Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800 9783110423051, 9783110426366

Language plays a key role in medical practice and in cultural interaction with illness. Textual genres structure how ill

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Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800
 9783110423051, 9783110426366

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1 Einleitung: Sprachen des Leidens
1.1 Zur Gattungsdiskussion um 1800
1.2 Der Gattungsbegriff der Studie
1.3 Krankheit und Sprache: Interpretation von Zeichen
1.4 Textauswahl und Vorgehen
2 Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie
2.1 Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System
2.1.1 Theoriebildung: „Ueber die Bleichsucht, ein nosographisches Bruchstück“
2.1.2 Seuchengeschichte: „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803“
2.2 Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen: J. C. Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen
2.2.1 Rhapsodische Quellenkompilation
2.2.2 Krankheit als Auflösung des Individuums
2.3 Versuche: Krankheitswissen auf Probe
2.3.1 F. A. Reuß: Versuch einer Einleitung in die allgemeine Pathologie der Nerven
2.3.2 C. A. Eschenmayer: Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychischen Gründen zu erklären
3 Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle
3.1 Die Krankengeschichte in C.W. Hufelands Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst
3.1.1 „Ich hatte bisher das Fieber für ein Wurmfieber gehalten“: Beobachtungen von Krankheitsfällen
3.1.2 „Als ich den entseelten Körper öffnete, erstaunte ich“: Darstellungen von Leichenöffnungen
3.2 Die psychologische Fallgeschichte in K. P. Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
3.2.1 Die psychologische Krankengeschichte
3.2.2 ‚Kalte Selbstbeobachter‘: Ich-Erzählung in der Krankengeschichte
3.2.3 Zum Fall machen: Adam Bernds Lebensgeschichte
3.3 Magnetische Fallgeschichten Archiv für den thierischen Magnetismus
3.3.1 Evidenzfunktion: Zwischen Fall und Theorie
3.3.2 Entgrenzte Beobachtung: Verknüpfung von Arzt- und Patientinnenperspektive
4 Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten
4.1 Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen
4.1.1 Vom Wahnsinn erzählen
4.1.2 Die (narrative) Struktur des Wahnsinns
4.1.3 Der Körper als Ausdrucksfläche des Wahnsinns
4.2 Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein
4.2.1 Weibliche Oberfläche (Thiennette)
4.2.2 Kranker Innenraum (Fixlein)
4.3 Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels
4.3.1 Seelentheater: Figurationen von Wahrnehmungsstörungen
4.3.2 Körperbilder: Zerfallen, Zerreißen, Zerfließen
4.3.3 Narrationen des Ichs: Mediale Vervielfältigung und personale Desintegration
4.3.4 Bewusstsein und Narration
4.3.5 „Die Fieberhitze dieser Nachtstücke und Teufelselixiere ging auf das Publicum über“: Der Lektüreprozess als Krankheit
5 Gespielte Leiden: Krankheit im Drama
5.1 Bühnenleiden: Krankheit und Theater
5.1.1 „Ein Gemälde des Schmerzes“: Die Darstellung körperlicher Leiden auf der Bühne
5.1.2 „Die Kraft des Spiels nagt an den Nerven“: Die Krankheit der Schauspieler
5.2 Komische Leiden: Krankheit in der Komödie
5.2.1 Diagnosen: Figurenperspektiven
5.2.2 Der eingebildete Körper oder Wissen von Krankheit
5.2.3 Heilung: Intrige und Komödie
5.3 Krankheit im klassischen Drama: Goethes Torquato Tasso
5.3.1 Körper- und Krankheitsbilder
5.3.2 Diagnosen: Figurenperspektiven und Figurenkonstellation
5.3.3 Rollendoppelungen
5.3.4 Sprachliche Repräsentation von Wahnsinn und Inspiration
5.4 Pathologie der Einbildungskraft: Kleists Prinz Friedrich von Homburg
5.4.1 Traum und Wirklichkeit?
5.4.2 (Fehl-)Diagnosen: Eigenperspektive
5.4.3 Nebentext und Requisite
5.4.4 Diagnosen: Figurenperspektiven
5.4.5 Heilung?
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.2 Darstellungen
Personenregister

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Stephanie Bölts Krankheiten und Textgattungen

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 21

Stephanie Bölts

Krankheiten und Textgattungen Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800

Inaugural-Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln

ISBN 978-3-11-042636-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042305-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042315-0 ISSN 2198-932X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Pape, der diese Arbeit von der ersten Idee an betreut und begleitet hat. Ebenfalls danke ich Prof. Dr. Anja Lemke und Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt für ihr Engagement und zahlreiche anregenden Diskussionen. Der a.r.t.e.s. Forschungsschule der Universität zu Köln danke ich sowohl für die finanzielle Unterstützung als auch das spannende Umfeld, in dem meine Arbeit entstehen konnte. Dank gilt dabei meiner a.r.t.e.s.-Klasse unter Leitung von Prof. Dr. Jakob Vogel, Prof. Dr. Stefan Grohé und Prof. Dr. Ralf Jessen. Insbesondere sei auch meinem „Büro“ – Judith Bihr, Lara Brück-Pamplona und Britta Tewordt – für viele spannende Diskussionen, den interdisziplinären Austausch und auch die gemeinsamen Tankstellenpausen gedankt. Besonderer Dank gilt allen, die mich in der Endphase der Dissertation und der Verteidigung unterstützt haben, insbesondere Sonja Bölts, Judith Bihr, Sarah Steffens, Britta Tewordt, Elisabeth Mayer, Sebastian Riedel und Valerie Wolf. Eine wichtige Rolle bei der Fertigstellung meiner Arbeit hat der Ort Grömitz an der Ostsee gespielt – dafür herzlichen Dank an Julia Lieb und die Gadows. Mein ganz besonderer Dank gilt Sonja Bölts und Annika Hertzer für die unverzichtbare und unerschütterliche moralische Unterstützung während der gesamten Promotionszeit. Ich danke Hae-ok Bölts und meinem Vater danke ich dafür, dass er mich in der Entscheidung für die Promotion immer bestärkt hat. Die für eine Promotion unerlässliche Neugierde und Begeisterungsfähigkeit hat meine Mutter mir beigebracht – ihr ist diese Arbeit gewidmet.

Inhalt Danksagung

V

1 1.1 1.2 1.3 1.4

1 Einleitung: Sprachen des Leidens Zur Gattungsdiskussion um 1800 7 Der Gattungsbegriff der Studie 17 Krankheit und Sprache: Interpretation von Zeichen Textauswahl und Vorgehen 36

2

Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie 43 Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System 44 Theoriebildung: „Ueber die Bleichsucht, ein nosographisches Bruchstück“ 46 Seuchengeschichte: „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803“ 52 Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen: J. C. Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen 61 Rhapsodische Quellenkompilation 66 Krankheit als Auflösung des Individuums 72 Versuche: Krankheitswissen auf Probe 79 F. A. Reuß: Versuch einer Einleitung in die allgemeine Pathologie der Nerven 81 C. A. Eschenmayer: Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychischen Gründen zu erklären 89

2.1 2.1.1 2.1.2 2.2

2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1

26

103 Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle Die Krankengeschichte in C. W. Hufelands Journal der practischen 112 Arzneykunde und Wundarzneykunst „Ich hatte bisher das Fieber für ein Wurmfieber gehalten“: 112 Beobachtungen von Krankheitsfällen „Als ich den entseelten Körper öffnete, erstaunte ich“: Darstellungen 121 von Leichenöffnungen Die psychologische Fallgeschichte in K. P. Moritz’ Magazin zur 131 Erfahrungsseelenkunde 136 Die psychologische Krankengeschichte

VIII 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3

Inhalt

‚Kalte Selbstbeobachter‘: Ich-Erzählung in der Krankengeschichte 141 Zum Fall machen: Adam Bernds Lebensgeschichte 151 Magnetische Fallgeschichten Archiv für den thierischen Magnetismus 157 Evidenzfunktion: Zwischen Fall und Theorie 158 Entgrenzte Beobachtung: Verknüpfung von Arzt- und Patientinnenperspektive 160 171 Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen 174 Vom Wahnsinn erzählen 179 193 Die (narrative) Struktur des Wahnsinns 200 Der Körper als Ausdrucksfläche des Wahnsinns 207 Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein 211 Weibliche Oberfläche (Thiennette) 218 Kranker Innenraum (Fixlein) Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des 228 Teufels 234 Seelentheater: Figurationen von Wahrnehmungsstörungen 244 Körperbilder: Zerfallen, Zerreißen, Zerfließen Narrationen des Ichs: Mediale Vervielfältigung und personale 249 Desintegration 256 Bewusstsein und Narration „Die Fieberhitze dieser Nachtstücke und Teufelselixiere ging auf das 264 Publicum über“: Der Lektüreprozess als Krankheit 269 Gespielte Leiden: Krankheit im Drama 273 Bühnenleiden: Krankheit und Theater „Ein Gemälde des Schmerzes“: Die Darstellung körperlicher Leiden 274 auf der Bühne „Die Kraft des Spiels nagt an den Nerven“: Die Krankheit der 289 Schauspieler 298 Komische Leiden: Krankheit in der Komödie 310 Diagnosen: Figurenperspektiven 314 Der eingebildete Körper oder Wissen von Krankheit 316 Heilung: Intrige und Komödie 324 Krankheit im klassischen Drama: Goethes Torquato Tasso 328 Körper- und Krankheitsbilder 332 Diagnosen: Figurenperspektiven und Figurenkonstellation 338 Rollendoppelungen

IX

Inhalt

5.3.4 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5

Sprachliche Repräsentation von Wahnsinn und Inspiration Pathologie der Einbildungskraft: Kleists Prinz Friedrich von Homburg 353 361 Traum und Wirklichkeit? 365 (Fehl-)Diagnosen: Eigenperspektive 368 Nebentext und Requisite 374 Diagnosen: Figurenperspektiven 377 Heilung?

6

Fazit

7 7.1 7.2

Literaturverzeichnis 405 Quellen Darstellungen

391

Personenregister

405 416 439

345

1 Einleitung: Sprachen des Leidens „Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empyrisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet“ 1: Die in Goethes Worten angedeutete enge Verbindung von Leiden, Sprache und Literatur ist in der Forschung ausgewiesen worden.2 Zu diesem Bereich leistet diese Studie einen Beitrag, indem sie nach der Funktion der Gattung bei der Thematisierung von Krankheit fragt: Mit welchen rhetorischen und stilistischen Mitteln, narrativen und dramatischen Strategien wird Krankheit in verschiedenen Texten dargestellt und welche Rolle spielt die Gattung dabei? Unterliegen die Krankheitsdarstellungen einer gattungsspezifischen Thematisierung und kennzeichnen und verändern umgekehrt auch Krankheiten die Gattungen, in denen sie behandelt werden?3 Die Kategorien ‚Krankheit‘, ‚Sprache‘ und ‚Gattung‘ strukturieren somit den Untersuchungsfokus der vorliegenden Arbeit, der es ermöglicht, die Fragen jenseits der vermeintlich festen Entitäten von Medizin oder Wissenschaft und Literatur zu stellen und stattdessen die sprachlich-rhetorischen Strategien und Konzeptualisierungen von Krankheit und Leiden und die zeitgenössischen Funktionen von Gattungen zu fokussieren. Damit wird zugleich ein Beitrag zu der Frage geleistet, wie Wissen generiert, sprachlich artikuliert und diskursiv verbreitet wird. Ausgangspunkte der Studie sind die Annahmen, dass Krankheiten bestimmte Wissenskonzepte sind, die auch durch Sprache hergestellt und bestimmt werden, und dass Gattungen Wahrnehmungsformen sind, die diese sprachliche Darstellung organisieren und damit selbst zur Konstituierung des Krankheitswissens beitragen. Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Medizin aus gattungsspezifischer Perspektive ist im Kontext der interdisziplinären und internationalen literature and science Forschung zu verorten.4 Bei der Beschreibung des Verhältnisses 1 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 25. November 1797. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 452. 2 Vgl. z. B. Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur 1800–1995. Stuttgart 2000; Bettina von Jagow und Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005 und die Beiträge in der Zeitschrift Literature and Medicine. 3 Vgl. zu diesem Wechselverhältnis auch die Überlegungen zu ‚medizinischen Schreibweisen‘ in Nikolas Pethes und Sandra Richter: Einleitung. In: dies. (Hg.): Medizinische Schreibweisen: Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Berlin/New York 2008, S. 5; Joseph Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800. In: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 15. 4 Als Ausgangspunkt dieser Fragestellung wird häufig Snows These von den „two cultures“ genommen, wobei übersehen wird, dass Snow sich auf das Verhältnis der ‚Humanities‘ und der ‚Sciences‘ bezieht und nicht auf das Verhältnis von den Wissenschaften zur Literatur selbst (vgl. Charles Percy Snow: The Two Cultures. London 1993). An den literature and science (medicine) studies partizipieren verschiedene Disziplinen wie die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Anthropologie, Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaften. Die zunächst überwiegend im englischsprachigen Raum angesiedelte Debatte (vgl. exemplarisch die Aufsätze der Zeitschrift Literature and

2

Einleitung: Sprachen des Leidens

von Literatur und Medizin wird häufig die Annahme einer Gesellschaft zugrunde gelegt, die – systemtheoretisch gesprochen – in verschiedene spezialisierte Teilsysteme ausdifferenziert ist. Unabhängig davon, in welche Richtung Beeinflussung und Transfer gedacht werden, wird diese Ausdifferenzierung bereits impliziert. So wurde lange die Beziehung von Literatur und Wissenschaften dahingehend untersucht, naturwissenschaftliche Motive, Inhalte und Methoden in der Literatur zu identifizieren. Das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur wird dann als Einflussnahme der Wissenschaften auf die Literatur gekennzeichnet. Gegen diese einseitige Konzeption wurden literarische Schreibweisen – zum Beispiel die narrative Konstruktion oder Metaphorizität von wissenschaftlichen Konzepten – herausgestellt und zum Ansatz einer ‚Poetologie des Wissens‘ entwickelt. Diesen zwei Untersuchungsrichtungen – wissenschaftliche Inhalte in der Literatur oder literarische Schreibweisen in den Naturwissenschaften nachzuweisen – ist in der jüngsten Forschung verstärkt die Frage nach dem spezifisch literaturästhetischen Umgang mit Wissenskonzepten und damit nach einem genuin literarischen Beitrag zur ‚Wissenskultur‘ einer Gesellschaft zur Seite gestellt worden.5 Literatur ist dann als eigenständige Wissensform zu verstehen, die wie einzelne Wissenschaften Ausdrucksfeld einer gemeinsamen historischen Wissenskultur ist.6 Medicine) ist inzwischen auch in der Germanistik ein eigenes und aktuelles Forschungsfeld, was die große Zahl literaturwissenschaftlicher Sammelbände verdeutlicht, die ihre Themen aus wissenshistorischer Perspektive behandeln. Vgl. beispielsweise für die in dieser Arbeit diskutierte Zeit: Nicolas Saul (Hg.): Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften. München 1991; HansJürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994; Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997; Thomas Lange und Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000; Elinor Shaffer (Hg.): The Third Culture. Literature and Science. Berlin/New York 1998; Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. – Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Medizin ist dabei Teil dieser Debatte: vgl. z. B. Bettina Jagow und Florian Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin. Bde. I–V. Heidelberg 2007–2012; Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit; ders.: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Darstellung und Deutung. Stuttgart 1991; Walter Erhart: Medizin – Sozialgeschichte – Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2004), S. 118–128; Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989. – Mit dem Verhältnis von Literatur und Medizin beschäftigen sich auch die Aufsätze in Bettina Jagow und Florian Steger (Hg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Heidelberg 2004; dies.: Was treibt die Literatur zur Medizin? Ein kulturwissenschaftlicher Dialog. Göttingen 2007. Für die vorliegende Arbeit sind die theoretischen Auseinandersetzungen zur Überwindung der Trennung der Entitäten ‚Literatur‘ und ‚Medizin‘ in Pethes’ und Richters Sammelband Medizinische Schreibweisen besonders aufschlussreich. 5 Vgl. zu dieser Zusammenfassung der Forschung den hervorragenden Überblick von Nikolas Pethes: Literatur und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (1) (2003), S. 118–231. 6 Vgl. Petra Renneke: Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne. Heidelberg 2008, S. 18 f.; Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007, S. 29.

Einleitung: Sprachen des Leidens

3

Die Zeit um 1800 ist eine Übergangszeit der Wissenschaftsentwicklung, in der Prozesse der funktionalen Ausdifferenzierung einzelner Diskurse zu Spezialdiskursen ihren Anfang nehmen, aber die Diskurse zugleich noch in engen Zusammenhängen stehen. Es sind sowohl Abgrenzungsbemühungen als auch Positionen zu beobachten, welche die zunehmende Spezialisierung kritisch sehen.7 Die Spezialisierung betrifft dabei auch die Literatur, so wird der Beginn der ‚modernen‘ Literatur vielfach in diesem Zeitraum gesehen.8 Die Literatur selbst durchläuft Prozesse der „Institutionalisierung“ 9, in deren späteren Verlauf ihr die Fähigkeit, Wissen zu produzieren, aberkannt wird. Gerade in literarischen Diskursen um 1800 werden Spezialisierung und Differenzierung jedoch problematisiert und kritisiert. Bereits im achtzehnten Jahrhundert wird reflektiert, dass Literatur in besonderem Maße am Wissen anderer Diskurse partizipiert. Entsprechend heißt es in Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst: So wird denn ein Poet, der auch die unsichtbaren Gedanken und Neigungen menschlicher Gemüther nachzuahmen hat, sich nicht ohne eine weitläuftige Gelehrsamkeit behelfen können. Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen. Er muß zum wenigsten von allem etwas wissen, in allen Theilen der unter uns blühenden Gelahrtheit sich ziemlicher maßen umgesehen haben.10

Literatur kann somit als Interdiskurs verstanden werden, insofern als ‚interdiskursiv‘ Inhalte, Strukturen, Formen und Verfahren bezeichnet werden, die mehrere Diskurse kennzeichnen.11 Während Gottsched den Dichter darauf verpflichtet, die unterschiedlichen Wissensinhalte ‚richtig‘ wiederzugeben, indem er ihn davor warnt, bei „Fehler[n]“ 12 sein Ansehen zu verlieren, wird seit einiger Zeit der Fokus auf die spezifische literarische Art und Weise gelenkt, Wissen zu integrieren und darzustellen.13 In der Forschung wird dieses ‚literarische‘ Wissen jedoch häufig lediglich postuliert und es bleibt unscharf, worin es genau besteht. Durch die Fokussierung auf die formale, sprachliche Darstellung von Krankheit wird in dieser Arbeit textnah nach einem spezifisch literarischen Umgang mit Wissen gefragt. Der gattungsspezifische Frageansatz ermöglicht somit eine produktive Verbindung der zuvor genannten drei Forschungsperspektiven.

7 Vgl. Elinor Shaffer: Introduction: The Third Culture – Negotiating the ‚two cultures‘. In: dies. (Hg.): The Third Culture: Literature and Science. Berlin/New York 1998, S. 7. 8 Vgl. Jürgen Link und Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S. 93 f. 9 Link/Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 94. 10 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Durchgehend mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. Vierte sehr vermehrete Auflage. Leipzig 1751, S. 105. 11 Vgl. Link/Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 92. 12 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 105. 13 Vgl. Shaffer: Introduction: The Third Culture, S. 3.

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Einleitung: Sprachen des Leidens

Wichtige Anregungen hat diese Studie aus verschiedenen Entwicklungen und Perspektiven der Forschung erhalten. Sie ist zunächst vor dem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen und Methoden sowie jüngeren Entwicklungen in der Wissenschaftsgeschichte zu platzieren.14 Sie bezieht sich zudem auf Forschungsperspektiven der Literaturwissenschaft, die sich seit den 1970/80er Jahren mit der Anthropologie des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts beschäftigt. Dabei sind die engen Verbindungen der Literatur um 1800 zu anthropologisch-medizinischen und psychologischen Diskursen herausgearbeitet worden.15 Die Anthropologie der ‚philosophischen‘ Ärzte des achtzehnten Jahrhunderts wendet sich dabei den Zusammenhängen von Körper und Seele und damit auch den ‚niederen‘ Erkenntnisformen, der Einbildungskraft, Trieben, Somnambulismus, Traum und Wahnsinn zu.16 Aufgabe der Anthropologie ist es, so heißt es in Ernst Platners wirkungsmächtiger Anthropologie, „Körper und Seele in ihren gegenseitgen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen [zu] betrachten“ 17. Für die Literatur nach 1800 sind zahlreiche Bezüge zur sogenannten ‚romantischen‘ Medizin herausgearbeitet worden, die sich mit ähnlichen Themen wie die Anthropologie der ‚philosophischen‘ Ärzte beschäftigt, jedoch von einem alternierenden Umgang mit den Themen der ‚Nachtseite‘ charakterisiert ist.18 Die inhaltlichen Bezüge von Literatur zur Anthropologie, Medizin und Psychologie können somit als etabliert angesehen werden. Nur vereinzelt jedoch sind diese inhaltlichen Aspekte mit Fragen nach der gattungsspezifischen Darstellung

14 Vgl. die Übersicht bei Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2001; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek/Hamburg 2010, insb. S. 27–43. 15 Vgl. grundlegend zu dieser Forschungsrichtung: Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 6: Forschungsreferate 3 (1994), S. 93–157; ders.: Zur literarischen Anthropologie als hermeneutisch-ideengeschichtliche Perspektive: Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung. In: Wolfgang Braungart, Klaus Ridder und Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektive einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 337–366; Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Den Ausdruck ‚literarische Anthropologie‘ beziehen beide nicht auf die Literaturwissenschaft, sondern auf die Literatur selbst. Damit wird Literatur als „anthropologische Wissensform“ gesehen (Claudia Benthien: Historische Anthropologie. Neuere deutsche Literatur. In: dies. und Hans Rudolf Velten [Hg.]: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek/Hamburg 2002, S. 70). 16 Vgl. immer noch grundlegend: Schings (Hg.): Der ganze Mensch. 17 Ernst Platner: Anthropologie für Aertze und Weltweise. 1. Teil. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1772. 2. Aufl. Mit einem Nachwort von Alexander Košenina. Hildesheim/Zürich/New York 2000, S. XVII. 18 Vgl. zur romantischen Anthropologie: Tobias Leibold: Enzyklopädische Anthropologien. Formierungen des Wissens vom Menschen im frühen 19. Jahrhundert bei G. H. Schubert, H. Steffens und G. E. Schulze. Würzburg 2009.

Einleitung: Sprachen des Leidens

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des anthropologischen Wissens verknüpft worden.19 Während in bisherigen Arbeiten die Behandlung anthropologischer Themen für jeweils eine Gattung untersucht wurde, werden in der vorliegenden Studie durch die Untersuchung mehrerer Gattungen die Ränder, Überschneidungen, Transformationen und Unterschiede gattungsspezifischer Krankheitsdarstellungen sowie die wechselseitige Beeinflussung von Gattung und Krankheit fokussiert. Dieses Verfahren ermöglicht es insbesondere, nicht nur nach dem ‚Aufgreifen‘ von Kontextthemen in der Literatur zu fragen, sondern die gegenseitige Beeinflussung von Gattungsformen und inhaltlichen Aspekten in den Blick zu nehmen. Mit dem Bezug zur Gattung als Darstellungsform von Wissen knüpft die vorliegende Arbeit auch an die Perspektiven einer ‚Poetologie des Wissens‘ an, in der Fragen nach Darstellungsformen und Inszenierung von Wissen gestellt werden.20 Mit der wissenspoetologischen Forschung geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass die Generierung und Verbreitung von Wissenskonzepten durch historische, kulturelle, soziale und ökonomische Bedingungen und Kontexte beeinflusst ist.21 19 Košenina hat in seiner Studie Anthropologie und Schauspielkunst gezeigt, wie physiognomische und pathognomische Konzepte mit einer psychologisch naturwahren Körpersprache auf dem Theater korrespondieren. Heinz’ Arbeit Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall analysiert erzählerische Verfahren in der Spätaufklärung vor dem Hintergrund zentraler anthropologischer Themen. 20 Vgl. die theoretischen Arbeiten von Joseph Vogl: Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault. In: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M. 1991; ders.: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 107–130; ders.: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 7–16. Konsequent interpretiert Borgards in seiner umfassenden Arbeit über den Schmerz literarische und medizinische Darstellungen des Schmerzes als Ausdruck einer Wissenskultur und bündelt sie damit in einer Poetologie des Wissens (vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes). Wichtige Anregungen für die gattungsspezifische Fragestellung hat die vorliegende Arbeit von den theoretischen Überlegungen in Pethes’ und Richters Sammelband Medizinische Schreibweisen erhalten, in dem die These gegenseitiger Beeinflussung von textlicher Darstellungsform und Krankheit formuliert und in dem Konzept der ‚Medizinischen Schreibweise‘ zusammengeführt wird. Hierbei ersetzen Pethes und Richter den Begriff ‚Gattung‘ durch das Konzept ‚Schreibweise‘ und die Bezeichnung ‚Medizin‘ durch ‚medizinisches Wissen‘ (vgl. Pethes/Richter: Einleitung. Medizinische Schreibweisen, S. 5 f.). In dieser Arbeit soll jedoch gerade versucht werden, die literaturwissenschaftliche Kategorie ‚Gattung‘ auf wissenshistorische und -poetologische Problemstellungen anzuwenden. Der Begriff ‚Schreibweise‘ wird verwendet, um die Offenheit von Gattungsformaten zu betonen, und somit ihre interdiskursiven Funktionen bei der Produktion, Darstellung und Rezeption von Wissen zu untersuchen. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes in der vorliegenden Arbeit ermöglicht zudem eine stärkere Fokussierung und somit die Herausarbeitung gattungsspezifischer Implikationen der Krankheitsdarstellung in einem spezifischen wissenshistorischen Zeitrahmen. 21 Die Beschäftigung mit der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften hat vielfältige Impulse durch Konzepte wie das der Diskursanalyse, Mediengeschichte, Kulturanthropologie, den Poetics of Culture oder dem New Historicism erhalten, was zu neuen Fragestellungen und methodischen Ansätzen geführt hat (vgl. zu aktuellen Entwicklungen in der Wissenschaftsgeschichte: Michael Hagner: Einleitung: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: ders. [Hg.]: Ansichten der

6

Einleitung: Sprachen des Leidens

‚Wissen‘ ist dabei nach Michel Foucault von ‚Wissenschaft‘ zu unterscheiden und wird durch diskursive Praktiken gebildet.22 Als diskursive Praxis ist die Gesamtheit dessen zu verstehen, was zur Wissensproduktion beiträgt, wovon der Diskurs die sprachlich-schriftlichen Aspekte bezeichnet.23 Wissen ist dann nicht an etablierte Disziplinen gebunden, sondern kann in verschiedenen medialen Repräsentationsweisen geäußert werden, die zum Beispiel textuell, visuell oder gesprochen sein können; es „erscheint etwa in einem literarischen Text, in einem wissenschaftlichen Experiment, in einer Verordnung oder in einem alltäglichen Satz“ 24. Im Fokus steht somit nicht die Frage nach dem ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ eines Wissenskonzeptes, sondern nach der Art, wie dieses Wissen entsteht, dargestellt, transformiert und tradiert wird, und welche Wirkungen es in verschiedenen Diskursen entfaltet. Die Frage nach Wissensinhalten ist damit unmittelbar mit Aspekten der Darstellung und Inszenierung verbunden.25 Die ‚Gattung‘ ist ein wichtiger Teil von Darstellungs- und Repräsentationsstrategien, weshalb die „Ergänzung und Ausweitung von Gattungsbegriffen“ 26 als Forschungsperspektive benannt worden ist. Die vorliegende Studie konkretisiert somit wissenspoetologische und -historische Forschungsfragen, indem sie die ‚Gattung‘ als Mittel der formalen Organisation von Krankheit als Wissenskonzept in den Blickpunkt rückt. Die literaturwissenschaftliche Kategorie ‚Gattung‘ gilt es, für die skizzierten Fragestellungen furchtbar zu machen und dabei auch auf nicht-literarische Textformate

Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2001, S. 7–33). Fleck hat bereits in seiner 1935 erschienenen Studie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache am Beispiel der Entdeckung des Syphilis-Erregers untersucht, wie soziale und psychische Faktoren, die Überzeugungen der Wissenschaftler und die Gemeinschaft von Wissenschaftlergruppen bei der Produktion von Wissen eine Rolle spielen. Die aktuelle Rezeption von Flecks zunächst wenig beachtetem Werk kann exemplarisch für jüngste Entwicklungen in der Wissensgeschichte genannt werden. 22 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 258–262, insb. S. 259; vgl. dazu auch Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 10. 23 Vgl. Link/Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 90. 24 Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 11; vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 254 f. 25 Diese Verknüpfung ist die zentrale Forderung der ‚Poetologie des Wissens‘ (vgl. Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 7). 26 Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 16. Auch Engelhardt fordert eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen Gattungen der Literatur in Hinsicht auf Krankheitsdarstellungen (vgl. Dietrich von Engelhardt: Vom Dialog der Medizin und Literatur im 20. Jahrhundert. In: Bettina Jagow [Hg.]: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Heidelberg 2004, S. 39). Seine These gattungsspezifischer Krankheitsdarstellung in dem Artikel „Medizin und Dichtung“ verbleibt jedoch in den Annahmen der spekulativen Gattungstrias: Engelhardt vermutet, Lyrik stelle Krankheit in Bezug auf Gefühle dar, in Erzählungen würden Entwicklungen präsentiert und das Drama thematisiere Krankheit in Verbindung mit Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen (vgl. Dietrich von Engelhardt: Medizin und Dichtung. In: Werner Gerabek, Bernhard D. Haage und Gundolf Keil [Hg.]: Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin/New York 2005, S. 934).

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auszuweiten,27 indem nach ihrer Rolle bei der sprachlich-textuellen Herstellung und Darstellung von Wissen sowie den Rezeptionsprozessen gefragt wird. Der Bezug zur Gattung ermöglicht somit die Fokussierung auf formale und ästhetische Aspekte der Wissensdarstellung, die ansonsten oftmals – entgegen des wissenspoetologischen Anspruchs – hinter inhaltlichen Bezügen und Einflüssen zurücktritt. Im Folgenden soll zunächst der Begriff ‚Gattung‘ näher bestimmt und Ebenen der gattungsspezifischen Fragestellung herausgearbeitet werden (siehe Kap. 1.1 und 1.2). Anschließend wird auf den Konnex von Sprache, Literatur und Krankheit eingegangen (siehe Kap. 1.3). Dabei werden zentrale Begriffe und Konzepte eingeführt, die im Verlauf der Untersuchungen aufgenommen werden. Schließlich werden die Textauswahl und das Vorgehen begründet (siehe Kap. 1.4).

1.1 Zur Gattungsdiskussion um 1800 Der Begriff ‚Gattung‘ ist einer der meist diskutierten Begriffe in der Literaturwissenschaft. Insbesondere wurde er wegen seiner biologischen Konnotation, die ein quasi organologisches Verhältnis verschiedener Textformen impliziere, kritisiert.28 Dabei wurde auch die Ersetzung des Gattungsbegriffs durch verschiedene andere Begriffe wie ‚Genre‘, ‚Textsorte‘ oder ‚Schreibweise‘ diskutiert. In der aktuellen Forschung hat der Gattungsbegriff jedoch wieder Konjunktur, auch da er letztlich als Kategorie zur Bestimmung und Bildung von Textgruppen notwendig bleibt. Dabei wird aber die Konstruiertheit und Konventionalität sowie die kulturelle und historische Bedingtheit von Gattungen in den Vordergrund gerückt, allerdings in kognitiven Gattungstheorien auch über die Gültigkeit dieser Schemabildungen bis in kognitive Strukturen hinein diskutiert.29 In jüngster Zeit sind Gattungsfragen mit der Forschung zum Verhältnis von Literatur und Wissen verknüpft worden.30 27 Vgl. zum Desiderat, die Bedeutung literaturwissenschaftlicher Kategorien wie ‚Gattung‘ oder ‚Werk‘ für wissenshistorische und -poetologische Problemstellungen zu untersuchen auch Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg: Einleitung. In: dies. (Hg.): Gattungs-Wissen: Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013, S. 8. Auch Berg verbindet den Gattungsbegriff mit wissenspoetologischen Fragen: Gunhild Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen. Zur Einleitung und Konzeption des Bandes. In: dies. (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt a. M. 2014 S. 1–17. Unterschiedliche Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur untersuchen auch die Beiträge in dem Sammelband von Yvonne Wübben und Carsten Zelle (Hg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen 2013. 28 Vgl. zur Kritik am Verhältnis biologischer und literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriffe in Bezug auf die darwinistische Gattungstheorie: Rüdiger Zymner: Darwinistische Gattungstheorie. In: ders. (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart 2010, S. 164–166. 29 Vgl. Wolfgang Hallet: Gattungen als kognitive Schemata. Die multigenerische Interpretation literarischer Texte. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007, S. 53–72. 30 Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Bies/Gamper/Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen; Berg (Hg.): Wissenstexturen.

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Seit dem achtzehnten Jahrhundert kommt es zu weitreichenden Veränderungen des tradierten Gattungssystems.31 Es werden neue Gattungen entwickelt und ausprobiert.32 Im Bereich der Gattungstheorie wird zunehmend Kritik an normativen Gattungspoetiken geäußert, die im Zusammenhang mit verschiedenen poetologischen Paradigmenwechsel stehen.33 Konzepte von individueller, schöpferischer Produktivität stellen die Ausrichtung an Rhetorik und Normpoetiken in Frage. Die Entwicklung einer philosophischen Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis, für die Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58) als Initialdokument gelten kann, wertet die Dichtung als eigene Erkenntnisform auf.34 Zudem lässt die zunehmende Diskussion der Historizität von Gattungen die alleinige Ausrichtung an normativen Gattungsregeln fragwürdig werden. Herder unterscheidet zwischen idealen Urformen und historischen Ausdrucksformen und verfolgt letztere zu ihren ‚Originalen‘ zurück, bei denen individuelles Kunstwerk und Gattung zusammenfallen. Die induktive Methode der Gattungsbestimmung anhand der Einzelwerke ersetzt hier die deduktive Ableitung aus einer vorgängig bestimmten Gattung.35 Die Kritik an normativen Gattungsbestimmungen geht mit der Reduzierung auf die drei Gattungen Lyrik, Epik und Dramatik einher,36 die über den

31 Vgl. Dirk Oschmann: Gattungstheorie um 1800. In: Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 206; Klaus Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968; Peter Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik. Bd. 3. In: Poetik und Geschichtsphilosophie, hg. von Wolfgang Fietkau. Bd. II. Frankfurt a. M. 1974; Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007; Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001. 32 Vgl. Oschmann: Gattungstheorie um 1800, S. 206. Vgl. zum Aspekt der Dynamisierung und Veränderung von überlieferten Gattungen: Rüdiger Zymner: Gattungsvervielfältigungen. Zu einem Aspekt der Gattungsdynamik. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007, S. 101–116. 33 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Normativität und Gattung. In: Zymner (Hg.) Handbuch Gattungstheorie, S. 119–12. 34 Vgl. zu Baumgarten: Hans Adler: Aisthesis, steinernes Herz und geschmeidige Sinne. Zur Bedeutung der Ästhetik-Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 96–111; ders.: Fundus animae. – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 197–220; Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: ders. (Hg.): „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, S. 5–24; Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 93–157; Lauri Ruth Johnson: Die Lesbarkeit des romantischen Körpers. Über Psychosomatik und Text in Fallstudien von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel. In: Erich Kleinschmidt (Hg.): Die Lesbarkeit der Romantik. Material, Medium, Diskurs. Berlin 2009, S. 110. 35 Vgl. Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 25–27. 36 Vgl. Trappen: Gattungspoetik, insb., S. 198–265.

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französischen Kritiker Charles Batteux in die deutsche Gattungstheorie eingeführt wird und nach 1800 in den spekulativen Gattungstheorien zum Beispiel von Friedrich Schlegel und Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit den Kategorien des Subjektiven, des Objektiven und einer Synthese von beiden verbunden wird und bis in die Gattungstheorie im zwanzigsten Jahrhundert hinein einflussreich bleibt.37 Die wissenspoetologische Frage nach dem Zusammenhang von Gattungsformen und den behandelten Inhalten ist auch in der Zeit um 1800 hochaktuell: „Ich habe jetzt keine interessantere Betrachtung als über die Eigenschaften der Stoffe in wie fern sie diese oder jene Behandlung fordern.“ 38 Goethes Ausdruck seiner Sorge, den falschen Stoff für die gewählte Gattung (Behandlung) oder die falsche Gattung für den gewählten Stoff zu nutzen, führt ins Zentrum der gattungspoetologischen Diskussion zwischen Goethe und Schiller im Briefwechsel 1797 und in dem daraus resultierenden kurzen Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung39, die von der Frage nach der „Gegenstandswahl“ 40 bestimmt ist. Die Überlegungen, welche die Produktion von Goethes Hermann und Dorothea und Schillers Wallenstein begleiten und sich daher auf epische und dramatische Gattungen beziehen, sind geprägt von der Idee einer ‚inneren Form‘ oder ‚Gesetzlichkeit‘ der Gattungen,41 die es erforderlich macht, die richtigen Gattungen für einen bestimmten Stoff und komplementär dazu den richtigen Stoff für eine bestimmte Gattung zu wählen, während in der Folge der antiken Poetiken davon ausgegangen worden war, dass ein Stoff sowohl im Drama (Tragödie) als auch im Epos dargestellt werden könne.42 So nimmt Aristoteles an, dass aus den homerischen Epen ein oder zwei Tragödien entstehen könnten und Horaz führt aus, es sei besser, die Ilias in ein Drama umzuarbeiten, als sich neue Stoffe auszudenken.43 Die Gattungen sind „allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen“, an denen der Dichter sich ausrichten soll und die „aus der Natur der Menschen“ 44 herleitbar 37 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 30 f. 38 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 22. April 1797. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 334. 39 Goethe veröffentlichte den Aufsatz erst 1827 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Über Kunst und Althertum. 40 Friedmar Apel: Kommentar. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805, hg. von dems. Frankfurt a. M. 1998, S. 1242. 41 Vgl. Trappen: Gattungspoetik, S. 217–225. 42 Vgl. Trappen: Gattungspoetik, S. 218. 43 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 79 (23); vgl. Horaz: Über die Dichtkunst. In: ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch/Deutsch. Mit den Holzschnitten der Straßburger Ausgabe von 1498, hg. von Berhard Kytzler, 2. Aufl. Stuttgart 2006, S. 639 (V. 129). Allerdings nimmt Horaz für die dramatischen Gattungen an: „Ein Komödienstoff mag nicht in Tragödienversen dargestellt sein.“ (ebd., S. 635 [V. 90]) 44 Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller: Über epische und dramatische Dichtung. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805, hg. von Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 445.

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sind. Die Annahme eines so engen Entsprechungsverhältnisses von Inhalt und Form schließt an Lessings Überlegungen zu den medialen Bedingungen von Darstellungen bestimmter Inhalte in den verschiedenen Künsten und Gattungen an.45 August Wilhelm Schlegel geht sogar davon aus, dass das „Wesentliche eines Kunstwerkes […] die Form, nicht der Inhalt“ 46 sei. Die Art der Darstellung sei durch die „Gesetze jeder Form und jedes Mediums“ 47 bestimmt, weswegen Schlegel es problematisiert, die Umsetzung eines Stoffes in unterschiedlichen Gattungen oder Künsten vergleichend zu bewerten. Trotz der Herleitung der Gattungen aus den Gesetzen der Natur sprechen Goethe und Schiller sowohl den Gattungsformen als auch den Stoffen eine historische Dimension zu, so wird zum Beispiel der Roman im Briefwechsel als moderne, epische Form analysiert. Schiller setzt sich unter dem Leseeindruck von Hermann und Dorothea anhand des Wilhelm Meisters kritisch mit den Bedingungen des Romans auseinander. Hermann und Dorothea schließt er an das antike Epos an, da er die „Stimme eines Homerischen Rhapsoden“ 48 darin zu hören meint, während er am Wilhelm Meister als Roman das ‚Unreine‘, die Vermischung verschiedener Gattungsmerkmale – insbesondere das Tragödienhafte – kritisiert.49 In den Maximen und Reflexionen diagnostiziert Goethe mit seiner Bezeichnung des Romans als „subjektive Epopöe“ 50 ebenfalls einen historischen Wandel von Gattungen. Die Historizität der Gattungen ergibt sich dabei auch aus dem engen Entsprechungsverhältnis von Inhalt/Stoff und Form: Leider werden wir Neuern wohl auch gelegentlich als Dichter geboren und wir plagen uns in der ganzen Gattung herum ohne recht zu wissen woran wir eigentlich sind, denn die spezifischen Bestimmungen sollten, wenn ich nicht irre, eigentlich von außen kommen und die Gelegenheit das Talent determinieren. Warum machen wir so selten ein Epigramm im griechischen Sinne? weil wir so wenig Dinge sehen die eins verdienen. Warum gelingt uns das Epische so selten? Weil wir keine Zuhörer haben und warum ist das Streben nach Theatralischen Arbeiten so groß? weil bei uns das Drama die einzig sinnlich reizende Dichtart ist, von deren Ausübung man einen gewissen gegenwärtigen Genuß hoffen kann. Ich habe diese Tage fortgefahren die Ilias zu studieren um zu überlegen ob zwischen ihr und der Odissé nicht noch eine Epopé

45 Vgl. auch Oschmann: Gattungstheorie um 1800, S. 207. 46 August Wilhelm Schlegel: Poetische Übersetzungen und Nachbildungen. In: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 3: Poetische Uebersetzungen und Nachbildungen nebst Erläuterungen und Abhandlungen, hg. von Eduard Böcking. Leipzig 1846, S. 333 f. 47 August Wilhelm Schlegel: Poetische Übersetzungen und Nachbildungen, S. 333. 48 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 20. Oktober 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 439. 49 Vgl. Schiller an Goethe, 20. Oktober 1797, S. 440. 50 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur, hg. von Benno von Wiese. 14. Aufl. München 2008, S. 498. Vgl. auch Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, S. 86.

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liege. Ich finde aber nur eigentlich tragische Stoffe, es sei nun daß es wirklich so ist, oder daß ich nur den epischen nicht finden kann.51

Gattungen werden hier mit verschiedenen Merkmalen ausgestattet: Sie sind literarisch-schriftlicher Ausdruck einer bestimmten Wahrnehmung der Wirklichkeit und können somit ihre Aktualität verlieren, wenn sich die Wirklichkeit verändert – so etwa das Epigramm. Der ‚neue‘ Dichter nutzt diese Form nicht, weil sie keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Zudem ist die Gattungsproduktion von der Wahrnehmung des Dichters abhängig, denn Goethe spekuliert darüber, ob er den epischen Stoff einfach nicht mehr finden könne. Gattungen haben zwar eine eigene, vorgängige Urform, ihre Verwendung ist aber historisch veränderbar und wird im kommunikativen Prozess zwischen Dichter und Publikum verhandelt. Die Überlegung, dem Dichter gelinge kein Epos, da es dafür keine Zuschauer gebe, lässt die wirkungsästhetische Dimension des Gattungsbegriffs deutlich werden. Die wirkungsästhetische Fragestellung erörtern Goethe und Schiller anhand der Figuren des Rhapsoden und des Mimen, die Goethe zur Differenzierung epischer und dramatischer Dichtung einführt. Die Unterscheidung von Rhapsoden und Mimen greift die Differenzierung der Gattungen anhand des ‚Redekriteriums‘ auf. Aristoteles unterscheidet mit ‚Bericht‘ und ‚Darstellung‘ zwei Modi der Nachahmung, anhand derer er erzählende und dramatische Dichtung voneinander abgrenzt.52 Er reformuliert damit die platonische Unterteilung von ‚Darstellung‘ (Komödie, Tragödie), ‚Bericht‘ des Dichters (Dithyrambos) und die Mischung von beiden (Epos), die ebenfalls die Art der Darstellung als Differenzierungsmerkmal von Gattungen postuliert.53 Der Rhapsode, heißt es in Über epische und dramatische Dichtung, trägt das „vollkommen Vergangene“ auf eine Weise vor, die den Zuschauer beruhigt und zum langen Zuhören befähigt. Er kann dabei „rückwärts und vorwärts greifen“ 54, da der Zuschauer ihm mithilfe seiner Einbildungskraft folgt. Dafür soll der Rhapsode der unmittelbaren, visuellen Wahrnehmung des Zuhörers entzogen sein, indem er von einem Vorhang verdeckt wird. Das Vorgetragene wird so von seiner Person abstrahiert. Der Mime hingegen stellt ein bestimmtes Individuum „vollkommen gegenwärtig“ 55 dar. Der Zuschauer soll die Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühlen, wofür er in permanenter sinnlicher Anstren-

51 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 27. Dezember 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 475 f. 52 Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 19 f. (6). 53 Vgl. Platon: Der Staat III. In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 4: Der Staat III, bearbeitet von Dietrich Kurz. Darmstadt 1971, S. 199–205 (392c–394c). Platons Trias ist vielfach als Vorwegnahme der modernen Gattungstrias Lyrik, Drama und Epik missverstanden worden. Die Lyrik findet sich jedoch in Platons Modell nicht wieder. 54 Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung, S. 447. 55 Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung, S. 445.

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gung sein muss, die Phantasie wegen des unmittelbaren Eindrucks jedoch nicht angeregt wird.56 Goethes Differenzierung zwischen der nur gehörten und der audiovisuell wahrgenommenen Darstellung findet sich bereits bei Horaz: „Schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verläßlichen Augen gebracht wird.“ 57 Die unmittelbare Darstellung auf der Bühne wird jedoch begrenzt, so fordert Horaz, bestimmte dramatische Stoffe „den Augen [zu] entziehen“, wenn sich deren Wirkung „besser im Innern abspielen sollte“ 58. Schiller bestätigt die Figuren des Rhapsoden und des Mimen als wirkungsvolles Mittel, um die Unterschiede der Gattungen zu erfassen und spezifiziert diese Aussage ebenfalls in Hinblick auf die Wirkung: Die Gegeneinanderstellung des Rhapsoden und Mimen nebst ihrem beiderseitigen Auditorium scheint mir ein sehr glücklich gewähltes Mittel, um der Verschiedenheit beider Dichtarten beizukommen. Schon diese Methode allein reichte hin, einen groben Mißgriff in der Wahl des Stoffs für die Dichtart oder der Dichtart für den Stoff unmöglich zu machen. Auch die Erfahrung bestätigt es, denn ich wüßte nicht, was einen bei einer dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielt, und wenn man daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der wirklichen Repräsentation der Bretter, eines angefüllten und bunt gemischten Hauses, wodurch die affektvolle unruhige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens so nahe gebracht wird.59

Schiller unterstreicht hier noch einmal die komplementäre Verbindung von Inhalt und Gattung, denn „Dichtart“ und „Stoff“ müssen sich entsprechen. Die Gattung bedeutet eine Grenze für den Dichter, die dieser nicht überschreiten darf. Anhand des Dramas wird verdeutlicht, wie eine spätere Aufführung und damit die Wirkung auf den Zuschauer die Produktion des Textes leitet. Die Annahme eines engen Wechselverhältnisses von Form und Stoff und die Debatte um die historische Entwicklung von Gattungen hängen auch mit Fragen nach Gattungshierarchien und der Reinheit von Gattungen zusammen. Gattungen, so die Annahme, haben eine (Ur-)Form, die einen bestimmten Umgang mit den Inhalten bedeutet. Goethe spricht von der Aufgabe der Künstler, „Kunstwerke innerhalb ihre[r] reinen Bedingungen hervor[zu]bringen“ 60. Dieser ‚Reinheitsforde-

56 Vgl. Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung, S. 447. 57 Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (V. 181 f.). 58 Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (V. 182 f.). 59 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 26. Dezember 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 473. 60 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 23. Dezember 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 470.

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rung‘ konnten die ‚Alten‘ noch entsprechen; Kennzeichen moderner Dichtung sind hingegen Verunreinigungen durch Gattungsmischungen, die Goethe verurteilt: Diesen eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehn, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten getan haben, und dadurch eben solche Künstler wurden und waren.61

Die Grenzlinie zwischen antiken und modernen Gattungen wird als Unterscheidung von ‚rein‘ und ‚unrein‘ gezogen. Dabei wird auch die Tendenz der Moderne, „die Genres so sehr zu vermischen“ 62, mit der Ausrichtung am Publikumsgeschmack begründet, wobei Goethe insbesondere die Nachfrage an einer Dramatisierung narrativer Gattungen – sei es durch dramatische Elemente in ihnen oder durch Überführung von Romanen in Dramen – ausmacht.63 Die Präferenz des Dramatischen begründet Goethe mit dem Wunsch nach realistischer Darstellung und schwacher Tätigkeit der Imagination: Eben so wollen die Menschen jede interessante Situation gleich in Kupfer gestochen sehen, damit nur ja ihrer Imagination keine Tätigkeit übrig bleibe so soll alles sinnlich wahr vollkommen gegenwärtig dramatisch sein und das dramatische selbst soll sich dem wirklich wahren völlig an die Seiten stellen.64

Wie bei den unterschiedlichen Vortragsweisen des Rhapsoden und des Mimen spielt der Grad, in welchem die Einbildungskraft des Rezipienten angeregt wird, eine entscheidende Rolle bei der Differenzierung der Gattungen. Die Gattungen werden hier mit anthropologischen Wissenskonzepten verbunden. Bereits zuvor hatte Goethe durch seine Beschreibung der Wirkung der dramatischen Gattung als ‚sinnlich reizend‘ auf ein zentrales Konzept der zeitgenössischen Physiologie, Psychologie und Medizin referiert.65 Die Reizung der Sinne wurde in der zeitgenössischen Physiologie und Psychologie als Stimulans der Einbildungskraft angesehen.66 Wenn Goethe schreibt, dass das zeitgenössische Drama nur sinnlich reize,

61 Goethe an Schiller, 23. Dezember 1797, S. 470f . 62 Goethe an Schiller, 23. Dezember 1797, S. 470. 63 Vgl. zu Gattungsmischungen in der Literatur um 1800: Sven Gesse: ‚Genera Mixta‘. Studien zur Poetik der Gattungsmischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik. Würzburg 1997; Martin Huber: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003. 64 Goethe an Schiller, 23. Dezember 1797, S. 470. 65 Die Beschäftigung und Konzeptualisierung des ‚Reizes‘ hat ihren Ausgangspunkt in Albrecht von Hallers Entdeckung der Irritabilität der Nerven als Fähigkeit, auf Reize zu reagieren (vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 19). 66 Vgl. zum Zusammenhang von Reiz und Einbildungskraft Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1630–1830). Würzburg 2003.

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bleibt seine Wirkung damit auf einer Stufe äußerlicher Wahrnehmung stehen und erscheint fast schon körperlich.67 Trotz Goethes Forderung nach der Reinheit der Gattungen macht Schiller auch in dessen Werken zahlreiche Gattungsmischungen aus, so schreibt er über den Wilhelm Meister: „Ich glaube zu bemerken, daß eine gewissen Condescendenz gegen die schwache Seite des Publikums Sie verleitet hat, einen mehr theatralischen Zweck und durch mehr theatralische Mittel, als bei einem Roman nötig und billig ist, zu verfolgen.“ 68 Die Iphigenie schlage hingegen „in das epische Feld hinüber […]. Von dem Tasso“ wolle er „gar nicht reden“ 69. Die Gründe für solche Gattungsmischungen sind durch die enge Verbindung von Gattung und Stoff begründet. Der Stoff oder die Gattung müssen nicht nur ‚richtig‘ gewählt werden, sondern auch die Art der Behandlung und die daraus resultierende Wirkung spielen eine Rolle. Schiller sieht Gattungsmischungen jedoch als unvermeidbares Resultat der Moderne an:70 Sie werden mit mir überzeugt sein, daß, um von einem Kunstwerk alles auszuschließen, was seiner Gattung fremd ist, man auch notwendig alles darin müsse einschließen können, was der Gattung gebührt. Und eben daran fehlt es jetzt. Weil wir einmal die Bedingungen nicht zusammen bringen können, unter welchen eine jede der beiden Gattungen steht, so sind wir genötigt, sie zu vermischen.71

Schiller nimmt hier Goethes Idee auf, dass die Bedingungen für eine bestimmte Gattung von außen kommen müssen, der moderne Dichter sie aber nicht mehr finden kann. Er betont zudem später die Notwendigkeit, die Gattungsform nicht auf Kosten des individuellen Werkes zu verabsolutieren. Unter dem Eindruck sei-

67 Der Gedanke einer fehlenden Produktivität der Einbildungskraft beim Theaterzuschauer findet sich auch in Schillers dramenreformatorischen Bemühungen, so kritisiert er in seiner Vorrede zur Braut von Messina (1803) die Forderung nach einem dramatischen Naturalismus, der beim Zuschauer eine perfekte Illusion des Wirklichen erzeuge, aber eigentlich nur „Gauklerbetrug“ sei (Friedrich Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. [Vorrede zur Braut von Messina]. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5: Dramen IV, hg. von Matthias Luserke. Frankfurt a. M. 1996, S. 285) und die produktive Einbildungskraft nicht anrege. Schiller stellt stattdessen die Symbolhaftigkeit der dramatischen Kommunikation heraus, die schon bei der Theaterarchitektur anfange, aber auch Sprache, Handlung, Ort und Zeit betreffe (vgl. Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, S. 284). 68 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 8. Juli 1796. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 204. 69 Schiller an Goethe, 26. Dezember 1797, S. 475. 70 Vgl. zum Aspekt der ‚Gattungsmischung‘ um 1800 Gesse: ‚Genera Mixta‘; Huber: Der Text als Bühne. 71 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 29. Dezember 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 477.

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ner Arbeit an der Jungfrau von Orleans schreibt er am 26. Juli 1800: „Man muß, wie ich bei diesem Stück sehe, sich durch keinen allgemeinen Begriff fesseln, sondern es wagen, bei einem neuen Stoff die Form neu zu erfinden, und sich den Gattungsbegriff immer beweglich erhalten.“ 72 Auch in der Romantik – zum Beispiel bei Friedrich Schlegel und Novalis – werden Gattungsmischungen als Phänomene der modernen Literatur gesehen. Die in der Klassik geforderte Reinheit der Gattungen wird sowohl in der Praxis als auch in poetologischen Überlegungen aufgelöst. Schlegel, der seine gattungspoetologischen Überlegungen ebenfalls anhand der Gegenüberstellung von Antike und Moderne organisiert, wertet Gattungsmischungen in seinem frühen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie (1795) noch ab, fordert aber nur wenige Jahre später, die einzelnen Gattungen zu einer zu vereinigen: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.73

Der Roman, den Schlegel in einem weiteren Sinne als ‚romantisches Buch‘ versteht, kann alle Gattungen vereinen und somit in gesteigerter Form hervorbringen. So heißt es in einem Notizbuch-Fragment: „Auch unter d[en] R[omanen] giebts wieder eine lyr[ische] – επ [epische] – δραμ [dramatische] Gattung.“ 74 Die adjektivische Verwendung der Gattungsbezeichnung impliziert, dass zu Gattungen bestimmte Modi des Schreibens gehören, die auch andere Textsorten charakterisieren können.

72 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 26. Juli 1800. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 803. 73 Friedrich Schlegel: Athenäum-Fragmente 116. In: ders.: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I. (1796–1801), hg. von Hans Eichner. Paderborn/München 1967, S. 182. 74 Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur, Nr. 1073. In: ders.: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur. 1. Teil, hg. von Ernst Behler. Paderborn/München 1981, S. 174. Vgl. zu Schlegels Gattungspoetik: Sieglinde Grimm: Dichtarten und Wissenssystematik. Zum Einfluß der nachkantischen Organisation des Wissens auf die poetologische Gattungsdebatte bei Novalis und Friedrich Schlegel. In: Euphorion 94 (2000), S. 149–171; Gerhard Kurz: Der Roman als Symposion der Moderne. Zu Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie. In: Stefan Matuschek (Hg.): Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in Renaissance, Romantik und Moderne. Heidelberg 2002, S. 63–79.

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Diese Idee findet sich insbesondere im Zusammenhang mit der Suche nach der ‚inneren Form‘ von Gattungen, die mit der Reduktion des Gattungssystems auf Lyrik, Epik und Dramatik einhergeht.75 Goethe differenziert im West-Östlichen Divan zwischen diesen ‚inneren Gesetzlichkeiten‘ und ihren konkreten historischen Realisationsformen, indem er zwischen Dichtweisen und Dichtarten unterscheidet. Dabei kommt er auch zu einer anderen Bewertung von ‚Gattungsmischungen‘ als noch im Briefwechsel mit Schiller. Die Dichtarten bezeichnen die „äußeren zufälligen Formen“ der „inneren nothwendigen Uranfänge“ 76. Die unendliche Vielfalt der Dichtarten – oder Gattungen – können dabei alle auf die drei Dichtweisen oder „Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama“ 77 zurückgeführt werden, wobei mehrere Dichtweisen eine Gattung kennzeichnen können. Der Begriff „Naturformen“ und der Vergleich mit den Ordnungsversuchen von Mineralien und Pflanzen in der Naturkunde implizieren drei natürliche Urformen der Dichtung, von denen die Dichtarten Metamorphosen sind.78 Goethes Unterscheidung von den Dichtweisen und den Dichtarten ist vielfach und unterschiedlich rezipiert worden. Sie bereitet die spekulativen Gattungspoetiken vor und wird bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein zur psychologisch-anthropologischen Grundierung und Ausrichtung der Gattungsunterteilung genutzt, etwa bei Emil Staiger.79 Auch wenn diese Ausrichtung der Gattungstheorie inzwischen obsolet ist, beschäftigt das Verhältnis zwischen dem, was Goethe Dichtweisen und Dichtarten nennt, die Gattungstheorie bis heute. Klaus Hempfer unterscheidet zwischen ahistorischen ‚Schreibweisen‘ wie dem ‚Narrativen‘, ‚Dramatischen‘ oder ‚Satirischen‘ und ‚Gattungen‘ als „historisch konkrete[n] Realisationen dieser allgemeinen Schreibweise wie zum Beispiel „Verssatire, Roman, Novelle, Epos usw.“ 80 Die Schreibweisen existieren aufgrund ahistorischer „Tiefenstrukturen“, die als

75 Vgl. ausführlich zu der Entwicklung der Trias bei Schiller, Wilhelm Humboldt, Goethe sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Trappen: Gattungspoetik, S. 198–270. Vgl. auch Oschmann: Gattungstheorie um 1800, S. 207. 76 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 3.1: West-östlicher Divan, hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1994, S. 207. 77 Goethe: West-östlicher Divan, S. 206. 78 Vgl. Henrik Birus: West-östlicher Divan. Teil 2. Kommentar II. In: Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 3.2: West-östlicher Divan, hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1994, S. 1510. Vgl. zum Verhältnis von literaturtheoretischer und naturkundlicher Gattungstheorie um 1800: Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 13–16. 79 Vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 7. Aufl. Zürich 1966. Vgl. zur spekulativen Gattungspoetik insb. bei Schelling: Szondi: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. – Zur Rezeption von Goethes Unterscheidung von Dichtweisen und Dichtarten: Zymner: Gattungstheorie, S. 30 f. 80 Klaus Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 27.

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„rudimentäre generische Strukturen […] interiosiert sind“ 81, während Gattungen als historisch variable Ausdrücke dieser Tiefenstrukturen entstehen.82 Zu Recht ist an Hempfers Ansatz kritisiert worden, dass die ‚Tiefenstrukturen‘ nur hypothetisch auf Basis der historischen Gattungen angenommen werden können.83 Rüdiger Zymner hat hingegen Hempfers ‚Schreibweisen‘ als historisch und kulturell konstante und qualitativ wie quantitativ wichtige Möglichkeiten von Literatur bezeichnet, die aber in verschiedenen Kulturkreisen auch unterschiedlich sein können. Die ‚Schreibweisen‘ sind dann als „poetogene […] Strukturen“ 84 nicht künstlerische Fundamente von Gattungen, sondern als kommunikative Möglichkeiten auch in der Alltagssprache vorhanden, was insbesondere für das Erzählen gilt.85

1.2 Der Gattungsbegriff der Studie Im Folgenden werden Gattungen als historisch-kulturell bestimmte, konventionalisierte Wahrnehmungs- und Darstellungsformen verstanden, die außertextuelle ‚Wirklichkeit‘ spezifisch textuell strukturieren und repräsentieren.86 Der Konventionalisierungsgrad dieser Darstellungsformen kann dabei je nach Gattung unterschiedlich hoch und bindend sein und der Einzeltext kann diese Konventionen sowohl bestätigen als auch verändern. Gattungen beeinflussen und lenken Schreib- und Rezeptionsprozesse.87 Die Regeln und Konventionen bezüglich der Repräsentations- und Darstellungsweisen, die zu einer Gattung gehören, können explizit formuliert sein, etwa

81 Hempfer: Gattungstheorie, S. 126 f. 82 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie. S. 126 f. 83 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 143. 84 Zymner: Gattungstheorie, S. 168. 85 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 168 f. und S. 188 f. Als ‚Schreibweisen‘ versteht Zymner vielmehr Wirkungsdispositionen wie den ‚Manierismus‘, die unterschiedliche Gattungen und auch Medien charakterisieren können, sich aber auch zu Gattungen stabilisieren können wie beispielsweise das Groteske und Satirische (vgl. Zymner: Gattungstheorie, Kapitel 9, insb. S. 186 f.). 86 Steinmetz spricht von Gattungen als „konventionalisierte[n] Wirklichkeitsstrukturierungen“ (Horst Steinmetz: Gattungen. Verknüpfungen zwischen Realität und Literatur. In: Dieter Lamping und Dietrich Weber [Hg.]: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Wuppertal 1990, S. 50) und Gymnich und Neumann von „kulturelle[n] Deutungsschablonen“ (Marion Gymnich und Birgit Neumann: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzeptes: Der Kompaktbegriff Gattung. In: dies. und Ansgar Nünning [Hg.]: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007, S. 40). Vgl. zu Gattungen als ‚Konstrukten‘ auch Zymner: Gattungstheorie, S. 57–60. Da in der vorliegenden Arbeit textuell verfasstes Krankheitswissen im Mittelpunkt steht, wird auf Aspekte von Mündlichkeit und Gattung nicht eingegangen (vgl. dazu: Jörg Wesche: Mündlichkeit/Schriftlichkeit als Bestimmungskriterium. In: Zymner [Hg.]: Handbuch Gattungstheorie, S. 37 f.). 87 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen. In: Helmut Brackert und Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. 8. Aufl. Reinbek/Hamburg 2004, S. 257 f.

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weil sie in Poetiken und Lexika festgeschrieben werden, oder implizit vorhanden sein, beispielsweise wenn sich der Gattungsname auf bestimmte Ordnungsraster bezieht. So evozieren Gattungsbezeichnungen wie ‚Archiv‘, ‚Fragment‘, ‚Versuch‘ oder ‚Beobachtung‘ bereits bestimmte (auch außertextuelle) Wahrnehmungsformen und Ordnungsraster. Die Gattungswahl impliziert zudem rhetorische, narrative oder dramatische (Darstellungs-)Strategien, Topoi, Inhalte oder Funktionen. Somit ist in der „Entscheidung für Genres und Diskursarten im weitesten Sinn eine Bedingung für die Begründung und Organisation von Wissensfeldern zu erkennen“ 88. Die einer Gattung zugehörigen Regeln, Konventionen, Darstellungsmittel und Referenzen bilden das ‚Gattungswissen‘ bestimmter Textgruppen. Mit dem Begriff ‚Gattungswissen‘ soll im Folgenden „die Relevanz, welche Gattungseinteilungen und ihre praktischen und theoretischen Implikationen für sachlich und inhaltlich bestimmte Wissensordnungen haben können“ 89, fokussiert werden. Wie Gunhild Berg herausstellt, hat dieses Wissen eine intra- und eine extraliterarische Dimension: „Gattungen sind ein signifikanter Artikulationstyp, der auf implizitem Regelwissen basiert, innerliterarisches Wissen konstruiert und außerliterarisches Wissen spezifisch literarisch inszeniert.“ 90 Durch die Gattungswahl werden Texte sowohl „in extraliterarische, diskurs- und disziplinübergreifende Ordnungsgenera als auch in intraliterarische Gattungstraditionen“ 91 eingeschrieben. Gattungen ist somit ein eigenes Wissen inhärent. Bei etablierten oder stark konventionalisierten Gattungen – beispielsweise der Tragödie – ist dieses Wissen leicht abrufbar, während es bei anderen Gattungsformaten mehr implizit und vorläufig ist. Indem der Einzeltext einer bestimmten Gattung zugeordnet wird, bezieht er sich auf dieses Wissen – unabhängig davon, ob er es konserviert oder verändert – und begründet es zugleich performativ mit.92 Gattungen sind somit nicht nur ‚Darstellungsflächen‘ von Wissen sondern schaffen und konstituieren dieses mit, indem es in ihnen auf eine spezifische Art verschriftlicht wird. Dadurch wird der Einzeltext an andere Texte anschließbar gemacht und zugleich werden andere textliche Erscheinungs- und Äußerungsweisen ausgeschlossen.93 Damit haben Gattungen auch einen Bezug zu Phänomenen des ‚Nicht-Wissens‘, wenn „die Gesetze einer Gattung der Formulierung eines Wissens entgegenstehen“ 94. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass ein rein gattungstheoretischer Ansatz für diese Arbeit wenig aussagekräftig ist und von einem historischen Gattungs-

88 Vogl: Einleitung: Poetologien des Wissens um 1800, S. 15. 89 Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 7. 90 Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 6. 91 Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 11. 92 Vgl. ähnlich Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 6 und S. 11 f. 93 Vgl. zum Selektionscharakter von Gattungen auch Voßkamp: Gattungen, S. 258; ders.: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 29 f. 94 Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 11.

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begriff ausgegangen werden soll. Gattungen werden damit als konventionalisierte Wahrnehmungsformen und -muster verstanden, die sich verändern und auch verschwinden können. Als sprachlich-literarische Ausdrucksformen, die den Einzeltext an andere Texte anschließbar machen und in denen eine Gesellschaft sich und ihre Umwelt repräsentiert und damit zugleich interpretiert, übernehmen Gattungen bestimmte Funktionen. Dabei sind insbesondere die Funktionen interessant, die den Gattungen im historischen Kontext selbst zugeschrieben werden, und von nachträglichen Konstruktionen zu unterscheiden sind.95 Gattungszusammenhänge bestehen nicht nur bei den sogenannten Großgattungen Drama, Epik und Lyrik, deren Historizität inzwischen selbst herausgestellt worden ist,96 sondern auch ‚kleinere‘ Textgruppen, die auf Grundlage bestimmter inhaltlicher, formaler und funktionaler Kriterien gebildet werden, können als ‚Gattung‘ bezeichnet werden. Aufschluss über historisch wahrgenommene Gattungszugehörigkeiten können paratextuelle Bezeichnungen geben, mit denen ein Text an eine Gattung anschließbar gemacht werden soll und seine Aufgaben und Wirkziele angedeutet werden. Aber auch spätere Zuordnungen zum Beispiel in Kritiken einzelner Texte sind für die Frage nach dem Zusammenhang von Gattung und Inhalt interessant, insofern an ihnen deutlich wird, wie ein Text in Bezug auf seine Gattungszuordnung rezipiert worden ist.97 Der Begriff ‚Gattung‘ soll dabei nicht nur zur Beschreibung von literarischen, sondern auch nicht-literarischen Textgruppen verwendet werden und die verbreitete Differenzierung von ‚Gattung‘ oder ‚Genre‘ als Bezeichnung für literarische Textgruppen und ‚Textsorten‘ für nicht-literarische Texte nicht übernommen werden.98 Auch nicht-literarische Texte werden nach bestimmten Ordnungs- und Wahrneh-

95 Vgl. zur funktionsgeschichtlichen Gattungsforschung insbesondere die Arbeiten von Voßkamp, der den Institutionscharakter von Gattungen herausstellt, die er als „Bedürfnissynthese“ bezeichnet, in der bestimmte Probleme diskutiert werden (Wilhelm Voßkamp: Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur [am Beispiel der frühneuzeitlichen Utopie]. In: Thomas Cramer [Hg.]: Literatur und Sprache im historischen Prozeß. 1982. Bd. 1. Tübingen 1983, S. 40; ders.: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Walter Hinck: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27–44; ders.: Gattungen, S. 253–269). 96 Vgl. zum Beispiel: Angelika Jacobs: Das Gattungskonzept in der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Ein historisch-systematischer Abriss. In: Germanistische Mitteilungen 56 (2002), S. 16 f. 97 Vgl. zum Zusammenhang von Gattung und Paratext: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. 3. Aufl., aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2008, S. 94–102. Zymner kritisiert zu Recht eine ausschließliche Ausrichtung am Gattungsparatext zur Bestimmung von Gattungen (vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 125 f.). Dennoch bietet die Gattungsbezeichnung eines Textes wichtige Hinweise auf die historische Wahrnehmung und Wirkungsabsicht des Textes und den damit verbundenen Implikationen (vgl. Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 7 f.). 98 Vgl. ebenfalls kritisch zu dieser Unterscheidung Zymner: Gattungstheorie, S. 202 f. Auch Bies, Gamper und Kleeberg plädieren für einen „erweiterte[n] Gattungsbegriff“ (Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 9).

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mungsrastern organisiert. Auf diese Weise wird Sprache als die gemeinsame Schnittmenge wissenschaftlicher und literarischer Texte betont.99 Krankheit in Texten gleich welcher Art ist immer eine sprachlich ‚gemachte‘ oder ‚erzeugte‘ Krankheit und Rhetorizität ist somit als Kennzeichen aller textlichen Äußerungen über Krankheit zu sehen. Literarische Texte werden dann nicht als bloße Illustration oder kritische Reflexion von Wissenschaft, sondern als Teil der Wissensdiskurse verstanden.100 Umgekehrt werden medizinische Texte nicht nur als Quellen von Impulsen, Einflüssen und Motiven gefasst, sondern auch auf ihre sprachlich-rhetorische Formgebung und ihre narrativen Konstruktionen hin untersucht, mit der sie ihr Wissen vom kranken Menschen erzeugen.101 Dadurch können die sprachliche Repräsentation, die Zirkulation und Transformation, Abgrenzung und Inszenierung von Wissen in verschiedenen Diskursen fokussiert werden.102 Dementsprechend soll hier von einem ‚weiten‘, ‚pragmatischen‘ Literaturbegriff ausgegangen werden,103 das heißt, es werden nicht ausschließlich ‚literarische‘ Texte auf die Darstellung von Krankheiten hin untersucht, sondern auch Texte, die nicht-literarischen Diskursen zugeordnet werden. Als Literatur im ‚engeren‘ Sinne werden diejenigen Texte bezeichnet, die in der Zeit um 1800 selbst als literarisch aufgefasst wurden.104 Zur besseren Verständlichkeit sollen dabei dominante Diskurszugehörigkeiten wie zum Beispiel ‚medizinischer‘, ‚philosophischer‘ oder eben ‚literarischer‘ Diskurs zur Unterscheidung genutzt werden, ohne dass damit jedoch eindeutige Grenzziehungen zwischen verschiedenen Diskursen impliziert werden, schließlich soll gerade die Festschreibung von Literatur und Medizin als fixierte Komplexe hinterfragt werden. Für die Untersuchung der Darstellungsweisen von Krankheit sind insbesondere interdiskursive Formen und Inhalte von Interesse, das heißt, Überschneidungen und Wechselwirkungen, die in den Gattungskonzepten

99 Vgl. z. B. Vogl: Für eine Poetologie des Wissens, S. 107–130; die Aufsätze in ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800; Borgards: Poetik des Schmerzes; sowie die Aufsätze in Nikolas Pethes und Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Berlin/New York 2008. 100 Engelhardt bezeichnet Literatur beispielsweise als „repräsentatives Dokument der öffentlichen Einstellung gegenüber Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod, Medizin und wissenschaftlichem Fortschritt“ (Engelhardt: Medizin und Dichtung, S. 937). 101 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 30; Walter Erhart: Medizingeschichte und Literatur am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 1 (1997), S. 228. 102 Vgl. Pethes/Richter: Einleitung: Medizinische Schreibweisen, S. 2. 103 Vgl. zu der Debatte um die Ausweitung literaturwissenschaftlicher Gegenstände: Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 29 und zur zentralen Bedeutung einer solchen Ausweitung für wissenshistorische Fragestellungen: Roland Borgards und Harald Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Weimar 2004, S. 210–222. 104 Vgl. zum Literaturbegriff: Zymner: Gattungstheorie, S. 149–156.

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verschiedener Diskurse bei der Thematisierung von Krankheit festzustellen sind.105 Dabei soll keinesfalls jegliche Unterscheidung von literarischen und nicht-literarischen Texten aufgegeben werden. ‚Literarische‘ Texte können auf Grundlage bestimmter Form- und Funktionsmerkmale – wie beispielsweise Fiktionalität, einer ‚delectare‘-Funktion oder einem spezifischen Verhältnis von Form und Inhalt – von ‚nicht-literarischen‘ Gattungen unterschieden werden. Vielmehr kann auf diese Weise auch die Frage nach den Besonderheiten literarischer Repräsentationsweisen gestellt werden. Durch das besondere Verhältnis von Form und Inhalt, das literarische Texte kennzeichnet, kann die formale, rhetorisch-sprachliche Bedingtheit von Wissen reflektiert und hervorgehoben werden.106 Der Vergleich von Krankheitsdarstellungen in verschiedenen Gattungen ermöglicht es somit zu fragen, wie bestimmte Gattungen in den Krankheitsdiskursen verwendet werden und wie Krankheit durch die Thematisierung in verschiedenen Gattungen verändert wird. Ein Gattungswechsel impliziert auch ein verändertes Wissen und neue Wissenskonzepte das Hervorbringen neuer Gattungsformen.107 Die Kriterien, nach denen Gattungen bestimmt werden, sind ein immer wiederkehrender Diskussionspunkt in der Gattungstheorie.108 Sie können formaler, inhaltlicher und funktionaler Natur sein und meistens werden sie zur Festlegung der Gattung vermischt.109 Die unterschiedliche Gewichtung von Faktoren führt zu verschiedenen Typologisierungen, so dass Einzeltexte auch verschiedenen Gattungen zugerechnet werden können.110 Zudem verändern sich gattungskonstituierende Merkmale selbst in diachroner Perspektive und verlieren oder gewinnen an Relevanz.111

105 Das Verhältnis von Diskurs und Gattung thematisieren Bies, Gamper und Kleeberg, die verschiedene strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Diskursbegriff nach Foucault und Gattungen als literarisch-sozialen Institutionen herausstellen. Dazu gehören Funktionen der Stabilisierung und Ordnung und die Etablierung von Regeln des Sagbaren. Dagegen unterscheiden sich Diskurs und Gattung in der Breite der Themenbereiche, die sie umfassen, und Gattungen haben eine stärkere formale Homogenität sowie Tendenzen zur Selbstreferenzialität (vgl. Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 9 f.). Das Besondere der Gattung liegt demnach in einer spezifischen Herausstellung von Aspekten formaler Gestaltung. 106 Bies, Gamper und Kleeberg fassen dies in der Formel zusammen, Literatur sei „qua formaler Gestaltung, Wissen vom Wissen“ (Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 9). 107 Vgl. Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 3. 108 Vgl. dazu Birgit Neumann und Ansgar Nünning: Einleitung. Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. In: dies. und Marion Gymnich (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007, S. 2. 109 Vgl. ausführlich und systematisch zu Kriterien der Gattungsbestimmung: Zymner: Gattungstheorie, S. 105–121. 110 Vgl. hier z. B. Ray Jackendoffs Differenzierung zwischen „necessary conditions“ und „typicality contiditions“ (Ray Jackendoff: Semantics and Cognition. Cambridge 2010, S. 121). Vgl. zu Wittgenstein und Jackendoff: Gymnich/Neumann: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 36 f. 111 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 108.

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Bestimmungskriterien können zum Beispiel Fiktionalität/Faktualität, das Figural, das sogenannte Redekriterium, Stilmerkmale sowie inhaltliche und funktionale Aspekte wie das Erzielen bestimmter Wirkungen beim Rezipienten sein. Die genannten Kriterien eignen sich für diese Arbeit auch als Orientierungspunkte für die gattungsspezifischen Untersuchungen von Krankheitsdarstellungen. Ihre Heterogenität wird dabei bewusst in Kauf genommen, da sie die Frage nach der Interaktion von Wissen über Krankheit und Gattung jenseits von Form/Inhalt-Dichotomien ermöglicht. Gerade dieser ‚Kriterienpluralismus‘ stellt die komplexe Interaktion verschiedener Aspekte von Gattungen heraus.112 Aus dem Gesagten ergeben sich verschiedene Funktionszusammenhänge, die für die Fragen nach ‚Gattung‘, ‚Sprache‘ und ‚Krankheit‘ relevant sind. Hierzu gehören erstens das Verhältnis von Form und Inhalt der Gattung, zweitens die Verwendung der Gattung als wissensprogrammatische Kategorie, drittens der Zusammenhang von Gattung und Rezeption und viertens die Frage nach den ‚Schreibweisen‘. Der erste Zusammenhang – das Verhältnis von Form und Inhalt – wird, wie anhand der Diskussion zwischen Goethe und Schiller skizziert wurde, um 1800 sehr eng konzipiert. Dieses enge Wechselverhältnis gilt insbesondere für die poetologisch reflektierten ‚literarischen‘ Gattungen Drama und Erzählliteratur, deren Gattungswissen leichter abrufbar ist, als es bei weniger konventionalisierten Gattungen der Fall ist. Aber auch hier ist die Frage relevant, welchen Einfluss die Gattungszuordnung auf die Krankheitsdarstellung hat. Dazu können die Verwendung bestimmter Topoi, Metaphern oder Organisationsmuster, die die Gattung nahelegt, sowie besondere Wahrnehmungsperspektiven gehören, die durch die Gattung etabliert werden. Krankheit, als pathologische Abweichung von einem Normzustand, kann, auch ohne biologische Substrate zu verneinen, als Fremd- und Selbstbeobachtungseffekt gesehen werden. Textgattungen wiederum stellen jeweils Beobachtungsperspektiven und -strukturen zur Verfügung, mit denen Krankheit auf spezifische Art dargestellt werden kann. Zu fragen ist also, welches formale ‚Wissen‘ der Gattung genutzt wird, um Krankheit zu repräsentieren. Umgekehrt können neue Krankheitskonzepte diese Organisationsmuster verändern, indem sie in neuen Darstellungsformen resultieren. Zweitens können Gattungen wie Fragment oder Versuch als wissensprogrammatische Kategorie funktionieren, mit denen eine bestimmte Perspektive auf Krankheit etabliert wird. Die Gattung wird dann eingesetzt, um Krankheit auf spezifische Art ‚sichtbar‘ zu machen, so dass die Gattungswahl zum Ausdruck von Wissensprogrammatiken werden kann. Diese Funktion beruht auf und entsteht aus Assoziationen, die mit einer Gattung verknüpft werden, so dass durch die Gattungswahl Signale für die gewünschte Rezeption gesendet und epistemologische Fragen reflektiert werden.

112 Vgl. Neumann/Nünning: Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, S. 9.

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Drittens ist daher die Frage nach der Rezeption bedeutend. Die Rolle von wirkungsästhetischen Zielen in der Gattungsdiskussion um 1800 wurde bereits herausgestellt und ist beispielsweise für die dramatischen Gattungen sehr zentral. Diese Ausrichtung beeinflusst zwangsläufig die Art der Darstellung von Krankheit. Zudem ist anhand von Rezeptionsdokumenten zu überprüfen, inwiefern sich Kritik und Rezeption auf Krankheitsdarstellungen in bestimmten Gattungen beziehen, welches Wissen der Gattung dabei abgerufen, dominant gesetzt und zugleich mitkonstituiert wird. Viertens ist die anhand von Goethes ‚Naturformen‘ eingeführte Ebene der ‚Schreibweisen‘ zu berücksichtigen. Unter Schreibweisen sollen dabei Organisations-, Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen verstanden werden, die dominant mit einzelnen Gattungen verknüpft sind. Diese sind auf der Ebene der Darstellung und Kommunikation anzusiedeln und keineswegs als kognitive Strukturen zu interpretieren. Vielmehr sind sie als historisch und kulturell dominante Darstellungsmöglichkeiten im Sinne von Zymners ‚poetogenen Strukturen‘ zu verstehen. Ihre Konstanz verweist aber darauf, dass sie anthropologischen Wahrnehmungsmustern und Ausdrucksbedürfnissen entsprechen, wobei diese auch historischer und kultureller Spezifizierung und Determinierung unterliegen. Mit dem Begriff der ‚Schreibweisen‘ lassen sich die Verschränkung und Zirkulation von Wissen über Gattungs- und Diskursgrenzen hinweg fokussieren. Diese Dimension ist insbesondere auch vor dem Hintergrund der romantischen Gattungsmischungen in der Zeit um 1800 zu berücksichtigen. Dennoch soll die ‚Schreibweise‘ den Gattungsbegriff als analytische Kategorie nicht ersetzen, da letzterer besser geeignet ist, die wissensprogrammatische und -poetologische Funktion von Textgruppen zu fokussieren, wenn man davon ausgeht, dass Gattungen „in ihrer Zeit epistemologisch relevante[ ] Formen und Aussagemodi von Wissen“ 113 und damit „konventionalisierte Wissensstrukturierungen“ 114 sind. Auch die Auflösung von fixen Gattungsgrenzen um 1800 ändert dies nicht, vielmehr erscheint es gerade relevant zu fragen, ob die Veränderungen von Gattungsformen mit Wissensänderungen korreliert und ob die Übernahme bestimmter mit Gattungen dominant verknüpften Text- und Sprachcharakteristika in andere Gattungen mit der Darstellung verschiedener Wissenskonzepte verbunden ist. Durch die Gattung wird die Zuordnung eines Einzeltextes zu einer konventionalisierten Wahrnehmungsform herausgestellt. Über die Gattungsbezeichnungen stehen extraliterarische Referenzen und intraliterarische Dimensionen der Gattungstraditionen zur Verfügung und über sie werden die Auffassungsmöglichkeiten des Textes bestimmt und strukturiert. Die Fokussierung von gattungsspezifischem Wissen ermöglicht es so, zentrale Prozesse der Wissensproduktion und -rezeption zu untersuchen.

113 Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 9. 114 Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 3.

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Bestimmte Schreibweisen sind mit einzelnen Gattungen dominant verbunden, so zum Beispiel das Kasuistische mit der Fallgeschichte, das Narrative mit Erzählliteratur oder das Dramatisch-Theatrale mit dem Drama. Diese Schreibweisen können aber auch andere Gattungen und die Alltagssprache kennzeichnen. Es ist zu fragen, inwiefern es Schreibweisen gibt, die als interdiskursive Elemente literarische und nicht-literarische Krankheitsdarstellungen kennzeichnen. Hierbei soll der Fokus auf das Narrative und das Dramatisch-Theatrale gelegt werden.115 Das Narrative soll als bestimmte Rede- und Textstruktur verstanden werden, durch die Kohärenz hergestellt wird.116 Diese Kohärenz äußert sich in der Herstellung einer temporalen und kausalen Ordnung. Die Narration intergriert zudem sowohl verschiedene Handelnde auf der Ebene der Erzählung selbst als auch Erzähler und Adressaten in einer Erzählsituation. Sie stellt dabei auch eine Relation zwischen der Erzählerinstanz und dem Erzählten her.117 Dieser letzte Aspekt geht damit einher, dass in der Erzählung immer eine zeitliche Distanz zum Erzählten besteht, die allerdings in bestimmten Erzählsituationen unterschiedlich groß sein kann. Durch die Herstellung von Relationen und Kohärenzen ermöglicht das Narrative die Bildung von ‚Sinn‘, indem es das Einzelne miteinander verbindet, das heißt es in übergeordnete Zusammenhänge bringt, die dadurch zugleich konstituiert werden.118 Narration ist somit „eine anthropologisch zentrale Möglichkeit, Sinn sprachlich zu objektivieren“ 119, wobei kulturspezifische Ausprägungen des Erzählens in der Narratologie berücksichtigt werden müssen.120 Das Narrative kennzeichnet dabei nicht nur die fiktive Erzählliteratur, sondern auch faktographische Literatur,121 die den Anspruch hat, sich auf eine „konkrete außersprachliche Realität“ 122 zu bezie115 Vgl. zum Kasuistischen als Schreibweise Nikolas Pethes: Ästhetik des Falls. Zur Konvergenz anthropologischer und literarischer Theorien der Gattung. In: Sheila Dickson, Stefan Goldmann und Christof Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz.“ Zu den Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793). Göttingen 2011, S. 13–32. 116 Vgl. Daniel Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen. In: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2004, S. 251. Vgl. zu verschiedenen Theorien des Narrativen den Überblick bei Rüdiger Zymner: Theorien des Narrativen. In: ders. (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 328–330. 117 Vgl. zu diesen drei Aspekten der erzählerischen Kohärenzbildung: Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 251. 118 Zu verschiedenen Theorien der Sinnbildung vgl. Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 251–253. Fulda resümiert, dass sowohl hermeneutische als auch funktionalistische Ansätze darin übereinkommen, dass ‚Sinn‘ auf der Herstellung von Kohärenz beruht (vgl. Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 253). 119 Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 256. 120 Vgl. Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 251. 121 Vgl. hierzu Rüdiger Zymner: Theorien der faktographischen Literatur, S. 315–317. 122 Christian Klein und Matíias Martínez: Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: dies. (Hg.): Wirklichkeitserzählungen: Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/Weimar 2009, S. 1.

