltbaren kurzschlüssigen Kausalnexus zwischen Illuminaten und den Aufklärern, Bastille-Erstürmung und JakobinerHerrschaft unterstellten«.280 Ein genauer Blick auf sein Verhältnis zur Französischen Revolution und seine kritischen Analysen,281 die völlige Absenz jeglicher Verschwörungstheorie wie schließlich wohl auch die Tatsache, daß die zitierte Bemerkung sich lediglich in einem unveröffentlichten Familienbrief finden läßt, belegen jedoch, daß eine solche Zuordnung ebenfalls sehr kurzschlüssig wäre. 277

Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 175 f.; vgl. JWA 5,1, 125. – Vgl. auch in Wider Mendelssohns Beschuldigungen: »Das entschiedenste Talent, wenn es ihm [= demjenigen, der »seine Meynung für die Wahrheit selbst ansieht«,] nicht dienstbar ist, verliert seine Würde, kommt um seinen Nahmen, und käme, wenn es möglich wäre, um sein Daseyn.« (JWA 1,1, 317.) 278 Vgl. hierzu auch JWA 1,1, 327: Die Vernunft »ist ihnen [= den Berliner Aufklärern] nur das Bild des Götzen dem sie opfern«. Vgl. auch Hamanns Rede vom »Götzen« der »gesunden Vernunft« (nach Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 431; vgl. Hamann: Sämtliche Werke, Bd. III, S. 189). 279 Unveröffentlichtes und undatiertes (vermutlich Ende April bis Ende Mai 1790) Brieffragment an Georg Arnold Jacobi (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Für die Hilfe bei der Datierung dieses Brieffragments danke ich Gudrun Schury, ehemalige Mitarbeiterin der JacobiForschungsstelle. 280 Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 12; vgl. auch ebd. S. 24. 281 Vgl. Götz: Friedrich Heinrich Jacobi.

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Dies war der eine Strang: der öffentliche und politische. Der andere, philosophische, sollte später in der Auseinandersetzung vor allem mit der Philosophie Fichtes zum Austrag gelangen. Doch auch für diesen hatte Jacobi die Leitlinie schon frühzeitig vorgegeben. Am 19. Mai 1786 schrieb er an Franz Kaspar Bucholtz über das schon von den Berliner Aufklärern, später aber auch von anderen verfolgte Projekt einer Vernunftreligion: »Es wird mir immer klarer, daß die bloße Vernunftreligion eine Abgötterey ist, die sich nothwendig zum Atheismus läutern muß. Der Gott der Theisten [= Deisten; C.G.] ist nichts anderes, als die vergötterte menschliche Vernunft; ihr Ideal. Die menschliche Vernunft in ihre Elemente aufgelöst, ist Nichts. Ihr Ideal folglich das Ideal von einem Nichts; das ist: eine handgreifliche Ungereimtheit. Ebenso ist es mit der Tugend der bloßen Vernunft beschaffen. Ihr Ideal ist reiner Egoismus, dem Gott selbst sich unterwerfen, in seine Peripherie sich begeben muß.«282 Diese Briefstelle enthält gleichsam in komprimierter Form das Thema, das Jacobi unter anderem in seinem Aufsatz über den »Frommen Betrug« in immer neuen Variationen vorträgt. In diesem verbindet er den Vorwurf der Schwärmerei mit einer – dem »Consequenzmacher« gemäßen – Prophezeiung: »Darum können wir nicht anders als eure angebliche Vernunft-Religion, für eine philosophische Schwärmerey ansehen, und aus Gründen der Vernunft und einer allgemeinen Erfahrung für entschieden halten, daß ihr, beym Erwachen aus dieser Schwärmerey, euch an einem Orte finden werdet, wo ihr gänzlich nicht erwartetet zu seyn.«283 Unter dem Stichwort »blos logischer Enthusiasmus «284 wird Jacobi 1799 in seinem Sendschreiben Jacobi an Fichte ein genaueres Bild dieses Ortes malen. Hier spricht er von jener »Magie, durch welche erst ein Nichts zu einem Etwas; und hernach durch

282

Brief an F. K. Bucholtz vom 19.5.1786 (JBW I,5, 213). Trotz eindeutiger Bemühungen der Zeit, die Begriffe »Deismus« und »Theismus« nicht zu vermengen, hatte sich dies im Sprachgebrauch noch nicht durchgesetzt (vgl. Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 164–166, Fn.; vgl. JWA 5,1, 116 f., Fn.). – Vgl. auch Wider Mendelssohns Beschuldigungen, wo von den »Vorsteher[n] der göttlichen Vernunft des Menschen« die Rede ist (JWA 1,1, 328). In eine vergleichbare Richtung zielt jene Passage, die Jacobi in derselben Schrift aus Hamanns Werk Neue Apologie des Buchstaben H. zitiert: »Der Gegenstand eurer Betrachtungen und Andacht ist nicht Gott, sondern ein bloßes Bildwort, wie eure allgemeine Menschenvernunft, die ihr durch eine mehr als poetische Licenz zu einer würklichen Person vergöttert, und dergleichen Götter und Personen macht ihr durch die Transsubstantiation eurer Bildwörter so viel, daß das gröbste Heydenthum und blindste Papstthum in Vergleichung eurer philosophischen Idolatrie am jüngsten Gericht gerechtfertigt und vielleicht losgesprochen seyn wird.« (JWA 1,1, 324, Fn.) Vgl. hierzu auch Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 220 f.). 283 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 170; vgl. JWA 5,1, 120. 284 Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 205, 196 f.). – Den Begriff übernimmt Jacobi aus der WoldemarRezension Friedrich Schlegels (vgl. Schlegel: Jakobi‘s Woldemar; PLS 1.1, 264).

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dieses Etwas alles zu Nichts gemacht wird«:285 Er schreibt vom Atheismus und Nihilismus einer »vergötterte[n] menschliche[n] Vernunft«, der Wissenschaft. Die idealistische Variante der Immanenzwerdung, der »umgekehrte [ ] Spinozismus«,286 gemäß welcher sich der Mensch der Moderne in seiner Vernunft – als Wissenschaft – selbst zu gründen sucht, läuft, so Jacobi, auf eine gottlose Selbstvergötterung hinaus: »Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder ICH bin Gott. Es giebt kein drittes.« Dieser Entwicklung, da sie über den Zeitrahmen dieser Arbeit und aus der Epoche der Spätaufklärung deutlich hinausführt, soll hier nicht weiter nachgegangen werden.287 Festgehalten sei lediglich noch, daß die idealistische Variante, der »umgekehrte Spinozismus« also, für Jacobi die konsequentere darstellt. Der Grund hierfür läßt sich mit Walter Jaeschke lakonisch offenlegen: »›Alpha es et O‹ kann man nicht zur Materie, sondern nur zum Ich sagen.«288 Eine letzte Andeutung sei aber doch noch gestattet: Der Mensch, der »sich in sich allein begründen will«, der Mensch der Moderne also, ist, so Jacobi, unweigerlich in den Nihilismus geworfen: »Alles löset sich ihm dann allmählich auf in sein eigenes Nichts.«289 Die Vernichtung der Außenreferenz fällt nämlich mit der Vernichtung des Selbst zusammen. Ebendiese Unheilsdialektik – die Unmöglichkeit der narzißtischen Absolutheitsposition oder der den Tod zu überwinden suchende Todestrieb – ist in den Romanen der Spätaufklärung – nicht zuletzt auch den Jacobischen – in der Gestalt des Schwärmers dargestellt.290 Und vielleicht sind die Konversionen der Romantiker nichts anderes als Reaktionen auf solcherart kollabierende Selbste, die sich nur noch in einer übertreibenden Geste – aus dem Nihilismus des Diesseits (zurück) in die Positivität des Jenseits – meinten retten zu können.291 Denn noch handelte es sich im Falle des Übergangs von der Transzendenz in die Immanenz um einen allerersten Entwurf, ein Programm, ein Versprechen, das auszuführen dem 19. Jahrhundert mit seiner massiven Entfesselung der Produktivkräfte vorbehalten blieb. Dieses Unter285

Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 163; vgl. JWA 5,1, 114. Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 195). 287 Vgl. aber Walter Jaeschke: Der Messias der spekulativen Vernunft. In: Klaus-M. Kodalle u. Martin Ohst (Hg.): Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Würzburg 1999 (= Kritisches Jahrbuch der Philosophie; Bd. 4), S. 143–157. 288 Ebd., S. 150. – Vgl. auch Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 18. 289 Jacobi an Fichte (JWA 2,1, 220). 290 Manfred Engel hat die Schwärmergestalt der Romane auf breiter Quellenbasis nachgezeichnet (vgl. Engel: Rehabilitation des Schwärmers, S. 484; vgl. auch S. 479 f.). – Vgl. zu dieser »Subjektivierung« – als Effekt auch der »Entzauberung« durch die Aufklärung – überdies Begemann: Furcht und Angst, S. 261: »Zahlreiche Phänomene, denen früher Objektstatus oder Objektbezug zugeschrieben werden konnte, verlagern sich in die bloße Subjektivität des einzelnen, werden zu psychischen oder psychophysischen Erzeugnissen mit häufig ›pathologischem‹ Charakter.« Vgl. auch ebd., S. 258. 291 Ingo Kauttlis sieht dagegen Jacobi selbst als Auslöser dieser »Hinwendung zum positiven Christentum« (Kauttlis: »Antinomien der Überzeugung«, S. 11). 286

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nehmen dauert bis heute an. Die schwärmerische Einbildungskraft aber wäre demnach ein Probelauf menschlicher Schöpferkraft und bürgerlicher Produktivität, der noch um sich selbst kreiste292 und somit ins Leere ging – gleichwohl aber doch ein Probelauf, eine – durchaus lehrreiche – Trainingseinheit für den künftigen Immanenzkurs.

4.3 Aufklärung contra Aufklärung? »Die Zeit um 1800 ist für uns Heutige deshalb so interessant, weil wir hier die Genese einer Aufklärungs- und Vernunftkritik beobachten können, die die Vernunft als Form der Herrschaft entlarvte und die rationalistische – wie ökonomische – Verkrustung nur für aufbrechbar hielt durch eine Öffnung zur Ganzheit des Lebens, die aber gleichwohl – jedenfalls eine Zeitlang – mit den grundlegenden emanzipatorischen Tendenzen der Aufklärungsbewegung sich eins wußte und es in vielem wohl auch tatsächlich gewesen ist«.293

Für die Auseinandersetzung mit den Berliner Aufklärern aber, d. h. für jenen im Rahmen der Spätaufklärung verbleibenden Streit um den Kryptojesuitismus, gilt es festzuhalten, daß alle drei Momente der Kritik Jacobis eines gemeinsam haben: den Vorwurf eines Umschlags von Vernunft in Unvernunft. Es sind also die Ansprüche und Maßstäbe der Aufklärung selber, die in dieser Kritik zum Tragen kommen. Offensichtlich bewegen sich beide Parteien – die »schwärmerische Parthei« und die ›schwärmende‹ Aufklärung – in demselben Bezugsrahmen. Wenn Jacobi gegen Vernunft und Aufklärung zu Felde zieht, so tut er dies immer noch im Namen von Vernunft und Aufklärung. Anschaulich wird dieser gemeinsame Bezugsrahmen nicht zuletzt an der Begrifflichkeit, in der die gegenseitigen Vorwürfe formuliert werden. Fanatismus, Schwärmerei und Aberglaube wird Jacobi von den »Berlinern« vorgeworfen. Derselben Begriffe bedient sich aber auch Jacobi in seiner Kritik. Er setzt dieses Verfahren in seinem Aufsatz über den »Frommen Betrug« ganz bewußt ein, indem er nacheinander zunächst den Vertreter des Deismus und der Vernunftreligion und dann den Vertreter einer positiven Religion auftreten und beide wörtlich dieselben Kritikpunkte erheben läßt.294 Diese Verfahrensweise konnte bisweilen bizarre For292

Vgl. Begemann: Furcht und Angst, S. 260: »[…] die Phantasie rotiert in sich selbst«. Christoph Jamme: Aufklärung via Mythologie. Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Naturfrömmigkeit um 1800. In: Ders. u. Gerhard Kurz (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart 1988. S. 35–58, hier S. 38. 294 Vgl. Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 158 f.; vgl. JWA 5,1, 110. Der Vorwurf an die jeweils andere Partei lautet, daß es sich um »ein Gewebe von Unwißenheit, Aberglauben, Betrug und Schwärmerey« handele. 293

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VI. Phantasie

men annehmen. So stellt Jacobi dem Vorwurf des »Krypto-Jesuitismus« den Vorwurf des »Hyperkrypto-Jesuitismus« entgegen,295 mit dem er die »Procedur der Berlinischen Inquisitionsräthe«,296 vor allem gegen Starck und Lavater, stigmatisiert. Umgekehrt setzen sich die »Berliner« gegen den Vorwurf des Atheismus zur Wehr, indem sie nun ihrerseits Thomas Wizenmann, den Freund Jacobis und Vertreter eines positiven Christentums, als »fanatischen Atheisten« bezeichnen. »Atheisten« sind dann – so klärt Hamann auf – nach der Berliner Definition all diejenigen, »die der Vernunft absprächen das Vermögen Gott zu erkennen, u eine andere Quelle als die Philosophie suchten«.297 Im gleichen Jahr verleiht Biester in jenem Brief, mit dem er Kant zum engagierten Einschreiten in den Spinozastreit nachdrücklich auffordert, Jacobi und den ihm Nahestehenden den Titel der »christlichen Gesellschaft zur Beförderung des Atheismus und Fanatismus«.298 Kant selbst übrigens sollte bei diesem Schlagabtausch auch nicht ungeschoren davonkommen. Seinem im Aufsatz über das »Orientieren« gegen Jacobi gerichteten Vorwurf der Schwärmerei begegnen Wizenmann und Jacobi mit demselben Vorwurf, dieses Mal an die Adresse Kants gerichtet.299 Selbst der von Lessings Bruder und Nicolai gegen Jacobi erhobene – im übrigen traditionelle – Vorwurf, mit Schwärmern lasse sich nicht vernünftig reden, wird von Hamann mit gleicher Münze vergolten: »Aus dieser jesuitischen Verdrehung Deiner Meinung«, so schreibt er Jacobi im November 1786, »ist offenbar zu sehen, daß sich mit solchen verkehrten Leuten weder deutsch reden noch deutsch schreiben läßt, und daß man eine andere Sprache zu Hülfe nehmen muß, um sich ihnen verständlich zu machen oder vielmehr ihren Unverstand in die Enge zu treiben.«300

295

Brief an J. Müller vom 3.10.1787 (AB I, 431). Vgl. auch die Briefe an J. K. Lavater vom 3.5.1787 (AB I, 415) und an J. G. Hamann vom 20.12.1785 (JBW I,4, 290). – In seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen spricht Jacobi von einem »[…] nicht erträumten, oder zum Behuf eines eigenen weit ausgebreiteten Schleichhandels gar nur erdichteten – sondern würklichen HYPER-cryptoJesuitismus und PHILOSOPHISCHEN PAPISMUS« (JWA 1,1, 319). Vgl. ganz in diesem Sinne auch den Vorwurf im Archiv für Schwärmerey und Aufklärung: »Die Berliner seien keine in Selbsttäuschung befangenen Schwärmer, sondern folgten bewußt und wohlkalkuliert jesuitischen Praktiken« (Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 420). Da die Autoren den dritten Band des Archivs, auf den sie sich hier beziehen, auf die Zeit »vermutlich vom November 1788 bis zum Juni 1790« (ebd., S. 416; vgl. auch Fn. 2) datieren, wäre ein Einfluß von Jacobis Aufsatz über den Frommen Betrug durchaus denkbar. 296 Brief F. L. Stolbergs vom 28.4.1788 (AB I, 459). 297 Brief von J. G. Hamann vom 5.–26.10.1786 (JBW I,5, 368 f.). 298 Brief vom 11.6.1786 (Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. X, S. 433). 299 Vgl. für Wizenmann: Timm: Bedeutung der Spinozabriefe, S. 71; für Jacobi dessen Kritik im David Hume (etwa JWA 2,1, 61) oder auch in seiner späteren Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben (JWA 2,1, 261–330, hier 280). 300 Brief vom 4.–9.11.1786 (JBW I,5, 397 f.).

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

471

Man mag dieses Verfahren gegenseitiger Vorwürfe mit Ulrich Rose so interpretieren, daß es zwei Diskurse gibt, zwischen denen keinerlei Verständigung möglich ist.301 Einiges spricht dafür. Man könnte in ihm auch das verwerfliche Verfahren jener ›Gegenaufklärer‹ sehen, »die aufklärerische Leitbegriffe aufnahmen und denunziatorisch gegen ihre Urheber umkehrten«.302 Man kann diesen identischen Bezugsrahmen aber auch als Beleg dafür ansehen, daß es genau nur einen einzigen Diskurs gibt, auf den beide Parteien sich beziehen und an dem beide teilhaben: nämlich den Diskurs der Aufklärung.303 Indem hier aber eine »Aufklärung der Aufklärung« betrieben wird, weisen diese Debatten auch schon über sie hinaus. Das kritische Instrumentarium der Vernunft beginnt in der Spätaufklärung, sich auf sie – und im Zweifelsfall gegen sie – selbst zu richten. Die Kritik der Vernunft ist – spätestens seit Kant – immer auch Selbstkritik. Im Streit um den Kryptojesuitismus wird die Vernunftkritik besonders konkret und augenfällig, da die Vernunft – einschließlich ihres Herrschaftsanspruchs – in Gestalt der Berliner Aufklärer leibhaftig geworden zu sein schien. An die Stelle ihrer Vernunftlehre setzt Jacobi die Leere der Vernunft. »Sie die alles soll vertreiben, herbeyschaffen und ersetzen können, ist noch lange nicht soviel als Luft; sie gleicht dem Stein der Weisen, den der Bettler mit seinem faulsten Lumpenrocke noch zu theuer erkaufen würde. – Wunderbar! Wir wollen den Leuten eine Vernunft machen, wodurch sie vernünftig; eine Tugend, wodurch sie tugendhaft werden; und sie werden vernünftig und tugendhaft, wie man durch Alchymie reich wird. Die Pferde sind hinter dem Wagen gespannt, und wir sind eingestiegen, hören die blasenden Hörner, das Klatschen der Peitschen, ein Juchhe und Vivat der umgebenden Menge, und glauben im vollen Fluge zu seyn.«304 Interessanterweise gelangen Engel und Helmreich in ihrer Analyse des Archiv für Schwärmerey und Aufklärung zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, ohne daß der Name Jacobi auch nur erwähnt wird: »Was an der Fehde zwischen Archiv und Berlinischer Monatsschrift so vor allem deutlich wird, ist die Brüchigkeit der spätaufklärerischen 301