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hen und die in der Forschung auch unter dem Stichwort ‚Wirklichkeitserzählungen‘ behandelt wird. Paul Ricœur bezeichnet fiktive Erzählungen als „Phantasievariationen“ 123 von Narrationen, die auf ‚Realität‘ referieren. Die fiktive Erzählliteratur stellt jedoch häufig und anders als die faktographische Literatur, zu der beispielsweise die medizinische Fallgeschichte gerechnet werden kann, den Erzählvorgang selbst heraus. Sie expliziert damit die Funktionsweise des Narrativen und kann die Sinnbildungsfunktionen durch Inkohärenzen und unzuverlässige Erzählweisen auch hinterfragen.124 Das Dramatische ist durch eine unmittelbare und szenische Darstellungsweise sowie einen besonderen Bezug zu Phänomenen der Selbst- und Fremdwahrnehmung gekennzeichnet. Aufgrund der Abwesenheit einer Vermittlungsinstanz kommen der dramatischen Figurenrede vielschichtige Funktionen zu. Durch die Ausrichtung auf das Theater geht das Dramatische zugleich mit Aspekten der Visualität und Körperlichkeit einher.125 Diese resultieren daraus, dass auf dem Theater etwas Abwesendes als gegenwärtig vorgestellt und dargestellt wird.126 Um die Merkmale in einer Schreibweise zu bündeln, wird in dieser Arbeit von dem ‚Dramatisch-Theatralen‘ gesprochen. Durch das Theater steht darüber hinaus ein reichhaltiger und traditionsreicher Komplex an Metaphern und Topoi zur Verfügung, der zum Wissen der dramatischen Gattungen gezählt werden kann. Durch die Verwendung von Theatermetaphern kann das Dramatisch-Theatrale auch in nicht-dramatische Texte genutzt werden. Es gilt zu analysieren, welche Funktionen den Metaphern dabei zukommen, das heißt, welche Aspekte von Krankheit über sie transportiert werden und welche Transformationen sie in unterschiedlichen Gattungen unterlaufen. Die skizzierten Funktionszusammenhänge überschneiden sich thematisch und lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen. Sie ermöglichen es aber, verschiedene Ebenen der gattungsspezifischen Fragestellung zu unterstreichen und als Querschnittsthemen bei den Analysen zu verfolgen. Die Annahme, dass Gattungen Inhalte auf spezifische Art sprachlich strukturieren, rückt die Aufmerksamkeit auf die Beziehung von Krankheit und Sprache. Dabei sind sowohl wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen über den erkenntnistheoretischen Wert von Sprache aus der Zeit um 1800 als auch aktuelle Forschungsdebatten über das Verhältnis von Sprache und Wissen als Hintergrund relevant.

123 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit, aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1991, S. 160. 124 Vgl. Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, S. 261. 125 Vgl. auch Hubers Konzeption von theatralem Erzählen: Der Text als Bühne, S. 18 f. 126 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: ders.: Werke und Briefe. Bd. 5.2: Werke 1766– 1769, hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990, S. 11.

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1.3 Krankheit und Sprache: Interpretation von Zeichen In Krankheitskonzepten drücken sich Vorstellungen von Körper, Seele oder Psyche, von der Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen sowie sozialen Umwelt, aber auch zur Transzendenz aus. Krankheit wird dabei als pathologische Abweichung von einer bestimmten Norm verstanden oder als Folge einer Abweichung gesehen, die mit unterschiedlichen Bewertungen verknüpft werden kann. Krankheitskonzepte enthalten deswegen sowohl naturwissenschaftliches als auch soziokulturelles, philosophisches, religiöses und literarisches Wissen. In verschiedenen Fachrichtungen wie der Ethnologie, den Literatur- und Kunstwissenschaften, der Medizingeschichte oder den Gender Studies wurden in den vergangenen Jahren die Historizität, kulturelle Kodierung und Performativität von den scheinbar ‚natürlichen‘ Entitäten Krankheit und Körper selbst fokussiert.127 Der Körper wird dabei als Produkt kultureller Performanzen und nicht ausschließlich als natürliches, quasi vor-kulturelles Objekt oder biologisches Substrat in den Blick genommen. Krankheiten erscheinen damit nicht als historisch unwandelbare, anthropologische Phänomene, sondern sind von kulturellen und historischen Über- und Zuschreibungen betroffen. Die Versuche, Krankheitsdarstellungen in historischen Texten in aktuelle diagnostische Systematiken zu übersetzen und somit die ‚echte‘ Krankheit zu enthüllen, deren Symptome vielleicht erkannt wurden, die jedoch nicht in ihrer ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘ verstanden werden konnte, verhindern somit den Zugriff auf ein spezifisches historisch-kulturelles Wissen von Krankheit zu einer bestimmten Zeit.128 Stattdessen rückt die Annahme, dass Krankheitskonzepte nicht ausschließlich zeitlose Phänomene bezeichnen, die Repräsentationsformen und die Diskursivierung von Krankheit in den Blickpunkt. Es soll damit jedoch nicht gesagt werden, dass es keine ‚reale‘, empirische Krankheit gibt und dass diese beliebig geformt werden kann, dass Krankheit und das daraus resultierende individuelle Leiden

127 Vgl. den Forschungsüberblick in Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a. M. 2003, S. 13–25. Grundlegend hierzu: Judith Butler: Bodies that matter. On the discursive limits of „sex“. New York 1993. Vgl. auch die Arbeiten von Duden, für diese Studie besonders interessant: Geschichte unter der Haut, insb. S. 7–66; der Sammelband von Claudia Benthien und Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek/Hamburg 2001 sowie zur Repräsentation des Körpers in der deutschen Literatur um 1800: Nicolas Saul: Introduction: From ‚Ideendichtung‘ to the commercium mentis et corporis. In: German Literature around 1800. German Life & Letters 52 (2) (1999), S. 115–122. 128 So wurde etwa versucht, die Phänomene, die in den Fallgeschichten von Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde beschrieben werden, in aktuelle psychiatrische Diagnosekataloge zu überführen: Vgl. Hans Förstl, Matthias Angermeyer und Robert Howard: Karl Philipp Moritz’ Journal of Empirical Psychology (1783–1793): an analysis of 124 case reports. In: Psychological Medicine 21 (1991), S. 299–304. Vgl. zu diesem Kritikpunkt in Bezug auf Wahnsinnsdarstellungen auch Georg Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München 1986, S. 9 f.

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demnach nichts weiter als Diskurseffekte sind.129 Diese Annahme dreht das Verhältnis von ‚Natur‘ – insofern damit empirische Körper und Krankheiten gemeint sind – und Kultur – als diskursive Repräsentationen von Körper und Krankheit – nur um, indem sie die Kultur zu Ungunsten der Natur verabsolutiert und somit die ‚Kultur‘ gewissermaßen als natürliche Konstante postuliert.130 Die Grenze zwischen kultureller Kodierung und Formierung und natürlichem Substrat ist jedoch nicht klar definierbar: Krankheit ist nicht nur eine rein biologische Tatsache, sondern zugleich auch hochgradig kulturell geformt.131 Als eindrückliche Beispiele können hier Syphilis, Cholera, Tuberkulose, Krebs oder Aids132 genannt werden, denen verschiedene Deutungsmuster zugeschrieben worden sind, welche die Wahrnehmung und Bewertung der Krankheit determinieren. Historische Epochen können dabei mit bestimmten Krankheiten in der allgemeinen Wahrnehmung fest verbunden werden, wie beispielsweise das Mittelalter mit der Pest. Andere Krankheiten wie Melancholie, Neurasthenie, Bleichsucht oder Tuberkulose sind auch mit Kunst und Literatur und bestimmten Stilrichtungen sowie ästhetischen Vorstellungen assoziiert.133 Damit ist die Versprachlichung von Krankheit, das heißt die Frage, wie in welchen Diskursen und Gattungen über Krankheit gesprochen und geschrieben wird,

129 Vgl. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 12. 130 Vgl. Hagners Kritik an entsprechenden Tendenzen der Wissensgeschichte: Einleitung: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 25. 131 Vgl. entsprechend zum Schmerz: Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 32–34. Die Grenze zwischen biologischer Tatsache und kultureller Repräsentation ist unterschiedlich diskutiert worden und kaum zu bestimmen. Fleck spricht vom „Widerstandsaviso“ der Dinge (Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung und herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980, S. 124) und David E. Leary betont, dieser Widerstand sei „far from being absolute“ (David E. Leary: Psyche’s muse. The role of metaphor in the history of psychology. In: ders. [Hg.]: Metaphors in the history of psychology. Cambridge 1990, S. 12). 132 Vgl. die kritischen Analysen der Metaphorisierung von Krankheiten, insbesondere von Tuberkulose, Krebs und Aids von Susan Sontag: Illness as Metaphor and AIDS and its Metaphors. Sontag kritisiert, wie Krebs als Metapher für bestimmte unterdrückte Leidenschaften und Emotionen benutzt wird und damit der Patient selbst für die Krankheit und Heilung verantwortlich gemacht wird. In AIDS and its metaphors stellt Sontag heraus, wie AIDS stigmatisiert wird und dabei metaphorische Ausdrücke reaktualisiert werden, die beispielsweise mit der Pest oder mit Syphilis verbunden sind. Sie fordert ein Sprechen über Krankheit, das auf metaphorische Ausdrücke verzichtet, und greift in diesem Zusammenhang auch die literarische Darstellung von Krankheit an. Hierbei übersieht sie allerdings die Spezifika des literarischen Diskurses und verpflichtet ihn auf ein ‚wissenschaftlich korrektes‘ Sprechen über Krankheit (vgl. Andrea Kottow: Der kranke Mann. Medizin und Geschlecht in der Literatur um 1900. Frankfurt a. M./New York 2006, S. 58 f.). Vgl. zur kulturellen Kodierung von Krankheiten auch Pethes/Richter: Medizinische Schreibweisen, S. 5 f. 133 Vgl. zur Verknüpfung von Epochen und Krankheit: Jochen Hörisch: Epochen/Krankheiten. Das pathologische Wissen der Literatur. In: Frank Degler (Hg.): Epochen/Krankheiten: Konstellationen von Literatur und Pathologie. St. Ingbert 2006, S. 21–44.

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zentral für das Verständnis von Krankheit in ihren jeweiligen sozialen, kulturellen und historischen Kontexten. Dabei scheint zunächst beim Sprechen und Schreiben über Krankheit etwas außer-sprachliches ‚übersetzt‘ zu werden: Dies können Körperzeichen sein, die als Symptome gedeutet werden, oder Schmerzen und Gefühle, Ängste und fixe Ideen. In medizinischen Texten wird dabei oft impliziert, es werde eine empirische Beobachtung in Sprache übersetzt: ‚Fakten‘, ‚Tatsachen‘ und ‚Erfahrungen‘ sind prominente Schlagwörter, welche die Texte einleiten, und entsprechend fordert der Arzt Johann Georg Zimmermann von Medizinern aus der „Beobachtung einzelner Dinge und Begebenheiten […] allgemeine und mit der wahren Beschaffenheit der Sache übereinkommende Begriffe zu ziehen“ 134. Während Zimmermann von der Möglichkeit ausgeht, Begriffe und Sache übereinkommen zu lassen, stellt bereits Herder in seinen sprach- und übersetzungstheoretischen Arbeiten heraus, dass Übersetzungen von Konzepten und Wahrnehmungen des Übersetzers beeinflusst sind. Dieser ist immer mit anderen Konzepten ausgestattet als der Urheber des Originals.135 Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts setzt sich ein Bewusstsein dafür durch, dass Sprache ‚Wirklichkeit‘ nur unzureichend beschreiben kann und selbst eine zentrale Rolle bei der Erfassung und Erkenntnis von ‚Wirklichkeit‘ spielt und somit nicht von einem rein abbildenden Verhältnis ausgegangen werden kann.136 Zu nennen sind in diesem Kontext die sprachphilosophischen Auseinandersetzungen von Hamann, Herder, Wilhelm von Humboldt, Schelling, Friedrich Schlegel oder Hegel.137 Herder begründet in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) die ,Erfindung‘ der Lautsprache mit dem notwendigen Ausgleich des fehlenden Instinktes des Menschen im Vergleich zum Tier. Sprache sei aus Lauten entstanden und mit der Entwicklung des Bewusstseins und des geistigen Vermögens einhergegangen.138 Die Zusammensetzung der Sprache aus Lauten bedeutet, dass sie etwas Sekundäres oder Abgeleitetes ist; sie kann somit nicht unmittelbar beschreiben. Sprache

134 Johann Georg Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst. Zürich 1777, S. 337. 135 Vgl. Michael N. Forster: After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition. Oxford 2010, S. 17–22. 136 Vgl. Frank Steinmayr: Menschenwissen. Zur Poetik des religiösen Menschen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 252. 137 Vgl. Günter Wohlfart: Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel. Freiburg/München 1984; Stephan Jaeger und Stefan Willer: Einleitung: Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Würzburg 2000, insb. S. 22–25; Katie Terezakis: The Immanent Word. The Turn to Language in German Philosophy 1759–1801. New York/ London 2007; Forster: After Herder. Vgl. grundlegend zur Geschichte des europäischen Nachdenkens über Sprache den Druck von Coserius Vorlesungen zur Sprachphilosophie, die allerdings vor Herder abbrechen, dafür aber insbesondere die Bedeutung von Vico herausarbeiten: Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. Von den Anfängen bis Rousseau. Neu bearbeitet und erweitert von Jörn Albrecht. Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Trabant. Tübingen/Basel 2003. 138 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Werke. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 695–810.

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wird dabei selbst als Medium der Welterkenntnis aufgefasst. So betont Wilhelm von Humboldt, dass Sprachen „durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes […] nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr die vorher unerkannte zu entdecken“ 139. Die Funktion von Sprache wird hier vom reinen Darstellen und Repräsentieren um Funktionen des Entdeckens und Erkennens erweitert. In diesem Zusammenhang rückt um 1800 bald das Figurative der Sprache in den Blickpunkt,140 das bis heute im Zentrum der Debatten über das Verhältnis von Literatur, Sprache und Wissen steht.141 Goethe verweist in den Vorarbeiten zu seiner Farbenlehre auf die Notwendigkeit von Metaphern in der Wissenschaft: „Bei so einfachen, der Behandlung leicht entschwindenden Phänomenen müssen wir uns mit Analogien, Gleichnissen, Symbolen und allerlei Arten von bildlichen Ausdrücken helfen.“ 142 Symbol, Metapher und Analogie werden nicht nur zum uneigentlichen Ausdruck einer Sache, sondern selbst zum Mittel der Erkenntnis und Aneignung: „Sie [die Metapher] ist mehr als ein bloß sprachliches Hilfsmittel, sondern ein grundsätzliches Verfahren der Erkenntnis.“ 143 Dass Metaphern in der Wissenschaft eine Rolle spielen, ist mittlerweile unbestritten. Häufig wird ihre Rolle jedoch lediglich auf die eines Hilfsmittels, mit dem Sachverhalte anschaulich gemacht werden können, reduziert, obwohl sie insgesamt weitaus komplexer ist. Metaphorisches Sprechen beschreibt und versprachlicht nicht nur wissenschaftliche Theorie und Praxis, sondern trägt auch dazu bei, diese zu konstituieren und zu formen.144 Hans Blumenberg erklärt die Funktion der Metapher in der Begriffsgeschichte damit, dass sie essentiell für die Entwicklung neuer Begriffe und Theorien sei, denen sie vorausgehe: „Die Metaphorologie

139 Wilhelm von Humboldt: Vergleichendes Sprachstudium und Sprachentwicklung. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1963, S. 19 f. 140 Vgl. Jaeger/Willer: Einleitung: Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, S. 23; Erich Kleinschmidt: Entregelte Poetik. Zum dichtungstheoretischen Sprachaufbruch im 18. Jahrhundert. In: Jürgen Dittmann, Hannes Kästner und Johannes Schwitalla (Hg.): Die Erscheinungsformen der deutschen Sprache. Literatursprache, Alltagssprache, Gruppensprache, Fachsprache. Festschrift für Hugo Steger. Berlin 1991, S. 89. 141 Besonders die Rolle der Metapher in den Wissenschaften ist in der Forschung in den Blick genommen worden: vgl. z. B. David E. Leary (Hg.): Metaphors in the history of psychology. Cambridge 1990; Philipp Sarasin: Infizierte Körper, kontaminierte Sprachen. Metaphern als Gegenstand der Wissensgeschichte. In ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2003, S. 191–230. 142 Johann Wolfgang von Goethe: Beiträge zur Optik und Anfänge der Farbenlehre. In: ders.: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Abt. I, Bd. 3: Beiträge zur Optik und Anfänge der Farbenlehre 1790–1808, hg. von Rupprecht Matthaei. Weimar 1951, S. 339. 143 Walter Pape: „Ein Wort, das sich in seine Seele hakte“. Bild und Metapher bei Jeremias Gotthelf. In: ders., Hellmut Thomke und Silvia Serena Tschopp (Hg.): Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Tübingen 1999, S. 136. 144 Vgl. Sarasin: Infizierte Körper, kontaminierte Sprachen, S. 212.

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sucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen.“ 145 Gleichzeitig ist zu betonen, dass figurative Sprache neben der Erkenntnisfunktion auch Wirkungen haben kann, die vielleicht noch schwieriger zu fassen sind, was auch Blumenbergs Ausdruck von der „Substruktur des Denkens“ andeutet. Narrative Schemata, Metaphern, Analogien und Symbole drücken bereits eine bestimmte Wahrnehmung, ein (Vor-)Wissen, eine Assoziation oder Wertung aus.146 Die so hervorgerufenen Wahrnehmungs- und Denkperspektiven werden dann im kollektiven Austausch übernommen. In dem Verhältnis verschiedener Wissensdiskurse fungiert die Rhetorik damit als eine Art Metadiskurs. Im Zusammenhang mit Krankheit ist diese Rolle von figürlicher Sprache zentral. Metaphorische Konzeptualisierungen von Krankheiten oder dem menschlichen Körper und der Psyche tragen dazu bei, ein bestimmtes Verständnis vom Menschen diskursiv zu erschaffen. Metaphern können somit weitreichende Wirkungen haben, indem sie die (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen beeinflussen und damit letztlich auch die medizinische Praxis.147 In Metaphern kann dabei auch ein – aus wissenschaftlicher Sicht – ‚veraltetes‘ Wissen weitertransportiert werden, so dass die Implikationen der metaphorischen Annahmen die wissenschaftliche Aktualität einzelner Paradigmen überleben und sich in eine Art kollektives Gedächtnis einschreiben. Ludwig Fleck betont, wie wichtig es ist, sich dieser Einflüsse bewusst zu werden: Ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit – mit allen ihren Irrtümern – loskommen. Sie lebt in übernommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen, in schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und in Institutionen. Es gibt keine

145 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metaphern. Darmstadt 1996, S. 290. 146 Vgl. Claus Zittel: Das Zirkulieren wissenschaftlicher Metaphern (Konzeptpapier für Sektion 4 der Sommerakademie: Artistic Research? Die Zirkulation von Erfahrung, Wissen und Erkenntnis in der Kultur des IFK, Wien 21–27. August 2011). 147 Wie weitreichend die Rolle der Konzeptualisierungen dabei ist, hat z. B. Duden in ihrer einflussreichen Analyse von Fallgeschichten im frühen achtzehnten Jahrhundert Geschichten unter der Haut aufgezeigt. Ganz im Paradigma der Humoralpathologie nehmen Patientinnen und Arzt die Körpervorgänge als umfassende Fließbewegungen wahr. Auch Fleck stellt anhand antiker und ‚moderner‘, zeitgenössischer anatomischer Zeichnungen (und Fotografien) fest, dass diese nicht „naturgetreu“ sondern „lehrgetreu“ (Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 48) sind und Leary führt an, dass Fotografien des Gehirns im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert unterschiedlich aussehen je nachdem, welches metaphorische Rahmenkonzept der Urheber benutzt: „It is important to note that all these metaphors have had historically significant directive functions: They have directed the gaze – not to mention the theoretical and practical actions – of researchers toward different aspects of the nervous system. Indeed, it seems safe to say that as a general rule, phenomena (such as the brain) look somehow different to – and tend to be conceptualized and treated somewhat different by – possessors of different metaphorical frameworks.“ (Leary: Psyche’s muse, S. 12)

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Generatio spontanea der Begriffe, sie sind durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert. Das Gewesene ist viel gefährlicher – oder eigentlich nur dann gefährlich – wenn die Bindung mit ihm unbewußt und unbekannt bleibt.148

Der gattungsspezifische Ansatz ermöglicht es, dieses ‚Weiterleben‘ zu berücksichtigen und textnah zu zeigen, wie narrative und dramatische Konzepte sowie rhetorische Strategien Krankheit sprachlich herstellen und konstruieren und somit ‚zugänglich‘ und ‚verständlich‘ machen. Metaphorische Konzepte spielen insbesondere dann eine Rolle, wenn, wie Goethe es ausdrückt, „entschwindende[ ] Phänomene[ ]“ 149 dargestellt werden, wie es in pathologischen Vorgängen oftmals der Fall ist. Dies gilt sowohl für körperliche Krankheiten, die nur partikulär als Symptom wahrnehmbar werden, als auch für psychische Krankheiten. So bittet der Arzt Johann Christian Reil, der als Begründer der Psychiatrie in Deutschland gilt, um Verzeihung für seine „bildliche Sprache“ 150, die jedoch in der Psychologie unentbehrlich sei. Das Sprechen und Schreiben über Krankheit verläuft somit oftmals entlang der Grenze von ‚sichtbar‘ und ‚unsichtbar‘, die in das Verhältnis von Oberfläche und Innen überführt werden kann. Barbara Stafford hat auf der Basis eines diskursübergreifenden Quellenstudiums gezeigt, dass die Erforschung des Körperinneren als zentrale epistemologische Frage für das achtzehnte Jahrhundert bezeichnet werden kann: Anatomy and its inseparable practice of dissection were the eighteenth-century paradigms for any forced, artful, contrived, and violent study of depths. Metaphors of decoding, dividing, separating, analysing, fathoming permeated ways of thinking about, and representing, all branches of knowledge from religion to philosophy, antiquarianism to criticism, physiognomics to linguistics, archaeology to surgery. Analogies of dissection, specifically, functioned on two interrelated levels. The literal, corporeal sense derived from the tactile cuts inflicted by actual instruments. Digging knives, invading scissors, sharp scalpels mercilessly probed to pry apart and distinguish muscle from bone. The figurative sense played upon the allusion to violent and adversarial jabbing. […] Each suggested the stripping away of excess by decomposition and fragmentation for the purpose of control.151

Diese Hinwendung zum Inneren und Unsichtbaren ist sowohl im somatischen Sinne – Krankheit soll nicht nur an der Körperoberfläche, sondern auch im gesamten Körperraum sichtbar gemacht werden – als auch im psychischen Bereich festzustellen und als leitende Perspektive zu erkennen. Im Zuge dessen werden auch Affekte und Emotionen sowie verschiedene Vermögen und Kräfte der Seele, insbe-

148 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 31. 149 Goethe: Beiträge zur Optik und Anfänge der Farbenlehre, S. 339. 150 Johann Christian Reil: Rhapsodieen über Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrütungen. Halle 1803, S. 63. 151 Barbara Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cambridge 1993, S. 47.

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sondere die Einbildungskraft, potentiell pathologisch. Das seelische Innere wird oft erst im Krankheitsfall und somit in der Abweichung von der Normalität auf der Körperoberfläche sichtbar. Mit dem Versuch, das Innere sichtbar und damit kontrollierbar zu machen, rückt auch die Frage nach dem Bezug des Verborgenen zur Körperoberfläche in den Fokus. Sie wird dabei nicht nur im medizinischen, sondern auch in den literarischen und ästhetischen Diskursen gestellt. So beschäftigen sich zum Beispiel Schauspieltheorien im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert intensiv mit der Frage, wie bestimmte Affekte durch den Körper des Schauspielers dargestellt werden können, und in Romanpoetiken wird die Darstellung des Inneren als Hauptmöglichkeit und -aufgabe des Romans benannt.152 Zur Analyse einer ‚Sprache des Leidens‘ bietet sich diese interdiskursive Hinwendung zum Inneren des Menschen als übergeordnete Frageperspektive an: ‚Sprachen des Leidens‘ versuchen, ein verborgenes Krankes sichtbar zu machen und damit eine Differenz zu überbrücken. Dabei findet immer auch eine Interpretation statt, sei es die der Vorgänge im kranken Körperinneren oder in der leidenden Seele. Literatur und Medizin treffen sich also in einem besonderen Bezug zum Zeichen, das interpretiert werden muss.153 In der Medizin werden als Zeichen funktionierende Symptome zu einer Diagnose zusammengesetzt, womit sie zugleich in sprachliche Zeichen transformiert werden: „Das Bild der Symptome und Zufälle verwandelt sich […] vor dem Auge des Arztes in sprachliche Zeichen, die schließlich im Namen der Krankheit konvergieren.“ 154 Die Bedeutung der medizinischen Semiotik lässt sich an den zahlreichen Differenzierungen zwischen Zeichen und Symptomen (Zufällen) erkennen.155 Die Symptome sind das, was der Krankheit ‚zufällt‘, das heißt sie treten mit ihr auf. Die Zeichen verweisen auf die unsichtbaren Zustände und Wirkungen, die die Krankheit begleiten. Alle Zeichen sind dabei auch Symptome, aber nicht alle Symptome haben semiotische Bedeutung.156 152 Vgl. Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig/Liegnitz 1774; Košenina: Literarische Anthropologie, S. 69–72. 153 Vgl. zu literarischen und medizinischen Bezügen zum Zeichen auch Hubers Analyse des Themas ‚Scheintod‘: „Mit dem Thema Scheintod liegt zugleich auch hier wieder die Integration von medizinischem Wissen und Literatur nahe, kommt im Scheintod eine medizinische Problematik geradezu als Zeichenproblem zum Ausdruck. Polyvalente Deutungsmöglichkeiten sind zeichentheoretisch gesprochen die Basis von Literatur. Im Bereich der Medizin entsteht hingegen aus der Unsicherheit, die Zeichen des Todes‘ am Körper nicht eindeutig feststellen zu können, die Angst vor dem Scheintod.“ (Huber: Der Text als Bühne, S. 229) Vgl. zur Bedeutung medizinischer Semiotik um 1800 auch: Volker Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1820. Husum 1993; Wolfgang Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren. Der ärztliche Blick und die Semiotik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Inge Baxmann, Michael Franz und ders. (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 480–510. 154 Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren, S. 495 f. 155 Vgl. Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin S. 47–61. 156 Vgl. Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin, S. 54–60.

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Der Bezug zum Zeichen gilt sowohl für körperliche als auch für psychische Krankheiten.157 Der Aspekt des Pathologischen generiert dabei erst die spezifische Aufmerksamkeit, die für die Interpretation der Symptome notwendig ist. Denn der Fokus liegt auf einer Abweichung oder einem Defizit, von der oder dem aus das Unsichtbare erschlossen werden soll. Wenn die Zeichen der Krankheit nicht an der Körperoberfläche sichtbar werden, ist der Arzt zudem auf die Selbstinterpretation des Kranken angewiesen, so lobt Carl Vogel, der in Goethes letzten Lebensjahren dessen Arzt war, die Fähigkeit des Dichters zur Versprachlichung der eigenen Leiden mit einer Ausnahme: Die Gabe, seine Empfindungen dem Arzte zu beschreiben, hat wohl nicht leicht ein Kranker in höherem Grade besessen, als Goethe. Nur hinsichtlich eines einzigen Zustandes, kam hierin eine beständige Ausnahme vor. War nämlich die Gabe irgend eines sogenannten Reizmittels etwas zu stark gegriffen worden […] so pflegte er die dadurch erregte Empfindung mit den Worten zu bezeichnen: ‚Es ist ein Stillstand in meinen Functionen eingetreten.‘ Er vermochte niemals diesen Zustand deutlicher mitzutheilen.158

Das beschriebene Unvermögen Goethes, die Wirkung reizender Mittel auf seinen Körper zu versprachlichen, unterstreicht den Eindruck eines Defizites, das aus der Distanz zwischen Sprache und pathologischem Phänomen resultiert. Die Interpretation von Sprachzeichen ist ebenfalls zentraler Bestandteil des Umgangs mit Literatur. Dabei können im achtzehnten Jahrhundert sowohl der Produktions- als auch der Rezeptionsvorgang literarischer Sprache potentiell pathologisch werden. Leiden werden dann überhaupt erst durch Sprache erzeugt, wenn Zeichen falsch gesetzt oder falsch gelesen werden, das heißt, wenn die Unterscheidung zwischen dem literarischen Sprachzeichen und der ‚Wirklichkeit‘ nicht mehr gelingt. Hier sind die literarischen Künstlerfiguren, die zwischen der entworfenen künstlerischen Welt und der ‚Realität‘ nicht mehr unterscheiden können, ebenso zu nennen wie die tradierten Fälle von ‚Lesewut‘ und ‚Theatersucht‘. Wenn Produktion und Rezeption von Literatur pathologisch werden, weisen sie enge Bezüge zu zeitgenössischen Konzeptionen von Wahnsinn auf. Oliver Kohns hat in seiner Studie Die Verrücktheit des Sinns am Beispiel von Kant, Carlyle und E. T. A. Hoffmann exemplarisch einen semiotischen Wahnsinnsbegriff für die Zeit um 1800 herausgearbeitet: Wahnsinn bezeichnet in der zeitgenössischen Medizin nicht nur totale Verstandeslosigkeit, sondern häufig eine teilweise oder temporäre Störung des gesunden psychischen Zustandes.159 Die einzelnen Seelen- und Wahrnehmungskräfte stehen nicht im richtigen Verhältnis, so dass die ‚Wirklich-

157 Vgl. z. B. die Metapher vom Körper als Text oder Buch: Claudia Benthien und Mariacarla Gadebusch: Körper und Buch. In: Ulrike Zeuch (Hg.): Haut zwischen 1500 und 1800. Verborgen im Buch, verborgen im Körper. Wiesbaden 2003, S. 85–130. 158 Carl Vogel: Die letzte Krankheit Goethes. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 76, 2. St. (1833), S. 29. 159 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 127 f.

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keit‘ fehlerhaft angezeigt wird. Wahnsinn erscheint als eine ‚Verrückung‘ des als gesund und normal angesehenen Wahrnehmens.160 ‚Verrückung‘ bezeichnet nach Kant die „Eigenschaft des Gestörten, nach welcher er […] gewohnt ist, gewisse Dinge als klar empfunden sich vorzustellen, von denen gleichwohl nichts gegenwärtig ist“ 161. Wie Kohns herausarbeitet, etabliert Kant damit einen semiotischen Begriff von Wahnsinn, der beinhaltet, dass die Vorstellung von etwas mit der Sache verwechselt wird.162 Diese pathologische Wirkung der Einbildungskraft, die in einem Bezeichnungsfehler resultiert, beschreibt auch Platner und unterlegt sie mit einer physiologischen Erklärung. Er unterscheidet zwischen Empfindungsimpressionen, die von den Sinnen vorgestellt werden, also ihren Ursprung in der Realität haben, und Eindrücken des Gedächtnisses sowie der Einbildungskraft, die somit nicht unmittelbar ‚real‘ sind. Erregen letztere den gleichen Bewegungsgrad der Lebensgeister im Gehirn wie die Empfindungen, das heißt die Sinneswahrnehmungen, werden abwesende Dinge für real gehalten, was Platner als pathologische Störung wertet: Wenn die Eindrücke […] des Gedächtnisses oder der Einbildungskraft, mit eben dem Grade der Bewegung der Lebensgeister im Gehirnmark erregt werden, welche den Empfindungsimpressionen eigen ist […], so halten wir abwesende Objekte für gegenwärtig. Dies sieht man in Affekten, in der Melancholie, Raserey u. s. f.163

Wahnsinn ist somit „eine Krankheit des Zeichenvermögens, des Bezeichnens und also des Zeichens“ 164. Ursache dieser Pathologie ist die Einbildungskraft, durch welche die Wirklichkeit immer weiter vervielfältigt werden kann. Aus solchen Pathologien der Einbildungskraft lassen sich Diagnosen wie ‚Lesewut‘ und ‚Theatersucht‘ erklären, deren Ursache die besondere Affinität der literarischen Sprache zur Einbildungskraft ist, die sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch zu sehen ist. Der Einbildungskraft kommt dabei eine ambivalente Position zu, denn zum einen ist sie für die Produktion moderner, von moralischen, didaktischen und religiösen Bedingungen unabhängiger Literatur und ebenso für die Rezeption und den Konsum derselben entscheidend und zum anderen gefährdet sie die Gesundheit sowohl des Dichters als auch der Literaturkonsumenten, da ihr Wirken immer bereits auch an der Grenze zum Pathologischen steht. Diese Verknüpfung nimmt

160 Vgl. Oliver Kohns: Die Verrücktheit des Sinns. Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E. T. A. Hoffmann und Thomas Carlyle. Bielefeld 2007, S. 57–60. 161 Immanuel Kant: Versuch über die Krankheiten des Kopfes. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 1: Vorkritische Schriften bis 1768, hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1966, S. 894 (auch zitiert in: Kohns: Verrücktheit des Sinns, S. 58). 162 Vgl. Kohns: Verrücktheit des Sinns, S. 59 und S. 328. 163 Platner: Anthropologie, S. 90. 164 Kohns: Verrücktheit des Sinns, S. 59.

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den alten Topos des Dichterwahnsinns auf und verbindet ihn mit zeitgenössischen Diskursen über die Einbildungskraft.165 Die Einbildungskraft steht als eine von verschiedenen Seelenkräften oder -vermögen im Blickpunkt zeitgenössischer medizinisch-anthropologischer aber auch ästhetischer Diskurse, die sich dem sogenannten fundus animae zuwenden.166 Die Funktionen, die der Einbildungskraft zugesprochen werden, bestehen, vereinfacht gesagt, darin, dass sie etwas nicht unmittelbar sinnlich Präsentes ‚vorstellt‘. Damit übernimmt sie wichtige Erinnerungsfunktionen, wird aber auch für die Produktion und Rezeption von Dichtung unabdingbar. Die pathologische Wirkung der Einbildungskraft entsteht, wie die zuvor aufgeführten Zitate zeigen, wenn sie so stark wird, dass Einbildungen für Realität gehalten werden. Diese Wirkung wird dabei, wie das Platnerzitat unterstreicht, als psycho-physiologisch fehlerhafte Wahrnehmungsverarbeitung gedacht. Im gesunden Zustand müssen die Kräfte der Seele analog zu denen des Körpers im Gleichgewicht sein. Die zeitgenössische Anthropologie, Medizin und Psychologie nehmen neben der Einbildungskraft verschiedene andere Seelenkräfte wie die ‚Besonnenheit‘, ‚Aufmerksamkeit‘ und das ‚Selbstbewusstsein‘ beziehungsweise ‚Selbstgefühl‘ an. Insbesondere letzteres ist um 1800 in philosophischen, medizinischen, psychologischen und literarischen Diskursen eine zentrale Kategorie.167 In Platners Anthropologie und Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode wird das ‚Selbstgefühl‘ beziehungsweise das ‚Selbstbewusstsein‘ als Kraft oder Vermögen konzipiert, das die personale Einheit und die funktionierende Wahrnehmung des eigenen Ichs im Kontext, aber auch in Abgrenzung zur Umwelt sichert, indem es Wahrnehmung in seine zeitliche und räumliche Beziehung zum eigenen Ich ordnet und zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet.168 In Rückbezug auf die semiologische Konzeption des Wahnsinns heißt das, zeichentheoretisch gesprochen, dass das ‚Selbstbewusstsein‘ garantiert, dass die Zeichen richtig gesetzt werden. Die oben genannten Diagnosen von ‚Lesewut‘ und ‚Theatersucht‘ beruhen hingegen auf Vorstellungen von durch Literatur ausgelöste Bewusstseinsüberschreitungen oder -übertragungen.169 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wirkung von Medien, die bei der Frage nach gattungsspezifischen Krankheitsdarstellungen eine wichtige Rolle spielt. Wenn Leseprozesse und Theaterbesuche Krankheit auslösen können, wird die Medialität von Literatur scheinbar überschritten.170 Wir165 Vgl. Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936). Tübingen 2009, S. 19 f. 166 Vgl. Adler: Fundus Animae, S. 197–220. 167 Vgl. Huber: Der Text als Bühne, S. 146–156. 168 Vgl. Platner: Anthropologie, S. 13; Reil: Rhapsodieen, S. 53. 169 Vgl. Huber: Der Text als Bühne, S. 17 f. 170 Vgl. dazu: Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 2005, S. 251–273. Vgl. auch Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die

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kungsästhetische Kategorien wie ‚Katharsis‘, ‚Sympathie‘, ‚Rührung‘ aber auch ‚Lachen‘, operieren dabei mit medizinischen Konzepten.171 Dies gilt auch, wie Cornelia Zumbusch gezeigt hat, für Programme der bewussten Abhärtung gegen bestimmte Affekte, die auf die Freiheit von etwas zielen und in der Weimarer Klassik mit Impfmetaphern beschrieben werden.172 Es ist daher zu fragen, wie unsichtbare Übertragungen zwischen Körpern, Seelen und Texten innerhalb verschiedener Gattungen und in der Rezeption einzelner Texte thematisiert und dargestellt werden. Für die gattungsspezifische Untersuchung von Krankheitsdarstellung ist somit zusammenfassend der besondere Bezug von Medizin und Literatur zur Produktion und Interpretation von Zeichen festzuhalten. Dabei wurde die Verbindung mit den zeitgenössischen Konzepten der Einbildungskraft und des Selbstbewusstseins als wichtige Frageperspektive etabliert. Damit hängt ferner die Frage nach der Wirkung von Krankheitsdarstellungen eng zusammen und lässt sich mit dem Thema der Rezeption verbinden. Diese Aspekte sollen als inhaltliche Eckkategorien des Untersuchungsfokus genutzt werden.

1.4 Textauswahl und Vorgehen Die Medizin ist um 1800 ein heterogenes Wissensfeld und sowohl in der Praxis als auch in der Theorie Umbrüchen unterworfen. Foucault hat diese Entwicklungen als „Geburt der Klinik“ 173 bezeichnet. Die Transformationsprozesse sind aber vor allem von Uneinheitlichkeit gekennzeichnet, so dass von einer Gleichzeitigkeit verschiedener Paradigmen gesprochen werden kann, die sowohl alte und neue medizinische Konzepte als auch miteinander kontrastierende neue Vorstellungen betrifft.174 Die Wahrnehmung vom Menschen – vom Körper und von der Seele, von

Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987; Hermann Korte: „Meine Leserei war maßlos“. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007. 171 Vgl. z. B. Helmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung. In: Hermes 84 (1956), S. 12–48; Fortunat Hoessly: Katharsis: Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum. Göttingen 2001; Heinz Schott: Sympathie als Metapher in der Medizingeschichte. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 10 (1992), S. 107–127; Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002; dies.: Die Seele als Zuschauerin. Zur Psychologie des „movere“. In: Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999, S. 91–108 172 Vgl. Cornelia Zumbusch: Immunität der Klassik. Berlin 2011. 173 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, aus dem Französischen von Walter Seitter. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. 174 Vgl. Heinz Schott: Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 343.

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dem, was normal und gesund und damit auch krank ist – verändert sich, ist aber keinesfalls einheitlich. Einerseits beginnen Organ- und Nervenpathologie die jahrtausendealte Humoralpathologie abzulösen und der Gefäßleib wird in einen neuronalen Organismus umgewandelt,175 so dass zahlreiche Krankheiten mit Störungen des Nervensystems erklärt werden. Die anatomische Pathologie ermöglicht auf breiterer Basis als zuvor den Blick in das Körperinnere. Andererseits bleiben humoralpathologische Krankheitsbilder und Heilsysteme dominant und sind insbesondere in der Praxis weiterhin vielfach handlungsleitend.176 Die Neumodellierungen des menschlichen Körper-Seele-Raums orientieren sich dabei an verschiedenen Konzepten wie beispielsweise Mechanismus, Elektrizität, Vitalismus, Brownianismus, animalischem Magnetismus oder Erfahrungsseelenkunde. Einflussreich ist insbesondere die Vorstellung einer ‚Lebenskraft‘, die die gesamte belebte Natur durchzieht, mit der darauf reagiert wurde, dass die von Descartes und La Mettrie beeinflussten mechanistischen Paradigmen viele Phänomene des Organischen wie Fortpflanzung, Selbstbewegung und Regeneration nicht erklären konnten.177 Gleichzeitig sind auch weiterhin magische, alchimistische und naturphilosophische Vorstellungen einflussreich.178 Die zahlreichen theoretischen Modelle und die verbreitete positivistische Ausrichtung der Medizin führen zu einem „medizinische[n] Eklektizismus“ 179, dem die romantisch-naturphilosophische Medizin, für die insbesondere Schellings Naturphilosophie wichtig ist, entgegenzuwirken versucht, indem sie die vereinzelten Annahmen und empirischen Beobachtungen unter einem gemeinsamen theoretischen Dach vereinen will.180 Die Neumodellierungen um 1800 betreffen nicht nur den menschlichen Körper, auch die Seele und deren Verhältnis zum Körper geraten in den Blickpunkt. Verschiedene Modelle wie das Seelenorgan oder Fluidaltheorien versuchen dabei die Verbindung von Körper und Seele ‚natürlich‘ und innerhalb des Menschen zu erklären.181 Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert kommt es daher zu einer Art

175 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 151. 176 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 343. 177 Vgl. Klaus Bergdolt: Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München 1999, S. 278 f. 178 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 332. 179 Bergdolt: Leib und Seele, S. 294. 180 Vgl. Werner E. Gerabek: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzburger Periode. Frankfurt a. M. 1995. Huch prägte den Begriff „romantische Medizin“ (Ricarda Huch: Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall. Tübingen/Stuttgart 1951, S. 616). 181 Vgl. zu Fluidaltheorien um 1800 exemplarisch: Schmaus: Psychosomatik, S. 1; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 101–107; vgl. zur Suche nach dem Seelenorgan: Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Darmstadt 1997; Stafford: Body Criticism, S. 433 f.; Albrecht Koschorke: Poiesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin.

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‚Naturalisierung‘ der Seele, die materiell und physiologisch begründet wird. In der Romantik finden sich hingegen Versuche, die physiopsychischen Erklärungen mit metaphorischen Enträumlichungen der Seele zu verbinden.182 In der Auseinandersetzung um rationale oder empirische Evidenz der Seele rückt dabei insbesondere die kranke Seele in den Blick. Die Interpendenz von Seele und Körper wird sehr eng gedacht: Seelische und körperliche Leiden können sich gegenseitig verursachen und verstärken. Ein großer Teil medizinischer Fragestellungen richtet sich auf diätetische Aspekte und Auffassungen.183 Krankheit wird zum Anlass, über das ‚richtige‘ oder ‚gute‘ Leben nachzudenken. In diätetischen Gattungen werden Überlegungen über Krankheit mit Anweisungen für ein gesundes und moralisches Leben verbunden, wobei vielfach ein Ideal des ‚Maßhaltens‘ und der ‚Mitte‘ formuliert wird, über das in besonderem Maße interdiskursive Inhalte – insbesondere aus moralischen und religiösen Diskursen – transportiert werden können. Im Folgenden soll nicht eine bestimmte Krankheit im Zentrum stehen, sondern ausgehend von der Annahme, dass die schriftlich-sprachliche Artikulation als Schnittmenge von medizinischem und literarischem Diskurs gesehen werden kann, die Frage nach der sprachlichen Diskursivierung von Krankheit. Dies ermöglicht es, die Darstellung so unterschiedlicher Krankheiten wie Bleichsucht, Catharrhalfieber, Wurmfieber, Hypochondrie, Melancholie oder Wahnsinn zu untersuchen. Dabei kann und soll kein umfassender medizinhistorischer Überblick gegeben werden.184 Im Zusammenhang mit den einzelnen Textanalysen werden einige Krankheiten zum besseren Verständnis genauer erläutert, nicht um eine ‚Übersetzung‘ einer bestimmten Krankheit in Textform anzunehmen, sondern damit klar wird, an welchen Diskursen der einzelne Text partizipiert. Die Diskurse von Krankheit werden um 1800 in einer Vielzahl von Gattungen artikuliert. Die vorliegende Studie kann selbstverständlich keine vollständige Analyse aller Gattungen leisten, in denen Krankheit thematisiert wird. Die besprochenen Texte sind Beispiele, welche nach der Durchsicht eines weitaus umfangreicheren Quellenmaterials für repräsentativ gehalten werden können. Das Textkorpus

In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 265 f. 182 Vgl. Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/Boston 2012, S. 8. Vgl. zur ‚Naturalisierung‘ der Seele: Robert Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung. Zur Entstehung der modernen psychologischen Fallgeschichte, 1750–1800. In: Jahrbuch Literatur und Medizin, hg. von Bettina Jagow und Florian Steger. Bd. II. Heidelberg 2008, S. 24; Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 93–157; Schmaus: Psychosomatik, S. 54. 183 Vgl. Bergdolt: Leib und Seele, S. 251–257 und S. 265–272. 184 Vgl. dazu beispielsweise: Bergdolt: Leib und Seele und die Anthologie von Schott: Der sympathetische Arzt. Beide Übersichten stellen die Uneinheitlichkeit und Vielfalt der medizinischen Heilsysteme und Praktiken heraus.

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und die damit verbundenen Themenschwerpunkte und Gliederungsaspekte sollen im Folgenden kurz skizziert werden.185 Die Studie trägt im Titel den Ausdruck um 1800 und bezieht sich dabei auf einen Zeitraum von ungefähr 1770 bis 1830. Die Zeit kann als Übergangsphase in der Wissenschafts- und Literaturentwicklung gelten, in der viele Prozesse ihren Anfang nehmen, die das Verständnis von Wissen bis heute prägen.186 Die Zeiteinteilung ermöglicht es zudem, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Krankheitsdarstellung in Aufklärung, Klassik und Romantik jenseits fixierter Epocheneinteilungen herauszuarbeiten. Die Arbeit ist in vier Untersuchungsteile gegliedert: Der erste Teil Vorläufige Leiden analysiert Texte, die dem medizinischen Diskurs entstammen, und die Gattungsvielfalt andeuten, in der die Diskurse von Krankheit resultieren. Der zweite Teil Fallleiden beschäftigt sich mit verschiedenen Formen von Fallgeschichten und leitet dann zur Erzählliteratur um 1800 über, die im dritten Teil Erzählte Leiden im Fokus steht, bevor im letzten Untersuchungsteil Gespielte Leiden die dramatische Darstellung von Krankheit untersucht wird. Im Gegensatz zu den letzten drei Untersuchungsteilen steht im ersten nicht ein Gattungsformat im Mittelpunkt: Die Transformationen, Veränderungen und Umbrüche im Diskurs vom kranken Menschen verlangen nach vielfältigen sprachlichtextuellen Ausdrucksmöglichkeiten zur Diskussion, Festlegung, Hinterfragung und Inszenierung des Wissens über Krankheit. Im medizinischen Bereich findet man Gattungen, die auf einen Überblick über die Krankheiten zielen – etwa Handbücher, Abhandlungen, Lehrsätze, Systeme oder Semiotiken –, in denen Krankheitswissen festgehalten und umfassend systematisiert werden soll. Diesen Gattungen stehen Formate gegenüber, die Partialität, Kontingenz und Vorläufigkeit implizieren und zum Programm erheben. Diese stammen, wie das Fragment (siehe Kap. 2.1) oder die Rhapsodie (siehe Kap. 2.2), aus dem literarisch-künstlerischen Bereich oder imitieren philosophische Schreibformen sowie wissenschaftliche Wahrnehmungs- und Arbeitsweisen wie den Versuch (siehe Kap. 2.3). Hierbei handelt es sich um wenig konventionalisierte und poetologisch kaum reflektierte Textgruppen, die sich vielfach in Journalen finden lassen. In diesen Texten wird eine vorläufige Ordnung von Wissen über bestimmte Krankheiten erstellt, die noch auf zukünftige Bearbeitungen angewiesen ist. Diese Gruppe von Gattungen soll im ersten Untersuchungskapitel Vorläufige Leiden in den Blick genommen werden. Gemeinsames

185 Als Textgrundlage werden entweder Erstausgaben oder historisch-kritische Textfassungen verwendet. Zeichensetzung und Orthographie werden übernommen, ohne jeweils durch ein ‚sic‘ darauf hinzuweisen. Falls nicht anders gekennzeichnet, folgen alle Hervorhebungen dem Original. Eckige Klammern kennzeichnen meine Auslassungen oder Ergänzungen. Aus Gründen besserer Lesbarkeit wird die männliche Form verwendet, außer wenn sich Konzepte und Texte überwiegend oder ausdrücklich auf Frauen beziehen. Kürzel und anonyme Beiträger insbesondere in zeitgenössischen Zeitschriften wurden nach Möglichkeit aufgelöst. 186 Vgl. Thomas Lange und Harald Neumeyer: Einleitung: Kunst und Wissenschaft um 1800. In: dies. (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 7.

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Merkmal dieser unterschiedlichen Gattungen, so die Argumentation, ist ‚Vorläufigkeit‘, durch die eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur etabliert wird, die sowohl den Blick auf die Krankheit und das Wissen von Krankheit als auch auf die rhetorischen Mittel der Darstellung einschließt, also bis auf die Wortebene nachvollzogen werden kann. Gerade ihre ‚schwache‘ Konventionalisierung ermöglicht es, nach der Funktion der Gattungszuordnung bei der Darstellung und Herstellung von Krankheit zu fragen. Die Texte sind zudem so gewählt, dass sich an ihnen zentrale Entwicklungen im medizinischen Diskurs identifizieren lassen. Die vorliegende Arbeit verzichtet auf die Analyse von Überblicksdarstellungen bestimmter Krankheiten beispielsweise in Handbüchern und Systemen, da die Analyse der ‚vorläufigen‘ Gattungen es besser ermöglicht, die Versprachlichung der Umbrüche medizinischen Wissens zu fokussieren. Ein Vergleich der hier analysierten Gattungen mit stärker konventionalisierten medizinischen Gattungen muss späteren Studien vorbehalten bleiben. Ein Großteil der medizinischen Literatur um 1800 ist kasuistisch geprägt und ausgerichtet. Der ‚Fall‘ kann als das dominierende Ordnungs- und Wahrnehmungsprinzip von Krankheit bezeichnet werden. In der Anthropologie und Medizin des achtzehnten Jahrhunderts werden Erfahrung und Empirie, Fakt und Tatsache zu Idealen bei der Wissensproduktion, während übergeordneten Theorien mit starkem Misstrauen begegnet wird.187 Fallbeobachtungen scheinen dem entsprechen zu können, da sie mit dem Anspruch geschrieben werden, empirische Beobachtungen zu verschriftlichen. Gleichzeitig ist der ‚Fall‘ aber immer auf etwas Allgemeines hin ausgerichtet, ihm wird dadurch die rhetorische Funktion der Evidenz zugewiesen. Fallbeschreibungen sind somit ebenfalls vorläufige Ordnungen von Wissen, das auf ihnen aufgebaut wird. Die Sammlung und Zirkulation von Fallgeschichten wird medienhistorisch durch das gehäufte Vorkommen von Zeitschriften und Journalen begünstigt, in denen sie veröffentlicht werden.188 Anhand von Christoph Wilhelm Hufelands Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst (siehe Kap. 3.1), Karl Philip Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (siehe Kap. 3.2) und Carl August Eschenmayers Archiv für den thierischen Magnetismus (siehe Kap. 3.3), die exemplarisch für das um 1800 einflussreiche Medium Zeitschrift stehen können, werden Beispiele von Fallgeschichten untersucht. Dabei werden aus Hufelands Journal Fälle fokussiert, in denen körperliche Krankheiten beschrieben sind, während Moritz’ Magazin eine Sammlung psychologischer Fallgeschichten ist. Im Archiv hingegen werden Fälle magnetischer Behandlungen veröffentlicht,

187 Vgl. Guido Flatten: Die Entwicklung eines ganzheitlichen Bildes des Menschen in der Heilkunde der Romantik und seine Bedeutung für die Gegenwart. Herzogenrath 1990, S. 14. 188 Vgl. zu diesen medienhistorischen Hintergründen: Sheila Dickson: Die internationale Rezeption der Fallgeschichten im Magazin. In: dies., Stefan Goldmann und Christof Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz.“ Zu den Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793). Göttingen 2011, S. 258 f.; Pethes: Ästhetik des Falls, S. 20 f.

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die stärker als die Beispiele aus den anderen beiden Zeitschriften bereits auf ein theoretisches Rahmenkonzept hin ausgerichtet werden. Die Fallbeschreibungen haben somit in den drei Zeitschriftenprojekten unterschiedliche Funktionen und es ist zu fragen, wie diese rhetorisch und narrativ umgesetzt werden. Fallbasiertes Schreiben liegt auch vielen literarischen Werken als Wahrnehmungsstruktur zugrunde.189 In der Erzählliteratur um 1800 ist Krankheit ein häufiges Thema und der Roman entwickelt sich in enger Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Anthropologie und Psychologie. Goethes Werther kann als tödliche Psychopathologie gelesen werden.190 Moritz’ Anton Reiser wird in Auszügen bereits im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde abgedruckt. Der ‚psychologische Roman‘ folgt dem Protagonisten von der Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter und beschreibt dabei mehrere psychopathologischen Leiden wie Lesesucht, Theaterleidenschaft und Hypochondrie.191 Johann Karl Wenzels Wilhelmine Arend oder die Gefahren der Empfindsamkeit liefert eine minutiöse Darstellung des Übergangs von einer zu starken Empfindsamkeit in eine tödliche Melancholie der Titelheldin.192 In Jean Pauls Werk ist Krankheit ein häufiges Thema, das empfindsam leidende Frauenfiguren ebenso umfasst wie die satirische Behandlung bestimmter Ärztefiguren.193 Auch Traum, Somnambulismus und Wahnsinn sind beliebte Themen der Erzählliteratur und werden beispielsweise bei Ludwig Tieck (Wilhelm Lovell), August Klingemann (Nachtwachen), Achim von Arnim (Die Majoratsherren) und E. T. A. Hoffmann (z. B. Der Magnetiseur, Kreisleriana, Serapionsbrüder)194 dargestellt und dabei häufig mit Fragen nach künstlerischer Inspiration und Schaffenskraft verknüpft. Diese unvollständige Zusammenstellung zeigt, dass die Textauswahl in dem dritten Untersuchungsteil Erzählte Leiden notwendigerweise exemplarisch bleiben muss. Es wird keine vollständige Besprechung aller möglichen Thematisierungen von Krankheit angestrebt, da die Arbeit hier auf existierende Forschungsleistungen

189 Vgl. Alexander Košenina: Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion. Vorwort. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 19.2 (2009), S. 283; Pethes: Ästhetik des Falls, S. 21. 190 Vgl. Richard Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Wolfenbüttel 1999; Košenina: Literarische Anthropologie, S. 74–77. 191 Vgl. Košenina: Literarische Anthropologie, S. 78–84. 192 Vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum Roman der Spätaufklärung. Berlin 1996, S. 214–238. 193 Vgl. Gabriele Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet. Leib-seelische Fügungen in Liebesgeschichten um 1800. Bielefeld 2002; Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt. Freiburg 1999. 194 Vgl. z. B. Friedhelm Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel. E. T. A. Hoffmanns Poetisierung der Kunst. Opladen 1986; Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierungen des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995; Henriett Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“. E. T. A. Hoffmanns Werk im Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde. Würzburg 2001; Košenina: Literarische Anthropologie, S. 193–206.

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zurückgreifen kann.195 Stattdessen wird durch die Frage nach der gattungsspezifischen Darstellung von Krankheit das Verhältnis von Erzählstimmte und -haltung zur Krankheit fokussiert. Dafür werden drei narrative Wahnsinnsdarstellungen – Christian Heinrich Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen (siehe Kap. 4.1), Jean Pauls Leben des Quintus Fixleins (siehe Kap. 4.2) und E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (siehe Kap. 4.3) – untersucht, an denen auch ein Paradigmenwechsel der literarisch-ästhetischen Darstellung des kranken Inneren deutlich wird. Hierfür spielen insbesondere die bereits genannten zeitgenössischen Konzepte der Einbildungskraft und des Selbstbewusstseins eine wichtige Rolle. Gerade ihr Verhältnis zum Narrativen ist zentral für die Untersuchung der Rolle der Gattung. Die Texte sind dabei unter dem Oberbegriff ‚Erzählen‘ zusammengefasst, sollen aber innerhalb des Untersuchungsteils auch auf weitere differenziertere Gattungsspezifika hin untersucht werden. Im Kapitel Gespielte Leiden wird die dramenspezifische Darstellung und Herstellung von Krankheit fokussiert. Dramatische Gattungen in ihrer langen europäischen Tradition haben ein stark konventionalisiertes Gattungswissen. Die Zusammenhänge von Wirkungsästhetik und Leidensdarstellungen werden im Kapitel 5.1 Bühnenleiden anhand von Johann Jakob Engels Mimik, der Diskussion von Herder und Lessing über die Schmerzinszenierung in Sophokles’ Philoktet sowie Franz Anton Mais Abhandlung über die „Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten“ untersucht. Hier zeigt sich, wie neue anthropologische und medizinische Konzepte die Gattung beeinflussen und gleichzeitige deren ‚Wissen‘ die Darstellungsoptionen von Krankheit bestimmt. In der Komödie muss ein Leiden inszeniert werden, das zum Lachen anregt, was anhand sogenannter ‚Hypochonderkomödien‘ aus der Zeit um 1800 analysiert wird (siehe Kap. 5.2). Die Tragödie befasst sich seit jeher mit leidvollen Ausnahmezuständen des Menschen. Gerade in diesem Zusammenhang wird anhand von Goethes Torquato Tasso (siehe Kap. 5.3) und Kleists Prinz Friedrich von Homburg (siehe Kap. 5.4) aber gefragt, inwiefern neue psychomedizinische Konzepte mit diesem Wissen der Tragödie in Konflikt geraten und die Gattung verändern. Als übergeordnete Perspektive funktioniert bei der Analyse dieser Dramen die Frage, wie ein unsichtbares Leiden inszeniert wird und welches ‚Wissen‘ der Gattung dabei zur Darstellung dieser Krankheiten genutzt wird. Die Rollenstruktur des Dramas scheint die Darstellungsoptionen zu begrenzen, stellt aber zugleich spezifische Beobachtungsperspektiven zur Verfügung. Um die Funktion von Krankheit und Leiden in der jeweiligen spezifischen Texturierung verschiedener Gattungen zu untersuchen, sind textnahe Analysen notwendig, weshalb die Arbeit den Charakter mehrerer Fallstudien hat. Die einzelnen Analysen werden am Leitfaden der gattungsspezifischen Fragestellung verknüpft. 195 Vgl. die Anmerkungen 190–194 sowie z. B. Rita Wöbkemeier: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990; Meike Hillen: Die Pathologie der Literatur. Zur wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt a. M. 2003; Jagow/Steger (Hg.): Jahrbuch Literatur und Medizin. Bde. I–V.

2 Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie Die Neuerungen in der Medizin und Anthropologie verlangen nach schriftlichen Repräsentationsformen, die das behandelte Wissen als neu kennzeichnen und zugleich an Altes anschließbar machen. Gerade im medizinischen Diskurs haben Gattungsformate Konjunktur, deren Namen ‚Vorläufigkeit‘ und ‚Übergang‘ evozieren. Die Gattungsbezeichnungen schließen dabei an literarische und philosophische Gattungsformate wie das ‚Fragment‘ oder die ‚Rhapsodie‘ an, imitieren wissenschaftliche Praktiken wie ‚Beobachtung‘ oder ‚Versuch‘ oder implizieren einen fortlaufenden Diskurs, den sie durch ‚Gedanken‘, ‚Beiträge‘, ‚Nachrichten‘, oder ‚Bemerkungen‘ mitkonstituieren. Der Eindruck des Verzichts auf Anschluss an bestehende Systeme wird dadurch unterstrichen, dass diese Textformen insbesondere in Zeitschriften erscheinen. Hufeland schreibt im Vorwort zum zweiten Band seines Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, das von 1795 bis 1843 erscheint, dass sein Journal ein „Archiv von Thatsachen, von Erfahrungen über Krankheiten und Wirkung der Mittel […], so viel wie möglich frey von Hypothesen, Systemen und Kuren a priori“ 1 sein soll. Die Medizin solle sich ausschließlich an durch die Natur gemachten Erfahrungen orientieren. Während Hufelands Journal damit auf den praktischen Bereich der Medizin zielt, hofft Reil, mit seinem Archiv für die Physiologie (1795–1815) die Grundlage für eine Arzneikunde zu legen, die von der reinen empirischen Beobachtung zu einem wissenschaftlichen System übergeht: Nachdem uns ein zweckmässiger Plan vorgezeichnet ist, müssen wir anfangen nach logischen Regeln Versuche zu machen, und aus den gefundenen Resultaten allgemeine Gesetze entlehnen. Nicht durch Vernünfteleyen und Hypothesen können wir die Geheimnisse der Natur ergründen, sondern sie will, dass wir sie in ihren stillen Werkstätten beobachten sollen.2

Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung ähnelt Reils Wissenschaftsprogrammatik der Hufelands, insofern die Beobachtung der Natur, die Ausrichtung an der empirischen Erfahrung, die Reil als das Sammeln von „Bruchstücken“ 3 bezeichnet, anstelle metaphysischer Spekulationen oder vorgängiger Systeme im Zentrum seiner Zeitschrift stehen sollen. Mit dem Archiv-Konzept, das Hufeland und Reil benutzen, um die Funktion ihrer Zeitschriften zu verdeutlichen, rekurrieren beide auf ein au-

1 Hufeland: [Vorrede]. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 2, 1. St. (1796), S. 1. Trotz Hufelands empirischen Anspruchs gibt es auch im Journal verschiedene Ansätze zur Theoriebildung: Vgl. dazu Günther Holthausen: Bildung medizinischer Theorie im HufelandJournal. Heidelberg 1982. 2 Johann Christian Reil: An die Professoren Herrn Gren und Herrn Jakob in Halle. In: Archiv für die Physiologie, Bd. 1 1. Heft (1795), S. 6. 3 Reil: An die Professoren Herrn Gren und Herrn Jakob in Halle, S. 3.

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Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie

ßertextliches Sammlungs- und Ordnungsraster, das Tätigkeitsfelder wie ‚Sammeln‘, ‚Aufbewahrung‘ und ‚Nutzbarmachung‘ umfasst. Die Archivierung von Wissen über Körper, Seele und Krankheit dient als Schritt zu einem ‚besseren‘ und ‚umfassenden‘ Wissen. Hufeland und Reil geben hier ein Set von Wissenschaftsregeln vor, die sich vergleichbar auch in anderen Texten finden und die das Schreiben über Krankheit vorbestimmen. Die Gattungsbezeichnung kann dazu beitragen, dieser Wissensprogrammatik zu entsprechen, indem durch sie die Perspektive bestimmt wird, die auf die behandelte Krankheit etabliert wird. Die Funktionen, die sich aus den Gattungsbezeichnungen und den ihnen inhärenten Ordnungs- und Wahrnehmungsrastern für die Krankheitsdarstellung ergeben, werden im Folgenden fokussiert. Die Art, wie Krankheit wahrgenommen wird, wird durch die Vorläufigkeit beeinflusst, welche die Gattungsformate implizieren. Die Texte schreiben sich in bestimmte, den Gattungsbezeichnungen inhärente Semantiken ein. Die Vielzahl der überlieferten Texte macht es dabei unmöglich, auf Vollständigkeit zu zielen, anhand der ausgewählten Texte lassen sich aber zentrale Entwicklungen und Themen des medizinischen Diskurses um 1800 identifizieren, auf die im Verlauf der Arbeit zurückgegriffen wird. Dazu gehören Geschlechtskrankheiten, Epidemien, Geistes- oder Seelenkrankheiten, Neuropathologie und animalischer Magnetismus. Zuerst werden zwei als ‚Bruchstück‘ und ‚Fragmente‘ bezeichnete Texte aus Hufelands Journal untersucht, die sich in ein poetisches (und philosophisches) Gattungsformat einschreiben und anhand derer sich zugleich dominante Wahrnehmungsstrukturen von Krankheit um 1800 identifizieren lassen. Auch Reils Rhapsodieen, die anschließend fokussiert werden, rekurrieren auf poetisch-philosophische Schreibformen. Sie thematisieren die um 1800 vielfach in den Blick genommenen seelischen Krankheiten und ihre Wechselwirkungen mit dem Körper. Anschließend werden mit zwei ‚Versuchen‘ Texte in den Blickpunkt gerückt, die sich ebenfalls an philosophische Schreibweisen, aber auch an experimentelle Arbeitsweisen anlehnen.

2.1 Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System In den eingangs zitierten Vorreden zu ihren Zeitschriften sprechen Hufeland und Reil auch dem ‚Fragmentarischen‘ oder ‚Bruchstückhaften‘ Erkenntniswert zu und stellen es in den Dienst der zunehmenden Wissensproduktion über Krankheit, Körper und den ganzen Menschen. Fragment oder Bruchstück bezeichnen ursprünglich unvollständig überlieferte Kunstwerke oder Texte insbesondere aus der Antike.4 Ab

4 Vgl. Justus Fetscher: Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2001, S. 552 und S. 555 f.

Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System

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der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gewinnt das Fragment neue erkenntnistheoretische Dimensionen zum Beispiel bei Hamann, Herder und Lessing. In verschiedenen Wissensdiskursen – darunter auch dem medizinischen5 – werden Texte als Fragmente bezeichnet. So stellt Fletcher für den Zeitraum von 1778 bis 1788 über 100 Titel fest und sieht den Zeitraum zwischen 1767 und 1806 als Höhepunkt der Fragment-Publizistik.6 Bereits vor der Romantik, in der eine eigene Theorie des literarischen Fragments entsteht,7 werden Texte somit bewusst und von vorneherein fragmentarisch angelegt, während nicht vollständig überlieferte Texte und Kunstwerke durch die Überlieferung erst fragmentarisch werden, aber ursprünglich zu einem Ganzen gehört haben. Die Kategorie des ‚Ganzen‘ bleibt jedoch auch für die bewusst hergestellten Fragmente virulent, da das Fragmentarische immer zugleich den Bezug zu einem Ganzen impliziert, so dass die Relation von Einzelnem und Ganzen zum Gattungswissen des Fragments gezählt werden kann. So schreibt Eberhardt Ostermann, dass die „Metapher des Fragments […] als verdeckte Totalitätskategorie“ angesehen werden könne, „da sie die Vorstellung des Ganzen auf latente Weise mitreflektiert“ 8. Es gilt daher im Folgenden zu fra-

5 Vgl. für den medizinischen Bereich z. B.: F.: Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzeneygelahrtheit (1776), S. 336–338; Melchior Adam Weikard: Medizinische Fragmenten und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1791; Christian Gottlieb Gumpert: Asclepiadis Bithyni Fragmenta. Vinariae 1794; Johann Ernst Wichmann: Johann Georg Zimmermann’s Krankheits-Geschichte: Ein biographisches Fragment für Aerzte bestimmt. Hannover 1796; Gottlieb Hoffmann: Die Kunst aus dem Gesichte Krankheiten zu erkennen und zu heilen: Ein semiologisches Fragment. Aus dem Lateinischen von Gottlieb Hoffmann. Frankfurt/ Leipzig 1797; Johann Joachim Schmidt: Versuch über die psychologische Behandlungsart der Krankheiten des Organs der Seele: Ein Fragment zu einem künftigen System dieser Krankheiten. Hamburg 1797; Henning Johann Georg Friedrich: Medicinische Fragmente aus meiner Erfahrung gezogen. Zerbst 1799; Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Heidelberg 1810. 6 Vgl. Fetscher: Fragment, S. 556 f. Hier wird eine Tradition des Fragmentarischen deutlich, die bereits vor der Romantik besteht, und bei der rückwirkenden Bewertung des romantischen Fragmentarismus als Signum einer beginnenden Moderne oft ignoriert wird (vgl. Franziska Schmitt: Method in the Fragments. Fragmentarische Strategien in der englischen und deutschen Romantik. Trier 2005, S. 15–19). Vgl. zum Fragment bei Herder und Hamann auch: Schmitt: Method in the Fragments, S. 15 f. 7 Vgl. Fetscher: Fragment, S. 551; Ernst Behler: Das Fragment. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985, S. 131. 8 Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. In: Athenäum I (1991), S. 190. Vgl. auch Schmitt: Method in the Fragments, S. 13–15. Hubertus Walter Krause interpretiert den fragmentarischen Torso als Metapher für den aktuellen Zustand der Medizin zwischen Spezialisierung und ganzheitlichen Ansprüchen. Der Torso ist dann Ausdruck von Ganzheit aber auch von Fragment und Vereinzelung (vgl. ders.: Torso als Metapher. Perspektiven der Medizin zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. Würzburg 2014). Auch wenn die pauschale Übertragung des Torsos als Metapher für historische und aktuelle Zustände der Medizin teilweise sehr konstruiert wirkt, verdeutlicht diese Interpretation die Stellung des Fragmentarischen zwischen Ganzheit und Einzelnem.

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gen, was dieses ‚Ganze‘9 im Fall von Krankheitsdarstellungen auf inhaltlicher und formaler Ebene bedeutet.

2.1.1 Theoriebildung: „Ueber die Bleichsucht, ein nosographisches Bruchstück“ Bereits der Titel des 1804 anonym in Hufelands Journal 10 erschienenen Artikels über die Bleichsucht drückt dieses Teil-Ganze-Verhältnis aus, indem der Verfasser den Text als „Bruchstück“ kennzeichnet, dieses aber als „nosographisch“ spezifiziert. Die Nosologie – die Lehre von den Erscheinungsformen und Klassifikationen von Krankheiten – erhebt einen systematischen Anspruch, indem sie Krankheiten in Familien, Gattungen und Arten klassifiziert und ihre Grenzen und Verwandtschaften darstellt. Foucault ordnet das nosologische Krankheitsverständnis als Vorgänger der sogenannten Klinik ein, deren Beginn er im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit verortet.11 Statt dass der Ursprung und die Verteilung der Krankheit in den morphologischen Strukturen des Körperraums gesucht werden, erhält die Krankheit eine hierarchische Organisation in einer taxonomischen Struktur, die auf einem Tableau angeordnet wird. Mit dem Tableau wird im Gegensatz zum Fragment oder Bruchstück eine umfassende Übersicht über einen bestimmten Wissensbereich angestrebt, indem alle Identitäten und Differenzen registriert werden.12 Das Adjektiv ‚nosographisch‘ impliziert somit eine klassifizierende Abstraktion in hierarchisch angeordnete, feste Gattungen und Arten sowohl auf inhaltlicher Ebene als auch als darstellende Wahrnehmungsform: Dementsprechend bedauert der Verfasser, dass bislang niemand die einzelnen Fälle der Bleichsucht miteinander verglichen habe, „um über die Natur der Krankheit näher aufgeklärt zu wer-

9 Teil/Ganze-Relationen werden seit der Antike diskutiert. Vgl. die Übersicht bei: Friedrich Kaulbach, Ludger Oeing-Hanhoff und Hansjürgen Beck: Ganzes/Teil. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3, hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1974, Sp. 3–19. 10 [Anonym]: Ueber die Bleichsucht. Ein nosographisches Bruchstück. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 20, 1. St. (1804), S. 9–49. 11 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 19–37. Es gab jedoch bereits vorher zahlreiche Entwicklungen, die der ‚Geburt der Klinik‘ zugeordnet werden können (vgl. Bergdolt: Leib und Seele, S. 273). 12 Foucault bezeichnet das Tableau als die zentrale Methode des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, Wissen zu ordnen und zugänglich zu machen, die um 1800 durch ein dynamisches Wissenschaftsverständnis abgelöst wird (vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1971, S. 107–114). Vgl. zum Tableau auch die Arbeiten von Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004, insb. S. 11–15; dies.: Das Tableau als Antwort auf den Erfahrungsdruck und die Ausweitung des Wissens um 1800. Louis-Sébastien Merciers Tableau von Paris und Alexander von Humboldts Naturgemälde. In: Inge Münz-Koenen und Wolfgang Schäffner (Hg.): Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002, S. 41–64, hier insb. S. 41 f.

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den“ 13. Die Krankheit, so wird hier angenommen, hat eine eigene wesenhafte Natur, die es aus den Details der einzelnen Fälle zu abstrahieren gilt. Die Textbezeichnung „Bruchstück“ impliziert hingegen Partialität und Zufälligkeit und bezeichnet zugleich das Vorgehen des Verfassers, der vereinzelte Erfahrungen zusammenträgt, ohne dass sich dabei schon ein nosologisches System der Bleichsucht ergeben kann: Der Verfasser hat gar nicht die Absicht eine Theorie aufzustellen; er wird nur vortragen, was er gesehen hat, und die gegenwärtige Abhandlung soll blos eine Sammlung von Krankheitsbeschreibungen enthalten, aus deren Vergleichung vielleicht ein zu allgemeinerem Gebrauche nutzbares Resultat hervorgeht. Bei einem solchen Zwecke kann von keiner Construction des Begriffes der Bleichsucht a priori die Rede seyn und selbst eine in allgemeinen Ausdrücken abgefasste Charakteristik der Krankheit, könnte erst nach der Erzählung der Thatsachen versucht werden.14

Entlang der programmatischen Schlagworte ‚sehen‘, ‚Tatsachen‘ und ‚sammeln‘ ordnet sich der Verfasser dem von Hufeland in seiner Vorrede entworfenen Wissenschaftsideal zu, so dass die Gattungsbezeichnung ‚Bruchstück‘ programmatischen Charakter erhält. Der Ausdruck „Erzählung der Thatsachen“ impliziert jedoch, dass Fakten über die Krankheit nicht nur gesammelt, sondern auch schon in einen gewissen Zusammenhang gebracht werden sollen. Das „nosographische Bruchstück“ verweist somit auf einen Übergang: Aus den vereinzelten Krankheitsbeschreibungen soll eine nosologische Übersicht der Bleichsucht werden, zu welcher der Text als ein ‚Bruchstück‘ beiträgt. Entsprechend unterteilt der Verfasser die gesammelten Erfahrungen – dem nosographischen Anspruch gemäß – provisorisch in zwei Gattungen A und B. Unter A zählt er dann fünf Arten auf, die er „Fälle“ 15 nennt, und die nummeriert werden. Unter B ordnet er sechs nummerierte Arten an. Sowohl auf Textebene als auch auf Inhaltsebene ist somit eine ‚allgemeinere‘ oder ‚fixierte‘ Gattung im Entstehen. Aus dem „Bruchstück“ wird ein nosographisches System, in dem nicht nur vereinzelte Erfahrungen, sondern die ‚Gattung‘ und die davon abzweigenden ‚Arten‘ der Krankheit darstellbar sind. Der Verfasser betont, dass das vorgeschlagene Modell von Verwandtschaften, Relationen und Differenzen weiter überprüft und gegebenenfalls neuen Erfahrungen angepasst werden muss. Die vorläufige Krankheitskonstruktion entspricht somit der als Bruchstück bezeichneten, losen Textform: So wie die Krankheit nur vorläufig in feste Arten und Gattungen klassifizierbar ist, hat auch der Text nur den Anspruch, Bruchstücke von Wissen zusammenzustellen. Das Adjektiv „nosographisch“ verweist hingegen auf das Ganze, nämlich die Krankheit als wesenhafte Einheit, die es zu ergründen gilt.

13 [Anonym]: Bleichsucht, S. 9. 14 [Anonym]: Bleichsucht, S. 10. 15 [Anonym]: Bleichsucht, S. 11.

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Neben der Anordnung auf dem nosologischen Tableau hat die Krankheit ihren – als real verstandenen – Raum im menschlichen Körper, der allerdings auch kulturhistorisch unterschiedlich semantisiert ist.16 Die ersten und konsequenten Äußerungsweisen der Bleichsucht sind die Blässe von Blut, Gesicht, Lippen, Zunge und Zahnfleisch, durch die sich die Wesensqualität der Krankheit ausdrückt. Die Bleichsucht ist zudem eine Frauenkrankheit und wird als solche untrennbar mit den weiblichen Geschlechtsorganen, Sexualität und Schwangerschaft verbunden. Für alle Krankheitsvarianten, die der Verfasser durchspielt, ist das menstruale Fließen des Blutes von zentraler Bedeutung. Es wird ein komplexes System von fehlerhaften Fließarten entworfen, mit denen die Bleichsucht kausal in Verbindung steht: So kann die Menstruation zu stark oder zu schwach sein oder alternierend zu stark und zu schwach sein, sie kann plötzlich ausbleiben oder aber das erste Auftreten kann die Krankheit auch beenden. Die Differenzierung verschiedener, fehlerhafter Fließarten lässt Einflüsse der Humoralpathologie erkennen, in der Krankheit mit der Beschaffenheit und dem Fließen der Säfte erklärt wird. Die Ursachen für das fehlerhafte Fließen des Blutes bilden den ersten Differenzierungspunkt, anhand dessen die Bleichsucht in zwei Gattungen eingeteilt wird. Im Fall A sind die Ursachen unsichtbar, im Körperinneren verborgen und werden vom Verfasser in der Entwicklung und Beschaffenheit der Geschlechtsorgane vermutet. Im Fall B tragen äußerliche Faktoren wie falsche Ernährung, Überanstrengung, das Stadtleben, eine zu früh ausgeübte oder aber unterdrückte Sexualität sowie Onanie oder Blutungen nach der Geburt dazu bei, dass die Monatsblutung fehlerhaft wird. Von beiden Varianten werden jeweils Untergattungen unterschieden, so dass die ‚Bruchstücke‘ durchaus in ein vorläufiges nosologisch symmetrisches System eingeordnet werden. Zwischen den einzelnen Untergattungen bestehen komplizierte Beziehungen und Kreuzungsvariationen aber auch feine Unterschiede. Die Zugehörigkeit einer Untergattung zur Krankheit ist nicht immer sicher. So fragt sich der Verfasser, ob B3 – die Bleichsucht aus „durch moralische Veranlassungen angefochtene[m] und nicht befriedigte[m] Begattungstrieb“ 17 – wirklich zur gleichen Krankheit gehöre, da anstelle der körperlichen Merkmale, mit denen die Krankheit normalerweise interagiert, die ausgeprägte Phantasie eine maßgebliches Charakteristikum der Frauen zu sein scheint.18 Krankheit erscheint als ein komplexes System von Verflechtungen und Differenzen, die der Blick des Arztes in seinen kleinteiligsten Varianten erfassen muss, um die Krankheit zu verstehen. In den anderen Krankheitsvarianten prädisponieren verschiedene körperliche Bedingungen, die äußerlich wahrnehmbar sind, zur Bleichsucht und beeinflussen deren Verlauf. Die Krankheit interagiert sozusagen mit den körperlichen Realitäten,

16 Foucault nennt dies „primäre“ und „sekundäre[ ] Verräumlichung“ des Pathologischen (Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 32). 17 [Anonym]: Bleichsucht, S. 38. 18 Vgl. [Anonym]: Bleichsucht, S. 39.

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die sie im individuellen Fall vorfindet. Dazu gehören so unterschiedliche und widersprüchliche Aspekte wie ein zarter Körperbau, ein starker Muskelbau, ein lebhaftes und empfängliches Nervensystem, ein frühes Ausgewachsensein, ein schlaffer Muskelbau, Magerkeit, viele Schwangerschaften, ein starker Knochenbau oder körperliche Spätentwicklung. Die unterschiedlichen Interaktionspunkte, die sich von ‚stark‘ zu ‚schwach‘ oder ‚früh‘ zu ‚spät‘ erstrecken, zeigen, dass der Körper nur den Verlauf – die Dauer, Therapierbarkeit und den Ausgang – der Bleichsucht beeinflusst. In ihrem Verlauf ist die Bleichsucht keinesfalls an Gebärmutter und Menstruation gebunden, sondern sie kann sich im gesamten Körper bewegen und entfalten, ohne dadurch eine andere Krankheit zu werden. Der Körper wird somit zum Konfigurationsraum der Krankheit, ohne dass sie kausal oder logisch an bestimmte körperliche Äußerungsweisen geknüpft ist, womit die Krankheitskonstruktion im „Bruchstück“ in einem nosologischen Krankheitsverständnis verbleibt, in dem „Krankheit und Körper […] keinen vorgängig definierten gemeinsamen Raum“ 19 haben. Der Arzt muss die Krankheit in all ihren Äußerungsweisen, Variationen und Differenzen erfassen. Er dokumentiert die Zeichen, durch die sich die Krankheit äußert, und erstellt eine Art Konfiguration aller Symptome der Bleichsucht, die sich in den verschiedenen Arten in unterschiedlichen Konstellationen darstellt. Dementsprechend zählt der Verfasser bei den einzelnen Krankheitsarten verschiedene wahrnehmbare Äußerungsweisen der Krankheit auf, wobei die gleichen Symptome auch unterschiedliche Varianten der Krankheit anzeigen können. Körperliche Symptome der Bleichsucht sind fast immer Müdigkeit, Atemnot, Herzklopfen und Engbrüstigkeit, dazu können Kopfschmerzen, ein aufgetriebener und harter Unterleib, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Wasseranhäufungen im Zellgewebe und Körperhöhlen, Brustbeklemmungen, Nasenbluten, wässriges Blut, Kongestionen in Kopf und Brust, ein rotes und aufgedunsenes Gesicht, Husten, Schwindel, Blutauswurf, Auswurf eines gallenartigen Schleims, Verdauungsbeschwerden, Krämpfe, Schwächung von Sinnesorganen, Gedächtnisstörungen, eiternde Lungensucht, Durchfall, Hämorriden, bleifarbene Haut, trockene Haut, Ausschläge, Wassersucht, verminderte Harnabsonderung, Verstopfung, Schweregefühl, Verdauungsstörungen, Fieber, schwere Schwangerschaften, erhöhte Reizbarkeit des Nervensystems, krampfige Erstickungsanfälle, Krämpfe der Respirationswerkzeuge, Konvulsionen, Schlaflosigkeit, ein weißer Ausfluss und Schwere der Glieder kommen. Neben diesen körperlichen Artikulationsweisen können auch psychosomatische wie Melancholie, Schwermut und Manie treten.20 Die Aufzählungen von Symptomen, die in unterschiedlichen Konstellationen verschiedene ‚Arten‘ der Krankheit ergeben, verdeutlicht die Schwierigkeit, Erkenntnisse über

19 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 27. 20 Vgl. [Anonym]: Bleichsucht, S. 17–43.

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die Krankheit zu produzieren: Die einzelnen partikulären Zeichen müssen gesammelt, als Symptome der Bleichsucht erkannt und in Bezug zueinander gesetzt werden, so dass der Sinnzusammenhang einer Krankheit entsteht. Die Identifikation der Krankheit erscheint als hermeneutische Tätigkeit, durch die anhand körperlicher Zeichen und Symptome ein ‚Sinn‘ abgeleitet wird. Erst dadurch werden die scheinbar zufälligen Symptome als Zeichen einer bestimmten Krankheit wahrnehmbar und aussagbar.21 Durch die Aufzählung der Symptome wird die fragmentarische Semantik des Sammelns sprachlich aufgenommen. Die meisten Symptome zeigen sich an der Körperoberfläche, so dass der Arzt sie selbst wahrnehmen kann. Hierbei dominiert die visuelle Wahrnehmung, was insbesondere Farbadjektive wie ‚rot‘, ‚weiß‘ oder ‚bleifarben‘ zeigen, während weitere Spezifizierungen wie ‚aufgedunsen‘, ‚trocken‘ oder ‚wässrig‘ auch andere Wahrnehmungsarten implizieren und Ausdrücke von ‚Schwere‘ indirekt auf die Empfindungen der Patientinnen verweisen. Die Konfiguration der Bleichsucht im gesamten Körperraum impliziert eine sympathetische Verbindung zwischen den Organen und Körperteilen.22 Dies wird dadurch unterstrichen, dass Zusammenhänge zwischen dem Wechsel von Auftreten und Verschwinden der Krankheit an bestimmten Stellen des Körpers hergestellt werden. Das Wandern eines Geschwüres am Fuß in der Krankheitsvariante A4 verdeutlicht dies. Diese betrifft spätentwickelte Mädchen, deren Periode nicht oder nur schwach ausgeprägt ist.23 Statt der Menstruation bekommen diese Mädchen an verschiedenen Stellen „borckigte Ausschläge“, die an den Füßen in „Geschwüre mit speckigtem Grund und aufgeworfenen Rändern“ 24 ausarten. Wenn die Geschwüre heilen, beginnen die Kranken zu husten, der Atem wird beschwerlich und die Brust schmerzt. Sie werfen dünnen mit Blut vermischten Schleim aus und der Puls wird beschleunigt. Wenn die Geschwüre erneut ausbrechen, werden diese Beschwerden hingegen wieder vermindert. Die Krankheit als eigenständige Einheit – so wird es hier impliziert – wandert im Körper des Mädchens und bildet sich an verschiedenen Stellen in den Körper ein, bevor sie sich im gesamten Körper ausbreitet, was dann schließlich bis zum Tod durch völlige Entkräftung führen kann.25 In Verbindung mit dem Ausbleiben der Menstruation evozieren Geschwüre und Schleimauswurf sowie Atembeschwerden und Brustschmerzen den Eindruck einer fehlenden Öffnung des Körpers. Trockener Husten, rindenartige Geschwüre und dünner Blutauswurf verknüpfen die fehlende Blutung mit dem Attribut ‚trocken‘, was ex negativo zu der humoralpathologischen Verbindung von Blut und Feuchtig-

21 Vgl. zum Verhältnis von Sehen und Sprechen in der medizinischen Semiotik auch Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren, S. 480–510, insb. S. 483, S. 488 und S. 496. 22 Vgl. zu dieser Art der Sympathie auch Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 27. 23 Vgl. [Anonym]: Bleichsucht, S. 25 f. 24 Beide Zitate aus [Anonym]: Bleichsucht, S. 26. 25 Vgl. [Anonym]: Bleichsucht, S. 27.

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keit passt und zeigt, wie diese Vorstellungen hier erkenntnisleitend sind, obwohl sie nicht explizit genannt werden. Die Krankheit, die den Körper der Kranken durchläuft, hat dabei ihre eigene zeitliche Dimension. Sie kann organisch verlaufen, indem sie ‚wächst‘, ‚blüht‘ und ‚abstirbt‘: Dieser Zustand bildet sich schnell aus, und in den meisten Fällen hat er in einem Zeitraume von 8 Tagen die höchste Stuffe erreicht; auf dieser bleibt er, wenn man die Kranke sich selbst überlässt, fünf, sechs und mehrere Wochen, vermindert sich alsdann allmählich und verschwindet endlich ganz. Nach einiger Zeit kehren die vorigen Zufälle wieder, machen den nemlichen Verlauf, und kurze Zeit nachher erscheint die Menstruation zum erstenmal; in einigen Fällen tritt dieselbe gleich nach vollendetem Krankheitsanfall ein; − in andern gehen ihr auch drei und mehrere Krankheitsperioden voraus.26

Durch Mengenadjektive wie „meiste“, „einige“ und „andere“ wird versucht, die Kontingenz und Individualität des einzelnen Falls in das entworfene Bild der Bleichsucht einzuordnen, ohne aber gänzlich den Bezug zur Evidenz des Falles aufzugeben. Die Skizze des zeitlichen Ablaufs impliziert zudem das ‚Ganze‘ der Krankheit nicht nur als hierarchische Ordnung im Tableau, sondern auch als zeitliche Dimension. Die Krankheit hat Anfang, Verlauf, Krise und Ende.27 Die aufgeführten Konfigurationen der Bleichsucht artikulieren sich an der Oberfläche des Körpers. Wirklichen Aufschluss über die Krankheit ermöglicht jedoch erst der Blick in das Körperinnere, der für den Arzt bestenfalls nach dem Tod einer Patientin möglich wird. Der Verfasser berichtet von Leichenöffnungen im Fall der eben beschriebenen Krankheitsvariante A4, die offenbaren, dass die Geschlechtsorgane der Mädchen klein und zu wenig ausgeprägt sind. Das nosologische und klinische Krankheitsverständnis, das an den ärztlichen Blick gebunden ist, der die pathologischen Veränderungen im Körperraum aufspürt, zeigen sich hier nebeneinander in einem Text. Der Riss, der durch das Zusammenfügen der Kategorien „nosographisch“ und „Bruchstück“ dem Text eingefügt ist, wiederholt sich auch auf der Ebene der Krankheitskonstruktion und verläuft entlang der Grenze von Sichtbarem und Unsichtbarem. Die Bruchstücke beruhen auf einzelnen Fällen, sind aber aufgrund des nosographischen Ziels größtenteils bereits davon abgelöst. Die Konfigurationen und Artikulationen der Krankheit und ihre zeitliche Dimension stehen im Mittelpunkt. Zwar interagiert die Krankheit mit den individuellen Dispositionen der Patientin, aber diese werden überwiegend als schematische Versatzstücke beschrieben und kombiniert. Der Verfasser zergliedert die Krankheit in immer weitere Symptom-

26 [Anonym]: Bleichsucht, S. 11 f. 27 Die zeitliche Dimension von Krankheiten erhält in der Medizin des achtzehnten Jahrhunderts zunehmende Bedeutung. Schäffner verdeutlicht dies am „Ereignischarakter“ (Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren, S. 483) der medizinischen Zeichen, das heißt den Prognosen, die sich aus den Krankheitszeichen ableiten lassen.

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konstellationen, über die Trägerinnen dieser Symptome erfährt der Leser kaum etwas. Der Kontrast des Titels wird so in der Darstellung und Herstellung der Krankheit wiederholt, denn die Beobachtungen des Verfassers, die immer weiter aufgefächert werden, werden vom individuellen Fall abgelöst und in ihren Kombinationsmöglichkeiten, Arten, Verwandtschaften und Unterschieden angeordnet. Der Verfasser geht von einer natürlichen Krankheitseinheit ‚Bleichsucht‘ aus. Das ‚Ganze‘ dieser Krankheit kann erst ‚gewusst‘ werden, wenn alle möglichen Symptome dokumentiert und in ihren möglichen Verbindungen erkannt und von anderen Möglichkeiten differenziert sind. Dabei entsteht eine Art hermeneutischer Zirkel, denn der Arzt erkennt die einzelnen Symptome, weil er das ‚Ganze‘ der Krankheit annimmt und er fügt dieses ‚Ganze‘ aus den einzelnen Symptomen zusammen. Dafür muss er sowohl das Typische der Krankheit als auch die Unterschiede und Abweichungen registrieren: Der Arzt steht vor einem hermeneutischen Zirkel. Um den Umstand als Symptom deuten zu können, muss er den Krankheitstyp kennen; der Krankheitstypus ergibt sich jedoch erst aus der erzählerischen Verkettung jener Einzelumstände, die als Symptome sichtbar, d. h. von zufälligem Geschehen unterscheidbar geworden sind und die die Geschichte der Krankheit ausmachen.28

Die wiederholten Forderungen nach mehr Erfahrungen und Beobachtungen, die notwendig sind, um die Bleichsucht in ihrer Wesenhaftigkeit und Verzweigung zu verstehen, halten die Phase des Übergangs dabei stets präsent und den Gestus des Sammelns vorläufiger Eindrücke aufrecht, der durch den Gattungsnamen bereits zu Beginn eingeführt wird. Das ‚Ganze‘, auf das die Gattung Bruchstücke sich bezieht, liegt jenseits des einzelnen Textes.

2.1.2 Seuchengeschichte: „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803“ Wie in dem „Bruchstück“ steht in dem Text „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803“, mit denen der Arzt Johann Georg Klees29 ein Katarrhalfieber beschreibt, das sich 1803 epidemisch in Frankfurt

28 Carsten Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte bei Andreas Elias Büchner (1701–1769). In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 2 (2009), S. 315. 29 Klees (* 1770 Frankfurt a. M. † 1849 Frankfurt a. M.) war Arzt in Frankfurt am Main. Er studierte und promovierte in Jena. Stark rezipiert wurde seine Schrift Bemerkungen ueber die weiblichen Brüste und über Mittel sie gesund und schön zu erhalten. Ein Lesebuch für Frauenzimmer (1795), die 1798 und 1805 neu aufgelegt wurde. Er verfasste zudem mehrere Beiträge für verschiedene medizinische Zeitschriften, darunter neben den Fragmenten drei weitere in Hufelands Journal (vgl. Adolph Carl Peter Callisen: Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Apotheker, und Naturforscher aller gebildeten Völker. Bd. 10. Copenhagen 1832, S. 228).

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am Main ausbreitete, nicht der individuelle Fall im Zentrum, sondern die ‚Geschichte‘ einer Krankheit, die sich zu einer Epidemie auswächst. Detailliert beschreibt Klees, unter welchen Bedingungen und auf welche Art sie sich ausbreitet, wie sie verläuft, welche Symptome sie hervorbringt und wie sie zu therapieren ist. Anders als im „Bruchstück“ wird dabei jedoch nicht eine nosographische Klassifikation der Krankheit versucht, um diese als Wesenseinheit festzuschreiben. Stattdessen wird die Ausbreitung im Stadtraum Frankfurt unter bestimmten klimatischen Bedingungen in einer begrenzten Zeit untersucht. Statt der nosographischen Abstraktion wird die topo- und klimatographische Erfassung einer Krankheit angestrebt, die es damit in dieser Form nur einmal geben wird. Berichte von Seuchen oder Epidemien finden sich nicht nur in Hufelands Journal häufig, so dass von einer Art Gattung der Seuchengeschichte gesprochen werden kann, auf die auch Zumbusch im Zusammenhang mit der Diskussion um Ansteckung und Pockenimpfung um 1800 aufmerksam gemacht hat.30 Die Seuchengeschichten bringen eine beobachtete Häufung von ähnlichen krankhaften Zuständen, die zeitlich begrenzt an einem bestimmten Ort auftreten, in chronologische und kausale Muster, mit denen die beim Individuum auftretenden Krankheiten zur ‚Geschichte‘ einer Seuche oder Epidemie verknüpft werden. Auch hier steht nicht die individuelle Krankengeschichte im Mittelpunkt, sondern viele Krankheitsfälle ergeben die Geschichte einer Epidemie.31 Die Seuchengeschichten weisen dabei ähnliche Strukturen auf. Dazu gehört eine Skizze der klimatischen und meteorologischen Bedingungen in der Zeit der Seuche, die am Anfang des Textes erfolgt. Außerdem werden der allgemeine Verlauf der Krankheit und die typischen Symptome dokumentiert. Abweichungen und Variationen werden entweder in diese Dokumentation integriert, oder anschließend berichtet. Abschließend werden Therapie und Medikation aufgeführt. Klees beginnt seinen Text mit der erwähnten Wetter- und Klimatopik: Schon in dem Sommer und Herbst 1802 hatten wir ungewöhnlich trockne und heisse Witterung, darauf folgte der kalte, lange Winter 1803, dann der dürre und alles austrocknende Nordund Nordostwind im Februar und März 1803, mit einigen dazwischen laufenden warmen Tagen schnell abwechselnd. Die Kälte fing den 9ten Januar an, und dauerte ununterbrochen bis den 15ten Februar, dann stellte sich Thauwetter ein, und vom 4. bis zum 12ten März hatten

30 Vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 56. Eine unvollständige Auswahl der Seuchengeschichten in Hufelands Journal: Fischer: Bemerkungen über die Wechselfieber, welche im Frühjahr 1797 zu Lüneburg herrschten. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 4, 4. St. (1797), S. 647–660; Franz A. Amelung: Bemerkungen über die häufigen, vorzüglich intermittirenden Fieber, die in den Rheingegenden von 1794 bis 1799 hauptsächlich bei den Soldaten herrschte. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 18, 2. St. (1804), S. 24–119; Johann Christian Jonas: Beschreibung einer Epidemie welche den Einfluß der Ortsbeschaffenheit auf die verschiedenen Modificationen epidemischer Krankheiten erläutert. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 20, 1. St. (1804), S. 113–136. 31 Vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 56.

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Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie

wir wieder kalt. Das […] Thermometer fiel den 12ten, 15ten und 25ten Januar, den 5ten, 10ten und 11ten Februar auf 10 Grad […]. Der Hygrometer zeigte in den ersten drei Monaten dieses Jahres fast beständig trockne Luft an.32

Klees zählt die Temperatur und Luftfeuchtigkeit tageweise noch bis in den März hinein auf und versucht, alle wahrnehmbaren Details über Wetter, Luft, Temperatur und Wind zu notieren. Die Epidemie erfordert einen „vielfältigen Blick“ 33, der das kleinste Detail erkennt, um eventuelle Zusammenhänge aufzudecken. Johann Georg Zimmermann fordert diesen ‚Blick‘ in seiner Abhandlung Von der Erfahrung in der Arzneykunst (1787): „Gute Beobachtungen müssen mit der grösten Genauigkeit gemacht seyn. Diese Genauigkeit besteht hauptsächlich in der Bemerkung einer Menge kleiner Unterschiede, die dem Auge des Beobachters leicht entgehen, und gleichwohl den grösten Einfluß auf das Ganze haben.“ 34 Wie im „Bruchstück“ ist das Sammeln von Beobachtungen notwendig, um zu einem Ganzen – dem Verständnis der Krankheit – zu kommen. Sprachlich wird diese Sammlung von Beobachtungen durch die penible Tag-für-Tag-Aufzählung inszeniert. Klees vermutet die Beschaffenheit der Luft als Verbreitungsweg der Katarrhalfieberepidemie und schließt Ansteckung aus: „Die veranlassenden Ursachen der Krankheit sind meines Dafürhaltens in der Beschaffenheit der Luft zu suchen“; der „übergrosse Antheil an Oxygenegas“ 35 habe Lunge- und Körper der Betroffenen geschwächt. Allerdings beobachtet der Arzt ein sukzessives Auftreten bei zusammenlebenden Personen und mutmaßt, ob sich eventuell als eine zweite Ursache ein „Contagium“ 36 entwickelt habe. In der Wahrnehmung von Epidemien wurde dem Phänomen der Ansteckung zunächst wenig Aufmerksamkeit zuteil, was sich in der Zeit um 1800 ändert.37 Klees’ Text kann hier am Übergang zwischen zwei Erklärungsmodellen gesehen werden: Er greift zwar auf die ‚alte‘ Annahme zurück, die Beschaffenheit der Luft verursache Epidemien, registriert aber die Verbreitung durch ein ‚Contagium‘ als mögliche zweite Ursache und beklagt in diesem Zusammenhang das begrenzte Wissen auf dem Gebiet der kontagiösen Krankheiten. Klees ist sich also bewusst, dass er im Grunde eine Leerstelle im Wissen über die Krankheit beschreibt, sein Verständnis der Epidemie bleibt fragmentarisch. Die epidemische Krankheit hat eine eigene, individuelle Geschichte, wie schon der Titel des Textes impliziert.38 Sie tritt in dieser Form einmalig nur in dem

32 Johann Georg Klees: Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 16, 4. St. (1803), S. 71 f. 33 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 41. 34 Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst, S. 145. 35 Klees: Fragmente, S. 76. 36 Klees: Fragmente, S. 77. 37 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 40 f.; vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 56. 38 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 40 f.; Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 56.

Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System

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„Raumzeitpunkt“ 39 Frankfurt am Main im Frühling 1803 auf. Sie ist aktiv, breitet sich in der Stadt aus, beeinflusst das öffentliche Leben und verbreitet Angst. Sie wird zum Thema bei gesellschaftlichen Ereignissen und im Theater und sie verschont kaum einen Bewohner; allein Klees behandelt 300 Patienten, die an ihr erkrankt sind. Dem Eigenleben der Krankheit entsprechend wird sie personifiziert: „Der epidemische Catharr war eigentlich drei Monate lang, im Februar, März und April 1803 hier zu Hause. Im März war er am allerhäufigsten. Nach und nach entspann sich die Epidemie, nach und nach entfernte sie sich wieder.“ 40 Die Krankheit erscheint unabhängig vom Arzt, der ihre Bewegungen und zeitlichen Dimensionen nur notieren kann. Während sich die Krankheit also nach nosologischem Verständnis im individuellen Körper wiederholt, handelt es sich bei der Epidemie um ein einmaliges Phänomen.41 Nach den allgemeinen Ausmaßen identifiziert Klees den Grundcharakter der Krankheit: Der Grundcharacter der Epidemie war Schwäche. Alle Kranke ohne Ausnahme wurden plötzlich von einer unbeschreiblichen Mattigkeit und schmerzhaften Zerschlagenheit in den Gliedern überfallen. So sehr die Körperkräfte abgespannt waren, eben so sehr waren es die Geisteskräfte.42

Die Krankheit rückt als Akteur in den Mittelpunkt. Sie hat einen eigenen Charakter, den Klees in der Schwächung der Patienten sieht, von dem der Patient ‚überfallen‘ wird. Nach dieser Feststellung wird die typische Dauer und Artikulation der Krankheit im menschlichen Körper beschrieben. Wie im „Bruchstück“ ist die Beobachtung hier vom individuellen Körper abstrahiert und es werden typische Symptomkonstellationen beschrieben. Dabei orientiert sich Klees an den Zeichenträgern, die auch in den individuellen Krankengeschichten befragt werden: Puls, Gesichtsfarbe, Haut, Zunge, Augen, Essverhalten und Ausscheidungen. Klees benutzt dabei – und das ist typisch für die Seuchengeschichte – Versatzstücke der Gattung Krankengeschichte, die im nächsten Kapitel Fallleiden (siehe Kap. 3) näher fokussiert wird. Dazu gehören die detaillierte Dokumentation der Symptome, die die oben genannten Themenfelder abdeckt, der zeitliche Verlauf der Krankheit und die anschließende Beschreibung der Therapie. Nur in Ausnahmefällen wird jedoch auf einzelne Kranke referiert. Der individuelle Fall bleibt dennoch für die Erkenntnis der Krankheit maßgebend:

39 40 41 42

Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 40. Klees: Fragmente, S. 75 f. Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 40. Klees: Fragmente, S. 79.

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Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie

Man musste hier wie überall in der Medicin, individualisiren; denn anders wirkte die Krankheitsursache auf das Kind, anders auf den Greis, anders auf das geschwächte Subject, anders auf den robusten Mann. Wer sonst wohl zu Halsentzündungen oder zu Catarrhen geneigt war, bekam jetzt auch wieder vorzüglich Beschwerden im Schlingen, oder anhaltendern Husten und Auswurf. Alle den Hämorrhoiden unterworfene Personen, empfanden jetzt wieder mehr oder weniger von ihrem alten Uebel. Ich beobachtete fast keine hysterische Frauensperson, die nicht während des Catharrhalfiebes die gewohnten Paroxysmen von Ohnmachten, Beängstigungen, Herzklopfen, Kälte der Extremitäten u. derg. erlitten hätten.43

Im Individuum kann sich die Krankheit gewissermaßen hinter vorhandenen Leiden verstecken, weswegen der Arzt in der Praxis immer das Besondere des einzelnen Falls beachten muss. Für den Seuchenbericht muss der Arzt jedoch abstrahieren, um das Wesen der Krankheit und nicht die individuelle Artikulation im jeweiligen Patienten zu erfassen. Klees folgt daher dem typischen Verlauf der Krankheit und registriert Abweichungen nur bei besonderen Entwicklungen: Die Krankheit fing mit einem Froste an, welcher der darauffolgenden Hitze Platz machte. Morgens fand man deutlich Remission, Abends wieder mehr oder wenige Exacerbation. Selten stellte sich der eigentliche Frost zu wiederholtenmalen ein, obgleich der Kreislauf des Bluts irregulär blieb, die Extremitäten z. B. kalt, und der Kopf sehr heiss anzufühlen war. Nur zuweilen schien der Frost periodisch wiederzukehren, und die Krankheit etwas Intermittirendes annehmen zu wollen. – So erinnere ich mich einer Kranken, welche jeden Abend um die bestimmte Stunde einen fixen Schmerz im Oberkiefer bekam. Die Haut war fast immer trocken; wurde sie feucht und zugleich warm, so war dieses ein Zeichen der Besserung. Der Puls war immer beschleunigt, immer klein, zuweilen hart und gespannt. Die Respiration war fast überall beengt und kurz; ein tieferes Einathmen verursachte nicht selten Stechen tief in der Brust, oder in den Brustmuskeln an verschiedenen Stellen, und fast immer Husten.44

Angaben wie „selten“, „fast immer, „immer“, „fast überall“ oder „nicht selten“ zeigen die Summierung von einzelnen Fällen zur Geschichte der Epidemie an, die vom individuellen Beispiel abgelöst ist. Nur beim besonderen Beispiel „einer Kranken“ bezieht sich Klees ausdrücklich auf einen konkreten Fall. Auch hier bleibt jedoch die Bestätigung einer allgemeinen Regel der Fokus, nämlich dass die Krankheit etwas Intermittierendes annehmen konnte. Durch die Beschreibung wird der Eindruck einer sehr genauen Beobachtung erweckt, die auch kleine Einzelheiten registriert. Die Symptome müssen in ihren feinen Unterschieden wahrgenommen werden, was zum Beispiel die differenzierten Beschreibungen des Pulses deutlich machen.45 Die wahrnehmbaren Äuße43 Klees: Fragmente, S. 78. 44 Klees: Fragmente, S. 80. Die Remission bezeichnet in der Medizin das Nachlassen von Krankheitssymptomen, ohne dass dies die Genesung bedeutet. Die Exarzerbation bezeichnet die Verschlechterung eines Krankheitsbildes (vgl. Roche Lexikon Medizin. 4. Aufl. München 1998, S. 1436 und S. 515). 45 Vgl. zum Puls als eines der wichtigsten Zeichen der ‚Lebensverrichtungen‘ und die Informationen, die der Arzt im Krankheitsfall aus den verschiedenen Beschaffenheiten des Pulses (z. B. häufig, selten, schnell, langsam, stark, schwach, groß, klein, hart, weich, gleich, ungleich, aussetzend)

Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System

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rungsweisen der Krankheit werden zudem in Hinblick auf ihre Bedeutung für den Verlauf der Gesamtkrankheit gedeutet. Das Verständnis der Krankheit erfordert eine Art „Hermeneutik des pathologischen Faktums“ 46: Der Arzt muss die einzelnen Symptome wahrnehmen, aber auch zueinander in Bezug setzen, gewissermaßen zu einer Narration zusammenfügen, um den ‚Sinn‘ oder das ‚Wesen‘ der Krankheit zu verstehen. Über mehrere Seiten zerlegt Klees das Katarrhalfieber in seine einzelnen Symptome, zu denen Seitenstiche, Bruststiche, trockener Reizhusten, Auswurf von zähem Schleim, Kopfschmerzen, Erbrechen, Blutauswurf, rotes Gesicht, brennende Augen, fließende Nase, Kopfschmerzen, Ohrenreißen, verschleimter Rachen, Anschwellung der Mandeln, braunroter Urin oder Schwäche der Zeugungsteile gehören.47 Die Symptome werden aufgezählt und durch ihre Bedeutung für den Ausgang der Krankheit spezifiziert, so dass aus der Wahrnehmung vereinzelter Symptome das Portrait einer Krankheit entsteht. Nach der Aufzählung der Symptome berichtet Klees, wie er die Kranken behandelte. Danach hört sein Epidemiebericht mit dem Wunsch auf, allen genüge getan zu haben, die darüber Auskunft gefordert hätten. Auch in diesem Text liegt das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, das in der Gattungsbezeichnung zum Ausdruck kommt, der Krankheitsdarstellung zugrunde. Das ‚Ganze‘ der Epidemie entsteht aus ihrer Geschichte, die bereits im Titel des Beitrages aufgeführt wird. Die Vorstellung des ‚Ganzen‘ resultiert dabei insbesondere aus einer zeitlichen und kausalen Ordnung der Krankheit. Im „Bruchstück“ über die Bleichsucht wurde das Krankheitsganze durch die Identifikation von Sinnrelationen zwischen den Symptomen hergestellt. In Klees’ Text tritt eine temporäre und kausale Ordnung zur Vorstellung des Krankheitsganzen hinzu. „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ 48 schreibt Aristoteles über die „Zusammenfügung der Geschehnisse“ 49 in der Tragödie. Ähnlich beschreibt Philippe Pinel eine Krankheit „nicht als ein veränderliches Gemälde, nicht als eine unzusammenhängende Anhäufung sich wiedererzeugender Gebrechen […], sondern als ein vom Entstehen bis zum Ausgang fortdauerndes, untheilbares Ganzes“ 50. Das

ableiten kann: Ferdinand Georg D. Danz: Semiotic oder Handbuch der allgemeinen Zeichenlehre zum Gebrauch für angehende Wundärzte. Leipzig 1793, S. 51–54. Die besondere Beachtung des Pulses bei der Diagnose von Krankheiten geht auf Galen zurück, der diesen neben dem Harn als wichtigen Indikator zur Bestimmung von Krankheiten ansah. Die Bedeutung des Pulses war im achtzehnten Jahrhundert durch die ‚Entdeckung‘ des Blutkreislaufes jedoch bereits eine andere (vgl. Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren, S. 486). 46 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 30. 47 Vgl. Klees: Fragmente, S. 80–85. 48 Aristoteles: Poetik, S. 25 (7). 49 Aristoteles: Poetik, S. 25 (7). 50 Philippe Pinel: Philosophische Nosographie oder Anwendung der analytischen Methode in der Arzneikunde. Mit des Verfassers Bewilligung aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen versehen von J. Alexander Ecker. 1. Teil. Tübingen 1799, S. 6 f.

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Katarrhalfieber in Frankfurt wird zum ‚Ganzen‘ einer Geschichte, weil es einen Anfang bekommt, der in den Wetterbedingungen zu einer bestimmten Zeit liegt. Es hat eine Mitte durch ihre Ausbreitung und ihren typischen Verlauf und die Skizze der (fast immer erfolgreichen) Behandlungsweisen schließt die Geschichte im ‚Raumzeitpunkt‘ Frankfurt ab. Diese Bezüge werden erst durch die Wahrnehmung des Arztes erkennbar, so dass die Krankheit als Ganzes somit auch als Effekt der Narration des Arztes entsteht. Die Geschichte der Epidemie geht jedoch außerhalb des Textes weiter, wie bereits die Gattungsbezeichnung impliziert. Anders als im „Bruchstück“ ist nicht die Erfassung der gesamten Krankheitseinheit das Ziel. Stattdessen ist Klees’ Darstellung der Epidemie nur ein fragmentarischer Beitrag zu der Geschichte dieser Krankheit, die, wie er aus Zeitungen und durch reisende Kaufleute erfahren hat, auch schon in Frankreich, England und Aachen auftrat und dort unter dem Namen ‚Grippe‘ und ‚Influenza‘ bekannt war. Tatsächlich wird dieselbe Krankheit auch noch mehrfach in Hufelands Journal thematisiert. Sie taucht als „Die Grippe oder Beschreibung der gegenwärtig (1803 im Frühjahr) herrschende catharrhalischen Krankheit, ihrer Heilung und Präservationskur“ 51, „Bemerkungen über die Influenza zu Kölln am Rhein, und in den umliegenden Gegenden im Jahre 1803“ 52 und „Beschreibung einer Epidemie, welche den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf die verschiedene Modification epidemischer Krankheiten erläutert“ 53 auf. Mit Ort und Zeit ändert die Epidemie ihren Namen, teilweise auch ihr Aussehen und einmal sogar ihren Grundcharakter.54 Die Krankheit interagiert auf ihrem Weg durch Europa insbesondere mit bestimmten Zeit-Raum-Konfigurationen und tritt in entsprechenden Modifikationen auf, bevor sie in verschiedenen Symptomen des (individuellen) Körpers konfiguriert. Die einzelnen Texte tragen somit dazu bei, die Geschichte der Epidemie zu erfassen. Die Gattungsbezeichnungen ‚Fragment‘ oder ‚Bruchstück‘ sind programmatisch in mehrfacher Hinsicht. Die Texte greifen das Ideal auf, das Hufeland in seiner Vorre51 Guiseppe Gautieri: Die Grippe oder Beschreibung der gegenwärtig (1803 im Frühjahr) herrschenden catharrhalischen Krankheit, ihrer Heilung und Präservationskur. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 17, 1. St. (1803), S. 53–67. 52 Georg Horst: Bemerkungen über die Influenza zu Kölln am Rhein, und in den umliegenden Gegenden im Jahre 1803. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 2, 1. St. (1796), S. 68–77. 53 Jonas: Beschreibung einer Epidemie, welche den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf die verschiedene Modification epidemischer Krankheiten erläutert. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 20, 1. St., S. 113–136. 54 Dies ist der Fall im Canton Montioye: „Nicht so allgemein bekannt ist es aber, oder vielmehr nicht so allgemein bemerkt, dass die nemliche Epidemie, je nachdem sie in flachen oder erhabenen, in trocknen oder sumpfichten Gegenden herrscht oder je nachdem sonst schädliche Potenzen hinzukommen, die wir nicht kennen, vielleicht auch nie werden kennen lernen, oft einen sehr verschiedenen Charakter annimmt.“ (Jonas: Beschreibung einer Epidemie, welche den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf die verschiedene Modification epidemischer Krankheiten erläutert, S. 113 f.).

Fragmente und Bruchstücke: Zwischen Kontingenz und System

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de statuiert, indem sie ihr Wissen gerade als vorläufig und unvollständig herausstellen: Im ersten Text werden Beobachtungen der Bleichsucht gesammelt, ihre Erscheinungsformen aufgezählt und dabei versucht, eine nosographische – jedoch vorläufige – Beschreibung der Krankheit zu erstellen. Bei der zweiten Beschreibung ist die Idee von der Krankheit eine andere. In gewisser Weise ist auch sie eine vorgängige Wesenseinheit mit eigenem Charakter, aber sie ist keine immer vorhandene, konstante Einheit, sondern existiert nur in einem bestimmten Zeitraum. Klees Beschreibung muss daher fragmentarisch sein, da sie nur die Gestalt der Krankheit an einem bestimmten ‚Raumzeitpunkt‘ darstellen kann. Das Wissen, zu dem das fragmentarische Sammeln hier beitragen kann, ist die Behandlung und der Charakter von Epidemien, die Auswirkung von bestimmten Orten und nicht die Krankheit selbst, da sie in dieser Form nicht wieder auftreten wird. Das Fragmentarische der Texte wird über die Herausstellung der Begrenztheit des eigenen Wissens, den Gestus des Sammelns von einzelnen Beobachtungen, aber auch der inhärenten Implikation eines Ganzen konstituiert. In den besprochenen Beispielen erscheint dieses ‚Ganze‘ in zweifacher Hinsicht. Es ist zum einen vorgängig in der Natur – als natürliche Krankheitseinheit – schon vorhanden und zum anderen als fixiertes, menschliches Wissen zukünftig, aber noch nicht erkennbar. Die Hypothese eines natürlichen ‚Ganzen‘ bestimmter Krankheiten etabliert dabei erst die Wahrnehmung, die es ermöglicht, die gesammelten Symptome zu Signifikanten dieses ‚Ganzen‘ zu machen. Die Sammlung wiederum hat das Ziel, dass das dadurch generierte Wissen zukünftig die natürliche Krankheitseinheit vollkommen bezeichnen kann. Diese Konzeption des ‚Ganzen‘ beruht auf der Vorstellung, dass Verstand und Natur sich entsprechen und lässt deutlich ein aufklärerisch teleologisches Verständnis von Wissen erkennen, nach dem alle Lücken im Wissen irgendwann geschlossen sein werden. Die Verschriftlichung fungiert dann als Übergang zwischen dem angenommenen vorsprachlichen Ganzen und einem eventuellen, zukünftigen Gesamtwissen und das Fragment wird genutzt, um diesen Übergang zu akzentuieren. Die einzige Möglichkeit, dieses Wissen zu erlangen, ist das Auflesen einzelner, zerstückelter Beobachtungen, was sich im Aufzählen von Symptomen und ihren Beziehungen zueinander äußert, wobei die Möglichkeit einer exakten Wahrnehmung angenommen wird. Mit der Gattungsbezeichnung werden erkenntnistheoretische Möglichkeiten reflektiert und dadurch eine bestimmte Perspektive auf die dargestellte Krankheit etabliert. Die Relationen der Symptome untereinander werden durch Narrativität hergestellt, wovon auch die Schlagworte ‚Erzählung‘ und ‚Geschichte‘ zeugen. Fragment und Bruchstück bilden also eine Art Übergang, indem sie das fragmentarisch bereits gesammelt Wissen auf eine Weise verschriftlichen, welche die Vorläufigkeit immer schon markiert, aber nicht ausschließt, dass die Einzelstücke in Zukunft ein Ganzes ergeben können. Dies drückt auch die mehrfach insbesondere in Vorreden von zeitgenössischen medizinischen Texten verwendete Metapher

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Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie

von einem ‚Gebäude‘ aus, das als Ziel des Sammelns von Erfahrungen und Eindrücken genannt wird und zu dem die Bruchstücke zusammengesetzt werden.55 In den Vorworten beherrscht diese Metaphorik das Reden von der Vorläufigkeit des Dargestellten und dem Übergang zum ‚Ganzen‘. Die Gebäudemetapher unterstreicht die Vorstellung, dass viele Einzelteile zu einem Ganzen zusammengetragen werden. Die Evokation von Planung und Konstruktion, welche die Metapher ebenfalls ausdrückt und die das Ideal der Empirie und Erfahrung konterkariert, wird dabei meist übergangen. Mit dem Fragment wird die Programmatik der Aufklärung ergänzt, indem auch dem Einzelnen und Bruchstückhaften bei dem Bestreben, die Natur zu vermessen und zu verstehen, Erkenntniswert zugesprochen wird, wodurch der Druck genommen wird, ein festes System zu produzieren,56 ja dies gerade als unempirisches Apriori abgelehnt wird. Mit dem Begriff des Fragments ist die Rhapsodie verwandt, die Reil 57 als Gattungsbezeichnung für seine Darstellung psychischer Krankheiten und ihrer Therapie verwendet, die im nächsten Kapitel untersucht wird.

55 Vgl. z. B. Platners Begründung der aphoristischen Schreibweise seines Werkes: „Kompendia sind Grundrisse, aber keine vollendeten Lehrgebäude, obgleich die ganze Form und fast alle Materialien des Lehrgebäudes in den ersten Linien angedeutet sind.“ (Platner: Anthropologie, S. XX). Zu dieser Metaphorik passt, dass die Ruinenmode des achtzehnten Jahrhunderts ebenfalls mit dem Fragment in Verbindung gebracht wird, die neben dem nostalgischen Rückblick auch eine „Zukunftshoffnung“ (Schmitt: Method in the Fragments, S. 17) ausdrückt. 56 Vgl. Annette Graczyk: Das Fragment in der Aufkärung. In: Gunhild Berg (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt a. M., S. 189–206. 57 Reil (* 1759 Rhaude † 1813 Halle/Saale) studierte Medizin in Göttingen und Halle. Nach seiner Promotion 1782 ging er an das Collegium Physico-Chirurgicum in Berlin. In dieser Zeit wohnte er bei Marcus Herz. 1787 wurde er Professor in Halle. Er setzte sich stark für die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens und für Reformen in der Ärzteausbildung ein. In seiner Schrift Von der Lebenskraft (1796) entwickelte er sein Konzept einer chemischen Lebenskraft und richtete sich damit gegen die Annahme imponderabler ‚Lebenskräfte‘. In seinem mehrbändigen Werk Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber (1799–1815) versuchte Reil, eine naturwissenschaftlich fundierte Krankheitslehre zu konzipieren, die er mit sozialmedizinischen Fragestellungen verknüpfte. Auf Reil geht der Begriff ‚Psychiatrie‘ zurück, als deren Wegbereiter in Deutschland er gesehen wird. Reils Rhapsodieen kommen in diesem Zusammenhang eine wichtige Stellung zu (vgl. dazu Schmaus: Psychosomatik, S. 101 f.). Auf Grund seiner im Nachlass veröffentlichten Schriften Entwurf einer allgemeinen Pathologie (1815/16, 3 Bände) und Entwurf einer allgemeinen Therapie (1816) wird Reil oft der sogenannten romantischen Medizin zugeordnet. Reils medizinprogrammatischer ‚Wandel‘ wird von Mocek mit den politischen Hintergründen – der Niederlage Preußens gegen Napoleon – begründet; Reil habe sich von der Naturphilosophie eine Erneuerung des nationalen Geistes erhofft. Bei der Völkerschlacht 1813 stellte Reil sich als Lazarettarzt zur Verfügung und starb anschließend an einer Typhusinfektion (vgl. Reinhard Mocek: Reil. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 8, hg. von Rudolf Vierhaus. München 2005–2008, S. 275 f.; ders.: Johann Christian Reil. Das Problem des Übergangs von der Spätaufklärung zur Romantik in Biologie und Medizin in Deutschland. Frankfurt a. M. 1995).

Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen

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2.2 Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen: J. C. Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen Reils 1803 erschienenen einflussreichen Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen58 rekurrieren bereits durch die Gattungsbezeichnung im Titel auf eine poetische Gattungstradition, die jedoch nur selten theoretisch diskutiert und in Poetiken verhandelt wird. In der Zeit um 1800 finden sich zahlreiche nicht-literarische Texte, die in ihren Titeln als ‚Rhapsodien‘ oder als ‚rhapsodisch‘ bezeichnet sind.59 Der Augsburger Gymnasiallehrer Hieronymus Andreas Mertens begründet, warum er seine kurze Schrift Rhapsodische Bemerkungen über Erziehung und Unterricht der Jugend beyderley Geschlechts (1784) als Rhapsodie verfasst hat: Warum ich aber diesen Vortrag nicht an eine systematische Ordnung binde, habe ich zureichende Gründe, die ich hier anzuführen nicht für nothwendig halte. Deswegen habe ich dem Ganzen die Aufschrift einer Rhapsodie gegeben: nicht als ob die Bruchstücke aus andern Schriften dieser Art wörtlich ausgehoben wären, wozu die Leser durch eine Nebenbedeutung des Wortes allenfalls könnten verleitet werden; sondern, einmal weil ich keine von denen am Ort rubricierten Materien in große Formen ausdehnen, und ihre Entwicklung nicht bis auf den letzten Faden ausspinnen werde, hernach, weil die Folge derselben nicht durch den Zusammenhang der Gedanken, sondern nach Disposition der Seele zu dieser oder jener Betrachtung, oder auch durch Umstände, durch Unterredungen mit andern Personen, durch Lectüre, oder durch einen andern zufälligen Anstoß von Ideen, bestimmt werden soll.60

Die Begründung für diese Bezeichnung lässt implizit Rückschlüsse auf Assoziationen zu, die mit der Rhapsodie verbunden sind und durch die folglich bestimmte

58 Kapitel 2.2 ist in leicht veränderter Form bereits in Bergs Sammelband Wissenstexturen erschienen: Rhapsodisches Wissen. Die Rhapsodie als Organisationsform von Wissen um 1800. In: Berg (Hg.): Wissenstexturen. Frankfurt a. M. 2014, S. 227–246. Ich danke Dr. Gunhild Berg für Ihre Anregungen. 59 Zum Beispiel: Hans Karl von Zwierlein: Rhapsodische Bemerkungen über die freie Wahl des Gerichtstandes des hohen Hauses Braunschweig Lüneburg in Hinsicht auf die Sache des Herrn von Berlepsch. 1797; Christian Gottlob Hilscher: Rhapsodische Bemerkungen über verschiedene für Stadt- und Landbewohner intereßante Gegenstände vorzüglich mit Hinsicht auf Chursachen. Leipzig 1799; Albrecht: Thaer: Rhapsodische Bemerkungen zu B. Bells Abhandlungen über den Ackerbau. Berlin 1804; Freiherr Hallberg Broich: Rhapsodische Ansichten und Motive für Armen-Kolonien. Frauendorf 1829; Michael Kosmeli: Rhapsodische Briefe auf einer Reise in die Krim und die Türkei. Halle 1813; [Anonym]: Rhapsodische Bemerkungen ueber die Begebenheiten mit dem Erzbischofe zu Köln, Freiherrn Droste Wischering, Altona 1838. 60 Hieronymus Andreas Mertens: Rhapsodische Beobachtungen über Erziehung und Unterricht der Jugend beyderley Geschlechts. Eine Einladungsschrift zu den öffentlichen Schulreden und der damit verbundenen jährlichen Austheilung der Schulpreise auf dem untern Saale der Staatsbibliothek am Montag den 13. Sept. Nachmittags bis 9 Uhr für Gönner und Freunde des hiesigen Schulwesens, besonders für Eltern und Anverwandte unsrer Lehrlinge geschrieben, Augsburg 1784, S. 2.

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Vorläufige Leiden: Die Gattung als wissensprogrammatische Kategorie

Erwartungen beim Rezipienten geweckt werden. Dazu gehören fehlende Systematik, Kürze und Unvollständigkeit. Die Argumentation ist nicht logisch-rational aufgebaut, sondern vom Seelenzustand des Verfassers sowie externen Anregungen durch Gespräche, Lektüre oder gar Zufall bestimmt. Zudem wird eine Technik des Aneinanderreihens von unterschiedlichen Textausschnitten, die nicht als Zitat kenntlich gemacht werden, mit der Gattung Rhapsodie verknüpft, auch wenn der Verfasser diese mögliche Lesererwartung abweist. Der Begriff ‚Rhapsodie‘ stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus dem Stamm des Verbes ‚rhaptein‘ (nähen oder flicken) und dem Nomen ‚ode‘ (Gesang) zusammen.61 Bereits der Gattungsname impliziert somit das Zusammenfügen von etwas zunächst Disparatem. Während der Gesang auf die mündliche Tradierung durch den Rhapsoden im antiken Griechenland verweist, bezeichnet die Stoffmetapher auch die Produktion von ‚Textur‘. Die wahrscheinlich älteste Bezugsetzung der beiden Wortfelder findet sich bei Pindar, der die Homeriden als Sänger ‚(zusammen-)genähter Epen‘ tituliert. Die Epen wurden dabei bei Wettkämpfen abschnittsweise im Wechsel vorgetragen, so dass die ‚Nahtstellen‘ im Text für das Publikum wahrnehmbar sind. Auch bei der schriftlichen Fixierung der Ilias und Odyssee durch Zenedotos werden die einzelnen Abschnitte als Rhapsodien bezeichnet, die mündliche Gattung also in eine schriftliche übertragen.62 Um die Person des Rhapsoden geht es auch in Platons Dialog Ion, in dem ein gleichnamiger Rhapsode auf Sokrates trifft, der mit ihm über das Verhältnis des Rhapsoden zur Dichtung und zur Person des Dichters sowie die Art des Wissens diskutiert, die dabei produziert wird. Der Rhapsode, so die Figur Sokrates, müsse den Text nicht nur auswendig lernen: „Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint ist unmöglich.“ 63 Der Rhapsode verstehe den Dichter nicht aus überlegenem Kunstverstand, sondern aufgrund einer „göttliche[n] Kraft“ 64, welche sich von der Muse auf den Dichter und dann auf den Rhapsoden fortpflanze. Diese unmittelbar erlangte Form des Wissens sei nicht auf das Werk anderer Dichter übertragbar und könne auch nicht objektiv verallgemeinert werden, weshalb der Rhapsode nicht über Kunst urteilen könne wie indes der Arzt über medizinische Themen. Um Dichtung so vorzutragen, dass das Publikum affiziert wird, müsse der Rhapsode ebenfalls in einen begeisterten und reflexionslosen Zustand versetzt sein. Die Inspiration pflanze sich wie die

61 Vgl. Tobias Widmaier: Rhapsodie. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. 35 (2003), S. 1. 62 Vgl. zum gesamten Abschnitt Widmaier: Rhapsodie, S. 1 f. 63 Platon: Ion. In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 1: Ion, bearbeitet von Heinz Hofmann. Darmstadt 1972, S. 5 (530c). 64 Platon: Ion, S. 15 (533d).

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magnetische Anziehung vom Dichter auf den Rhapsoden und schließlich auf den Zuschauer fort.65 Seit dem sechzehnten Jahrhundert werden Texte, die durch Verknüpfung oder Reihung von präfixierten Textteilen entstehen, als Rhapsodien bezeichnet. Seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert wird diese Bedeutung auch in die Musik übertragen.66 Im achtzehnten Jahrhundert gibt es Diskussionen, die Figur des Rhapsoden als Deklamator von Dichtung neu zu etablieren.67 Zudem sind einige ästhetische und philosophische Texte als ‚Rhapsodie‘ bezeichnet wie beispielsweise Shaftesburys The Moralists, a Philosophical Rhapsody. Being a Recital of Certain Converstaions on Natural and Moral Subjects (1709), Mendelssohns Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1761), Hamanns Aesthetica in Nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prosa (1762) oder Herders Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose, was es ermöglicht, von einem Gattungszusammenhang zu sprechen.68 Die Verwendung der Gattungsbezeichnung ‚Rhapsodie‘ im philosophischen Diskurs ist vor dem Hintergrund der Aufwertung der ‚niederen‘, nicht-rationalen Erkenntnis zu sehen. Gegen die Rhapsodie wendet sich hingegen Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft schreibt: „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können.“ 69 Kant kontrastiert Rhapsodie und System und stellt dadurch das Unsystematische und Assoziative der rhapsodischen Wissensproduktion heraus, die aus dem zufälligen Reihen verschiedener Formen, Ideen und Stile entsteht. Die erwähnten Rhapsodien sind tatsächlich Texte, die ihre Themen unsystematisch in einem assoziativ-abgerissenen, fragmentarischen und improvisierten Stil behandeln. Dabei werden unterschiedliche Textmaterialien aneinandergereiht und verknüpft, so dass Form- und Funktionsmerkmale verschiedener Gattungen und Stile vermischt werden, wie bereits die zitierten Titel zeigen.70 Die in der Wortsemantik angelegte Tätigkeit vom Zusammenführen von Einzelstücken zu einem Werkganzen kann also zum impliziten Wissen der Gattung gezählt werden. Dazu gehört auch die performative Dimension der Rhapsodie, die durch die Figur des inspirierten Rhapsoden seit der Antike zur Verfügung steht. Insbesondere 65 Vgl. Platon: Ion, S. 15–17 (533d–534e). 66 Vgl. Widmaier: Rhapsodie, S. 3. 67 Vgl. Widmaier: Rhapsodie, S. 7. 68 Vgl. André Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie. Herder – Hamann – Shafestbury. In: Sabine Groß und Gerhard Sauder (Hg.): Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Saarbrücken 2004, S. 270. 69 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 2.2: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1966, S. 695 f. 70 Bei Hamann sind es die Elemente ‚Rhapsodie‘, ‚Kabbalistisch‘ und ‚Prosa‘ und bei Herders (unveröffentlichten) Antwort auf Hamann wird der ‚Dithyrambos‘ als zusätzliche Stilbeschreibung der Rhapsodie benutzt.

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die Texte von Hamann und Herder rekurrieren auf die Rolle des göttlich inspirierten Rhapsoden und nutzen ein poetisches Produktionsprinzip als philosophisch-theologisches und ästhetisches Interpretationsinstrument.71 Form und Inhalt gehen dabei eine enge Verbindung ein, indem der verwendete „Cento-Stil“ 72 die eigenen Aussagen unterstreicht und den Leser zwingt, sich auf die Sprach- und Bilderspiele einzulassen, um ein Sinnganzes herzustellen. Allerdings macht Herder Hamann den Vorwurf, die Technik der Zitation und Reihung so weit zu treiben, dass der Text unverständlich werde: „Der Rhapsodist hat gelesen, selbst wo es niemand weiß, und als έϱμενεύς έϱμενέων [Ausleger der Ausleger. Übers. Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie, S. 276] schreit er vor uns, und beinahe stets vor die Nachtwelt, Noten ohne Text; denn wer ist, der mit ihm zugleich lese!“ 73 Während die Rhapsodie das Einzelne zusammenfügen soll, wird sie bei Hamann schwer zugänglich, da die Brüche zu stark und die Nähte zu schwach sind.74 Herders Vorwurf zeigt, dass das aus Teilen zusammengesetzte Textganze, das die Semantik der Rhapsodie impliziert, eine Konstruktion ist, die nicht durch die Produktion, sondern erst durch die Rezeption entsteht, dann nämlich, wenn der Leser sich auf das Sprachspiel einlässt und es mitvollzieht. In der Rhapsodie sollen die Einzelteile und der Zusammenhang zugleich erkennbar sein: „Im Flickenteppich der Rhapsodie sind Kontinuum und Bruch miteinander versöhnt: bilden Brüche das Kontinuum.“ 75 Dieses Verhältnis von Bruch und Kontinuum kann somit zum impliziten Gattungswissen der Rhapsodie gezählt werden. Warum schreibt Reil nun seinen medizinisch-psychiatrischen Text in ein Gattungsformat ein, das den Inhalt als transitorisch und unsystematisch markiert? Welche Funktionen übernimmt das Gattungswissen der Rhapsodie in Reils Text und welche Bezüge gibt es zwischen dem Gattungswissen der Rhapsodie und dem behandelten Wissen von Krankheiten und ihrer Therapie? Reil entwickelt in seinen Rhapsodieen neurophysiologische und -psychologische Erklärungsmodelle für ‚Geisteskrankheiten‘ und sammelt sowie systematisiert Anwendungsmöglichkeiten der ‚psychischen Kurmethode‘. Bereits in seiner Vorrede stellt Reil heraus, das sein immerhin 500 Seiten zählendes Werk unsystematisch, unvollständig und vorläufig sei. Wie Platner beschreibt er diese Vorläufigkeit mit einer für die Rhapsodie unpassend wirkenden Gebäude- und Baumetapher, wodurch aber die Nähe zu Fragment und Bruchstück deutlich wird: „Freund Wagnitz arbeitet jetzt, wie bekannt, an dem großen Plan, Verirrte wieder zur Vernunft zu helfen. Er bat mich, auch ein Steinchen in irgend eine leere Fuge dieses grossen

71 Vgl. auch Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie, S. 270. 72 Vgl. Widmaier: Rhapsodie, S. 3. 73 Johann Gottfried Herder: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose. In: ders.: Werke, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 38. 74 Vgl. Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie, S. 269. 75 Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie, S. 269.

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Gebäudes einzuschieben.“ 76 Das Wissen über psychische Krankheiten und deren Therapie wird gerade erst gesammelt und systematisiert. Reils Rhapsodieen bilden somit nur einen Teil von einem ganzen System, das schließlich entstehen wird. Anders als Platner geht Reil von einem bereits stehenden Gebäude aus, in dem nur noch leere Fugen geschlossen werden müssen. Die Gebäudemetaphorik passt besser zum Fragment als zur Semantik der Rhapsodie, da sie von einem vorgeprägten Teil-Ganze-Verhältnis auszugehen scheint, während die Rhapsodie Offenheit und Korrigierbarkeit der Art und Weise der Zusammensetzung impliziert. Auf die Stoffmetaphorik der Rhapsodie rekurriert Reil, wenn er weiter ausführt, seine Abhandlung habe kein „systematisches Gewand“ und trete stattdessen in „leichte[r] Draperie“ auf und zur „Umkleidung“ 77 fehle es ihm an Zeit. Reils in 28 Paragraphen gegliederte Argumentation bewegt sich vom Allgemeinen zum immer Konkreteren, stellt zunächst die Seelenkräfte, dann ihre Störungen sowie mögliche Therapien dar und entwirft zuletzt den Plan einer Anstalt, in der die Kranken therapiert werden sollen. Reil nähert sich seinem Thema von außen, indem er den Gang aus dem „Gewühle einer großen Stadt“ in ein „Tollhaus“ 78 fingiert und so die um 1800 verbreitete Praxis des Irrenhausbesuches als argumentativen Einstig in seine Abhandlung benutzt. Es stellt sich jedoch heraus, dass – dem Topos der ‚Welt als Irrenhaus‘ gemäß – innen und außen in moralischer Hinsicht gar nicht so verschieden sind: Das Tollhaus hat sein Usurpateurs, Tyrannen, Sklaven, Frevler und wehrlose Dulder, Thoren, die ohne Grund lachen, und Thoren, die sich ohne Grund selbst quälen. Ahnenstolz, Egoismus, Eitelkeit, Habsucht und andere Idole der menschlichen Schwäche führen auch auf diesem Strudel das Ruder, wie auf dem Ocean der grossen Welt.79

Der Wechsel von Nähe und Distanz bleibt auch nach dem Eintritt in das Irrenhaus die beherrschende Perspektive, denn trotz der festgestellten moralischen Ähnlichkeiten ist der Verfasser – und so nimmt er an, sein Leser – angesichts der gleichzeitigen, dialektischen Andersartigkeit der Irren erschüttert: „Wie wird uns beim Anblick dieser Horde vernunftloser Wesen, deren einige vielleicht ehemals einen Newton, Leibnitz oder Sterne zur Seiten standen?“ 80 Leser und Verfasser werden im „uns“ zusammengefasst und dem Kranken gegenübergestellt. Wahnsinn und Vernunft werden als Kippfiguren inszeniert, während der Mensch eben noch neben

76 Reil: Rhapsodieen, S. 4. Heinrich Balthasar Wagnitz (* 1755 Halle/Saale † 1838 Halle/Saale) war ein evangelischer Theologe und Prediger. Wagnitz trat im Zuchthaus in Halle als Prediger auf und setzte sich für Reformen des Strafvollzuges ein (vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 10, S. 358). 77 Reil: Rhapsodieen, S. 6. 78 Reil: Rhapsodieen, S. 7. Reil impliziert ein gesellschaftliches Hinrücken zu einem Tollhaus (vgl. Schmaus: Psychosomatik, S. 102). 79 Reil: Rhapsodieen, S. 7. 80 Reil: Rhapsodieen, S. 8.

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Vertretern herausragender Vernunft und Intelligenz stand, gehört er jetzt zur „Horde vernunftloser Menschen“.

2.2.1 Rhapsodische Quellenkompilation Die Rückanbindung an die Antike, die durch die Gattung Rhapsodie impliziert wird, beansprucht Reil auch auf inhaltlicher Ebene. Er gibt an, ein Wissen zusammenzutragen, dass die „Alten“ teilweise schon gehabt hätten, dessen „reichhaltigen Ueberreste“ 81 jedoch von den zeitgenössischen Ärzten missachtet würden. Diese Reste von Wissen gelte es zu sammeln, zu aktualisieren und zu systematisieren: Diese Curmethode ist zwar als eigne Disciplin, in einem systematischen Zusammenhang und in Verbindung mit den ihr angehörigen Wissenschaften nie bearbeitet. Doch finden wir hie und da Bruchstücke derselben, die uns die Geschichte der Arzneikunde, aus der älteren und neueren Zeit, aufbewahrt hat. […] Die Griechen und Römer waren mit ihr nicht unbekannt. Davon überzeugen uns manche Stellen in den Schriften des Hippocrates, Celsus, und C. Aurelianus. Auch die Araber bedienten sich ihr zur Heilung der Krankheiten.82

Ein verschüttetes und verstreutes Wissen wird hier wiederentdeckt und zusammengeführt. In der Semantik der Bezeichnung Rhapsodie bleibend kann man sagen, dass der Rhapsode – statt Poesie – Wissen sammelt, um es zu verkünden und darzustellen. Die Bezeichnung „Bruchstücke“ verdeutlicht erneut die Verwandtschaft mit dem Fragment, wobei durch den Verweis auf das Wissen der ‚Alten‘ auf die ursprüngliche Bedeutung des Fragments als Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit rekurriert wird. Während das Ganze des Kunstwerkes jedoch verloren ist, wird in Reils Rhapsodieen klar ein Übergang zu einem neuen ‚Ganzen‘ in Form einer umfassenden Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten angestrebt, welche die antiken ‚Bruchstücke‘ mit einbezieht und um neu erworbenes Wissen ergänzt. Um die Größe seines Vorhabens zu unterstreichen, stellt Reil ein Zitat von Francis Bacon über die Notwendigkeit, große Anstrengungen gemeinsam anzugehen, als Motto über seinen Text. Durch den Bezug auf Bacon, der als Wegbereiter des Empirismus und der modernen Naturwissenschaften gilt,83 wird dem poetischrhapsodischen Format zugleich ein empirisch-naturwissenschaftliches Vorgehen zur Seite gestellt. Für das Vorhaben, die psychischen Krankheiten zu erklären und

81 Reil: Rhapsodieen, S. 22. 82 Reil: Rhapsodieen, S. 28. Auch der Arzt Johann Baptist Friedreich beginnt seinen Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten mit einer ausführlichen Darstellung der Werke antiker Ärzte. Auch Mythen werden dabei immer wieder zum Beweis des psychopathologischen Wissens der ‚Alten‘ herangezogen. 83 Vgl. Michael Gamper: Dichtung als ‚Versuch‘. Literatur zwischen Experiment und Essay. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 17 (3/2007), S. 596 f.

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darauf aufbauend eine psychische Therapiemethoden zu entwickeln, empfiehlt Reil die Ärzte: Dazu empfehle ich […] die Zunft der Aerzte. Sie haben Muth und Kraft, weil jeder ihrer bedarf. Sie sind Zöglinge aus der Schule der grossen Natur […]. Sie werden grau im Jammer, den sie täglich in seinen grellsten Farben anschaun und sind daher zum Handeln bereit, wenn es auf Beistand der leidenden Menschheit ankömmt.84

Das Wissen der Ärzte entstammt unmittelbar aus der Natur und wird durch Mitleid und die Bereitschaft zu handeln ergänzt. Die Tätigkeit des psychischen Arztes ist dabei wie die des Rhapsoden eine hermeneutische, denn er muss die oft verworrenen Symptome lesen und in ihrer Komplexität verstehen. Wie der Rhapsode ist er ein ‚Ausleger‘: Manche Hindernisse beseitigt das Genie des Künstlers in der Ausübung. Hier scheiden sich Theorie und Praxis. Jene giebt die allgemeinen Regeln, diese muss sie den individuellen Umständen anpassen. Um dies Verhältnis richtig aufzufassen, muss der Arzt nicht allein den vorliegenden Fall in allen, selbst in seinen verstecktesten Beziehungen überschaun; sondern auch in Besitz der Regeln seyn, die er auf denselben anwenden soll.85

Der Arzt erhält geniale Züge, sein Können beruht auf dem Zusammenspiel abstrakten Wissens und individueller Intuition.86 Die Rede vom ‚Genie‘ überträgt das rhapsodische Inspirationsmodell auf die Wissenschaften, wo es dem Verständnis von Mensch und Natur dient. In Platons Ion wurde dem Rhapsoden ein privilegiertes Verständnis des Dichters, dessen Werk er vorträgt, zugesprochen. Wenn Reil den Arzt als ‚Genie‘ bezeichnet, geht es ihm ebenfalls um eine besondere Fähigkeit des Verstehens. Der Arzt kann die Zusammenhänge hinter den einzelnen Symptomen des individuellen Falls erkennen und diese zu einer Krankheitsdiagnose zusammenfügen, um auf dieser Basis seine Therapie aufzubauen. Wie der Rhapsode ist der Arzt in der Lage, sich in den Urheber oder Träger der Zeichen hineinzuversetzen. Im Fall des Rhapsoden ist der Urheber der Dichter, hinter dem wiederum die Wirkung einer göttlichen Kraft oder einer Muse sichtbar wird. Im Fall des Arztes ist der Patient der Träger verschiedener als Zeichen fungierender Symptome, hinter denen die Natur erkennbar wird. Dadurch wird eine Zirkelbeziehung zwischen dem individuellen Fall und allgemeiner Theorie konstruiert. Um den Fall zu verstehen, muss der Arzt alle seine Äußerungsweisen erkennen. Um diese in einen Zusammenhang bringen zu können, benötigt er jedoch allgemeine Regeln, nach denen er die kontingenten Zeichen verbinden kann. Hier ist eine Abkehr von der ausschließlichen Ausrichtung

84 Reil: Rhapsodieen, S. 17. 85 Reil: Rhapsodieen, S. 36. 86 Vgl. zur Konzeption des Arztes als Genie auch Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren, S. 481– 483 und S. 508.

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an der Empirie zu beobachten, indem auf die Wichtigkeit allgemeiner, theoretischer Regeln verwiesen wird. Das Ausmaß und die Bedeutung des eigenen Unterfangens werden immer wieder durch metaphernreiche Vergleiche und pathos-geladene Beschwörungen unterstrichen, welche die längeren, logisch argumentierenden und begründenden Passagen unterbrechen: Heil unserm Wagnitz! Sanft ruhe Howard’s Asche! Ein kühnes Geschlecht wagte sich an die gigantische Idee, die dem gewöhnlichen Menschen Schwindel erregte, eine der verheerendsten Seuchen von dem Erdball zu vertilgen. […] Ueber sie alle schwebt, gleich dem Adler, eine sublime Gruppe speculativer Naturphilosophen, die ihre irdische Beute in dem reinsten Aether assimiliert und als schöne Poesien wieder giebt.87

Indem Reil die Verbreitung psychischer Krankheiten als Seuche bezeichnet, unterstreicht er die Wichtigkeit seines Vorhabens. Die Rede von der Seuche oder Epidemie etabliert, wie in Kapitel 2.1.2 skizziert, eine bestimmte „Wahrnehmungsstruktur“ 88, welche die Aufmerksamkeit auf die große Anzahl von Personen lenkt, die in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit dieselben Symptome zeigen. Diese These eines epidemischen Vorkommens der Geisteskrankheiten untermauert Reil bereits zu Beginn seines Werkes, indem er aus Johann Gottfried Langermanns Dissertation De Methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda zitiert, in welcher der starke Anstieg der Anzahl wahnsinniger Insassen in den öffentlichen Anstalten in Torgau und Waldheim zwischen 1772 und 1797 dargestellt wird.89 Vor dem Hintergrund solcher konkreten Beispiele weitet Reil die Häufung der Geisteskrankheiten zu einer Kulturdiagnose aus, indem er sie mit Dekadenz und Verfeinerung begründet: „Wir rücken Schritt vor Schritt dem Tollhause näher, so wie wir auf dem Wege unserer sinnlichen und intellectuellen Cultur fortschreiten.“ 90 Die Verknüpfung von Nervenkrankheiten, kultureller Verfeinerung und Luxus ist ein vielfach verwendeter Gemeinplatz in der Medizin um 1800. Das Bild vom Naturphilosophen als Adler, der die „irdische Beute“ aufgreift, welche die empirische Arbeit der Ärzte bezeichnet, entwirft eine ideale Zusammenarbeit von Medizin und Philosophie. Später baut Reil diese Vorstellung zum Ideal eines Staates aus, in dem sich die verschiedenen Wissenschaften ergänzen. Diese Utopie entwirft er in Form eines persönlichen Traumberichts:

87 Reil: Rhapsodieen, S. 52 f. 88 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 40. 89 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 11; Johann Gottfried Langermann: De Methodo cognoscendi curandique animi morbus stabilienda. Jena 1797, S. 3. Langermann war bis 1804 Arzt im Zucht- und Irrenhaus in Torgau. Bekannt wurde er für seine Reform der Irrenanstalt St. Georgen in Bayreuth (vgl. Dora B. Weiner: The Madman in the Light of Reason. Enlightenment Psychiatry: Part II. Alienists, Treatises, and the Psychologic Approach in the Era of Pinel. In: Wallace, Edwin R. and John Gach (Hg.): History of Psychiatry and Medical Psychology. New York 2008, S. 292). 90 Reil: Rhapsodieen, S. 12.

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Mir träumte jüngst, und wer kann davor, dass man träumt, nach einem glücklichen Abend in dem geschlossenen Zirkel einiger Freunde, in dem Land der Severamben zu seyn. Ich sah daselbst neben der Armee, die die äussere Sicherheit besorgte, auch ein literarisches Corps, das aus Chemikern, Anatomen, Botanikern und anderen Naturforschern bestand. Der Auditeur, den es zur Zierrath bei sich führte, war ein speculativer Naturphilosoph. […] Dies Corps bestand auf Kosten des Staats, und war bloss dazu bestimmt, Künste und Wissenschaften, durch dieselben jeden Zweig des Erwerbs, die Industrie und die innere Wohlfahrt der Landeseinwohner zu fördern. […] Wohin es kam, blühte der Erwerbsfleiss, Wohlstand und Reichthum unter seinen Fussstapfen auf.91

In Reils idealem Staat werden durch einen „literarischen Corps“ Ökonomie, Wohlfahrt, Wissenschaft und Moral befördert. Das Adjektiv „literarisch“ wird hier als Gegenstück zu militärisch verwendet und funktioniert als Sammelbegriff für verschiedene Wissensbereiche. Durch den Verweis auf die Sevaramben rekurriert Reil auf den utopischen Roman des französischen Autors Denis Vairasse Histoires des Sévarambes92 und zitiert damit das Wissen der literarischen Utopie an. Diese für die Rhapsodie typische Mischung von verschiedenen Gattungsformen ermöglicht es Reil, in subjektiver Form ein übergeordnetes Ideal zu entwerfen, zu dem seine Rhapsodieen auf einem Teilgebiet beitragen sollen. Die Subjektivität wird durch die Ich-Form und den Verweis auf den im Kreis der Freunde genossenen Abend unterstrichen. Mit der Paragraphenform verwendet Reil die übliche Schreibweise für philosophische Systeme und verknüpft diese, wie das Beispiel des utopischen Traumberichts zeigt, mit Formelementen der poetischen Rhapsodie. Die Paragraphen ergeben jedoch kein festes System. Vielmehr will Reil „nur Versuche machen und einige Grundrisse entwerfen, die von der Zukunft erst ihre Vollendung erwarten“ 93. Mit der Rhapsodie benutzt Reil für die Entwürfe dieser „Grundrisse“ eine Gattung, in deren Semantik und Tradition das Transitorische und Flexible bereits inhärent ist. Insbesondere die ursprüngliche mündliche Vortragsform ermöglichte es, bestimmte Einzelteile immer wieder neu und unterschiedlich zusammenzufügen. Die poetische Rhapsodie ist daher für die Entwürfe geeignet, die Reil machen möchte und die durch die nummerierten Paragraphen in einen vorläufigen Ordnungszusammenhang gebracht werden. Die Gattung Rhapsodie wird somit als Schritt zur Fixierung und Archivierung des medizinisch-psychiatrischen Wissens genutzt.

91 Reil: Rhapsodieen, S. 43 f. 92 Denis Veraisses Roman besteht aus zwei Büchern und behandelt die Geschichte des Kapitän Siden und seiner Mannschaft, die nach einem Schiffsbruch im Land der Seravamben, eines fiktiven Volkes, auf dem australischen Kontinent stranden. Das erste Buch erschien 1675 als The History of the Seravites in London. Die französische Ausgabe wurde zwischen 1677 und 1679 publiziert. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1689 (vgl. Richard Saage: Utopische Profile. Bd. 2. Aufklärung und Absolutismus. Münster 2002, S. 16 f.). 93 Reil: Rhapsodieen, S. 218.

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Das Wissen, das dabei gesammelt und geordnet wird, stammt aus heterogenen Quellen. Reil exemplifiziert und unterstreicht seine allgemeinen Aussagen mit einer Vielzahl an Fallgeschichten, die er aus unterschiedlichen Textsorten zusammenträgt. So führt er eine Episode aus der Historia dynastiarium des syrischen Gelehrten Gregorius Bar-Hebraeus’ zum Beweis arabischer Kenntnisse auf dem Gebiet der psychischen Kurmethode an.94 Die biblische Geschichte des König Nebukadnezar dient ihm als Fallbeispiel einer durch Hochmut verursachten Geisteskrankheit. In der Rolle des psychischen Arztes ist hier Gott selbst, der den eitlen König durch gezielte Demütigung heilt.95 Plutarchs Bericht einer Selbstmordepidemie in Milet dient Reil als Beleg für den pathologischen Drang zur Selbsttötung.96 Den Großteil seiner Fallbeispiele zieht Reil aus eigenen und fremden zeitgenössischen Texten und integriert sie auf unterschiedliche Weise in seinen Rhapsodieen. Oft reiht er kurze Ausschnitte aus unterschiedlichen Quellen assoziativ aneinander, um eine allgemeine Annahme zu belegen, wie folgendes Beispiel zeigt: Dann kann noch das Bewusstseyn, sofern es sich durch ein Zusammenfassen aller unserer Verhältnisse zur Einheit einer Person äussert, von der Norm abweichen. […] Jene cataleptische Frauensperson hatte in ihrem Anfall das widersprechende Gefühl, als wenn sie zu einerley Zeit in ihrem Körper zugegen und nicht zugegen gewesen wäre.*) Mein ganzes ich, sagt Herz**) war mit dem ersten Momente meiner Rekonvalescenz nicht fühlbar. Beinahe kam es mir vor, als wenn der Genesene, ein ganz anderes Subject, neben mir im Bette wäre. Ein anderer Fieberkranker wurde, da er von seiner Fühllosigkeit erwachte, von der Einbildung geplagt, er habe sich verdoppelt […].*) Ich sah einen Ruhrkranken, dem das Gemeingefühl seinen Körper, in seine Bestandtheile aufgelöst, wie er in den Cabinettern der Anatomen aufbewahrt wird, vorlegte. Er sah sein Gehirn, seine Nerven, Sinne, Eingeweide, als in bunter Verwirrung um sich zerstreut liegen. In der Mitte war er, reflektirte über jeden Theil, vorzüglich über den Darmkanal, als die Quelle seiner Schmerzen. Ein ähnliches Beispiel wird beim Mauchart**) erzählt.97

Reil nutzt hier die rhapsodische Technik des Aneinanderreihens unterschiedlicher Textausschnitte, um sein System der seelischen Krankheiten und ihrer Therapie entlang empirischer Beobachtungen zu konstruieren: Die einzelnen Fälle werden ‚nähend‘ zusammengefügt. Im Fall von Herz wird die Rede des Kranken dabei in

94 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 28 f. Gregorius Bar-Hebraeus Abu al-Faraj (* 1225/26 Malatya † 1286 Maragha) war Maphrian der Syrisch-Orthodoxen Kirche im 13. Jahrhundert und für seine herausragenden Kenntnisse in verschiedenen Wissensbereichen berühmt (vgl. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Bd. 1. Hamm 1990, Sp. 370 f.). 95 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 295. Nebukadnezar [bei Reil Nebueadnezar] war von 605 bis 562 v. Chr. König von Babylon. Beim Propheten Daniel (4,22–33) findet sich die Erzählung, dass Gott ihm als Strafe für seinen großen Stolz sein Königreich nimmt und ihn wahnsinnig werden lässt. Nach sieben Jahren wird er gesund, erhält sein Reich zurück und hat gelernt, Gott zu ehren (vgl. Das grosse Bibellexikon, Bd. 2, hg. von Helmut Burkhardt, Fritz Grünzweig, Fritz Laubach und Gerhard Maier. Wuppertal/Zürich 1988, S. 1028–1041). 96 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 354. 97 Reil: Rhapsodieen, S. 78–80.

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den Text integriert. Die Sternchen als Fußnotenzeichen markieren den jeweiligen Wechsel der Quellen, die in den Anmerkungen ergänzt werden.98 Die Fußnoten nutzt Reil nicht nur zum Nachweis der benutzten Quellen, sondern auch, um seine Ausführungen zu unterfüttern. Teilweise erstrecken sich die in den Fußnoten abgedruckten Texte über mehrere Seiten. Dadurch wird eine weitere Darstellungsebene in den rhapsodischen Text eingezogen. So untermauert Reil seine Empfehlung, rekonvaleszenten psychisch Kranken ihren Aufenthalt im Tollhaus zu verschweigen, mit der dreiseitigen Wiedergabe einer Fallgeschichte aus Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde in einer Fußnote, in der ein junger, vom Wahnsinn genesener Mann seinen Vater erschlägt, als er sich an die Zeit im Irrenhaus erinnert. Die dramatischen Momente der einsetzenden Erinnerungen und des Totschlags werden dabei wörtlich wiedergegeben.99 Die integrierten Fallberichte funktionieren als rhetorische Evidenz für Reils allgemeine Regeln. Die Fallbeispiele werden durch Abstraktion und Hypothesen ergänzt, wobei die Phantasie zum Produzenten von Wissen werden kann: „Ich will einen Kranken setzen, der in einem hohen Grade faselt oder kataleptisch und unverwandt auf einen Gegenstand hinstarrt […]. Man verzeihe es mir, wenn ich in der Erfindung der Mittel für diesen hypothetischen Fall, der Phantasie freien Lauf lasse.“ 100 Gerade das Fiktive des Falls ist dazu geeignet zu abstrahieren, da es nicht an die individuellen Unterschiede und Begrenzungen des realen Falls gebunden ist. Jedoch wird der fiktive Fall immer wieder mit ‚realen‘ Beispielen untermauert und der Text durch lange Zitate unterbrochen oder durch Fußnoten ergänzt. Reils rhapsodischer ‚Grundriss‘ der psychiatrischen Wissenschaft entsteht nach einer Art Kompilationslogik, indem verschiedene Texte, Wahrnehmungsformen und Gattungsformate gesammelt und neu zusammengesetzt werden, um psychosomatische Wirkungsweisen und Krankheiten zu erklären. Die Beschreibung der psychischen Vorgänge ist dabei durch die Spannung von Sichtbarem und Unsichtbarem charakterisiert, entlang derer die Grenze von Wissen und Nicht-Wissen gezogen wird. Der Arzt muss sich an den Funktionsweisen orientieren, die gerade durch die Krankheit sichtbar werden: „Wir sind daher genöthigt, uns an die Verletzungen der Seelenkräfte zu halten, durch welche sie sichtbar werden, und die Produkte statt der Ursachen aufzufassen.“ 101

98 Diese sind: Johann Christian Reil: Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber. Allgemeine Fieberlehre, Bde. 1–5. Halle 1799–1815; Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, in Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 1, 2. St., 1783, S. 44–72; Immanuel David Mauchart: Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, Bde. 1–6. Tübingen 1792–1801. 99 Vgl. Ludwig Albert Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, 3. St. (1788), S. 90–125. 100 Reil: Rhapsodieen, S. 224 f. 101 Reil: Rhapsodieen, S. 256.

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2.2.2 Krankheit als Auflösung des Individuums Das Zusammenführen von Teilen zum Ganzen, den die von Reil gewählte Form der Rhapsodie ausdrückt, kennzeichnet auch den Inhalt des Textes, denn die Figuren von Ganzheit und Einzelnem organisieren auch die Darstellung von Seele, Körper und Krankheit. Der Mensch als eine personale Einheit setzt sich aus unzähligen Einzelteilen zusammen. Agenten dieser Einheit sind das Nervensystem und das in der Einleitung vorgestellte ‚Selbstbewusstsein‘. Das Nervensystem reiht die Körperteile und Organe wie an Schnüren auf und hält sie einem Netz gleich zusammen. Das ‚Selbstbewusstsein‘ sichert bei Reil zusammen mit den Seelenkräften ‚Besonnenheit‘ und ‚Aufmerksamkeit‘ im gesunden Zustand die personale Einheit und das Funktionieren des Individuums in seiner Umwelt, indem es Wahrnehmungen in seine zeitliche und räumliche Beziehung zum eigenen Ich ordnet und zwischen Subjekt und Objekt trennt.102 Das Selbstbewusstsein als „Grundveste unserer ganzen moralischen Existenz“ 103 fügt nach Reil das „Mannichfaltige zur Einheit“ 104 zusammen. Wie dieses Zusammenfügen des Einzelnen in der Seele abläuft, ist unbekannt, weshalb Reil diese Funktionsweise in Analogie zum Körper erklärt, durch die seelische Prozesse erst kommunizierbar werden: Ich will es daher versuchen, diesem Vermögen der Seele durch eine Analogie aus dem Gebiete der Organisation näher zu treten. Der Mensch hat Individualität, wenn er gleich höchst theilbar; Einheit wenn er gleich ein Aggregat der fremdartigsten Organe ist. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüsen, Eingeweide, wie verschiedner Natur sind nicht diese Dinge? Dazu kommt noch, dass wir jede derselben als einen isolierten Körper betrachten können, der durch sich eine bloss mechanische, keine dynamische Verknüpfung mit dem andern hat.105

Individualität als Erfahrung seelisch-körperlicher Einheit wird dem höchst Disparaten der einzelnen Körperteile und Organe entgegengesetzt, die im Körper funktional verbunden werden. Die Ursache für die körperliche Einheit ist das Nervensystem, welches das Medium aller physiologischen Kommunikation ist: Erst durch das Nervensystem, an dessen Schnüre sie [die Organe und Körperteile] aufgereiht sind, kömmt Einheit in diese grosse Mannichfaltigkeit. Aeste desselben sammlen einzelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden, Gliedern u. s. w. auf, und dann erst werden diese verschiednen Getriebe, durch das Gehirn, als den Hauptbrennpunkt des Nervensystems, zu einem Ganzen zusammengehängt. Dieser Einrichtung, die das mannichfaltige Körperliche zu einem Individuum erhebt, scheint die Ursache des Selbstbewusstseyns verwandt zu seyn, das den

102 Die Definition der Wirkungsweise des Selbstbewusstseins benutzt zentrale Vorstellungen von Kants Erkenntnisphilosophie und verknüpft sie mit der Physiologie. Vgl. dazu: Huber: Der Text als Bühne, S. 152. 103 Reil: Rhapsodieen, S. 53. 104 Reil: Rhapsodieen, S. 54. 105 Reil: Rhapsodieen, S. 54.

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geistigen Menschen, mit seinen verschiednen Qualitäten zur Einheit einer Person zusammenfasst. Die durch den gesammten Organismus ausgestreckten Aeste des Nervensystems bewirken die Individualität des Körpers, das Gehirn desselben, von dem sie ausgehen, und wo sie wieder zusammenstossen, die Persönlichkeit. Daher rührt es, dass der Geist jeden Stoff, der ihm gegeben wird, seiner Organisation gemäss verarbeitet, und überall Einheit in das Mannichfaltige zu bringen sucht.106

Die Funktionsweise des Nervensystems, durch welches das zweckmäßige Zusammenwirken der Einzelteile bewirkt wird, wird durch das Engführen verschiedener Metaphernfelder rhetorisch erzeugt. Die Schnüre des Nervensystems verknüpfen die einzelnen Körperteile zunächst zu ‚Gattungen‘ wie die „Sinnesorgane“ oder die „Glieder“ und fügen sie schließlich zu einem Netz zusammenhängender Einzelteile zusammen. Das Gehirn ist das Zentrum und der Haltepunkt dieses Netzes, von dem aus die verschiedenen „Getriebe“ koordiniert werden. Es ist dabei als Ausgangsund Endpunkt der Umschlageplatz der nervösen Körperkommunikation ähnlich wie das Herz für den Blutkreislauf. Die Nerven laufen aus dem Gehirn gegen die Peripherie des Körpers und kehren von dort aus zurück in das Gehirn, wo sie sich erneut sammeln.107 Die Organe sind an den ‚Ästen‘ des Nervensystems aufgereiht.108 Die Baummetapher drückt das vereinheitlichende und stabilisierende Prinzip der Nerven aus, wodurch die Einzelteile des Körpers zur dynamischen Einheit des Organismus zusammengefügt werden.109 Körper und Seele erscheinen als natürliches ‚Ganzes‘, in dem die unterschiedlichen Einzelteile zweckmäßig zusammenarbeiten. Seit der Antike ist die Vorstellung des ‚Ganzen‘ als eine Art ‚Weltganzes‘ mit einer organischen Metaphorik beschrieben worden.110 Kant entwickelt in der Kritik der reinen Vernunft seine Vorstellungen von Ganzheit und System der Vernunft am Modell des Organismus, in dem die Einzelteile zu einem bestimmten Zweck zusammengehalten werden und dem keine weiteren Teile hinzugefügt werden können.111 In der Ganzheit des Organismus er-

106 Reil: Rhapsodieen, S. 54 f. 107 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 112. 108 Auch in der aktuellen Medizin wird zur Verdeutlichung von strukturfunktionellen Vorstellungen der Nerven von ‚Ästen‘ gesprochen: vgl. beispielsweise Heinrich Mattle und Marco Mumenthaler: Neurologie. 13. überarbeitete Aufl. Stuttgart 2013, S. 624. 109 Die Vorstellung des Nervensystems als stabilisierendes Kommunikationssystem findet sich bereits in der antiken Medizin. Galen konzipierte die Nerven als verzweigtes Röhrensystem, durch welches das Gehirn einen ‚Seelengeist‘ pumpe. Diese Vorstellung entwickelte sich zur Annahme eines Nervenfluidum, dass durch die Nerven fließt, die bis ins neunzehnte Jahrhundert valide blieb (vgl. Frank W. Stahnisch: Nerven. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon, hg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Göttingen 2005, Sp. 558–563, insb. Sp. 559 f.). 110 Vgl. Walter Pape: „Nähert man sich nur der Geschichte mit grossen Erwartungen von Licht. Wie sehr findet man sich da getäuscht!“ Notizen zu den Krisen der (Welt-)Geschichtsschreibung. In: Zagreber Germanistische Beiträge 21 (2012), S. 7. 111 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 696.

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kennt sich die Vernunft selbst wieder und beurteilt die organische Ganzheit daher als zweckmäßiges System.112 Reils Konzeption von Krankheit als Zerstörung der personalen Einheit lässt gerade diese Gleichsetzung von Vernunft und Natur brüchig werden. Im Zustand von Krankheit zerfallen Seele und Körper wahrnehmungspsychologisch in ihre Einzelheiten,113 ein Vorgang, den Reil durch die kumulative Reihung sehr verschiedener Metaphernfelder beschreibt. Er reflektiert dabei die hermeneutische Funktion bildlicher Sprache bei der Erkenntnis psychischer Prozesse, die sich der unmittelbaren Beobachtung entziehen: So lange der Mensch gesund ist, sammlet das Nervensystem seine durch die ganze Organisation ausgestreckten Glieder in einem Mittelpunkt. […] Allein die Angel der Verknüpfung kann abgezogen werden. Das Ganze wird dann in seine Theile aufgelöst, jedes Getriebe wirkt für sich, oder tritt mit einem anderen, ausserhalb des gemeinschaftlichen Brennpunkts, in eine falsche Verbindung. Der Körper gleicht einer Orgel; bald spielen diese bald jene Theile zusammen, wie die Register gezogen sind. Es werden gleichsam Provinzen abtrünnig; man verzeihe mir diese bildliche Sprache, die man in der Psychologie nicht entbehren kann. In diesem Zustande muss die Synthesis im Bewusstseyn verlohren gehen. Die Seele ist gleichsam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher sie alles umgestürzt findet, hat Mast und Ruder verlohren und schwimmt gezwungen auf den Wogen der schaffenden Phantasie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu seyn, lebt in Höhlen oder Palästen und versetzt sich in Zeiten die nicht mehr sind, oder noch kommen sollen.114

Krankheit – so evozieren die Maschinen-, die Orgel- und die Politikmetaphern – entsteht dadurch, dass das Zentrum eines funktionierenden Systemganzen verloren geht oder sich verschiebt.115 Die gewählten Metaphern verdeutlichen insbesondere den Kontrollverlust des bewussten Ichs, durch den die genannten teleologischen Vorstellungen des ‚Ganzen‘ brüchig werden. Das Bild der Seele, die sich in der eigenen Wohnung fremd fühlt, erinnert an traditionelle Vorstellungen vom Körper als Hülle oder Schale der Seele und drückt aus, dass die Selbstwahrnehmung fehlerhaft und das Verhältnis zur Umwelt und zum eigenen Körper gerstört werden. In der Seele geht das Zusammenspiel der einzelnen Kräfte verloren und die Phantasie wird die dominierende Kraft. Deren verheerende Wirkung wird durch das Bild des Schiffsbruchs ausgedrückt. Sie produziert fiktive Vorstellungen, die für real gehalten werden. Die Kontrastierungen von „Wurm“ und „Gott“, „Höhlen“ und

112 Vgl. Kaulbach/Oeing-Hanhoff/Beck: Ganzes/Teil, Sp. 15 f. 113 Vgl. ähnlich für Reils Text Das Zerfallen der Einheit unseres Körpers im Selbstbewusstseyn: Stefan Rieger: Die Kybernetik des Menschen. Steuerungswissen um 1800. In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 102 f. 114 Reil: Rhapsodieen, S. 63 f. 115 Auch bei körperlicher Krankheit findet dieses Auseinanderfallen der Wahrnehmung statt, wie das oben zitierte Beispiel des Ruhrkranken zeigt, der seinen Körper in alle Einzelteile zergliedert wahrnimmt. Aus dem zusammenhaltenden Netz wird ein Kabinett von einzelnen Körperteilen.