Vgl. Rose: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 50. – Diese Auffassung vertritt auch Christ (vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn; bes. S. 72 u. 75), allerdings ohne sich des Begriffs »Diskurs« zu bedienen, der sich tatsächlich erst später durchsetzen sollte. Den Eindruck zweier unversöhnlicher Diskurse vermittelt vor allem Mendelssohns Schrift An die Freunde Lessings, die mit einem Abbruch der Kommunikation endet (vgl. dazu Euler: Orientierung im Denken, S. 169). 302 Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 12, unter Hinweis auf die Forschungsergebnisse von Hans-Wolf Jäger. 303 Wohl nicht zuletzt in diesem Sinne nimmt Rose auch an anderer Stelle Jacobi in den »Diskurs der Aufklärung« hinein (vgl. Ulrich Rose: Poesie als Praxis. Jean Paul, Herder und Jacobi im Diskurs der Aufklärung. Wiesbaden 1990, S. 13 f.). – Vgl. hierzu auch Schneiders: Lexikon der Aufklärung, S. 22 f. 304 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 181; vgl. JWA 5,1, 129.

472

VI. Phantasie

Episteme […] Wenn sie den sicheren Boden deduktiv rationalistischen Argumentierens einmal verlassen hat, erweist sich die aufklärerische Vernunft ohnmächtig, grundsätzliche Fragen autoritativ zu beantworten.«305 Im Falle Jacobis gibt es jedoch – bei aller Vernunftkritik – auch eine positive Seite dieser ›Leere‹: Nur dadurch, daß die Vernunft nicht mit bestimmten Überzeugungen zu identifizieren ist,306 ist eigentlich Freiheit möglich, welche wiederum nach Jacobis Auffassung der ›eigentlichen‹ Vernunft, der »substantiven« nämlich, entspricht. Vor diesem Hintergrund ist auch Jacobis Insistieren darauf, daß man den »Narren« nicht an seiner »Kappe« erkennt, zu verstehen: Nicht ein bestimmter Inhalt macht eine Überzeugung zu einer vernünftigen oder unvernünftigen. Nicht welche Meinung ein Mensch vertritt, welche Wahrheit er meint, für sich gefunden zu haben, sondern die Art und Weise, wie er zu ihr gekommen ist und sie intersubjektiv (re)präsentiert, macht den Unterschied aus. Insofern läßt sich jeder Angriff Jacobis auf die »Vernunft« der Berliner Aufklärer als im Dienste der Freiheit stehend lesen: »Wie weit sind wir mit unserm höhnenden, schimpfenden, haßenden, lügenden, verfolgenden, bitterbösen Vernunft-Enthusiasmus, von dieser Weisheit entfernt; wie weit davon entfernt, nur so vernünftig zu seyn, uns nicht mit schwärmerischem Eifer zu bemühen, den Narren blos von seiner Kappe zu curiren, und – ihm die unsrige, die wir für einen Nimbus oder eine Lorbeerkrone halten, aufzusetzen.«307 Das Schwächeln der Vernunft, das Kränkeln der Aufklärung hatte Beiser bereits für den durch Jacobis Spinoza-Buch ausgelösten Pantheismusstreit registriert und – im Stile seiner dramatischen Formulierungskünste – eine letztlich infauste Diagnose gestellt: »The pantheism controversy threw the Aufklärung back on the defensive, forcing it to struggle for its very life. Seventeenth eighty-five, the year that Jacobi published his Briefe über die Lehre von [sic] Spinoza, marks the end of its hegemony. Jacobi had succeeded in casting doubt upon the central dogma of the Aufklärung: its

305 Engel / Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes, S. 428; vgl. in diesem Sinne auch ebd. die Rede von der »Depotenzierung aufklärerischer Vernunft« und der »Krise aufklärerischer Rationalität« (S. 429). (Die Quellen selber habe ich nicht eigens gesichtet; insofern bezieht sich die NichtErwähnung Jacobis nur auf den zitierten Beitrag.) 306 Vgl. Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 178; vgl. JWA 5,1, 127. 307 Jacobi: Einige Betrachtungen, S. 181; vgl. JWA 5,1, 129. Vgl. auch ebd., S. 182 (130): »Der fromme Betrug ists nicht allein, sondern es läßt sich nichts ersinnen, das nicht eben so fromm werden könnte. Da ist weder Maaß noch Grenze.« – Zum Motiv der Narrenkappe vgl. auch den Brief an J. K. S. Schlosser vom 10.11.1779 (JBW I,2, 128 f.). – Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls zu sehen, daß Jacobi keine Definition des Guten gibt (Baum: Vernunft und Erkenntnis, S. 162 f.) und daß selbst das Gute nicht mit Gewalt durchgesetzt werden darf (vgl. [Friedrich Heinrich Jacobi:] Etwas das Lessing gesagt hat. Berlin 1782; vgl. JWA 4,1, 298–346).

4. Die Auseinandersetzung Jacobis mit der Berliner Aufklärung

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faith in reason.«308 Diese Diagnose kann partiell gewiß auch auf den Streit um den Kryptojesuitismus übertragen werden, zumal beide Streitigkeiten ja, wie gesehen, ohnehin engstens miteinander verwoben sind und auch die Grenzen des Vernunftvermögens ein gemeinsames Thema darstellt. Der wesentliche historische Schritt jedoch, den die Aufklärung gegangen ist: die Ersetzung von Offenbarung und Tradition durch Vernunft – »[t]he authority of reason replaced the authority of tradition and revelation«309 – konnte und wollte von Jacobi nicht untergraben werden.310 Insofern kann von einem Ende der Aufklärung auch kaum gesprochen werden – und dies meine ich durchaus nicht nur in jenem üblichen, emphatischen Sinne, sondern ebenso im vollen Bewußtsein dessen, was wir uns mit dem historischen Übergang von der Transzendenz in die Immanenz neben jenen zweifellos emanzipatorischen Momenten eben immer auch eingehandelt haben.

308

Beiser: Fate of Reason, S. 45 f. Ebd., S. 46. 310 Das gegenaufklärerische Bestreben, »den Aufklärungsprozeß aufzuhalten oder möglichst gar rückgängig zu machen« (Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 22), ist bei Jacobi nirgends zu erkennen. 309

VII. RESÜMEE

Die Analyse des Briefwechsels Friedrich Heinrich Jacobis am Leitfaden der Begriffe »Gefühl«, »Begehren«, »Leib«, »Natur« und »Phantasie« und der ihnen zugeordneten semantischen Felder hat zum einen die Vielschichtigkeit und Komplexität – teilweise sogar Gegenläufigkeit – der auf diese Weise (re-)konstruierten Diskurse offenkundig werden lassen und zum anderen zu bestimmten Kulturphänomenen geführt wie dem Freundschaftskult, der Disziplinierung des Bürgers im Erziehungsprozeß, der Krankheit Hypochondrie, dem Naturkult und der Schwärmerdebatte. Dabei konnte sowohl deren repräsentativer Charakter für die Aufklärungszeit, ja deren innere Verwobenheit mit den Grundprinzipien jenes Umbruchprozesses, für den die Aufklärung steht, aufgezeigt, wie umgekehrt auch Jacobis Teilhabe und Teilnahme an diesem Prozeß dargestellt werden. Bemerkenswert war dabei vor allem, daß zentrale Werthaltungen und Wahrnehmungsmuster von gegenläufigen Tendenzen der Zeit – über ›Parteigrenzen‹ hinweg, wenn man so will – geteilt wurden. Dies zeigte sich etwa für den Grundwert der Autonomie, als dessen Kehrseite sich eine elementare Angst vor Selbstverlust erwies. Es zeigte sich aber auch für die Krankheit Hypochondrie, der in diesem umfassenden – sozialen, medialen, mentalen – Umbildungsprozeß unterschiedliche und sogar gegensätzliche Funktionen zuwuchsen. Zudem reflektiert das neue, nerventheoretische Körperkonzept – insbesondere mit dem den Nerven zugesprochenen Vermögen der »Sympathie« – das angestrebte Gesellschaftsmodell und die neue Kommunikationsstruktur gleichermaßen: Die Organe kommunizierten auf den Bahnen der Nerven und angetrieben von der »Sympathie« in ähnlicher Weise miteinander wie die den Aufklärungsprozeß vorantreibenden »gebildeten Stände« auf den Bahnen der Postwege, sei es durch Briefe oder durch Reisen per Postkutsche. Die Unmöglichkeit einer strikten Zuordnung von Werthaltungen zu bestimmten ›Parteien‹ der Aufklärungszeit zeigt sich aber etwa auch darin, daß »Leistungsethik« und »Gefühlskult« sich keineswegs als feindliche Elemente gegenüberstanden. Vielmehr konnten beide von ein und derselben Person in ausgeprägtem Maße vertreten und betrieben werden, wie das Beispiel Friedrich Heinrich Jacobis zeigt. Sie wurzeln überdies in denselben Veränderungen der Aufklärungszeit und den mit ihnen verknüpften basalen Wertsetzungen. Auf der Grundlage einer spezifischen, philosophisch inspirierten Kulturgeschichte und unter Berücksichtigung medientheoretischer Aspekte war es zum einen möglich, genauer zu klären, in welche Prozesse Jacobi eigentlich eingebunden war, wenn er etwa an Freundschafts- und Naturkult teilnahm. Zugleich konnte mittels der philosophischen Theorie die innere Verwandtschaft der äußerlich heterogenen Themen-