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„Palästen“ bringt die extremen Ausmaße dieses Realitätsverlusts zum Ausdruck. Mit den Wirkungen der produktiven Phantasie, die sich in andere Rollen und Zeiten versetzt und somit ganze Welten erschafft, beschreibt Reil indirekt die Wirkungsweisen von fiktiver Literatur, deren Nähe zur einer Einbildungskraft erkennbar wird, die pathologisch werden kann, wenn die Differenz zwischen ihren Produkten und der Realität nicht mehr wahrgenommen wird.116 Die Geisteskrankheiten, die Reil im Folgenden vorstellt, um sie theoretisch einer psychischen Therapie zu unterziehen, sind durch Figuren des Zerfalls und der Zerstörung gekennzeichnet.117 Dazu gehören sowohl die Phänomene der ‚Zerstreutheit‘, in der die Wahrnehmung in Einzelteile zerfällt, als auch der ‚Vertiefung‘, in der sich die Seele nur noch auf eine Idee fixiert.118 Diese Krankheiten sind gekennzeichnet von einem Verlust der Mitte oder des Maßes: „Je weiter der Mensch von dem normalen Standpunkt in der Mitte sich entfernt, desto mehr ist er an dem einen Extrem vertieft, am andern zerstreut und an beiden Enden auf dem Wege zur Verrückung.“ 119 Zudem kann innerhalb des eigenen Ichs eine Persönlichkeitsveränderung stattfinden, die sich der vernünftigen und rationalen Kontrolle entzieht, etwa bei der ‚Verdoppelung‘ in den Phänomenen des animalischen Magnetismus oder des ‚Außer-Sich-Seins‘ in der Raserei, die Reil als „Duplicität der Persönlichkeit“ 120 und „Phänomene der umgetauschten Persönlichkeit“ 121 beschreibt. Zur Erläuterung dieser Krankheitsphänomene benutzt Reil wiederholt Bühnen- und Theatermetaphern, durch welche die Störungen innerhalb des Individuums sowie zur Umwelt erschlossen werden. Die Wahrnehmung kann dabei in Bezug auf die Unterscheidung von Objekt und Subjekt fehlerhaft sein, so dass der Kranke nicht mehr sicher sein kann, „ob wir es sind, die empfinden und handeln, oder blosse Zuschauer des Empfindens und Handelns eines andern sind“ 122. Die Unterschiede zwischen Ich und Umwelt werden als die von Bühnenfigur und Zuschauer gefasst. Dabei kann das eigene Bewusstsein so sehr verloren gehen, dass der Kranke eine fremde Rolle für seine hält, da „wir entweder unsere Persönlichkeit bezweifeln oder unser Ich mit einer fremden Person verwechseln, fremde Qualitäten uns anmassen und unsere eigenthümlichen Zustände auf andere verpflanzen“ 123.

116 Vgl. zur Rolle der Einbildungskraft bei Reil auch Daniela Watzke: Hirnanatomische Grundlagen der Reizleitung und die „bewusstlose Sensibilität“ im Werk des Hallenser Klinikers Johann Christian Reil. In: dies. und Jörn Steigerwald (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1630–1830). Würzburg 2003, S. 249 f. 117 Vgl. ähnlich für Reils Text Das Zerfallen der Einheit unseres Körpers im Selbstbewusstseyn: Rieger: Die Kybernetik des Menschen, S. 102 f. 118 Vgl. zu ‚Besonnenheit‘ und ‚Zerstreuung‘: Reil: Rhapsodieen, S. 107–110 119 Reil: Rhapsodieen, S. 109. 120 Reil: Rhapsodieen, S. 82. 121 Reil: Rhapsodieen, S. 74. 122 Reil: Rhapsodieen, S. 69. 123 Reil: Rhapsodieen, S. 72.

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Aber auch innerhalb des Subjekts kommt es zur Übernahme fremder Rollen, die durch krankhafte Brüche und Vervielfältigungen des gesunden Wahrnehmens verursacht werden, durch die das Ich als personale Einheit gefährdet wird. Im Krankheitsfall können Schichten des Bewusstseins zum Vorschein kommen, die im Normalfall unsichtbar bleiben und die ‚eigene‘, ‚gesunde‘ Persönlichkeit verdrängen. Reil führt als Beispiel den Fall einer jungen Patientin des Heilbronner Arztes Gmelin an, die sich in Fällen periodischen Wahnsinns für einen französischen Flüchtling hielt, anfing Französisch zu sprechen und alle Angehörigen als Akteure in ihrer Flüchtlingsgeschichte behandelte. Der Arzt konnte die ‚echte‘ und ‚falsche‘ Persönlichkeit mit nur einem magnetischen Strich über das Gesicht abwechselnd hervorrufen. Die beiden Personen existieren in einem Individuum bewusstseinspsychologisch völlig getrennt voneinander, wie Reil in Bezug auf Nachtwandler und Somnambuler ausführt: Die Nachtwandler sind sich meistens ausser dem Anfall dessen nicht bewusst, was in demselben mit ihnen vorging; erinnern sich aber der Begebenheiten der vorigen Anfälle in dem folgenden. Sie wissen es im Anfall nicht, dass sie auch noch zu einer andern Zeit, im Intervall existieren. Die Veränderungen der Anfälle reihen sich an eine; und die Erscheinungen der Intervalle an eine andere Person auf. Jede Epoche in der Succession des nemlichen Individuums wird in ein besonderes Bewusstseyn aufgefasst. Der Zuschauer sieht nur eine, das Indidivuum unterscheidet sich in zwey Personen. Besonders auffallend ist diese Duplicität der Persönlichkeit in der magnetischen Somnambüle. […] Die Somnambüle ist in der Crise ein anderes, und ein anderes Wesen ausser derselben. Ausser der Crise tritt die ursprüngliche Person wieder ein, die von allen dem nichts weiß, was die Person in der Crise wirkte. Der Mensch des Anfalls und der Mensch des Intervalls sind durch eine Modifikation des Bewusstseyns in zwey sich ganz unbekannte Wesen getheilt. Jedes besteht für sich und spielt seine eigene Rolle, verschieden von dem andern, nur auf einerley Theater. Das Ich muss das nemliche Ich sich als nicht Ich entgegensetzen und darüber mit sich selbst in Widerstreit geraten.124

Durch die Rollenmetapher wird die innere Aufteilung in zwei Persönlichkeitsbereiche kommuniziert. Mit dem Ausdruck „einerley Theater“ werden der begrenzte Raum des Theaters und seine Beobachtungsstruktur genutzt, um das Konfliktpotential mit der Umwelt des Kranken, der seiner sozialen ‚Rolle‘ nicht mehr nachkommen kann, da er die innere Aufsplitterung in verschiedene Bewusstseinsbereiche nicht wahrnehmen kann, darzustellen. Die Vervielfältigungsmöglichkeiten der eigenen Persönlichkeit sind dabei nicht begrenzt, so kann es schon im Traum passieren, dass der Schlafende sein Bewusstsein in verschiedene Rollen aufteilt und dabei nur eine als eigene empfindet: Die Schauspieler treten auf, die Rollen werden vertheilt; von denselben nimmt der Träumer nur eine, die er mit seiner Persönlichkeit verbindet. Alle andere Akteurs sind ihm so fremd,

124 Reil: Rhapsodieen, S. 81–83.

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wie fremde Menschen, ob sie gleich, so wie alle ihre Handlungen, Geschöpfe seiner eignen, also der nemlichen Phantasie sind.125

Die Seele wird hier zur Bühne verschiedener Rollen, in die das Ich unterteilt wird und die Modifikationen einer Persönlichkeit darstellen. Diese werden jedoch als fremdartig, das heißt nicht dem eigenen Ich zugehörig empfunden. Die Abweichungen der psychischen Krankheiten werden mit Hilfe von Theatermodellen verdeutlicht. Damit benutzt Reil das Wissen der dramatischen Gattungen, die auf eine spätere Aufführung ausgerichtet sind, um die unsichtbaren psychischen Pathologien sichtbar zu machen. Die Analysen haben gezeigt, dass Reils Text sowohl auf der inhaltlichen als auch der formalen Ebene von Teil-Ganze-Formen geprägt ist. Das Nervensystem fügt die disparaten Körperteile zu einer funktionalen, räumlichen Einheit zusammen. Das Selbstbewusstsein wiederholt diese Operation auf der Ebene der Seelenkräfte. Die Rhapsodie fügt verschiedene Texte zu einem neuen zusammen. Die Parallelen zwischen der Semantik und Metaphorik der Rhapsodie und den Figuren, mit denen Körper und Seele dargestellt werden, weisen die Spannung zwischen Ganzem und Einzelnem, Sichtbarem und Unsichtbarem als ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster aus, das sowohl der formalen als auch inhaltlichen Gestaltung zugrunde liegt. Der Text schreibt sich damit in das Gattungswissen der Rhapsodie ein. Die Rhapsodie scheint insbesondere dazu geeignet, das Vorläufige und das Transitive, die dem Werk zugrunde liegen, zu markieren. Eine feste Systematik, eine streng geschlossene Gattung ist erst im Entstehen und die Rhapsodie ist ein Schritt zur Fixierung und Systematisierung. Kant stellt der Rhapsodie das System entgegen, das er als „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ 126 versteht. Die Entscheidung das verstreute Wissen über die psychische Kurmethode in einer Rhapsodie zusammenzuführen, impliziert somit, dass die übergeordnete Idee erst im Entstehen ist. Die Einzelteile der Rhapsodie können auch wieder aufgebrochen und neu zusammengesetzt werden. Für das Sammeln der Einzelteile braucht es die Arbeit des Arztes, der als Rhapsode das Wissen zusammensetzt, organisiert und verkündet. Die von Reil entworfene Arztfigur – der Schüler der Natur, der sein Wissen gleichsam genialisch am Einzelfall unter Beweis stellt – führt den inspirierten Rhapsoden so in die Wissenschaft ein. Vorläufigkeit markiert auch die Krankheitskonstruktionen des Textes, dessen argumentative Bewegung von einem Nicht-Wissen, das immer wieder eingestanden wird, zu einem zukünftigen Wissen verläuft. Die Formen- und Gattungsvielfalt und die unsystematische Anordnung und Reihung von unterschiedlichen Text-

125 Reil: Rhapsodieen, S. 93. 126 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 696.

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materialien und Stilmerkmalen, die Kennzeichen der Gattung Rhapsodie sind, ermöglichen es dabei, vorhandenes Wissen zu sammeln, zusammenzufügen und zu ergänzen. „Kontinuum und Bruch“ 127, welche die Textform charakterisieren, bestimmen das Körper-Seele-Verständnis: Im gesunden Zustand ist der Körper ein aus Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes, während Krankheit sich in verschiedenen Zerfallserscheinungen äußert. Die Rhapsodie wird wissenspoetologisch genutzt, um ein durch Umbrüche und Leerstellen gekennzeichnetes Krankheitswissen darzustellen. Diese Funktion der Rhapsodie ist gerade vor dem Hintergrund wichtig, dass Reil vielfach als Begründer der Psychiatrie in Deutschland gesehen wird, da aus dieser Retroperspektivik die Offenheit und Vorläufigkeit übersehen wird, die er selbst seinem System einschreibt. Rhapsodie, Fragment und Bruchstück sind als Gattungen dazu geeignet, Vorläufigkeit und Übergang der Krankheitsdarstellungen zu kennzeichnen und haben somit eine wissensprogrammatische Funktion. Die Gattungsbezeichnung wird zu einer rhetorischen Strategie, um eine Art ‚Freibrief‘ zu erhalten: Die Gattungswahl erscheint als Captatio benevolentiae, mit welcher der Druck, ein vollständiges System zu produzieren, abgewehrt wird, um dann eben doch zu versuchen, ein System zu erstellen. Zudem sind die Gattungen Kategorien, mit denen es möglich ist, einer ins Endlose gehenden Empirie gerecht zu werden: Fragment und Bruchstück sind nur Teile eines Ganzen und die Rhapsodie impliziert durch die in ihrer Semantik ausgedrückten Brüche und Nahtstellen immer Veränderbarkeit. Das ‚Ganze‘ der Rhapsodie ist anders zu charakterisieren als das von Fragment und Bruchstück implizierte: Mit Fragment und Bruchstück wird das Ganze als vorläufig in der Natur und zukünftig als Wissenssystem vorhanden gedacht, während hingegen in der Rhapsodie vorhandene Quellen zu einem neuen Werkganzen zusammensetzt werden, das flexibel produzierbar und rezipierbar ist. Die literarisch-philosophischen Gattungen entsprechen hier einem Bedürfnis der zeitgenössischen Medizin, indem sie auf Herausforderungen und Entwicklungen reagieren und ihre Umbrüche herausstellen können. Das ‚Fragmentarische‘ und das ‚Rhapsodische‘ wirken wie eine Methode und funktionieren auch als Schreibweise, indem sie geeignet sind, (Krankheits-)Wissen der limitierten Erfahrung gemäß darzustellen. Dafür spricht auch die häufige adjektivische Verwendung als Spezifizierung einer bestimmten Wahrnehmung in anderen Wissensbereichen.128 127 Rudolph: Kontinuum der Rhapsodie, S. 269. 128 Siehe für Werke, die das Adjektiv „rhapsodisch“ führen Anmerkung 59 (Kap. 2.2, S. 61). Vgl. für „fragmentarisch“ folgende Beispiele: David Koppe: Fragmentarische Bemerkungen über den Ursprung, Wachsthum und Verfall der Ordalien des deutschen Mittelalters. Hannover 1799; Johann Friedrich von Flatt: Fragmentarische Beyträge zur Bestimmung u. Deduktion des Begriffs u. Grundsatzes der Causalität, u. zur Grundlegung der natürlichen Theologie in Bez. auf die Kantische Philosophie. Leizpig 1788; Tinette Homberg: Über die sogenannte Emancipation der Frauen; Nebst einigen fragmentarischen Ideen über die dem weiblichen Geschlechte zu gebende Bildung; ein Wort

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Fragment und Rhapsodie rufen über ihren künstlerisch-poetischen und philosophischen Hintergrund verschiedene Assoziationen auf, die Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Krankheit haben. Auf der Textebene entspricht dem eine Art Rhetorik der ‚Vorläufigkeit‘. Zu ihr gehören die topischen Bekundungen der Begrenztheit des eigenen Wissens und der Ausrichtung an der ‚Erfahrung‘. Insbesondere durch die Reihung zahlreicher Symptome von Krankheiten wird versucht, diese Empirie in Sprache zu übersetzen. Das Verbinden von kleinteiligen Beobachtungen ergibt einen Deutungszusammenhang der verschiedenen Krankheiten. Dabei wird ein exakter Blick inszeniert, denn der Arzt muss die verschiedenen Konstellationen, in denen die Symptomkonfiguration einer Krankheit auftreten kann, wahrnehmen und richtig ausdeuten. Die Erstellung von Symptomkonfigurationen löst die Krankheit vom individuellen Körper ab und verleiht ihr ein eigenes Wesen. Dabei muss vom Sichtbaren auf das Unsichtbare geschlossen werden. Das Verhältnis von Körperinnerem und Körperoberfläche und von Körper und Seele wird daher mit zahlreichen Analogien, Metonymien und Metaphern beschrieben. In diesen rhetorischen Figuren werden dabei konzeptionelle Vorstellungen von Körper und Seele transportiert und diese auf eine bestimmte Weise wahrnehmbar gemacht. Eine andere Art von Vorläufigkeit impliziert die Gattungsbezeichnung ‚Versuch‘. Im oben angeführten Zitat von Reil will dieser durch „Versuche“ den Übergang von der Erfahrung oder Beobachtung zum „Grundriss“ 129 eines Systems schaffen. Die Bezeichnung ‚Versuch‘ rekurriert dabei auf ein zentrales Wahrnehmungsparadigma in Philosophie und Naturwissenschaften um 1800, und auch zahlreiche Texte sind als ‚Versuch‘ bezeichnet.

2.3 Versuche: Krankheitswissen auf Probe In Zedlers Lexikon werden ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘ „als eine Erfahrung, die man durch angewendeten Fleiß und Bemühung erlangt“ 130 definiert. Während es Phänomene gibt, die durch bloße Beobachtung erkannt werden können, bleibt anderes „nicht klar erkennbar, oft unsichtbar“ und Experiment oder Versuch erproben, „ob man die Natur nicht dahin vermögen könne, daß sie uns dasjenige sehen lasse, was zu unserm Unterricht dienet“ 131. Im Gegensatz zur reinen Beobachtung bedeuan alle Edelgesinnten des männlichen und weiblichen Geschlechts. Crefeld 1839; Wilhelm Josephi: Fragmentarische Bemerkungen über das Hebammenwesen und dessen Verbesserung im Großherzogtum Meklenburg-Schwerin. Bd. 1. In: Freimüthiges Abendblatt, 19/945 und 19/946 (1837), S. 97– 104 und S. 121–129; Johann Andreas Wendel: Einige fragmentarische Ideen über sogenannte allgemeine Grammatik. Coburg 1825. 129 Reil: Rhapsodieen, S. 218. 130 Versuch In: Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 47, Sp. 2175. 131 Experimentum, Versuch In: Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 8, Sp. 2344.

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tet der Versuch somit ein aktives Verhalten des Menschen, durch das etwas Unsichtbares sichtbar gemacht wird.132 Die Gattung ‚Versuch‘ knüpft an naturwissenschaftliche Arbeitsweisen an. Bacon führte den Versuch als aktives Eingreifen zur Erkenntnisgewinnung in die Naturlehre ein.133 In der Folge wird das Experiment zu einem zentralen Mittel der Wissensproduktion und -überprüfung, einhergehend mit einer zunehmenden Bevorzugung der Praxis und Empirie gegenüber der Theorie.134 Die Experimentierpraxis wird von der Physik und der Chemie in die Physiologie übertragen, insbesondere strahlen im achtzehnten Jahrhundert Albrecht von Hallers Tierversuche und zahlreiche galvanische, elektrische oder magnetische Experimente auch in andere Wissensbereiche aus.135 Im Experiment greifen definierte Vorannahmen, ein künstlicher Versuchsaufbau und der empirische Ablauf, mit dem Ziel ein neues Wissen hervorzubringen, ineinander. Zugleich bezieht sich der Versuch auf philosophisch-literarische Traditionen, indem er auf essayistische Schreibweisen verweist, die auf Michel de Montaigne zurückgehen. Dessen Essayistik weiß um die begrenzten Möglichkeiten des Wissens, betont die Wichtigkeit der empirischen Erfahrung und die „Prozessualität von Wissensproduktion“ 136. Der Essay wird zum ‚schriftlichen Versuch‘, in dem ein Thema auch unsystematisch und vorläufig behandelt werden kann, häufig in kritischer Auseinandersetzung mit bestehenden Lehrmeinungen. Auch im medizinischen Bereich sind einige Texte als ‚Versuch‘ bezeichnet, wobei diese in Form, Länge und Inhalt sehr unterschiedlich sein können, so dass nicht von einem festen Gattungszusammenhang ausgegangen werden kann. Im Folgenden sollen zwei Texte untersucht werden, deren Versuchscharakter darin besteht, dass sie eine systematische Erklärung – der Nervenkrankheiten und des animalischen Magnetismus’ – zu liefern versuchen. Sie sind somit, was Merkmal des Versuchs ist, auf etwas Neues ausgerichtet und wollen Unsicherheiten und Lücken in Wissen und Wahrnehmung von Krankheit schließen. Der Versuch einer Einleitung in die allgemeine Pathologie der Nerven (1788) des Arztes Franz Ambros

132 Vgl. hierzu Katrin Schumacher: Der „wunderbare Sinn“ zwischen Experiment und Text. Anmerkungen zur Organisation eines Feldes der Un-/Sichtbarkeiten um 1800. In: Aurora 64 (2004), S. 1–20; Michael Gamper: Wissen auf Probe. ‚Verborgene Ursachen‘ in Elektrizitätslehre und Literatur. In: Sabine Schimma und Jospeh Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen 1800. Berlin 2009, S. 51– 68. Vgl. zu Literatur und Experiment umfassend die drei von Bies und Gamper herausgegebenen Tagungsbände: Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Bde. 1–3. Göttingen 2009– 2011. Zudem für den in dieser Arbeit besprochenen Zeitraum: Nikolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. 133 Vgl. Gamper: Dichtung als ‚Versuch‘, S. 596 f. 134 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 215–220. 135 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 19. 136 Gamper: Dichtung als ‚Versuch‘, S. 596.

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Reuß137 (siehe Kap. 2.3.1) und Carl August Eschenmayers Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychischen Gründen zu erklären (1816)138 (siehe Kap. 2.3.2) werden beide gegen bestehende Lehrmeinungen geschrieben: Reuß will beweisen, dass die Hypothesen von der Existenz der Lebensgeister oder des Nervensaftes falsch sind, indem er alle Nervenkrankheiten ohne Rückgriff auf diese Konzepte erklärt. Eschenmayer will den animalischen Magnetismus gegenüber Skeptikern und Kritikern – zu denen auch Reuß gehört – verteidigen, die diesen als bloße Scharlatanerie ablehnen, indem er ihn in ein naturgesetzliches Wirkungs- und Erklärungsmodell einbindet. Anhand der beiden Texte lassen sich auch Unterschiede und Kontinuitäten in Darstellung und Verständnis von Krankheit zwischen der Aufklärungsanthropologie und der romantischen Anthropologie erkennen, die sich an Schellings spekulativer Naturphilosophie ausrichtet.139 Beide Texte beschreiben dabei Phänomene, die sich dem unmittelbaren Blick des Wissenschaftlers entziehen. Der ‚schriftliche‘ Versuch soll die unsichtbaren Wirkungsweisen der Natur offenlegen und beweisen, indem sie (möglichst) widerspruchsfrei erklärt werden.

2.3.1 F. A. Reuß: Versuch einer Einleitung in die allgemeine Pathologie der Nerven Reuß’ Versuch dokumentiert den Übergang von der Nervensafttheorie, die davon ausgeht, dass Muskeln und Nerven durch das Eindringen einer Flüssigkeit bewegt 137 Reuß (* 1761 Prag † 1830 Bilin [Böhmen]) studierte Medizin in Prag. Nach seiner Promotion 1782 wurde er Lobkowitzscher Brunnenarzt in Bilin. Neben seinem Versuch verfasste er eine Studie über Hildegard von Bingen und zahlreiche Abhandlungen über Mineralquellen und Kurorte. Reuß stand mit Alexander von Humboldt in Kontakt und begleitete ihn auf einigen Reisen durch Böhmen (vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 8. S. 343). 138 Eschenmayer (* 1768 Neuenbürg † 1852 Kirchheim unter Teck) studierte Medizin an der Hohen Karlsschule in Stuttgart und in Tübingen. In Stuttgart lernte er Schiller kennen. 1796 promovierte Eschenmayer mit einer naturphilosophisch ausgerichteten Arbeit (Principia quaedam disciplinae naturali, in primis Chemiae ex Metaphysica naturae substernenda), durch die er Schellings Aufmerksamkeit erregte. Er arbeitete zunächst als Arzt in Kirchheim/Teck und in Sulz bevor er 1811 außerordentlicher, 1818 ordentlicher Professor für Medizin und praktische Philosophie in Tübingen wurde. Er vertrat eine an der Naturphilosophie orientierte Medizin und beschäftigte sich ausgiebig mit dem animalischen Magnetismus, den er auch praktizierte. Zusammen mit Justinus Kerner therapierte er die berühmte ‚Seherin von Prevost‘ (vgl. Bettina Gruber: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur. Paderborn 2000). Von 1817 bis 1826 gab er das Archiv für den thierischen Magnetismus heraus (siehe Kap. 3. Fallleiden) (vgl. Zeltner: Eschenmayer. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 4, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin S. 644). 139 Vgl. zur romantischen Medizin: Flatten: Entwicklung eines ganzheitlichen Bildes des Menschen in der Heilkunde der Romantik; Gerabek: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik; Urban Wiesing: Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik. Stuttgart 1995.

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werden, das heißt passive Leiter dieser sind, zur Annahme einer Nervenkraft.140 Vorbereiter dieses Wechsels von (iatro-)mechanistischen zu vitalistischen Annahmen sind Albrecht von Hallers Tierversuche, bei denen er zeigte, dass bestimmte „funktionale Organleistungen“ 141, nämlich die Irritabilität und Sensibilität an die Muskel- und Nervenfasern gebunden sind. Irritabilität definiert Haller als Fähigkeit des Muskels, auf Reize mit Kontraktion zu reagieren, und Sensibilität als die Fähigkeit der Nerven, dem Gehirn oder der Seele Empfindungen wie Schmerzen weiterzuleiten. Hallers Terminologien werden in der Folge unterschiedlich rezipiert und modifiziert. Der schottische Mediziner William Cullen generalisiert die Sensibilität zu einer allgemeinen Nervenkraft.142 Sein Schüler John Brown reduziert die Beobachtungen auf ein totalisierendes Prinzip der Erregbarkeit als Fähigkeit, durch Reize erregt zu werden, und unterscheidet diese nicht mehr von der Sensibilität, sondern verallgemeinert sie zur umfassenden Lebenskraft.143 Johann August Unzer, an den Reuß sich anlehnt, setzt die Nervenkraft mit der Nervenerregbarkeit gleich, als Fähigkeit, auf Reize unbewusst, das heißt ohne Beteiligung der Seele, zu reagieren.144 Reuß stellt die Hypothese auf, dass er entgegen der verbreiteten und von vielen Gelehrten angenommenen Nervensafttheorie das Funktionieren des Nervensystems und seiner Krankheiten sowie deren Therapie ohne diese erklären und damit die These vom Nervensaft widerlegen kann, denn „sie widerspricht allen physischen Gesezen, gründet sich auf andere ebenso unwahrscheinliche Hilfshypothesen, und entfernt sich folglich dadurch umso mehr von der Evidenz“ 145. In der Vorrede kündigt Reuß an, die gewohnten Bahnen zu verlassen und eine Hypothese aufzustellen, die theoretisch völlig widerspruchsfrei sei und sich auf viele gemachte Versuche und Beobachtungen stütze. Die Ausrichtung an der Empirie bleibt für Reuß

140 Vgl. Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Frankfurt a. M. 1997, S. 249; Hans Peter Nowitzki: Der wohletemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin/New York 2003, S. 127 f. und ausführlich zu Unzer, S. 129–164. 141 Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. S. 122. 142 Vgl. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie, S. 249. 143 Nach dem um 1800 einflussreichen und populären Brownianismus ist der Mensch gesund, wenn seine ‚Erregbarkeit‘ mittelmäßig ausgeprägt ist. Erregbarkeit ist die Fähigkeit, auf Reize zu reagieren. Zu starke Erregbarkeit (Sthenie) oder zu schwache Erregbarkeit (Asthenie) bedeutet Krankheit. Krankheit ist demnach eine sthenische oder asthenische Abweichung von der mittleren Norm der nervösen Erregung, und Gesundheit besteht, wenn Reize und Reizbarkeit ausgeglichen sind (vgl. zu Brown: Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a. M. 1975, S. 66 f.). 144 Vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 127–129 und insgesamt zu Unzers neurophysiologischen Vitalismus, S. 129–164. 145 Franz Ambros Reuß: Versuch einer Einleitung in die allgemeine Pathologie der Nerven. Prag/ Leipzig 1788, S. IV. Ganz neu war Reuß’ Ansatz dabei nicht, denn wie bereits gesagt, begann die Ablösung der Nervensafttheorie bereits in den 1770er Jahren und 1777 hatten die mikroskopischen Aufnahmen von Nervenfasern des Italieners Felice Fontana die Annahme von Nervensäften eigentlich schon unmöglich gemacht (vgl. dazu Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 129).

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zentral, aber der schriftliche Versuch erfolgt nachträglich zu gemachten Beobachtungen und Experimenten und geht einen Schritt weiter zur Erklärung. Reuß betont dabei die Größe seines Vorhabens: Einer Meinung beipflichten, weil sie die Meinung anderer ist, ist Vorurtheil […]. Die Meinung bleibt stets Meinung, wenn sie auch den Beifall der ganzen Welt hätte. […] Alle gleichzeitige Aerzte läugneten den Kreislauf des Bluts, den Zäsalpin im fünften Buche seiner peripathetischen Fragen auf eine dunkle Art beschrieb, Harvey durch Versuche und Gründe berichtigte, aufs unumstößlichste darthat. War Zäsalpins Entdeckung deswegen minder Wahrheit?146

Statt der gelehrten Meinung verpflichtet sich Reuß hier der Wahrheit und eigenen Erfahrung. Der implizite Vergleich mit der Entdeckung des Blutkreislaufs drückt indirekt einen ziemlich hohen Anspruch aus und legitimiert zugleich, dass Reuß es wagt, „die gewöhnliche Bahn“ 147 zu verlassen, um neue Pfade zu betreten. In Reuß’ Versuch wird eine „allgemeine Pathologie der Nerven“ auf Probe vorgeschlagen: „Dies soll gegenwärtige kleine Abhandlung, die ich für nichts mehr und nichts weniger, als einen Versuch eines angehenden jungen Arztes angesehen haben will, näher bestimmen.“ 148 Seinen Versuch teilt Reuß in Ursachen, Zufälle und Heilmittel der Nervenkrankheiten ein, die er in fortlaufend nummerierten Paragraphen erörtert. Die Auseinandersetzung mit der Nervensaft- oder Lebensgeistertheorie wird insbesondere durch die Reihung von Fragen präsent gehalten, die unterstreichen sollen, was diese Theorie nicht erklären kann, so dass sein Gedankengang vor dem Leser ausgearbeitet und nachvollziehbar wird.149 Reuß will die Nervensafttheorie mit der Hypothese widerlegen, dass sich alle Nervenkrankheiten aus der Reizbarkeit des Nervensystems erklären lassen. Krankheit ist nach Reuß, jeder widernatürliche Zustand des menschlichen Körpers, in dem seine Verrichtungen leiden, […], er mag nun von der widernatürlichen Beschaffenheit der festen und flüßigen Grundstoffe, der Art ihrer Zusammensezung, Mischung, ihrer Menge, oder dem ihnen eigenen Zusammenhange hervorgebracht worden seyn, oder es mögen die Kräfte der verschiedenen Organe leiden.150

Krankheit lässt sich hiernach mit den festen oder flüssigen Teilen des Körpers sowie den Organen verbinden. Die Nerven können von all diesen Krankheiten betroffen sein, da sie ebenfalls aus festen und flüssigen Teilen bestehen. Nervenkrankheit ist nach Reuß aber nicht eine Erkrankung der Nerven als Organ, sondern ein

146 147 148 149 150

Reuß: Versuch, S. VI f. Reuß: Versuch, S. VI f. Reuß: Versuch, S. V. Vgl. z. B. Reuß: Versuch, S. S. 72 und S. 91. Reuß: Versuch, S. 1.

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widernatürlicher Zustand, der „die thierisch[ ] bewegende[n] Kräfte in Unordnung bringt; es mag nun das Gehirn, oder ein anderer gemeinschaftlicher Punkt des Nervensystems vorzüglich angegriffen seyn“ 151. Hierzu zählt er Schwindel und Kopfweh als Krankheiten des Gehirns und Hysterie oder Hypochondrie als solche des Nervensystems. Zur Erklärung der Nervenkrankheiten greift Reuß auf die Nervenkraft zurück: Versuche und Gründe sezen es außer Zweifel, daß die markige Substanz der Nerven die Ursache in sich enthält, warum sich die Bewegung zum Sammelplatze der Sinne, und von da zu allen Theilen des menschlichen Körpers fortpflanzt, und dadurch Empfindung und Bewegung hervorbringt. Diejenige Qualität oder Modifikation der Nerven, die die ihnen eigene Verrichtungen hervorbringt, heisse ich Nervenkraft.152

Reuß gesteht selbst ein, dass Wesen und Wirkungsweise dieser Kraft eine Leerstelle im Wissen sind und wendet sich nur gegen die Annahme eines herumwandernden Stoffes, die der Nervensafttheorie zugrunde liegt: „Was sie eigentlich sey? worinn sie bestehe? dies wage ich nicht zu bestimmen; nur glaube ich, daß man sie nicht zur Klasse der peripathetischen Qualitäten anweisen darf, weil man ihre Natur nicht kennt.“ 153 Die Nervenkraft ist – wie die Schwerkraft – nur über ihre Wirkungen erkennbar, daher sieht Reuß sie jedoch auch ebenso als bewiesen an.154 Die Nervenkraft parallelisiert Reuß mit Krankheitsmaterien und Miasmen, die durch bestimmte Reize wie fehlerhafte Ernährung oder Erhitzung aktiviert werden.155 Auch hier findet sich die für den Versuch charakteristische Spannung von Sichtbarem und Unsichtbarem: Die Nervenkraft ist vorhanden, wird jedoch erst wahrnehmbar, nachdem sie durch einen externen Reiz in Tätigkeit versetzt wurde. Dem Grad der Nervenkraft entspricht die „Beweglichkeit“ oder „Zärtlichkeit“ des gesamten Nervensystems, worunter Reuß die „Empfindlichkeit“ oder „Reizbarkeit“ 156 versteht, zwischen denen er nicht weiter differenziert. Je größer der Reiz und die Nervenkraft sind, desto stärker sind die Wirkungen, die sie im Nervensystem hervorbringen. Die Reizbarkeit wird dabei auch von externen Faktoren wie Geschlecht, Klima, Alter, Temperament oder Ernährung beeinflusst.157 Mit der Fähigkeit des Nervensystems, auf Reize zu reagieren, erklärt Reuß nun alle Nervenkrankheiten, denn diese würden dadurch entstehen, dass die Reizbarkeit vermehrt oder vermindert sei – also vom Normalmaß abweicht.158 Er nimmt

151 Reuß: Versuch, S. 3. 152 Reuß: Versuch, S. 5. 153 Reuß: Versuch, S. 5. 154 Zum Einfluss der Gravitationstheorie auf die Entwicklung der Nervenkraft: vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 128; Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie, S. 234 f. 155 Vgl. Reuß: Versuch, S. 6. 156 Alle Zitate: Reuß: Versuch, S. 14. 157 Vgl. Reuß: Versuch, S. 9 f. 158 Vgl. Reuß: Versuch, S. 15.

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somit nur zwei Klassen von Nervenkrankheiten an, die er noch weiter in örtliche und allgemeine – also das ganze Nervensystem betreffende – Krankheiten unterteilt. Krankheit wird als Abweichung von einer angenommenen, idealen Mitte definiert. Die Abweichung kann dabei stärker oder schwächer auftreten. Dieses duale Prinzip findet sich auch in den weiteren Erörterungen der Ursachen und Äußerungsweisen der Krankheit.159 Dementsprechend werden die Reize in zwei Klassen – die physischen und die moralischen – unterschieden.160 Zu den physischen Reizen zählt Reuß so unterschiedliche Aspekte wie die „Leibesbeschaffenheit“, die auf Galen zurückgehenden „nicht natürlichen Dinge“, zu denen er Luft, Nahrung, Schlaf und Wachen, Ruhe und Bewegung sowie Abgang und Verhaltung (als Umgang mit den Säften) zählt, ferner Schmerz und die „hitzigen und langwierigen Krankheiten“ 161 wie Vollsaftigkeit, die unterdrückte monatliche Reinigung, Schwangerschaft, Kindbett, Stillen und der weiße Fluss.162 Durch die Einordnung in ein duales System versucht Reuß die Vielfalt der pathologischen Phänomene, die er zu den Nervenkrankheiten zählt, erklärbar zu machen, indem er sie auf zwei zentrale Ursachengeflechte reduziert. Innerhalb dieser nosologischen Struktur zergliedert er die Krankheiten dann wiederum in ihre einzelnen Symptome, die aber durch die Reiztheorie in einen Zusammenhang gebracht werden können. Entsprechend sind die Krankheiten vom individuellen Fall losgelöst, lediglich exemplarisch wird typisierend von dem ‚Alten‘, dem ‚Weib‘ oder dem ‚Wolllüstling‘ gesprochen. Die Nervenkrankheiten weiten sich vielmehr zu einer Art umfassenden Kulturdiagnose aus, was insbesondere durch die enge Verbindung zu diätetischen Fragestellungen bewirkt wird, wobei hierzu nicht nur die Ernährung, sondern auch Körperpflege, Bewegung und Sexualität zu zählen sind. Dabei erwecken zum einem Attribute wie Wärme, Weichheit, Bewegungslosigkeit, Schlaf oder Fettigkeit den Eindruck von Verzärtelung, Fülle und Luxus, was mit dem personifizierenden Ausdruck von der ‚Zärtlichkeit‘ des Nervensystems korrespondiert. Neben dem städtischen Leben, der Nahrung schleimiger Speisen oder dem Trinken von Schokolade oder Wein werden hiermit auch zu häufiges Sitzen, etwa beim Lesen von Romanen oder Studieren, sowie das Verwöhnen und Verzärteln von Kindern assoziiert. Gleichzeitig bestimmen aber auch Auszehrung, Kraftlosigkeit, Abspannung, Trockenheit, Steifheit und Ruhelosigkeit die Nervenkrankheiten. Diese werden insbesondere an eine fehlerhaft ausgelebte Sexualität,

159 Reuß’ Rückführung aller Nervenkrankheiten auf die verminderte oder vermehrte Beweglichkeit – also Reizbarkeit oder Empfindlichkeit – des Nervensystems und die Unterscheidung in örtliche und allgemeine Krankheiten erinnert an Browns Erregungstheorie, den Reuß jedoch nicht namentlich nennt, und dessen 1780 erschienene Schrift Elementa medicinae erst 1796 in deutscher Übersetzung herausgebracht wurde. 160 Vgl. Reuß: Versuch, S. 32. 161 Alle Zitate: Reuß: Versuch, S. 33. 162 Vgl. Reuß: Versuch, S. 32 f.

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Schlaflosigkeit und Ruhelosigkeit, aber auch das gestörte Fließen verschiedener Säfte gebunden. Die Aufzählungen der unterschiedlichen physischen Ursachen erwecken den Eindruck einer prinzipiell zweigeteilten Umwelt des Menschen, in der es stets darauf ankommt, die Mitte oder das richtige Maß zu finden, sei es bei Wachen und Schlaf, Bewegung und Ruhe oder Ausleerung und Erhaltung der Säfte. Krankheit entsteht durch Maßlosigkeit, das heißt durch den Verlust der Mitte, ist somit letztlich ‚nur‘ eine graduelle Abweichung von Gesundheit. Die angenommene Mitte oder das ideale Maß werden dabei genutzt, um „diätetische Grundsätze wie Maßhalten, Harmoniestreben, Entspannung oder Regelmäßigkeit der Lebensgestaltung“ 163 zu formulieren, aber auch einzufordern und Krankheiten dadurch moralisch zu überformen. Der Eindruck der Kulturdiagnose wird auch dadurch verstärkt, dass Reuß die Nervenkrankheiten als vererbbar ansieht: Eltern mit sehr beweglichen Nerven zeugen Kinder mit zu zärtlichem Nervensystem. Mit einer Reihung von rhetorischen Fragen wird dabei das eindrückliche Bild einer allgemeinen Degeneration gezeichnet: Und was kann man wohl auch von den Puppen unsers Jahrhundertes, von kleinen Knochen, zarten Gliedern, weichem Fleische, bleicher Farbe, die nur zuweilen eine flüchtige Röthe erhöht, von Leuten, deren Nerven schwachen Zwirnsfäden ähneln, ‚deren Fibern, wie Zimmermann sich ausdrückt, gefühlvoll für die sanftesten Eindrücke zittern, wenn ein Stäubchen sie berührt; die […] ein Hauch erschreckt, die bei kleinstem Widersrpuche rasen‘. Die im sechsten Jahre Hypochondristen waren, im dreißigsten Greise sind, was kann man, sage ich, von solchen Puppen anders als noch elendere Puppen erwarten? Kann man wohl von dem der durch allerlei Ausschweifungen schon vor der Zeit der Mannbarkeit erschöpft noch vor dem dreißigsten Jahre die traurigsten Merkmale eines hohen Alters auf seinem gebognen Nacken und sinkenden Kinn trägt, einen nervigten Mann hoffen? Kann die Mutter, deren Säfte einer von Venusgifte aufgelösten Jauche gleichen, gesunde, starke Kinder haben? Muß nicht vielmehr das Kind, kaum geboren schon mit dem Male, das von den Verbrechen der Eltern zeugt, gebrandmarkt seyn? Kann das Weib, das als Mädchen von drei Jahren schon die auszeichnendsten Symptome der Mutterkrankheit 164 hatte, als Gattin dem Staate Helden liefern?165

Das Nervöse und Gereizte wird zum Merkmal der Gesellschaft.166 Adjektive wie „zart“, „weich“, „bleich“, „flüchtig“, „schwach“ „gefühlvoll“ und „sanft“ drücken

163 Bergdolt: Leib und Seele, S. 317. 164 Ein anderer Ausdruck für Hysterie. Mit „Mutter“ ist die Gebärmutter gemeint. 165 Reuß: Versuch, S. 34 f. 166 Diese kulturelle Diagnose findet sich somit bereits lange vor dem sogenannten ‚nervösen Zeitalter‘ um 1900. Vgl. zur Bedeutung der Nervenkrankheiten um 1900: Andreas Steiner: Das nervöse Zeitalter. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900. Zürich 1964; Joachim Radkau: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter oder: die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 20/2 (1994), S. 211– 241.

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die erhöhte Empfindsamkeit aus, die jedoch pathologisiert wird, da sie Schwäche und Lebensunfähigkeit bedeutet, was auch die Bezeichnung „Puppe“ andeutet. Auch der Schnelldurchlauf durch ein männliches und ein weibliches Leben, bei dem Krankheiten wie die Hypochondrie und Hysterie schon im Kindesalter auftreten, und das Alter mit 30 beginnt, unterstreicht diese Lebensunfähigkeit. Anhand der Elternfiguren und ihrer negativen Lebensläufe werden die Auswirkungen auf die Kinder verdeutlicht. Durch die Verknüpfung mit dem Thema Sexualität werden dabei moralische Wertungen aufgerufen. Worte wie „Ausschweifungen“ und „Verbrechen“ implizieren die eigenverantwortliche Verursachung der Krankheit, die sich gleich einem Brandmal auf das Kind überträgt. Das drastische Bild von den durch „Venusgift“ zur „Jauche“ gewordenen Säften erweckt den Eindruck von Verschmutzung und Seuche und transportiert darüber moralische Wertungen. Die individuelle Krankheit ist dabei zugleich ein gesellschaftliches Versagen, wenn die kranke Mutter dem Staat keine „Helden“ liefern kann.167 Das Beispiel zeigt, wie über moralisch-diätetische Implikationen von Krankheiten interdiskursive Inhalte aus anderen Diskursbereichen wie Moral, Religion oder Politik auf die Krankheit übertragen werden. Typisierende Fallbeispiele wie das des ‚Wolllüstlings‘ sollen die abschreckende Wirkung unterstützen. Reuß zeichnet ein Bild körperlicher Verwüstung: Ziehende Schmerzen im Nacken, und in den Lenden, eine rollende Emfindung in den Hoden, ein Grübeln in dem Rücken machen ihm die Nächte schlaflos, ein verfallenes hageres Gesicht, […]; alle Muskeln werden dünne, sehnigt, die Waden fallen ab, die Lendenmuskeln werden steif, machen den Rumpf unbiegsam, unbeweglich; die Rückenstarre, Lähmungen verschiedener Theile des Körpers, allgemeine oder örtliche Zuckungen, die fallende Sucht, und eine bösartige Auszehrung machen dem Schauspiele ein Ende.168

Die Beschreibung evoziert den Verlust von Kraft und Beweglichkeit, die schließlich im Tod endet. Die zu stark ausgelebte Sexualität resultiert zunächst in einer unnatürlichen Erhöhung der Reizbarkeit, die dann durch häufige Wiederholung zu schwach wird. Auch hier wird deutlich das Ideal der Mitte erkennbar. Zu den moralischen Ursachen der Nervenkrankheiten zählt Reuß Affekte, die dem Bewusstsein entzogen sind wie den Hunger, und Leidenschaften, deren Einfluss auf den Körper zwar unerklärbar, aber durch unzählige Erfahrungen bewiesen sei.169 Die Verbindung des Körpers mit der Seele wird dabei nicht erklärt. Reuß

167 Vgl. zu den engen Zusammenhängen von Gesundheits- und Volksaufklärung sowie der Entwicklung des modernen Staates in der Aufklärung: Bergdolt: Leib und Seele, S. 251–276. 168 Reuß: Versuch, S. 64. 169 Vgl. Reuß: Versuch, S. 101. Zu den Leidenschaften zählt Reuß Freude, Liebe, Gunst, Gewogenheit, Dankbarkeit, Barmherzigkeit, Freundschaft, Großmut, Traurigkeit, Verdruss, Gram, Harm, Angst, Bangigkeit, Reue, Furcht, Schande, Schamhaftigkeit, Schreck, Zorn, Rachgier, Indignation, Sehnsucht, Traurigkeit über das vergebliche Verlangen sein Vaterland zu sehen (die insbesondere die Schweitzer überfällt), Hass, Neid und Eifersucht (vgl. Reuß: Versuch, S. 105–122).

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unterteilt die Leidenschaften in angenehme und unangenehme und zeigt, wie diese sich im Körper äußern. Auch hier muss die Mitte gefunden werden; so wirkt die ‚Freude‘ gesundheitsfördernd, „wenn sie mäßig ist“ 170, wird sie aber zu heftig und stark, kann sie tödlich werden. Nach der Darstellung und Erklärung verschiedener Heilmittel erklärt Reuß seinen Versuch für gelungen, da er die Ursachen, Äußerungsweisen und Therapiemöglichkeiten der Nervenkrankheiten ohne den Rückgriff auf Lebensgeister und Nervensaft erklären konnte.171 Das Experimentelle an Reuß’ Schrift ist der Versuch, ein theoretisches Konzept zu erstellen, mit dem eine bestehende Lehrmeinung in Frage gestellt und eine andere hypothetisch formuliert wird. Der Versuch wird schriftlich erarbeitet, indem die Gedankengänge vor dem Leser entwickelt werden. Fragen halten die Auseinandersetzung mit möglichen Widersprüchen aufrecht. Die Möglichkeit der Falsifikation oder weiteren Verifikation besteht nur durch weitere Versuche und so äußert Reuß zum Schluss die Hoffnung, Anlass für weitere „Prüfungen“ zu finden, insbesondere da seine Erklärungen nicht alles erfassen konnten.172 Die Vorstellung der Nervenkraft ist im Zusammenhang von ImponderabilienTheorien zu verorten, die im achtzehnten Jahrhundert im Zuge eines experimentellen Newtonianismus entstanden.173 Die Nervenkraft wurde wie Elektrizität, Magnetismus, Wärme oder Licht als imponderable Flüssigkeit vorgestellt, die nur über ihre Wirkungen wahrnehmbar wird. Die Diskussion wird dabei, wie die Konzeption einer Nervenkraft zeigt, nicht nur in Physik und Chemie geführt, sondern auch in die Physiologie übertragen.174 Die Nervenkrafttheorie gehört zu den Versuchen, das Organische durch die Einführung spezifischer Kräfte zu erklären, die zudem häufig zur Erläuterung der Verbindung von seelischen und körperlichen Prozessen herangezogen wurden. Insbesondere sind hier die tierische Elektrizität und der animalische Magnetismus zu nennen. Letzterer wurde von seinem ‚Entdecker‘ Franz Anton Mesmer in Anlehnung an Newton als materiell-physikalische Kraft gedacht.175 Mesmer entdeckte bei therapeutischen Experimenten mit Stahlmagneten 1774 seine ‚Heilkraft‘.176 Er erklärte

170 Reuß: Versuch, S. 105. 171 Vgl. Reuß: Versuch, S. 229 f. 172 Reuß: Versuch, S. 230. 173 Vgl. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie, S. 234. 174 Vgl. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie, S. 235. 175 Zu Newtons Theorie von einem feinen, das gesamte Weltall füllenden Äther, der als Trägerstoff der Schwerkraft fungiert, siehe Heinrich Feldt: Vorstellungen physikalischer und psychischer Energie zur Zeit Mesmers. In: Heinz Schott (Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Stuttgart 1985, S. 34 f. Zu weiteren Kräftemodellen vgl. Anneliese Ego: „Animalischer Magnetismus“ oder „Aufklärung“. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert. Würzburg 1991. 176 Vgl. Heinz Schott: Mesmers Heilungskonzept und seine Nachwirkungen in der Medizin. In: ders. (Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, S. 236.

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diese Entdeckung mit einer kosmologischen Fluidaltheorie, nach der Krankheit durch das Ungleichgewicht oder die Blockade einer die gesamte belebte und unbelebte Natur durchströmenden materiellen Kraft verursacht wird. Durch magnetisch-suggestive Striche entlang der Nervenbahnen kann der Magnetiseur die magnetische Kraft übertragen und die ursprüngliche Harmonie wiederherstellen. Dabei muss der Patient zunächst eine künstlich erzeugte Krise durchlaufen, um geheilt zu werden. Magnetische Sitzungen wurden besonders seit der Entdeckung des künstlichen Somnambulismus und paranormaler Fähigkeiten wie Telepathie und Clairvoyance durch den Marquis de Puységur zu gesellschaftlichen Ereignissen.177 Nach 1800 griff die deutsche Romantik die Lehre des animalischen Magnetismus begeistert auf. Die außergewöhnlichen Phänomene der magnetischen Behandlung wurden in zahlreichen Fallgeschichten dokumentiert. In naturphilosophischmedizinischen Schriften wurde Mesmers fluidale Kraft zum Ganzheits- und Wahrheitsmedium spiritualisiert. Die Erscheinungen des animalischen Magnetismus wurden jedoch nicht nur mystisch-religiös überhöht, sondern auch in rationale Erklärungsmodelle der zeitgenössischen Wissenschaften eingebunden.178 Dies ist, wie bereits der Titel ankündigt, das Ziel des Versuchs des Mediziners und Naturphilosophen Carl August Eschenmayer.

2.3.2 C. A. Eschenmayer: Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychischen Gründen zu erklären Eschenmayer entwirft zu Beginn seines Versuchs ein Wissenschaftsprogramm, das von der Ausrichtung an empirischer Erfahrung deutlich abweicht. Er teilt die Erkenntnis in drei Modalitäten – Erfahrung, Induktion und Spekulation – die zusammenwirken müssen. Die alleinige Ausrichtung an Erfahrung, sei „rohe Empirie“, die nicht in der Lage sei, „das unendlich Mannigfaltige“ 179 zur Einheit zur verknüpfen. Die Induktion ohne Empirie führe zur Konstruktion von Hypothesen, die einer Überprüfung an der Empirie oft nicht standhalten könnten.180 Die Spekulation alleine habe schließlich keine Zugänge für den menschlichen Geist, da sie zu weit

177 Vgl. insgesamt zur Geschichte des animalischen Magnetismus Schotts Sammelband: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus; Frank A. Pattie: Mesmer and Animal Magnetism. A Chapter in the History of Medicine. Hamilton/New York 1994; Ego: „Animalischer Magnetismus“ oder „Aufklärung“; Henri F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unterbewußten. Zürich 1996 178 Vgl. Jürgen Barkhoff: Mesmerismus. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon, hg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Göttingen 2005, Sp. 531 f. Vgl. zum Verhältnis von Romantik und Naturwissenschaften: Georg Kamphausen und Thomas Schnelle (Hg.): Die Romantik als naturwissenschaftliche Bewegung. Zur Entwicklung eines neuen Wissenschaftsverständnisses. Bielefeld 1982. 179 Beide Zitate: Carl August Eschenmayer: Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychischen Gründen zu erklären. Stuttgart/Tübingen 1816, S. 2. 180 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 3 f.

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von der Erfahrung entfernt sei.181 Das Zusammenwirken der Modalitäten bei der Produktion von Wissen stellt Eschenmayer als zyklisch dar: Eine Wahrheit lehrt uns die Geschichte der Naturwissenschaften, dass die ewigfeststehende Norm das reine Factum der Natur seye. Wir mögen uns in unseren Sophismen, Inductionen, Hypothesen und Speculationen noch so sehr versteigen, immer werden wir an die reine und klare Quelle der Beobachtung zurückgeführt. Haben wir uns aber eine Zeitlang an ihr verweilt, um uns zu laben und zu stärken, so wagen wir aufs neue den icarischen Flug gegen die Sonne, um wieder ermüdet an die Quelle zurückzukehren. So ist ein ewiger Cyklus gegeben zwischen der Kunst, zu beobachten und der Kunst, die Beobachtung zu erklären. Dieser Cyklus lebt als Gesez in uns und wir können das Eine so wenig lassen wie das Andere; Es ist die Axe, auf der der forschende Geist sich fort bewegt, ihre Scheitelpunkte sind Erfahrung und Idee.182

Die Quellenmetaphorik ersetzt gewissermaßen die Gebäudemetaphorik, die sich in den Texten von Hufeland, Reil, Moritz und den Beiträgern ihrer Zeitschriften findet: Statt des mühsamen Sammelns einzelner Bausteine, die zu einem Gebäude zusammengesetzt werden müssen, wird Wissen durch einen zyklischen Wechsel von Erfahrung – als Trinken am Quell der Natur – und Erklärung – als ikarischer Flug gegen die Sonne – produziert. Der Verweis auf Ikarus impliziert dabei, dass eine erschöpfende Erklärung eventuell nicht endgültig möglich ist und so folgt dem Flug gegen die Sonne auch immer ein erneutes Zurückkehren zur Quelle. Später beschreibt Eschenmayer die Situation der Menschheit jedoch als ein Umherirren in einem Irrgarten, aus dem sie irgendwann ihren Ausgang findet, wenn Idee und Erfahrung zusammenfallen.183 Eschenmayer wird in seinem Versuch einen Flug gegen die Sonne wagen, indem er – wie der Titel bereits ankündigt – probiert, die Erscheinungen des animalischen Magnetismus zu erklären, um sie aus dem Kontext von Magie, Scharlatanerie und Aberglauben herauszulösen und natürlich zu begründen. Die empirische Erfahrung bindet er dabei ein, indem er immer wieder auf Beispielfälle der magnetischen Erscheinungen zurückgreift und insbesondere auf die Autorität der Beobachter verweist, um so die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der gemachten Erfahrungen zu unterstreichen: Ihre Namen sind, so viel ich kenne, ausser Mesmer dem Excitator, Gmelin, Bökmann, Wienholt, Reil, Tardy, Olbers, Heineken, Nordhof, Hufeland, Wolfart, Barthels, Kluge, Schubert, Jean Paul, Klein, Renard, Petetin, Anrdt. Es würde schwer seyn, würdigere Namen und zugleich solche, die sich oder in den verschiedensten theoretischen Ansichten begegnen, zusammenzufinden.184

Der Verweis auf Beobachtungen und Autoritäten ist deswegen notwendig, weil auch Eschenmayer eine Leerstelle im Wissen beschreibt, da der animalische Mag181 182 183 184

Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 4. Eschenmayer: Versuch, S. 1. Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 9. Eschenmayer: Versuch, S. 10.

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netismus als sowohl physiologisches als auch psychisches Phänomen185 ins Zentrum des vieldiskutierten commercium-Problems führt. Eschenmayer verdoppelt dabei die Experimentalstruktur, indem er den animalischen Magnetismus selbst als Experiment ansieht: „Der thierische Magnetismus ist ein Experiment, das wir mit dem Seelenorgan anstellen, um seine innere Natur zu erfragen, gerade wie der Naturforscher Experimente anstellt, um die innere Eigenschaften der körperlichen Dinge zu erforschen.“ 186 Gegenstand des Experiments ist das Innere der Seele, der Eschenmayer analog zum Körper eine Oberflächen- und Tiefenstruktur zuspricht: In den Erscheinungen des Magnetismus öffne sich das „Innere der Seele“ und ermöglicht einen staunenden Blick in ihre „verborgene Tiefe“ 187. Der Kontrast von Tiefe und Oberfläche wird in eine für die romantische Naturphilosophie typische Hell-Dunkel-Metaphorik übertragen:188 „Es scheint überhaupt, die Seele des Menschen habe eine Tag- und Nachtseite. […] Es gibt einen dunkeln Grund der Seele, in welchem gerade das Geheimste und Erhabenste aufgezeichnet wird.“ 189 In den magnetischen Zuständen wird nun diese Nachtseite erhellt und wir bliken alsdann wie in eine andere Welt hinüber. Und ist dann unsere Nachtseite nicht merkwürdiger? Sehen wir bey Nacht nicht Millionen Sonnen an uns vorüberziehen, während bei Tag wir nur eine einzige erbliken. Unendlicher und erhabener ist jenes Schauspiel, das uns weit über die eingeschränkte Sphäre eines Sonnensystems hinausführt. So verhält es sich auch im thierischen Magnetismus. Das, was auf dem dunkeln Grund der Seele verzeichnet ist, das leuchtet jetzt im hellsten Glanze hervor, während die gemeine Sonne des Tages erlischt.190

Der Blick in die Tiefe erhellt, was sonst dunkel ist und dieses Dunkle – die Nachtseite – wird gegenüber dem Hellen des Tages aufgewertet. Die Tag-Nacht beziehungsweise Hell-Dunkel Metaphorik verweist aber auch bereits auf den Magnetismus als einen Zustand, in dem die normalen Körper-Seele-Verhältnisse umgedreht werden. Die Wirkungen des animalischen Magnetismus’ sieht Eschenmayer durch eine Vielzahl an „Beobachtungen und Experimente[n]“ 191 belegt, weshalb er auf dieser Grundlage einen „speculativen Versuch“ 192 wagen will. Ausgangspunkt seines Versuchs ist folgende Hypothese: „Ich seze daher die Aechtheit der bekanntgewordenen Thatsachen voraus und suche sie, ohne zu irgendeinem Wunder meine Zu-

185 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 27. 186 Eschenmayer: Versuch, S. 33. 187 Beide Zitate: Eschenmayer: Versuch, S. 33. 188 Vgl. z. B. Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808), durch die der Begriff der ‚Nachtseite‘ geprägt wurde, sowie seine Symbolik des Traum (1814). 189 Eschenmayer: Versuch, S. 63 f. 190 Eschenmayer: Versuch, S. 64. 191 Eschenmayer: Versuch, S. 34 (siehe zur magnetischen Fallgeschichte Kap. 3). 192 Eschenmayer: Versuch, S. 35.

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flucht zu nehmen, aus den Gesetzen der Seelenwirkungen zu erklären.“ 193 Die „dunkle[n] Stellen“ 194 der bisherigen Erklärungen will Eschenmayer erhellen. Hier wird deutlich, dass Eschenmayer wie Reuß eine Lücke beschreibt, die der schriftliche Versuch mit Wissen füllen soll. Das schriftliche Experiment treibt dieses Wissen gewissermaßen erst hervor. Die Spannung von Sichtbarem und Unsichtbarem überträgt Eschenmayer auf seine Körper-Seele-Konstruktion. Hatte es in der Aufklärungsphysiologie und -psychologie starke Tendenzen zur Naturalisierung der Seele gegeben, da sie in Analogie zu chemischen, physikalischen oder physiologischen Gesetzen erläutert wurde, wird die Seele hier sprachlich-metaphorisch wieder entgrenzt. Eschenmayer nimmt in Anlehnung an Paracelsus neben dem sichtbaren, ‚adamischen‘ Körper einen zweiten, unsichtbaren, ‚syderischen‘ an,195 um das Zusammenspiel von Körper und Seele in den magnetischen Phänomenen wie Clairvoyance, Sympathie und Antipathie, Fernwirkung, Rapport und Divination zu erklären. Insbesondere im höchsten Grade der magnetischen Divination setzt sich die Seele über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg.196 Das Medium dieser ‚Überschreitung‘ ist der organische Aether, eine feine Flüssigkeit, die normalerweise im Gehirn gebunden ist und sich im Magnetismus durch den gesamten Organismus ergießt, wobei sie sich in der Magengrube oder an den peripheren Enden der Nerven konzentriert. Für diesen Aether sind alle organischen Substanzen permeabel, so dass er auch außerhalb der Körpergrenzen wirken kann.197 Seele und Körper denkt Eschenmayer in einem analogen Verhältnis. Dabei will er jedoch nicht vom Körper auf die Seele schließen, sondern hält streng an dem von Ernst Stahl formulierten Gesetz fest, wonach die Seele sich ihren Körper nach ihr eingeborenen Gesetzen baue, so dass er das Abbild des „geistigen Organismus“ 198 sei. Im Rahmen der Naturphilosophie muss Eschenmayer die Analogien hierarchisch von oben nach unten denken, weshalb er von den seelischen Gesetzen auf den Körper schließt.199 Die Seele setzt sich nach Eschenmayer aus drei Vermögen zusammen, welche die „Architektonik unseres Seelenbaues“ 200 bilden: die Erkenntnis-, die Gefühlsund die Willensseite, die sich jeweils noch in weitere Vermögen gliedern. Der ‚thierische Magnetismus‘ steht in engem Zusammenhang mit der Gefühlsseite, dessen vier Vermögen in aufsteigender Ordnung Anschauung, Einbildungskraft, Gefühls-

193 Eschenmayer: Versuch, S. 35. 194 Eschenmayer: Versuch, S. 26. 195 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 26 f. 196 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 74 f. 197 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 55 f. 198 Eschenmayer: Versuch, S. 132. 199 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 117. 200 Eschenmayer: Versuch, S. 45. Zu einer Einteilung in sechs Grade kommt Carl Alexander Ferdinand Kluge in seinem Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel, S. 63.

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vermögen und Phantasie sind, und die mit den vier Stufen verbunden werden, in die Eschenmayer die magnetischen Erscheinungen unterteilt.201 Diese sind erstens die sinnliche magnetische Anschauung, zweitens das Hellsehen (Clairvoyance), welches mit der Einbildungskraft korrespondiert, drittens die magnetische Sympathie, welche mit einem erhöhten Gefühl einhergeht, und viertens die magnetische Divination, die mit einer potenzierten Phantasie verknüpft ist.202 In dieser Hierarchisierung wird die Aufwertung der Phantasie in der romantischen Anthropologie und Medizin deutlich erkennbar. Die Gesetze der Seele finden sich auch in der „Architektonik des Körpers“ 203 wieder. Durch das Architekturbild entsteht ein räumlicher Eindruck von Seele und Körper; sie bilden einen gemeinsamen Raum, dessen Verbindungsglied das Seelenorgan – das heißt bei Eschenmayer das Gehirn – ist. Eschenmayers Anspruch, von der Seele auf den Körper zu schließen, funktioniert jedoch nur dadurch, dass er Gesetzmäßigkeiten, die er in der Natur beobachtet, spekulativ auf die Seele überträgt, um diese dann als Apriori zu formulieren. Immer wieder muss er im Grunde vom Körper auf die Seele schließen, etwa wenn er die geistige Vereinigung von Somnambuler und Magnetiseur im Rapport analog zum Geschlechtsverkehr und zum Zeugungsvorgang darstellt: „Der ganze thierische Magnetismus scheint nichts Anders zu seyn, als eine geistige Zeugung durch geistige Begattung, und gibt uns in dieser Hinsicht das obgleich seltene Gegenstuk zur Naturzeugung durch organische Begattung.“ 204 Gemäß der Geschlechteranthropologie um 1800 wird die Frau dabei als rein rezeptiv gesehen,205 während der männliche Wille auf sie übertragen wird: „Alle Gefühle, selbst Gedanken und Entschlüsse des Mannes muss die Somnambüle aufnehmen und während alle andere Objectivität für sie verschwunden ist, beschäftigt sie sich nur mit dem, was ihr vom Magnetiseur zum Object gegeben wird.“ 206 Das Ich der Frau geht völlig in das des Mannes über. Trotz der Analogie des Rapports zum Geschlechtsverkehr und der völligen Abhängigkeit der Somnambulen vom Magnetiseur argumentiert Eschenmayer aber gegen alle sexuellen Konnotationen des Verhältnisses, das sich gerade durch besondere Reinheit auszeichne.207 Erst durch die Literatur – etwa die Darstellungen bei E. T. A. Hoffmann und Kleist – werden die Aspekte der Gewalt und Sexualität mit der Rapportthematik verknüpft.208 201 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 45. 202 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 48. 203 Eschenmayer: Versuch, S. 150. 204 Eschenmayer: Versuch, S. 162. 205 Im Gegensatz zum tätigen, aktiven und intellektuell fähigen Mann wird die Frau als passivempfangend, naturnah und damit intellektuell weniger entwickelt konstruiert (vgl. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt a. M. 1991, S. 190). 206 Eschenmayer: Versuch, S. 161. 207 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 166. 208 Vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen.

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Wie bei Reuß findet auch in Eschenmayers Versuch eine Reduktion der vielfältigen körperlichen und seelischen Phänomene statt, mit welcher der Anspruch der Erklärung realisiert werden soll. In dieser Reduktion zwecks Theoriebildung liegt der Versuchscharakter der beiden Texte. Die Ausrichtung an Reiztheorie und Magnetismus als bestimmte Paradigmen der zeitgenössischen Medizin und Anthropologie macht es möglich, die Vielfalt und Kontingenz bestimmter pathologischer Phänomene in Deutungszusammenhänge zu bringen. Während Reuß’ Reizmodell sich an der Evidenz des Körpers, an den festen und flüssigen Teilen, an den Säften und Organen, Ausscheidungen und Verstopfungen orientiert, lässt sich bei Eschenmayer eine starke Tendenz zur Abstraktion erkennen, mit der Körper und Seele in ein umfassendes, stufenförmig aufgebautes, naturphilosophisches System eingebunden werden.209 Als Haupttendenzen lassen sich dabei zum einen die Erklärung aller magnetischer Phänomene aus den drei Grundproportionen der Naturphilosophie ‚Minus‘, ‚Null‘ und ‚Plus‘210, die Eschenmayer vom physischen Magnetismus ableitet 211, und zum anderen die Darstellung von Körper-Seele-Vorgängen durch geometrische Figuren feststellen. Eschenmayer teilt verschiedene funktionale Zusammenhänge – wie das Nervensystem und das Gehirn im Körper – jeweils in drei Teilsysteme ein und überträgt die drei Proportionen der Naturphilosophie auf diese. Das Prinzip der Dreiteilung führt er auf die Triplizität der Ideen zurück und identifiziert es in verschiedenen Körperregionen. Das Gehirn unterscheidet er aufgrund der Erkenntnisse der zeitgenössischen Hirnanatomie in ein großes und kleines Gehirn sowie das verlängerte Rückenmark.212 Auch das Nervensystem wird dreigeteilt: In Anlehnung an Reils neurophysiologische Arbeiten nimmt Eschenmayer ein Cerebral- und Gangliensystem an, das er um das sympathische System ergänzt.213

209 Vgl. zu Einflüssen und Unterschieden von Schellings und Eschenmayers naturphilosophischen Konzepten: Ralph Marks: Differenz der Konzeption einer dynamischen Naturphilosophie bei Schelling und Eschenmayer. München 1983. 210 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 107. 211 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 117 f. Eschenmayer betont hier, dass er nicht etwa vom physischen Magneten auf den Organismus schließe, was dem naturphilosophischen Anspruch vom Höheren auf das Niedrigere zu schließen wiederspreche, sondern dass die Proportionen des Magneten ursprünglich bereits im Geiste inhärent seien. 212 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 104. Vgl. zur Geschichte der Hirnforschung: Hagner: Homo cerebralis. 213 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 105. Reil nimmt zwei Nervensysteme im menschlichen Körper an: das Cerebral- und das Gangliensystem. Die Nerven des Cerebralsystems wurzeln im Gehirn, das ihr Zentrum ist. Das Gangliensystem hat sein Zentrum hingegen in sich selbst. Damit ist das Gangliensystem ein vom Gehirn unabhängiger Bereich von Nervengeflechten und Knoten, die untereinander in Verbindung stehen. Das Cerebralsystem ist für die Muskeln und Sinnesorgane zuständig. Das Gangliensystem regelt das vegetative Geschehen und verursacht Bildung und Reproduktion des Gebildeten. Das Cerebralsystem dominiert im Wachzustand, während das Gangliensystem im Schlaf das Beherrschende wird. Vgl. zu Reils Konzeption eines bipolaren Nervensystems: Carl Alexander Ferdinand Kluge: Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel. 3. unver-

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Die Nerven der drei Systeme haben verschiedene elektrische Leitfähigkeiten und morphologische Strukturen. Die Nerven des Cerebralsystems entspringen im Gehirn und Rückenmarkt. Sie funktionieren als Leiter, über die Befehle des Willens in den Körper und Empfindungen vom Körper in das Gehirn transportiert werden. Sie sind weiß, hart und stark oxidiert. Die Nerven des Gangliensystems regulieren das vegetative System des materiellen Organismus’ und sind als Isolatoren vom Willen unabhängig. Sie sind weich, gallertartig, graugelb oder rötlich und leicht auflösbar. Die sympathischen Nerven bilden eine Ellipse entlang der beiden Seiten des Rückgrats mit einem Endpunkt im Gehirn und einem im Becken. Sie sind Halbleiter und die Grenze zwischen Ganglien- und Cerebralsystem.214 Das Cerebralsystem wird dem Plus, das sympathetische System der Null und das Gangliensystem dem Minus gleichgesetzt. Alle magnetischen Erscheinungen erklärt Eschenmayer mit Veränderungen, Umkehrungen, Erhöhungen und Interpolationen dieser Proportionen.215 Die Möglichkeiten solcher Veränderungen der ursprünglichen Polaritäten leitet er ebenfalls aus dem physischen Magnetismus ab, indem er verschiedene an einem Eisenstab durch einen Magnet hervorgerufene Veränderungen von Polarität und Indifferenz auf den animalischen Magnetismus überträgt.216 Das Nervensystem selbst sieht Eschenmayer als einen komplizierten Magneten an.217 Im Normalzustand funktioniert die Aufteilung der Polaritäten: „Es entsteht die natürliche Polarität mit dem Indifferenzpunct in der Mitte und dies können wir für den Normalzustand ansehen.“ 218 Die magnetischen Zustände stellen hingegen Abweichungen von dieser Norm dar, die mit am Eisenstab abgeleiteten, möglichen Veränderungen der Polaritäten erklärt werden. Die erste mögliche Abweichung bedeutet Krankheit: „Wenn der Magnet den Eisenstab von A gegen C weiter bestreiche, so nehme bei A der positive Pol ab, dagegen verstärke sich der negative Pol bei C.“ 219 Im menschlichen (oder genauer weiblichen) Körper verursacht diese Verschiebung Hysterie: Die Willens- und Sinnesherrschaft des Cerebralsystems verliert an Einfluss, gleichzeitig wird das Gangliensystem loser und ungebundener, da sich die negative Polarität verstärkt, wodurch Krämpfe in den Gliedern und im Unterleib entstehen. Das sympathische System beginnt, sich aus seiner Mitte Richtung Unterleib zu bewegen, wodurch Brustkrämpfe verursacht werden.220 Die Abweichung vom polaren Gleichgewicht resultiert in Krankheit und disponiert zugleich für eine

änderte Aufl. Berlin 1818, S. 105–107; Watzke: Hirnanatomische Grundlagen der Reizleitung, S. 247– 268; Koschorke: Poiesis des Leibes, S. 259–272. 214 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 105–107. 215 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 107. 216 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 118–120. 217 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 124. 218 Eschenmayer: Versuch, S. 134. 219 Eschenmayer: Versuch, S. 134. 220 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 135.

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Behandlung mit Hilfe des animalischen Magnetismus’, dessen Erscheinungen dadurch ebenfalls in die Nähe von Krankheit gerückt werden. Schrittweise erklärt Eschenmayer nun den magnetischen Schlaf, die inneren Anschauungen, die Versetzung des Gemeinsinns in die Magengrube und das Sehen mit den Finger- und Zehenspitzen mit Verschiebungen der Polaritäten und des Indifferenzpunktes.221 Am stärksten treten die magnetischen Wirkungen hervor, wenn Cerebral- und Gangliensystem beide negativ und das sympathische System positiv sind. Hiermit kann die innere Anschauung von jedem Knoten des sympathischen Nervs aus und die Versetzung des Gemeinsinns in die Magengrube erklärt werden.222 Die Polarität ‚Plus‘ wird dort angenommen, wo die Wahrnehmung stattfindet, und somit indirekt mit dieser Funktion verbunden. Wenn Cerebral- und Gangliensystem positiv und das sympathische System negativ sind, nimmt Eschenmayer den Eintritt des Scheintodes an, da die Herzmuskeln bei negativer Polarität permanent kontrahiert seien. In der Umkehrung der normalen Polaritäten wird schließlich das Gangliensystem positiv und das Cerebralsystem negativ. Diesen Zustand vermutet er bei Geisteskrankheiten, Wahnsinn und Manie,223 was jedoch auch bedeutet, dass die ‚höchsten‘ magnetischen Zustände nur zwei Polaritätsverschiebungen vom Wahnsinn entfernt sind. Den Polaritäten ‚Plus‘ und ‚Minus‘ wird ein Bedeutungsüberschuss eingeschrieben: ‚Minus‘ bedeutet Herzstillstand, das Abziehen von Leben oder auch Kontrollverlust, und ‚Plus‘ hingegen Kontrolle, Wahrnehmung oder Aktivität. Das Gesetz der Polaritätsverteilung wirkt nach Eschenmayer in der gesamten Natur.224 Gesundheit besteht bei normaler Verteilung der Polaritäten und einem ungestörten, harmonischen Zusammenwirken der Triplizität in allen Bereichen des Seele–Körper-Raums. Krankheit und Gesundheit sind somit nur verschiedene Polaritätszustände. Wie bei der Reiztheorie ist auch bei der Polaritätsvorstellung das Gleichgewicht der körperlichen Verhältnisse wichtig. Hierarchisch absteigend beschreibt Eschenmayer den Normalzustand für die Seele, das Gehirn und das Nervensystem: § 54. Normal ist der Zustand des geistigen Organismus, wenn Denken, Fühlen und Wollen in einem ununterbrochenen Wechselverhältnis zueinanderstehen und überhaupt alle Functionen der geistigen Vermögen mit dem bestimmten Werthe ihrer Radien sich auf einen und denselben Mittelpunct nemlich die Ichheit beziehen. Ein Vermögen unterstützt das andere, rectificirt das andere und es kann bei der Thätigkeit aller psychisch betrachtet kein zu grosses Uebergewicht der Einzelen enstehen.225

221 222 223 224 225

Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 135–144. Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 138. Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 144. Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 124. Eschenmayer: Versuch, S. 124 f.

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§ 55. Normal ist der Zustand des Seelenorgans oder des Gehirns, wenn die Functionen des kleinen Gehirns, des grossen Gehirns und des verlängerten Marks ihre gehörigen Proportionen halten, wenn alle die transzendente Gleichungen, die in den künstlichen Formationen des Gehirns ausgedrükt sind, mit dem Werthe ihrer Functionen zusammenwirken, wenn alle die Sinnwurzeln zur Einheit des Gemeinsinns sich vereinigen, der organische Aether sie alle ungehindert durchströmt.226 § 58. Normal ist der Zustand des Nervensystems, wenn jene oben abgeleitete Triplicität ihre gehörige Gliederordnung behält, so dass dem Cerebralsystem die positive Function, dem sympatischen die indifferente und dem Gangliensystem die negative Function angewiesen ist, ferner wenn zwischen dem Central- und dem peripherischen Nervensystem, zwischen dem Centralsinn und den peripherischen Sinnen ein ununterbrochener Verkehr statt findet und keines mit dem Werthe des Andern auftreten will.227

Gesundheit wird als Norm festgesetzt, die durch die Wiederholung der Definition „normal ist …“ angezeigt wird. Der Normalzustand ist geprägt von einem harmonischen Gleichgewicht der verschiedenen Vermögen und Systeme, die ihren inneren Gesetzlichkeiten entsprechend funktionieren und untereinander im Austausch stehen. Die einzelnen Vermögen und Teile werden dabei personifiziert, sie können sich unterstützen und rektifizieren oder auch im Wert der anderen auftreten. Körper und Seele erscheinen als eine Art Konfiguration von verschiedenen Vermögen, Kräften und Systemen, die gemäß ihrer Werte und Funktionen zusammenwirken müssen. Insbesondere der Ausdruck „mit dem Werthe des Anderen auftreten“ erinnert an ein theatralisches Zusammenspiel verschiedener Rollen. Die Erscheinungen des Magnetismus können dann als Abweichung von der eigenen Rolle beschrieben werden. Der geistige Organismus ist gesund, wenn sich alle Kräfte auf die „Ichheit“ als Identitätsgarant beziehen. An anderer Stelle verwendet Eschenmayer die verbreiteten Begriffe ‚Selbstbewusstsein‘ oder ‚Selbstgefühl‘, die anhand von Reils Rhapsodieen eingeführt wurden und erklärt Erscheinungen, wie die berühmte Geschichte der Patientin Gmelins, die im magnetisierten Zustand anfing perfektes Französisch zu sprechen und sich als Emigrantin ausgab, ähnlich wie Reil mit einem Abweichen von der eigenen ‚Ichheit‘. Als Zentrum des Selbstgefühls sieht Eschenmayer das Gefühlvermögen, das er mit dem Wert ‚Null‘ verbindet. Dieser Indifferenzpunkt muss mit denjenigen im Gehirn und im Nervensystem korrespondieren. Wenn diese aber im Magnetismus verändert werden, stimmt das Gehirn nicht mehr mit dem „wahren Selbstgefühl“ überein, so dass ein „vorgespiegelte[s]“ zum Bewusstsein gelangt und das andere verdrängt: Der Mensch kann sich selbst im normalen Stande in jede Lage des Andern versezen, er kann die wahrscheinliche Gedanken, Gefühle, Entschlüsse, die mit jener Lage verbunden sind, oft

226 Eschenmayer: Versuch, S. 126. 227 Eschenmayer: Versuch, S. 133.

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sehr lebendig reproduziren. Insofern entsteht schon eine Art fremder Persönlichkeit, die aber immer gegen die Wahre und Wachende gehalten im Hintergrunde bleibt. Wird aber ein Zustand erwekt, wie im thierischen Magnetismus, wo die dunkle Spuren hell werden, so tritt auch diese fremde Persönlichkeit in ihrer ganzen Rolle auf, während die Wahre dunkel wird.228

Wie Reil verwendet Eschenmayer Theatermetaphern, um die Persönlichkeitsveränderungen während des Magnetismus’ zu beschreiben. Auch hier wird der Magnetismus als Phänomen der Entgrenzung konzipiert, denn innerhalb einer Person werden verschiedene potentielle Bewusstseinszustände angelegt, die der Mensch ausagieren kann. Die Seele erscheint als eine Art Bühne für diese verschiedenen Rollen. Die wiederholte Theatermetaphorik zeigt, dass diese zur Darstellung und Erschließung psychologisch-medizinischer Bewusstseinsmodelle ein besonderes erkenntnisleitendes Potential hat 229 und damit für die Konzeption und Darstellung psychischer Krankheiten um 1800 wichtige Möglichkeiten bietet. Während der Mensch sich im Wachzustand dieser Rollenstruktur bewusst ist, ist dies in den magnetischen Zuständen nicht mehr möglich. Das Beispiel der Patientin, die sich für eine Französin hält, zeigt die Weite dieser Entgrenzung, denn im magnetisierten Zustand kann die Patientin in eine völlig andere Biographie schlüpfen, die auf gewisse Weise in ihr angelegt zu sein scheint. Beim Erwachen ist die andere Rolle wieder vergessen, was wie bei Reil als „Phänomen der doppelten Persönlichkeit“ 230 bezeichnet wird. Ex negativo beschreibt Eschenmayer den Magnetismus hier auch als Zustand der Entfremdung und des Ichverlusts. Dies wird dadurch deutlich, dass die Verdunklung der eigenen Persönlichkeit im Wahnsinn permanent wird und zwischenzeitlich auch im Fieber auftreten kann.231 Die Nähe der magnetischen Behandlung zum Theater kommt auch in den Vorwürfen der Verstellung und der Inszenierung, die sie begleiten, zum Ausdruck. Eschenmayer kann dies nicht ganz ausschließen, insbesondere da Frauen sich gut verstellen und den Arzt täuschen könnten. Die angenommene Rolle kann dabei so überzeugend werden, dass sie tatsächlich in den Organismus übergeht und die entsprechenden körperlichen Reaktionen hervorbringt.232 Diese Zusammenhänge

228 Eschenmayer: Versuch, S. 153. 229 Vgl. auch Huber: Der Text als Bühne, S. 175. Huber skizziert, wie Theatermodelle von Platon bis heute zur Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen verwendet werden (vgl. ebd., S. 175–177). 230 Eschenmayer: Versuch, S. 72. 231 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 153. 232 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 13. Vgl. zur Theatralität der magnetischen Behandlung: Bettina Gruber: Damenopfer, Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Somnambuler und Magnetiseur anhand einer Fallgeschichte des ‚Archiv für den thierischen Magnetismus‘. In: Ernst Leonardy, MarieFrance Renard und Christian Dörsch (Hg.): Traces du mesmérisme dans la littérature européene du XIXe siécle (Einflüsse des Mesmerismus auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts). Akten des internationalen Kolloquiums vom 9. und 10. November. Brüssel 2001, S. 165; dies.: Die Seherin von Prevorst, S. 97.

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zwischen Rolle, Bewusstsein und Körper werden auch in theatertheoretischen Schriften des achtzehnten Jahrhunderts reflektiert.233 Während sich Reuß und die Autoren des „Bruchstücks“ über die Bleichsucht und der „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catharrhalfiebers“ den beschriebenen Krankheiten durch die Zergliederung in ihre verschiedenen Symptome nähern und Reil die Funktionsweise der Seele mit verschiedenen Analogien zum Körper erläutert, zeigt sich in Eschenmayers Text eine deutliche Tendenz zur Abstraktion durch mathematisch-geometrische Formen, mit denen er die Seele und ihre Verbindung mit dem Körper als Mikrokosmos sowie dem Makrokosmos symbolisiert. Eschenmayer differenziert die Seele in eine Individual- und eine Universalseele, die sich wie Ellipse und Hyperbel zueinander verhalten, die sich in einem Punkt schneiden: Die Individualseele ist wie eine Ellipse; sie ist gefangen im Kreislauf des körperlichen Organismus’. Die Universalseele ist hingegen eine Hyperbel, die ins Unendliche strebt. Individual- und Universalseele gehen ineinander über, wenn aus der elliptischen Form eine Parabel entsteht, die zur Hyperbel wird.234 Über geometrische Figuren wird hier versucht, eine Brücke von Körper zur Transzendenz zu bauen. Die Seele wird mit mathematischen Formen konstruiert. Diese ‚mathematische‘ Konzeption der Verbindungen von Organismus und immaterieller Seele löst das Problem gewissermaßen aus dem empirischen Körper heraus und hebt es auf eine abstrakte Ebene, wo mathematische Regeln Apriori existieren.235 Die Abstraktion unterstreicht, dass der schriftliche Versuch der Unmittelbarkeit der experimentellen Beobachtung immer schon enthoben ist, selbst Versuchsberichte, die diese nur verschriftlichen, sind bereits eine nachträgliche Übersetzung in Sprache.236 Der schriftliche Versuch baut somit auf empirischer Beobachtung auf, die schon geschehen ist, und tritt in die Phase der Interpretation ein. Das Neue und Experimentelle ist die Hypothese, die aufgestellt wird, um die Erfahrungen zu ordnen und zu erklären und dabei auch das Unsichtbare, das der empirischen Wahrnehmung entzogen ist, in ein Wissensmodell einzubinden. Der Versuch erscheint gerade als Übergang von der Beobachtung zur Theorie und es ist die Verschriftlichung, die das Wissen festigt. Das ist bei Eschenmayers Text sehr deutlich, was auf seinen naturphilosophischen Hintergrund zurückzuführen ist. Die Naturphilosophie bot der Medizin die Möglichkeit, die vereinzelten empirischen Beobachtun-

233 Zu den Implikationen, die sich aus dieser Diskussion für die Darstellung von Leiden im Drama um 1800 ergeben, siehe Kap. 5.1. 234 Vgl. Eschenmayer: Versuch, S. 85 f. 235 Eschenmayer will in seinem Versuch die Gesetze magnetischer Erscheinungen aus Sätzen der Naturmetaphysik mithin a priori zu entwickeln alle Naturobjekte einer mathematischen Behandlungsart zugänglich machen (vgl. Marks: Differenz der Konzeption einer dynamischen Naturphilosophie bei Schelling und Eschenmayer, S. 18). 236 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 22.

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gen in ein umfassendes theoretisches System einzuordnen.237 Aber auch Reuß’ Versuch, der in den Reiz- und Krafttheorien der Aufklärungsanthropologie zu verorten ist, wagt diesen Übergang zu einem System, was auch die Begriffe „Einleitung“ und „allgemeine Pathologie“ im Titel anzeigen. Das Experimentelle liegt in der Frage, ob das Ordnen in ein System gelingt; die Gattungsbezeichnung ‚Versuch‘ setzt gewissermaßen ein (leichtes) Fragezeichen hinter die Krankheitskonstruktion, die ein Wissen auf Bewährung darstellt. Die Möglichkeit der Falsifikation, die dem naturwissenschaftlichen Experiment gegeben ist, ist erst nachträglich durch Korrekturen und Gegendarstellungen möglich. Entsprechend halten beide Autoren die Auseinandersetzung mit Lehrmeinungen, die ihren Hypothesen widersprechen könnten, durch viele Fragen präsent, die deren Fehlerhaftigkeit unterstreichen sollen. Der Versuch kann als Übergang zu einem festen Wissen und einer festen Gattung – zum Beispiel der in Reuß’ Titel genannten Einführung – gesehen werden. In den besprochenen Beispielen haben die Gattungsbezeichnungen eine wissensprogrammatische Funktion, insofern sie genutzt werden, um die Möglichkeit zu reflektieren, Krankheiten zu erklären. Mit ihnen wird eine bestimmte Konzeption von Wissen über Krankheit umgesetzt, indem durch die Gattungen Brüche und Unsicherheiten akzentuiert werden: Ein fixiertes Wissen wird erst ‚er-schrieben‘.238 Die Dominanz bestimmter zentraler Metaphernfelder und Beschreibungsmodelle wie der Reizleitung, Polarität oder des Fließens, mit denen in allen Texten das nicht unmittelbar Wahrnehmbare beschrieben wird, zeigt, dass bestimmte Darstellungsparadigmen gattungsübergreifend wirksam sind. Durch paratextuelle Bezeichnungen wie ‚Fragment‘, ‚Rhapsodie‘ und ‚Versuch‘ wird jedoch jeweils eine bestimmte Wahrnehmungsperspektive auf Krankheit etabliert, indem die Textformate, deren Namen auf bestimmte Wahrnehmungs- und Ordnungsraster rekurrieren, als Grundlage der Krankheitsdarstellungen genutzt werden. Auf einer wissenstheoretischen Ebene werden die Gattungsbezeichnungen strategisch zur Legitimation und Validierung des jeweiligen Krankheitswissens verwendet. Dabei lassen sich die Zergliederung in einzelne Symptome und die systematische Abstraktion als Perspektiven feststellen. Stafford nennt „to dissect“ und „to abstract“ 239 als zwei Figuren des achtzehnten Jahrhunderts, mit denen das Unsichtbare sichtbar gemacht werden sollte. Die Krankheiten werden in ihre einzelnen Symptome zergliedert, um anschließend zu einem Ganzen zusammengesetzt zu werden. Dieses ‚Ganzes‘ als umfassendes Verständnis von Krankheit, Körper und Seele wird dabei trotz vieler Unsicherheiten angestrebt. Insbesondere in den

237 Wiesing: Kunst oder Wissenschaft?, S. 189 f. 238 Vgl. Berg: „Die Entscheidung für bestimmte Genres und Diskursarten organisert Wissensfelder nicht nur, sondern begründet sie auch, kann sie also er-schreiben, neu entwickeln, sie konsolidieren und legitimieren.“ (Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 3) 239 Stafford: Body Criticism, S. 7.

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beiden erläuterten Versuchen wird probiert, die Grenzen des Wahrnehmbaren zu überwinden, indem das Unsichtbare probeweise erklärt wird. Der Versuch erscheint somit als Übergang zu einem festen Wissen, während Fragment und Rhapsodie die Brüche beziehungsweise die Kompilation stärker hervorheben. Die untersuchten Gattungen lassen sich mit Gianna Pomata als „epistemische Genres“ 240 bzeichnen, insofern sie bestimmte Denkmuster reflektieren und damit kognitiven Praktiken textuelle Form geben.241 Pomata stellt dabei für die frühneuzeitliche Medizinkultur „eine neue Toleranz und fast sogar eine Präferenz für das Begrenzte, das Vorläufige, das sich Verändernde, gegenüber dem Endgültigen, dem Schlüssigen, dem Systematischen im Bereich des Wissens“ 242 fest, das sich auch in den hier besprochenen ‚vorläufigen‘ Gattungen um 1800 finden lässt und bereits in den Gattungsbezeichnungen zum Ausdruck kommen. Trotz der Loslösung vom einzelnen Fall berufen sich alle besprochenen Texte auf Beobachtungen von Fallbeispielen, was zeigt, dass die Medizin um 1800 stark kasuistisch geprägt ist. Dem Fallbeispiel werden dabei bestimmte argumentativrhetorische Funktionen zugewiesen, die mit dem Ideal einer naturnahen ‚Beobachtung‘, zusammenhängen. Die Beobachtung und Beschreibung einzelner Fälle nimmt in der Fallgeschichte selbst Gattungsform an und soll in einem nächsten Schritt anhand ausgewählter Fallgeschichten fokussiert werden.

240 Gianna Pomata: Fälle mitteilen. Die Observationes in der Medizin der Frühen Neuzeit. In: Yvonne Wübben und Carsten Zelle (Hg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizn und Literatur. Göttingen 2013, S. 23. 241 Vgl. Pomata: Fälle mitteilen, S. 24 f. 242 Pomata: Fälle mitteilen, S. 25.

3 Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle „Ein Casus ist die Geschichte einer Krankheit nebst der Anzeige der gebrauchten Mittel und des Erfolgs von beyden.“ 1 Dieses Zitat scheint zunächst auch dazu geeignet, die Darstellung des epidemischen Catarrhalfiebers im Frühjahre von 1803 (siehe Kap. 2.1.1) zu charakterisieren. Die Erscheinungen einer Krankheit werden in eine narrative, das heißt zeitliche und kausale Ordnung gebracht, so dass sie zur ‚Geschichte‘ dieser Krankheit werden. Dazu gehören auch die Aktivitäten des Arztes und der Ausgang der Geschichte. Der Verfasser eines „Fragment[s] über den Nutzen der Casuum medicorum“ (1772) fügt jedoch zwei weitere Merkmale der Krankheitsdarstellung im Kasus hinzu: „Nun ist die Krankheit erstlich individuell; denn eine Abhandlung von einer Art, z. B. von bösartigen Fiebern, würden wir keinen Casum nennen. Ferner ist die Krankheit, deren Geschichte beschrieben wird, entweder gewöhnlich, oder selten, oder unbekant.“ 2 Der erste Teil der Definition ermöglicht es, zwischen dem Kasus sowie dem Bruchstück und Fragment, die im vorherigen Untersuchungsteil analysiert wurden, zu differenzieren. Während dort eine ‚Art‘ – die Bleichsucht und das epidemische Carrarhalfieber – im Mittelpunkt standen, muss der ‚Fall‘ sich mit der Geschichte eines individuellen Patienten beschäftigen. Der zweite Teil der Definition führt das spezifische Verhältnis des Falls zu etwas Allgemeinem ein.3 Auch ein Rezensent des „Fragments über den Nutzen der Casuum medicorum“ bestätigt die Spannung von Allgemeinem und Besonderem als Kennzeichen des Kasus’ und erweitert den Merkmalkatalog um eine narrative Struktur: So ziehen wir aus vielen besondern Fällen allgemeine Regeln, die nachher unser Verfahren in Ansehung der Cur bestimmen. Diß aber ist noch lange kein Casus. Eine viel genauere Bestimmung der Ursache, ihre Wirkungen, die daher entstehenden Verwickelungen und Contraindicantia, die genaue Erzählung der daher entspringenden Erscheinungen, eine eben so sorgfältige Erzehlung der gebrauchten Mittel, die darauf erfolgten Veränderungen u. alles dieses mit

1 F.: Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzneygelahrtheit von einer Gesellschaft von Aerzten. (1776), S. 336. Die Gesellschaft schloss sich 1772 in Hamburg unter Leitung des Arztes und Botanikers Paul Dietrich Giseke zusammen. Die Mitglieder hielten Vorträge über Fragen der Medizin, die eine oder mehrere Respondenzen erhielten. Einige Vorlesungen wurden 1776 gedruckt. Die Verfasser der einzelnen Aufsätze und Rezensionen bleiben bewusst anonym (vgl. Giseke: [Vorwort des Herausgebers]. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzneygelahrtheit von einer Gesellschaft von Aerzten, [1776]). 2 F.: Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum, S. 336. 3 Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis John Forrester: If p, then what? In: History of the Human Sciences 9 (1996), S. 11–13; Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung, S. 15; Nikolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 68–72.

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dem größten Fleiß ausgezeichnet und beschrieben, macht den wahrhaftig brauchbaren Casum, und lehrt uns die so schwer zu findenden und oft verwickelten Wege der Natur.4

Die Wiederholung des Schlüsselwortes „Erzählung“ unterstreicht das narrative Interesse der Gattung, durch die kausale und temporale Kohärenz der pathologischen Erscheinungen und der ärztlichen Aktivitäten hergestellt werden. Schon die etymologische Herkunft der Begriffe ‚Fall‘ und ‚Kasus‘ impliziert einen ‚Abfall‘ oder eine ‚Abweichung‘ von einer wie auch immer definierten Norm, indem durch sie die Semantik des Falls und des Fallens mitgeführt wird.5 Bedeutungen und Assoziationen wie ‚Vorfall‘ oder ‚Ereignis‘ implizieren zudem Besonderkeit und Einmaligkeit. Der ‚Fall‘ beruht auf dem ‚Merkwürdigen‘, obwohl er Erkenntnisse über etwas ‚Allgemeingültiges‘ liefern soll. In der Zeit um 1800 ist dabei eine „mannigfaltige Bedeutung“ 6 des Kasus’ festzustellen, die schon in der zeitgenössischen Diskussion über die Gattung hervorgehoben wurde. Die Worte ‚Kasus‘, ‚Fall‘, ‚Zufall‘ oder ‚Vorfall‘ werden synonym verwendet und können in Bezug auf Krankheit sowohl die Krankheit selbst als auch die Symptome einer Krankheit bezeichnen.7 Mit Stefan Goldmann ist zu betonen, dass die Gattungsbezeichnung ‚Fallgeschichte‘ ein Begriff des zwanzigsten Jahrhundert ist, der in der Forschung nachträglich auf die Texte um 1800 angewendet wird: „Bei der gegenwärtigen Konjunktur der ‚Fallgeschichtenforschung‘ ist in Erinnerung zu rufen, dass das achtzehnte Jahrhrhundert dieses Wort noch nicht kennt.“ 8 Komposita wie ‚Fallgeschichte‘, ‚Fallbeispiel‘, ‚Falldarstellung‘, ‚Fallerzählung‘ oder ‚Fallstudie‘, so Goldmann, seien erst nach dem Zweiten Weltkrieg, wahrscheinlich als ‚Übersetzung‘ der englischen Begriffe ‚case study‘, ‚case report‘ und ‚case history‘ üblich geworden.9 Die eingangs skizzierten Diskussionen fallbezogener Texte im medizinischen Bereich lassen jedoch ein Bewusstsein für Gattungszusammenhänge erkennen. Die Stellung des ‚Falls‘ zwischen Besonderem und Allgemeinem wurde in den bereits untersuchten Texten deutlich (siehe Kap. 2). In diesen Texten oszilliert die 4 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 19. Jan. 1773. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzneygelahrtheit von einer Gesellschaft von Aerzten (1776), S. 354. 5 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 3, Sp. 1271–1274. Vgl. auch Stefan Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle. In: Dickson/Ders./Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 48; Nikolas Pethes: „sie verstummen – sie gleiteten – sie fielen“: Epistemologie, Moral und Topik des ‚Falls‘ in Jakob Michael Reinhold Lenz’ „Zerbin“. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 19 (2009), S. 333 f. 6 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 22. December 1772. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzneygelahrtheit von einer Gesellschaft von Aerzten (1776), S. 339. 7 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 46 f. 8 Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 44. 9 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 44 f.

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Darstellung von Krankheiten und Therapien zwischen der Kontingenz einzelner Symptome und Fälle und dem Versuch, die Leiden in ein System einzuordnen. Die Gattungsbezeichnungen markieren genau diese Spannung von Vorläufigkeit und systematischem Ganzen und haben somit eine epistemologische Funktion.10 Die formalen Implikationen der Gattung werden auf der inhaltlichen Ebene argumentativ eingebunden. Trotz der Versuche, die Symptome und Leidensäußerungen vom einzelnen Fall zu lösen, um sie zu einer nosologischen Beschreibung einer Krankheit oder Therapie zusammenzufügen, wird dem individuellen Fall eine zentrale Bedeutung zugewiesen: In dem „Bruchstück“ über die Bleichsucht und in den „Fragmenten aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers“ bilden sie die Basis für die Krankheitsgeschichte, die von der individuellen Krankengeschichte abstrahiert wird. Reil konstruiert sein System einer psychischen Kurmethode anhand empirischer Fallbeobachtungen und Eschenmayer versucht, seine theoretische Begründung des animalischen Magnetismus’ mit verschiedenen Fallbeispielen zu beglaubigen. Dem Einzelfall wird somit die rhetorische Funktion der Evidenz zugewiesen. Das Sammeln und Wiedergeben von Fallgeschichten bildet dabei den Übergang zu einem festen System. Beides werde erst überflüssig, so der Rezensent des zuvor genannten „Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum“, wenn die „Lehrsätze“ in völliger Übereinstimmung mit allen historisch beobachteten Äußerungsweisen einer Krankheit seien: „So wären keine fernere einzelne Fälle von solchen Krankheiten, über die schon ein völliges Licht verbreitet worden, aufzuzeichnen nöthig.“ 11 Der ‚Fall‘ nimmt nicht nur im medizinischen, sondern auch in anderen Wissensdiskursen um 1800 eine zentrale Rolle ein, so dass fallbasierte und -orientierte Argumentationsmuster, Erkenntnisse und Schreibweisen als interdiskursive Formen und Inhalte bezeichnet werden können. Foucault hat den Fall als Objekt der Erkenntnis und Ziel von normierenden Mächten charakterisiert 12 und die „aleatorische Struktur des Falles“ 13 als charakteristische Wahrnehmungsform der klinischen Medizin des ausgehenden achtzehnten Jahrhundert bezeichnet. Seitdem haben Fallgeschichten viel Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten.14 Dabei werden insbesondere wissenstheoretische und -historische Fragen sowie die Rolle

10 Vgl. das bereits erwähnte Konzept der ‚epistemischen Genres‘ von Pomata: Fälle mitteilen, S. 20–26. 11 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 19. Jan. 1773, S. 355. 12 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen übersetzt. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1979, S. 246. 13 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 104. 14 Vgl. zu interdisziplinären Forschungsperspektiven: Johannes Süßmann: Einleitung: Perspektiven der Fallstudienforschung In: ders., Susanne Scholz und Gisela Engel (Hg.): Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode. Berlin 2007, S. 7–27; zur literaturwissenschaftlichen und -geschichtlichen Forschung: Dickson/Goldmann/Wingertszahn: Vorwort: „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 7.

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literarischer Formen und Darstellungsmittel in den Fallgeschichten diskutiert.15 John Forrester hat das ‚Denken in Fällen‘ als bestimmte Form der Wissensgenerierung analysiert.16 In wissenshistorischer Hinsicht wurden zudem die Funktion der Fallgeschichte bei der Überführung und Vermittlung experimenteller oder empirischer Beobachtungen in generalisierte Wissenssysteme herausgestellt.17 Die Fallgeschichte ist zudem insbesondere in Hinblick auf die Rolle literarischer Schreibmuster in nicht-literarischen Diskursen sowie fallbasierter Schreibweisen in der Literatur untersucht worden. Bereits Sigmund Freud zeigte sich irritiert, „daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“ 18. Auch der Literaturwissenschaftler André Jolles stellt in seinem Werk Einfache Formen (1930) die Tendenz des Kasus’ heraus, sich durch Hinzufügungen zur Novelle zu entwickeln, die zur bloßen Schilderung eines Falles nicht notwendig seien, durch die aber seine Einmaligkeit hergestellt werde.19 Die Gattungen Kasus oder Fall und Novelle treffen sich dabei in der Darstellung von etwas ‚Besonderem‘. Gerade für die Zeit um 1800 hat sich die Frage nach dem ‚Fall‘ in Literatur und anderen Wissensdiskursen als produktive Forschungsperspektive erwiesen.20 Fallbeschreibungen wie Pitavals wirkungsmächtige Causes Célèbes et intéressantes oder Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde stehen in enger Beziehung zur Literatur.21 Insbesondere für die Darstellung des vieldiskutierten Inneren konnten dabei poetisch-anthropologische Modelle aufgezeigt werden.22 Literarische Texte wie Goethes Werther23, Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen und Biographien der Selbstmörder, Moritz’ Anton Reiser, Kleists Käthchen von Heilbronn, E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels oder Büchners Lenz und Woyzeck setzen reale und fiktive Fälle literarisch um. Die Kategorie des ‚Falls‘ findet sich dabei auch in litera-

15 Vgl. Dickson/Goldmann/Wingertszahn: Vorwort: „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 7. Die Fallgeschichte ist zudem für eine patientenorientierte Medizingeschichte eine hochrelevante Quelle (vgl. z. B. Wolfgang Alber und Jutta Dornheim: Ärztliche Fallberichte des achtzehnten Jahrhunderts als volkskundliche Quelle. In: Zeitschrift für Volkskunde 78 [1982], S. 28–43; Roy Porter: A social history of madness. Stories of the insane. London 1987). 16 Vgl. Forrester: If p then what?, S. 1–25. 17 Vgl. Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung, S. 15; Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit, S. 72–77; Süßmann: Einleitung: Perspektiven der Fallstudienforschung, S. 19 f. 18 Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre. In: Gesammelte Werke. Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892–1899, hg von Anna Freud. Leipzig 1925, S. 227. 19 Vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 5. unveränderte Aufl. Tübingen 1974, S. 180 f. 20 Vgl. Košenina: Fallgeschichten, S. 283; Pethes: Ästhetik des Falls, S. 21. 21 Vgl. Košenina,: Literarische Anthropologie, S. 53–84; ders.: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner und Spieß. In: Alice Stašková (Hg.): Friedrich Schiller in Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte. Heidelberg 2007, S. 119–140. 22 Vgl. Hillen: Die Pathologie der Literatur, S. 127. 23 Vgl. Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem.

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turästhetischen Texten, beispielsweise bei Lessing, Schiller und Blanckenburg.24 Die Ausrichtung am ‚Fall‘ um 1800 kann somit als ‚Schreibweise‘ bezeichnet werden, die Gattungs- und Diskursgrenzen überschreitet.25 Erst in jüngerer Zeit aber haben sich einzelne Studien verstärkt mit der Gattungsgeschichte sowie der Poetik und Narratologie der Fallgeschichte beschäftigt.26 Untersuchungen hierzu bleiben eine wichtige zukünftige Forschungsperspektive,27 zu der diese Arbeit einen Beitrag leistet. Die fallbasierte Krankheitsdarstellung wird im Folgenden anhand von Beispielen aus drei Zeitschriften aus der Zeit um 1800 untersucht. In Hufelands Journal werden zahlreiche individuelle Krankheitsfälle gesammelt (siehe Kap. 3.1). Anhand des Journals sollen dabei Beispiele körperlicher Krankheiten im Blickpunkt stehen, die einen Großteil der Fallgeschichten im Journal ausmachen. In einem zweiten Schritt werden anhand des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde psychologische Fallgeschichten fokussiert (siehe Kap. 3.2). Bei der Entwicklung seines Konzeptes der Erfahrungsseelenkunde überträgt Moritz medizinische Begriffe in die Psychologie, um die Seele und ihre pathologischen Abweichungen so zu erklären. Neben den Begriffen werden aber auch Form- und Strukturelemente medizinischer Falldarstellungen zur Verschriftlichung der ‚neuen‘ Wissenschaft in die Erfahrungsseelenkunde eingeführt. Diese finden sich auch in den Fallbeispielen des Archivs für den thierischen Magnetismus (siehe Kap. 3.3). Diese Fälle aus dem Bereich der sogenannten romantischen Medizin verändern die Gattung jedoch auch, da ihnen neuartige Beobachtungssituationen zugrunde liegen und sie stärker auf ein bestimmtes theoretisches Konzept hin ausgerichtet sind, wie schon die Analyse von Eschenmayers Versuch vermuten lässt (siehe Kap. 2.3.2). Die drei Zeitschriftenprojekte verstehen sich als Grundierung für ein zukünftiges wissenschaftliches System,28 folgen also derselben Rhetorik der Vorläufigkeit, wie die zuvor analysierten Texte. Grundlage der zukünftigen Wissenssysteme ist die Versprachlichung von Beobachtungsvorgängen, durch die diese diskursiv zugänglich gemacht werden. In den Fallbeispielen körperlicher Krankheit ist dies der sogenannte ‚ärztliche Blick‘29. In Moritz’ Magazin wird die Selbst- und Fremdbeob-

24 Vgl. Pethes: Ästhetik des Falles, S. 23–27. 25 Vgl. Pethes: „sie verstummen – sie gleiteten – sie fielen“, S. 330–345; ders.: Ästhetik des Falls, S. 13–32. 26 Vgl. Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 301–316; Pethes: Ästhetik des Falls, S. 13– 32; Goldmann: Kasus – Krankengeschichten – Novelle, S. 33–64; Yvonne Wübben: Vom Gutachten zum Fall. Die Ordnung des Wissens in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. In: Dickson/Goldmann/Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 140–158. 27 Süßmann resümiert: „Die Narratologie der Fallstudie bleibt ein drignendes Desiderat“ (Süßmann: Einleitung: Perspektiven der Fallstudienforschung 2007, S. 23) und Pethes bestätigt dies mit Bezug auf Süßmann (vgl. Pethes: Ästhetik des Falls, S. 22). 28 Vgl. auch Pethes: Ästhetik des Falls, S. 19. Pethes bezeichnet die Ausrichtung der Beispiele auf ein zukünftiges Wissen als „propädeutische Funktion“ (ebd., S. 29) der Fallgeschichte. 29 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik.

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achtung zum expliziten Mittel der Wissensgenerierung über das Individuum und die allgemeine Gattung Mensch. In den magnetischen Fallgeschichten wird der Kranke selbst zum Beobachtungsmedium außerhalb ‚normaler‘ Erfahrungswelten liegender Wahrheiten. Entsprechend, sind viele Fallgeschichten in Hufelands Journal als Beobachtung überschrieben30 und ein Rezensent des „Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum“ plädiert sogar dafür den Kasus in „medicinische practische Beobachtung“ 31 umzubenennen, da diese Bezeichnung die Intention der Texte besser ausdrücke. Mit der Selbstbezeichnung als Beobachtung knüpfen diese Texte zum einen an die medizinische Tradition der ‚Observationes‘ an32 und rekurrieren zum anderen auf das aufklärerische Ideal des Sehens.33 Den engen Konnex von ‚Sehen‘, ‚Wissen‘ und ‚Sprache‘ in der Medizin um 1800 hat Foucault herausgestellt.34 Bereits durch die paratextuelle Bezeichnung als ‚Beobachtung‘ wird so eine bestimmte Wahrnehmung als Ordnungsstruktur des Textes benannt. Mit den Texten soll eine empirische Beobachtung sprachlich wiedergeben werden. Zugleich werden persuasive Strategien entwickelt, um diese Beobachtung übergeordneten Zusammenhängen wiederum anzunähern. In den Vorreden der Zeitschriften und anderen wissensprogrammatischen Äußerungen wird ‚Beobachtung‘ als Wahrnehmungsform dargestellt, die durch die Ausrichtung an der Natur als ‚Lehrer‘ und der Abwesenheit von Theoriekonzepten charakterisiert ist.35 Es wird suggeriert, dass allein die (individuelle) Krankenge30 Z. B.: Marcus Herz: Schnelle Heilung einer Gelbsucht – Eine wichtige semiotische Beobachtung – Unerwarteter Ausgang einer Krankheit. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 3, 4. St. (1796), S. 595–605; Alexander Aepli: Beobachtung von einer außerordentlichen tödlichen Krankheit, nebst dem Bericht von der Oeffnung des Leichnams. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 6, 4. St. (1798), S. 759–771; Elias Henschel: Beobachtungen merkwürdiger consensueller Zufälle aus gastrischen Ursachen. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 8, 1. St. (1799), S. 149–165; Johann Gottfried Rademacher: Beobachtung einer Lähmung der Gesichtsmuskeln. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 8, 2. St. (1799), S. 117–129; Rademacher: Beobachtung eines Eitergeschwürs der Leber. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 8, 2. St. (1799), S. 130–137; Carl Christian Matthäi: Einige Worte über Beobachtungen. Eine Fieberepidemie und eine Krankengeschichte. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 8, 4. St. (1799), S. 68–138. 31 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes, S. 339. 32 Vgl. hierzu Gianna Pomata: Observation Rising. Birth of an Epistemic Genre, 1500–1650. In: Lorraine Daston und Elisabeth Lunbeck (Hg.): History of the Scientific Observation. Chicago/London 2011, S. 45–80, dies.: Fälle mitteilen, S. 20–63. 33 Vgl zur Bedeutung des Sehens in der Aufklärung: Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S. 9. 34 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 121 f. 35 So ist beispielsweise für den Rezensenten des Beitrages „Vom Nutzen der Casuum medicorum“ der ‚echte‘ Arzt „ein eifriger Schüler der Natur“, der „jeden Unterricht von ihr aufmerksam annimt“ ([Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 22. December, S. 340) und Reil sieht die Beobachtung der Natur als Ideal der Wissensgenerierung an: „Sie [die Natur] will, dass

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schichte und ihre Dokumentation im Mittelpunkt stünden. So heißt es in der bereits genannten Auseinandersetzung über den „Nutzen des Casuum medicorum“ lobend über Hippokrates: „Mit einer ädlen Simplicität hielt er sich in den Grenzen der Beobachtung, und nur selten erlaubte er sich, Vernunftschlüsse zu machen.“ 36 Dieses Beobachtungsideal übergeht jedoch, dass, um den einzelnen Fall zu erzählen, bestimmte Zeichen nicht nur wahrgenommen, sondern auch in einen Zusammenhang gebracht werden müssen, der auf eine Krankheit verweist, so dass die Partialität und Kontingenz des individuellen Falls einer bestimmten Diagnose oder sogar medizinischen Theorie angenähert werden. Alternativ kann die ‚Merkwürdigkeit‘, des Falles herausgestellt und die Distanz zwischen einer Krankheitsvorstellung und dem konkreten Fall hervorgehoben werden, indem insbesondere auf die Unerklärbarkeit bestimmter pathologischer Phänomene verwiesen wird. Diese Unterschiede werden auch in der zeitgenössischen Auseinandersetzung debattiert, wie die Diskussionen um das „Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum zeigen“. Der Verfasser schließt zum einen die ‚gewöhnlichen‘ Fälle aus, da sie keine neuen Erkenntnisse generieren; er wendet sich aber auch gegen die Beschreibung seltener Fälle, da diese vereinzelt und ohne Bezug zu einem Allgemeinen für sich stehen bleiben: In so fern nun ein Casus von diesem Allgemeinen eine Ausnahme macht, ist er merkwürdig, und wenn diese Ausnahme oft vorkomt, ist er brauchbar. Aber wenn er selten ist: so können hundert Aerzte die Beschreibung davon lesen, ohne weiteren Nutzen davon zu haben.37

Dagegen wendet einer der Rezensenten des Aufsatzes ein, dass „dem ächten Arzte“ jeder Unterricht der „Natur“ 38 hilfreich sei. Zudem verweist er darauf, dass auch die vereinzelten Beobachtungen sich in Verbindung mit weiteren ähnlichen zukünftig zu einem kohärenten Krankheitsbild zusammenfügen könnten.39 Auch hier wird ein teleologisches Wissenschaftsideal erkennbar, das davon ausgeht, dass sich die einzelnen Zeichen zu einem zukünftigen Ganzen zusammensetzen. Nachdem das Experiment sehr viel Aufmerksamkeit erfahren hat, steht die Forschung zur wissenschaftlichen ‚Beobachtung‘ als epistemischer Praxis erst am Anfang. In diese Lücke stößt der von Lorraine Daston und Elisabeth Lunbeck herausgegebene Sammelband History of Scientific Observation, in dem unterschiedliche Konzepte von ‚Beobachtung‘ aufgearbeitet werden. Daston vermutet als eine Ursa-

wir sie in ihren stillen Werkstätten beobachten.“ (Reil: An die Professoren Herrn Gren und Herrn Jakob in Halle, S. 6). 36 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 22. December, S. 344. 37 F.: Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum, S. 337. 38 [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 22. December, S. 340. Dem Arzt wird hier, wie später bei Reil, ein besonderes Verhältnis zum Verständnis der partikularen Symptome zugesprochen. 39 Vgl. [Anonym]: Recension des vorstehenden Aufsatzes. Vorgelesen den 22. December, S. 341.

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che für diese Forschungslücke die Aufwertung des Experiments gegenüber der bloßen Beobachtung im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts. Während das Experiment Ideen und Neugierde verlange, impliziere die Beobachtung Passivität und bloße Registration von Daten.40 Diese wertende Unterscheidung ist jedoch für die Zeit um 1800 ahistorisch: Throughout the eighteenth and early nineteenth centuries, observation and experiment were understood to work hand in hand: observation suggested conjectures that could be tested by experiment, which in turn gave rise to new observations, in an endless cycle of curiosity.41

Dem Begriff ‚Beobachtung‘ ist eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung gegenüber der Theorie eingeschrieben, die sich im Laufe der Frühen Neuzeit entwickelt.42 Die Texte, die als ‚Beobachtung‘ bezeichnet sind, werden somit bewusst den Vorgaben der Zeitschriften zugeordnet, in denen sie veröffentlicht werden. Die ‚Beobachtung‘ soll etwas wahrnehmbar machen, was zuvor unsichtbar war. Daston und Lunbeck führen verschiedene Werkzeuge dieser Beobachtungsoperation auf: Its [the observation’s] instruments include not only the naked senses, but also tools such as the telescope and microscope, the questionnaire, the photographic plate, the glassed-in beehive, the Geiger counter, and a myriad of other ingenious inventions designed to make the invisible visible.43

Im Medium Zeitschrift 44 werden die Beobachtungen zum Beispiel durch Zeichnungen und Stiche oder Tabellen, insbesondere und überwiegend aber durch Text ‚sichtbar‘ gemacht, wodurch den Mitteln der Darstellung eine vorrangige Bedeutung zukommt. Die sprachlichen und narrativen Strategien dieser ‚Sichtbarmachung‘ werden im Folgenden fokussiert. Die Gattung ist dabei selbst ein Mittel zur Sichtbarmachung, indem durch sie Anordnungs- und Ausdrucksweisen für bestimmte Inhalte tradiert sind. Für die Beobachtung von Krankheitsfällen steht seit der Antike die Gattung Krankengeschichte zur Versprachlichung und Strukturierung zur Verfügung. Auf diese Gattung, die bislang kaum literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten hat, hat Goldmann insbesondere angesichts der Ahistorizität der Sammelbezeichnung Fallgeschichte aufmerksam gemacht.45 Die Gattung, die sich bereits bei Hippokra40 Vgl. Lorraine Daston und Elisabeth Lunbeck: Introduction. Observation observed. In: dies. (Hg.): History of the Scientific Observation, S. 3. 41 Daston/Lunbeck: Introduction. Observation observed, S. 3. 42 Vgl. Pomata: Observation Rising, S. 66 f. 43 Daston/Lunbeck: Introduction. Observation observed, S. 1. 44 Durch die Entwicklung des Büchermarktes um 1800 wird die mediale Verbreitung und Archivierung von Fallgeschichten in Zeitschriften möglich (vgl. Pethes: Ästhetik des Falls, S. 20 f.; Dickson: Die internationale Rezeption der Fallgeschichten im Magazin, S. 258 f.). 45 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 44. Vgl. auch Zelle: Poetik der medizinischen Fallerzählung, S. 301–316; Julia Epstein: Altered Conditions. Disease, medicine and storytelling. New York/London 1999, S. 31.

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tes findet, begleitet die medizinische Behandlung und Ausbildung und beruht auf bestimmten Beobachtungs- und Fragemustern. Während bei Hippokrates die Geschichte des Kranken im Mittelpunkt steht, fordert der englische Arzt Thomas Sydenham im siebzehnten Jahrhundert, von jeder Krankheit eine Geschichte (historica morbi) zu verfassen. Grundlage dieser Forderung ist der Versuch, alle Krankheiten in ein botanisches System der Arten einzuordnen. Dabei müssen selbst die kleinsten Beobachtungen festgehalten werden und zum Ganzen einer Krankheit zusammengesetzt werden. Dieselbe Technik wurde im vorherigen Kapitel für die in den Fragmenten und Bruchstücken (siehe Kap. 2.1) behandelten Krankheiten festgestellt. Unter Hermann Boerhaave wurde das Verfassen einer Krankheitsgeschichte zum Bestandteil der medizinischen Ausbildung. Im achtzehnten Jahrhundert gibt es dann eine Reihe von Anleitungen, wie eine Krankengeschichte verfasst werden soll.46 Die Krankengeschichte folgt dabei einer bestimmten Topik und Gliederung. Sie beginnt mit der Vorstellung des Kranken, bei der zum Beispiel Angaben zu Temperament, Gemüt, Gewicht, Körperbau, Ernährung, Schlafgewohnheiten, bisheriger Gesundheit, Arbeit und dem sozialen sowie natürlichen Umfeld gemacht werden.47 Diese Personaltopik orientiert sich dabei an der antiken diätetischen Lehre von den sex res non naturales48 und versucht, den Patienten in seiner Besonderheit sowie sozialen und natürlichen Matrix zu etablieren.49 Der Vorstellung folgt die Beschwerde und falls möglich die Entstehung der aktuellen Krankheit. Anschließend wird der Krankheitsverlauf bestehend aus Diagnose, der täglichen Entwicklung und der Therapie erzählt. Der Verlauf der Krankheit wird in einer Krise entschieden, die entweder zur Genesung oder zum Tod führt.50 Im Falle des Todes folgt, falls die Sektion erlaubt wurde, der Bericht über die Leichenöffnung.51 Die sich wiederholende Struktur der Krankengeschichten verweist auf eine Art „Regelpoetik“ 52 der medizinischen Fallgeschichte. Im Folgenden wird der Begriff ‚Krankengeschichte‘ als Gattungsbezeichnung für fallbasierte Krankheitsdarstellungen ver-

46 Vgl. zu diesem knappen historischen Abriss: Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 36–38; Epstein: Altered Conditions, S. 60–75. Ausführlich erarbeitet Zelle die Anweisungen zur Verfassung einer Krankengeschichte bei Andreas Elias Büchner: vgl. Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 301–316. 47 Vgl. zu diesen Faktoren auch Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 305–309. 48 Vgl. Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 311. 49 Vgl. Epstein: Altered Conditions, S. 28. 50 Vgl. die Feststellung des Verfassers vom „Fragment über den Nutzen der Casuum medicorum“: „Ich kenne nur zweyerley Ausgang einer jeden Krankheit, zum Tode, oder zur Cur (medela).“ ([Anonym]: Fortsetzung vom Nutzen der Casuum. In: Abhandlungen und Beobachtungen aus der Arzeneygelahrtheit [1776], S. 346) 51 Vgl. ([Anonym]: Fortsetzung vom Nutzen der Casuum, S. 347. Vgl. zu den Versatzstücken der Krankengeschichte auch: Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 306–316; Epstein: Altered Conditions, S. 31; Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 37–39. 52 Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 307.

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wendet. Dies ermöglicht es zu fragen, wie diese Muster um 1800 die Darstellung von ‚Fallleiden‘ strukturieren und auch die Thematisierung psychischer Krankheit organisieren.

3.1 Die Krankengeschichte in C. W. Hufelands Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst Hufelands fast 50 Jahre lang erscheinendes Journal ist dezidiert der medizinischen Praxis gewidmet und bietet ein Diskussionsforum sehr heterogener Themen. Die Krankengeschichte ist eines der am häufigsten verwendeten Gattungsformate im Journal. Die Berichte einzelner Krankheitsfälle knüpfen an das skizzierte, seit Hippokrates bestehende Gattungswissen an, so dass Krankheit nach bestimmten, von der Gattung vorgegebenen sprachlichen und argumentativen Repräsentationsweisen organisiert und sichtbar gemacht wird. Dabei stehen verschiedene Beobachtungsvorgänge im Zentrum der Krankengeschichte.

3.1.1 „Ich hatte bisher das Fieber für ein Wurmfieber gehalten“: Beobachtungen von Krankheitsfällen In der Personaltopik wird das Individuum als Produkt unterschiedlicher Faktoren eingeführt. Um die Zeichen der Krankheit richtig lesen zu können, muss der Arzt den gesamten Kontext des Patienten und der Krankheit wahrnehmen. Der Arzt Christian Gottfried Gruner erstellt eine Matrix an möglichen Einflussfaktoren, die der Arzt erkennen und berücksichtigen muss, um zur richtigen Interpretation der Zeichen zu gelangen: 4) Die Gutartigkeit und Bösartigkeit, die Grösse, Gefahr und Dauer, die heilsame und schädliche oder tödliche Abänderung der Krankheit hängt zum Theil von deren Wesen und Periode, zum Theil von Nebenumständen und Zufälligkeiten ab, folglich 5) sind das Alter und Temperament, das Geschlecht, mit dessen Nebenveränderungen, die individuelle Körperbeschaffenheit und habituelle Uebel, der Charakter, die Erziehung, Diät, Lebensart, Gewohnheit, Idiosynkrasie und Lebensstufe, Ortslage, Jahrs- und Tagzeit, reguläre oder irreguläre Witterung, stehende oder veränderliche Winde, epidemische Constitution, u. dergl. bey der richtigen Erkennung und Bestimmung der Zeichen nicht zu übersehen.53

Die Anfänge der Krankengeschichten beginnen dementsprechend mit immer ähnlichen Mustern:

53 Christian Gottfried Gruner: Physiologische und pathologische Zeichenlehre zum Gebrauch akademischer Vorlesungen und als Repertorium für Praktiker. 3. verbesserte und vermehrte Ausgabe. Jena 1801, S. 20.

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Ein Herr von 57 Jahren, dessen Respiration wegen eines gespaltenen Gaumens von jeher etwas beschwerlich war, hatte bis etwa vor 9 Jahren eine ziemlich ungestörte Gesundheit genossen. Phlegma war das Ueberwiegende in seinem Temperamente, und Schlaffheit das Hervorstechende in seinem Muskelsysteme. Er führte als leidenschaftlicher Jäger und Forstmann ein thätiges, oft strapazantes Leben, scheuete keine Witterung und liess sich manchen Diätfehler zu Schulden kommen.54

Es wird versucht, den Patienten in seiner individuellen Besonderheit darzustellen. Dabei wird jedoch auf die gleichen Versatzstücke zurückgegriffen, die zum dargestellten Individuum zusammengesetzt werden: M. M. H., von mässig starkem Körperbaue und sanftem Temeperamente, alt beynahe 68 Jahre, und seit fast 40 Jahren verheirathet, hatte von den früheren Jahren ihres Lebens an, mehr oder weniger an Nervenzufällen und an schwacher Verdauung gelitten.55

Der Kontext der Gattung Krankengeschichte macht aus dem vorgestellten Individuum zugleich einen medizinischen Fall.56 Foucault hat herausgestellt, dass diese Transformation des Individuums in einen Patienten dem ärztlichen Blick zugeschrieben worden ist, ohne dass dabei die Rolle der Sprache und des Diskurses reflektiert worden sei.57 Auf der Textebene wird diese Transformation durch die Gattung erreicht, die dem ärztlichen Blick eine bestimmte narrative Struktur zur Verfügung stellt. Die Faktoren, welche die Autoren bei der Vorstellung der Patienten aufführen, lassen bereits erkennen, dass die meisten von ihnen einer „therapeutischen Mischlehre“ 58 anhängen, die verschiedene medizinischen Theorien unterschiedlicher Aktualität nutzt. Der Verweis auf das Temperament verdeutlicht den fortdauernden Einfluss der Temperamentenlehre, die als etablierte Wahrnehmungsstruktur des Menschen zur Verfügung steht.59 Durch die Angaben zur Person, insbesondere zum Körperbau (stark, schwach), zum Muskel- oder Nervensystem (stark, schwach, reizbar) oder Hinweise, die sich an bestimmten Krankheitslehren wie zum Beispiel der Wurm-, Neuro- oder Humoralpathologie orientieren, werden erste Hinweise auf

54 Einige Beobachtungen von F. in H.: 1. Brustwassersucht nebst Sectionsbericht. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 25, 1. St. (1806), S. 77. 55 Johannes August Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, bey welcher durch die Leichenöffnung eine Zerplatzung der Aorta entdeckt wurde. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 19, 2. St. (1804), S. 96. 56 Vgl. Epstein: Altered Conditions, S. 28. 57 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 12 f. 58 Klaus Bergdolt: Nachwort: Die letzte Krankheit Goethe’s, beschrieben und nebst einigen andern Bemerkungen über denselben mitgetheilt von Dr. Carl Vogel, Großherzogl. Sächsischen Hofrathe und Leibarzte zu Weimar. Nebst einer Nachschrift von C. W. Hufeland, hg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Bergdolt. Heidelberg 1999, S. 60. 59 Vgl. zur bleibenden Gültigkeit der Temperamentenlehre im Hygienediskurs des neunzehnten Jahrhunderts: Sarasin: Reizbare Maschinen.

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mögliche Ursachen der im Folgenden beschriebenen Krankheit gelegt und die Vorstellungsbereiche eingeführt, die den Arzt bei seiner Behandlung leiten: „Der Körper bzw. die Körperfunktionen des Patienten sowie seine psychische und soziale Beschaffenheit werden mit einem Katalog von Suchfragen überzogen, die den ärztlichen Blick lenken und konditionieren.“ 60 Nach der knappen Vorstellung der Patienten folgt die eigentliche Krankengeschichte. Der ‚Erzähler‘ der Krankheit ist meistens der behandelnde Arzt. Nur selten wird die Eigenrede des Patienten direkt oder indirekt wiedergegeben. Manchmal wird durch eingeschobene Bewertungen von Akademien noch eine gelehrte Meinung aus der Distanz eingeholt.61 Die Dauer der dargestellten Krankheit kann sehr unterschiedlich sein und durchaus mehrere Jahre umspannen. Meistens wird jedoch eine Phase der Krankheit konzentriert im Tagebuchstill erzählt. Zunächst werden die Symptome und der allgemeine Zustand des Kranken vorgestellt und dann die Modifikationen und Konstanten dieser Zeichen sowie die Behandlung Tag für Tag aufgezeichnet. Dabei sind sich wiederholende Symptomfelder und Prozesse zu identifizieren, die beschrieben werden. Auch hier werden äußere noch auf Galen zurückgehende Zeichenträger wie Gesichtsfarbe, Augenfarbe, Beschaffenheit der Zunge und der Puls notiert (siehe Kap. 2.1). Der Puls kann sehr fein differenziert werden und beispielsweise „voll, hart, unregelmässig“ 62 oder auch „hart, klein, nicht völlig fieberhaft“ 63 sein. Im Gesicht verraten neben Blässe64 zum Beispiel gelbliche Augen und kaminrote Wangen Krankheit.65 Auch Fieber oder die Abwesenheit von Fieber werden als Indikatoren aufgeführt: „Er hatte kein Fieber, zehrte ab, hatte Appetit, brach aber auch den letzten Bissen der zu sich genommenen Speisen täglich wieder aus.“ 66 Wie in dem Text „Fragmente aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers“ werden Zeichen und Nicht-Zeichen – als die Abwesenheit von Zeichen – in eine Symptomkonstellation gebracht, aus der sich die Krankheitsgeschichte des Einzelnen zusammensetzt und zugleich Schlüsse auf mögliche Diagnosen möglich werden. Dabei muss der Arzt auf jede Kleinigkeit achten,67 denn

60 Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 313. 61 Diese drei Erzähltypen identifiziert auch Zelle: Poetik der medizinischen Fallgeschichte, S. 309. 62 Johann Heinrich Oberteuffer: Ein Beytrag zur Infarctusgeschichte. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 4, 3. St. (1797), S. 548. 63 Hildebrandt: Geschichte eines merkwüdigen (Wurm-?) Fiebers. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 2, 4. St. (1796), S. 579. 64 Vgl. Hildebrandt: Geschichte eines merkwüdigen (Wurm-?) Fiebers, S. 577; Oberteuffer: Beytrag zur Infarctusgeschichte, S. 548. 65 Vgl. Gottlieb Heinrich Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung eines, an einer großen Speckgeschwulst im Unterleib verstorbenen Jünglings. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 4, 3. St. (1797), S. 513. 66 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 15, 1. St. (1806), S. 159. 67 Vgl. auch Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 37.

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nur durch das Beobachten aller möglichen Zeichen und des gesamten Kontextes des Krankheitsfalls kommt er beim Ganzen der Krankheit an. Zentrales Zeichen sind auch Schmerzen,68 die auf unsichtbare, innere Vorgänge verweisen, und bei deren Beschreibung indirekt die Wahrnehmung der Kranken in den Text integriert wird, auf die der Verfasser sich verlassen muss. Die Schmerzen stehen am Schnittpunkt der körperlichen Oberflächen- und Tiefenstruktur, sie verweisen auf die diffusen krankhaften Veränderungen im Inneren des Kranken. Der Schmerz kann „unbedeutend“ 69 sein, er kann aber auch „unausstehlich“ 70, „heftig“ 71, „grausam“ 72, „empfindlich“ 73, „schneidend“ 74 oder „brennend“ 75 sein. Hier werden traditionelle Bildfelder der Schmerzbeschreibung erkennbar, die teilweise bis heute die Wahrnehmung des Schmerzes strukturieren.76 Oftmals wandert der Schmerz durch den Körper; so klagt ein 57-jähriger Jäger und Forstmann über „herumziehende, bald mehr bald weniger heftige Gliederschmerzen.“ 77 Ein 18-jähriger Lehrling leidet an „schneidenden im Unterleib herumziehenden Schmerzen“, die ihn nie „verliessen“ 78. Bei einer mageren 43-jährigen Wäscherin, die an Magenkrämpfen leidet, zeigt der Schmerz den täglichen ‚Höhepunkt‘ des Krampfes an, bevor Erleichterung eintritt. Sie berichtet, dass sie stets einen mehr oder weniger gespannten Unterleib, ein schmerzhaftes Würgen und Drücken in der Herzgrube leide, welches sich nach dem Rückgrate hin erstrecke. Wenn dieser Schmerz den höchsten Grad erreicht habe, so erfolge das Erbrechen einer schleimigen, etwas säuerlichen zähen Feuchtigkeit, welches sie immer für ein paar Tage erleichtere.79

Die Schmerzen verweisen auf einen Prozess, der sich im Inneren abspielt und sind somit ein Zeichen der Krankheit, die nicht an der Körperoberfläche wahrnehmbar wird, weshalb der Arzt hier auf die berichteten Schmerzempfindungen der Kranken angewiesen ist. Der Bericht über die Schmerzen der Frau erfolgt im indirekten Zitat, lässt also auch die Körperwahrnehmung der Kranken selbst erkennen. Deutlicher

68 Vgl. umfassend zur Konzeption, Darstellung und Wahrnehmung des Schmerzes im Untersuchungszeitraum: Borgards: Poetik des Schmerzes. 69 F. in H.: 2. Sackbrustwassersucht, S. 95. 70 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 159. 71 F. in H.: 2. Sackbrustwassersucht, S. 96. 72 F. in H.: 2. Sackbrustwassersucht, S. 98. 73 F. in H.: 4. Gebärmutterblutsturz, S. 111. 74 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 513. 75 D. Henning: Merkwürdige Kranken- und Sectionsgeschichte. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 8, 4. St. (1799), S. 51. 76 Vgl. zur kulturellen Determinierung des Sprechens über Schmerzen: Heiko Christians: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen. Berlin 1999, insb. S. 21 und 39. 77 F. in H.: 1. Brustwassersucht, S. 78. 78 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 514. 79 Alexander Aepli: Geschichte einer enormen Ausdehnung des Magens nebst der Leichenöffnung. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 25, 3. St. (1806), S. 128.

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wird diese noch, wenn der Arzt Eigenbezeichnungen der Patienten mit aufführt. So benennt eine 68 Jahre alte Patientin ihre Schulter- und Nackenschmerzen als „Nervenziehen“ 80. Solche Beschreibungen verweisen dabei auf Körper- und Krankheitsbilder, welche die Beschwerden der Kranken strukturieren. Trotz des veränderten Körperverständnisses und der Durchsetzung des sogenannten homo clausus im achtzehnten Jahrhundert ist eines der wichtigsten Zeichen das Ausscheiden und Ausfließen von verschiedenen Materien aus dem Körper.81 Dies betrifft sowohl Harn- und Stuhlgang als auch das Erbrechen und bei weiblichen Patientinnen die Menstruation. Die Beschaffenheit der sogenannten ‚Ausleerungen‘ wird genau beschrieben und von dieser wird auf die Vorgänge des Inneren geschlossen. Ein 35-jähriger Mann, dessen Herzklopfen so stark ist, dass der Arzt die Hand nicht auf der Brust halten kann und eine aufgelegte Tabakdose wegspringt, hat nach achttägiger Behandlung mit Klistieren, Aderlassen und abführenden Mittel „pechartige, ganz schwarze Ausleerungen“ 82. Nachdem der Arzt fünf Wochen lang weitere abführende Mittel gegeben hat, hört das starke Herzklopfen auf. Dieses Beispiel zeigt, wie der Arzt versucht, zwischen zwei einzelnen scheinbar kontingenten pathologischen Zeichen kausale Zusammenhänge herzustellen. Die Menge und Beschaffenheit sowie Häufigkeit der austretenden Materien wird detailliert beschrieben: wo dann viele Blutklumpen mit fleischähnlichen Fasern durchwebt, eine Menge Häute und eine leere dickhäutige Blase, von der Grösse eines Hühnereyes, abgingen. Jetzt hörte der Blutfluss auf, und es stellte sich ein übelriechender, schleimiger Abgang ein.83

Ein anderer Patient hat „dunkelschwarzgelb[en]“ Urin mit „ziegelfarbigem Bodensatz“ und „täglich erfolgte vier bis sechsmal wässerigter weisser Stuhlgang.“ 84 Bei einer 68-jährigen Kranken geht „mit dem sparsamen Urine zugleich […] flockiger Schleim ab, und der Urin selbst ist, frisch ausgeflossen, lehmig“ 85. Bei den Beschreibungen werden viele synästhetische Adjektive verwendet, welche die Farbe und Konsistenz bestimmen. Die Vergleiche mit tierischen und pflanzlichen Produkten verdeutlichen Konsistenz und Größe, zudem kann auch der Geruch eine Rolle spielen.

80 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 99. 81 Diese Konstanz hat Duden für Fallgeschichten aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert gezeigt (vgl. Duden: Geschichte unter der Haut). Vgl. zum veränderten Körperverständnis auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 44–52; Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek/Hamburg 1999, insb. S. 16 f. 82 Oberteuffer: Ein Beytrag zur Infarctusgeschichte, S. 549. 83 F. in H.: 4. Gebärmutterblutsturz, S. 109. 84 Alle Zitate: Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 514. 85 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 100.

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Ausbleibende Ausleerungen werden meistens negativ gewertet, weshalb Klistiere und Brechmittel zu häufig angewendeten Therapiemitteln gehören. Die ausführlichen Beschreibungen der Körperflüssigkeiten zeigen, wie stark die Humoralpathologie noch immer die Vorstellungen sowohl des Arztes als auch der Patienten leitet. Ausbleibendes, stockendes oder fehlerhaftes Fließen wird vielfach als die Ursache von Krankheiten angesehen oder ist zumindest konstitutiver Teil ihrer Ausdrucksweise. Dies gilt insbesondere für den weiblichen Körper, der stark von dem Fließen oder Nicht-Fließen der Menstruation oder der Muttermilch in der Stillzeit bestimmt ist (siehe Kap. 2.1.1). Das ausbleibende Fließen verursacht Lähmung, Anschwellen und Verhärtung. Bei einer Patientin bleibt nach einem großen Schreck während der Stillzeit die Milch plötzlich weg. Kurze Zeit später beginnt sich der Unterleib zu vergrößern, was auch nach einer erneuten Schwangerschaft nicht aufhört. Nach ihrem Tod stürzt bei der Sektion aus dem „ungeheuer ausgedehnt[en]“ 86 Unterleib Molke, in der Käseflocken schwimmen und die in einem aponeurotischen Sack eingeschlossen war: Dieser Sack von dichtem festem Gewebe entsprang aus dem rechten Ovarium, das ganz verschwunden war, nahm dann das Darmfell, das mit den allgemeinen Bedeckungen fest zusammen hing, in seine Bildung auf, reichte bis unter die Leber hinauf, füllte die ganze rechte Unterleibshöle aus und drückte alle Eingeweide, an denen man übrigens nichts krankhaftes entdecken konnte, aus ihrer natürlichen Lage.87

Die Molke als Restflüssigkeit, die bei der Herstellung von Käse entsteht, impliziert, dass die Milch in die Gebärmutter und Eierstöcke geströmt ist und dort über Jahre hinweg degeneriert ist, was zur Ausdehnung des Unterleibes geführt hat. Die mit Fortpflanzung verbundenen Organe der Frau stehen in dieser Körperkonzeption in einer unmittelbaren Verbindung zueinander: Der Körper wird als Gefäß wahrgenommen, in dem sich bestimmte Flüssigkeiten bewegen und transformieren können. Der Fall ist einer von vielen Beispielen, die zeigen, dass sich die Krankengeschichten stark am Paradigma der Humoralpathologie orientieren, obwohl diese wissenschaftshistorisch bereits an Bedeutung verloren hatte. Das unterstreicht, wie bestimmte, auch bildliche Vorstellungen und Konzepte, ihre eigene wissenschaftliche Aktualität ‚überleben‘ können und die Wahrnehmung des Körpers weiter leiten und strukturieren. Durch sie ist eine Wahrnehmungsstruktur verfügbar, welche die pathologischen Vorgänge erzählbar machen, so dass die Bilder und Metaphern als persuasive Strategien funktionieren, mit denen die einzelnen Symptome in Zusammenhänge eingeordnet werden. Neben dem fehlerhaften Fließen der Säfte lassen sich die Beschwerden der Patienten um weitere Themenfelder anordnen. Dazu gehören Verspannungen, Ver-

86 F. in H.: 3. Milchversatz und Bauchwassersucht, S. 105. 87 F. in H.: 3. Milchversatz und Bauchwassersucht, S. 106.

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härtungen, Geschwülste und Krämpfe, die insbesondere im Bereich des Unterleibes und der Brust auftreten: Der sehr fette Unterleib wurde dicker und verursachte ein lästiges Spannen; die Kranke fühlte eine Schwere und ein unangenehmes Drücken im Schooss, wenn sie im Bette ihre Lage veränderte, kam es ihr vor, als folge ein schwerer Körper der Lage und bewege sich von einer Seite in die andere; zuweilen schien es ihr auch, als beuge sich die Last noch tiefer in den Schooss herab, und dann war der Harnabgang vermindert und schmerzhaft.88

Auch hier wird versucht, die Distanz zum Unsichtbaren sprachlich zu überwinden, indem die Körperwahrnehmung der Patientin aufgeführt wird, die durch den Konjunktiv markiert wird. Während in diesem Beispiel die Rede der Patientin indirekt wiedergegeben wird, kann die Annäherung an das Innere auch über die tastende Wahrnehmung des Arztes erfolgen: „Bei meinem Besuche zu Anfang März fand ich den Unterleib gespannt, und konnte deutlich tief unter der Herzgrube eine Verhärtung, so wie bei dem längern Hinhalten der Hand krampfartige Zusammenziehungen am ganzen Unterleibe fühlen.“ 89 Die Vorgänge im Inneren werden so angedeutet und vermutet. Neben der Wahrnehmung der Symptome ist insbesondere deren zeitliche Entwicklung entscheidend, die durch eine tagebuchartige Dokumentation dargestellt wird. Tag für Tag werden die Symptome, ihre Konstellationen und Veränderungen notiert, sowie die Behandlung darauf angepasst, wie folgendes Beispiel eines kranken Mädchen zeigt: Erster Tag (12. Jan.) das Kind klagt über Frost und Kopfschmerz, und legt sich früher als gewöhnlich zu Bette. Nachher folgt Hitze, welche die ganze Nacht dauert. Am folgenden Morgen wurde ich gerufen. Zweiter Tag. Der Puls fieberhaft, frequent, schnellt, hart, doch das alles nicht im hohem Grade. Die Hitze stark doch nicht wiedrig. Die Zunge ein wenig weisslich. Kopfschmerz. Mangel an Esslust. Innerlich Salmiak mit wässriger Rhabarbertinctur (ohne Zimmtwasser). Ein Klystier aus einem Aufgusse von Wermuth und Tausendguldenkraut mit einem Lothe Glaubersalz, und Abends ein zweites. Abends auch ein lauwarmes Fussbad. Dritter Tag. Gelindes Fieber. Der Kopfschmerz heute stärker. Die Zunge etwas mehr belegt, nicht gelb, auch nicht trocken. Gegen Mittag fing sie an Arznei und Getränk immer auszubrechen. Innerlich Tartarus tartarisatus. Uebrigen Mittel wie gestern. [Beschreibung des 4. bis 7. Tages] Achter Tag. Das Fieber etwas stärker, wie gestern. Der Kopfschmerz eben so; der Zahnschmerz vergangen. Den ganzen Tag Traurigkeit. Da es an Stuhlgange fehlte, gab ich Bittersalz in wiederholten kleinen Gaben. […] Um zwölf Uhr schien sie, nach der Mutter Berichte, kränker zu werden. Um ein Uhr bekam sie Convulsionen im Gesichte und im rechten Arme und Beine. Ich gab ihr eine Gabe Moschus […]. Ungefähr eine Viertelstunde lag sie ruhig ohne bedenkliche

88 F. in H.: 4. Gebärmutterblutsturz, S 110. 89 Aepli: Geschichte einer enormen Ausdehnung des Magens nebst der Leichenöffnung, S. 129.

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Symptome […]. Auf einmal aber brachen die Convulsionen wieder aus, sie wurde leichenblass, es trat Schaum vor den Mund, und sie war todt.90

Der Stil ist kurz und knapp und streckenweise nur stichwortartig, die Aufzählung der Symptome und der entsprechenden Behandlung dokumentiert den Verlauf der Krankheit durch den Körper. Dabei werden auch ‚Kleinigkeiten‘ notiert, weil sie im Zusammenwirken mit anderen Symptomen Bedeutung erhalten können. Dieses Verfahren der Detaillierung steigert den Eindruck der unmittelbaren Beobachtung und damit der Evidenz des geschilderten Falles. Durch das Lesen der Zeichen wird „das Unbekannte und Ursächliche entdeckt, vom Gegenwärtigen auf das Künftige geschlossen“ und die „Natur, Verhältnis der Ursachen und Wirkungen, Abänderungen und Ausgänge“ 91 der Krankheit bestimmt. Auch in dieser Definition des ärztlichen Zeichenlesens wird die Dreiteilung in Anfang, Verlauf und Ausgang erkennbar, die im ersten Untersuchungskapitel als Ganzes einer Krankheit deutlich wurde. Um die Zeichen zu diesem Ganzen zusammenzusetzen, muss der Arzt sowohl kausal mit der Krankheit zusammenhängende sowie von der Behandlung herrührende, als auch zufällige Zeichen und Symptome in die Geschichte der Krankheit mit einbeziehen, wie Zelle anhand der Abhandlung Von der ordentlichen Einrichtung und Aufzeichnung einer vollständigen Krankheits=Geschichte des Hallenser Arztes Andreas Elias Büchner über das Verfassen von Fallgeschichten herausstellt.92 Auch hier wird gefordert, die einzelnen Erscheinungen der Krankheit, Umweltfaktoren und die Behandlungsmaßnahmen des Arztes zu einer Geschichte zusammenzufügen: „Die Geschichte einer Krankheit bestehet ordentlicher Weise in einer deutlichen und zusammenhangenden Erzählung aller derjenigen Umstände, Veränderungen und Zufälle, welche von Anfang derselben sind wahrgenommen worden.“ 93 Die Krankheitszeichen sind selten eindeutig, ihre Zusammenhänge und Kausalitäten müssen vom Arzt erst konstruiert werden. Dieser gewährt den Symptomen, die er beschreibt, einen „Kohärenzkredit“ 94, indem die Krankheit als verborgenes Ganzes angenommen wird, durch das die vereinzelt wahrnehmbaren Symptome sinnvoll zusammengehören. Dabei wird diese Kohärenz erst durch die Beschreibung des Arztes hergestellt, denn dessen ‚Erzählung‘ setzt die partikulären Zeichen

90 Hildebrandt: Geschichte eines merkwürdigen (Wurm-?) Fiebers, S. 580–583. 91 Gruner: Physiologische und pathologische Zeichenlehre, S. 9. 92 Vgl. Zelle: Poetik der medizinischen Fallerzählung, S. 307–316. 93 Andreas Elias Büchner: Der in schweren und verwirrten Krankheiten vernünftig rathende und glücklich curirende Medicus, oder gründlicher Unterricht, wie in solchen wichtigen Fällen besonders von jungen Äerzten Consila Medica am sichersten können theils eingeholet, theils auf fürnemlich nach Hofmannischen und Boerhavischen Grundsätzen klüglich ertheilet werden. Bd. I. Erfurt 1762, §5, S. 43. 94 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981, S. 213.

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zur Geschichte einer Krankheit zusammen. Diese ersteht somit als Ergebnis einer Narration erst auf der Ebene der Sprache. Der Grad, in dem diese Kohärenz im Sinne einer Diagnose identifiziert wird, ist sehr unterschiedlich. Viele Symptome bleiben in der Kontingenz des individuellen Falles stehen und es erfolgt keine Interpretation. Das ‚Allgemeine‘, auf das sich der Fall bezieht, bleibt also unbekannt und steht außerhalb der dargestellten Krankengeschichte.95 Andere Fälle werden hingegen auf bestimmte nosologische Krankheitsdefinitionen hin interpretiert. So vermutet der Arzt in der zitierten Geschichte von vorneherein, dass das Mädchen an einem Wurmfieber leide, was sich nach der Leichenöffnung aber als falsch herausstellt. Die zeitliche Dokumentation der Zeichen dient auch dazu, den Ausgang der Krankheit vorherzusehen.96 Wenn dies misslingt, verweist das darauf, dass bestimmte innere, organische Schäden nicht nach außen angezeigt werden. So stirbt das vorgestellte Mädchen plötzlich und unerwartet, was bei der (Fehl-)Diagnose des Wurmfiebers und aufgrund der ausbleibenden Todeszeichen nicht erwartet wurde: Ich hatte bisher das Fieber für ein Wurmfieber gehalten, und, wie alle übrige Data ergeben, wohl nicht ohne Grund. Indessen war der Anschein nicht so schlimm, dass ich den Tod, und zumal einen so baldigen gefürchtet hätte. Die hauptsächlichsten und immer bleibenden Symptome waren der Kopfschmerz und der Wiederwillen gegen Speisen. Uebrigens gar keine sonderlich bedenkliche Zeichen: der Puls nach Verhältnis des Alters und der Constitution nicht sehr klein, die Kräfte nicht sehr gesunken, das Gesicht nicht beträchtlich verändert; kein Delirium, kein Springen der Sehnen etc.97

Das Beispiel zeigt das Changieren zwischen individuellem Fall, Diagnose und Erfahrungswerten des Arztes an. Aus den Symptomen konnte der Arzt die Bösartigkeit der Krankheit nicht ableiten. Hinzu kommt, dass das Mädchen die Körperzeichen, die den nahenden Tod ankündigen, nicht zeigte. Die Wahrnehmung des Arztes bleibt partiell, er stellt Vermutungen über das Innere an, was zeigt, dass die Fallbeobachtung an der Grenze von Innerem und Äußerem, die in ‚unsichtbar‘ und ‚sichtbar‘ übersetzt werden können, verläuft. Die Diagnosen bleiben oft auf der

95 Süßmann unterscheidet drei Möglichkeiten der Vermittlung von fallbasierter Datenerhebung und Interpretation in der Fallgeschichte: „Erstens, daß die Interpretation (verstanden als Schlußfolgerung oder Anwendung) außerhalb der Fallgeschichte erfolgen soll, daß das Allgemeine also unbekannt ist und die Darstellung des Besonderen einen Ersatz dafür liefert; zweitens, daß die Interpretation der Darstellung vorausliegt, daß das Allgemeine also vorher feststeht und durch die Darstellung des Besonderen nur veranschaulicht wird; drittens, daß Interpretation und Darstellung zusammenfallen – dann erweist sich das Dargestellte allein durch den Vorgang der Darstellung nach und nach als Fall von etwas.“ (Süßmann: Einleitung: Perspektiven der Fallstudienforschung, S. 20) 96 Vgl. zur prognostischen Funktion der Zeichen in der Medizin des achtzehnten Jahrhunderts: Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin, S. 49–51. 97 Hildebrandt: Geschichte eines merkwürdigen (Wurm-?) Fiebers, S. 584.

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Ebene von Mutmaßungen, da der Arzt von den äußeren Symptomen auf das Innere schließen muss. Eine Ursache der Krankheit oder Diagnose wird vielfach bereits in Titeln wie „Beobachtung einer von unterdrückter monatlicher Reinigung entstandenen Lähmung der Gesichtsmuskeln“ oder „Einige Beobachtungen: 1. Brustwassersucht nebst Sectionsbericht, 2. Sackbrustwassersucht, 3. Milchversatz und Bauchwassersucht, 4. Gebärmutterblutsturz“ formuliert. In diesen Titeln verschwindet der einzelne Fall bereits hinter einer bestimmten Krankheit. In anderen Überschriften wird die Aufmerksamkeit mehr auf das Besondere (Merkwürdige) einer bestimmten Krankengeschichte gelenkt, wie zum Beispiel „Ueber die Krankheit einer Frau, bey welcher durch die Leichenöffnung eine Zerplatzung der Aorta entdeckt wurde“ oder „Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung“. Im Text selbst ordnet der Arzt die Symptome auf eine bestimmte Diagnose hin: Dafür muss er die wesentlichen Symptome so zueinander in Beziehung setzen, dass sie sich zu der Ganzheit einer bestimmten Krankheit zusammenfügen. Wie die Geschichte der Epidemie in den „Fragmente[n] aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers“ (siehe Kap. 2.1.2) entsteht dieses Ganze dadurch, dass auch die individuelle Krankheit Anfang, Mitte und Ende hat.

3.1.2 „Als ich den entseelten Körper öffnete, erstaunte ich“: Darstellungen von Leichenöffnungen Alle kausalen Zusammenhänge kann oftmals nur die Leichenöffnung, in den Fällen, bei denen der Kranke verstirbt, offenbaren. Durch die Sektion wird der Blick in das kranke Innere und der Abgleich mit den sichtbaren Krankheitszeichen möglich. Das bislang bloß vermutete Innen wird nun an die Oberfläche geholt 98 und kann die gemachte Diagnose gegebenenfalls revidieren: Ach, wie viele unserer Lieben rafft der Tod dahin, wo vorher Krankheiten vorausgingen, deren mystisches Gewand den besten, mit allen semiotischen Kenntnissen ausgerüsteten Diagnostiker irre führen konnten. Fehler der Organisation, wer sieht diese so offen allemal daliegen? Und doch – sind diese oft die alleinige Ursach eines langsam herbeygeführten Todes, die, wenn wir sie endlich entdecken, uns in Erstaunen setzen […]. Ach! Wie geneigt ist nicht oft der umstehende Zuschauer, die Schuld des Todes einer Ursach beyzumessen, die oft wohl gar nicht da war, und wo die wahre nur allein tief in der Maschine selbst aufzusuchen gewesen wäre.99

Die Krankheit ist ein Geheimnis: Der Körper – die Maschine – verbirgt die Ursache der Krankheit in seinen Tiefen, während der Arzt die sichtbaren Zeichen – das

98 Vgl. Duden: Geschichte unter der Haut, S. 159. 99 Henning: Merkwürdige Kranken- und Sectionsgeschichte, S. 35 f.

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mystische Gewand – einordnen, verbinden und interpretieren muss.100 „Die Figur des Sichtbar-Unsichtbaren organisiert die anatomisch-pathologische Wahrnehmung“ 101 und es ist gerade das Leben, das den Zusammenhang von Symptom und Organ verdeckt.102 Aufschluss erhält der Arzt somit oftmals nur, wenn die Therapie gescheitert ist. Berichte von ‚merkwürdigen Sektionen‘ finden sich vielfach im Journal, ja oft wird eine Krankengeschichte erst durch die abschließende Leichenöffnung berichtenswert. Die Krankheit wird dabei nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in ihrer räumlich-zeitlichen Ausbreitung im Körperinneren aufgespürt.103 Die Anatomie und der dadurch ermöglichte Blick in das Körperinnere wurden als epistemologisches Leitmodell des achtzehnten Jahrhunderts eingeführt.104 Trotz der unangenehmen Assoziationen von „Messer, Zerstückelung, Fäulnis und einen ekelhaften Anblick auf ewig getrennter organischer Teile“ 105 formuliert Goethe in seinem Vortrag Von den Vorteilen der vergleichenden Anatomie und von den Hindernissen, die ihr entgegenstehen (1796) die Wichtigkeit der ‚Leichenzergliederung‘: Wie nötig es war den menschlichen Körper zu zergliedern, um ihn näher kennen zu lernen, sahen die Ärzte nach und nach wohl ein und immer ging das Zergliedern des Menschen, obschon mit ungleichem Schritte fort. Teils wurden einzelne Bemerkungen aufgezeichnet, man verglich gewisse Teile verschiedener Tiere, allein ein übereinstimmendes Ganze zu sehen blieb nur immer ein frommer Wunsch, und wird es vielleicht noch lange bleiben.106

Die Humananatomie setzte sich seit dem sechzehnten Jahrhundert durch.107 Im achtzehnten Jahrhundert stieg die Zahl der Leichenöffnungen stark an und zunehmend wurde versucht, Ursache und Sitz von Krankheiten durch postmortale Sektionen zu bestimmen.108 Davon zeugen auch die zahlreichen Berichte von Leichenöffnungen in den Krankengeschichten des Journals. Der Bericht folgt dabei dem

100 Die Metapher vom „mystischen Gewand“ rekurriert auf die Vorstellung von den Naturgeheimnissen, die der Arzt durch das Beobachten der Natur zu lösen versucht. 101 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 183 f. 102 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 184. 103 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 137–160. 104 Vgl. Stafford: Body Criticism, S. 47 (siehe Kap. 1.1.3, S. 31). 105 Johann Wolfgang Goethe: Von den Vorteilen der vergleichenden Anatomie und von den Hindernissen, die ihr entgegenstehen. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 24: Schriften zur Morphologie, hg. von Dorothea Kuhn. Frankfurt a. M.: 1987, S. 264. 106 Goethe: Von den Vorteilen der vergleichenden Anatomie und von den Hindernissen, die ihr entgegenstehen, S. 264. 107 Vgl. Benthien/Gadebusch: Körper und Buch, S. 86; Ralf Vollmuth: Das anatomische Zeitalter die Anatomie der Renaissance von Leonardo da Vinci bis Andreas Vesal. München 2004. 108 Als wichtiger Beitrag ist hier das fünfbändige Werk Sitz und Ursachen der Krankheiten aufgespürt durch die Kunst der Anatomie (1761) des italienischen Arztes Giovanni Battista Morgagni zu nennen. Vgl. zur pathologischen Anatomie in Europa: Russell C. Maulitz: Morbid Appearances. The Anatomy of Pathology in the early nineteenth century. Cambridge 1987.

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Schneiden des (Wund-)Arztes von außen nach innen. Zunächst wird der Zustand des Körpers festgestellt: Die Section wurde den 14ten Nachmittags vorgenommen. An den stark geschwollenen Füssen und Schenkeln bemerkte man hie und da theils blaue, theils hochrothe Flecken. Der Unterleib war mässig aufgetrieben und etwas gespannt; die Hautfarbe etwas mehr blass als gewöhnlich, und der gut genährte Körper noch ziemlich fett.109

Dann erfolgt die Öffnung des Körpers: „Bei der Eröffnung des Unterleibes verbreitete sich ein ungewöhnlich starker, fauler Geruch.“ 110 Bereits hier wird deutlich, dass die Sektion, wiewohl sie insbesondere den Blick in das Innere ermöglicht, auch eine Angelegenheit von Geruch ist, später kommen Gehör und Gefühl hinzu. Anschließend werden die einzelnen Organe aufgezählt und ihr Zustand beschrieben, wobei auch notiert wird, welche nicht krankhaft verändert sind. Der Arzt trifft bei seinem sezierenden Vordringen immer wieder auf Hindernisse in Form von Verhärtungen, Knorpel, Geschwülsten und anormal vergrößerten Organen, die ihn behindern: „Der Ausgang desselben [Magen] war so verwachsen, dass nur eine Sonde durchzubringen war, denn es sass am Pyloro eine Verhärtung von beträchtlicher Grösse, welche in ein Geschwür übergegangen war“ 111 oder „der Pförtner [vom Magen] befand sich beinahe verschlossen, und man konnte kaum eine Gänsefederspuhle durchbringen“ 112 sowie: „Die Gebärmutter widernatürlich. Ihr Mund so enge und knorpelartig, dass man nicht einmal mit dem kleinen Finger hinein kommen konnte.“ 113 Mit verschiedenen Instrumenten dringt der Arzt in den Körper vor, öffnet, zerreißt und zerschneidet und macht ihn so der Beobachtung zugänglich. Der Bericht von Leichenöffnungen muss dabei die Beobachtung des toten Inneren sprachlich wahrnehmbar machen. Die Distanz von Oberfläche und Tiefe wird nach der Operation der Sektion durch die Sprache noch ein zweites Mal überwunden. Dabei muss eine komplexe Wahrnehmungsstruktur in Sprache übertragen werden, denn der Arzt nimmt den Körper mit allen Sinnen wahr: Als ich den entseelten Körper öffnen liess, erstaunte ich, da ich auf der linken Seite der Brust gar keinen Lungenflügel gewahr wurde, welcher natürlich das Herz bedecken sollte. Statt dessen lag das Herz, mit seinem pericardio umgeben, frei oben, und war mit dem Herzbeutel an das Rippenfell fest verwachsen. Als ich es von seinem Anhang losgetrennt hatte, fand ich diesen Lungenflügel tief in dem Grund dieser halben Höhle, rund zusammengezogen und fest angewachsen liegen, und war wie eine dicke Blase, mit einer schwankenden Feuchtigkeit angefüllt, anzufühlen. Der rechte Lungenflügel hatte gar nicht das blaue spongiöse Ansehen der

109 110 111 112 113

F. in H.: 1. Brustwassersucht nebst Sectionsbericht, S. 92. F. in H.: 1. Brustwassersucht nebst Sectionsbericht, S. 92. Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 161. Aepli: Geschichte einer enormen Ausdehnung des Magens, S. 131. Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 105.

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Lunge, sondern sah wie ein knotiges festes Stück Fleisch aus. Die viscera des Unterleibes waren vollkommen gesund und rein. Ungeachtet ich alle Behutsamkeit bei der Ausnahme der Lunge aus der Brusthöhle vom Wundarzt beobachten liess, bekam doch der linke Lungenflügel, bei der Abtrennung von seiner Anwachsung, ein Loch, und es ergoss sich sogleich vieles Eiter in die Brusthöhle. Bei der weitern Untersuchung ergab sich, dass der linke Lungenflügel in seiner Substanz völlig destruiert war, und nur noch aus zwei Eitersäcken bestand, welche mit einer käsemadenartigen Masse umgeben waren, die einen besondern ekelhaften Geruch von sich gaben. Der rechte Lungenflügel war fast durch und durch mit Knoten infarcirt, die ebenfalls eine käsemadenartiges ungleich gelb und grünliches Ansehen hatten, und zum Theil schon mit stinkendem Eiter umgeben waren.114

Die pathologische Abweichung von der ‚normalen‘ Anordnung der Organe bestätigt die Diagnose einer kranken Lunge (Lungenschwindsucht). Der Vergleich der Konsistenz mit Käsemaden und „knotige[m] Fleisch“ evozieren Fäulnis und Verschmutzung, die auch durch die wiederholte Herausstellung des „ekelhaften Geruch[s]“ und „stinkenden Eiter[s]“ unterstrichen werden. Die Vergleiche mit Fleisch und Insekten sowie die Farbadjektive machen das Gesehene dabei zugleich an alltägliche Erfahrungen anschließbar und damit für den Leser ‚sichtbar‘. Die Strategien der plastischen Beschreibung ähneln sich dabei: Nach der Eröffnung des Unterleibes zeigte sich hart oberhalb des Schaambogens eine bläulichrothe Geschwulst, von der Grösse einer gewöhnlichen Rindsblase, die beim ersten Anblicke wie ein stark ausgedehnter etwas entzündeter Darm aussah. Als hierauf diese Sache genauer untersucht wurde, ergab es sich, dass es das linke Ovarium war, das aus der Beckenhöhle herausreichte und sich über die ganze Fläche derselben erstreckte. Rechterseits war diese Geschwulst ganz frei, auf der linken Seite aber stark mit dem Darmfelle verwachsen und enthielt beinahe 4 Pfd. wässerichte stinkenende Jauche mit Eiter untermischt und mehrere Hydatiden von der Grösse eines Hühnereyes. Nachdem dieser Sack ausgeleert war, fand man die drüstigte Substanz des Ovariums ganz zerstört und in ein Krebsgeschwür verwandelt. Das rechte Ovarium war scirrhös, und als es entzwei geschnitten wurde, fand man gleichfalls hie und da anfangende Eiterung.115

Auch hier finden sich Vergleiche mit Tierorganen (Rindsblase) und weiteren tierischen Produkten (Hühnerei). Adjektive wie „drüstigte“ und „wässerichte“ verweisen auf die Konsistenz. Um den Körper wahrnehmbar zu machen, werden – wie bei der Beschreibung der Ausleerungen – sich wiederholende sprachliche Verfahren verwendet. Dazu gehören Maß- und Gewichtsangaben, welche die Geschwülste und pathologischen Veränderungen und die Flüssigkeiten einordbar machen. Zudem werden Vergleiche mit Naturprodukten – wie das oben zitierte „knotige[s] Stück Fleisch“ oder „Hühnereye“ – sowie Tierorganen und Obststücken gemacht. Die Berichte von Leichenöffnungen offenbaren Därme „dünn wie ein Gänsedarm“ 116, Verwachsungen 114 Christoph Girtanner: Versuche und Beobachtungen über die neue Methode des Hrn. Beddoes, die Lungenschwindsucht zu heilen. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 1, 1. St. (1795), S. 245–247. 115 F. in H.: 3. Gebärmutterblutsturz, S. 114. 116 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 161.

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von der Größe „eines Manneskopfs“ mit „Farbe und Consistenz […] wie Speck“ 117, Hydatiden von der „Grösse einer Wallnuss“ 118, „Geschwülste[ ] von der Grösse einer Erbse bis zu der einer Haselnuss“ 119, „kleine[ ] speckartige[ ] Geschwülste, von der Grösse einer Erbse bis zu einer welschen Nuss“ 120 oder „von der Grösse und Form zweier grossen neben einander gelegten Stettiner Aepfel“ 121 oder einen „knorpelartige[n] Knopf wie eine sehr große Erbse“ 122. Diese Vergleiche funktionieren als eine Technik des ‚Vor-die-Augen-Stellens‘; sie machen das Vorgefundene für den Leser ‚sichtbar‘ und evozieren bestimmte Eigenschaften und Prozesse. So scheinen insbesondere Obst und Fleisch mit den Organen, die Möglichkeit zu verfaulen, zu teilen. Der Eindruck von Fäulnis und Verwesung wird auch durch die Nennung von Flüssigkeiten wie Jauche und Eiter und den oftmals bemerkten „übeln“ 123, „stinkende[n]“ 124 und „Ekel erregende[ ]“ 125 Gerüchen hervorgerufen. Neben Vergleichen, die das Gesehene erfahrbar machen, sind die Berichte sehr reich an Adjektiven, welche die synästhetische Wahrnehmungsstruktur versprachlichen. Die Organe, Geschwülste, Verwachsungen und Häute sind „aufgerieben“ 126, „gespannt“ oder „vertrocknet“ 127, „scirrhös“ 128, „steinhart“ oder „zotticht[e]“ 129 und „zusammengeschrumpft“ 130; die Flüssigkeiten können „zäh“, „klümpig“, „unauflöslich“ 131, „schleimicht-gallicht[er]“ 132 und „schmutzig“ 133 sein. Zahlreiche Farbadjektive zielen insbesondere auf die visuelle Wahrnehmung. Differenzierungen wie „hellgelb“ 134, „schwefelgelb[ ]“ 135, „dunkelschwarzgelb“ 136, oder „bläu-

117 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 520. 118 Wilhelm Gottlieb Kelch: Zergliederung eines sehr ausgedehnten und mit Schleim gefüllten Ovariums. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 25, 2. St. (1806), S. 197. 119 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 519. 120 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 521. 121 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung, S. 522. 122 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 105. 123 F. in H.: 3. Milchversatz und Bauchwassersucht, S. 106. 124 F. in H.: 4. Gebärmutterblutsturz, S. 114. 125 Kelch: Zergliederung eines sehr ausgedehnten und mit Schleim gefüllten Ovariums, S. 198. 126 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 161. 127 Beide Zitate: Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 161. 128 F. in H.: 3. Gebärmutterblutsturz, S. 114. 129 Beide Zitate: Oberteuffer: Ein Beytrag zur Infarctusgeschichte, S. 552. 130 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 161. 131 Alle Zitate: Kelch: Zergliederung eines sehr ausgedehnten und mit Schleim gefüllten Ovariums, S. 195. 132 Oberteuffer: Ein Beytrag zur Infarctusgeschichte, S. 552. 133 F. in H.: 3. Gebärmutterblutsturz, S. 115. 134 Bremer: Merkwürdige Verhärtung im Unterleibe mit der Leichenöffnung, S. 162. 135 Kelch: Zergliederung eines sehr ausgedehnten und mit Schleim gefüllten Ovariums, S. 194. 136 Schmalz: Krankengeschichte und Leichenöffnung eines, an einer großen Speckgeschwulst im Unterleib verstorbenen Jünglings, S. 514.