476

VII. Resümee

und Diskursfelder verdeutlicht werden: Es sind dieselben Motive, Wertsetzungen und Phantasmen, die in Freundschaft und Erziehung, Krankheit und Naturverhältnis zum Austrag gelangen. Im folgenden sollen am Leitfaden dreier basaler Kulturhandlungen – Entgrenzung, Selbst-Schöpfung und Reinigung – einige Ergebnisse der Arbeit so vorgestellt werden, daß noch einmal der Zusammenhang zwischen einem grundlegenden anthropologischen Begehren und seiner neuartigen historischen Konkretisierung in der Aufklärungszeit deutlich wird, wobei auch Binnendifferenzierungen innerhalb dieses Umbildungsprozesses – insbesondere mit Blick auf die Position Jacobis – Rechnung getragen werden soll.

1. Entgrenzung Der Wunsch, Grenzen zu überwinden und sich in letzter Konsequenz von allen Schranken zu befreien, kennzeichnet grundlegend menschliches Begehren und Handeln und markiert zugleich ein wesentliches Erlösungsmotiv und –moment. Insofern ist Entgrenzung kein neuartiges Anliegen in der Menschheitsgeschichte. Jede Religion, jede kulturelle und gesellschaftliche Ordnung gewährt eine Form der Entgrenzung – zumindest in bestimmten, symbolischen oder rituell organisierten Räumen, und insbesondere in mystischen Erlebnissen oder unter dem Einfluß von Drogen war sie immer erfahrbar gewesen. Das Neuartige der Moderne – und das heißt: an den Umbildungsprozessen, die die Aufklärungszeit prägen – liegt darin, daß Entgrenzung nun innerweltlich, säkular hergestellt, daß sie zum Gestaltungsprinzip rein weltlicher Ordnung werden soll. Unter dieser neuen Maßgabe wurde eine Produktivität freigesetzt, die zu einer vollständigen Umgestaltung der sozialen Strukturen, ja der Kultur im Ganzen führte. Dem medialen Wandel, faßbar unter dem Stichwort ›Verschriftlichung der Kultur‹, kam dabei innerhalb der Transformationsprozesse eine große Bedeutung zu: teils im Zusammenhang der Faktoren, die den Säkularisierungsprozeß bedingen, teils im Rahmen der Ausgestaltung von Säkularität. Wenn es ein verbindendes Moment zwischen den unterschiedlichen Phänomenen und zentralen Diskussionspunkten der Aufklärungszeit gibt, dann scheint dies das Moment der Entgrenzung zu sein, einer Entgrenzung allerdings, die letztlich auf totale Entgrenzung, auf Grenzenlosigkeit und Indifferenzierung, hinstrebt. Entgrenzung verbindet so verschiedenartige Begriffe wie Unendlichkeit und Unsterblichkeit auf der einen, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf der anderen Seite. Sie markiert das zentrale Prinzip in divergierenden kulturellen Formationen wie dem Freundschafts-, dem Naturkult und der englischen Gartenarchitektur. Sie manifestiert sich überdies in Versuchen und Konzeptionen der Überwindung des Körpers und »selbstischer« Neigungen.

Selbst-Schöpfung

477

Jacobi nimmt an diesen Prozessen regen Anteil. Er zelebriert in den empfindsamen Zirkeln und in den Freundschaften zu Goethe und Stolberg eine Übersteigung der Subjektivität: die Verschmelzung mit dem Mitmenschen und (über diesen) mit der Welt. Das neue Naturerleben, in welchem die Natur für Freiheit, Offenheit und Selbststeigerung des Subjekts wie auch für die Auflösung von Grenzen (englischer Garten) steht, prägt den Alltag des Familien- und Freundeskreises um Jacobi wie auch das Erleben seiner Romanhelden. In seiner praktischen Philosophie geht es ihm um die Aufhebung der Grenzen, die Sinnlichkeit und Körperlichkeit dem Menschen auferlegen. Diese werden von Jacobi als besonders bedrückend erlebt. Der für seine Philosophie zentrale Freiheitsbegriff ist konkret verknüpft mit der Vorstellung einer Befreiung von sinnlicher Determination. Das in einem neuen Umfang – nicht zuletzt in Form von Briefen – genutzte Medium Schrift erweist sich, unterstützt durch Bildmedien, als hervorragender Helfershelfer bei dem Unterfangen, große Distanzen zu überwinden, ohne seinen Körper bewegen zu müssen. Das ›Gespräch‹ ist nunmehr ebensowenig an sinnlich-materielle Präsenz gebunden wie die Freundschaft. Mehr noch: Die auf den Austausch der »Seelen« beschränkte schriftliche Kommunikation entgeht, so die Wahrnehmung der Zeitgenossen, überdies gewissen Restriktionen, Unwägbarkeiten und hinderlichen Einflußfaktoren. Doch die kulturelle Produktion schießt immer über das Machbare hinaus und gefällt sich entsprechend in Simulationen einer leiblichen Präsenz. Die platonisch-paulinische Form der Entgrenzung – und damit Erlösung –, die Trennung des Geistes vom Körper, wird auf diese Weise überboten durch den Einbezug selbst noch der Materie in das Erlösungswerk: Nicht nur die »Seele ist auf der Spitze […] [der] Feder«,1 sondern die Bildnisse und Büsten dienen überdies zur Inszenierung des Schauspiels vom erlösten Leib.

2. Selbst-Schöpfung Die Gabe der Selbst-Schöpfung, die Fähigkeit also, sich selbst und alles aus sich selbst zu schöpfen, ist ein wesentliches Attribut des (christlichen) Gottes und wurde in der philosophischen Theologie etwa in die Begriffe »unbewegter Beweger« oder »causa sui« gefaßt. Dieser originäre Schöpfungsgestus wurde unter dem Titel des »alter deus« (»second maker«) in der Renaissance dem Künstler zugesprochen. Damit ging er zunächst in dem insularen Raum der Kunst auf den Menschen über. In der Aufklärungszeit wird diese Tendenz aufgegriffen, forciert und erweitert: im Bereich der Kunst mit der Genieästhetik, auf dem Terrain der Moral mit dem Konzept der sitt1 Schulz: Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). »Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder«.

478

VII. Resümee

lichen Autonomie des Menschen, innerhalb der Erkenntnistheorie mit der Konzeption eines Subjekts, das den Gegenstand allererst selbst konstituiert. Tatsächlich ist die bürgerliche Moderne grundlegend gekennzeichnet von dem (phantasmatischen) Prinzip der Selbst-Schöpfung. Aus ihm leiten sich ihre Grundwerte ab: Autonomie, Leistung, Bildung, Arbeit, letztlich auch die Forderung nach Vernunft, zumal im Sinne des Selbstdenkgebots der Aufklärung. Der Bürger ist der Mensch, dem seine gesellschaftliche Position – und damit das, was er ist – nicht durch seine Herkunft vorgegeben ist, sondern der sich selbst durch seine eigene Arbeit und Leistung erst hervorbringt. In dem Slogan »vom Tellerwäscher zum Millionär« oder in der Rede vom »Selfmademan« gewinnt diese bürgerliche Ideologie, die in der USamerikanischen Gesellschaft ihre höchste Ausprägung gefunden haben dürfte, ihre heute populäre und plakative Form. Die Herausbildung und Durchsetzung dieses Prinzips der Selbst-Schöpfung im säkularen Bereich ist vermutlich entscheidend mitbedingt durch die Erfahrung der Schreibenden des 17. und 18. Jahrhunderts, sich ihre Identität und eine Welt selbst allererst erschreiben zu können. Den Medien, insbesondere der Verbreitung und ›Subjektivierung‹ von Schrift, kam also auch hierbei große Bedeutung zu. Als Autodidakt, als Homme de Lettres, als »einer der fleißigsten Männer« (Friedrich Stolberg) hat Jacobi diese bürgerlichen Werte nachdrücklich verkörpert. Insbesondere im Rahmen der Analyse der Modekrankheit Hypochondrie zeigte sich, als wie qualvoll er den Verlust von Autonomie wie auch der Fähigkeit kontinuierlicher Arbeitsleistung in seinen Briefen beschrieb. Überdies war die Erziehung seines Sohnes Georg Arnold ganz an diesen bürgerlichen Tugenden ausgerichtet, insbesondere auf den »bürgerlichen Zentralwert« (Rudolf Heinz) der Arbeit hin. Von besonderem Interesse aber und gewissermaßen kontraintuitiv ist, daß gerade auch die von gewissen Fraktionen der Aufklärungszeit (etwa den Berliner Aufklärern) verfolgten Gestalten wie Empfindsame, Originalgenies, Hypochonder und Schwärmer das zentrale Moment der sich im Aufklärungsprozeß herausbildenden neuen Bürgerlichkeit repräsentierten, das Moment der Selbst-Schöpfung nämlich: Der Empfindsame, der meinte, nur seinem Herzen folgen zu müssen, das Genie, das, überkommene Regelwerke mißachtend, nur original, d. h. aus sich selbst, schöpfte, der Hypochonder, der den für die Subsistenz nötigen Austausch mit der Umwelt und der Onanist, der den für die Reproduktion nötigen Verkehr mit der Mitwelt verschmähte, schließlich auch der Schwärmer, der in seinen eigenkreierten Phantasiegebilden hauste, sind sämtlich Gestalten des autonomiebeseelten modernen Subjekts. Diese sind also ‚verrückt‘ nicht in dem Sinne, daß sie von den Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft abrückten, auch nicht in jenem, daß sie an den Standards einer überkommenen Gesellschaftsform festhielten, sondern die Ver–rückung bestand einzig in einer Übertreibung des Gestus, der Marschrichtung der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Sie sind somit Produkte der Aufklärung nicht in dem Sinne, wie gemäß