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lichrot[ ]“ 137 unterstreichen das Bemühen, die visuellen Sinneseindrücke einzufangen. Insbesondere das Zusammenfügen unterschiedlicher Farbqualitäten lässt aber auch die Schwierigkeit erkennen, Farbwahrnehmungen sprachlich auszudrücken, so stand das Farbige in der zeitgenössischen Ästhetik für das Akzidentelle und Ungenaue.138 Die Bilder, Vergleiche und synästhetischen Adjektive evozieren zusammen immer ähnliche Prozesse, die Barbara Duden auch für Fallgeschichten am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts festgestellt hat: Stagnation und corruptio, übles Wachstum und Verhärtung oder Versteinerung.139 Auch das humoralpathologische Paradigma bleibt dabei dominant, obwohl die Ursache der Krankheit in den Organen gesucht wird. So werden zum Beispiel Krankheiten wie Melancholie und Hypochondrie mit der Farbe schwarz und mit der Galle weiterhin konstitutiv verknüpft.140 Insgesamt werden die Beobachtungen der Sektionen mit einer schonungslosen Rhetorik des Ekels oder des Ekelhaften versprachlicht: Der Magen, und ganze Darmkanal sehr entzündet und von Winden angefüllt, die dünnen Gedärme natürlich gross und von Excrementen leer, die dicken ausserordentlich angefüllt, sie enthielten eine unglaubliche Menge schleimicht-gallichter, zäher, klebrichter Infarcte, und verhärteter Kothklumpen, von welchen letztern viele eine Mannsfaust gross waren, besonders die im Blinddarm enthaltene steinhart, alle aber mit Eiter überzogen; die zottichte Haut der dicken Därme war scirrhös, und mit unzählichen Geschwüren behaftet, die Drüsen des Netzes und Gekröses von widernatürlicher Grösse und viele derselben gleichsam petrificirt.141

Blutige Schleime, stinkender Eiter, Fettklümpchen oder häutige Geschwülste werden detailliert beschrieben und so eine Beobachtungsstruktur entworfen, die keine Grenzen des Repräsentierbaren kennt. Die ekelhafte Beschreibung funktioniert als Evidenz für den Blick des Arztes, indem sie den toten geöffneten Körper so anschaulich darstellt, dass der Leser ihn selbst zu sehen glaubt. Durch solche Präsenzeffekte soll die Distanz zwischen der sprachlichen Beschreibung und dem tatsächlich Wahrgenommenen verringert werden. Die Sprache ist analogie- und bildreich, will aber dennoch den Eindruck einer unmittelbaren Übersetzung erwecken. Die Evokation von Ekel ist in diesem Zusammenhang gewollt, da Ekel als Garant für Authentizität und Realität erscheint und damit rhetorisch geeignet ist zu unterstreichen, dass in den Berichten nichts ausgelassen werde, sondern eine empirische Beobachtung versprachlicht werde.

137 F. in H.: 4. Gebärmutterblutsturz, S. 114. 138 Vgl. Walter Pape: „Richtige Zeichnung und Charakter“ und „reichergiebiger Farbenquast“: Umriss und Farbe in Literatur um 1800. In: ders. (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik, Physiologie, Kunst, Ästhetik. Berlin 2014, S. 82. 139 Vgl. auch Duden: Geschichte unter der Haut, S. 159. 140 Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 63 f. und S. 266. 141 Oberteuffer: Ein Beytrag zur Infarctusgeschichte, S. 552 f.

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Die Verbindung vom Ekelhaften mit dem vermeintlich ‚Realen‘ findet sich im zwanzigsten Jahrhundert auch in psychoanalytischen und (anti-)ästhetischen Theorien, die das Ekelhafte als ‚verdrängte Wahrheit‘ oder als das „Ding an sich“ 142 inszenieren. Ästhetik und Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts schließen das Ekelhafte hingegen aus dem Bereich der Künste aus.143 Die erste einflussreiche Auseinandersetzung mit dem Ekel verfasst Mendelssohn in seinen 82. und 83. Literaturbriefen, auf die später Lessing, Herder und Kant referieren. Mendelssohn beschreibt dabei Geschmack, Geruch und Gefühl als diejenigen Sinne, die am anfälligsten für Ekel sind,144 während das Auge erst in einem zweiten Schritt affiziert werde, was ex negativo die synästhetische Qualität der Sprache in den Leichenöffnungen zu bestätigen scheint. Als Inbegriff des Ekligen figurieren in den Texten von Mendelssohn, Herder und Lessing körperliche Phänomene, die auf das Alter verweisen, Körperöffnungen und daraus austretende Flüssigkeiten145 und Verwesung. So argumentiert Lessing für eine Todesdarstellung der ‚Alten‘, die keine „ekle, traurige, gräßliche Idee“ evoziere und wendet sich gegen die Vorstellung des Skeletts als Personifizierung des Todes, da dieses die „ekeln Begriffe von Moder und Verwesung“ 146 einschließe. Die Rhetorik des Ekelhaften in den Krankengeschichten erscheint somit als textuelle Distinktionsstrategie des medizinischen von ästhetisch-philosophischen Diskursen, wobei bereits in der Romantik Auflösungstendenzen des Verbotes und des Ausschlusses des Ekligen und Hässlichen aus der Literatur zu erkennen sind.147 Die Diskussion um das Ekelhafte in der Kunst steht dabei offensichtlich in enger Beziehung zu wirkungsästhetischen Überlegungen. Auf die Wirkung ekelerregender Sprache geht auch der Arzt Carl Heinrich Ackermann in seinem Versuch über einige medicinische Fragen ein, indem er den

142 Winfried Menninghaus: Ekel. In: Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2001, S. 143. 143 Vgl. Menninghaus: Ekel, S. 143–145. 144 Vgl. Moses Mendelssohn: Briefe die neueste Literatur betreffend. (1759–1765). 82. Brief. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 5.1: Briefe die neueste Literatur betreffend. (1759–1765), hg. von Eva J. Engel. Stuttgart 1991, S. 131. Herder widerspricht in Bezug auf das Gefühl und sieht primär Geruch und Geschmack als Urheber von Ekelempfinden an (vgl. Johann Gottfried Herder: Plastik (1770). In: ders.: Werke. Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, hg. von Wolfgang Pross. München 1987, S. 441 f.). Vgl. zu Ekel und Kunstrezeption insb. bei Herder auch Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001, S. 67–76. 145 Vgl. Menninghaus: Ekel, S. 149. 146 Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet. In: Werke und Briefe. Bd. 6: Werke 1767–1769, hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, S. 764. Vgl. auch Herder: Plastik (1770). In: Werke, Bd. II, S. 434. Auch Rosenkranz diskutiert in seiner Ästhetik des Hässlichen das Ekelhafte am Beispiel der Verwesung (vgl. Menninghaus: Ekel, S. 152–154). 147 Eine diskursübergreifende Analyse von Ekelstrategien und ihren Funktionen erscheint angesichts der ausgeprägten Rhetorik des Ekels in den Fallgeschichten eine ergiebige Fragestellung.

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Ekel vor Krankheiten als Ursache von Krankheiten und psychisches Hindernis beim Heilungsprozess diskutiert.148 Dabei sieht er auch „Ausdrücke, welche den Abscheu gegen einige Krankheiten befördern und vermehren können“ 149 in populärmedizinischen Zeitschriften als schädlich an, da sie Krankheiten begünstigen und hervorrufen könnten. Beschreibungen, die Ekel erregen können, sollen nach Ackermann gerade Distinktionsmerkmal zwischen Texten, die nur für Ärzte und solchen, die für ein breiteres Publikum bestimmt sind, dienen. Den allgemeinen Nutzen ekelerregender Krankheitsbeschreibungen stellt Ackermann in Frage: Was nützt aber gemeiniglich eine solche den größten Schauer und Ekel erregende Darstellung mancher Krankheiten? Welchen bleibenden höchst schädlichen Eindruck kann sie nicht auf die Seele eines Lesers machen, welche Nachtheile für seine Gesundheit bewirken! Weg also mit allen überflüßigen Deklamationen über die Häßlichkeit dieser oder jener Krankheit! Weg mit den dichterischen übertriebenen Beschreibungen ihrer Abscheulichkeit! Ja, noch setze ich hinzu: Weg mit allen ekelhaften Benennungen von Krankheiten.150

Wenn die ekelhafte Beschreibung nun Merkmal von Texten wird, die sich an ein medizinisch ausgebildetes Publikum richten, ist sie geeignet, den Anspruch von Realität und Authentizität zu untermauern. Interessanterweise führt Ackermann neben dem „Ekel“ aber auch den „Schauer“ als Reaktion des Lesers auf, was an die Wirkungsästhetik der Tragödie erinnert. Der Vorwurf der „dichterischen“ Übertreibung impliziert, dass die gewählte Rhetorik des Ekels nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs unterstützt, sondern auch die Einbildungskraft des Lesers affiziert. Auch Mendelssohn spricht dem Ekelhaften eine unmittelbar reizende Wirkung auf die Einbildungskraft zu. Aufgrund dieser Unmittelbarkeit schließt Mendelssohn den Ekel als Wirkungskategorie aus der Kunst aus, da durch sie das Bewusstwerden der ästhetischen Täuschung nicht möglich sei.151 Dem Ekel wird also auch hier eine besondere Tendenz, Medialität zu überschreiten zugesprochen. In diesem Sinne geht Ackermann davon aus, dass die ekelhafte Beschreibung von Krankheit in der Lage ist, Krankheiten überhaupt erst hervorzurufen. Die Sprache wird dann zum Übertragungsweg und Krankheit erst durch sie erzeugt. Der Blick in das Körperinnere ist dabei im achtzehnten Jahrhundert nicht zwangsläufig mit Ekel verbunden, wie Irmela Krüger-Fürhoff am Beispiel anatomischer Wachspräparate zeigt.152 Gerade da die Präparate idealisierte, an bestimmten Schönheitsvorstellungen orientierte Körper darstellen, geraten diese jedoch in die

148 Carl Heinrich Ackermann: Versuch über einige medicinische Fragen. Leipzig 1792, S. 35 f. 149 Ackermann: Versuch, S. 35. 150 Ackermann: Versuch, S. 36. 151 Vgl. Mendelssohn: Briefe die neueste Literatur betreffend (1759–1765). 82. Brief, S. 132 152 Vgl. Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper, S. 83. Auch die anatomischen Darstellungen des 16. Jahrhunderts, etwa Jacobo Berengario da Carpis Isagogae breues und Andreas Vesals De humani corporis fabrica, sind stark ästhetisiert (vgl. Benthien/Gadebusch: Körper und Buch, S. 85–122).

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Kritik.153 Noch 200 Jahre später kann die Beschreibung der ‚echten‘ Präparate des Anatom Gunther von Hagens, die in seiner Ausstellung Körperwelten gezeigt werden, als Negativfolie für die Beschreibungen in den Fallgeschichten genommen werden: Sie sind trocken und geruchlos. […] Die Plastination stoppt Verwesung und Vertrocknung so vollkommen, daß das Körperinnere aufhört, Gegenstand von Ekel zu sein. Kein Geruch belästigt die Betrachtung. Das schöne Plastinat als sinnliche Erfahrung, erstarrt zwischen Sterben und Verwesung.154

Während der Aspekt des Ekelhaften hier zugunsten einer ‚ungestörten‘ ästhetischen Erfahrung zurückgenommen wird, wird das tote Körperinnere in den Sektionsberichten gerade im Zustand der Verwesung, Vertrocknung, Fäulnis, Korruption und des Gestanks dargestellt, und damit eine Rhetorik genutzt, mit der versucht wird, dem Ideal der empirischen Beobachtung zu entsprechen. Innerhalb der Fallgeschichte kann die Leichenöffnung unterschiedliche argumentative Funktionen einnehmen. Oft werden die Ergebnisse aufgezählt, worauf die Fallerzählung abbricht, ohne dass daraus eine allgemeine Diagnose abgeleitet wird oder die Befunde mit der zuvor erzählten ‚äußeren‘ Krankengeschichte abgeglichen werden. Die von Goethe angemahnte Zusammensetzung der Detailkenntnisse zu einem Ganzen findet hier nicht statt. In anderen Beispielen ist die Leichenöffnung darauf ausgerichtet, die vorherige Erzählung zu überprüfen, zu bestätigen oder zu korrigieren. So findet der Arzt einer 68-jährigen Patientin, die Ursache der „Auftreibung des Unterleibes“ fast direkt nach der Öffnung: „Sobald die Därme von den Hautbedeckungen und dem Bauchfelle waren entblösst worden, entdeckten wir die Ursache, wodurch die ausserordentliche Auftreibung des Unterleibes entstanden war. Diese war ein tympanitischer Zustand der Därme.“ 155 In anderen Fällen muss der Arzt seine Diagnose nach der Leichenöffnung korrigieren. Als Beispiel sei die schon erwähnte Geschichte eines vermeintlich an einem Wurmfieber erkrankten Mädchens genannt. Der Arzt vermutet seiner bisherigen Hypothese eines Wurmfiebers folgend, dass die „Reize lebendiger Würmer […], die vielleicht der lange Mangel an Speise unruhig gemacht hätte[n]“ 156 als Ursache des Todes. Bei der Leichenöffnung findet er jedoch keinen einzigen Wurm. Stattdessen stößt er auf sehr viel Blut im Gehirn: „Ich bin geneigt, diese starke Anhäufung des Blutes für die nächste Ursache des Todes zu halten, und also anzunehmen, dass das Mäd-

153 Vgl. Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper, S. 87 f. 154 Gunther van Hagens: Der Plastinierte Mensch. In: Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper. 6. erweiterte Aufl., hg. vom Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim/ Institut für Plastination. Heidelberg 1997, S. 220 f. Auch zitiert in Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper, S. 103 f. 155 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 104. 156 Hildebrandt: Geschichte eines merkwürdigen (Wurm-?) Fiebers, S. 584.

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chen apoplektisch gestorben sey. Wenigstens kann ich, so weit es durch die Leichenöffnung möglich ist, keinen andern finden.“ 157 In der Geschichte „Ueber die Krankheit einer Frau, bey welcher durch die Leichenöffnung eine Zerplatzung der Aorta entdeckt wurde“ werden Arzt und Wundarzt von diesem pathologischen Befund überrascht: Ich und der secirende Wundarzt konnten uns, da letzterer keinen Fehlschnitt gethan hatte, nicht erklären, woher das ausgetretene Blut komme, welches wir in der Bauchhöle bemerkten, noch ehe wir den Mastdarm unterbunden, und den Rest desselben, nebst der Harnblase und der Gebärmutter, herausgenommen hatten. […] Erst, nachdem man die gedachten Theile herausgenommen hatte, entdeckte sich bey sorgfältiger Untersuchung, die Quelle dieses Blutes. Es drang aus zwey transversalen Rissen der Aorta.158

Aufgrund fehlender, eindeutiger Zeichen konnte der Arzt auf den Zustand der Aorta nicht vorbereitet sein. Nachträglich kann er aber zwei „Erscheinungen, welche die letzte Krankheit dieser Frau darbot“ mit dem „Bersten“ erklären: „der oben beschriebene Pulsschlag – und der Vorzug, den die Kranke im Bette der sitzenden Stellung gab“ 159. Erst durch die Leichenöffnung kann der Zusammenhang von pathologischer innerer Veränderung und Symptom erkennbar werden. Wie in Fragment und Bruchstück (siehe Kap. 2.1) werden in der Gattung Krankengeschichte verschiedene Symptomkonfigurationen dokumentiert. Diese werden jedoch nicht zur Erstellung nosologischer Systeme genutzt, sondern in ihren zeitlichen Veränderungen verfolgt, um den individuellen Fall zu erklären. Dieser Fall ist etwas anderes als die ‚Fälle‘ der Bleichsucht in dem „nosographischen Bruchstück“: Nicht die Aufteilung in Krankheitseinheiten und nummerierte Arten, sondern der zeitliche Verlauf der Krankheit steht im Mittelpunkt der Darstellung. Dies teilt die fallbasierte Krankengeschichte mit der Seuchengeschichte in Klees’ „Fragmente[n] aus der Geschichte des epidemischen Catarrhalfiebers“: Die Krankheit muss als Ganzes Anfang, Mitte und Ende haben und wird dadurch zu einer Geschichte. Im Fall des Todes ermöglicht die Leichenöffnung zudem die zeitliche Komponente auch in die Tiefenstrukturen des Körpers zu verfolgen und sie darüber hinaus mit ihrer räumlich-morphologischen Verbreitung zu verknüpfen. Während bisher Fallbeispiele körperlicher Krankheit untersucht wurden, werden im nächsten Kapitel psychologische Fallgeschichten, in denen es um ein anderes Inneres geht, analysiert.

157 Hildebrandt: Geschichte eines merkwürdigen (Wurm-?) Fiebers, S. 587. 158 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 105 f. 159 Schmidt: Ueber die Krankheit einer Frau, S. 107.

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3.2 Die psychologische Fallgeschichte in K. P. Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde „Bloß weil das dringendste Bedürfnis der Krankheit ihn dazu nötigte, fing er [der Mensch] an, seinen Körper genauer kennen zu lernen.“ 160 Leiden generiert Aufmerksamkeit, bringt den Menschen dazu sich selbst zu beobachten, um die krankhaften Abweichungen zu verstehen: Wie nahm die Entzündung in dem schadhaften Gliede allmählich zu? Wie hätte dem Übel noch beizeiten vorgebeugt, der Schaden noch geheilt werden können? An welcher Nachlässigkeit im Besichtigen oder Verbinden lag es, daß er so weit um sich griff, bis kein Rettungsmittel mehr fruchten wollte? In welchem Dorn hatte sich der gesunde Finger gereizt? welcher kleine unbemerkte Splitter war darin stecken geblieben, der nach und nach ein so gefährliches Geschwür erweckte?161

Mit seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das von 1783 bis 1793 dreimal jährlich in Berlin erscheint,162 möchte Moritz die Aufmerksamkeit auf die „Krankheiten 160 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde. In: ders.: Werke, Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt a. M. 2006, S. 793. 161 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 793. 162 Psychologische und anthropologische Periodika haben im achtzehnten Jahrhundert Konjunktur (vgl. Georg Eckhardt: Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde. Dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach und Paul Zicke (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179). Das Magazin hat dabei in der Forschung zu Literatur und Anthropologie sowie zur Fallgeschichte viel Aufmerksamkeit erhalten. Dominierende Forschungsperspektiven sind die Rolle im Werk von Moritz, die Beziehungen der Erfahrungsseelenkunde zu literarisch-ästhetischen, religiösen und medizinischen sowie populärwissenschaftlichen Diskursen, die Konzeption von Seelenkrankheiten und Themen der Anthropologie und die Einordnung im Wissenschaftssystem der Zeit. Vgl.: Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholie und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Hans Joachim Schrimpf: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und sein Herausgeber. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 161–187; Peter Rau: Identitätserinnerungen und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz. Frankfurt a. M. 1983; Raimund Bezold: Populärphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984; Sybille Frickmann: „Jeder Mensch nach dem ihm eignen Maaß“ – Karl Philipp Moritz’ Konzept einer „Seelenkrankheitskunde“. In: The German Quaterley 61 (1988), S. 387–402; Götz Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse. Annotationen zu Adam Bernd, Karl Philipp Moritz und Jean Paul. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 697–723; Martin L. Davies: Moritz und die aufklärerische Berliner Medizin. In: Martin Fontius und Anneliese Klingenberg (Hg.): Karl Philip Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen – Korrekturen – Neuansätze. Tübingen 1995, S. 215–226; Georg Eckhardt, Matthias John und Temilo van Zantwijk (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze zur Entwicklung einer Wissenschaft. Köln 2001; Andreas Gailus: A case of individuality. Karl Philipp Moritz and the „Magazine for Empirical Psychology.“ In: Eighteenth-Century Literature and Thought. New German Critique 79 (2000), S. 67– 105; Jürgen Jahnke: Moral und Erfahrungsseelenkunde als Problem der Pädagogik. In: Manfred

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der Seele“ 163 lenken, denn „wie weit mannigfaltiger, verderblicher, und um sich greifender als alle körperliche Übel, sind die Krankheiten der Seele!“ 164 Bei der Konzeption der Erfahrungsseelenkunde überträgt Moritz Begriffe der Medizin in diese neue, zukünftige Wissenschaft, die er nach Vorschlag von Moses Mendelssohn „Erfahrungsseelenkunde“ nennt. Von Mendelssohn stammt auch der Vorschlag, die Erfahrungsseelenkunde in die Begrifflichkeiten ‚Seelennaturkunde‘, ‚Seelenkrankheitskunde‘, ‚Seelenzeichenkunde‘ und ‚Seelendiätetik‘ zu unterteilen. Diese Ordnungskategorien lenken die Aufmerksamkeit und Erwartungen der Leser und fungieren somit als Fundament für die Seelenkunde. Neben diesen übergeordneten Kategorien führt Moritz auch weitere medizinische Begriffe, wie zum Beispiel ‚Krisis‘ und ‚Metastasis‘, in die Erfahrungsseelenkunde ein.165 Die Seele soll wie der Körper unter diesen medizinischen Ordnungskategorien erfasst werden. Bereits diese Kategorisierung impliziert eine ‚Naturalisierung‘ der Seele.166 Durch den Zusatz Gnothi sautón (erkenne dich selbst) wird das Ideal der Selbstbeobachtung, das Moritz als Fundament der Erfahrungsseelenkunde fördern möchte, bereits im Titel des Magazins angedeutet. In seinem „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“, der 1782 im Deutschen Museum erschien, geht Moritz ausführlich auf die Möglichkeit der Selbst- und Fremdbeobachtung ein und fordert sie als Grundlage der Wissensgenerierung über die menschliche Seele. Den Beobachtungsvorgang parallelisiert er mit einer Sektion:167 Wer aber wird solche traurige Beobachtungen, die er an Kindern, Verwandten oder Freunden gemacht hat, öffentlich drucken lassen, und dadurch jene Unglücklichen noch der öffentlichen Schande aussetzen? – Wenn der Nutzen, welcher dadurch erreicht werden kann, das Wohl der Menschheit betrifft, wer wollte sich da wohl weigern, ein solches Opfer zu bringen? schonen wir doch nicht unserer Körper nach dem Tode, sondern lassen dieselben zum Besten der Menschheit öffnen, um zu untersuchen, wo der Sitz der Krankheit war.168

Beetz (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 208–224; Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung, S. 13–40; Yvonne Wübben: Traum, Wahn und Wahnwissen. In: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin 2008, S. 425–430; Dickson/Goldmann/Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“. 163 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 793. 164 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 793 f. 165 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 34–36. 166 Vgl. Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung, S. 24. Moritz’ Magazin kann damit der anthropologischen Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert mit ihren Merkmalen der Empirisierung, Naturalisierung und Historisierung zugeordnet werden (vgl. Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma: Vorwort. In: dies. (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 10). 167 Vgl. auch Robert Leventhal: Die Fallgeschichte zwischen Ästhetik und Therapeutik. In: Dickson/Goldmann/Wingertszahn (Hg.): „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 73. 168 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 795.

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Die Beobachtungen ‚öffnen‘ einen verborgenen Bereich und offenbaren die Funktionsweisen der Seele. Damit parallelisiert Moritz den eigenen Blick indirekt mit dem des forschenden Arztes, der den toten Körper zerschneidet. Die Fremdbeobachtung bleibt jedoch oft an der Oberfläche hängen und kann das „innre Triebwerk“ 169 nicht offenbaren, weswegen Moritz die Selbstbeobachtung als das wirkungsvollste Mittel der Seelenerforschung ansieht. Der Selbstbeobachter muss in der Lage sein, Distanz zu sich aufzubauen, um sich selbst dem eigenen sezierenden Blick zu unterwerfen: Ohne alle heftige Leidenschaften müßte er nicht sein, und doch die Kunst verstehn, in manchen Augenblikken seines Lebens sich plötzlich aus dem Wirbel seiner Begierden herauszuziehen, um eine Zeitlang den kalten Beobachter zu spielen, ohne sich im mindesten für sich selber zu interessieren.170

Diese Interessenlosigkeit, die Kontrolle der Gemütsbewegungen und Einbildungen lässt es zu, den Vorgang der Selbstbeobachtung mit der ästhetischen Erfahrung zu parallelisieren.171 Die damit implizierte Distanzierung zum eigenen Ich beschreibt Moritz daher mit einer Bühnenmetapher: Aber wer gibt dem Beobachter des Menschen immer Kalme und Heiterkeit der Seele dazu, alles was geschieht, so wie ein Schauspiel zu beobachten, und die Personen, die ihn oftmals kränken, wie Schauspieler? Ja, wenn er nur nicht selber mit im Spiele begriffen wäre, und wenn nur kein solcher Rollenneid statt fände. […] Das alles wie ein Schauspiel zu betrachten – welche Wonne, welch eine Erhebung zum alles umfassenden Schöpfer des Weltalls! So bald ich also sehe, daß man mir selber keine Rolle geben will, stelle ich mich vor die Bühne und bin ruhiger, kalter Beobachter.172

Der Selbstbeobachter nimmt sich selbst aus dem Spiel. Statt eine Rolle auf der Bühne zu spielen, wechselt er in den Zuschauerraum und kann sein eigenes Ich aus einer Position heraus auf der Bühne beobachten. Reil und Eschenmayer beschreiben psychische Krankheiten als Vervielfältigung der Rollen auf einer Bühne, die das ‚Ich‘ selbst nicht mehr wahrnehmen kann. Moritz etabliert hingegen ein Ideal, nach dem die eigene Rolle gerade sichtbar ist, als Mittel der Selbsterforschung. Dabei reflektiert er allerdings nicht, dass auch diese Beobachterposition

169 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 800. Moritz’ Maschinenmetapher gleicht dem in der Vorrede von Schillers Die Räuber geäußerten Vorhaben, „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“ (Friedrich Schiller: Vorrede. Die Räuber. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 2: Dramen I, hg. von Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. 2009, S. 15). Die Suche nach dem inneren Funktionieren eines mechanischen Systems wird ebenso wie Metaphern des Zergliederns und Sezierens gerne benutzt, um die Versuche zu beschreiben, das Innere der Seele zu verstehen. 170 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 799. 171 Vgl. Leventhal: Die Fallgeschichte zwischen Ästhetik und Therapeutik, S. 71. 172 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 801 f.

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aus einer Dissoziation des Ichs resultiert, das in Zuschauer und Rolle aufgeteilt wird. Wie in den bislang besprochenen Texten wird bei Moritz zunächst das Vorläufige seines Planes von der Erfahrungsseelenkunde betont. Auch Moritz benutzt dafür eine Gebäudemetapher, um sein Vorhaben auszudrücken, er will „einige Materialien zu einem Gebäude zusammen […] tragen, daß seinen Baumeister noch sucht, und ihn wahrscheinlich einmal finden wird“ 173. Anders als Reil verwendet Moritz die Metapher nicht mit der Evokation, dass es das Gebäude schon gibt und weitere Bausteine eingefügt werden, sondern es wird erst geplant und errichtet, ist somit auf ein zukünftiges ‚Ganzes‘ ausgerichtet. Dafür will Moritz „Fakta“ 174 sammeln, um irgendwann den Menschen völlig ergründet und verstanden zu haben. Fakten, Tatsachen und Beobachtungen funktionieren als die ‚Bausteine‘ des anvisierten ‚Gebäudes‘. Neben der Gebäudemetapher benutzt Moritz Kunstmetaphern, um die Vorläufigkeit seiner Seelenkrankheitskunde zu verdeutlichen. Alles ängstliche Hinarbeiten auf ein System müsse vermieden werden, stattdessen solle alles „nur ein ohngefährer Entwurf seyn, worinn immer noch manche Linie wieder verwischt werden kann, wenn auch sogar das Ganze darüber eine völlig andre Gestalt gewinnen sollte“ 175. Fürs erste habe er nur einige Grundlinien gezogen. Diese Kunstrhetorik gesteht dem Vorhaben einen möglichen flexiblen Verlauf zu, den die Rede vom Grundriss so nicht evoziert. Beide Metaphern implizieren ein Wissensverständnis, nach dem ein Wissenssystem abgeschlossen und fertig ist, wenn alle Möglichkeiten erkannt und bezeichnet sind.176 Mit der Suche nach ‚Fakta‘ grenzt Moritz die Texte seines Magazins von anderen Gattungen ab: kein „moralisches Geschwätz“, keinen „Roman“, keine „Komödie“ 177 liefere er. Durch das Abweisen des Gattungswissens dieser Textsorten wird der Anspruch auf Empirie und Erfahrung unterstrichen. Die Evidenz literarischfiktiver Fälle wird von Moritz zunächst aus dem Kreis der Gattungen, die ‚Fakta‘ versprachlichen können, ausgeschlossen. Ab dem vierten Band werden die einzelnen Fälle in ‚Revisionen‘ sortiert, theoretisch diskutiert und miteinander verknüpft. Der als ‚unmittelbar‘ und ‚direkt‘ inszenierte Blick auf Krankheit und Normabweichung wird somit wieder diskursiv abgefedert, was dem ursprünglichen Anspruch des Faktensammelns zuwider läuft.178 Trotz seines Ausschluss des Romans gibt 173 Moritz: [ohne Titel]. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 1. St. (1783), S. 2. 174 Moritz: [ohne Titel], S. 2. 175 Moritz: Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 1. St. (1783), S. 32. Die Linie steht in zeitgenössischen ästhetischen Diskussionen für das ‚Wahre‘ und der Vernunft entsprechende (vgl. Pape: Richtige Zeichnung und Charakter, S. 85 f.). 176 Vgl. Hillen: Die Pathologie der Literatur, S. 139. 177 Moritz: [ohne Titel], S. 2. 178 Vgl. Hillen: Die Pathologie der Literatur, S. 139; Hans Peter Ecker: „Vielleicht auch ein bißchen Geschwätz.“ Zur Differenz von Anspruch und Realität in Karl Philipp Moritz’ „Magazin zur Erfah-

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Moritz nun selbst an, dass sein eigener psychologischer Roman Anton Reiser, der in Auszügen im Magazin abgedruckt wird, „die stärkste Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele enthält“ 179 und er sich künftig insbesondere bei der Untersuchung der Auswirkungen von Kindheitserinnerungen auf diesen beziehen werde. Neben dem Anton Reiser finden sich einige weitere Beispiele von ‚Lebensbeschreibungen‘ im Magazin, die zwischen Roman und (Auto-)Biographie changieren und zeigen, dass das Wissen dieser Gattungen für die Erfahrungsseelenkunde interessant ist.180 Die Themen des Magazins sind sehr heterogen und umfassen Fälle aus der (psychosomatischen) Medizin, der Kriminalistik sowie sprachpsychologische Überlegungen und Ansätze psychopathologischer Theoriebildung. Die Einsender sind überwiegend Ärzte, Lehrer, Gelehrte und (protestantische) Geistliche. Das Magazin setzt sich aus verschiedenen Gattungen wie der Krankengeschichte, der (Auto-)Biographie, dem Brief oder der Kriminalakte zusammen, die sich überwiegend in der Darstellung eines ‚Falles‘ treffen. Neben diesen Fallgeschichten gibt es theoretische Beobachtungen und Reflexionen.181

rungsseelenkunde“ am Beispiel der Selbstmordfälle. In: Hartmut Laufhütte (Hg.): Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns Tübingen 1993, S. 179–202 179 Moritz: Fortsetzung der Revision der ersten drei Bände dieses Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, 3. St. (1786), S. 5. 180 Dazu gehören: Jakob: Etwas aus Robert Gs. Lebensgeschichte oder die Folgen einer unzweckmäßigen Schulerziehung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 3. St. (1783), S. 1–27; ders.: Fortsetzung von Robert. Gs. Lebensgeschichte oder die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schulerziehung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, 1. St. (1784), S. 1–12; Moritz: Auszug aus Paul Simmens Lebensgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, 1. St. (1784), S. 38–54; ders.: Beschluß von Simmens Geschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, 2. St. (1784), S. 101–110; Karl Friedrich Pockels: Schack Fluurs Jugendgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, 2. St. (1786), S. 96–127; ders.: Schack Fluurs Lebensgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, 3. St. (1786), S. 49–75; ders.: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, 1. St. (1787), S. 103–127; ders.: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, 2. St. (1787), S. 17–39; Johann Ludwig Adam Schlichting: Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, 2. St. (1786), S. 62–73; ders: Fortsetzung der Folge meines Lebens. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, 2. St. (1787), S. 109–123; Moritz: Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, 1. St. (1784), S. 76–95; ders.: Fortsetzung des Fragments aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, 1. St. (1791), S. 90–98; ders.: Fragment aus dem vierten Theil von Anton Reisers Lebensgeschichte. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, 2. St. (1791), S. 7–30; ders.: Die Leiden der Poesie. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, 3. St. (1791), S. 108–125. 181 Insbesondere der zwischenzeitliche Herausgeber Pockels, der Moritz während dessen Italienreise vertritt und mit dem sich Moritz später überwirft, nutzt das Magazin als Fläche für theoretische Auseinandersetzungen (vgl. dazu Heide Hollmer und Albert Meier: Deutungsaspekte. In: Moritz. Werke, Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hg. von dens. Frankfurt a. M. 2006, S. 1310 f.).

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Die Forschung in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft hat Moritz’ Magazin eine „paradigmatische Rolle“ 182 zugesprochen. Das Magazin ist dabei im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft verortet worden. Gleichzeitig wurde seine Rolle bei der ‚Verwissenschaftlichung‘ der empirischen Psychologie beleuchtet.183 Insbesondere aber stehen die Interferenzen des erfahrungsseelenkundlichen Zeitschriftenprojekts mit und zur Literatur der Zeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Diese sind vor allem an der Person und dem Werk von Moritz selbst aufgezeigt worden. Hierbei wurde lange ein genetisches Verhältnis insofern angenommen, dass sich das literarische Werk aus der Erfahrungsseelenkunde entwickelt habe, während in der aktuellen Forschung anstelle chronologischer Kausalität Gleichzeitigkeit und Überschneidungen hervorgehoben werden.184 Dies wird dadurch flankiert, dass im Rahmen der literarischen Anthropologie erfahrungsseelenkundliche Themen und fallbasierte Schreibweisen in breiten Teilen der Literatur um 1800 und auch in theoretischen Texten nachgewiesen werden konnten.185 Im folgenden Kapitel wird der Fokus, der Fragestellung dieser Arbeit entsprechend, auf Krankengeschichten und nicht Kriminalgeschichten, theoretischen Entwürfen oder pädagogischen Texten liegen, wobei die Grenze nicht immer klar zu ziehen ist. Während in Hufelands Journal überwiegend körperliche Krankheiten besprochen werden, stehen im Magazin psychische Erkrankungen im Mittelpunkt, diese werden jedoch vielfach innerhalb des Paradigmas vom ‚ganzen Menschen‘ diskutiert, das heißt in enger Verbindung mit körperlichen Vorgängen gesehen. Das Schema der Gattung Krankengeschichte kommt auch in den Beiträgen des Magazins zu Tragen.186 Es finden sich einige Fallerzählungen, die der Topik und dem Muster der Krankengeschichte zumindest teilweise folgen und sich somit auf das Wissen dieser Gattung beziehen, um es für den neu zu erschließenden Bereich der Erfahrungsseelenkunde fruchtbar zu machen. Die Gattung wird hierdurch selbst zum Instrument, um die beobachtete Seele als krank ‚sichtbar‘ zu machen, indem sie ein Muster zur Darstellung und Ordnung zu Verfügung stellt.

3.2.1 Die psychologische Krankengeschichte Ein Beispiel für eine psychologische Fallgeschichte, die das Schema der Krankengeschichte imitiert, ist die „Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem drei-

182 183 184 185 186

Dickson/Goldmann/Wingertszahn: Vorwort: „Fakta und kein moralisches Geschwätz“, S. 7. Vgl. Wübben: Traum, Wahn und Wahnwissen, S. 425. Vgl. Pethes: Ästhetik des Falls, S. 22. Vgl. Pethes: Ästhetik des Falls, S. 17–29; Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit, S. 78. Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 40.

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monathigen Wahnwitz“ 187. Der Titel der Fallgeschichte nimmt die zeitliche Struktur und den Ausgang der Krankheit bereits vorweg. Der Text beginnt mit der Personaltopik der Krankengeschichte, die in der den Beginn der Krankheit markierenden Beschwerde mündet: Ein Jüngling von neunzehn Jahren, cholerisch-sanguinischen Temperaments, dessen Körper von Jugend auf stark und meist gesund, dessen Gemüth heiter war, und dem es nicht an Geisteskräften fehlte […] der sich durch anständige Sitten überall beliebt gemacht, auch die Pflichten eines gehorsamen und wohlgearteten Sohnes gegen seinen Vaters […] stets beobachtet hatte; wurde nach einem zu sehr angestrengten Schulfleiß […] mit einer Schwere im Kopfe befallen.188

Die Einführung der Krankengeschichte wird hier durch den Verweis auf das Pflichtbewusstsein und die Gehorsamkeit des Sohnes bereits in einen ‚moralischen‘ Bereich hinein erweitert. Der Verlauf der Krankheit wird anschließend wie in der Krankengeschichte detailliert Tag für Tag berichtet. Die Beobachtung ist zumeist distanziert und erfolgt durchgehend aus der Außenperspektive. Die Mittelbarkeit wird allerdings dadurch reduziert, dass der Verfasser sich nach einigen Seiten als Vater des jungen Mannes offenbart und von der dritten Form Singular in die Ich-Form wechselt. Die Ursache für den Wahnsinn wird bereits in dem einleitenden Satz, als zu große Anstrengung vor mehreren Schulprüfungen angeführt. Die weitere Erzählung baut zunächst einen Kontrast zu der positiven Eingangsbeschreibung auf, indem der Wahnsinn mit sozialen und religiösen Themen verknüpft wird. Insbesondere das oft ausfallende und aufbrausende Verhalten gegenüber seinem Vater steht im Gegensatz zu den einführenden Sätzen. Zudem zweifelt der Sohn nach seiner Lektüre von Voltaire und Lessing an der Existenz Gottes. Auch der erwachte „Liebestrieb“ 189, den er mit dem Dienstmädchen ausüben will und seine „onanistische[n] Wollusttriebe“ 190 werden als Symptom der Krankheit aufgeführt. Der Verlauf der Krankheit wird der Krankengeschichte entsprechend von Tag zu Tag berichtet. Die Behandlung findet zuhause statt und ist teilweise brutal, denn der Sohn wird gefesselt und geschlagen. Die Fallbeschreibung gibt diese ‚hässlichen‘ Seiten des Wahnsinns ausführlich wieder: Ich redete ihm zu, und besänftigt ihn wiederum, allein gegen Morgen bei dem immer zunehmenden Schmerz brach er in laute Klagen und Schimpfen aus, wollte sich losmachen, und als

187 [Anonym]: Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem dreimonathigen Wahnwitz. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, 2. St. (1785), S. 15–58. Moritz stellt in seiner ersten Revision der Beiträge fest, dass die meisten davon sich mit dem Wahnwitz beschäftigen (vgl. Moritz: Revision der ersten drei Bände dieses Magazins, S. 2). 188 [Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 15. 189 [Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 29. 190 [Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 34.

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er Widerstand fand, wüthete er gegen den Wächter, stieß mit dem Kopf an die Wand, und da sein Bett frei gestellet wurde, erboßte er sich so, daß er um sich biß und spuckte, so daß noch ein Wächter herzu geholt werden mußte. […] Als den dritten Tag früh der Arzt sich ihm näherte, spuckte er ihn an […]. Den Tag über stieß er öfters Schaudern erregende Reden aus gegen Gott und Menschen, und uns Eltern vermaledeyte er bis in Abgrund, […] spuckte jedermann an, versuchte, sich in die Arme zu beißen, auch in die Zunge, jedoch da er Schmerz fühlte, […] ließ er hiermit nach.191

Neben psychischen und moralischen Symptomen hat der Wahnsinn auch körperliche Äußerungsweisen, die sich in ähnlichen Symptomreihungen zeigen wie in den Fallbeschreibungen rein körperlicher Krankheiten: Der junge Kranke war mit einer Schwere im Kopf befallen, empfand Beängstigungen in der Brust, Trägheit in allen Gliedern, bekam einen vollen, langsamen, harten Puls, die Ausleerungen des Körpers wurden wenig und selten, der Appetit zum Essen geringer, der Nachtschlaf abwechselnd sehr unruhig und kurz, bald sehr tief und lang anhaltend.192

Die Therapie mit Aderlässen, spanischen Fliegen und Kliestieren richtet sich an einem humoralpathologischen Körperverständnis aus. Besserung tritt nach zahlreichen Aderlässen und Öffnungen ein, so dass also das Abführen von Körperflüssigkeiten die Genesung einleitet. Auch hier wird durch die Humoralpathologie eine Sinnschablone zur Verfügung gestellt, in welche die Zeichen der Krankheit eingeordnet und somit zu einer ‚Geschichte‘ verknüpft werden können. Hinzu tritt das Paradigma des ‚ganzen Menschen‘ und somit ein Narrativ der zeitgenössischen Anthropologie. Die Erzählung des Vaters schließt mit einer kurzen Rekapitulation der Ursachen, zu denen er den eingangs erwähnten Ehrgeiz in der Schule sowie den Tod eines Freundes, weitere Vorfälle, die das empfindsame Herz des Sohnes getroffen hätten, überspannte Nervenfibern und weitere Einflüsse des Körpers auf die Seele zählt: „Der körperliche so wie der geistige Theil des Menschen sind beides Theile eines Ganzen, und stehen folglich in der genauesten Verbindung miteinander.“ 193 Wie Yvonne Wübben schreibt, konterkariert diese Ausrichtung an zeitgenössischen Narrativen, den Anspruch ausschließlich Fakten zu sammeln.194 Um die beobachteten Kleinigkeiten sprachlich zu vermitteln, bleibt die Orientierung an übergeordneten Systemen, welche die Symptome zur Geschichte einer Krankheit zusammenfügen, trotz aller Insistenz auf der empirischen Erfahrung notwendig und die Gattung stellt hierfür ein etabliertes Schema zur Verfügung. Auffällig ist, dass der Konflikt mit dem Vater zusammen mit körperlichen Aspekten und den topisch überanstrengten Geisteskräften im Zentrum der Wahn-

191 192 193 194

[Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 30–32. [Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 15. [Anonym]: Genesungsgeschichte, S. 58. Vgl. Wübben: Vom Gutachten zum Fall, S. 154.

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sinnserkrankung steht. Die bürgerliche Familie ist der Schauplatz des Wahnsinns und der Konflikt mit dem Vater ist ein Zeichen der pathologischen Abweichung. Mit dem Überstehen der Krankheit ordnet sich der Sohn auch in ein bestimmtes familiäres und gesellschaftliches Gefüge ein, so dass der Wahnsinn als Stufe erscheint, die beim Erwachsenwerden durchlaufen wird. Diese Konzeption einer psychischen Krankheit als eine Stufe der Adoleszenz findet sich in mehreren Fallgeschichten im Magazin und zeigt die Interdiskursivität dieser Berichte, die medizinische und pädagogische Themen integrieren. Insbesondere die Hypochondrie und die sogenannte ‚Theatersucht‘ oder ‚-wut‘ sind häufig Krankheiten, die überwunden werden müssen, da sie den bürgerlich-gesellschaftlichen Anforderungen wie Fleiß und Produktivität entgegenstehen und sich durch eine überreizte Einbildungskraft auszeichnen. Diese Konzeption der Krankheit als Stufe, die durchlaufen werden muss, findet sich in Moritz’ Beitrag „Ein unglücklicher Hang zum Theater“ 195, der im vierten Band durch den Abdruck mehrere Briefe des Theatersüchtigen ergänzt wird 196 sowie einer weiteren „Geschichte eines unglücklichen Hangs zum Theater“ 197. Die Sucht, Theateraufführungen und insbesondere Komödien zu sehen, sowie die fixe Idee, selbst zum Theater zu gehen, befallen in diesen Beispielen junge Männer, die jedoch später die Schädlichkeit dieser Vorhaben selbst erkennen. Die Theatersucht steht dabei in enger Verbindung zur Hypochondrie und deutet eine zu reizbare Einbildungskraft an. Die Diagnose ‚Theatersucht‘ baut auf der besonderen Beziehung dramatischer Gattungen zur Einbildungskraft auf, die durch die unmittelbare Theaterdarstellung potenziert wird. Die Thematik findet sich auch in Moritz’ psychologischem Roman Anton Reiser. Auf diesen Konnex von Krankheit – Theater – Schauspieler und Zuschauer wird im Kapitel 5 Gespielte Leiden noch zurückzukommen sein. Während für die Wahnsinnsdarstellungen in der „Genesungsgeschichte eines Jünglings“ das Muster der Krankengeschichte genutzt wird, strukturieren in anderen Fallbeispielen von Wahnsinn andere Gattungsformen die Thematisierung der Krankheit. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Gattung wird dabei auch der Fokus der Darstellung verschoben, was den Einfluss der Gattung zeigt. Das bereits bei der Analyse von Reils Rhapsodieen erwähnte „Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden 1787 im November“ 198 folgt zum Beispiel dem um 1800 beliebten Topos des Irrenhausbesuchs. Der Irrenhausbesuch findet sich seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts bis ins neunzehnte Jahrhundert sowohl in Reise-

195 Moritz: Ein unglücklicher Hang zum Theater. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, 1. St. (1785), S. 117–125. 196 Pockels: Noch einige Belege zum Aufsatz: ein unglücklicher Hang zum Theater. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, 1. St. (1786), S. 85–109. 197 Mauchart: Eine Geschichte eines unglücklichen Hangs zum Theater. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, 3. St. (1789), S. 106–116. 198 Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden, S. 90–125.

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berichten wie diesem als auch in fiktiver Form in Romanen199 und folgt einem grundlegenden Muster bestehend aus Reise – Ziel der Besichtigung – Lage und Art der Gebäude – Unterbringung und Versorgung – Führung durch die verschiedenen Abteilungen – Vorführung von einzelnen Fällen – wechselnde Empfindungen des Besuchers und allgemeiner Stellungnahme.200 Der Verfasser des Reisetagebuches Ludwig Albert Schubart 201 berichtet, wie er als letzte der Merkwürdigkeiten einer Stadt das Irrenhaus besucht und sich vom Arzt H*202 herumführen lässt: „Mein Freund H*. erzählte uns, als er uns an den verschiedenen Gemächern herumführte, manche interessante, psychologisch wichtige Geschichte von Unglücklichen, die wir sahen.“ 203 Das Substantiv „Unglückliche“ impliziert den „aufgeklärt-empfindsamen“ 204 Umgang mit Wahnsinnigen. Zugleich sind jedoch typisierend-literarische Tendenzen zu erkennen: Wir stiessen ein paarmal auf so barokkische Hanswurstfiguren, daß mich mitten unter den traurigsten Vorstellungen unwillkürlich ein Kitzel zum Lachen anwandelte. Der eine hatte ein paar Beinkleider auf seine Pritsche gelegt, und zerdrosch den Großsultan, den er unterm Hammer zu haben wähnte, so unbarmherzig, daß Se. Türkische Majestät wie mürber Zunder aus einander fuhren; − Der andere las einen bemützten Haubenstock; den er für Gott den Vater hielt, wegen einer zerbrochene Flasche, den Leviten zu kräftig, daß ihm die Mütze vom Kopf flog, dort massakrierte einer als Alexander Magnus mit seinem Pantoffel alle Fliegen seiner Klause, und wähnte eben so viele Perser erwürgt zu haben.205

Der Wahnsinn erscheint in dieser Übersicht als eine Form von ‚Narrheit‘, die komisch wirkt. Nach diesem Einstieg wird die Perspektive jedoch auf die Darstellung des Falles eines „rasenden Magister[s]“ 206 verengt und wechselt in einen empfind-

199 Vgl. zu diesem Topos grundlegend: Alfred Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzonie: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora 42 (1982), S. 82–110. Zudem: Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 68–79; Hillen: Die Pathologie der Literatur, S. 67 f.; Gerhard Aumüller, Natascha Noll und Irmtraut Sahmland: „Trotz der geringen medicinischen Pflege geschieht es doch, das einige genesen“ – Eine Reise in die Lebenswelt von Wahnsinnigen während der Spätaufklärung. In: Nicolas Pethes und Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen: Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Berlin/New York 2008, S. 189–226. Berichte von Irrenhausberichten finden sich beispielsweise in Kleists Reiseberichten und in literarischen Darstellungen z. B. bei Spieß, Klingemann oder Tieck. 200 Vgl. Bennholdt-Thomsen/Guzzonie: Der Irrenhausbesuch, S. 88 f. 201 Vgl. zur Identifizierung von Ludwig Schubart, dem Sohn des Dichters Christian Friedrich Schubart als Verfasser des Tagebuches: Peter Sindlinger: Lebenserfahung(en) und Erfahrungsseelenkunde oder Wie der Württemberger Pfarrer Immanuel David Mauchart die Psychologie entdeckt. Nürtingen/Frickenhausen 2010, S. 325–327. 202 Friedrich Wilhelm Hoven, den Schubart vom gemeinsamen Studium an der Hohen Karlsschule kannte. Beide waren mit Schiller befreundet (vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 55). 203 Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden, S. 92. 204 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 68. 205 Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden, S. 92 f. 206 Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden, S. 93.

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sameren Ton. Wie die oben genannten Figuren leidet der junge Mann an einer fixen Idee, welche die ‚Realität‘ verdrängt hat; er hält sich nach intensivem Theologiestudium für ein grauenvolles Wesen aus Johannes’ Offenbarung. Der junge Mann wird in das Irrenhaus aufgenommen und zunächst im Haus des Aufsehers untergebracht. Zu seiner Therapie gehören eine strenge Diät, die auf Alkohol und Fleisch verzichtet, die Lektüre ‚leichter‘ Bücher wie englischer Romane, die der ‚Schwere‘ der Bibel entgegenstehen, und das Klavierspielen. Der Grund für seine Behandlung wird dem Kranken vorenthalten und der Arzt gibt vor, dass er an einer körperlichen Krankheit leide. Als es dem Kranken besser geht, wird ein Fest mit Freunden und Familie gefeiert. Beim Spaziergang erkennt der Geheilte jedoch die Gegend, die er aus seinem Zimmer sehen konnte und das Irrenhaus und erinnert sich daran, dass er als Wahnsinniger eingeliefert wurde. Er besteht darauf, sein altes Zimmer zu besichtigen, erleidet dort einen Rückfall und erschlägt seinen Vater. Der Auszug aus dem Tagebuch weicht vom Schema der Krankengeschichte ab. Es findet keine Dokumentation des täglichen Krankheitsverlaufes statt und die Interaktion der Handelnden wird in eingefügten Dialogen dargestellt, so dass ein höherer Grad an Unmittelbarkeit fingiert wird. Die Wendung, welche die Krankengeschichte nimmt, kommt plötzlich und unerwartet. In diesem tragischen ‚Umschlag‘ und der ‚ungehörten Begebenheit‘ des Vatermordes identifiziert Goldmann novellistische Einflüsse, welche die Darstellung des Krankheitsfalles überlagern.207 Während in der Krankengeschichte die ganze Wahnsinnserkrankung chronologisch dokumentiert wird, wird die Krankheitsdarstellung hier gerafft und von ‚interessanten‘ szenischen Elementen unterbrochen, bis sie in der dramatischen Wende kulminiert.

3.2.2 ‚Kalte Selbstbeobachter‘: Ich-Erzählung in der Krankengeschichte Gemeinsam ist den besprochenen Beispielen, dass der Kranke von außen wahrgenommen wird. Die von Moritz als Grundlage der Erfahrungsseelenkunde geforderte Selbstbeobachtung verlangt jedoch nach anderen Erzählsituationen, in denen der Kranke seinen eigenen Fall aus der Perspektive des „kalte[n] Beobachter[s]“ 208 berichtet. Die komplizierte Erzählsituation, die sich aus dem Versuch der Selbstbeobachtung und den Grenzen, die dieser gesetzt sind, ergibt, lässt sich anhand von Marcus Herz’ „Psychologischer Beschreibung seiner eigenen Krankheit“ 209 verdeutlichen. Herz, dessen Geschichte Reil als Beleg des Verlustes der einheitsstiften-

207 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 56 f. 208 Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde, S. 802. 209 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 2. St., S. 44–72.

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den Wirkung des Selbstbewusstseins im Zustand von Krankheit benutzt (siehe Kap. 2.2.1), beschreibt nach überstandener, schwerer Krankheit an einen teilnahmsvollen Freund, den Arzt Aron Joël in Königsberg210, der von der „Krankheit und ihren ganzen Gang“ 211 erfahren möchte. Der Brief des Arztes Herz lässt ebenfalls deutliche Muster der Krankengeschichte erkennen: Vorgeschichte und Diagnose werden eingeführt und die vom 18. Dezember 1780 bis zum 3. Januar 1781 dauernde Krankheit dann in ihrer zeitlichen Entwicklung inklusive Krisis und Metastasis berichtet.212 Der Fokus des Briefes liegt jedoch auf der Psychologie, wie bereits dessen Titel indiziert, der zudem den Aspekt der Selbstbeobachtung einführt. Durch die Briefform werden die Grenzen der Gattung Krankengeschichte gleichzeitig überschritten: Der Brief beginnt und endet mit einem rührend-empfindsamen Lob auf die Freundschaft des Adressaten. Der Verlauf der Krankheit wird bereits zu Beginn in Form einer Allegorie erzählt: Ich habe einen von allen Seiten betrachtet schrecklichen Sturm ausgehalten. Die Spitze des Mastes küßte schon die Wellen; das Fahrzeug leck; und die Kräfte der Arbeiter erschöpft. Noch einige Augenblicke, und es wäre geschehn gewesen: und auf einmal heitres Wetter, Windstille, die Arbeiter erholen sich; das Fahrzeug wird ausgebessert, und erwachend aus der Ohnmacht finde ich mich auf dem Trocknen!213

Die Sturm- und Schiffsmetaphorik erweckt den Eindruck größter Gefahr. Die einzelnen Arbeiter stehen für (körperliche und seelische) Kräfte des Individuums und der Sturm bezeichnet die Krankheit, die den ganzen Menschen bedroht, bevor er in letzter Minute gerettet werden kann. Herz problematisiert die Schwierigkeiten, seine eigene Krankengeschichte zu erzählen selbst, wenn er anmerkt, dass der Freund besser seine Ärzte gefragt hätte, denn Ich war den größten Theil der Zeit nicht ich, und den Uebrigen hielt meine Phantasie mich in einer ganz andren Welt, in einem ganz andren Zusammenhange der Dinge fest. Indessen so viel ich davon weiß, empfunden oder erzählen hören, will ich Ihnen mittheilen.214

Die Krankheit bedeutet eine Entfremdung vom eigenen Ich, die Herz dazu zwingt, die eigene Darstellung mit Berichten von anderen aufzufüllen, so dass eine komplizierte Erzählsituation entsteht, in der nicht immer eindeutig ist, wer spricht.

210 Joël hatte in Königsberg und Berlin Medizin studiert und u. a. bei Kant und Mendelssohn Vorlesungen gehört. Der im Magazin abgedruckte Brief, so lässt sich aus den angeführten Zeitangaben ableiten, entstand wahrscheinlich im Februar 1781 (vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 40). 211 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 45. 212 Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 40. 213 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 44. 214 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 45.

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Herz referiert zu Beginn die Diagnosen verschiedener Ärzte, die seine Krankheit als Faulfieber, Katarrhalfieber oder hitziges Nervenfieber bezeichneten und ihn angesichts der Bösartigkeit der Krankheit sofort aufgaben. Die Schwere der Krankheit wird so unterstrichen. Auch wenn der Leser bereits weiß, dass der scheinbar sichere Tod nicht eintrat, wird dennoch ein Spannungsbogen erzeugt, indem die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt wird, wie es kam, dass Herz dennoch überlebte. Herz skizziert als Hintergrund seiner Krankheit den Verlust des Gleichgewichtes, seiner körperlichen und seelischen Kräfte. Er arbeitete zu viel, musste zu viele Eindrücke verarbeiten, so dass schließlich seine Nerven geschwächt und seine Verdauung gestört war.215 Die nachträgliche Perspektive ermöglicht es Herz, seine Krankheit in zwei Epochen zu unterteilen, wovon die eine durch körperliche Krankheit aber volles Bewusstsein, und die andere durch wahnsinnige Phantasien und Raserei aber körperliche Stärke gekennzeichnet ist. Es folgt die Krisis, in der Herz fast tot ist, dann erneute Raserei und schließlich eine Metastasis der Krankheit und die Genesung. Der Bericht der körperlichen Krankheit ist der Gattung Krankengeschichte entsprechend chronologisch nach Tagen geordnet. Herz skizziert die einzelnen Symptome und deren täglichen Veränderungen. Hauptmerkmale seiner Krankheit sind ein „drückender Schmerz im Hinterhaupt“ 216, „Druck auf den Sehnerven“ 217, „Fieber im Puls“ 218 sowie Schlaf- und Appetitlosigkeit. Zusätzlich werden psychische Phänomene wie Niedergeschlagenheit und Gleichgültigkeit gegenüber Menschen und dem eigenen Leben vermerkt. Die Krankheit entzieht sich streckenweise dem Beschreibbaren: „Um sieben Uhr des Abends überfiel mich auf einmahl ein gewisses Krankheitsgefühl, das ich noch nie aus eigner Erfahrung kannte, und daß ich Ihnen auch nicht beschreiben kann.“ 219 Den Übergang von der bösartigen körperlichen Krankheit zur psychischen Krankheit markiert ein zweimaliger Stuhlgang: „Den 25ten Morgens überfiel mich nach einem Stuhlgange eine Entkräftung, die unbeschreiblich ist. Es war als wenn alle Nerven auf einmal abgespannt wurden, und aller Mark aus all meinen Gebeinen vertrocknet wäre.“ 220 Aus der nachträglichen Perspektive unterstreicht Herz seine Schwäche: „Das Gefühl meines Ich’s gleicht jetzt dem Selbstgefühl einer Mücke.“ 221 Gesundheit wird als Gleichgewicht verschiedener körperlicher Kräfte gefasst, die auch das Gefühl vom eigenen Ich bestimmen. Die körperliche Krankheit verändert daher die Art und Weise, wie sich das Ich in seiner Umwelt verortet.

215 216 217 218 219 220 221

Vgl. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 48. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 48. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 49. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 49. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 48 f. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 52. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 52.

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Herz geht dabei von einem gestuften Kosmos aus, in dem auch eine Blattlaus eine Bestimmung hat.222 Wenn die Krankheit ihn also auf das Gefühl einer Mücke reduziert, verursacht sie gewissermaßen einen Abstieg auf der Stufenleiter des Universums. Am Ende der ersten, sieben Tage dauernden Epoche seiner Krankheit und in einer überraschenden Wendung bekennt Herz, dass er keinerlei Erinnerung an diese sieben Tage hat: „Diese Tage sind gleichsam aus dem Tageregister meines Lebens gänzlich verloschen […]. Was ich Ihnen bis jetzt davon gesagt, ist bloß Erzählung meiner Aerzte und Freunde.“ 223 Dieser Einwurf zeigt die komplizierte Autorschaft der eigenen Krankengeschichte auf. Es ist nicht immer ersichtlich, wessen Wahrnehmung der Leser erfährt und woher die Beschreibungen von Körpergefühl und Schmerzen kommen, auch wenn impliziert wird, dass Herz sie selbst seinen Freunden und Ärzten mitgeteilt hatte und diese von ihnen nachträglich referiert werden. Durch die Unterteilung in zwei Epochen erhält die Krankheit eine eigene Struktur, die durch eine inverse Polarität gekennzeichnet ist: War die Erkrankung zunächst körperlich, ist die zweite Epoche insbesondere durch pathologische Wahrnehmungen gekennzeichnet, wobei diese auch körperlich sichtbar werden: Des Abends, von da sich die zweite Epoche meiner Krankheit anfing, änderte sich die Scene. Anstatt daß ich bis dahin mit völligem Bewußtseyn und vollständigem Gebrauch meiner Vernunft, bloß über körperliche Schmerzen, Ermattung und Unruhe klagend, lag; verloren sich jetzt alle diese Gefühle. Ich fühlte mich stark und schmerzlos, aber meine Seele bekam einen Stoß aus dem wirklichen Zusammenhang der Dinge. Die wahren Gegenstände um mich, und die Klarheit ihrer Wirkung verschwanden bis zur unsichtbarsten Entfernung. Die dunkelsten Scheine bloß, die sie zurückliessen, gaben meiner taumlenden Seele den Stoß, woraus sie sich eine ganz neue Verkettung der Begebenheiten, eine ganz neue häßliche, sie quälende Welt zusammensetze. Mein Puls hob sich, stieg bis zu 120 Schläge in einer Minute. Mein Gesicht ward roth; mein Auge glühend, und schrecklich heiter, eine Hitze durchwebte meinen ganzen Körper, und in meinem Gehirn befand sich eine Erleuchtung von vielen tausend Lampen. Ich rasete.224

Körperliche Schwäche und Schmerzen hören auf und stattdessen erkrankt die Seele, was Herz als einen gewaltsam und plötzlich induzierten Verlust von Zusammenhängen beschreibt. Unter Bezug auf den in der Einleitung eingeführten semiotischen Wahnsinnsbegriff kann die Krankheit hier als Wahrnehmungs- und Bezeichnungsfehler gesehen werden:225 Der normale Sinn wird ‚ver-rückt‘ und falsch wieder zusammengesetzt. Die kranke Seele erzeugt eine neue ‚Wirklichkeit‘, so dass die Wahrnehmung fehlerhaft wird. Durch die körperlichen Symptome wer-

222 223 224 225

Vgl. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 45. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 53. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 53 f. Vgl. Kohns: Verrücktheit des Sinns, S. 59 und S. 328 (siehe Kap. 1, S. 34).

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den die seelischen Leiden mit Attributen von Hitze, Fieber, Feuer und Licht verbunden. Die Metapher vom erleuchteten Gehirn zielt hier aber nicht im Sinne der aufklärerischen Lichtmetaphorik auf die Überlegenheit des Verstandes, sondern will gerade das Durcheinander und die Überreizung des Gehirns beschreiben. Im Gegensatz zu der ersten Epoche der Krankheit kann sich Herz an diese zweite Phase genau erinnern: „Ich könnte Ihnen phantastisches Bild, nach phantastischem Bilde, Thorheit nach Thorheit, an den Fingern herzählen, wenn es der Mühe lohnte, und ich ein Vergnügen darüber bei Ihnen vermuthen könnte.“ 226 Auch in Bezug auf die Erinnerung werden die Krankheitsphasen somit polar zueinander aufgebaut, wobei paradoxerweise die Phase der psychischen Wahrnehmungsstörungen und Rasereien im Gedächtnis geblieben sind, während die seelisch klaren Phasen der körperlichen Krankheit vergessen wurden. Dies ist die psychologische Besonderheit von Herz’ Krankheit.227 Herz diagnostiziert seinen Zustand als Raserei und erzählt drei Hauptthemen seiner Phantasien, in denen er Methode in ihnen wahrnehmen könne. Die ordnende Annäherung an den Zustand der Raserei ist durch Selbstbeobachtung möglich, erfolgt aber aus einer nachträglichen Distanz. Die schriftliche Aufarbeitung der Krankheit bringt so den Wahnsinn nachträglich unter Kontrolle, erklärt ihn und ordnet ihn ein. In der Remission verwechselt Herz weiterhin Einbildung und Realität: „Meine Einbildung verfertigte zwar keine neue phantastische Bilder, aber die während der Exacerbation verfertigten, hielt sie auch dann für wirkliche Naturdinge, in ihnen lebte und webte meine Seele immer fort.“ 228 Die Produktion der fixen Ideen gleicht der Herstellung von Bildern, welche die Seele erzeugt und für ‚real‘ hält. Die Tätigkeit des Webens wird traditionell als Metapher für den Vorgang des Dichtens verwendet, so dass die fixe Ideenreihe hier in die Nähe von Dichtung gerückt wird. Psychosomatische Begleiterscheinung der Wahnbilder ist das Fieber: Indessen sobald der Anfall des Fiebers wieder herankam, so war meine Stärke die Bilder zu unterdrücken verloschen; eine Wärme durchdrang meinen ganzen Körper, und auch meine ganze Seele; mein Gehirn ward wieder erleuchtet, und das ganze Schattenspiel drang sich mir wieder mit äusserster Lebhaftigkeit auf.229

Auch hier werden Raserei und pathologische Wahrnehmung mit Fieber, Hitze und Licht verknüpft. Die Rede vom Schattenspiel verweist darauf, dass die Realität verzerrt wiedergegeben wird und auf die Theatralität und Szenenhaftigkeit der produzierten Vorstellungen. Schließlich tritt der Patient in eine dritte Phase der Krankheit, die durch die Wiedererlangung des Bewusstseins, aber dem Verlust der Sprache gekennzeichnet ist und ihn an den Rand des Todes bringt: 226 227 228 229

Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 54. Vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 41. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 62. Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 63.

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Ich hatte mein Bewußtseyn, und wollte gerne mit meinen Aerzten sprechen, aber meine Zunge war völlig gelähmt. Ich hielt diesen Zustand ganz gewiß für die äusserste Grenze zwischen dem Reiche des Lebens und des Todes, und lag ruhig und zufrieden, die erwünschte Ueberfahrt erwartend.230

Das wiedererlangte Bewusstsein kann nicht sprachlich artikuliert werden. Die Sprachlosigkeit markiert die Grenze zum Tod, die Herz nachträglich dennoch verschriftlicht: Es überfiel mich in derselben eine ungemeine Schwäche, darauf folgten unwillkürliche stinkende Stuhlgänge; mein Bewusstseyn entwich, mein Puls verschwand; meine Augen verdrehten sich; ein kalter Schweiß bedeckte mich; ich schnarchte, röchelte, las Federn, zupfte an der Bettdecke, war steif, ungelenkig: ich befand mich in der wahren Agonie, der Vorstadt der Zukunft.231

Hier wird getestet, inwiefern das eigene ‚Sterben‘ erzählt werden kann. Der Verweis auf das entwichene Bewusstsein und die sich verdrehenden Augen implizieren eine Außenperspektive und lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass hier die Erzählung anderer Personen Grundlage des Textes ist. Zugleich erscheint der Bericht nicht als individuelle Wiedergabe des Sterbens, denn die verdrehten Augen zitieren das sogenannte „Hippokratische[ ] Gesicht“ 232 an, das der medizinischen Semiotik zufolge dem Tod meist vorausgeht. Herz ergänzt diese traditionellen Zeichen um zeitgenössisch diskutierte ‚Todesboten‘ wie das Zupfen an der Bettdecke, das in Rezensionen über die realistische Darstellung des Sterben von Lessings Sara Sampson durch die Schauspielerin Friederike Hensel als natürliches und typisches Anzeichen des nahenden Todes benannt wird.233 Der Versuch, das eigene Sterben zu beobachten, bleibt ein typisiertes, topisches Sprechen darüber, wozu auch die Schiffsmetaphorik gezählt werden kann, mit der Herz seine ruhig-freudige Erwartung ausdrückt. Die psychologische Fallgeschichte stößt hier an die Grenzen der Selbstbeobachtung, die sich aus der Ich-Perspektive ergeben. Die Agonie dauert zwei Stunden an, dann wird Herz durch das Auflegen einer spanischen Fliege „zurück in das Getümmel meiner phantastischen Welt gerissen“ 234. Die todesähnliche Erstarrung wird gehoben und der Zustand der Raserei tritt wieder ein. Die Wende in der Krankheit markiert die Verlegung des Krankenbettes in die Lesestube, worauf der rasende Herz besteht und in der Bilder von

230 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 63. 231 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 64. 232 Danz: Semiotic oder Handbuch der allgemeinen Zeichenlehre, S. 357. 233 Vgl. Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. Mit erläuternden Kupfertafeln. 1. Theil. Berlin 1785, S. 48 und insgesamt zur Sara Sampson unter dem Aspekt einer psychologisch-realistischen Körpersprache: Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, S. 117–151. 234 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 66.

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Wolf und Leibnitz hängen. Der Verweis auf die Bilder stilisiert die Genesung als Sieg der Vernunft über die Irrationalität der psychischen Krankheit, denn sobald der Kranke in das Zimmer verlegt wird, ist er geheilt: „Ich erwachte und weg war meine Krankheit, da mein völliges Bewußtseyn.“ 235 Dieses wiedererwachte Bewusstsein kommt ihm fremd vor: „Mein ganzes ich war mir nicht fühlbar, beinahe kam es mir vor, daß der Genesene ein ganz andres Subjekt neben mir wäre.“ 236 Krankheit bedeutet die Dissoziation des ganzen Ichs, das sich wahrnehmungspsychologisch auflöst. Der Hauptfokus von Herz’ Beschreibung liegt auf der Frage, was mit der Seele während der Krankheit passiert. Dieser Versuch, die eigene Seele in verschiedenen Extremsituationen zu beobachten, findet sich auch in anderen Beiträgen des Magazins.237 Insbesondere die Beschreibung der eigenen Agonie verdeutlicht, wie erprobt wird, wie weit der rational, zergliedernde Blick in das eigene Innere gehen kann, das sich der Fremdbeobachtung entzieht. In einem Brief an Sulzer, der im Magazin abgedruckt wird, beschreibt Johann Joachim Spalding238 einen Moment bei der Arbeit, in dem er plötzlich nicht mehr die richtigen Worte sprechen und schreiben kann. Auch der Versuch, die Worte Buchstabe für Buchstabe aufzuschreiben, bringt sie nicht hervor und Bemühungen zu sprechen produzieren nur falsche Ausdrücke, die nicht zu seinen Gedanken passen. Dennoch bleibt Spalding ruhig, konzentriert sich auf moralische und religiöse Glaubenssätze und wartet, bis der Moment der Sprach- und Schriftlosigkeit vorbeigeht: Es war eine gute halbe Stunde hindurch eine tumultuarische Unordnung in einem Theile meiner Vorstellungen, in welchen ich nichts zu unterschreiben vermogte; nur daß ich sie ganz zuverläßig für solche Vorstellungen erkannte, die sich mir ohne und wieder mein Zuthun aufdrängten, deren Unwichtigkeit ich einsahe, auf deren Wegschaffung ich arbeitete, um den eignen und besseren Ideen, deren ich mir im Grunde meiner Denkkraft bewußt war, mehr Luft und Raum zu schaffen.239

Die Unordnung wird als fremde Macht dargestellt, die sich ohne Zutun aufdrängt und in das gesunde Ich eindringt, die aber dennoch ebenfalls ein Teil des Ichs 235 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 70. 236 Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit, S. 70. 237 Vgl. auch Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 42. 238 Johann Joachim Spalding: Ein Brief an Sulzern über eine an sich selbst gemachte Erfahrung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 2. St. (1783), S. 38–43. Spalding (* 1714 Tribsees † 1804 Berlin) war Konsistorialrat in Berlin und Theologe (vgl. Joachim Gessinger: Sprachkrankheiten. Moses Mendelssohns Analyse einer Sprachstörung Johann Joachim Spaldings. In: Dickson/ Goldmann/Wingertszahn [Hg.]: „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, S. 189). Spalding verfasste den Brief an Sulzer 1772. Im Magazin ist er mit einer „Nachschrift“ abgedruckt. Der Beitrag löst über Jahre hinweg Kommentare und Reflexionen aus (vgl. dazu Gessinger: Sprachkrankheiten, S. 194–212). 239 Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 39.

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zu sein scheint. Das „eigentliche denkende Wesen“ 240 bleibt trotz des „fremden Andranges und Gewirres im Kopf“ 241 intakt. Durch den Verlust von Sprache und Schrift kann sich dieser rationale und gesunde Teil des Ichs jedoch nicht mehr äußern und wird somit nach außen hin unsichtbar. Die Krankheit wird nur auf Bezeichnungsebene erkennbar. Spalding tröstet sich damit, dass seine Gedanken und Grundsätze noch dieselben sind und sich von dem „ungestümen Spiel des Gehirns“ 242 absondern können. Er nimmt die Position des von Moritz geforderten ‚kalten Beobachters‘ ein, wodurch das Ich in mehrere Bereiche unterteilt wird. Gesundheit und Verstand werden mit Sprache und Schrift verbunden, der Verlust von ihnen zeigt die Dominanz eines anderen Bereichs des Ichs an, ohne dass dieser das bewusste Ich ganz verdrängen kann, das sich noch immer selbst beobachten kann. Nach einer halben Stunde tritt Besserung ein, die mit den Attributen Helligkeit, Klarheit und Licht verbunden wird: Nach der vollen halben Stunde fing nach und nach mein Kopf an, heller und ruhiger zu werden; die fremden, mir so überlästigen Vorstellungen wurden weniger lebhaft und brausend; und ich konnte das, was ich aus meinem eigenen Grunde denken wollte, schon mit schwächerer Unterbrechung von jenen, mit etwas mehrerer Klarheit und Ordnung duchsetzen.243

Das Irrationale wird als fremd gekennzeichnet. Das Verb ‚brausen‘ evoziert – wie in den Texten von Reil und Herz – die Krankheit als Sturm, die das Individuum überleben muss. Der Beitrag endet mit der Formulierung des ‚Allgemeinen‘, wofür Spaldings Darstellung ein Fallbeispiel ist, und das er selbst durch seine Erfahrung bestätigt sieht. Er liest voller Befremdung die unzusammenhängenden Worte, die er während seines Anfalls geschrieben hatte und die gewissermaßen der materiell-textliche Beleg seiner Störung sind.244 Anschließend diagnostiziert er die Episode als Anfall von Wahnwitz oder als „Verstandesverrückung“ 245. Sie spielt sich auf der Sprach- und damit auf der Zeichenebene ab, denn die Relation von Sprache und Gedanken stimmt nicht mehr. Es ist daher möglich, so reflektiert Spalding, dass ein scheinbar Wahnsinniger „im Sprechen wahnwitzig“ erscheint, obwohl er es im „Denken nicht ist“ 246. Der Verfasser endigt seinen Beitrag mit der Vermutung, dass das Gehirn in verschiedene Teile unterteilt ist und daher partiell gestört sein kann

240 241 242 243 244 245 246

Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 39. Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 40. Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 40. Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 41. Vgl. Gessinger: Sprachkrankheiten, S. 189. Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 42. Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 43.

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und leitet davon die Frage nach dem Kern des Ichs ab: „Und welcher […] sagt denn: ich?“ 247 In den beiden Beispielen beschreiben die Verfasser nachträglich ihr eigenes seelisches und wahrnehmungspsychologisches Inneres während der Krankheit. Der Blick ist auf die vieldiskutierte Grenze von Sichtbarem und Unsichtbarem gerichtet.248 Während dies in den Krankengeschichten des Journals eine körperliche ist, geht es bei Herz und Spalding um eine seelische innere Grenze. Dabei gerät der Übergang zwischen Leben und Tod in den Blick. Versuche, das Jenseits sichtbar zu machen, können den Bemühungen zugerechnet werden, das Unsichtbare wahrzunehmen.249 Das Experimentieren mit dieser Grenze zeigt der Beitrag „Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette“ 250, in dem „ein Fragment von Bemerkungen über sich selbst, die der Selbstbeobachter in seiner letzten sehr schweren Krankheit gemacht hat“ 251 wiedergegeben wird. Anders als Herz’ und Spaldings Beiträge sind diese Beobachtungen durch eine Einleitung und Fußnoten des Einsenders Hufeland gerahmt. Die Einleitung stellt den Kranken als Mann vor, der die Selbstbeobachtung als wichtigsten Weg zur Selbsterkenntnis und -beherrschung schätzte und seine Fähigkeiten darin gezielt ausgeprägt hatte: Er hielt die Kenntnis des innern Zustandes seiner Seele und das Vermögen, jede Veränderung derselben schnell und richtig zu bemerken, für eine der edelsten Fähigkeiten der Menschen, für ein grosses Mittel zur Tugend […]. Doch warum laß ich ihn nicht selbst reden […]. Hier sind also seine eignen Worte.252

Nach dieser Hinleitung werden R.s eigene Gedanken zur Selbstbeobachtung im direkten Zitat wiedergegeben, die jedoch immer wieder durch Anmerkungen des Einsenders unterbrochen werden, in denen dieser R.s Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung und die daraus resultierende Tugend hervorhebt. Nachdem dies etabliert ist, berichtet Hufeland von der Erkrankung von R.: Dieser Mann bekam nun den 10ten Juni 1781 frühmorgens den ersten Blutsturz, nachdem er vorher einige Tage an einem leichten Schnupfenfieber erkrankt war. Sobald nun sein Körper

247 Spalding: Ein Brief an Sulzern, S. 43. 248 Vgl. Stafford: Body Criticism, S. 1; Vgl. zum Austesten dieser Grenze auch Schumacher: Der „wunderbare Sinn“ zwischen Experiment und Text, S. 1–20. 249 Vgl. Schumacher: Der „wunderbare Sinn“ zwischen Experiment und Text, insb. S. 1 f. und S. 19. Daher genießen Fälle von Scheintoden und Wiederbelebungen um 1800 eine besondere Anziehungskraft: vgl. z. B. das Beyspiel einer sonderbaren Ohnmacht eingereicht von Pockels (in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, 3. St. [1787], S. 15–17). 250 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, 2. St. (1785), S. 63–79. 251 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 63. Als Einsender dieses Beitrages ist Hufeland identifiziert worden. R. ist wahrscheinlich dessen Schwager Ernst Adolf Weber (vgl. Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle, S. 42 f.). 252 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 63 f.

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einigermaßen in Ruhe war, so nahm seine Aufmerksamkeit wieder ihre gewohnte Lieblingsrichtung auf den innern Zustand seiner Seele an (wie man aus den nachfolgenden Blättern sehen wird).253

Es folgt eine raffende Skizze der Krankheit unter Angabe der zeitlichen Dauer, die der Verständlichkeit der beigefügten Selbstbeobachtungen dient,254 die, so Hufeland, „die grosse Herrschaft des Körpers über die Seele“ 255 beweisen. Mit dieser Aussage lenkt er die Lesererwartungen bereits in eine bestimmte Richtung. Dies wird durch die eingefügten Fußnoten verstärkt, welche die nun folgenden „Bemerkungen über mich selbst in meiner Krankheit, die den 10. Junius 1781 anfing, von R.“ ergänzen, auch wenn Hufeland anführt, damit nur Fingerweise für bestimmte Gedanken geben zu wollen. Die Fußnoten unterlegen die Beobachtungen von R. mit medizinischen Erklärungen. R. stellt fest: „erstaunlicher Einfluß des Körpers! Sobald der Körper sich am 10. Jun[i] durch den Auswurf des Bluts erleichtert hatte, war auch die Seele unbefangen und heiter.“ 256 Der Einsender ergänzt in einer Fußnote die Erklärung, dass das Gehirn zuvor durch das viele Blut in seiner Beweglichkeit behindert war und verweist auf Platners Theorie von der Beweglichkeit der sogenannten Lebensgeister im Gehirn.257 R. analysiert in seinem Text die Empfindungen der Seele und den Einfluss des Körpers. Dabei wird wie in der Krankengeschichte jede Kleinigkeit registriert, zum Beispiel wann Hunger empfunden wird, der Puls hochgeht und wann nicht. Die Selbstbeobachtung ermöglicht scheinbar einen Blick in die Tiefe des seelischen Inneren, der durch Fremdbeobachtung nicht möglich wäre. So beklagt der Kranke, dass seine Seele voller „Unmuth und Verdrießlichkeit“ 258 sei und bekennt: „Ich würde mich unendlich schämen, wenn zu solcher Zeit ein Mensch meine Seele hätte sehen können.“ 259 Nur der Selbstbeobachter kann seine Empfindungen erkennen und sie durch seine Kontrolle beurteilen und einordnen und auch daran hindern, an der Oberfläche sichtbar zu werden. Dem eigenen Sterben nähert sich der Selbstbeobachter an, indem er seine Gefühle gegenüber dem Tod analysiert. Er diagnostiziert seine Seele als gereizt, was Hufeland in einer Fußnote wieder mit der Bewegung des Nervengeistes erklärt.

253 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 67. 254 Der Kranke ist zunächst in einem Zustand der Untätigkeit und Unbeweglichkeit, dann bessert sich die kranke Lunge und Ruhe- und Diätvorschriften werden gelockert (in dieser Zeit schreibt er die Blätter); es folgen Auszehrung und Schwäche (in dieser Zeit schreibt er nichts mehr), dann wiederum Lebhaftigkeit, die sich mit zunehmenden Nervenfieber zur Phantasterei steigert; danach schläft er und verstirbt am 26. August (R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 67–70). 255 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 70. 256 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 71. 257 Vgl. R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 71. 258 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 74. 259 R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 74.

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Hufelands Anmerkungen erläutern die unmittelbare Selbstbeobachtung des Patienten, die so durch Fremdbeobachtung ergänzt und in Diagnosen und Erklärungsmodelle eingeordnet wird. Der Text endet mit einem Beitrag von R. vom 12. Juli über die Schwierigkeit, die Seele auf den Tod vorzubereiten.260 Während in den beiden ersten Beispielen die kranken Personen nachträglich ihre Selbstbeobachtungen beschreiben und erklären, wird in diesem Text die homodiegetisch-intradiegetische Selbstbeobachtung durch extern fokalisierte Kommentierungen und Erklärungen gerahmt und dadurch erst erklärt.261 Diese Struktur findet sich insbesondere in Beiträgen, in denen Ego-Dokumente wie Tagebücher, Briefe oder Lebensbeschreibungen von (psychisch) Kranken wiedergegeben werden, die Krankheit also gerade am Text selber ablesbar ist, so etwa in den Ausschnitten aus „M. Adam Bernds Lebensgeschichte“ im fünften Band des Magazins.262

3.2.3 Zum Fall machen: Adam Bernds Lebensgeschichte Adam Bernd war ein evangelischer Pfarrer und ab 1712 Oberkatechet und Prediger in Leipzig. Wegen seiner Schrift Einfluß der göttlichen Wahrheiten in den Willen / und in das gantze Leben des Menschen wurde er 1728 suspendiert. 10 Jahre später veröffentlichte er seine Eigene Lebens-Beschreibung. Den Bezug zur Pathologie stellt Bernd in seiner Vorrede selbst her, wenn er schreibt, seine Autobiographie habe das Ziel, „den leiblichen und geistlichen Aerzten Materie an die Hand zu geben“ 263. Ausschnitte aus Bernds Schrift erscheinen im ersten und zweiten Stück des fünften Bandes. Der Einsender Pockels greift aber erheblich in den Text ein, lässt Passagen heraus und fügt unterschiedliche Formen der Kommentierung ein. Bevor er Bernds eigene Intention zitiert, diagnostiziert er diesen als Hypochonder und betont dabei zugleich das ‚Sonderbare‘ des Falls: Dieser Gelehrte, welcher 1676 zu Breslau von geringen Eltern geboren war, und 1748, nachdem er mehrere Jahre vorher seine Predigerstelle wegen verschiedener Irrlehren hatte niederlegen

260 Vgl. R.: Eine Selbstbeobachtung auf dem Todbette, S. 79. 261 Die erzähltheoretischen Begriffe werden nach Matías Martínez und Michael Scheffel verwendet: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005. Um eine erzählerische ‚Übersicht‘ auszudrücken, in der der Erzähler räumliche und zeitliche Geschehen sowie das Innenleben der Figuren überblickt, wird auch der Begriff ‚auktorial‘ benutzt. 262 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 103–127 und 2. St., S. 17– 39. Ein weiteres Beispiel ist der anonym eingesendete Beitrag Verschiedener Grad des Wahnwitzes in zwei Originalbriefen (In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, 2. St. [1783], S. 96–99). 263 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 103 f. Vgl. zu Bernds Autobiographie im Kontext von Hypochondriediskursen im achtzehnten Jahrhundert: Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 138–141.