2. Selbst-Schöpfung

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den Thesen von Hartmut und Gernot Böhme das »Andere der Vernunft« ein von ihr Ausgestoßenes, Verdrängtes oder Zugerichtetes ist, sondern insofern, als es sich um überzeichnete und als solche kritisierte Prototypen ihres eigenen, bürgerlichen Programms handelt: Sie sind – zumindest auch – Figuren einer zu Ende gedachten Logik jenes Autonomieanspruchs, der die Aufklärung umtrieb, der mithin ebenfalls dem ‚normalen‘ Bezug etwa auf Vernunft und Natur zugrundelag. Somit handelt es sich in diesen Diskursen um Selbstverständigungsprozesse, um die Abspaltung nicht eines Anderen, sondern des Eigenen, dessen angemessene Form sich in diesem Prozeß allererst herausbilden mußte. Dabei vermochten die Besetzungen der Rollen für die Kritiker und die Verteidiger zentraler Positionen der Aufklärung zuweilen auf eine erstaunliche Weise zu wechseln. Jacobi etwa war Empfindsamer, Hypochonder, Schwärmer und – zumindest zeitweilig, nämlich unter dem starken Einfluß des jungen Goethe – von dem kraftgenialischen Pathos der Stürmer und Dränger buchstäblich angesteckt. Als Repräsentant jener Gestalten kam er innerhalb des zeitgenössischen Diskurses – und in der Folge auch in der Rezeptionsgeschichte – weitgehend auf der Seite einer vermeintlichen Gegenaufklärung zu stehen. Stellt man allerdings in Rechnung, daß diese Figuren nichts anderes als frühe Inkarnationen des Prinzips der bürgerlichen Moderne – des Prinzips der Selbst-Schöpfung nämlich – sind, so findet sich Jacobi auf eine unerwartete Weise wieder inmitten der Aufklärung – allerdings an der Position des von ihr selbst nicht erkannten eigenen. Doch dies ist nur die eine Seite eines komplexen Verhältnisses, das auch die Funktionsweise historischer Umbildungs- und mentalitätsgeschichtlicher Durchsetzungsprozesse im Kern betrifft und im Ergebnis die üblichen Dichotomisierungen – wie zum Beispiel die von Aufklärung und Schwärmerei – oder auch die üblichen Zuordnungen – wie die von Aufklärung und nüchtern rationalen Aktionsformen – durchkreuzt. Das Ausmaß an Verwicklungen wird vielmehr dadurch erhöht, daß Jacobi auf der anderen Seite selbst als Kritiker jenes neuen bürgerlichen, säkularen Programms der Moderne auftrat, und zwar nicht bloß, insofern seine Romane den Schwärmer als denjenigen kritisieren, der im Streben nach dem Ideal, alles aus sich selbst zu schöpfen, letztlich in egoistischer Manier sich selbst absolut setzt, sondern auch insofern er das Vertrauen seiner Zeit in die beiden großen Immanenzposten der Moderne – Natur und Vernunft – einer harten und bisweilen nachgerade verzweifelten Kritik unterzog. Ersetzen wir Gott durch die Natur, dann setzen wir gemäß Jacobi auf rein kausalmechanische Erklärungsmodelle, und dann negieren wir die Freiheit des Menschen und betreiben somit unweigerlich ein Programm der Dehumanisierung des Menschen. Glauben wir, so Jacobi, mittels der Vernunft alles erklären und aus ihr allein alle Handlungsmaßstäbe, -motivationen und Normen schöpfen zu können, so begeben wir uns nicht bloß auf das Feld der Schwärmerei, sondern ebenfalls auf das des Terrors: An die Stelle absolutistischer Willkürherrschaft vermag so eine – womöglich grausamere – Schreckensherrschaft im Namen der Vernunft zu treten.

480

VII. Resümee

In beiden Fällen würde die Aufklärung ihr basales Versprechen, im Namen des (einzelnen) Menschen und der Freiheit zu agieren, auf eine fatale Weise selbst konterkarieren. Jacobi war somit eine Gestalt, die nicht nur an entscheidenden Umgestaltungsprozessen der Aufklärungszeit aktiv teilnahm, sondern – wie die Aufklärung selbst, nur eben unbewußt, es auch tat – ebenfalls eine Kritik der Aufklärung im Namen ihrer eigenen Gebote und Ideale vollzog und somit bisweilen als Aufklärer der Aufklärer ihre eigene Dialektik aufdeckte, ohne doch selbst vor ebendieser Dialektik gefeit zu sein, wie etwa die außerordentlich repressive Erziehung seines Sohnes (Ausdruck nicht zuletzt der maßlosen Repression von Sinnlichkeit) zeigte. Diese Übereinstimmung des Kritisierten mit dem Kritisierenden offenbart in diesem Fall ein gemeinsames Movens, das überdies nicht nur die Aufklärungszeit kennzeichnet.

3. Reinigung Reinigungsszenarien haben ihren festen Platz innerhalb religiöser Riten; man denke etwa an die Fußwaschung, die Taufe oder auch die Beichte. Diesen Akten scheint eine Verschränkung von Säuberung und Entschuldung zugrunde zu liegen, wobei die Verschuldung jeweils mit Materialität und Sinnlichkeit verknüpft zu sein scheint. Die Reinigung des Fleisches, die Erlösung selbst der Materie, ist das in solchen Symbolbildungen angezeigte letzte Begehren. Die Moderne ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Reinigungsprozessen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Die Reinlichkeit etwa ist eine der zentralen Tugenden des Bürgers, und sie diente auch dazu, das moderne Subjekt als eine gegen seine Um- und Mitwelt abgegrenzte Entität zu konzipieren.2 Der Identität und Autonomie des Bürgers der Moderne wurde damit auf einer körperlichen Ebene Aus- und Nachdruck verliehen. Reinlichkeit ist aber zugleich auch immer mehr als bloß äußere Sauberkeit: Sie ist Sinnbild persönlicher Integrität, Symbol moralischer Höherwertigkeit.3 Auf diese Weise wurde das »Wasser ein weltliches Sakrament moralischer Läuterung«.4 Im das 19. Jahrhundert prägenden hygienischen Diskurs wird

2

Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 43–54. – Diese Konstruktion einer getrennten Entität steht nur vordergründig in einem Gegensatz zum Begehren nach Entgrenzung. Tatsächlich wird ja das unmögliche Konstrukt eines unendlichen Subjekts begehrt. Vgl. hierzu auch oben das Kapitel I.3.1.2. 3 Vgl. Labisch: »Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene«. 4 Labisch: Gesundheit, S. 510. Labisch bezieht sich hier auf das Beispiel Carl Reclam. – Vgl. auch Labisch: »Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene«, S. 275, das schöne Zitat von Reclam: »Reichliche Wasserzufuhr und reichlicher Wasserverbrauch mindert in einer Stadt gleichzeitig die Zahl der Krankheiten und die Zahl der moralischen Verirrungen.«

3. Reinigung

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überdies die Formation des modernen Bürgers flächendeckend durchgesetzt und gestaltet.5 Gesundheit als zentraler Wert einer nunmehr innerweltlich orientierten Heilssuche wird vornehmlich über diesen Diskurs gesellschaftlich installiert.6 In solchermaßen innerweltlicher Perspektive mußte zwangsläufig die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (Hufeland), immense Bedeutsamkeit erlangen.7 Der Arzt trat nunmehr als bestimmende Instanz an die Stelle des Priesters. Doch dies ist nur der eine, vornehmlich körperliche Ausdruck eines durchaus umfassenderen Reinigungsprogramms, das die Moderne nachdrücklich kennzeichnet – wobei allerdings attestiert werden muß, daß schon dieser, im Ausgang vom Körper statthabende, eine immense Reichweite und Wirkungsmächtigkeit hinsichtlich der Umgestaltung gesellschaftlicher Strukturen entfaltete. Gereinigt wurde vielmehr auch auf anderen Gebieten. Kant enthüllte in transzendentaler Perspektive eine reine Vernunft: reine Anschauungsformen und reine Begriffe a priori.8 Damit war zweierlei gewährleistet: zum einen eine Geburtsform der Welt aus dem Subjekt, mithin eine Variante real gewordener Autonomie, zum zweiten ein Bereich, der von aller Materie – verstanden als Anfechtungsposten der Autonomie – befreit war.9 Hamann kritisiert diesen »Purismum« der Vernunft, und Jacobi folgt ihm hierin, nimmt allerdings eine besondere Akzentuierung vor. In seiner Auseinandersetzung mit den Berliner Aufklärern hat Jacobi sehr eindringlich gezeigt, daß es gerade die »Reinheit« der Vernunft ist, die zwar einerseits – entgegen den Behauptungen der Aufklärer – ihren nur formallogischen Charakter und ihre inhaltliche Leere notwendig bedingt, die aber andererseits auch gerade damit zugleich eine Freiheitsgarantie bedeutet: Kein Mensch kann mit Recht inhaltliche Setzungen als Setzungen aus reiner Vernunft deklarieren, wie es – nach Auffassung Jacobis – die Berliner Aufklärer sich anmaßen, die genau deshalb in Wahrheit nichts als ihre eigenen, höchst subjektiven Überzeugungen zu allgemeingültigen erklären. Jacobi stellt die Vernunft, verstanden als freier Gebrauch der intellektuellen Kräfte, der Übereinstimmung mit einer als »vernünftig« etikettierten inhaltlichen Lehre gegenüber. 5

Sarasin: Reizbare Maschinen sowie Labisch: »Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene«, vor allem S. 272 f. 6 Vgl. ebd., S. 276 sowie Labisch: Homo Hygienicus. Vgl. auch Coleman: Health and Hygiene in the Encyclopédie, S. 405: »Hygiene thus became the principal instrument of health.« 7 Vgl. Labisch: Gesundheit, S. 507 u. 512. 8 Auch das Unternehmen der Vernunftkritik betrachtet Kant »als das Geschäft der Reinigung des gemeinen Vernunftbegriffs von Widersprüchen« (Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren? In: Ders.: Werke, Bd. III, S. 268 [= A 307]). 9 Dabei vergesse ich keineswegs, daß gerade das Insistieren auf der Anschauungsabhängigkeit der Erkenntnis das gegen die traditionelle Metaphysik gerichtete Anliegen Kants war. Doch soll hier einmal die andere Seite hervorgehoben werden, gegen die sich zunächst vornehmlich Hamann, Jacobi und Herder richteten.

482

VII. Resümee

Doch wie kritisch und scharfsinnig sich Jacobi auch immer gegen die Reinigungsriten der Vernunftenthusiasten gewandt haben mochte: Er pflegte recht nachdrücklich seine eigenen, nicht minder heftigen und nicht minder zum Terror neigenden Reinigungsattitüden. Dabei lag seine ›Lösung‹ nicht auf der Linie einer »reinen« Vernunft, sondern auf der Linie des Gefühls, »dem objectiven nämlich und reinen«.10 Während Jacobi den Terror einer »reinen«, gleichwohl aber inhaltlicher Setzungen sich anmaßenden Vernunft mit einer beeindruckenden analytischen Schärfe enthüllt, ist er für seinen eigenen Terror, den er im Feldzug gegen die Sinnlichkeit begeht, wie es scheint, absolut blind. Besonders deutlich wurde dies am Beispiel der Erziehung seines Sohnes Georg Arnold. Den hohen Wert der Individualität der Person, der Jacobis besonderes Anliegen im Kampf gegen die Abstraktionen der Verfechter einer reinen, allgemeinen Vernunft darstellt, ereilt auf dem erstrebten Weg zur höchsten Form der Tugend ein ähnliches Schicksal. Denn so unerbittlich Jacobi einerseits den Terror einer Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere offenlegt, so wenig entgeht er andererseits innerhalb seiner eigenen Reinigungsprozeduren der Vernichtung des Individuellen: Der mühsame Weg zur moralischen Vollkommenheit ist gezeichnet vom Opfer des Besonderen als des an die Heteronomie der Materie Gehefteten. Hierfür steht bei Jacobi die Konzeption einer Freiheit, verstanden als »Wille« oder »reine Selbstthätigkeit«, die sich zeigt in ihrer Unabhängigkeit von der (sinnlichen) Begierde und praktisch wird in einer »reinen Liebe«.11 Diese markiert somit gewissermaßen den Heilsweg, den Jacobi zeichnet. In jener Epochenschwelle am Ende des 18. Jahrhunderts, dem Übergang von einer ständisch strukturierten zu einer bürgerlichen Gesellschaft, ging es um das Ausbuchstabieren und um den Probelauf eines neuen Gesellschaftsmodells im weitesten Sinne, dessen Kern in einem ins Diesseits und in menschliche Verfügung transferierten basalen Begehren nach – räumlicher und zeitlicher – Unendlichkeit besteht. Wichtigstes Element dieses Prozesses war die Entwicklung, Überarbeitung, Erprobung und Durchsetzung des autonomen Subjekts der Moderne, wobei mal diese, mal jene Fraktion darauf bestand, zum Zwecke der Vermeidung einer dann unter Umständen kostspieligen Rückrufaktion gewisse Prototypen gar nicht erst in eine umfassende Produktion zu geben. Dies galt für den »Schwärmer« und das »Genie« ebenso wie für den »spekulativen Egoisten«, den Jacobi später – von Eutin, seiner nächsten, hier nicht mehr behandelten Lebensstation aus – in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes ins kritische Visier nehmen sollte.

10

JWA 2,1, 403. – Zur Terminologie der »Reinigung« vgl. etwa auch Jacobi: Eduard Allwills Papiere (1776), S. 105 [265] (vgl. JWA 6,1, 75) sowie seinen Brief an J. G. Hamann vom 11.1.1785 (JBW I,4, 15). 11 JWA 1,1, 163 f. u. 167 f.

LITERATURVERZEICHNIS

1. Quellen 1.1 Ungedruckte Quellen Handschriften werden nach den der Jacobi-Forschungsstelle (ehemals Bamberg, jetzt München / Bochum) vorliegenden Kopien zitiert. Die Jacobi-Forschungsstelle hat bis zum Jahre 2006 im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die historisch-kritische Edition des Briefwechsels besorgt. Derzeit fördert die Gerda Henkel Stiftung die Ausgabe des Briefwechsels für die verbleibende Düsseldorfer Zeit (Juli 1788–1794). Die handschriftlichen Aufzeichnungen Georg Arnold Jacobis (Goethe-Museum Düsseldorf) zitiere ich nach der Transkription von Gudrun Schury, ehemalige Mitarbeiterin der Jacobi-Forschungsstelle.

1.2 Gedruckte Quellen Akatholikus Tolerans (vermutlich Johann Erich Biester): Falsche Toleranz einiger Märkischen und Pommerschen Städte in Ansehung der Einräumung der protestantischen Kirchen zum katholischen Gottesdienst. In: Berlinische Monatsschrift 3 (1784), S. 180–192 [Anonym] (vermutlich Johann Erich Biester und Friedrich Gedike): Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei. (Auszug eines Schreibens an **). In: Berlinische Monatsschrift 5 (1785), S. 59–80 [Anonym] (vermutlich Johann Erich Biester und Friedrich Gedike): Noch etwas über Geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland. In: Berlinische Monatsschrift 8 (1786), S. 44–100 Aristides, Publius Aelius: Heilige Berichte. Einleit., deutsche Übers. u. Komm. v. Heinrich Otto Schröder. Vorwort v. Hildebrecht Hommel. Heidelberg 1986 (= Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern) Basedow, J. B. u. J. H. Campe: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins (1777). In: Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a. M. u. a. 1977, S. 61 ff. Bilguer, Johann Ulrich: Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie. Oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Aerzte als vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folgen betreffende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, daß die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und daß sie eine Ursache der Entvölkerung abgeben kann. Kopenhagen 1767 Brachin, Pierre: Quelque lettres inédites de Jacobi à la princesse de Gallitzin. In: Etudes Germaniques 2 (1947), S. 144–151 u. 249–258

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2. Literatur

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2. Literatur

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2. Literatur

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PERSONENVERZEICHNIS

Auf die Aufnahme der Personennamen aus den Fußnoten wurde aus Gründen der praktischen Handhabbarkeit des Registers verzichtet. (In Klammern gesetzt sind jene Seiten, auf denen die Person zwar erwähnt, nicht aber namentlich genannt ist.)