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müssen, zu Leipzig starb, gehört mit zu den sonderbarsten Hypochondristen, deren Geschichte der Welt bekannt geworden ist.264

Die Zusammenführung des Adjektivs „sonderbar“ und der Diagnose Hypochondrie lässt die Spannung der Fallgeschichte zwischen Besonderem und Allgemeinem in der argumentativen Anordnung von Pockels Erläuterungen erkennen. Das Zusammenfügen von Ausschnitten aus der Lebensgeschichte und den Rahmungen durch den Einsender ermöglicht es, dass das von Moritz geforderte Faktensammeln und die Interpretation in einem Beitrag stattfinden. Die Hypochondrie ist seit der Antike eine der am meisten diskutierten Krankheiten, die sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Art ‚Modekrankheit‘ entwickelt.265 Die ‚Krankheitseinheit‘ Hypochondrie ist dabei seit jeher variabel und schwierig von anderen Krankheiten abzugrenzen, so dass sich an ihr sozio-historische Einflussfaktoren auf bestimmte Krankheitsvorstellungen besonders gut erkennen lassen. Im Unterschied zum aktuellen Verständnis der Hypochondrie wurde diese von der Antike an zu allererst als eine somatische Krankheit angesehen, die von Störungen des ‚Hypochondriums‘, das heißt den Organen des Oberbauchs ausgehe.266 Im achtzehnten Jahrhundert wird sie mit einem Komplex an verschiedenen Erklärungsmustern begründet: „Die nächsten Ursachen sind, entweder, eine Schwäche des Magens und der Gedärme, eine geschwächte und widernatürlich beschaffene peristaltische Bewegung des Magens und der Gedärme, und eine üble Verdauung nur noch alleine; oder auch ein stockendes schwarzgallichtes melancholisches Blut, […] oder auch eine schwarzgallichte Materie in den Falten des Magens und der Gedärme zugleich.“ 267 Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts treten neben die humoralpathologischen neuropathologische Erklärungsansätze, in denen die Krankheit mit zu empfindlichen oder zu beweglichen Nerven begründet wird, ohne dabei die traditionellen Erklärungsmuster gänzlich abzulösen. Die Bewegung des Nervensaftes in den Nervenbahnen entspricht hier dem falschen Fließen der Säfte.268 Hinzu kommen 264 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 103. 265 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S 125. Vgl. zum Begriff der ‚Modekrankheit‘ auch Hörisch: Epochen/Krankheiten, S. 21–44. 266 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 125 f. 267 Johann Ulrich Bilguer: Nachrichten an das Publikum in Absicht der Hypochondrie. Oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Aerzte als vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folge betreffende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, daß die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und daß sie eine Ursache der Entvölkerung abgeben kann. Kopenhagen 1767, S. 1 f. 268 Vgl. Stefan Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727–1799). Würzburg 1990, S. 24. Bilger zeichnet anhand Johann August Unzers Schriften zur Hypochondrie eine sich wandelnde Vorstellung von der Hypochondrie als Säfte- und Organkrankheit zur Nervenkrankheit nach. Während Unzer in seinen frühen Schriften in der einflussreichen Zeitschrift Der Arzt (1759–64) Fehler der Verdauung für die Hypochondrie verantwortlich macht, führt er sie in seinem späteren Medizinischen Handbuch (1789) ausschließlich auf

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psychopathologische Erklärungen, in denen die Hypochondrie auf eine undurchdringbare Verschränkung körperlicher und psychischer Ursachen und Wirkungen zurückgeführt wird: „Diese Krankheit besteht daher in einer kranken Gemüthsund Leibesbeschaffenheit zugleich; und diese wird hervorgebracht, von gar mannichfaltigen, sowohl moralischen als physicalischen Ursachen.“ 269 In diesen Erklärungsmodellen wird die Hypochondrie dabei vielfach von einer ‚verdorbenen‘ oder ‚gestörten‘ Einbildungskraft verursacht.270 Die Figuren des ‚Verdorben-Seins‘ und der ‚Störung‘ werden hier von somatischen Vorgängen, wie der Verdauung oder den Säften, auf die psychische Kategorie der Einbildungskraft verschoben. Gleichzeitig ist die Hypochondrie Thema der Diätetik, in der eine maßvolle und tugendhafte Lebensführung propagiert wird. Die Hypochondrie steht hingegen für Maßlosigkeit, Kontrollverlust und einer zu stark wirkenden Einbildungskraft, die permanent Leiden produziert, die von dem Hypochonder als real wahrgenommen werden. Die Diagnose der Hypochondrie fällt Pockels auf Grundlage des autobiographischen Textes, der selbst Ausdrucksform der Krankheit ist: „Man kann den Hypochondristen auf keiner Seite seines Buchs verkennen. Der übrige Theil seiner Vorrede ist mit vieler Animosität gegen seine Feinde geschrieben; oft stichelt er sogar auf sich selbst.“ 271 Noch interessanter als die Beobachtung dieses Hypochondriefalles seien aber, so Pockels, die Beobachtungen über psychologische Wahrnehmungsvorgänge, den Einfluss der Kindheitserfahrungen sowie die Wirkungsweisen der Einbildungskraft und Defizite der Vernunft, die anhand des Textes gemacht werden können.272 Durch die Diagnose und die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Kindheit und Einbildungskraft wird die Autobiographie zum Fall, durch den allgemeine Regeln erforscht werden können. Mit einem ähnlichen Gestus wie Hufeland leitet Pockels dann die direkte Wiedergabe des Textes ein: „Doch der Verfasser mag von jetzt an selbst reden.“ 273 Entgegen dieser Ankündigung greift der Einsender jedoch weiterhin stark in die vorliegende Lebensbeschreibung ein, aus der er weite Passagen herausnimmt und Kommentare einfügt. Diese können sehr knappe Sätze sein, die in den Text

nervliche Störungen zurück (vgl. Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 93). Schreiner betont dagegen, dass der Schlussfolgerung, bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts hätte sich die Nerventheorie oder eine Psychologisierung der Hypochondrie durchgesetzt, viele Autoren entgegenzuhalten seien, die noch deutlich später auf die Verdauung als Krankheitsursache zurückgreifen (vgl. Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. München 2003, S. 70). 269 Bilguer: Nachrichten an das Publikum in Ansicht der Hypochondrie, S. 1 f. 270 Vgl. zum Konzept der „verdorbenen“ Einbildungskraft: Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 71. 271 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 104. 272 Vgl. Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 105. 273 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 105.

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Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle

Bernds integriert und durch Klammern abgegrenzt werden. Die Kommentare stellen einen Bezug zwischen dem individuellen Fall und der Diagnose ‚Hypochondrie‘ her, wie folgendes Beispiel zeigt: „Wer weiß, wie es dir noch gehen wird, dachte ich [Adam Bernd], und ob es nicht auch einmahl mit dir ein solches Ende nehmen wird. (Eine fast allgemeine Gewohnheit des Hypochondristen, sich all die Leiden einzubilden, die Andere gehabt haben).“ 274 Die individuelle Leidensbeschreibung wird so mit der allgemeinen Diagnose abgeglichen und bestätigt diese. Die eingefügten Kommentare können aber auch Wertungen enthalten, wie folgende Reaktion auf Bernds Lektüre zeigt: Meine Traurigkeit wurde noch größer, als ich Lipsii Buch de constantia in die Hände bekam, und solches durchlas. Der melancholische Stilus, in welchem das Tractätlein geschrieben, und insonderheit das Kapitel, in welchem von einem bösen Gewissen gehandelt wird, waren fähig meinen traurigen Humeur noch mehr zu erregen; und noch einen grösseren Eindruck in meine betrübte und bekümmerte Seele machte das verlorne Schäflein des Herrn Scrivers. (Daß doch alle solche abgeschmackte Bücher, welche schon manchen Menschen wo nicht ganz, doch halb verrückt gemacht haben, auf immer verbrannt werden möchten!).275

Neben diesen knappen Kommentaren unterbricht Pockels den Text auch mit längeren Sequenzen, die graphisch durch das Wegfallen der Anführungszeichen abgesetzt werden. Hier fasst er Vorkommnisse zusammen und etabliert eine bestimmte Perspektive auf die Beschreibungen von Bernd: Das wodurch sich das Leben unsers Hypochondristen mit am meisten auszeichnet, sind die schrecklichen Gewissensempfindungen über seine Jugendsünden*), die er aber nicht hat nennen wollen, und die Mittel, welche er oft auf die lächerlichste Weise angewandt hat, sich davon zu befreien. […] aber er wird doch immer wieder von neuem von seinen Seelenliedern [Seelenleiden?] befallen, bis er auf den Gedanken kommt, Gott ein Gelübde zu thun, und alle Woche einen Tag vom Morgen bis an Abend zu fasten. (Welche alberne Grillen sich doch nicht die menschliche Einbildungskraft erfindet! und doch war grade diese Grille eins der größten Beruhigungsmittel des Verfassers.) „Der unvermuthete und erwünschte Effekt dieses Gelübdes […], ist eines von den curieusesten Avantüren meines Lebens.“ 276

Das Pronomen „unsere“ baut Distanz ab und lässt in Verbindung mit der allgemein-typisierenden Bezeichnung des „Hypochondristen“ erneut das Spannungsverhältnis von Besonderem und Allgemeinem erkennen. Pockels Erläuterungen

274 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 113. 275 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 112 f. Justus Lipsius (* 1547 Overijse † 1606 Leuven) war ein niederländischer Philosoph und Philologe und Christian Scrivers (1629–1693) ein protestantischer Erbauungsschriftsteller (vgl. Dieter Peil: Zur „angewandten Emblematik“ in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr – Arndt – Fracisci – Scriver. Heidelberg 1978, S. 77). 276 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 111 f. Um die Funktionen der direkten Zitate in Pockels Beitrag zu verdeutlichen, werden diese in den Zitaten wie im Text mit Anführungszeichen aufgeführt.

Die psychologische Fallgeschichte im K. P. Moritz’ Magazin

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führen zu der Eigenrede von Bernd über und markieren diese bereits als naiv und lächerlich. Die Umwandlung des Lebensberichts in einen Fall bedeutet damit eine Verschiebung des Fokus, denn nicht mehr das individuelle Leiden steht im Mittelpunkt, sondern eine Einordnung und Bewertung desselben. Dazu passt auch, dass eine Fußnote das Wort „Jugendsünden“ ergänzt, in der erläutert wird, dass diese „heimliche Sünden der Wollusth“ 277 gewesen seien. Auch an anderen Stellen komplementieren Fußnoten den Text von Bernd, die sich oft über mehrere Seiten erstrecken. In ihnen werden allgemeine anthropologisch-psychologische Erklärungen der Verhaltensweisen und Vorstellungen Bernds gegeben. So wird seine Faszination und gleichzeitige Angst vor dem Selbstmord mit einer sich über drei Seiten erstreckenden Fußnote ergänzt, in der die häufige Parallelität von Abscheu und Begehren erörtert wird.278 Die Fixierung auf einen möglichen Selbstmord erklärt Bernd an anderer Stelle mit dem Einfluss des Teufels: „Doch das war nur Scherz und Spiel gegen die grausamern Anfälle des Satans*.“ 279 Pockels fügt hinter dem Verweis auf „Satan“ eine Fußnote ein, in der er heftig gegen den Glauben an das „Wunderbare“ wettert und dabei bestimmte religiöse Konzepte als pathologisch markiert: Die Neigung des Menschen zum Wunderbaren; das ihnen unerklärlich scheinende an gewissen unmoralischen Phänomenen ihres Herzens und ihrer Leidenschaften; ein mißverstandener Werth der Tugend und Gottesfurcht, den sie durch den Kampf mit höhern bösen Wesen zu erlangen scheint; vornehmlich aber auch eine finstere Gemüthsstimmung feurig denkender Religiosen und andern phantasie kranken Menschen – haben von jeher das Ihrige dazu beigetragen, die Lehre vom Daseyn und den Wirkungen eines bösen Geistes in Schutz zu nehmen, und trotz aller Vernunftgründe dagegen auszubreiten.280

Neben der pathologisierenden Kommentierung verändert Pockels den Text insofern, dass er weite Strecken tilgt. In Einschüben stellt er die Geschehnisse gerafft da und begründet die Auswahl der Stellen mit der Relevanz für die Erfahrungsseelenkunde: Ich übergehe jede Menge von Begebenheiten in dem Leben dieses sonderbaren Mannes, welches den reichhaltigsten Stof zu einem psychologischen Roman in sich enthält. Sehr viele Zufälle seines Lebens, so sonderbar sie auch immer seyn mögen, haben eigentlich keinen Bezug, wenigstens keinen sichtbaren, auf seinen ausserordentlichen Gemüthszustand, und gehören daher auch nicht in dieses Magazin.281

277 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 111. 278 Vgl. Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 118–120. 279 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 26. Vgl. zur Erklärung hypochondrischer Zwangsvorstellungen als Anfechtungen des Satans: Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 141. 280 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 26. 281 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 17.

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Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle

Pockels grenzt seine Bearbeitung von Bernds Lebensgeschichte von der Gattung des psychologischen Romans ab. Die Basis für diese Unterscheidung bildet die Verengung der Perspektive in der Fallgeschichte auf einen bestimmten Fragekonnex hin, der aus dem Kontext der Erfahrungsseelenkunde entsteht. Diese Distinktion unterstreicht die Stellung der Fallgeschichte zwischen Besonderem und Allgemeinem. Trotz dieser Abgrenzung vom psychologischen Roman folgt Pockels insgesamt der Chronologie von Bernds Lebensgeschichte und nimmt dabei oft eine ähnliche Stellung wie der Erzähler psychologischer Romane ein, indem er sich zum Experten über Bernds Inneres macht, wie folgendes Beispiel zeigt: „Die ersten Tage meines Lebens waren wohl ein recht Vorbild aller andern Tage und Jahre meines Lebens, die darauf folgen sollten. Wie mir meine Mutter und Geschwister vielmahls erzählt; so habe ich das erste halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan, als Tag und Nacht geweint und geschrien.“ (wahrscheinlich weil dem armen Jungen immer etwas fehlte).282

Das Wort „wahrscheinlich“ macht aus der Bewertung der Ursachen von Bernds permanentem Weinen zwar eine Vermutung, dennoch hat Pockels hier eine ähnliche Funktion wie die Erzähler der psychologischen Romane, welche die Empfindungen der Protagonisten einordnen können. Zu der Umwandlung der Autobiographie in eine Fallbeschreibung trägt der zweiseitige Beschluss bei, mit dem Pockels seinen Beitrag beendet. Er erstellt hier abschließend eine Anamnese: Grund für Bernds Leiden sei die Schwäche seiner Nerven gewesen, die aus der in der Jugend betriebenen Onanie resultiere und aus der Unterleibbeschwerden folgten, die sich zur Hypochondrie entwickelten. Die Einbildungskraft wirkte daher zu stark, so dass er alle möglichen Leiden für wirklich hielt. Nach der Anamnese von Bernds Krankheit schließt Pockels mit allgemeinen Worten zur Seele und empfiehlt ein Buch über die Hypochondrie. Die Umwandlung der Autobiographie in eine Falldarstellung wird durch die Verknappung des Textes, die Zuspitzung auf bestimmte Themenkomplexe, zu denen Adam Bernds Leben als Fall in Bezug gesetzt wird, und das Einziehen weiterer Textebenen, welche die homodiegetisch-intradiegetische Erzählweise ergänzen, erreicht. Ähnlich verfährt Pockels mit den Jugenderinnerungen von „Schaack Flur“, dem Sohn eines brandenburgischen Landpfarrers, die Pockels in Auszügen einsendet. Auch die Lebensgeschichte von „Paul Simmen“, der angesichts seines ökonomischen Unglücks für das er seinen Schwager verantwortlich macht, diesen, seine Schwester und deren Kinder brutal ermordet, wird auf eine bestimmte kriminalpsychologische Fragestellungen hin ausgerichtet und damit zum ‚Fall‘ gemacht. In Moritz’ Anton Reiser fehlt hingegen diese Zuspitzung des Beispielhaften. Stattdessen werden Stationen des Lebens der Figuren ausführlich und überblicksartig durch einen allwissenden Erzähler dargestellt.

282 Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 107.

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Das Beispiel „Adam Bernd“ deutet bereits an, dass die Struktur wechselnder Fremd- und Selbstbeobachtung auch dazu genutzt wird, eine ‚Fallperspektive‘ zu etablieren. Sie findet sich daher insbesondere dann, wenn Verhaltensweisen oder Ideen pathologisiert werden sollen, das heißt, wenn der Bericht im Magazin zeigen soll, dass sie krankhaft sind. Diese Strategie des ‚Zum Fall-Machens‘ wird häufig beim Glauben an übernatürliche und wunderbare Ereignisse und Erscheinungen angewendet.283 Themen wie Vorhersagen und Visionen bilden thematische Überschneidungen zwischen dem Magazin mit dem Archiv für den thierischen Magnetismus.284 Allerdings werden die Phänomene im Archiv nicht pathologisiert, sondern nobilitiert: Die dunkle Seite der Seele wird gegenüber dem ‚gesunden‘ Verstand aufgewertet. Die Beobachtungsstrukturen, die der magnetischen Fallgeschichte zugrunde liegen, werden dadurch noch komplexer.

3.3 Magnetische Fallgeschichten Archiv für den thierischen Magnetismus Dem Fall kommt innerhalb der magnetischen Anthropologie eine überaus wichtige Funktion zu, wie bereits bei der Behandlung von Eschenmayers Versuch deutlich wurde. Eschenmayer baut seinen Versuch auf Fallbeispielen auf, wobei insbesondere die Glaubwürdigkeit der Ärzte, die diese Fälle dokumentieren, als Beglaubigungsformel dient. Die Kombination von anerkannter Autorität und Masse der Fallbeispiele, so die Argumentation, sei so zwingend, dass der Magnetismus nicht mehr sinnvoll bezweifelt werden könne. Fallbeispielen kommt somit eine zentrale rhetorisch-argumentative Funktion zu, indem sie die magnetische Theorie belegen und Evidenz erzeugen. Die magnetische Fallgeschichte wird damit stärker als die körperliche Krankengeschichte des Journals oder die psychologischen Beispiele des Magazins mit der Beglaubigung einer bestimmten Theorie beauftragt, die dabei neurophysiologische, psychologische und religiös-spirituelle, transzendentale Wissenskonzepte vereint. Das Allgemeine, für das die Fallgeschichte als Exemplum funktioniert, geht der Darstellung des Falles bereits voraus.285 283 Vgl. Stephanie Bölts: „Ueber die Neigung des Menschen zum Wunderbaren“. Aberglaube, Geisterseherei und Ahnungsvermögen in medizinisch-anthropologischen und erfahrungsseelenkundlichen Zeitschriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Thomas Bremer (Hg.): Vernunft, Religionskritik, Volksglauben in der Aufklärung. Wissenszirkulation und Öffentlichkeit in den deutschsprachigen Gebieten. Halle an der Saale 2013, S. 149–168. 284 Vgl. zu thematischen Überschneidungen und Unterschieden der Fallgeschichten bei Moritz und der magnetischen Fallgeschichte bei Friedrich Schlegel: Johnson: Die Lesbarkeit des romantischen Körpers, S. 105–135. 285 Die magnetischen Fallgeschichten sind damit Beispiele für die von Süßmann formulierte zweite Möglichkeit der Beziehung von fallbasierter Datenerhebung und Interpretation in der Fallgeschichte: Die Interpretation geht der Darstellung voraus (vgl. Süßmann: Einleitung: Perpektiven der Fallstudienforschung, S. 20. Siehe Anmerkung 95, Kap. 3.1.1, S. 120).

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3.3.1 Evidenzfunktion: Zwischen Fall und Theorie Wie im Journal und im Magazin entwerfen die Herausgeber des Archivs für den thierischen Magnetismus286 ihr Programm in der Vorrede. Während die Fallgeschichten im Journal und im Magazin die Funktion haben, einen Beitrag zu einem zukünftigen wissenschaftlichen System zu leisten, gehen Dietrich Georg Kieser, Carl August von Eschenmayer und Friedrich Nasse bereits von einer klar formulierten These aus: Wir bemerken hierbey nur noch, daß nach unserer Ansicht das Daseyn des thierischen Magnetismus in seinen höchsten Formen und seiner geheimnisvollsten Gestalt außer allem Zweifel ist, daher keiner Polemik zur Widerlegung negativer Meinungen mehr bedarf.287

Zugleich sollen sich auch die Beiträger des Archivs an Tatsachen und Erfahrungen orientieren: Da indessen jede wissenschaftliche Theorie der Natur nur auf einer reellen Basis, auf Beobachtung der Erscheinungen der Natur, ruhen kann, so soll dieses Archiv hauptsächlich dazu dienen, unbezweifelte Erfahrungen und Beobachtungen wirklicher Thatsachen, gemacht von vorurtheilsfreyen, das Wahre und Falsche kritisch zu unterscheiden vermögenden, aber die hohe Bedeutung des thierischen Magnetismus nicht verkennenden Männern zu vereinigen, also die Materialien zu einer künftigen Theorie des thierischen Magnetismus zu sammeln, und hierdurch den Grund zu einer strengeren wissenschaftlichen Bearbeitung desselben zu legen, als bis jetzt häufig der Fall gewesen ist.288

Die Beiträge sind auf eine zukünftige Theorie ausgerichtet, die aber bereits stark spezifiziert ist. Die Erforschung des animalischen Magnetismus, so die Herausgeber, verspreche Erkenntnisse im Bereich der Physiologie, Psychologie und Patholo-

286 Das Archiv erschien von 1817 bis 1821 dreimal pro Jahr und wurde von Eschenmayer, Kieser und Nasse herausgegeben. Ab dem 7. Band ersetzte Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck den Herausgeber Nasse. Nasse (* 1778 Bielefeld † 1851 Marburg) studierte Medizin in Halle, wo er ein Schüler Reils war. 1815 wurde er Professor in Halle, 1819 wechselte er nach Bonn. Seine fachlichen Schwerpunkte lagen in der Physiologie und Psychosomatik (vgl. Schneck: Nasse. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 7, S. 353 f.). Kieser (* 1779 Harburg/Elbe † 1862 Jena) war Arzt und Physiker und Anhänger der romantisch naturphilosophischen Medizin. Er besuchte Vorlesungen von Schelling und wurde später Professor in Jena. Unter anderem stand er mit Goethe in Kontakt (vgl. Engelhardt: Kieser. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 5, S. 620). Nees van Esenbeck (* 1787 Reichelsmeim † 1837 Breslau) studierte Medizin in Jena, wo er auch Philosophievorlesungen bei Fichte und Schelling besuchte. Er stand mit zahlreichen Schriftstellern und Gelehrten in Kontakt, unter anderem ebenfalls mit Goethe. Er vertrat naturphilosophische Ansichten und setzte sich für die Aufnahme des animalischen Magnetismus’ in den Schulunterricht ein (vgl. ebd.: Nees van Eseneck. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 7, S. 376 f.). Vgl. zu Eschenmayer Anmerkung 138 (Kap. 2.3.2). 287 Carl August Eschenmayer, Dietrich Georg Kieser und Friedrich Nasse: Plan und Ankündigung. In: Archiv für den thierischen Magnetismus. Bd. 1, 1. St. (1817), S. 8. 288 Eschenmayer/Kieser/Nasse: Plan und Ankündigung, S. 3.

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gie.289 Auch hier wird die Funktion der Fallgeschichte mit einer Gebäudemetapher spezifiziert. Sie soll der „Grund“ sein für das zukünftige Ganze, was darauf errichtet wird. Der Sammlung von Fällen wird die Funktion eines Übergangs zugewiesen, denn das, was als Theorie zukünftig zur Verfügung stehen soll, ist vorläufig in der Natur vorhanden: Im thierischen Magnetismus erscheint uns das verschleyerte Bild der Isis, welches, wie es einerseits jeden Wißbegierigen anzieht, und die größten Geheimnisse des Lebens zu enthüllen verspricht, anderseits nur dem mit ernstem und reinem Sinn sich ihm Nahenden das Geheimniß eröffnet, und jede frevelnde Berührung ahndend straft.290

Der Schleier der Isis verhüllt das Naturganze. Die Bildlichkeit und das Vokabular evozieren eine religiös-spirituelle Dimension, die mit dem Wissensdurst verknüpft werden muss. Die Vorstellung, dass sich im Magnetismus normalerweise verborgene Geheimnisse der Natur offenbaren, findet sich in vielen Textsorten, die sich mit dem Thema beschäftigen.291 Wie in Eschenmayers Versuch wird dem animalischen Magnetismus im Archiv eine eigenartige Doppelstellung zugewiesen: Er ist einerseits das, was erforscht werden soll, und zugleich Mittel, um die Geheimnisse der Natur zu erforschen, denn in seinen Erscheinungen wird eine Art Tiefendimension der sichtbaren Natur erkennbar, die dem ‚normalen‘ Blick entzogen ist: Da im thierischen Magnetismus sich darstellt, was keines Sterblichen Auge sah, und keines Wachenden Mund enthüllt; da die Erscheinungen desselben […] eine geistige Welt uns eröffnen, in welcher die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der irdischen Welt fast verschwinden, und da die Natur im thierischen Magnetismus ihre geheimsten Tiefen eröffnet, und als das wiederaufgefundene Orakel der früheren Zeit redet.292

Das Vokabular deutet die religiös-spirituelle Überformung des Magnetismus an. Auch hier findet sich die Grenze von ‚sichtbar‘ und ‚unsichtbar‘, die überschritten werden soll, um Erkenntnis zu generieren. Durch den Bezug zu Fakten und Erfahrungen wird dabei ein durchaus ähnliches Vokabular genutzt, mit denen der aufklärerische Blick in die Tiefe des Körpers und der Seele versprachlicht wird. Dieses wird aber um eine spekulative Dimension ergänzt, die sich in der Rede von der ‚geistigen Welt‘ und der Überschreitung ‚natürlicher‘ Zeit-Raum-Grenzen manifes-

289 Vgl. Eschenmayer/Kieser/Nasse: Plan und Ankündigung, S. 2. 290 Eschenmayer/Kieser/Nasse: Plan und Ankündigung, S. 1. 291 Zum Beispiel die Warnung des Malers Bickert in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Magnetiseur: „All’ unser Wissen darüber ist und bleibt aber Stückwerk, und sollte der Menschen den völligen Besitz dieses tiefen Naturgeheimnisses erlangen, so käme es mir vor, als habe die Mutter unversehens ein schneidendes Werkzeug verloren.“ (E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callot’s Manier. In: ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 2.1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 2006, S. 203) 292 Eschenmayer/Kieser/Nasse: Plan und Ankündigung, S. 2.

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tiert. Die Phänomene des animalischen Magnetismus ermöglichen den Zugang zu der ‚Nachtseite‘ des Menschen, von der die Romantik sich fasziniert zeigt. Sowohl die neurophysiologischen als auch die naturphilosophischen Erklärungsmuster statuieren den animalischen Magnetismus dabei als Übergangsphänomen zwischen Körper und Seele, Diesseits und Jenseits, Außen und Innen. Der Grad, in dem sich die einzelnen Fallgeschichten auf diese theoretischen Vorannahmen beziehen und damit ihre Beweisfunktion erfüllen, ist unterschiedlich hoch. Während einige Beiträge nur knappe Darstellungen, wie eine bestimmte Krankheit durch eine magnetische Behandlung geheilt wurde, sind, findet sich in vielen Texten explizite Bezüge zum theoretischen Rahmen des Archivs.

3.3.2 Entgrenzte Beobachtung: Verknüpfung von Arzt- und Patientinnenperspektive Das Muster der Gattung Krankengeschichte stellt auch im Archiv das Grundgerüst für die Darstellung zur Verfügung. So wird zum Beispiel die Personaltopik übernommen sowie der Tag-für-Tag-Bericht und die Wiedergabe von kleinteiligen Beobachtungen. Gleichzeitig wird die Gattung durch die stärkere Theoretisierung verändert. Rahmendokumente wie Vorworte und editorische Notizen spielen eine zentrale Rolle. Insbesondere beeinflusst die komplexe Beobachtungsstruktur, die sich aus der Theorie des Magnetismus ergibt und in einer anderen Bedeutung der Patientenperspektive resultiert, die Darstellungsmittel und die Erzählsituation. Dies resultiert daraus, dass eine zentrale Funktion bei der Evidenzerzeugung den Patientinnen293 und ihrer Perspektive zukommt. Die magnetischen Fallgeschichten sind komplexe Beobachtungsprotokolle, in der Arzt- und Patientenperspektive auf das engste verknüpft werden. Anders als in den Krankengeschichten im Journal nimmt die Stimme der Kranken einen breiten Platz ein und wird durch Dialoge, direkte Zitate oder indirekte Rede wiedergegeben und in den Bericht des Arztes eingeflochten. Die Zustände, die durch den Magnetismus verursacht werden, ermöglichen der Patientin neue Perspektiven, die der Arzt nicht haben beziehungsweise nur durch sie haben kann. Dazu gehört die Wahrnehmung trotz geschlossener Augen durch das sogenannte ‚Gemeingefühl‘, das meist im Nervensystem oder der Magengegend verortet wird. Der Ausschluss der visuellen Wahrnehmung geht einher mit einem Blick in das eigene Körperinnere. Im Somnambulismus erwacht die Magnetisierte innerhalb des magnetischen Schlafes und befindet sich auf einer Bewusstseinsebene zwischen Schlaf und Wachen.294

293 Da die Patienten, die magnetisch behandelt wurden, überwiegend Frauen waren, wird in diesem Kapitel die weibliche Form verwendet, wenn von den Magnetisierten die Rede ist. Es sei aber darauf verwiesen, dass auch Männer dieser Behandlung unterzogen wurden. Zum genauen Verhältnis vgl. Ego: „Animalischer Magnetismus“ oder „Aufklärung“, S. 254. 294 Vgl. zu den Phänomenen der magnetischen Behandlung: Kluge: Versuch, S. 58–143.

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Auffällig ist in diesem Grad die Abhängigkeit vom Magnetiseur, den Kluge „das Organ“ 295 nennt, durch das die Somnambule mit der Außenwelt verbunden wird. Das Ich der Somnambulen verschmilzt im magnetischen Rapport mit dem Ich des Magnetiseurs und gelangt dadurch zu einem neuen Bewusstsein. Der Somnambulismus gestattet den Zugriff auf eine andere Art der Wahrnehmung, die im bewussten oder wachen Zustand nicht möglich ist. Die magnetischen Erscheinungen werden zudem zum Mittel, die geheimnisvollen Verbindungen des Individuums mit der Natur zu verstehen und Einsichten in ein höheres, zukünftiges Dasein zu erlangen. In der Symbolik des Traums führt der Mediziner und Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert diese Möglichkeiten aus. Die Seele kann sich im Somnambulismus weiter zurückerinnern und in die Zukunft schauen. Die Grenzen von Raum, Zeit und Körperlichkeit werden überwunden: Schon im Zustande des Somnambulismus tritt daher jenes liebende Vermögen wieder mit der höheren Region in Berührung, empfängt aus ihr ein Licht, worinnen ihm die ganze in seinem Umfange liegende […] Welt, über die Schranken der Zeit und des Raumes hinüber klar wird, obgleich sich dasselbe seiner noch nicht in jenem höheren Centrum sondern bloß in dem Magnetiseur bewußt ist. Es empfängt deßhalb schon in einem gewissen Grade der Somnambulismus, der Traum, ja selbst der Wahnsinn, jenes prophetische Erkennen, und es wird uns schon hierdurch jenes Vermögen unserer Natur, als die Gabe eines neuen, höheren Gesichtes, dessen Blick weit über die Schranken unserer Natur hinüberreicht, wichtig.296

Der Arzt ist derjenige, der die Kranke in diese Zustände versetzt, die Erweiterung des Blicks also möglich macht und der die Berichte der Somnambulen verschriftlicht. Er dokumentiert die Einsichten, die durch die Patientin vermittelt werden, wobei er die Themen durch gezielte Fragen (mit-)bestimmen kann. Die Frau ist also das Medium, in dem sich die magnetischen Wahrheiten artikulieren. Diese Struktur gibt der Rede der Patientin eine weitaus größere Bedeutung als in anderen Krankengeschichten und zudem der Kranken eine gewisse Macht.297 Das Verhältnis von Arzt und Patientin in den magnetischen Behandlungen hat in der Literaturwissenschaft und Medizingeschichte viel Aufmerksamkeit erfahren und ist dabei überwiegend als Machtverhältnis des männlichen Arztes über die meist weibliche Patientin gesehen worden, was auch durch die literarischen Darstellungen zum Beispiel bei E. T. A. Hoffmann oder Kleist begründet ist.298 Wie bereits an Eschenmayers Versuch gezeigt wurde, wird das Verhältnis von Magnetiseur

295 Vgl. Kluge: Versuch, S. 66. 296 Gotthilf Heinrich Schubert: Die Symbolik des Traums. Faksimilie Druck nach der Ausgabe von 1814. Heidelberg 1968, S. 201. 297 Vgl. dazu die Arbeiten von Gruber: Damenopfer; dies.: Die Passivität des Magnetiseurs. Transformationen des Geschlechtermodells am Beispiel der Subjekttopik des Romantischen Magnetismus. In: Paul Geyer und Claudia Jünke (Hg.): Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Würzburg 2001, S. 173–194. 298 Vgl. Gruber: Damenopfer, S. 168.

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und Magnetisierter in den theoretischen Texten hingegen positiv konzipiert (siehe Kap. 2.3.2). Die magnetischen Fallgeschichten bestätigen diese Auslegung. Insbesondere erhalten die Patientinnen gerade durch die Besonderheiten der magnetischen Behandlung Möglichkeiten der Mitbestimmung ihrer Therapie und geben teilweise dem Arzt detaillierte Vorgaben über Medikamente, Zeiten der Behandlung und Ursachen der Krankheit.299 Bevor der Arzt jedoch als passives Instrument der Kranken gesehen wird, wie es beispielsweise Bettina Gruber tut,300 muss darauf verwiesen werden, dass es dennoch er bleibt, der die Stimme der Frau hörbar macht und der entscheidet, was er aufschreibt.301 Zudem geschieht die ‚Ermächtigung‘ der Frau, wie Gruber selbst feststellt, im festen Rahmen kulturell vorgegebener Rollen,302 indem die magnetische Behandlungssituation die zeitgenössische Geschlechteranthropologie festschreibt. Der Magnetiseur ist aktiv und stark, er überträgt Kraftströme auf die passive Frau, die diese aufnimmt. Die typische Magnetismuspatientin ist daher eine reizbare und sensible (oft junge) Frau. Die Einsichten, die die Frau generiert, sind nicht rationale Erkenntnisse, sondern unmittelbar offenbarte ‚Wahrnehmungen‘ und es bleibt die Aufgabe des männlichen Magnetiseurs diese zu ordnen, zu systematisieren und zu veröffentlichen. Gleichzeitig wird die weibliche Sonderanthropologie dabei als Beglaubigungsformel eingesetzt, denn die Naturnähe der Frau303 ist Voraussetzung dafür, dass sie in die magnetischen Zustände versetzt werden kann und macht Verstellung und Betrug unwahrscheinlich, auch wenn es natürlich das Gegenbild der hinterlistigen Frau gibt, die den Arzt täuschen möchte. Festzuhalten bleibt, dass die Interaktion von Patientin und Arzt weitaus komplexer als in der traditionellen Krankengeschichte ist und die Rolle der Selbstbeobachtung zudem eine andere ist als in Moritz’ Magazin, was auch in einer anderen Erzählsituation resultiert. Die Orientierung der magnetischen Fallgeschichte an der Gattung Krankengeschichte soll an dem Beispiel des „Tagebuch[s] einer magnetischen Behandlung von P. G. van Ghert“ 304 gezeigt werden, die 1818 im ersten und zweiten Stück des 299 Vgl. Gruber: Damenopfer, S. 175 f. 300 Vgl. Gruber: Damenopfer, S. 176. 301 Vgl. Barkhoff: Inszenierung – Narration – his story. Zur Wissenspoetik im Mesmerismus und in E. T. A. Hoffmanns Das Sanctus. In: Brandstetter/Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik, S. 91–121. Zudem wird der Magnetismus aus nachträglicher Perspektive als hypnotisches Suggestionsphänomen erklärt, was zusätzlich die Manipulierbarkeit der Patientin durch den Arzt denkbar macht (vgl. Schott: Mesmers Heilungskonzept, S. 247). Allerdings betont Schott, dass nicht alle Erscheinungen des animalischen Magnetismus durch Suggestion erklärt werden können (vgl. ebd., S. 234). 302 Vgl. Gruber: Damenopfer, S. 168. 303 Vgl. auch Gruber, die auf die traditionelle Allegorisierung der Natur als weiblich verweist: Damenopfer, S. 180 f. Burkhard Dohm zeigt zudem, wie die Rolle der Frau in der romantischen Anthropologie und Naturphilosophie mit religiösen, insbesondere pietistischen Deutungsmustern belegt wird (vgl. ders.: Prophetin, Hexe, Hysterika, S. 103–130). 304 P. G. van Ghert: Tagebuch einer magnetischen Behandlung. In: Archiv für den thierischen Magnetismus. Bd. 2, 1. St. (1818), S. 3–188 und in: Archiv für den thierischen Magnetismus. 2. Bd., 2. St.

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zweiten Bandes abgedruckt wird. Die Geschichte ist wie viele der Fallbeispiele im Archiv ausufernd lang.305 Der Bezug zur magnetischen Theorie wird durch eine mehrfache Rahmung erzeugt: Der eigentlichen Krankengeschichte ist eine Vorrede und eine Einführung des Verfassers vorgeschaltet, in denen er den Umgang mit dem Magnetismus historisch rekapituliert, bedeutende Magnetismusforscher aus Deutschland und ihre Werke benennt, die verbreitete Skepsis attackiert, den Magnetismus in die Naturphilosophie einordnet und die Situation in seinem Heimatland den Niederlanden beklagt. Es folgen ein Brief über eine magnetische Behandlung und „Bemerkungen über die Schrift eines verwegenen Finsterlings gegen den thierischen Magnetismus“, in denen sich Ghert mit einem magnetismuskritischen Werk polemisch auseinandersetzt. Die Vorrede wird zudem durch eine Fußnote des Herausgebers Kieser ergänzt, in der dieser anführt, dass der Inhalt für so wichtig befunden wurde, dass die Aufzeichnungen in gesamter Länge gedruckt wurden: Der Inhalt derselben wurde indessen so wichtig befunden, sie enthält eine Reihe höchst interessanter Thatsachen und neue Bestätigung mancher schon bekannter Facta, und die Erzählung ist so treu in sich geschlossen, daß ein Auszug höchst schwierig und ungenügend gewesen seyn würde, um so mehr, da bei magnetischen Krankengeschichten selbst die kleinsten Umstände Werth haben.306

Die Geschichte wird der Gattung Krankengeschichte zugeordnet und durch das Adjektiv magnetisch spezifiziert. Zudem wird die schon bekannte programmatische Ausrichtung an den Kleinigkeiten für die magnetische Krankengeschichte beansprucht. Diese theoretische Einrahmung ist im Vergleich zu den Fallgeschichten in Moritz’ Magazin weitaus umfangreicher. Erst nach 51 Seiten beginnt die eigentliche Krankengeschichte, der dadurch deutlich die Funktion zugewiesen wird, die vorangestellte Theorie zu untermauern. Die Krankengeschichte selbst ist ebenfalls so lang, dass sie auf zwei Bände verteilt abgedruckt wird. Die dargestellte Behandlung erstreckt sich vom 20. Dezember 1809 bis zum 17. Dezember 1810. Die Therapie wird ursprünglich wegen jahrelanger Magenschmerzen der Patientin begonnen, die im Verlauf der Geschichte jedoch geheilt werden, woraufhin sich der Fokus der Behandlung auf den gestörten, weil ausbleibenden, ‚Monatsfluss‘ der Frau verschiebt. Die Krankengeschichte beginnt mit der bekannten Personaltopik: Demoiselle B., 28 Jahr alt, schwächlich und zart von Körperbau, und seit 13 Jahren an Magenschmerzen leidend, ließ sich von dem Augenblicke an, da sie den Schmerz fühlte, bis auf

(1818), S. 3–51. Ghert (* 1782 Den Haag † 1852 Den Haag) war Arzt in Den Haag und Sekretär der herzoglichen, mineralogischen Gesellschaft zu Jena für Holland und Mitglied verschiedener gelehrten Gesellschaften. 305 Vgl. Gruber: Die Passivität des Magnetiseurs, S. 183. 306 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 3 f. [Fußnote des Herausgebers Kieser].

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den heutigen Tag, von verschiedenen geschickten Aerzten von Zeit zu Zeit mit Arzneimitteln behandeln, ohne die geringste Linderung zu verspüren.307

Anschließend werden die Leiden und ihre Behandlung Tag für Tag unter Angabe des Datums berichtet. Gelegentlich fasst der Verfasser mehrere Tage in einem Absatz zusammen. An jedem Tag berichtet er zunächst, wie lange es dauert, die Kranke in den magnetischen Zustand – die ‚Krisis‘ – zu versetzen. Sobald die Kranke in diesem Zustand ist, befragt der Arzt sie zu ihrer Krankheit und im Verlauf der Behandlung auch zu allgemeinen Fragen des Magnetismus. Über weite Strecken ist das „Tagebuch“ daher im Dialogstil verfasst: In direkter Rede werden die Fragen des Arztes und die Antworten der Kranken wiedergegeben. Dies geschieht überwiegend ohne verba dicendi; die Redebeiträge der beiden werden nur durch Bindestriche getrennt, wodurch der Eindruck eines unmittelbar wiedergegebenen Gesprächsprotokolls entsteht: Wie ist es jetzt mit Ihnen? – Es geht wohl. – Können Sie mir die Ursachen ihrer Schmerzen noch nicht angeben? – Nein, das kann ich noch nicht thun; denn bei dem Nabel ist noch ein Hinderniß, welches ich nicht durchsehen kann. – Können Sie Ihren Magen noch sehen? – Ja, aber der sieht schrecklich aus, und meine Lunge noch entsetzlicher.308

Der Text besteht über weite Strecken aus solchen Frage- und Antwortprotokollen, wodurch die veränderten Rollen von Arzt und Patientin aufgezeigt werden, die eingangs angesprochen worden sind. Neben den Befragungen macht der Arzt insbesondere zu seiner Behandlungsart Angaben, zum Beispiel wo er die Kranke berührt und in welche Richtung er die magnetischen Striche macht. Bewusstlose Zustände wie Ohnmachten und epileptische Krämpfe, die durch die magnetische Behandlung hervorgerufen werden, skizziert er aus der Außenperspektive. Dabei hält er sich jedoch an die Vorgaben der Frau, die vorher festlegt, welche Zustände sie durchlaufen muss und wie er sie magnetisieren soll.309 Der Arzt greift daher in bestimmte dramatische Zustände wie Krämpfe und Ohnmachten nicht ein, ja er induziert diese sogar streckenweise bewusst, da die Patientin angibt, dass sie zur Genesung bestimmte Schmerzen erleiden müsse. Der Schmerz wird als notwendig und sinnvoll aufgewertet und die Therapie einer körperlichen Krankheit auf die Seele ausgeweitet: „Sie heilen mich jetzt nicht nur nach dem Körper, sondern auch der Seele nach.“ 310 Schmerzen sind auch dazu geeignet, die unsichtbaren magnetischen Wirkungen sichtbar zu machen. Gleich zu Beginn der Behandlung probiert der Arzt aus, wie die Kranke auf die

307 308 309 310

Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 55. Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 69. Vgl. Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S 88–90. Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 12.

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Berührung durch seine Hand und durch Stahlmagneten reagiert und an welchen Stellen es ihr Schmerzen verursacht.311 Die Fragen von Gherts sind zunächst überwiegend auf die Krankheit der Frau bezogen. Sie bestimmt ihre Behandlung und prognostiziert den Verlauf ihrer Leiden. Anders als in Hufelands Journal interpretiert also nicht mehr der Arzt die Vorkommnisse, sondern er agiert auf Grundlage der Selbstinterpretation der Frau. Zunehmend treten Fragen hinzu, die auf die Funktionsweise des animalischen Magnetismus zielen, beispielsweise was während des magnetischen Rapports passiere oder was notwendig sei, damit sie für andere Menschen Vorhersagen machen könnte. Der Perspektive der Frau kommt somit eine zentrale Rolle bei der Erzeugung von Evidenz zu. Anders als die von Moritz geforderte Selbstbeobachtung erfolgt diese jedoch nicht bewusst. Die Frau rückt zwar ebenfalls in eine Beobachterposition ihres eigenen Ichs, kann sich aber im wachen Zustand nicht mehr erinnern, denn der ‚doppelten Persönlichkeit‘ des Somnambulismus entsprechend sind Beobachtungen und Vorhersagen, die sie in den magnetischen Zuständen macht, aus ihrem Bewusstsein gelöscht. Während die Selbstbeobachter des Magazins die eigene Seele zergliedern und zum Zuschauer des eigenen Seelentheaters werden, findet hier eine Verdoppelung des Ichs statt, die Reil und Eschenmayer in ihren theoretischen Texten ebenfalls mit Bühnenmetaphern beschreiben (siehe Kap. 2.2.2 und Kap. 2.3.2). Gerade durch diese Abspaltung vom bewussten Teil gelingt die Beglaubigung, welche die Somnambule leistet. Der Blick der Kranken richtet sich zunächst auf das eigene Körperinnere und wird erst später entgrenzt. Der Einblick in den Körperraum ermöglicht dabei Aussagen, die sonst nur bei der Sektion möglich sind. Wie bei den Berichten von Leichenöffnungen orientiert sich die Narration des Körperinneren an den einzelnen Organen: Mein Magen ist so klein, ja, so viel kleiner, als gestern. – Ist das denn nicht gut? – Das wohl nicht, er muß viel kleiner werden; aber doch nicht schnell. Bei meinem Magen seh ich ein braunes Ding. Es liegt über dem Magen, und wenn dieser sich bewegt, geht es auch in die Höhe. – Welche Gestalt hat es? – Das kann ich noch nicht sehen; denn es ist noch zu dunkel in meinem Körper.312

Der Blick in den eigenen Körper wird im Verlauf der magnetischen Behandlung schärfer und bereits zwei Tage später kann die Kranke weitere Organe erkennen: Fürs erste seh ich mein Herz, dabei den Magen, Leber und Lunge, und dann zwischen beiden ein weißes Ding, das aussieht wie das Fett an einer Schweinsblase. In meiner Brust entdecke ich weiße Knötchen, von welchen eines größer und das andere kleiner als ein Schilling ist. […] Vor meinem Magen seh ich noch etwas Schönes, nämlich eine Stelle, wo alle Nerven sich

311 Vgl. Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 56. 312 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 63.

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vereinigen. Wenn diese nun gut wirken, dann ist es da grade wie ein kleines Feuerchen, das schön anzusehen ist.313

Hier werden durch den Vergleich mit der Schweinsblase und der Münze ähnliche Strategien der Sichtbarmachung verfolgt, wie in den Sektionsberichten aus Hufelands Journal. Der Fokus liegt zunächst auf pathologischen Phänomenen wie Knoten in der Brust und trübem Blut. Wie in den Krankengeschichten werden auch die körperlichen Ausscheidungen detailliert beschrieben, die im Verlaufe der Geschichte eine große Rolle spielen. Dies geschieht durch die Kranke selbst: Es war zuweilen wie ein runder Kuchen, so groß als der Boden einer Flasche. Jeder Kuchen war mit allerlei Stoff, meistens aus Schleim bestehend, durchsponnen; nicht so als die vorigen, denn die bestanden größtentheils aus geronnenem Blut, das mir aus der Brust festgesessen, und das ich konnte abgehen fühlen.314

Durch die ‚ekelhafte‘ Beschreibung der Abgänge wird das „Tagebuch“ ebenfalls an die Gattung der Krankengeschichte angeknüpft. Die zuvor zitierte Beschreibung der ‚schönen‘ Nerven zeigt jedoch, dass der Blick der Kranken insgesamt nicht nur auf die pathologische Abweichung der Organe gerichtet ist, sondern auch auf die allgemeine Anordnung und insbesondere auf die Nerven, die für die Theorie des animalsichen Magnetismus eine zentrale Rolle spielen. So bezeichnet die Stelle, wo alle Nerven sich vereinigen, das Sonnengeflecht, das fester Bestandteil der neurophysiologischen Erklärungen des Magnetismus ist. Diese Angaben können zu ganzen theoretischen Versatzstücken erweitert werden, wie die Beschreibung der Patientin, was während des Rapports im Körper der Patientin passiere, zeigt: Sie haben gewiß wohl oft gesehen, daß wenn zwei Tropfen Wasser dicht bei einander auf dem Tische sind, daß diese dann auf einen gewissen Abstand in einander fließen? – Ja wohl. – Gerade so, sagte sie, geht es auch mit uns. Wann Sie sich niedersetzen, um mich zu magnetisieren und ich dann auch denke, daß sie mich in die Krisis bringen wollen, dann geht auf einmal aus Ihnen und auch aus mir ein Lichtstrom hervor, die beide sich gegen einander über befinden; und sobald Sie sich dann wie 2 Tropfen Wasser berühren und in einander verschmelzen, dann schlafe ich, und diesem Augenblick sammelt sich mein ganzes Bewußtseiyn neben dem Magen, auf der Stelle, wo die Nerven zusammenkommen: meine Augen ziehen alsdann so stark, daß die Augäpfel sich ganz verdrehen und nach der Höhe gekehrt sind. […] Ich sehe alsdann durch nichts anderes, als durch die kleinen Nerven, welche unter den Augen liegen, und die mit der Stelle am Magen in Verbindung stehen, wo alle die Nerven in einander-laufen.315

Die Kranke ist die Expertin, die dem Arzt erklärt, was in ihrem Körperinneren passiert. Hier ist nicht mehr die Erklärung pathologischer Phänomene, sondern die

313 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 66. 314 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 1. St., S. 118. 315 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 2. St., S. 25.

Magnetische Fallgeschichten in C. A. Eschenmayers Archiv

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theoretische Grundierung des animalischen Magnetismus das Ziel. Die Wasser-, Fluss- sowie Lichtmetaphorik schließt den vermeintlich persönlichen Bericht der Kranken an das magnetische Narrativ an, zu dem auch der Topos der verschmelzenden Körpergrenzen im Rapport gehört. Bei der Patientin einer „Geschichte einer merkwürdigen Entzündungskrankheit des Unterleibes mit dem Charakter der Exsudation, welche mit nervösem Leiden von verschiedener Form verbunden war, und im Somnambulismus ihr Heilungsmittel fand“ 316 werden die Erfahrungen der Patientin zu einer ganzen Theorie zur Verbindung von Körper und Seele ausgeweitet: Sie erzählte mir indessen, daß sie schon seit mehreren Tagen eine deutliche Empfindung derjenigen Stellen in ihrem Gehirn gehabt habe, von welchen die verschiedenen Seelenverrichtungen ausgingen, oder wo sie ihre Heimath hätten. […] Ferner sagte sie, sie habe heute Morgen eine noch nie früher gesehene Erscheinung gehabt, sie habe nämlich das Bild eines großen, aber dabei natürlich aussehenden Auges erblickt, aus welchem unzählige feine weiße Fäden ausgegangen seyn, welche nichts anders als ihre eignen Nervenfasern wären; kurz nachher habe dieses Auge einen eignen ätherischen Glanz angenommen, und das grobe Körperliche verloren. Aus diesem habe sie dann dreierlei Nervenfäden ausgehen sehen, nämlich 1) gröbere, starke, weißgelbliche, die sich im Körper vertheilten, und die Werkzeuge der Empfindungen und willkührlichen Bewegungen seyen, 2) feine mit Licht erfüllte Fäden, die diejenigen Nerven seyen, welche die Verbindungen zwischen den verschiedenen Seelenorganen bewerkstelligten, und 3) krystallhelle, noch feinere, die mit dem Mittelkörper nicht unmittelbar in Verbindung gestanden, sondern in einiger Entfernung davon ihren Anfang genommen hätten. Sie hielt die letztern für die Verbindungsnerven zwischen Seele und Körper.317

Die Aussagen der Frau werden protokolliert, ohne dass ihr das bewusst ist.318 Die reflexionslose und unmittelbare Wahrnehmung der Kranken wird so in ein schriftliches System überführt. Auch hier wird das Motiv des Auges aufgenommen, das in den Magnetismustexten wiederkehrt, und mit der typischen Strahlen-, Lichtund Flussmetaphorik verbunden. Die auf Farbe und Konsistenz bezogene Differenzierung der Nervenarten findet sich ebenso in Eschenmayers Versuch und erzeugt eine symbolische Überformung des Körperlichen. Die Frau bestätigt mit ihren Ausführungen die physiologischen und psychologischen Vorstellungen, die dem Magnetismus zugrunde liegen. Solche Passagen führen zu einer Zirkelstruktur, in der die magnetische Behandlung die Beweise für den Magnetismus selbst hervorbringt.

316 Philipp Kornelius Heineken: Geschichte einer merkwürdigen Entzündungskrankheit des Unterleibes mit dem Charakter der Exsudation, welche mit nervösem Leiden von verschiedener Form verbunden war, und im Somnambulismus ihr Heilungsmittel fand. Aus dem Tagebuche seines Vaters gezogen und geordnet von Rd. Philipp Heineken in Bremen. Mit einem Vorwort von ersterem. In: Archiv für den thierischen Magnetismus. Bd. 2, 3. St. (1818), S. 3–71. 317 Heineken: Geschichte einer merkwürdigen Entzündungskrankheit des Unterleibes mit dem Charakter der Exsudation, S. 54 f. 318 Vgl. Heineken: Geschichte einer merkwürdigen Entzündungskrankheit des Unterleibes mit dem Charakter der Exsudation, S. 55 f.

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Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle

Dabei werden bestimmte Versatzstücke der magnetischen Theorie immer wieder reproduziert. Neben dem Blick in das eigene Innere und den Vorhersagen, die unterschiedliche Ausmaße annehmen können, gehören zu den festen Motiven der magnetischen Krankengeschichte bestimmte Requisiten der Behandlung, die zum Einsatz kommen, wie zum Beispiel magnetisierte Flaschen, Seide und andere Materialien wie Stahl und Magneten, deren Wirkungen auf die Kranke der Arzt experimentell ausprobiert. Ferner gehört die Magnetisierung allein durch Blick und Willen sowie das Schauen ohne Augen, was durch das Lesen von Texten oder Uhren gezeigt wird, die auf den Magen gelegt werden, zum Inventar der Geschichten. Diese Details werden durch den Arzt in Versuchen experimentell bestätigt. Auf sprachlicher Ebene gehören die erwähnten Metaphernfelder des Lichts, des Fließens und des Feuers dazu. Feste Topiken der magnetischen Krankengeschichte sind außerdem die Reinheit der Kranken und die Aufzählung rechtschaffener Zeugen. Bestimmte Themen und Topiken werden von Fall zu Fall wiederholt, so dass ein hoher Wiedererkennungswert der magnetischen Behandlung entsteht und Theorie und Fall sich wechselseitig bestätigen. Die Körperwahrnehmung der Patientinnen, so zeigen die Zitate, kann zur Ausformulierung einer Theorie des animalischen Magnetismus genutzt werden. Die Behandlung der Demoiselle B. lässt aber erkennen, dass auch in den magnetischen Krankengeschichten auf Körperparadigmen zurückgegriffen wird, die nicht in der magnetischen Anthropologie aufgehen. Wie bereits gesagt, verschiebt sich der Fokus der Behandlung bald auf den fehlerhaften ‚Monatsfluss‘ der Frau. Die Kranke gibt an, dass das Blut nicht ungehindert fließen könne: „Sobald die Kranke in der Krisis war, sagte sie, daß sie den Monatsfluß etwas bekommen habe; dann daß das Blut von ihrer Brust bis zur Kehle und hinten im Rücken dergestalt festsitze, daß sie befürchte, es werde kein starker Abgang Statt finden.“ 319 Der Körper, den die Patientin beschreibt ist noch immer der Gefäßkörper der Humoralpathologie, in dem die Säfte von unten nach oben und von oben nach unten fließen und die Stockung derselben Krankheit bedeutet. Der Arzt akzeptiert diese Körpervorstellung und kombiniert sie mit der neuen Heilmethode des Magnetisierens. Er entwickelt eine Technik der magnetischen Manipulation, um diese Stockung zu lösen, die er „Ableitungs- oder Abziehungsmethode“ 320 nennt. Hierzu setzt er die Finger an den Knien der Frau an und bewegt sie in Richtung der Füße. Das Blut wird so in Bewegung gebracht und durch die magnetische Kraft nach unten gezogen. Die Frau muss dabei in der magnetischen Krise sein, sie erleidet schlimme Schmerzen, Ohnmachten und Krämpfe. Diese sind so heftig, dass der Arzt sie auf einem Stuhl festbinden muss, insbesondere um zu verhindern, dass die Frau sich nach vorne beugt, was den Fluss des Blutes erneut

319 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 2. St., S. 43. 320 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 2. St., S. 4 und S. 9.

Magnetische Fallgeschichten in C. A. Eschenmayers Archiv

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stören würde. Sowohl in der Selbstbeschreibung der Patientin als auch in der Behandlung wird die Vorstellung eines Gefäßkörpers erkennbar, in dem Säfte zirkulieren. Humoralpathologie und animalischer Magnetismus treffen sich dabei in der Annahme des Fließens: Das Blut zirkuliert im Gefäßkörper und der Magnetismus wirkt durch eine feine Kraft, welche die Nerven durchströmt: Da ich merkte, daß die Kranke bald den Monatsfluß bekommen würde, hielt ich es für nöthig die Abziehungsmethode anzuwenden, setzte also die Spitzen meiner Finger auf die Kniee der Kranken, welches folglich so heftig wirkte, daß die Kranke in eine Ohnmacht fiel, die von Zeit zu Zeit zurück kam, doch jedesmal nur kurz dauerte. Schon vorher hatte ich sie Dampf- und Fußbäder gebrauchen lassen, um dadurch den gehemmten Monatsfluß zu befördern. Jetzt ersuchte sie mich, das Blut nicht so gewaltig, als wie am vorigen Tage, abzuleiten, mich versichernd, daß ich jedesmal zwei Striche gethan hätte, welche nicht nur das Blut, sondern auch den Speichel aus dem Munde so sehr nach unten hin gezogen, daß sie ganz wie ausgedörrt gewesen wäre, und daß ihr dies so viele Schmerzen verursacht hätte, daß sie es wohl noch sechs Tage fühlen werde.321

Das Beispiel zeigt die erkenntnis- und handlungsleitende Funktion der bildlichen Konzeptionen verschiedener medizinischer Paradigmen und Theorien. Obwohl Säftelehre und magnetische Neurophysiologie als medizinische Theorien scheinbar zeitlich versetzt sind und auf unterschiedlichen Grundannahmen und Körperkonzeptionen beruhen, treffen sie sich in der Metaphorik des Fließens. Die Körperwahrnehmung und die medizinische Praxis, so zeigt das Beispiel ferner, können länger von den Metaphern eines bestimmten Paradigmas geprägt werden, als dieses selbst für wissenschaftlich aktuell angesehen wird. In den Fallgeschichten werden Fakten, Tatsachen und Beobachtungen gesammelt und in unterschiedlichen Graden zu allgemeinen Paradigmen in Bezug gesetzt. Die Spannung von Besonderem und Allgemeinen lässt sich dabei bis auf die Wortebene verfolgen. Das Muster der Gattung Krankengeschichte wird zur sprachlichen ‚Visualisierung‘ von physischer und psychischer Krankheit genutzt. Die Gattung wird zum rhetorischen Verfahren, um Evidenz herzustellen und persuasive Strategien auszubilden. Bestimmte Strukturelemente und Topoi machen die einzelnen Leidensgeschichten vergleichbar und anschließbar. Die Übertragung der Struktur der Gattung in den Bereich der Erfahrungsseelenkunde drückt auch wissenschaftstheoretische Überlegungen aus, indem dadurch die dargestellten Themen an den medizinischen Diskurs angeschlossen werden. Unterschiedliche Krankheiten resultieren aber in verschiedenen Erzählsituationen, wie die Beispiele psychologischer und magnetischer Fallgeschichten zeigen. Diese Veränderungen beeinflussen auch den Einsatz von ergänzenden Textdokumenten und dadurch entstehenden Erzählebenen und resultieren in verschiedenen

321 Ghert: Tagebuch, Bd. 2, 2. St., S. 9.

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Fallleiden: Individuelle Krankheitsfälle

Textbausteinen wie Vorworten, Kommentaren und Fußnoten, die zusammengesetzt werden, um den Fall zu erfassen. Die dargestellten Pathologien verändern somit auch die Gattung. Das Narrative ist deutliches Kennzeichen der Krankengeschichte, in der Sinnrelationen zwischen Symptomen und zeitlichen Abläufen sowie übergeordneten Krankheitseinheiten und individueller, kontingenter Leidenserfahrungen hergestellt werden. Die narrativen Elemente in der Fallgeschichte und das Interesse für den individuellen Fall verbinden diese mit der Erzählliteratur um 1800, deren umfangreichen Bezüge zur Anthropologie, Psychologie und Medizin seit einiger Zeit im Fokus der Forschung stehen.322 Solche Erzählte Leiden sind der Untersuchungsgegenstand im nächsten Kapitel.

322 Siehe Kap. 3.

4 Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten Die Gattung Roman gewinnt im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts stark an Bedeutung und wird zunehmend Gegenstand poetologischer Reflexionen, in denen die Einordnung in normative Gattungssysteme, die Abgrenzung von anderen Gattungen, Gattungsmischungen zwischen Roman und Drama sowie die Rolle des Romans in der Gattungsgeschichte etwa als modernes Epos oder neue Leitgattung diskutiert werden. Während Goethe für eine klare Abgrenzung der Gattungen plädiert, wird der Roman für Friedrich Schlegel und Novalis gerade als Möglichkeit der Vereinigung aller Gattungen gesehen und zur Leitgattung der romantischen Literatur ernannt.1 Für die Frage nach dem Zusammenhang von Gattung und Krankheit ist das Interesse an psychologischen und pädagogischen Fragestellungen in der ästhetischen Diskussion seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zentral, aus dem heraus gerade der Roman zum Mittel psychologischer Darstellung erklärt wird.2 Der Fokus des Romans wird in den theoretischen Betrachtungen auf das Innere der dargestellten Figur gelegt. So bestimmt Christian Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman (1774), die „innre Geschichte eines Charakters“ 3 zum Thema des Romans. Aus geschichtsphilosophischer Perspektive begründet Christian Garve die Beschäftigung mit dem Inneren: Sie [die zeitgenössischen Dichter] zergliedern die Empfindung, die der Alte ganz einfach durch ein Wort ausgedrückt hätte, in die Summe der einzelnen Bewegungen, aus denen sie sich erklären läßt. Sie sagen uns nicht bloß die Gedanken, die der wirklich hatte, welcher in der vorgestellten Verfassung war; sondern auch die, welche bloß dunkel in seiner Seele zum Grunde lagen, und in der Leidenschaft sich äußerten, ohne von dem Verstande bemerkt zu werden. Sie sondern in dem Gemälde der menschlichen Seele, die Züge, die in Eins verlaufen waren, von einander ab, und lassen die geheimern kleinern Triebfedern einzeln vor unsern Augen spielen, die die Natur uns nicht anders als in ihrer vereinigten Wirkung zeiget.4

Die medizinische Zergliederungsmetaphorik und die Hervorhebung des dunklen Grundes der Seele lässt die Nähe zur Erfahrungsseelenkunde deutlich zu Tage treten. Der Dichter, so Garve, stellt das Unsichtbare und Verborgene ‚zergliedert‘ in

1 Vgl. Karl-Heinz Hartmann: Einführung 1796–1830. In: Eberhard Lämmert, Hartmut Eggert und Karl-Heinz Hartmann u. a. (Hg.): Romantheorie 1620–1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 177 f. 2 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 199. 3 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 390. Im Gegensatz dazu zeige das Schauspiel „schon fertige und gebildete Charaktere“ (ebd.). 4 Christian Garve: Fortsetzung der Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neuern Schriftsteller, insbesondre der Dichter. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 10, 2. St., Leipzig 1770, S. 191.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

seine Einzelheiten dar. Auch Moritz hatte die Tätigkeit der (Selbst-)Beobachtung, die er der Erfahrungsseelenkunde zugrunde legt, in Analogie zur Sektion gesetzt. Dem Narrativen wird ein besonderes Potential des Selbst- und Fremdverstehens zugesprochen, was die Vielzahl der Erzähltexte, die sich mit realen oder fiktiven Biographien beschäftigen, zeigt, die in Gattungskonzepte wie (Auto-)Biographie, psychologischer Roman, Entwicklungs- oder Bildungsroman eingeordnet worden sind. Das Erzählen erscheint als eine herausragende Möglichkeit, Kenntnis über den ‚ganzen Menschen‘ zu erlangen.5 Die Darstellung und Ergründung des Inneren wird dabei im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert oftmals mit einem moralischen Wirkungsziel verbunden.6 Zudem wird der Autor auf eine kausalgenetische, ‚wahrscheinliche‘ Erzähl- und Darstellungsweise verpflichtet.7 Die fiktionale, erzählerische Konstruktion des Inneren unterliegt demnach (natur-)wissenschaftlich begründeten Gesetzmäßigkeiten.8 Diese kausalpsychologische Ausrichtung der Erzählung unterstreicht die Verwandtschaft mit der Fallgeschichte, allerdings steht anstelle bestimmter pathologischer Phänomene die biographische Entwicklung des Individuums im Mittelpunkt, wie bereits die knapp skizzierten Unterschieden zwischen Pockels Behandlung von Adam Bernds Lebensgeschichte und Moritz’ Anton Reiser zeigen (siehe Kap. 3.2.3). Daraus ergibt sich die enge Verbindung von Roman und (Auto-)Biographie. Dieser Bezug besteht noch in der Frühromantik, wo aber die Herausstellung der sprachlichen Verfasstheit und die daraus resultierende Differenz zum ‚Leben‘ sowie die mediale Vermittlung stärker betont werden.9 Die kausalgenetische Erzählweise wird nach 1800 – beispielsweise in den Romanen von E. T. A. Hoffmann – zunehmend fragwürdig. Dem bisher Gesagten entsprechend liegt der Fokus der Krankheitsdarstellungen in der Erzählliteratur auf individuellen Fällen und auf psychischen Krankheiten. Die Fallgeschichten machen Krankheit zum Gegenstand komplexer Beobachtungsvorgänge. Im Bereich der Erzählliteratur verknüpft dieser Aspekt die Frage nach der Darstellung von Krankheit insbesondere mit Fragen der erzählerischen Vermittlung: Von wem wird Krankheit wie erzählt? Welches gattungsspezifische Wissenspotential ergibt sich aus der erzählerischen Vermittlung von Leiden? Die

5 Vgl. zur Verbindung von Anthropologie und narrativen Gattungen: Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall; Gunhild Berg: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006. 6 Vgl. Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 196. 7 Vgl. Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 187. Vgl. zur Diskussion der Kategorie des ‚Wahrscheinlichen‘ zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger auch Fritz Wahrenburg: Einführung 1715–1796. In: Eberhard Lämmert, Hartmut Eggert und Karl-Heinz Hartmann u. a. (Hg.): Romantheorie 1620–1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 69 f. 8 Vgl. Voßkamp: Romantheorie, S. 186 f. 9 Vgl. Helmut Schanze: Romantheorie der Romantik. In: Paul Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik: neue Interpretaionen. Stuttgart 1981, S. 18.

Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

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psychologischen Fallgeschichten sind geprägt von dem Versuch, Beschränkungen der Innensicht zu überwinden, indem der Selbstbeobachter das eigene Innere auslotet (siehe Kap. 3.2). Die Erzählliteratur ist von vorneherein nicht an diese Grenzen gebunden. Hier liegt das Potential eines spezifisch erzählerischen Wissens über Krankheit. Die Möglichkeit umfassender Beobachtung durch die Erzählerinstanz ist insbesondere für die Darstellung ‚unsichtbarer‘ Krankheiten interessant, die sich dem unmittelbaren Zugriff entziehen. Die Grenze von ‚sichtbar-unsichtbar‘, an der sich die bislang untersuchten Texte abarbeiten, besteht hier – zumindest potentiell – nicht mehr. Gerade der auktoriale Erzähler kann mithilfe wechselnder Innensichten, über die er die Übersicht hat, Einblicke in das Innere gewähren.10 Genau dieses Potential spricht Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman an, wobei er, wie zeitgenössisch üblich, nicht zwischen Erzähler und Autor unterscheidet: „Er [der Dichter] kann uns die Räder zeigen und das Werk zerlegen, um uns zu lehren, warum der Zeiger dies vielmehr als jenes gewiesen hat. Er lasse innre und äußere Geschichte genau Schritt miteinander halten.“ 11 Da der Autor der allmächtige Schöpfer der Figur ist, gibt es keine Grenzen seines Wissens über das Innere: „Der Dichter, wenn er sich nicht entehren will, kann den Vorwand nicht haben, daß er das Innre seine Personen nicht kenne. Er ist hier Schöpfer: sie haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten; sie leben in einer Welt, die er geordnet hat.“ 12 Neben den Optionen einer allwissenden Erzählerinstanz hat die Erzählliteratur auch die Möglichkeit, die zeitgenössische Forderung, nach Selbstbeobachtung duch Ich-Erzählungen fiktiv umzusetzen. Wie Moritz’ „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“ zeigt, ist die Beobachtung der eigenen Seele eine zentrale Forderung der zeitgenössischen Anthropologie und Medizin. Auch Reil fordert in seinen Rhapsodieen: Gute Köpfe sollen sich in Nervenkrankheiten selbst beobachten, welches aber leider! selten geschieht. Denn dadurch würde mehr Ausbeute, und diese von einem besseren Gehalt gewonnen, als durch das kalte Anschaun der Oberfläche, welches bloss einer dritten Person möglich ist.13

Die Erzählliteratur hat die Möglichkeit, die ‚kalte Oberfläche‘ und damit reale, begrenzte Beobachtungspositionen aufgrund der Erzählerinstanz zu überwinden, sei 10 Vgl. Gunhild Berg: Beiträge zur Menschenerkenntnis. Anthropologisierte Erzählstrategien in Moralischen Erzählungen der deutschsprachigen Spätaufklärung. In: Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 360 und S. 368. 11 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 100. 12 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 264 f. In Blanckenburgs Setzung des Dichters als absoluten Schöpfer des Romans kommt eine „Leibnitzsche Teleologievorstellung“ (Voßkamp: Romantheorie, S. 196) zum Vorschein, welche die Reflexion der Erzählerrolle irrelevant macht: Der Dichter schafft die Romanwelt in Kongruenz zur Ordnung des Universums (vgl. ebd.). 13 Reil: Rhapsodieen, S. 51.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

es durch einen allwissenden Erzähler oder durch interne Fokalisierung. Daraus ergibt sich das spezifische Potential der Erzählliteratur, das (kranke) Innere darzustellen. Angesichts der engen Bezüge von Anthropologie und Roman ist die Rolle der Fiktionalität selbst zu beachten. Auch wenn Blanckenburg den Autor als Schöpfer seiner Erzählung hervorhebt, sind die Autoren um 1800 einem „mehrfachen Legitimierungszwang“ 14 ausgesetzt. Hiervon zeugen Herausgeberfiktionen und -figuren und Authentizitätsbehauptungen, die auf die Nachprüfbarkeit des Erzählten zielen, aber zunehmend auch ironischen Brechungen unterliegen. Die gattungsspezifische Fragestellung rückt das Verhältnis von Erzählhaltung und -stimme zur dargestellten Krankheit in Fokus. Anhand der Wahnsinnsdarstellungen in Christian Heinrich Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen (siehe Kap. 4.1), Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein (siehe Kap. 4.2) und E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (siehe Kap. 4.3) lassen sich verschiedene Modelle der narrativen Inszenierung von Wahnsinn herausarbeiten und zugleich ein sich veränderndes literarisch-ästhetisches Darstellungsparadigma des kranken Inneren um 1800 erkennen.

4.1 Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen Der einzelne Fall steht auch in Christian Heinrich Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen im Mittelpunkt, in denen Muster der psychologischen Fallgeschichte mit fiktiven Erzählweisen verbunden werden. Der enge Zusammenhang von Erzählliteratur und Fallgeschichte zeigt sich darin, dass versucht wird, die erzählten Leiden als ‚echte‘ Leiden zu verifizieren, was die Möglichkeiten erzählerischer Perspektivierung wiederum begrenzt. Bereits der Titel der in vier Bänden erschienenen Sammlung weist auf den Fall-Charakter der Erzählungen hin: Die Gattungsbezeichnung ‚Biographie‘ zeigt an, dass hier einzelne Lebensgeschichten erzählt werden und gleichzeitig impliziert der Zusatz der Wahnsinnigen eine Perspektivierung dieser Geschichten auf eine allgemeine Kategorie hin. Schon im Titel kommt somit die spezifische Spannung von ‚Besonderem‘ und ‚Allgemeinem‘ zum Ausdruck, die die Fallgeschichte charakterisiert. Die individuelle Biographie wird zum Fallbeispiel für den Wahnsinn, ein Leiden, unter das Spieß ohne weitere Differenzierung Erkrankungen wie Melancholie, Schwermut, aber auch Raserei und fixe Idee zusammenfasst. Zentrales Merkmal des Wahnsinns ist dabei der Verlust des Verstandes, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Die 14 Geschichten präsentieren jeweils einen zentralen Wahnsinnsfall; einzige Ausnahme ist die Geschichte „Wilhem M***r. und Karoline W-.“, in der zwei Perso-

14 Vgl. Berg: Beiträge zur Menschenerkenntnis, S. 360.

Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen

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nen betroffen sind, die in einem Liebesverhältnis stehen. Die Geschichten sind in sich selbst abgeschlossen. Nur in „Karoline G. von H.“ und „Esther L.“ wird dieselbe Biogrpahie aus unterschiedlicher Perspektive erzählt. Die einzelnen Geschichten sind nüchtern mit den Namen der jeweiligen wahnsinnigen Figur überschrieben. Wolfgang Promies hat in der von ihm herausgegebenen Auswahl der Biographien, welche die einzige neuere Ausgabe ist, ‚interessantere‘ Überschriften wie „Zwischen Wahn und Wilhelm“, „Der gläserne Ökonom“ oder „Das schöne irre Judenmädchen“ hinzugefügt.15 Die ursprüngliche Titelgebung unterstreicht jedoch den Anspruch der Authentizität und den Fallcharakter der einzelnen Biographien. Auch die Vorrede, die die Biographien einleitet, spielt mit dem Anspruch, reale Lebensläufe zu erzählen. Der Erzähler formuliert zwei Ziele, die er verfolgt: Er möchte Mitleid beim Leser wecken, noch mehr aber versteht er sein Werk als Warnung vor der allgemeinen Gefahr des Wahnsinns, an dem jeder Mensch erkranken kann, der jedoch zugleich selbstverschuldet ist und vermieden werden kann: Wenn ich Ihnen die Biographien dieser Unglücklichen erzähle, so will ich nicht allein Ihr Mitleid wecken, sondern Ihnen vorzüglich beweisen, daß jeder derselben der Urheber seines Unglücks war, daß es folglich in unsrer Macht steht, ähnliches Unglück zu verhindern.16

Das Erzählen der Biographien der Wahnsinnigen erhält somit einen moralisch-pädagogischen Zweck, da der Leser durch die Lektüre zur Prävention befähigt werden soll. Der Wahnsinn ist hier nicht mehr das ‚Andere‘ des vernünftigen Menschen,17 sondern die Grenze zwischen Wahnsinn und Nicht-Wahnsinn ist in Spieß’ Biographien innerhalb jedes Menschen selbst, denn jeder kann „so leicht ein Opfer desselben werden“ 18. Mit der rhetorischen Frage, „welcher unter den Sterblichen darf sich rühmen, daß er nicht einst im ähnlichen Falle, folglich in gleicher Gefahr war?“ 19, unterstreicht der Erzähler die allgemeingültige Gefahr, wahnsinnig zu werden. Als Einfallstore des Wahnsinns zählt er „ueberspannte, heftige Leidenschaft, betrogne Hoffnung, verlohrne Aussicht, oft auch nur eingebildete Gefahr“

15 Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen. Mit 28 zeitgenössischen Illustrationen. Ausgewählt, hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Promies. Neuwied/Berlin 1966. 16 Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. I. Leipzig 1795, S. V f. 17 Foucaults Arbeiten zum Wahnsinn haben die Konstruktion des Wahnsinns als das der Vernunft Entgegengesetzte herausgestellt: „Es gibt in unserer Gesellschaft noch ein anderes Prinzip der Ausschließung: kein Verbot, sondern eine Grenzziehung und eine Verwerfung. Ich denke an die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn.“ (Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1991, S. 11 f.). Vgl. auch: ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1996. 18 Spieß: Biographien, Bd. I, S. IV. 19 Spieß: Biographien, Bd. I, S. V.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

auf, die das „kostbarste Geschenk des Schöpfers, unseren Verstand, rauben“ 20. Der Verstand wird hier als wertvollste Entität des Menschen positioniert, die zugleich immer bedroht ist, wogegen der Verfasser ein rationales, diätetisches Prinzip des Maßhaltens setzt:21 Freilich kann ich dem reißenden Strome nicht mehr widerstehen, wenn ich mich kühn in seine Tiefe wage, aber Dank und Lohn verdient doch derjenige, der mich durch Beispiele von seiner Tiefe überzeugt, und, ehe ich das Ufer überschreite, vor der nahen Gefahr warnt.22

Es ist entscheidend, dass die Uferlinie nicht überschritten wird, denn die Leidenschaften, die zum Wahnsinn führen, erscheinen als überwältigende Kraft, der man nichts mehr entgegen zu setzen hat, sobald man sich ihr ausgesetzt hat. Hier wird bereits das Prinzip formuliert, nach dem im Folgenden der Wahnsinn narrativiert wird, denn sowohl der Erzähler als auch der Leser bleiben sozusagen am Ufer stehen und begeben sich nicht selbst in den ‚reißenden Strom des Wahnsinns‘. Mit dem Wirkungsziel ‚Mitleid‘ schließt Spieß seine Biographien an den „aufgeklärt-empfindsamen“ 23 Wahnsinnsdiskurs des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts sowie an das Mitleidspostulat der aufgeklärten Literatur an. Das moralpädagogische Ziel der Abschreckung weist für die Erzählungen zudem ähnliche Wirkungsziele wie die der Gattung der moralischen Erzählung auf, die in der deutschen Spätaufklärung populär war und deren engen Bezüge zur zeitgenössischen Anthropologie in der Forschung herausgearbeitet worden sind.24 Die Vorstellung der ‚Schuld‘ der Wahnsinnigen und die Flussmetaphorik, welche die Gefahr der Leidenschaften vorführt, entwerfen hingegen einen rationalistisch-diätetischen Mäßigungsgedanken, der im Widerspruch zu den erzählten Biographien steht, denn „im Gegensatz zur These der Vorbemerkung ist in den anschließend erzählten Geschichten der Wahnsinnigen deren Leiden keineswegs durchgehend und nicht einmal in der überwiegenden Mehrzahl wirklich selbstverschuldet“ 25. Zudem ist das Liebes- und Leidenschaftsverständnis, das in den Erzählungen selbst vorkommt, stark von den Konzepten der Empfindsamkeit und des Sturm und Drangs geprägt,26 wobei allerdings die Notwendigkeit der Mäßigung keinesfalls aufgegeben wird, so dass Georg Reuchleins Aussage, es werde in „fundamentale[r] Diskrepanz“ zur Vorrede, ein „empfindsames Liebes- und Leidenschaftsideal“ 27 propagiert, zu weit geht. 20 Spieß: Biographien, Bd. I, S. IV f. 21 Vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 63. 22 Spieß: Biographien, Bd. I, S. VI. 23 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 68. 24 Vgl. die Arbeiten von Berg: ‚Anthropologisierte‘ Erzählstrategien, S. 354 f.; dies.: Erzählte Menschenkenntnis. 25 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 101. 26 Vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 63; Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 101. 27 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 101.

Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen

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Ätiologie und Symptomatologie des Wahnsinns, die in den Biographien erkennbar sind, artikulieren sowohl medizinisches als auch moralpädagogisches Wissen vom Wahnsinn im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert. Die Leidenschaften, die der Erzähler in seiner Vorrede benennt und die Veränderungen, die diese im Körper bewirken – zum Beispiel angespannte Nerven, dickes und fehlerhaft fließendes Blut –, werden als psychosomatische Ursachen angenommen. Zu den Leidenschaften gehören dabei starke Affekte, so kann zum Beispiel extreme und überraschende Freude ebenso wie ein plötzlicher Schrecken gesundheitsgefährdend sein. Besonders anfällig für den Wahnsinn sind Menschen mit melancholischer, tiefsinniger oder schwermütige Veranlagung sowie Personen, die zu großer Empfindsamkeit neigen und eine starke Einbildungskraft haben oder abergläubisch sind. Bei der Veranlagung zur Melancholie helfen Bewegung und Zerstreuung, allerdings ist wiederum der Hang zur ständigen Zerstreuung durch Spiel, Tanz und Vergnügen gefährlich. Deutlich kommt in Spieß’ ätiologischen Erklärungen des Wahnsinns das Ideal des diätetischen Maßhaltens zum Vorschein, das so kennzeichnend für die zeitgenössische Medizin ist.28 Die Wahnsinnsfälle werden in den einzelnen Biographien detailliert aufgerollt und das Bemühen, auch entfernte Ursachen und Auslöser für die Erkrankung aufzuspüren, entspricht dem Muster der psychologischen Fallgeschichte. Themen wie uneheliche Schwangerschaften, Kindsmord, Selbstmord, Desertation und religiöser Aberglaube finden sich auch in erfahrungsseelenkundlichen und medizinischen Diskursen, die diese insbesondere im Zusammenhang mit Volksaufklärung und staatlicher Gesundheitsfürsorge diskutieren.29 Neben dem moralpädagogischen Impetus weisen die Erzählungen jedoch deutliche Merkmale der Literarisierung und Fiktionalisierung auf. Der Erzählstil weicht stark vom nüchternen Beobachtungsstil der Fallgeschichten ab. Statt dem peniblen Aufzählen jeder Veränderung am Zustand der Kranken werden die Fälle in größere narrative Sinnzusammenhänge gestellt und dabei literarisch ‚interessante‘ Themen wie eine ausweglose Liebe, tragische Familienkonstellationen, Kriminalgeschichten30 oder das Wirken ‚ruchloser Bösewichte‘ in den Vordergrund gerückt. Bei diesen Erzählkonstellationen sind verschiedene Reminiszenzen an literarische Topoi und Motive zu erkennen.31 Der Fokus der Erzählungen ist zudem viel stärker auf

28 Vgl. Bergdolt: Leib und Seele, S. 365–272. 29 Vgl. Bergdolt: Leib und Seele, S. 265–272. Vgl. zu Bezügen von Spieß’ Erzähltexten zu zeitgenössischen medizinischen und anthropologischen Diskursen: Michael Titzmann: Die Erzähltexte von Christian Heinrich Spieß und ihr Beitrag zur Anthropologie der Goethezeit. In: Germanistica Pragensia. 16 (2002), S. 9–18. 30 Zu den engen Bezügen der Kriminalgeschichte zur zeitgenössischen Anthropologie vgl. Košenina: Literarische Anthropologie, S. 53–67. 31 Vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 62; Wolfgang Promies: Reisen in Zellen und durch den Kopf. Ansichten von der Aufklärung. Christian Heinrich Spiess, oder: Wahnsinn in guter Gesellschaft. Tübingen 1997, S. 77.

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der Entstehungsgeschichte als auf der Dokumentation des Verlaufes. Außerdem werden durch das Zurückhalten von Informationen und das Aufdecken von Geheimnissen im Erzählprozess selbst Lektüreeffekte erzeugt, die stark an die Gattung der Kriminalgeschichte anschließen. Darüber hinaus sind Verbindungen zu der Gattung der sogenannten Schauerromane erkennbar, für die Spieß berühmt war,32 so etwa die mittelalterliche Szenerie in „Das steinernde Brautbett oder Hugo und Kleta“, der unheimliche, klösterliche Schauplatz in „Esther L.“ oder die Inzestthematik in „Amalie F.“ Zuletzt werden thematische Gemeinsamkeiten mit dem Bürgerlichen Trauerspiel deutlich, etwa die zentrale Rolle der Familie als Ort der Konflikte (speziell die Vater-Tochter Konstellation), Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Adel und generell die Darstellung bürgerlich-empfindsamer Moralvorstellungen.33 Das Verwischen der Grenze zwischen Authentizität und Fiktionalität, wissenschaftlicher Genauigkeit und Unterhaltungsfunktion wurde bereits in zeitgenössischen Rezensionen festgestellt. In einer Rezension des ersten und zweiten Bandes der Biographien in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek heißt es: In psychologischer Hinsicht könnte eine Sammlung von Lebensbeschreibungen wahnsinniger Menschen, mit psychologischen Geiste geschrieben, ein sehr nützliches Werk werden. Nicht wie Herr Spieß in der Vorrede meint, zu dem Zwecke, daß man daraus lernen könnte, wie man es anzufangen habe, um – nicht auch die Vernunft zu verlieren, wohl aber zur Belehrung für die, welche sich damit beschäftigen, solche Personen zu pflegen, zu behandeln, ihren Zustand zu erleichtern, und, wo möglich an ihrer Heilung zu arbeiten. Ein solches Werk müßte dann aber auch mit seltenem Scharfblicke die wahren Quellen des Uebels jedesmal sorgfältig aufspüren, sie unausgesetzt verfolgen, den Gang der Krankheit ohne Schmuck, ohne Verbrämung und ohne an ästhetische Wirkung zu denken, erzählen, damit man nie im Zweifel wäre, was an der Geschichte wahr und was Zusatz wäre – kurz! das Werk müsste anders behandelt werden als das vorliegende, und unmaßgeblich müßte ein Andrer als Herr Spieß ein solches Werk schreiben. Hier hingegen finden wir eine Sammlung von ganz artigen, zum Theil rührenden, halb wahren Mährchen, nicht ohne Weitschweifigkeit erzählt, und oft mit Dialogen untermischt, in welchen die Leute eine Sprache reden, die sich nicht zu ihren sonstigen Verhältnissen paßt.34

Der Rezensent beklagt im Folgenden neben sprachlichen Mängeln und Fehlern einige unrealistische Aspekte in einzelnen Geschichten, die ihn teilweise zu sehr an einen Roman erinnern würden. Die Vorwürfe der fehlenden Nützlichkeit und Anwendbarkeit werden hier an literarische Merkmale wie ästhetische Wirkungs-

32 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 98 f. Spieß’ Werk wird deshalb oft unter dem Aspekt des ‚Trivialen‘ untersucht: vgl. Ulrich Hartje: Trivialliteratur in der Zeit der Spätaufklärung. Untersuchungen zum Romanwerk des deutschen Schriftstellers Christian Heinrich Spieß (1755–1799). Frankfurt a. M. 1995. 33 Vgl. zu dieser Figurenkonstellation im Bürgerlichen Trauerspiel: Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. 2. Aufl. Tübingen 1999, S. 268–276. 34 Eg: Biographien der (besser einiger) Wahnsinnigen. Von Christian Heinrich Spieß. Leipzig bei Voß und Compagnie. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 26 1. St (1796), S. 204 f.