Addison, Joseph 314, 320, 322, 333, 339, 350 Appelt, Beate 248 Aristipp 123 Aristoteles 153 Bacon, Francis 438 Barner, Wilfried 111 Barthel, Christian 277 Baum, Günther 6 Bechmann, Friedrich 10 Begemann, Christian 211, 227, 233, 321, 323 f., 329 Beiser, Frederick C. 142, 472 Berger, Peter L. 48 Berlin, Isaiah 3 Berliner Aufklärer 3, 72, 99, 105, 143, 298, 303 f., 369, 413, 430, 438, 439–473, 478, 481 Bernsen, Michael 239 Biester, Johann Erich 143, 439, 447, 458 f., 470 Bilger, Stefan 268, 270 Bilguer, Johann Ulrich 248, 251 f., 265 Blackmore, Richard, Sir 249 Blumenberg, Hans 49–53, 315 Bodmer, Johann Jakob 69, 344 f. Böhme, Gernot 1, 65, 84, 86, 275 f., 292, 395, 432, 479 Böhme, Hartmut 1, 65, 84, 86, 275 f., 292, 432, 479 Boerhaave, Hermann 249 Boie, Heinrich Christian 141 Boswell, James 253

Breitinger, Johann Jakob 344 Brockes, Barthold Hinrich 319 f. Brown, Lancelot (»Capability Brown«) 358 Bucholtz, Franz Kaspar 212, 214, 256, 262, 458, 467 Burke, Edmund 325 Burnet, Thomas 400 Busch, Wilhelm 402 Cagliostro, Alessandro Conte di 433, 447 Calvin, Johannes 47, 59 f., 228 Cambridger Platoniker 318, 322, 418 Chambers, William 353 Cheyne, George 252, 270 Chotek von Chotkowa und Wognin, Johann Rudolph Graf von 90, 167, 235, 332 Christ, Kurt 6, 256 Classen, Johannes 293 Claudius, Matthias 146, 151, 186–188, 193, 242, 427, 442, 452 Claudius, Anna Rebecca 188 Clermont, Carl Theodor Arnold von (290) Clermont, Johann Arnold von 188, (281) Courtan, Sophie Marianne 261 Dalberg, Karl Theodor Freiherr von 299 De Booy, J. Th. 4 Deleuze, Gilles 290 Dennis, John 320, 322 f. Descartes, René 291, 369, 384, 389, 399 Diogenes von Sinope 123 Dörner, Klaus 268 Dohm, Christian Wilhelm (von) 440

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Personenverzeichnis

Eberhard, Johann August 20 Ehrmann, Joh. Christian 289 Engel, Johann Jakob 142 f., 256, 439 Engel, Manfred 459, 471 Engelsing, Rolf 57 Enzensberger, Christian 32 Fahlmer, Johanna, s. Schlosser, Johanna Fénelon, François de Salignac de la Mothe 109, 164, 429 Fichte, Johann Gottlieb 467, 482 Fischer, Karl Konrad 258 Fischer-Homberger, Esther 247–250, 258, 270 Fischer-Lichte, Erika 23 Forster, Georg 74, 98, 100, 107 f., 176, 178, 256, 262, 280, 288, 291, 407, 410 f., 426, 428 f., 431, 435 f., 440, 445 f., 454, 459, 464 Foucault, Michel 22, 56, 210 Franck, Sebastian 417 Franklin, Benjamin 228 Freud, Sigmund 33, 64, 214, 317, 326 Fronz, Hans-Dieter 335 Fürstenberg, Franz Friedrich Wilhelm Maria Freiherr von 189, 197, 199, 210 Funk, Gottfried Benedikt 145 Gallitzin, Amalia Fürstin von 74 f., 90, 94, 135, 151, 157, 169–172, 188–190, (192), 195–201, 203–206, 208, 210, 212, 216–219, 256, 274, 289, 298, 368, 390, 412, 429, 443 Gallitzin, Dimitrij Alekseevic Fürst von 189, 198 Gallitzin, Marianne Dorothea (»Mimi«) 189, 196 f., (198), 199 f., (200), (205), (210) Gallitzin, Dimitrij Augustin (»Mitri«) 189, 196 f., (198), 200, (205), 210 Garve, Christian 105 f., 386, 458 Gaßner, Johann Joseph 433, 447 Gedike, Friedrich 143, 439, 452 Gellert, Christian Fürchtegott 23, 80 Geßner, Salomon 345

Geyer-Kordesch, Johanna 271 f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 7, 23, 74, 95, 118, 127, 134, 255, 348, 425, 442 Göschen, Georg Joachim 74, 244, 261 Goethe, Johann Wolfgang (von) 69, 74 f., 90, 104, 115, 125 f., 128–141, 144, 148, 151, 154, 157, 176 f., 197, 207, 215, 227, 231, 236, 254, (264), 297, 311–313, 327, 332 f., 341–344, 348, 366, (368) 385, 387, 389, 391–397, 400, 403, 408, 411, 446, 477, 479 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 263 Groh, Dieter 317 f., 321 f., 327, 398 Groh, Ruth 317 f., 321 f., 327, 398 Guatteri, Félix 290 Häfeli, Johann Kaspar 377 Hahn, Alois 60–62 Haller, Albrecht von 322 Hammacher, Klaus 6, 461 Hamann, Elisabeth Regina 348 Hamann, Johann Georg 74, 94, 102, 152, 155–157, 176, 178 f., 195, 212, 217–219, 240, 256–262, 284, 294–296, 298, 302, 305–307, 311, 348 f., 353, 359, 374, 401, 408 f., 411–414, 426, 430 f., 434 f., 445, 460, 470, 481 Hamann, Johann Michael 221 Hamilton, Charles 363 Hansen, Klaus Peter 15 Hartmann, Philipp Karl 289 Hausleutner, Philipp Wilhelm Gottlieb 200 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 46–48, 53, 55 f., 164, 166, 291, 439 Heidegger, Martin 37 Heine, Heinrich 386 Heinse, Wilhelm 74, 81, 95, 136, 189, 214 f., 236 f., 264, 307, 311–316, 331 f., 334 f., 341–343, 346, 358, 403, 407 f., 425, 427, 431 Heinz, Rudolf 29–33, 35 f., 362, 478 Helmreich, Gernot 459, 471 Hemsterhuis, Frans 102, 189, 198, 286, 368, 380, 390, 464

Personenverzeichnis Herder, Johann Gottfried 74, 95, 104 f., 136, 298, 308, 311, 346, 375, 381, 385–394, 396 f., 401, 405, 407, 419, 426, 434 f., 438, 446 Herz, Marcus 447 Heß, Johann Jakob 145 Heyne, Christian Gottlob 224 Hippel, Theodor Gottlieb (von) 409 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 356 Hoffmann, Friedrich 249 Hogarth, William 351 Homann, Karl 8 f., 383 Hompesch, Franz Karl Freiherr von 115 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 224, 344 f. Hufeland, Christoph Wilhelm 211, 251, 253, 263 f., 267, 276, 278, 481 Humboldt, Alexander von 409 Humboldt, Wilhelm von 105–107, 213, 297, 310, 409 Hume, David 105, 180 Jacobi, Anna Catharina Charlotte (»Lotte«) (146), 149 f., (151), (154), 156, (342) Jacobi, Clara Franziska 138 f., 238 Jacobi, Georg Arnold 74, 138, (146), 147, (149), 185, 186–233, 239, 240, 244, 298, 313, 466, 478, (480), 482 Jacobi, Helene Elisabeth (»Betty«) 73, 117, 129, 170 f., 187, 206, 207, 208, 210, 254, (342), 429 Jacobi, Johann Conrad 203, (341), (348), 349, (360) Jacobi, Johann Friedrich (Sohn Jacobis) (146), (156), 176, 185 f., (187), 188 f., 207 f. Jacobi, Johann Friedrich (Onkel Jacobis) 208, 216 Jacobi, Johann Georg 69, 74, 81, 91, 116 f., 119 f., 122, 128, (129), (141), (155), (168), 215, 222, (235), 255, 281, 299, 307, 341, 421, 425, 427 Jacobi, Johann Peter (»Eduard«) 150

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Jacobi, Karl Wigand Maximilian (»Max«) 138, 149 f., 261 Jacobi, Maria Katharina, geb. Lausberg (341) Jacobi, Susanna Helena (»Lene«) (146), 150, (151), (154), 188, 220–222, (294), 297, (342), 361, 429 Jaeschke, Walter 49, 462, 468 Jung, Johann Heinrich (»Jung-Stilling«) 341 Kämpf, Johann K. 258–262, 268, 288 Kahlefeld, Susanna 6 Kaiser, Gerhard 50–52, 67 Kant, Immanuel 3, 16, 73, 175, 194, 217, 260, 267, 276, 293 f., 303 f., 318, 324–326, 371–375, 386, 390, 401, 413, 415, 422, 429, 432, 441, 447, 449, 461 f., 470 f., 481 Kanter, Johann Jakob 259 Karl August, Herzog von Sachsen-WeimarEisenach 139 Karl Theodor, Kurfürst von der Pfalz 227 Kemper, Hans-Georg 20 Keyserlingk, Caroline Charlotte Amalie Reichsgräfin von 260 Kleinspehn, Thomas 289 Kleuker, Johann Friedrich 74, 156, 244, 280 f., 294, 360, 451 Klopstock, Friedrich Gottlieb 23, 65–70, 125, 141, 147 f., 151, 243, 301, 320, 342 Knebel, Karl Ludwig von 134, 140 Knigge, Adolf Freiherr von 115 Knipperdolling, Bernhard 430 Knoll, Renate 16, 107 Kobell, Ferdinand 306 Köhler, Mathilde 202, 210 Kondylis, Panajotis 399, 402 Kopstadt, Heinrich Arnold 187, 254 Koschorke, Albrecht 22 f., 34, 63, 145, 159, 237 f., 284–287 Kotzebue, August von 361, 410 Krämer, Sybille 56 Kraus, Christian Jacob 262 Krüger, Johann Gottlob 251

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Personenverzeichnis

Labisch, Alfons 64 Lacan, Jacques 26–29, 64, 155, 335 La Harpe, Jean-François de 180, 461 Langen, August 148, 327 f. La Roche, Marie Sophie von 74, 90 f., 94, 97, 117 f., 120, 124, 131, 157, 166–168, 170 f., 236, 300, 341, 343, 408 f., 413, 416 Lavater, Johann Kaspar 74, 143, 146, 176, 220, 298, 308–310, 391, 403, 427, 433, 435, 438, 443 f., 446, 451 f., 458, 470 Lavater, Heinrich 219 Lee, Meredith 320 Leibniz, Gottfried Wilhelm 142, 272, 369, 387 f., 448 Le Moёl, Sylvie 82 Lepenies, Wolf 269 Le Sage, Georges-Louis 75, 384 Lessing, Gotthold Ephraim 73, 101, 136 f., 142, 240, 299, 368, 370, 378, 386–388, 391 f., 437 f., 441–443 Lessing, Karl Gotthelf 446 f., 470 Leuchsenring, Franz Michael 97, 455 f., 458 Lichtenberg, Georg Christoph 98, 224, 263, 428 Linguet, Nicolas Simon Henri 421 Locke, John 195, 422 Lovejoy, Arthur O. 401 Lukács, Georg 42 Lukian 427 Mattenklott, Gert 194 Mauser, Wolfram 111 Meiners, Christoph 219, 224 Mendelssohn, Moses 20, 73, 101, 103, 136, 142 f., 181, 242, 387 f., 434 f., 438 f., 441–443, 446–448 Mercier, Louis-Sébastien 416 Merck, Johann Heinrich 97, 141 Mesmer, Franz Anton 433 Metzger, Johann Daniel 258 f. Meyer-Krentler, Eckhardt 113 f. Michaelis, Johann Benjamin 117 f. Michelet, Carl Ludwig 46 f. Michelsen, Peter 14

Miller, Johann Martin 99 Milton, John 67, 322 Miltz, Andreas 259, 261 Miquel, Anton 210 Mirabeau, Victor Riquetti, Marquis 144, 241 Mittner, Ladislao 111 Monro, Alexander (Secundus) 263 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 141 More, Henry 318 Moritz, Karl Philipp 55, 345, 443 Mortier, Roland 4 Müller (Mulder), Anna Katharina 217 Müller, Johannes 74, 180, 273, 279, 304, 423, 458 Müller, Lothar 21, 78, 214, 237, 265, 283 Münch, Paul 220 Mün(t)zer, Thomas 417, 430 Muschg, Adolf 395 Muy, Marie Antoinette Charlotte de 94 Nassen, Ulrich 268 Necker, Jacques 144 Newton, Isaac 296, 384, 395, 399 Nicolai, Christoph Friedrich 122, 143, 274, 439, 449, 451, 458 f., 465, 470 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 313 Nicolson, Marjorie H. 318, 321, 327, 400 Pascal, Blaise 179 Paul, Jean (Jean Paul Friedrich Richter) 358 Pikulik, Lothar 19 Pinto, Isaac de 264 Platon 10, 103, 153, 165, 178, 201, 282, 286, 290, 420, 477 Plessner, Hellmuth 37 Plotin 165 f. Poenicke, Klaus 325 Pomme, Pierre 255 Pope, Alexander 319, 350, 358 Raffael (Raffaelo Santi) 370 Rasch, Wolfdietrich 112 f. Rath, Norbert 315

Personenverzeichnis Raynal, Guillaume Thomas François 273 Rehberg, August Wilhelm 298, 423 Reich, Philipp Erasmus 74, 254 Reimarus, Hermann Samuel 377 Reimarus, Johann Albert Henrich 182, 211, 310 f., 376 Reimarus, Margaretha Elisabeth (»Elise«) 101, 442, 456 Reimarus, Johanna Margaretha 215 Reinhold, Carl Leonhard 263, 373 f. Reinlein, Tanja 23, 82 Reventlow, Friederike Juliane Gräfin von 172, 263, 273, 357 Rey, Marc Michel 4, 74 f., 211, 217, 254 f. Richardson, Samuel 76, 287 Ritter, Joachim 293, 316, 327, 367 Rothe, Richard 46 f. Rothholz, Walter 44 Rousseau, George 264 Rousseau, Jean Jacques 10, 37, 41 f., 44, 78, 99, 117, 131, 166, 179, 184, 195, 200 f., 221 f., 236, 239, 293, 305, 321 f., 338, 342, 355, 358, 360, 362, 398, 429 Rubens, Peter Paul 314, 407 Sager, Peter 352 Saine, Thomas P. 11 Sandkaulen, Birgit 6, 8, 375 f., 378, 380 Sauder, Gerhard 13–21, 23, 90, 92, 175, 214, 239, 318 Scheffner, Johann Georg 120, 385 Schelling, Friedrich Wilhelm 140, 398 Schenk, Johann Heinrich 187 f., 217, 225 f., 294 Schiller, Friedrich (von) 324 f., 397 Schimmelmann, Ernst Graf von 141 Schings, Hans-Jürgen 268 f., 433, 460 Schlegel, Friedrich 308 Schlosser, Johann Georg 133, 262, 308, 455 Schlosser, Johanna Katharina Sibylla, geb. Fahlmer 129, 133 f., 177 Schneider, Irmela 43 Schön, Erich 284 f., 287

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Schrepfer, Johann Georg (auch Schrepffer oder Schröpfer) 447, 451 Schütz, Friedrich Wilhelm von 415, 432 Schury, Gudrun (72), 108 Schwanitz, Hans Joachim 253 Sckell, Friedrich Ludwig 351 Seckendorf(f), Karl Si(e)gmund Freiherr von 435 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 92 f., 122, 166, 320, 322, 350, 387, 417–421, 426, 429 f., 432 Shakespeare, William 99 Simmel, Georg 194 Sölle, Dorothee 50 Soemmerring, Samuel Thomas 241, 244, 274, 445, 458 f. Sokrates 117, 123, 152 f. Spalding, Johann Joachim 20, 118 Spinoza, Baruch (Benedikt) de 3, 7, 37, 73, 92, 101 f., 127, 136 f., 142, 179, 240 f., 368–371, 373 f., 380, 382, 385–397, 437, 441–443, 445 f., 455, 468, 470 Sprickmann, Anton Matthias 197, 348 Starck, Johann August 450 f., 454, 457, 463, 470 Stein, Charlotte von 327, 393, 396 Stein, Friedrich von 139 Steiner, Rudolf 326 f., 395 Steinhausen, Georg 81 Sterne, Laurence 239 Stockhausen, Johann Christoph 77, 79 Stockum, Theodorus Cornelis van 133 Stolberg-Stolberg, Auguste (Augusta) von (146) Stolberg-Stolberg, Christian Graf zu 141 f., 146 Stolberg-Stolberg, Friederike Juliane Gräfin zu (146) Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 115, 128, 141–154, 157 f., 223, 230, 237, 263, 311, 313, 319, 330 f., 340, 357, 365, 421, 477 f. Stolberg-Stolberg, Henriette Katharina Gräfin zu (146)

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Personenverzeichnis

Stolberg-Stolberg, Sophie zu, geb. von Redern (146), (154), 263 Struensee, Johann Friedrich 465 Sulzer, Johann Georg 20, 191, 324, 356 Sydenham, Thomas 249, 252, 268 Tacitus, Publius Cornelius 203 Tenbruck, Friedrich H. 112–114, 160 Theokrit 329 Thomas von Aquin 326 Thümmel, Moritz August von 267 Timm, Hermann 9, 389 Tissot, Samuel Auguste André David 211, 255 Tralles, Balthasar Ludwig 255 Troels-Lund, Troels F. 243 Troeltsch, Ernst 46–48 Trotter, Thomas 252 Tuveson, Ernest Lee 317 Unzer, Johann August 251, 253 Vergil (Publius Vergilius Maro) 329 Veronese, Paolo 407 Verra, Valerio 403 Voltaire (François Marie Arouet) 243

Wear, Andrew 271 f. Weber, Max 21, 46–48, 59–61, 206, 228 Wegmann, Nikolaus 21, 77, 366 Weishaupt, Adam 450, 460 Weizsäcker, Carl Friedrich von 395 Werthes, Friedrich August Clemens 299 Wezel, Johann Carl 359 f. Whytt, Robert 250, 255, 263 Wieland, Christoph Martin 74, 91, 95 f., 115, 116–128, 129–132, 134, 138, 140 f., 148, 154 f., 166, 168, 176, 186, 215, 235 f., 254, 264, 267, 297–301, 307–309, 343, 348, 416, 419, 421–426, 428 f., 432 f., 453 Windisch-Graetz, Josef Niklas Graf von 106 Witte, Bernd 80 Wizenmann, Thomas 74, 155 f., 184, 200, 261, 294, 303 f., 435, 470 Wolff, Christian 142, 369, 448 Wulf, Christoph 395, 397 Zedler, Johann Heinrich 401 Zelle, Carsten 12, 321, 327 Zerleder, ? 241