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strategien und Fiktionalität sowie an den Autor Spieß gekoppelt,35 dessen Art zu schreiben für spektakuläre Inhalte und Darstellungsweisen stehen. Vor dem Hintergrund eines autonomen Literaturdiskurses ‚überfordert‘ der Anspruch der Wahrheit und Zweckgebundenheit einen literarischen Text und trägt Anforderungen aus dem medizinisch-psychologischen Diskurs an das Literarische heran, ohne den spezifisch literarischen Umgang mit dem Wahnsinn zu berücksichtigen. Die Textgestaltung der Biographien, die bewusste Anlehnung an die Gattung Fallgeschichte und die Selbstaussagen des Autors, das Leben habe die Geschichten erzählt und er habe sie von Augenzeugen bei Reisen durch Böhmen und Süddeutschland berichtet bekommen,36 provozieren diese Ansprüche jedoch bewusst.

4.1.1 Vom Wahnsinn erzählen In den Biographien lassen sich zwei dominierende Erzählsituationen identifizieren: Entweder berichtet ein homodiegetisch-intradiegetischer Erzähler von seinen Reisen, bei denen er auf Wahnsinnige trifft oder ein heterodiegetisch-extradiegetischer Erzähler erzählt die Krankengeschichte der wahnsinnigen Figuren aus übergeordneter Perspektive. Die homodiegetisch-intradiegetisch erzählten Geschichten sind extern fokalisiert, das heißt der Wahnsinnige kann von dem Erzähler nur von außen wahrgenommen werden. Zahlreiche dialogische Passagen, in denen sich der Erzähler mit dem Wahnsinnigen sowie mit Familienangehörigen, Pfarrern oder Ärzten über den Fall unterhält, ermöglichen es, dass die Art und die Entstehung des Wahnsinns dennoch aufgeklärt werden können. In der Geschichte der „Katharine P***rin.“, die die Biographien eröffnet, schweift der homodiegetische Erzähler an einem Aprilmorgen durch die gebirgige

35 Spieß (* 1755 Freiberg, † 1799 Bezdiekau) stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus. Er studierte in Prag. 1774 debütierte er als Schauspieler und erreichte in der Folge einige Bekanntheit. Seit 1782 verfasste er eigene Stücke, mit denen er erfolgreich war (Die drei Töchter [1782], Maria Stuart [1783], Klara von Hoheneichen [1792]). Seit 1785 lebte Spieß auf Einladung des Grafen Caspar Hermann von Künigl auf dem Schloss Bezdiekau in der Nähe von Prag. Hier entstanden die meisten seiner Werke, überwiegend Prosaerzählungen und Romane (z. B. Die Biographien der Selbstmörder [1785], Das Petermännchen [1791/92], Der alte Überall und Nirgends [1792], Der Löwenritter [1794], Die zwölf schlafenden Jungfrauen [1795]), die bereits zu Spieß’ Lebzeiten und auch im Ausland äußerst populär waren. Das Petermännchen war für die Entwicklung der englischen Gattung der Gothic Novel bedeutend und hat Matthew Lewis’ The Monk (1796) beeinflusst. Spieß starb 1799 an ‚Abzehrung‘ und einem ‚Nervenfieber‘. Vor seinem Tod wurde er selbst wahnsinnig, bereits während seines Lebens hatte er Dispositionen zu Melancholie und Schwärmerei gezeigt, suchte die Einsamkeit und ließ sich einen künstlichen Friedhof anlegen, auf dem er spazieren ging (vgl. Wolfgang Promies: Nachwort. In: Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen. Mit 28 zeitgenössischen Illustrationen, hg und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Promies. Neuwied/Berlin 1966, S. 318–325). 36 Vgl. Promies: Reisen in Zellen und durch den Kopf, S. 54; zur Frage, inwiefern diese Aussagen stimmen: Hartje: Trivialliteratur, S. 9 f.

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Landschaft, welche die böhmische Stadt Ellbogen37 umgibt. Angesichts des kommenden Frühlings besteigt er in exaltierter Stimmung den Galgenberg, aber die Aussicht, auf die er sich freut, wird zunächst durch undurchdringbaren Nebel gestört. Erst nach und nach gibt der Nebel die umgebende Landschaft und Stadt frei, so dass der Erzähler sich an deren Ansicht ergötzen kann. Die visuelle Erfahrung wird durch die Einbildungskraft des Erzählers ersetzt, wodurch die menschengemachte Geschichte der Landschaft und ihrer Gebäude ausgemalt wird: So sieht er zum Beispiel beim Anblick der auf früheren Räuberhöhlen gebauten Kirche die Räuber, die hier gehaust haben und gefangene Jungfrauen ermordeten. Schließlich bleibt das Auge des Erzählers auf den Grabhügeln hängen, die den alten Galgen umgeben. Für den Erzähler sind die Gehängten „Opfer der Gerechtigkeit“: O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch ist wohl; aber weh, weh war euch’s gewiß damals, als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, euren Todeskampfe kämpftet; zum letztenmale in der weiten Natur umher blicktet, und dann hingeschleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers eurer Leben zu enden! Vielleicht blutete manchmal die verfolgte Unschuld an dieser Stätte! Vielleicht flehte sie hier oft vergeblich um Rettung und Hülfe, und starb verzweifelnd!38

Solche „verfolgte Unschuld“ vermutet er in den kurzen Gräbern, in denen er sich Kindsmörderinnen begraben vorstellt, da diese mit dem Schwert enthauptet wurden, während er in längeren Gräbern gehängte Mörder und Räuber annimmt. Die Vorstellung von den Kindsmörderinnen regt erneut seine Phantasie an und affiziert ihn mitleidig: Der Gedanke, daß unter diesen sich auch Kindermörderinnen befanden, ergriff mein Herz, und engte es mächtig. Ich sah die schuldlose Dirne unbefleckt und rein im einsamen Tal lustwandeln, ihr Verführer, ein abgefeimter Wollüstling, schlich hinter ihr her, rührte ihr offenes Herz, raubte ihre Unschuld, und eilte frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft überhüpfte einen Zeitraum von neun Monden, ich erblickte die nemliche Dirne wieder in ihrer Schlafkammer; starr und verzweiflungsvoll umher blickend, saß sie einsam auf ihrem Bette, sie rang ihre Hände, sie flehte zu Gott um Rettung aus der Schande, die ihr unwiderruflich drohte. Sie hatte ihren Zustand vor allen Augen bis jetzt verborgen, noch am Abende legte der alte Vater segnend seine Hand auf ihr Haupt, und nannte sie die Hoffnung seiner alten Tage. Am Morgen sollte er erfahren, daß sein Kind zur Hure geworden sei! Dieser Gedanke allein war ihr mehr als Hölle. Sie duldete die Schmerzen der Geburt im Stillen; als sie aber gebahr und ihr Schmerzenskind weinend die Schande der Mutter zu verkündigen begann, da ergriff es die Unglückliche im Gefühle der innigsten Schaam, und erstickte es im Bette.39

Der Erzähler schließt mit der Frage, ob nicht auch der Verführer des unschuldigen Mädchens Teil an dem Verbrechen hatte, auch wenn nur die Frau mit dem Tod bestraft wurde.40 37 Heute die Stadt Loket. 38 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 7. 39 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 8 f. 40 Vgl. zum beliebten Motiv der ‚verführten Unschuld‘ in der Literatur der Aufklärung: Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 1–9. Die Verbesserung der Lage von unverheirateten Müttern wurde

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Die Einbildungskraft des Erzählers produziert mit dieser Vorstellung einer unehelichen Schwangerschaft eine narrative Sequenz, die immer wieder in den Biographien aufgenommen wird und zeigt, das hier von ‚unglücklichen‘ Figuren berichtet wird, die das Mitleid und Ergriffensein des Lesers verdienen. Reuchlein stellt die moralisch-psychologische Unterscheidung zwischen den ‚Unglücklichen‘, deren soziale Unvernunft – beispielsweise Selbstmord oder Verbrechen – dennoch oder gerade Aspekte von Normmäßigkeit und Moral aufweisen, und den moralisch ‚Bösen‘ als typisch für die empfindsam-aufgeklärte Wahnsinnserfahrung heraus.41 Das Übergehen der Räubergräber und das Mitleid und Ergriffensein an den Gräbern der vermutlichen Kindsmörderinnen implizieren in Spieß’ Erzählung, dass Mitleid nur ‚unglückliche‘ Figuren nicht aber schlicht ‚böse‘ Verbrecher verdienen. Als der Erzähler ansetzt, noch weitere Fälle unglücklicher Verbrecher durchzugehen, wird er durch das Auftauchen eines singenden, wunderschönen jungen Mädchens und ihrer alten Mutter gestört. Er betätigt sich physiognomisch und macht sofort Anzeichen unmäßiger Leidenschaft bei dem Mädchen aus, denn „in ihrem Gesichte glühte feurige Andacht, die mir an Schwärmerei zu grenzen schien, weil sich oft die sanften Züge ihres so schönen Gesichtes unregelmäßig verzogen“ 42. Obwohl die Schwärmerei die perfekte Schönheit bereits bedroht, ist der Erzähler von dem Mädchen, das sein Lied voller Andacht vor einem der Grabhügel singt, tief berührt. Im Gespräch mit der Mutter erfährt er, dass ihre Tochter Katharine (Käthchen) wahnsinnig sei, stets nur beten wolle und die feste Überzeugung habe, durch ihre Gebete die verurteilten Toten erlösen zu müssen. Das Mädchen wird nun aufmerksam auf den fremden Mann und versucht, seine Geschichte selbst zu erzählen. Die inkohärente Rede der Wahnsinnigen muss jedoch durch ein weiteres Gespräch mit der Mutter ergänzt werden, in dem diese die Ursachen des Wahnsinns erzählt.43 auch im medizinischen Diskurs thematisiert: vgl. z. B. [Anonym]: Welches sind die besten ausführbaren Mittel dem Kindermorde zu steuern? In: Almanach für Aerzte und Nichtaerzte (1782), S. 200– 231. Vgl. auch den Überblick bei Bergdolt: Leib und Seele, S. 267 f. 41 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 64–67 und S. 75. Foucault weist am Beispiel eines Mörders, der seine Geliebte angesichts deren Untreue tötete, darauf hin, dass im Zuge der Debatte um die Schuldfähigkeit von Verbrechern und Verbrecherinnen der ‚Unvernunft‘ eine normstützende Dimension eingeschrieben wird, während sie lange nur Ausdruck von Schuldhaftigkeit gewesen sei. Der Mörder, der aus Eifersucht tötet, handelt auf Grundlage eines Wertes, den die Gesellschaft anerkennt, nämlich der Treue (vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 474–476). Dementsprechend zeichnen sich viele fixe Ideen, welche die Wahnsinnigen in den Biographien produzieren, durch besondere Religiosität und Tugendhaftigkeit aus und sind somit moraldidaktisch ‚nützlich‘. Obwohl der Wahnsinn auf einem moralischen Fehler der Figuren beruht, zeigen sich anschließend in den fixen Ideen die positiven Qualitäten der Charaktere, die durch den Verlust des Verstandes hindurch sichtbar sind. 42 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 11. Vgl. zur Physiognomik und Pathognomik nach 1750: Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 90–99. 43 Das Mädchen hat vom Vater ein Haus vermacht bekommen, das auch der Bruder gerne für sich wollte. Es verliebt sich in einen Soldaten. Durch eine Intrige des Bruders glaubt es, ihr Geliebter

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Der Erzähler führt die in der Vorrede geforderte mitleidige Reaktion vor: „Ich schwieg lange, ich konnte nicht mehr fragen, das unverdiente Leiden der Unglücklichen preßte mein Herz zu stark.“ 44 Das Mitgefühl befähigt ihn dabei, sich in Käthchens Zustand zu versetzten und so trotz der externen Fokalisierung eine Art Innensicht wiederzugeben: Ich versetzte mich in ihren Zustand, brachte mich in ihre Lage und fühlte sie schrecklich. Ewig von schwarzen Bildern und Träumen, die ihre überspannte Einbildungskraft sich täglich neu schafft, gequält und gemartert, überall von dem blutenden Geliebten ihres Herzens begleitet, immer mit seiner schrecklichen Erscheinung geängstigt, stets Trost suchend und ihn selbst im Tempel des Ewigen nicht findend. Gepeitscht von einem Bruder, dem sie alles was sie besaß freiwillig opferte! O es muß ein schreckliches Gefühl seyn! Es kann kein unglücklicheres Geschöpf auf dieser Welt umher wallen!45

Der Erzähler vermutet aufgrund seiner Fähigkeit zum Mitleiden eine bestimmte Gefühlswelt des Käthchen und versetzt sich in diese. Durch die Formulierungen „O es muß ein schreckliches Gefühl sein! Es kann kein unglücklicheres Geschöpf auf dieser Welt umher wallen!“ wird anschließend die Außenperspektive wieder aufgebaut. Die nachfolgende Geschichte von „Joseph Carl“ folgt einem ähnlichen Schema wie die erste Erzählung. Der Erzähler streift durch die Landschaft und entdeckt einen alten Mann, der unter einem Baum ein beschriebenes Blatt studiert. Der Wahnsinnige wird zunächst aus der Außenperspektive wahrgenommen, was dadurch unterstrichen wird, dass der Erzähler sich wieder als Physiognomiker versucht und sich sicher ist, einen außergewöhnlichen, klugen Denker vor sich zu haben: So […] muß Sokrates studiert, so tief und forschend muß er geblickt haben, als er die Gründe zum Beweise seiner Unsterblichkeit sammelte. Ein dünnes, schon vom Alter gebleichtes Haar beschattete sparsam seine Schläfe, und verrieth deutlich den Mangel an Säften, die ihm anhaltendes Studium geraubt hatte. Seine breite hochgewölbte Stirn, welche sich mächtig faltete, verrieth den Forscher und Denker, seine lange, spitzige Habichtsnase bestätigte diese Muthmaßung, der unmerkbar lächelnde Mund bewies innere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze dieses merkwürdigen Gesichts heischte Ehrfurcht und schien sie ganz zu verdienen.46

Der physiognomisch gewonnene Eindruck des Erzählers stellt sich jedoch als täuschend heraus, denn der alte Mann entpuppt sich als die wahnsinnige Figur der

sei desertiert und mit dem Tode bestraft worden. Das traurige Käthchen stürzt vom Spinnrad, wird bewusstlos und verliert ihren Verstand. Als die Intrige des Bruders aufgedeckt und dem Mädchen berichtet wird, dass der Geliebte noch lebt, glaubt sie das nicht mehr (vgl. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 1–49). 44 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 37. 45 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 37. 46 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 51.

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Erzählung. Der Pfarrer des Ortes bestätigt den Wahnsinn des Alten, und dieser wird dem neugierigen Erzähler und anderen Gästen auf einem Fest des örtlichen Freiherrn vorgeführt. Die Präsentation des Irren vor einem ‚vernünftigen‘ Publikum gehört zum aufgeklärten Umgang mit Wahnsinn.47 Nach Reuchlein ändert sich dabei im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert die Intention dieser Präsentationen und die erwartete Reaktion der ‚Vernünftigen‘.48 Während die Vorführung von Wahnsinnigen im frühen achtzehnten Jahrhundert, für das eine rationalistische Wahnsinnsauffassung festgehalten wird, auf die Ziele „Belustigung“ und „Verspottung“ 49 ausgerichtet war, fordert das empfindsam-aufgeklärte Verständnis von Wahnsinn „Mitleid“ und „Ernst“ 50 vom Zuschauer und legitimiert die Präsentation mit einer Ausrichtung an moralpädagogischen, philosophischen, anthropologischen und psychologischen Erkenntnisinteressen.51 Dieser Anspruch lässt sich in Spieß’ Erzählung erkennen. Bei dem Erzähler und den meisten Gästen herrscht eine Art mitleidige Neugierde vor, während ein junger Kaplan, der sich auf Kosten des Wahnsinnigen profilieren will, von diesem selbst abgestraft wird und ein Diener, der sein Lachen nicht zurückhalten kann, den Raum verlassen muss.52 Die Gäste befragen den Alten zu seinen zwei fixen Ideen, er sei ein Abkömmling Kaiser Karl IV. und er sei einst in einer „Oberwelt“ 53 gewesen, in der die Seelen der Menschen leben, die bei sündigem Verhalten im Kerker des Körpers auf die ‚richtige‘ Welt müssten. Die beiden fixen Ideen sind mit einer alten böhmischen Chronik und einem Werk, das Visionen und Träumereien enthält, verbunden. Ebenso wie in der ersten Erzählung werden nach der ‚Vorführung‘ der Symptome und Äußerungsweisen des Wahnsinns die Ursachen aufgedeckt, indem der Pfarrer dem Erzähler Joseph Carls Geschichte berichtet.54 Die Hintergründe zeigen, dass die physiognomischen Überlegungen des Erzählers doch nicht vollkommen fehlgeleitet waren. Der Pfarrer ist sich sicher, dass Carl

47 Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 137 f. 48 Reuchlein beschreibt dies am Beispiel des ‚Irrenhausbesuchs‘: vgl.: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 69 f. 49 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 70. 50 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 72. 51 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 72. 52 Vgl. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 68 f. und S. 74. 53 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 63. 54 Der Mann wird früh Waise und wächst bei einem Onkel auf. Er ist sehr gut in der Schule und soll studieren, muss aber aus finanziellen Gründen Schneider werden. Der unglückliche Schneider liest wann immer es möglich ist Bücher. Da er sie jedoch falsch versteht, entwickelte er seine fixen Ideen daraus. Nach einer einwöchigen Krankheit wird Carl wahnsinnig. Die Zeit seiner Krankheit stimmt genau mit der Zeit überein, von der Carl glaubt, er habe sie in der ‚Oberwelt‘ verbracht. Zum Ende der Geschichte ist Carl verschwunden. Es wird vermutet, dass er nach Frankreich gegangen sei, um dort in den Wirren der Revolution die französische Krone zu beanspruchen (vgl. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 50–94).

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ein großer Gelehrter geworden wäre, hätte man ihn studieren lassen: „Selbst sein beinah fünf und zwanzig jähriger Wahnsinn hat die Spuren seines offnen Kopfes, seines Genies noch nicht ganz vertilgt.“ 55 Der Körper widersteht hier dem Wahnsinn und unterstreicht das ursprüngliche ‚Potential‘, das in dem alten Carl gelegen hatte. Das Verhältnis von außen und innen ist uneindeutig. Es ist jedoch kein willkürliches Verhältnis, denn der Körper, insbesondere der Kopf, drückt hier noch die ursprüngliche Geistesfähigkeit aus, die vom Wahnsinn überlagert wird. Die beiden ersten Biographien sind ähnlich aufgebaut: Der homodiegetische Erzähler begegnet der kranken Figur, er beobachtet von außen deren wahnsinniges Verhalten und bekommt die fixe Idee in Gesprächen mit anderen Charakteren erörtert. Der Erzähler will anschließend die Ursachen und die Entstehungsstufen des Wahnsinns verstehen, die ihm ebenfalls im Dialog („Katharine“) oder in einem eingeschobenen Bericht („Carl“) offengelegt werden.56 In beiden Fällen lösen körperliche Vorfälle den Wahnsinn aus (in Käthchens Fall der Sturz und bei Carl die Krankheit), aber psychische Faktoren – der Kummer über den vermeintlichen Tod des Geliebten beziehungsweise das verhinderte Studium, das Carl zwingt, einen ungeliebten Beruf auszuüben – sind die Ursachen. Beide Erzählungen sind über weite Teile in Dialogform geschrieben. Für den homodiegetischen Erzähler ist dies die einzige Möglichkeit, die Gründe für die Erkrankung herauszufinden, indem er Personen aus dem sozialen Umfeld der kranken Figuren befragt. Zudem kann er durch Gespräche mit den Kranken, in denen diese ihre fixen Ideen artikulieren, einen Einblick in den Wahnsinn bekommen, der über die reine Außenperspektive hinausgeht und zu einem tieferen Verständnis der Krankheit führen kann. Dieser Einblick ist an die ‚Hörbarkeit‘ des Dialogs gebunden, was durch die Ich-Perspektive garantiert ist. Das dialogische Erzählen ist in den narrativen Gattungen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts verbreitet und wird auch theoretisch reflektiert.57 Jutta Heinz bezeichnet die Dialogisierung als ein wesentliches Merkmal des ‚Anthropologischen Romans‘, dessen Ziel es ist, das Innere zu ergründen.58 Die Wahnsinnigen in Spieß’ Geschichten sind nicht mehr in der Lage, sich zu ihrer eigenen Person in eine eine Beobachtersituation zu setzen, wie dies etwa von einigen Beiträgern im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

55 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 90. 56 Der Fokus des aufgeklärt-empfindsamen Interesses am Wahnsinn liegt auf den Ursachen und nicht mehr wie im rationalistischen Verständnis auf den Symptomen (vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 74). 57 Vgl. z. B. Johann Jakob Engel: Über Handlung, Gespräch und Erzählung. Faksimile-Druck der ersten Fassung von 1774 aus der „Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“, hg. und mit einem Nachwort von Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1964; Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 99; Christian Garve: Über Gesellschaft und Einsamkeit. In: ders.: Gesammelte Werke. Abt. 1, Bd. II: Über Gesellschaft und Einsamkeit, hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim/ Zürich/New York 1985. 58 Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall, S. 145–164.

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praktiziert wird. Die Dialogform ist in den homodiegetisch erzählten Geschichten daher das einzige Mittel, die Außenperspektive zu überwinden. Die dritte homodiegetisch erzählte Geschichte ist die der „Karoline G. von H.“, in welcher der Erzähler auf eine geheimnisvolle alte Frau trifft, die ihm wiederum als homodiegetisch-intradiegetische Erzählerin ihre eigene Lebensgeschichte vorträgt. Im Verlauf der Geschichte erweist sich die alte Frau jedoch als Wahnsinnige, obwohl sie zunächst keinerlei Symptome zeigt, vielmehr die Kohärenz ihrer Rede betont wird und sie selbst ihre Tochter als wahnsinnig bezeichnet. Die kostbaren Kleider, welche die arme Frau trägt, sind der erste Hinweis darauf, dass etwas an der Frau eigenartig ist. Ernsthaft irritiert ist der Erzähler schließlich, als die Frau ihm einen wertvollen Ring zeigt und seine Forderung, diesen zugunsten der unglücklichen Tochter zu verkaufen, zu einem irrationalen Zornesausbruch der Frau führt. Wenig später hat sie dies vergessen und stellt ihm ihre vermeintlich wahnsinnige Tochter vor. Voller Erwartung und Mitgefühl nähert sich der Erzähler dem im Bett schlafenden Kind, das sich jedoch zu seinem großen Entsetzen als Haubenstock entpuppt.59 Die Rede der Wahnsinnigen erweist sich in dieser Erzählung als unsicher und der Erzähler kann dies nicht kommentierend ergänzen, da sein Wissen an seine eigene Perspektive gebunden ist. Zuletzt klärt der örtliche Pfarrer auf, dass auch die anderen Angaben der alten Frau über ihre Lebensgeschichte nicht stimmen und vielmehr „ihre ganze Geschichte […] ein Werk ihrer verirrten Einbildungskraft sei“ 60. Noch in der Erzählung wird die Unzuverlässigkeit und Täuschung der wahnsinnigen Rede daher deutlich markiert, wenn auch nicht aufgelöst, denn im Unterschied zu den anderen Geschichten kann keine der anderen Figuren die Art des Wahnsinns und seine Entstehungsfaktoren erklären. Der Erzähler reist ratlos ab: „Ohne meine äußerst geweckte Neugierde nur im geringsten weiter befriedigen zu können, mußte ich endlich abreisen, und da mich der Weg einige Jahre nicht in die Gegend führte, so blieb mir die Geschichte der Alten immer ein unauflösliches Räthsel.“ 61 Wie im Fall „Carl“ verschwindet die Wahnsinnige zum Ende der Erzählung. Als der Erzähler nach zwei Jahren zurückkommt, erfährt er nur, dass sie in einer vornehmen Kutsche aus dem Dorf abgeholt wurde. Er verspricht jedoch Aufklärung, die er sogleich leisten würde, wenn er nicht noch die Klärung mehrere Geheimnisse abwarten müsste und schließt die Erzählung mit dem Versprechen, die Rätsel der Geschichte im zweiten Band aufzulösen. Geschickt wird hier ein Spannungsbogen zum folgenden Band aufgebaut, der zugleich mit dem Anspruch der

59 Vgl. die im Kapitel 3.2.1 zitierte Episode aus Schubarts „Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden“ in Moritz’ Magazin, in der ein Wahnsinniger mit einem bekleideten Haubenstock spricht: Schubart: Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden, S. 92 f. (siehe Kap. 3.2.1). 60 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 337. 61 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 339.

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Wahrheit und Authentizität der Fälle verbunden wird, denn der Erzähler gibt vor, sich die Geschichten nicht auszudenken, sondern sie zu erforschen und zu verifizieren. In den homodiegetisch-intradiegetisch erzählten Geschichten besteht der Wahnsinn der Person bereits. Der Erzähler wird mit diesem konfrontiert und will die Ursachen verstehen. Dieses Bedürfnis beruht nicht nur auf Neugierde, sondern er ist von dem Anblick der Wahnsinnigen emotional affiziert. Die Ursachen des Wahnsinns werden dialogisch ergründet, was die einzige Möglichkeit ist, Einsicht in das Innere der Wahnsinnigen zu erhalten und dieses sprachlich unmittelbar zu artikulieren. Das hat zur Folge, dass der Erzähler über die fixe Idee der Wahnsinnigen quasi nicht hinauskommen kann und daher auf ergänzende Figurenperspektiven angewiesen ist. Die Geschichten sind im Sinne der moralischen Erzählung und psychologischen Fallgeschichte legitimiert, da der Erzähler eindeutig nachweisen kann, wie er zu dem Wissen gekommen ist. Der Leser ist selbst Zeuge dieser Wissensgenerierung. In verdichteter Form findet sich die Struktur der besprochenen homodiegetisch erzählten Biographien in der Erzählung „Das Hospital der Wahninnigen zu P.“, die den Topos des Irrenhausbesuchs 62 aufgreift. Die Irren erzählen im Rahmen ihrer ‚Vorführung‘ jeweils ihre eigene Geschichte. Diese Selbstberichte bleiben jedoch nicht für sich stehen, sondern werden stets durch eine ausführliche Erläuterung des aufgeklärten Arztes ergänzt, der den Erzähler durch das Irrenhaus führt. Der Erzähler, der die Geschichten mit Neugierde und Interesse anhört, reagiert ganz im Sinne des aufgeklärten Mitleidpostulats: Er fühlt mit den Leidenden, vergießt manche Träne, ist voller Mitleid und wird sich der Kostbarkeit des Verstandes deutlich bewusst. In diesem typischen Bericht vom Irrenhausbesuch wird die zweifache Reaktion, die vom Leser seiner Biographien erwartet wird, am Erzähler selbst vorgeführt. Mit Ausnahme des „Hospitals der Wahnsinnigen zu P.“ finden sich die Geschichten, in denen der Erzähler homodiegetisch ist, allesamt im ersten Band der Biographien. Diese Erzählhaltung wird jedoch aufgegeben, denn in den folgenden Bänden dominiert eine heterodiegetisch-extradiegetische Erzählhaltung. Dies bestätigt Bergs Argumentation, dass dialogische Organisationsformen sich letztlich nicht durchgesetzt haben, da sie es nicht ermöglichen, die ‚Umweltfaktoren‘ und das Innere der Figur darzustellen. Gerade in ‚Moralischen Erzählungen‘ dominiere „ein ‚olympischer‘ Erzähler mit Außen- und Innensicht, der sich auktorial verhält“ 63. Der Erzähler rückt gewissermaßen in die Position des Arztes des Irrenhauses, der die Geschichten der Wahnsinnigen vermittelt und kommentiert und der Leser wird zu dem Besucher, dem die Kranken literarisch vorgeführt werden. Der Erzäh-

62 Siehe Anmerkung 199 (Kap. 3.2.1, S. 140). 63 Berg: Beiträge zur Menschenerkenntnis, S. 358.

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ler ist dabei stets sehr präsent und die Narration seiner Reaktionen ist ein fester Bestandteil der Texte. Er ist immer betroffen von den Schicksalen der ‚unglücklichen‘ Wahnsinnigen, bleibt aber trotz dieses emotionalen ‚Affiziertseins‘ auf einem festen, distanzierten Standpunkt zum Geschehen. Nimmt man die Flussmetaphorik der Vorrede auf, so berichtet er von dem reißenden Strom, bleibt aber immer eindeutig am sicheren Ufer stehen. Die heterodiegetisch-extradiegetische Erzählhaltung ermöglicht es zudem, verstärkt auf die Vorgeschichte des Wahnsinns einzugehen, was dem Interesse des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an den Ursachen des Wahnsinns entspricht.64 Die Fokalisierung wechselt innerhalb der Erzählungen von null zu intern und manchmal extern. Der Erzähler hat zumeist eine große Übersicht über das Geschehen, weiß mehr als die Figuren, kann aber auch in ihr Inneres schauen, ihre Gefühle und Gedanken erzählen. Der Wechsel zur externen Fokalisierung findet zur Erzeugung von Spannung statt, so zum Beispiel in der Geschichte „Marie A-r“.65 Der Erzähler ist hier zunächst allwissend und kann Maries Gefühle intern fokalisiert erzählen: Vergebens zeigte ihr ihre Vernunft das neben ihm stehende junge Weib, vergebens suchte sie ihr zu beweisen, daß dieses wahrscheinlich eben so lange als sie leben könne, der Gedanke: dies ist dein künftiger Mann! dies muß dein Gatte werden! stand von diesem Augenblick in ihrem Herzen, schwebte vor ihren Augen, raubte ihr Ruhe und Schlaf, quälte sie rastlos und unaufhörlich.66

Später ist diese interne Fokalisierung nicht mehr möglich. Bei der Aufklärung des Mordes an dem Ehemann und der Beurteilung der Schuld Maries an dem Tod der ersten Frau ist der Erzähler auf die geschriebenen Geständnisse des Knechts und der Giftmischerin angewiesen. Er selbst kann nur vermuten, dass deren Berichte wahr sind, da er die Ursachen von Maries Wahnsinn plausibel erklären kann. Marie erkennt in der Tat des Knechts ihre eigene wieder und wird aus Reue wahnsinnig. Sie kann nur noch unverständlich sprechen und lediglich die Worte „Gott ist gerecht“ 67 richtig artikulieren. Die unverständliche Rede verweist auf ihre Schuld; Furcht und Scham verhindern jedoch ein Geständnis. Der Erzähler nimmt an, dass sich die „Organe ihrer Sprache sich krämpften und nur unverständliche Tönen lal-

64 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 74. 65 Marie verliebt sich in einen verheirateten Mann. Nachdem dessen Frau nach der Geburt des gemeinsamen Kindes stirbt, heiratet er Marie und die beiden sind sehr glücklich. Der Ehemann wird jedoch von einem Knecht erschossen, der in einem eingeschobenen Bericht seine leidenschaftliche Liebe für Marie als Grund angibt. Marie wird daraufhin wahnsinnig. Wenig später wird sie selbst des Mordes angeklagt und angesichts ihres Wahnsinns jedoch ins Hospital gebracht, wo sie stirbt. Ein angefügtes Geständnis einer Zigeunerin legt die Lösung nahe, dass sie für Geld zusammen mit Marie die erste Ehefrau ermordet hat (vgl. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 255–294). 66 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 257. 67 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 292.

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len konnten“ 68. Die Rede der Wahnsinnigen kann daher keinen sicheren Aufschluss geben, da sie nur aus „leere[n], unverständliche[n] Töne[n]“ 69 besteht. Anders als in den homodiegetisch erzählten Biographien wird das ‚Endprodukt‘ des Wahnsinns nicht zu Beginn der Erzählung präsentiert, sondern die Entstehung des Wahnsinns Schritt für Schritt beschrieben. Die Erzählung der Biographie, die schließlich zum Wahnsinn führt, nimmt dabei oft einen weitaus breiteren Raum ein als die wahnsinnigen Zustände selbst, denn die Erkrankung soll empathisch verstanden werden. Dieser Fokus auf die Vorgeschichte unterscheidet die Biographien von denjenigen Wahnsinnsdarstellungen im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, die dem Muster der Krankengeschichte folgen und die Symptome des Wahnsinns in ihrem zeitlichen Verlauf dokumentieren. Die detaillierte Beschreibung der Ursachen erinnert vielmehr an Beispiele von Verbrecherdarstellungen im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde wie die von „Paul Simmens“ Verbrechen70, in denen die Faktoren, die zu der Tat geführt haben, gesammelt werden. Für die Aufdeckung und Erklärung aller Ursachen ist die heterodiegetischextradiegetische Erzählhaltung mit wechselnder Null- und interner Fokalisierung besser geeignet als die homodiegetische, die dem Erzähler nur die Form der dialogischen Erzählung lässt, um einen Einblick in das Innere zu erzeugen, und ihn so vor dieselben Herausforderungen wie den dramatischen Dichter stellt, wenn es um die Darstellung von Gefühlen und Gedanken geht. In den Dialogen sind daher immer ergänzende Hinweise zu finden, die sich auf die Art zu sprechen und die Körperhaltung der Protagonisten beziehen und so Aufschluss über ihre Gefühle geben können. Der heterodiegetisch-extradiegetische Erzähler kann hingegen Faktoren über das Innere der Protagonisten aufdecken, die über deren eigenes Bewusstsein hinausgehen und somit dem Erzähler entzogen sind. Zu diesem spezifisch literarischen anthropologisch-psychologischen Potential narrativer Gattungen passt, dass die Angaben, woher das Erzählte stammt, in den heterodiegetisch-extradiegetischen erzählten Geschichten der Biographien einen weniger prominenten Platz einnehmen, als es in Erzählungen und Romanen der Spätaufklärung oftmals üblich war.71 Der Erzähler verzichtet zumeist auf ausführliche Angaben, woher er das Wissen von dem Erzählten hat. Er impliziert jedoch an verschiedenen Stellen, dass er diese Legitimation leisten könnte, zum Beispiel durch Einschübe wie „Marie schied nun von ihm, und hinterbrachte seinen Anverwandten alles getreu, was sie mit

68 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 293 69 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 283. 70 Moritz: Auszug aus Paul Simmens Lebensgeschichte, S. 38–54; ders.: Beschluß von Simmens Geschichte, S. 101–110. 71 Vgl. zum „Legitimierungszwang“ des Erzählers in moralischen Erzählungen: Berg: Beiträge zur Menschenerkenntnis, S. 360 f.

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ihm gesprochen hatte“ 72 oder dem Auftreten eines Freundes des Erzählers in der Geschichte.73 Fiktionsintern ist der Erzähler auf solche Legitimierungen jedoch nicht angewiesen, da er selbst Einblick in das Innere der Figuren hat. Die Erzählungen wechseln von nullfokalisiert zu intern fokalisiert. Der Erzähler überblickt das äußere und innere Geschehen. Er kann die Schauplätze der Geschichte wechseln, weiß zum Beispiel, wo welcher Brief in den Kriegswirren verloren geht. Zugleich kann er die Gefühle und Gedanken aller Figuren erzählen und zusammenfassen, Informationen aber auch bewusst zurückhalten. Die wechselnde Fokalisierung führt nicht zu einer an eine Figur gebundenen Wahrnehmung, da die, die Nullfokalisierung unterbrechende, interne Fokalisierung nicht an eine Figur gebunden ist, sondern der Erzähler aus der Sicht aller Charaktere erzählen kann. Die Erzählerperspektive bleibt dabei präsent und übergeordnet, so dass sich kein multiperspektivisches Erzählen ergibt, das verschiedene Figurenperspektiven nebeneinander stellt. Auch führt das ausführliche Aufdecken der Faktoren, die in der jeweiligen Biographie zum Wahnsinn führen, nicht zur Konstruktion eines spezifisch eigenen Charakters, denn die Figuren haben kaum individuelle Züge, sondern sind ‚Typen‘ wie die ‚verführte Unschuld‘ oder der ‚böse Verführer‘. Insbesondere in dem Beitrag „Das Hospital der Wahnsinnigen zu P.“ werden die Insassen als feste Typen wie der ‚Verschwender‘, der ‚Geizige‘ oder der ‚Wahnsinnige‘ eingeführt, die an das Personal der Typenkomödie erinnern. In den anderen Erzählungen unterstreicht die Typisierung der Figuren die allgemeingültige Gefahr des Wahnsinns, denn die Charaktere, die in den Biographien wahnsinnig werden, sind häufig Idealtypen der Aufklärung. Sie zeichnen sich durch äußerliche Schönheit aus, die Frauen sind zudem empfindsam und gefühlvoll, die Männer (überwiegend) fleißig und bescheiden. Der Wahnsinn betrifft dabei immer die ‚guten‘ Charaktere, die nach Auffassung des Erzählers Mitleid verdienen, während die ‚Bösen‘ durch staatliche Gewalt oder Armut bestraft werden oder vom Erzähler auf Gottes Strafgericht verwiesen werden. Trotz seiner ‚allwissenden‘ Position verzichtet der heterodiegetische Erzähler nicht komplett auf dialogische Formen, auch wenn diese weitaus kürzer und seltener sind als in den homodiegetisch, extern fokalisierten Erzählungen. Obwohl er nicht mehr darauf angewiesen ist, dienen die Dialoge auch hier dazu, die fixe Idee der Wahnsinnigen vorzuführen, geben also Einblick in die Gedankenwelt und Logik des Wahnsinnigen. In der Geschichte von „Wilhelm M***r. und Karoline W-.“ 74 72 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 181. 73 Beispielsweise in den Erzählungen „Friedrich M***r. und seine Familie“ oder „Franz L-r“, in „Marie L.“ erscheint er sogar schließlich selbst und wird zum homodiegetischen Erzähler. 74 Lottchen verliebt sich in Wilhelm und wird unverheiratet schwanger von ihm. Da dieser in die Armee einberufen wird, können die beiden zunächst nicht heiraten, was Wilhelm Lottchen jedoch für die Zeit nach dem Krieg fest verspricht. Das verzweifelte Lottchen versucht, ihre Schwangerschaft so lange wie möglich zu verbergen, wird aber schließlich von der Gemeinde entlarvt. Lottchen muss sich in der Kirche vor der versammelten Gemeinde einer Art Schuldtribunal stellen, in

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wird die fixe Idee der wahnsinnigen Pfarrerstochter Karoline (genannt Lottchen), sie sei gestorben und mit ihrem Kind im Himmel zunächst vom Erzähler berichtet: Sie wähnte mit ihrem Kinde im Himmel zu seyn, und glaubte alle Freuden desselben zu genießen. Sie sprach täglich mit Gott und den Engeln, ihre Einbildungskraft verwandelte einen Trunk frisches Wasser in Nektar, und ein Stückchen Brot in Himmelsmanna.75

Als Lottchen jedoch mit ihrem aus dem Krieg zurückgekehrten Liebhaber und Vater ihres Kindes Wilhelm konfrontiert wird, erklärt sie ihre panische Reaktion auf seine versuchte Annäherung in einer dialogischen Passage: Warum weint er denn? fragte sie endlich. DER PFARRER: Weil sie ihn nicht sehen, nicht sprechen wollen. LOTTCHEN ängstlich: Wie kann ich denn? Wenn er mir zu nahe kommt, so trägt er mich aus dem Himmel wieder in die Welt hinab, und da muß ich wieder auf’s neue leiden. O dahin mag ich nicht mehr! Nein! Nein! Dahin gehe ich nicht.76

Das Beispiel zeigt zugleich, dass die Dialogform nicht nur zur Darstellung des Wahnsinns genutzt wird, sondern auch, um eine Konfliktsituation dramatisch zugespitzt darzustellen. Der Konflikt entsteht dadurch, dass der Pfarrer und Wilhelm Lottchens fixe Idee gefährden, indem sie den lebendigen Wilhelm in ihren ‚Himmel‘ führen wollen. Während Lottchen die anderen Figuren für Engel hält, erkennt sie bei Wilhelm sofort, dass er „noch seinen Körper“ 77 hat und folglich lebendig ist. Diese Konfliktsituationen müssen dabei nichts mit den Äußerungen des Wahnsinns zu tun habe, so wird beispielsweise der Moment, in dem Lottchens Vater diese mit ihrer Schwangerschaft konfrontiert, ebenfalls dialogisch dargestellt: LOTTCHEN (bebend und zitternd): Liebster Vater, was ist Ihnen widerfahren? VATER (im schrecklichen weinenden Tone): Kind des Jammers! kannst du mir Trost gewähren, kannst du’s widerlegen, so eile, damit dich dein sterbender Vater noch segnen kann. (mit

dem der Vater seine Tochter und sich selbst anklagt. Die Gemeinde hat schließlich Mitleid mit Lottchen, die dem ‚Prozess‘ durchgehend in einem Zustand nahe der Ohnmacht folgt. Einzig ihre beiden Schwestern sind nicht bereit, ihr zu verzeihen und quälen sowohl sie als auch den Vater mit Vorwürfen, woraufhin Lottchen von der Gemeinde aus dem Haus des Pfarrers entfernt und in der Schule versorgt wird. Der Vater stirbt gepeinigt von den Vorwürfen seiner beiden anderen Töchter, was dazu führt, dass Lottchen wahnsinnig wird. Erst die Geburt ihrer Tochter führt zu einer Verbesserung ihres Zustandes, allerdings entwickelt sie die fixe Idee, gestorben und im Himmel zu sein. Die Rückkehr von Wilhelm gefährdet diese Vorstellung, so dass Lottchen zwar gerne aus sicherer Distanz mit ihm redet, jeden Annäherungsversuch jedoch ängstlich und schreiend abwehrt (vgl. Spieß: Biographien. Bd. I, S. 95–162). 75 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 139. 76 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 148. 77 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 154.

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erhöheter Stimme) Ist’s aber wahr – – O dann fliehe eilend, damit dich mein gerechter Fluch nicht mehr erreicht, nicht dort auch unglücklich macht. LOTTCHEN (auf ihre Knie sinkend): Vater! Vater!78

Die dialogische Form und die Anweisungen zur Sprechart und Körperhaltung führen eine Organisationsform des Dramas in die Erzählungen ein, in der Konfliktund Entscheidungssituationen dargestellt werden. Die Dialogform dient hier demnach nicht nur als ‚legitime‘ Darstellungsform des Inneren, sondern hat überwiegend eine literarisch-dramatische Funktion, indem sie eine unmittelbare Darstellung der Figuren möglich macht. So rechtfertigt auch Blanckenburg die Gattungsmischung, die durch das Verwenden dialogischer Formen in narrativen Texten entsteht, mit der größeren Natürlichkeit der direkten Wiedergabe von Rede zur Darstellung von Leidenschaften: Warum sollte, in heftigen Situationen, dem Romandichter der Dialog, − wenigstens der Monolog verwehrt seyn? Die Aeußerung der Leidenschaften fordert Worte, fordert Rede: Soll der Dichter ehe der Natur, als den willkührlichen Einrichtungen der Kunst entsagen?79

Natürlichkeit ist dabei in Spieß’ Biographien nicht mit einer Charakterisierung der Figuren im Sinne einer realistischen, dem jeweiligen sozialen Milieus entsprechenden Sprache zu verwechseln. Bereits in der oben zitierten Rezension wird Spieß, die stets gleiche ‚empfindsame‘ Sprache, in der vom einfachen Handwerker bis zur Adligen alle Figuren sprechen, als unrealistisch vorgeworfen. Die Erzählerstimme ist durch zahlreiche Kommentare und Wertungen sehr präsent. In den Kommentaren zeigt der Erzähler zum Beispiel Verständnis für das sexuelle Begehren junger Verliebter und ermahnt die Eltern, ihre Kinder im Widerstehen natürlicher Leidenschaften zu unterstützen: Kalte, gefühllose Seelen, deren feuchtes Phlegma jede Leidenschaftsflamme sogleich löscht, kann’s wundern, daß diese geheimen Zusammenkünfte bald strafbar wurden; mich wundert’s, daß die Liebenden einen langen Monat kämpften und nicht früher unterlagen.80

Neben solchen Einschüben wird die Haltung des Erzählers zu den Figuren auch durch den vielfachen Einsatz wertender Adjektive – wie „unnatürlich“ 81, „barbarisch“ 82, „arm“ 83 (im moralisch-emotionalen Sinn) oder „schön“ 84 – deutlich, durch die der Leser durch die moralischen Bewertungen der Geschehnisse gesteuert wird. Der Wahnsinn wird von einem festen, zwar teilnahmsvollen aber distan-

78 79 80 81 82 83 84

Spieß: Biographien, Bd. I, S. 114. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 99. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 98. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 128. Spieß: Biographien, Bd. III, S. 187. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 125. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 4.

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zierten Standpunkt vermittelt, wodurch immer klar gemacht wird, dass es sich bei den Wahnsinnigen um ‚Unglückliche‘ handelt, die das eingeforderte Mitleid des Lesers verdienen. Von einem festen auktorialen Erzählerstandpunkt wird auch die Geschichte der „Karoline G. von H.“ im zweiten Band zu Ende erzählt und somit die erzählerische Kontrolle über den Wahnsinn wieder hergestellt. In der Mitte der Erzählung „Esther L.“ offenbart der Erzähler, dass Esther mit der alten Frau aus der vorherigen Geschichte identisch ist: Hier ist der Zeitpunkt, in welchem ich – wenn ich anders die Wahrheit nicht verletzen will – meinen Lesern aufrichtig gestehen muß, daß die schöne Esther und die unglückliche, merkwürdige Alte, ein und die nehmliche Person sei und daß diese Erzählung die wahre Geschichte der letztern enthalte. Ob ich recht that, daß ich so lange schwieg und meine Leser absichtlich irre führte? Ob ich die einzige Absicht, ihre Erwartung mehr zu reizen und zu spannen, wirklich erreichte? mögen sie nun selbst entscheiden. Heil mir, wenn sie gelang! Vergebung, wenn ich fehlte! Der Reiz war zu groß. Da bis zu diesem Umstande die Geschichte, welche ihr Wahnsinn erfand, beinahe nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem wahren Lebenslaufe enthält, so konnte ich ihm nicht widerstehen und glaubte klüger zu handeln, wenn ich wenigstens bis hierher die Erwartung meiner Leser zu täuschen suchte. 85

Der Einschub, in dem der Erzähler sein Vorgehen reflektiert, zeigt die Stellung der Erzählung zwischen ‚literarischer Unterhaltung‘ und Dokumentation ‚wahrer Fälle‘. Um letzteren Anspruch nicht zu verletzen, muss er seine ‚Täuschung‘ offenbaren. Gleichzeitig formuliert er mit ‚reizvoller Erwartung‘ und ‚Spannung‘ als erhoffte Wirkungsziele Rezeptionsmuster, die in den Bereich der Literatur fallen. Neben dem Ziel der Unterhaltung wird auch die starke narrative Anordnung der vermeintlich realen Fälle durch den Erzähler deutlich. Um die Spannung für den Leser zu erhöhen, gibt er in der Geschichte der „Karoline G. von H.“ vor, nur eine Außensicht auf die Figur der Karoline zu haben. Die nachfolgende Erzählung der „Esther L.“ zeigt jedoch, dass ihm die Geschichte zum Zeitpunkt des Erzählens kein Rätsel mehr war und führt den festen erzählerischen Standpunkt wieder ein. Die unzuverlässige Rede der wahnsinnigen Alten wird durch die Wiederherstellung narrativer

85 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 69 f. Esther ist die Tochter eines jüdischen Kaufmannes und verliebt sich in einen christlichen Offizier. Die jungen Liebenden versuchen aus Vernunftgründen ihrer Liebe zu entsagen. Der Kaufmann stirbt und Esther erfährt, dass der Offizier angeblich eine andere geheiratet hat. Sie konvertiert zum Katholizismus und geht ins Kloster. Ihr Liebhaber kehrt zurück, klärt das falsche Gerücht seiner Hochzeit auf und entführt Esther. Diese wird nun protestantisch und die beiden heiraten unter dem Schutz einer gnädigen Fürstin und gegen den Willen der Familie des Mannes. Ihr Ehemann wird spielsüchtig und verprasst das gesamte Vermögen. Er stirbt in einem Duell und lässt Esther mittellos und schwanger zurück. Esther wird von den Nonnen des Klosters gefangen und eingekerkert. Ihr Kind wird ihr weggenommen, woraufhin Esther einen Haubenstock für ihre Tochter ansieht. Sie entkommt aus dem Kloster und lebt fortan in der Gegend, in der sie der Erzähler in der Geschichte „Karoline G. von H.“ trifft. Die Fürstin findet Esther, lässt sie an ihren Hof bringen, wo sie nach einem halben Jahr an einer Lungenentzündung stirbt (vgl. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 3–103).

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Kohärenz unter Kontrolle gebracht. Der Erzähler analysiert die Entstehung der falschen Rede: Von jetzt an hat ihr Wahnsinn viele Begebenheiten aus ihrer wahren Geschichte ächt und deutlich herausgehoben. Ich werde diese also nur kurz erwähnen und nur dann umständlicher erzählen, wenn er wieder ganz vom Wege der Wahrheit abweicht.86

In Folge ihres Wahnsinns vermischt Esther ihre eigene Geschichte mit der ihres Mannes Friedrich und vergisst Teile ihrer Biographie: Nur in der spätern Folge ward ihr auch das Gedächtnis ungetreu, sie verwechselte Friedrichs Geschichte mit der ihrigen, sprach viel von einer barbarischen Mutter, von einem harten Onkel, der sie noch immer verfolge, ihr alle ihre Landgüter geraubt habe, und solche nicht wieder zurückgeben wollte. Sie vergaß es endlich ganz, daß sie Nonne sei, verlangte, daß man ihr als einer vornehmen Dame begegnen solle, und duldete kein Nonnenkleid mehr an ihrem Körper.87

Der Wahnsinn verdunkelt den Verstand von Esther und beeinträchtigt ihr Erinnerungsvermögen, während die wahnsinnige Einbildungskraft eine neue Geschichte produziert, die dem Leser zunächst präsentiert wurde. Der Wahnsinn entfaltet auf der intradiegetischen Ebene eine poietische Kraft und resultiert in neuen Erzählungen.88 Gleichzeitig bringt der extradiegetische Erzähler diese Kraft wieder unter Kontrolle und stellt eine narrative Ordnung her, die das Unkontrollierte der wahnsinnigen Rede bewusst macht.

4.1.2 Die (narrative) Struktur des Wahnsinns Die narrative ‚Begleitung‘ der Figuren in ihren Wahnsinn, durch die Ursachen- und Wirkungsfaktoren aufgedeckt werden, ermöglicht es, eine Art Struktur des Wahnsinns in Spieß’ Biographien zu erkennen. Wahnsinn erscheint in den Biographien in bestimmten Konstellationen und wird mit sich wiederholenden Bildern und Figuren sprachlich erzeugt. Die Gefahr des Wahnsinns liegt im Extremen: Leidenschaften, Armut, institutionelle und soziale Gewalt oder sich über Jahre hinwegzie-

86 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 70. 87 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 93 f. 88 Feldhausen geht davon aus, dass Spieß mit realen Versatzstücken gearbeitet habe und diese neu montierte, damit die beschriebenen Personen nicht erkennbar seien. Folgt man dieser Annahme beschreibt Spieß mit den beiden zusammenhängenden Geschichten „Karoline G.“ und „Esther L.“ seinen eigenen Umgang mit den Quellen für die Biographien (vgl. Dietrich Feldhausen: Auf der Suche nach Esther L., Ein Beitrag zur Arbeitsweise eines Trivialautors im 18. Jahrhundert. In: Lichtenberg Jahrbuch 1989, S. 128–139). Feldhausens Versuche, die Biographie von Esther jahreszahlengenau zu rekonstruieren, und seine Vorwürfe mangelnder ‚realistischer‘ Darstellung übersehen jedoch die Fiktionalität und Unterhaltungsfunktion der Biographien und wiederholen im Grunde das eingangs zitierte zeitgenössische Rezensionszitat.

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hendes Leid führen die Figuren in Situationen, in denen sie den Verstand verlieren. Das Ideal der Mitte und die Figur des Maßhaltens implizieren die schmale Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft, die schnell überschritten werden kann. Die größte Gefahr für die Vernunft ist die Liebe, die laut den Erzählerkommentaren von Natur her eine maßlose und unkontrollierte Leidenschaft ist. In 11 von 14 Erzählungen spielt sie eine Rolle bei der Erkrankung am Wahnsinn. Dabei unterstreicht der Erzähler immer wieder, dass die Liebe, auch die körperliche Liebe, eine natürliche Leidenschaft ist, welche die meisten Menschen in ihrem Leben erfahren. Dennoch ist ein rationaler Umgang in diesen Situationen notwendig, wobei die jungen Liebenden hier auf die Unterstützung der Familie angewiesen sind, die in den Biographien oft durch den Vater der Frau präsentiert werden, während der Mann meist Waise ist. So wird in den Geschichten „Karoline“ und „Esther“ der Vater für die mangelnde Beaufsichtigung der jungen Liebenden kritisiert. Den Figuren Karoline (Lottchen), Amalie F, Wilhelmine (in der Geschichte „Franz L-r.“), Marie L. und Sophie G. gelingt ebenfalls kein rationaler Umgang mit ihren Gefühlen. Unter dem Eindruck einer sicheren zukünftigen Heirat lassen sie sich von ihren Liebhabern verführen und werden alle unverheiratet schwanger. Die leidenschaftliche, jugendliche Liebe muss unter Kontrolle gebracht werden, da sonst der Wahnsinn droht. Im Sinne einer positiven Erfüllung ist dies nur durch eine gesellschaftliche Legitimierung durch die Ehe möglich.89 Wenn dies keine Option ist, muss auf das Ausleben der Liebe verzichtet werden. In den Biographien ist die Ehe meistens nicht möglich. Nur Wilhelmine und Franz sowie Esther und Friedrich heiraten tatsächlich, allerdings bedeutet die Hochzeit den Bruch mit ihren familiären Kontexten, beispielsweise durch eine gemeinsame Flucht (Wilhelmine und Franz) oder Konversion zum Christentum (Esther). Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Legitimierung zeigt aber, dass nicht die Liebe an sich schon Auslöser des Wahnsinns ist, sondern sie wird es erst dadurch, dass sie die Liebenden mit ihrem sozialen Umfeld in Konflikt bringt. Das Umfeld kann dabei die Familie oder eine größere soziale Gruppen sein, wie die Gemeinde in Lottchens Fall. Die

89 Vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 69. Die Auffassung von der Liebe als Leidenschaft, die zum Wahnsinn führen kann, wenn sie unerwidert bleibt oder nicht erfüllbar ist, findet sich in der zeitgenössischen Medizin wieder. In seiner Medicinisch-moralische[n] Pathematologie oder Versuch über die Leidenschaften und ihren Einfluß auf die Geschäfte des körperlichen Lebens führt der Arzt Wilhelm Gesenius die Liebe als erstes Beispiel einer auf starkem Verlangen beruhenden Leidenschaft auf, die gesundheitsschädlich werden kann, wenn sie nicht mehr vom Verstand regiert und zu heftig wird. Die zu stark wirkende Leidenschaft verdrängt andere Wahrnehmungen. Die seelischen Erschütterungen haben ihr Analog in somatischen Erschütterungen – zum Beispiel gerät das Blut in eine zu starke Wallung oder fließt in Richtung der inneren Organe, statt durch Monatsfluss oder Goldene Ader abzufließen. Als Heilmittel schlägt Gesenius die Eheschließung vor, die das Ausleben der Liebe und insbesondere der Sexualität ermöglicht, oder die räumliche Trennung von der geliebten Person (vgl. Wilhelm Gesenius: Medicinisch-moralische Pathematologie oder Versuch über die Leidenschaften und ihren Einfluß auf die Geschäfte des körperlichen Lebens. Erfurt 1786, S. 20 f. und S. 57).

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Gesellschaft wird dabei überwiegend positiv dargestellt, oftmals verzeiht sie den Verführten ihren Tabubruch und versucht, die sozialen Folgen aufzufangen. Der Wahnsinn kommt plötzlich.90 An seinem Beginn steht der Verlust von Sprache und Bewegungsfähigkeit. Sprachlosigkeit, Lähmungen, stumpfes ‚Vor‑sich‑hin‑Starren‘ und Ohnmacht werden von einer plötzlichen Erkenntnis – etwa von Untreue oder Verrat – hervorgerufen und leiten den Wahnsinn ein. Das Bewusstsein kollabiert quasi unter einem zu starken Eindruck, die einen schmerzhaften Affekt auslöst. Die ‚philosophischen Ärzte‘ der Aufklärung sahen Ohnmachten als Beweis für psycho-somatische Verbindungen an und erklärten sie als eine Art Reizüberflutung, das heißt die zu rasche Abfolge von Eindrücken bringt den Fluss des Nervensaftes durcheinander. Dass die Ohnmacht bei Frauen schneller eintritt, wird mit der Annahme erklärt, dass ihr Nervensystem schwächer und reizbarer sei.91 Die Ohnmacht ist auch bei Spieß eindeutig weiblich konnotiert und ereilt ausnahmslos jede der weiblichen Patientinnen, während die Männer ‚nur‘ ihre Sprache verlieren oder bewegungslos vor sich hin starren. Inka Mülder-Bach stellt in ihren „Fall‑Studien zur weiblichen Ohnmacht“ die Verbindung von weiblicher Ohnmacht und Sexualität in der empfindsamen Literatur heraus.92 Die Ohnmachten sind Reaktionen auf den Abschied oder das Wiedersehen mit dem geliebten Mann, gemeinsame Lektüre, Liebesverrat, Verlassenwerden oder sexuelle ‚Schwellensituationen‘ wie dem ersten Kuss, Verführung, Eheschließung oder Vergewaltigung. Die Verbindung von Ohnmacht und Liebe beziehungsweise Sexualität ist auch in Spieß’ Biographien gegeben, da alle weiblichen Kranken im Zusammenhang einer Liebesgeschichte wahnsinnig werden. Allerdings werden die weiblichen Figuren nicht aufgrund eines generellen Nicht-Wissens von Sexualität, das plötzlich mit männlicher Begierde konfrontiert wird, ohnmächtig, wie es Mülder-Bach für die empfindsamen Frauenfiguren feststellt,93 vielmehr tritt die Ohnmacht ein, wenn die Figuren die Folgen ihrer ausgelebten Sexualität erkennen. Gemeinsam ist den ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Momenten der Bewusstoder Sprachlosigkeit, dass sie Schwellensituationen markieren, in denen die ‚normalen‘ Verstandsfunktionen zusammenbrechen. Auch in den analysierten Fallgeschichten gingen Momente des Wahnsinns mit Sprachlosigkeit oder -verwirrung einher (siehe Kap. 3.2). Der Moment des Verlusts ist dem Leser somit entrückt, da Ohnmacht und Sprachlosigkeit nur extern fokalisiert erzählt werden. Diesen von Erstarrung und Verstummung geprägten Momenten folgt vielfach brutale und sinn-

90 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 119. 91 Vgl. Inka Mülder-Bach: Die „Feuerprobe der Wahrheit“. Fall-Studien zur weiblichen Ohnmacht. In: Inge Baxmann, Franz Michael und Wolfgang Schäffner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 528–530. 92 Vgl. Mülder-Bach: Die „Feuerprobe der Wahrheit“, S. 525–543. 93 Vgl. Mülder-Bach: Die „Feuerprobe der Wahrheit“, S. 531–534.

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lose Raserei. Auffällig ist, dass der Erzähler diese nur kurz aus der Außenperspektive berichtet, meist mit einem Verweis auf das ‚Von-Sinnen-Sein‘ der Figur und der Notwendigkeit, sie zum Eigen- oder Fremdschutz zu fesseln. Die Raserei äußert sich auf der physiologischen Ebene oft in Fieber, das in den Biographien – wie in Herz’ Beschreibung seiner eigenen Krankheit – das mit dem Wahnsinn verbundene körperliche Symptom ist. Es wird dabei mit Hitze, selten Kälte94 sowie physischen Äußerungsweisen wie Zittern und Erschütterung der Nerven verbunden, von denen sich implizit auf die seelischen Vorgänge während der Raserei schließen lässt.95 Der körperliche Kampf mit dem Fieber, der auch als Kampf der Natur gegen die Krankheit skizziert wird, verweist auf den Kampf zwischen Wahnsinn und Vernunft. So markiert der ‚Sieg‘ über das Fieber in der Geschichte des „Jakob W***r.“ die temporäre Genesung vom Wahnsinn: „Ein hitziges Fieber ergriff ihn im letzten Frühjahre, und raubte ihm alle Vernunft. Er raßte eilf Tage lang schrecklich, am zwölften schien er aus einem tiefen Schlafe zu erwachen, und konnte wieder vernünftig reden und denken.“ 96 Das Fieber ist hier sogar der Akteur, der die Vernunft „raubt“, was sich nach außen hin durch Raserei äußert. Als das Fieber besiegt ist, ist Jakob für drei Tage auch von der fixen Idee, eine Brust aus Glas zu haben, genesen bevor dieser vor seinem Tod zurückkehrt. Auch Karoline in der Erzählung „Konrad G-.“ entkommt dem Wahnsinn, nachdem sie das Fieber besiegt hat: „Sie sprach, als sie aus der Ohnmacht erwachte, anhaltend irre, und ein hitziges Fieber nagte an ihrem Leben, aber die Natur siegte im fürchterlichen Kampfe, sie genas und erhielt den Gebrauch ihrer Vernunft wieder.“ 97 Im Fall der „Esther L.“ markiert die Genesung vom Fieber den Übergang von der Raserei zum ‚glücklichen‘ Wahnsinn: „Ein hitziges Fieber, welches sie Tages darauf ergriff, schien ihr Leben enden zu wollen, aber die Natur siegte, sie genaß, und ihre Raserei verwandelte sich in einen glücklichen Wahnsinn.“ 98 Das Prinzip der Außensicht, das kurze Skizzieren der Raserei lässt sich noch einmal mit der Erzählung „Das Hospital der Wahnsinnigen zu P.“ verdeutlichen.

94 Z. B.: „Fieberkälte durchschauerte ihre Nerven, durchbebte ihre Sinne, und schüttelte sie zur Empfindung, zum Gefühl empor.“ (Spieß: Biographien, Bd. III, S. 147) 95 Im achtzehnten Jahrhundert existierten eine Vielzahl von Fieberbegriffen und Fiebersystemen. In nosologischen Registern sind teilweise bis zu 155 Arten von Fiebern verzeichnet. Zu den vielfältigen Gründen, die für die Entstehung von Fieber ausgewiesen wurden, gehörte dabei traditionell starke seelische Erschütterung, eine Vorstellung auf die Spieß’ literarische Verwendung des Fiebers hier rekurriert. Entscheidende Änderungen in der Konzeption des Fiebers brachte Reils Ueber die Erkenntniß und Kur der Fieber (1799), in dem einzelne Fieber eingegrenzt und Fieber zudem als Reaktion des Körpers auf bestimmte Krankheiten definiert wurde (vgl.: Ines Heiser und Tina Römer: Fieber. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon, hg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Göttingen 2005, Sp. 239–243). Vgl. zur Bedeutung des Fiebers auch Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 191–202. 96 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 195. 97 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 235 f. 98 Spieß: Biographien, Bd. II, S. 91.

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Der Arzt führt den Erzähler an den Zellen vorbei, in denen die schlimmsten Wahnsinnsfälle untergebracht sind: Hier, sprach er, können Sie nur die höchst traurige Erfahrung sammlen, daß der rasende Mensch tief unter dem Viehe erniedrigt sei. Ich liebe Sie zu sehr, als daß ich Ihnen diesen schrecklichen Anblick gönnen sollte. Wilde, immerdauernde, oft wüthende Raserei hat diese Unglücklichen so entstellt, daß Sie solche nicht nur für Menschen erkennen würden. Gott gebe, daß sie bald enden, ich kann ihnen mit aller meiner Kunst nicht einmal Linderung geben!99

Wie der Arzt dem Besucher die schlimmsten Fälle nicht zumuten will, skizziert der Erzähler die Raserei der Wahnsinnigen in nur wenigen Sätzen. Der ‚schlimmste‘ Wahnsinn scheint das unsagbare ‚Andere‘ des Vernünftigen zu bleiben. Promies hat dies als „Ineffabilität des Wahnsinns“ 100 in der aufgeklärten Literatur bezeichnet: Phänomen des Rationalismus und nicht nur des Autors Spieß und seiner Illustratoren: an der Ineffabilität des Wahnsinns, der in Ketten liegenden Vernunft, die nur noch sich selbst ausdrücken und keine Geschichte mehr erzählen, ging der verstörte Zeitgenosse auf leisen Sohlen vorüber. Der von Spieß und seiner Zeit im Bild und auf dem Papier fixierte Wahnsinnige ist lediglich in einem Punkt verrückt, im übrigen aber ‚normal‘.101

Reuchlein weist jedoch zurecht darauf hin, dass Promies mit dem Diktum von der „Ineffabilität des Wahnsinns“ implizit den ‚echten‘ Wahnsinn „mit einem totalen, jenseits der Grenzen des Logischen, Kommunizierbaren und psychologisch Motivierten angesiedelten Krankheitszustand“ 102 gleichsetzt. Der partielle, auf einer ‚fixen Idee‘ beruhende Wahnsinn wurde jedoch in den zeitgenössischen Wahnsinnsdiskursen durchaus als verbreitete und ‚eigentliche‘ Form des Wahnsinns gesehen, so dass die Auffassung, Spieß blende hier den ‚wahren‘ Wahnsinn aus, den zeitgenössischen, breiten Wahnsinnsbegriff verkürzt.103 Für die vorliegende Arbeit ist jedoch Reuchleins Vermutung noch interessanter, Spieß könne auf die Literarisierung des „totalen Wahnsinns“ 104 verzichtet haben, um so die intendierte Wirkung der Rührung und des Mitleidens zu erzielen und zu verstärken. Hier gerät die Gattung als Grund für die Art der Darstellung des Wahnsinns in Spieß’ Biographien in den Blickpunkt. Gattungsnormen beeinflussen die Entscheidung, welcher Wahnsinn erzählt wird, denn der moralpädagogische Impetus und das empfindsam-aufgeklärte Mitleidspostulat bedeuten bereits eine Vorauswahl der wahnsinnigen Charaktere, deren Geschichten berichtet werden können. Um aus den Wahnsinnsfällen zu lernen und um Mitleid mit den Irren zu

99 Spieß: Biographien, Bd. III, S. 271 [falsche Seitenzählung]. 100 Promies: Nachwort. In: Biographien der Wahnsinnigen, S. 329. 101 Promies: Nachwort. In: Biographien der Wahnsinnigen, S. 329 f. 102 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 127. 103 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 127 f. 104 Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 126.

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empfinden, muss der Wahnsinn die ‚Unglücklichen‘ und nicht die ‚Bösen‘ in den Geschichten betreffen, was in allen von Spieß’ erzählten Biographien der Fall ist.105 Auch die sprachlich-rhetorische Präsentation des Wahnsinns im mittleren Stil entspricht dem empfindsam-mitleidigen Ziel der Erzählungen.106 Die Selektion des dargestellten Wahnsinns stimmt mit den Analyseergebnissen zur Wahnsinnsdarstellung im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde überein. Dort wurde in der Krankengeschichte „Genesungsgeschichte eines Jünglings von einem dreimonathigen Wahnwitz“ die Raserei mitdokumentiert, während die stärker literarisierte Darstellung in dem „Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden“ diese überspringt. Hinzu kommen die Bestrebungen narrativer, ‚moralischer‘ und ‚anthropologischer‘ Gattungen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, das Innere der Protagonisten zu ergründen. Die ‚Unmenschlichkeit‘ der zum Tier degradierten Rasenden, die im obigen Zitat formuliert wird, impliziert jedoch, dass diese kein Inneres mehr haben, das narrativiert werden könnte. Der komplett verstandslose und gefühllose wahnsinnige Mensch ist nur noch ein Körperwesen, dessen Körper auf nichts mehr verweist, da die menschenspezifische Verbindung von Körper und Seele unterbrochen ist. Der Wahnsinn wird erst wieder erzählbar, wenn sich die Figuren der Biographien von der Raserei erholen. Dies ist in allen Beispielen – zumindest für einige Zeit – der Fall. Zurück bleibt ein partieller Wahnsinn, der es den Betroffenen ermöglicht, mit der Situation, die den Wahnsinn verursacht hat, umzugehen und somit weiterzuleben. Der Erzähler bezeichnet diesen Wahnsinn in mehreren Geschichte als „glücklichen“ 107, und in der Tat wirkt er entlastend, fast schon ‚heilend‘, erlaubt er doch meist ein Weiterleben in der aufgeklärt-mitleidigen Gesellschaft und manchmal sogar fast eine soziale Wiedereingliederung, die allerdings zuletzt immer scheitert, denn keiner der Wahnsinnigen wird endgültig geheilt. Der partielle Wahnsinn beinhaltet zumeist eine ‚falsche‘ Eigen- oder Fremdwahrnehmung und eine partielle Amnesie, durch welche die belastenden und traumatische Erlebnisse ausgeblendet werden, die zum Wahnsinn geführt haben. Beispiele fehlerhafter Eigenwahrnehmung sind Jakobs Vorstellung, eine Brust aus Glas zu haben, durch die jeder in sein Herz schauen kann, oder Friedrichs Regression zum Kind. Falsche Fremdwahrnehmung liegt zum Beispiel vor, wenn Esther in einem Haubenstock ihr totes Kind sieht oder Karoline die Rückkehr ihres Konrads in eine Geistererscheinung umwandelt, ebenso wie der Graf L. seine Frau und Kinder für Geister hält und mit panischer Abwehr auf sie reagiert.108 Der Wahnsinn geht dabei fast immer mit einer partiellen Amnesie einher, beispielsweise im Fall

105 Vgl. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, S. 64. 106 Vgl. zum Stil der Empfindsamkeit: Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. 107 Vgl. zum Beispiel Spieß: Biographien, Bd. I, S. 139 und Bd. II, S. 91. 108 Vgl. die Erzählungen „Jakob W***r“ (Bd. I), „Friedrich und seine Familie“, „Esther L.“ (Bd. II), „Konrad G-.“ (Bd. II) „Graf L.“ (Bd. IV).

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von Konrad, der die Existenz seiner geliebten Karoline vergisst, nachdem er sie mit einem anderen Mann gesehen hat.109 Nach Lähmung, Sprachlosigkeit und Raserei wird Konrad aus der Stadt entfernt und kommt bei seinem ehemaligen Obristen unter. Die Erinnerungen an Karoline sind scheinbar verdrängt, und es wirkt so, als sei er geheilt. Nur seine Abneigung gegenüber dem Namen Karoline weist auf eine tief vergrabene Erinnerung hin. Seine Reintegration in die Gesellschaft geht soweit, dass ein junges Mädchen ihn heiraten möchte. Als aber Konrad einen Bekannten, dessen junge Frau und deren Kind genau der gleichen Anordnung wie einst Karoline und ihre Familie sieht, verfällt er wieder in Raserei.110 Auch Friedrich M, der unschuldig im Gefängnis saß, gefoltert wurde und seine Frau dort verlor, vergisst, nachdem seine Unschuld bewiesen wurde, den Gefängnisaufenthalt, seine tote Frau und schließlich sogar seine lebenden Kinder. Eine Puppe, die eine Sklavin mit Ketten darstellt, löst jedoch tiefe Traurigkeit bei ihm aus.111 Das Vergessen ist also nie total, bestimmte Bilder und Situationen können das Verdrängte zurückbringen, was meist zu einem Rückfall in Raserei oder Depression führt. Spieß konstruiert hier eine Unterteilung in Bewusstsein und Unbewusstsein, in das die schmerzhaften Erinnerungen verbannt werden. Die Trennung von beiden ist jedoch nicht absolut, da das Verdrängte durch ‚bildhafte‘ Reize von außen reaktiviert werden kann. Das gesunde Funktionieren der Seele wird als Ablauf von Bildsequenzen gefasst, die der Seele vorgestellt werden und durch den partiellen Wahnsinn werden die ‚störenden‘ Bilder aus dieser Sequenz herausgenommen. Ein

109 Konrad musste für seine Liebe zu Karoline, der Tochter eines reichen Kaufmanns, viele Hindernisse überwinden. Karoline soll auf Wunsch ihres Vaters einen reichen, alten Mann heiraten, flieht jedoch mit Hilfe ihrer eigentlichen Liebe Konrad, der aus einer ehebrecherischen Beziehung stammt und dessen Adoptiveltern gestorben sind. Konrad wird verhaftet und heimgebracht, als er Karolines Geld bei einer Bank abheben will. Er schweigt über Karolines Flucht, um sie nicht in Verruf zu bringen, wird später des Mordes an Karoline verdächtigt und gefoltert. Diese kehrt ebenfalls zurück und bezeugt seine Unschuld. Der reuige Vater stimmt einer Hochzeit der beiden zu. Konrad zeigt bereits erste Anzeichen von Melancholie und hat Angstzustände, die von Erinnerungen an die Folterung im Gefängnis ausgelöst werden. Für die Hochzeit soll Konrad in den Bürgerstand erhoben werden, wozu er jedoch einen Taufschein vorlegen muss, da nur freie und ehelich Geborene zum Bürger gemacht werden können. Konrad bricht nach Böhmen auf, um sich von der Leibeigenschaft loszukaufen und einen Taufschein zu erhalten, in dem das Wort „unehelich“ nicht vermerkt ist. Er gerät jedoch in die Wirren des siebenjährigen Krieges und wird ins Militär eingezogen. Seine Versuche, auf dem Schlachtfeld zu sterben, scheitern. Stattdessen gewinnt sein Mut die Aufmerksamkeit seines Obristen. Als er jedoch aus Sehnsucht nach Karoline desertiert, wird er gefasst und zum Tode verurteilt, später jedoch auf Wirken der Ehefrau des Obristen begnadigt. Karoline erfährt nur von der geplanten Hinrichtung, die Begnadigung verschweigt ihr der Vater, der inzwischen doch nicht möchte, dass Karoline einen unehelichen Nicht-Bürger heiratet. Nach einem Trauerjahr heiratet Karoline einen anderen Mann, Konrad aber schlägt sich nach dem Krieg unter großen Opfern nach Straßburg zu ihr durch. Er betritt die Wohnung und sieht sie ihr Kind stillend, den Ehemann neben ihr stehend (vgl. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 149–254). 110 Vgl. Spieß: Biographien, Bd. II, S. 253. 111 Vgl. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 249.

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ähnliches Bild, das der Seele von den Augen weitergeleitet wird, kann die scheinbar gekappte Verbindung jedoch wieder herstellen.112 Der ‚glückliche‘ Wahnsinn beruht demnach darauf, dass er bestimmte Bilder löscht, gleichzeitig produziert er neue Bilder und Erzählungen, denn er wird vom Erzähler ausführlich narrativiert. Die wahnsinnigen Figuren entwerfen Situationen, die sich selbst zu narrativen Strängen ausweiten. So spielt die wahnsinnige Karoline (Lottchen) aus Schuldgefühlen über den Tod ihres Vaters täglich ein schreckliches Mordtribunal durch, in dem sie für den blutigen Mord an ihrem Vater gefoltert wird. Ihre Imagination geht dabei so weit, dass sie sich von ihren Wärterinnen zum Hinrichtungsplatz des Ortes führen lässt und dort warnende Reden vor jungen Mädchen hält, sich nicht verführen zu lassen. Die Einbildungskraft löscht im Wahnsinn Aspekte der Realität und produziert neue Bilder und Geschichten, die der Erzähler der Biographien nur noch aufschreiben muss,113 so dass der Leser daran teilhaben kann. Diese Teilhabe ist zum einem möglich, da die ‚Geschichten‘ der Wahnsinnigen von Logik und Kohärenz geprägt sind, und zum anderen, weil sie aus der Distanz geschieht, denn die vernünftige Stimme des Erzählers artikuliert stets die Grenze, die nicht überschritten werden darf.

4.1.3 Der Körper als Ausdrucksfläche des Wahnsinns Körperliche Begierde ist in vielen der Biographien der Hintergrund der Wahnsinnserkrankungen, wobei erst das Zusammenspiel mit sozialen Normen, die das Ausleben von Sexualität nur innerhalb der Ehe legitimieren, zum irreversiblen Wahnsinn führt. Gabriele Scherer resümiert in Bezug auf die Geschichte von „Wilhelm und Karoline“: „Mit Krankheit, Wahnsinn und Tod wird in der vorgestellten Konfiguration das unter bürgerlichen Prämissen normwidrige Sexualverhalten sowohl des Protagonisten als auch der Protagonistin diszipliniert.“ 114 Allerdings ist Scherers Schlussfolgerung, dass es bei Spieß’ Erzählungen, keine geschlechterspezifische Differenzierung in Bezug auf den durch das körperliche Begehren verursachten Wahnsinn gebe, nicht zuzustimmen. Dies trifft zwar auf Wilhelm und Karoline zu, die infolge ihres unehelichen Geschlechtsverkehr beide wahnsinnig werden, wobei auch hier nur Lottchen durch die Schuld- und Schamgefühle erkrankt, die sie angesichts der Gemeinde und ihres Vaters entwickelt, während Wilhelm nach seiner Rückkehr aus dem Krieg aufgrund Lottchens Wahnsinn, der auch die Unerfüllbarkeit seiner Liebe zu ihr bedeutet, melancholisch wird. Bei den anderen Erzählun-

112 Auch Platner spricht in seiner Anthropologie von Bildern, die die Phantasie produziert und der Seele vorstellt (vgl. Platner: Anthropologie, S. 166 f. [Seite 166 ist im Original fehlerhaft mit 466 numeriert]). Die Funktionsweisen der Seele erhalten hier einen mechanischen Anstrich. 113 Vgl. Promies: Reisen in Zellen und durch den Kopf, S. 77. 114 Vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 69.

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gen, in denen die Protagonisten vorehelichen Geschlechtsverkehr haben, sind es jedoch immer die Frauen, die wahnsinnig werden („Karoline W***r“, [Bd. I], „Marie L.“ [Bd. III], „Amalie F.“ [Bd. III], „Sophie G-.“, [Bd. IV]), während sich die Männer als verantwortungslose Verführer entpuppen. Ausnahme ist die Geschichte von „Franz L.“, der wahnsinnig wird, weil er und seine Frau extrem verarmen und sie stirbt. Auch im Fall der Figur Kleta in „Das steinernde Brautbett oder Hugo und Kleta“ (Bd. III und IV) wird der Wahnsinn durch normwidriges Sexualverhalten ausgelöst, denn sie wird wahnsinnig, nachdem sie erfährt, dass sie unwissentlich ihren Bruder geheiratet hat. Die männlichen Charaktere werden hingegen angesichts der Unerfüllbarkeit ihrer Liebe wahnsinnig („Jakob W***r“ [Bd. I], „Wilhelm M***r”, [Bd. I], „Konrad G-“, [Bd. II]). Zudem sind die Ursachen des Wahnsinns bei den männlichen Figuren vielfältiger. Zu ihnen gehören Bücher (Joseph Carl, [Bd. I]), Folter und Gefängnis („Friedrich M***r und seine Familie“, [Bd. I]), Tod der Ehefrau und Armut („Franz L-r.“, [Bd. II]), die Adelsgesellschaft („Graf von L-.“, [Bd. IV]) oder Religion („Hanns K-., Bauer zu M-.“, [Bd. IV]). Körperlichkeit führt demnach nur bei den weiblichen Charakteren zum Wahnsinn, da auch die sozialen Folgen für diese radikaler und unausweichlicher sind. Der Körper spielt in den Biographien auch als Ausdrucksfläche des Wahnsinns eine Rolle. In Lottchens Fall äußert sich das gerade in der Negation des Körpers. Bei der Geburt ihrer Tochter projiziert sich Lottchens Wahnsinn auf den Körper, indem sie die Geburtsschmerzen für ihre Hinrichtung hält. Danach hat sie ihren Körper vergessen. Sie wähnt sich gestorben und im Himmel und inszeniert sich als Engel- oder Heiligenfigur. Lottchen nimmt auch die Körperhaftigkeit der anderen Gemeindemitglieder nicht mehr wahr und hält sie für Engel. Erst die Rückkehr ihres Geliebten, der für ihre (körperliche) Liebe und damit die Ursache ihres Leidens steht, gefährdet diese fixe Idee. Lottchen reagiert dementsprechend mit heftiger Abwehr auf die Annäherungsversuche Wilhelms und spricht nur aus räumlicher Distanz mit ihm. Sie begründet ihre Ablehnung damit, dass Wilhelm seinen Körper noch hat und sie aus dem Himmel holen wolle. Der Körper des Mannes wird von ihr als gefährlich empfunden, die Szene der verlorenen Unschuld und der Folgen in eine Welt-Jenseits-Situation überblendet. Die beiden Liebenden sterben schließlich in einem zum reißenden Strom angeschwollenen Bach, an dessen entgegengesetzten Ufern sie immer stehen, wenn sie miteinander reden und der die Trennung zwischen Himmel und Erde für Lottchen markiert: Im Frühjahre, als der Schnee schmolz, und der Bach reißend und schnell durch das Dorf strömte, vermißte man Wilhelm und Lottchen an einem Tage […]. Erst als der Bach am dritten Tage in seine Ufer zurücktrat, fand man die Unglücklichen auf einer überschwemmten Wiese, sie hielten einander fest umschlungen und schienen noch im Tode die Wonne der Wiedervereinigung zu fühlen, denn sie lächelten beide und widerlegten den Satz, daß der Tod bitter schmecke.115

115 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 159.

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Erst der Tod ermöglicht die Vereinigung der beiden, die somit auf das Jenseits verschoben wird. Der reißende Strom funktioniert in der Vorrede zu den Biographien als Metapher für den Übergang zum Wahnsinn. Zudem ist dem Bach, der zu einem reißenden Strom anschwillt und die beiden Liebenden mit sich reißt, bis er sie in enger Umarmung tot wieder freigibt, eine deutliche sexuelle Konnotation eingeschrieben. Die verdrängte Körperlichkeit der Liebenden fordert ihre Existenz zurück, was jedoch unausweichlich im Tod der beiden resultiert. Während Käthchens fixe Idee die eigene körperliche Identität negiert, entwirft Jakob einen nur imaginär existierenden Körper, denn er glaubt, seine Brust sei aus Glas, so dass jeder in seinem Herzen lesen könne.116 Jakobs Wahn entwickelt sich nicht so sehr aufgrund der Liebe zu der Magd, sondern aus einem Schamgefühl heraus, das entsteht, als er entdeckt, dass alle über seine privaten Gefühle Bescheid wissen.117 Der Körper versagt als Oberfläche des Inneren, das daher den Blicken der anderen schutzlos ausgeliefert ist. Während die körperliche Veränderung hier nur in der Einbildungskraft des Kranken entsteht, wird in anderen Fällen der Körper zur sichtbaren Fläche des inneren Wahnsinns, wobei dies entweder durch die Natur des Wahnsinns selbst geschieht oder durch die aktive Gestaltung der Wahnsinnigen. In der Erzählung der „Katharine P.“ kehrt der Erzähler nach zehn Jahren in die Stadt zurück, in der sie mit ihrer alten Mutter lebt. Er erkennt das einst schöne Mädchen jedoch kaum wieder: Kätchen war vor zehn Jahren wirklich ein schönes Mädchen, jetzt war ihr Gesicht bis zur Häßlichkeit herabgesunken, nicht eine Spur der ehemaligen Schönheit war mehr vorhanden, alle die so interessirenden, anziehenden Mienen waren verschwunden, ihr Auge selbst war kleiner geworden, dicke, verzerrte Falten umhüllten es. Ihr Gesicht verkündigte nicht mehr unterdrückte Unschuld, inneres Leiden, es war jetzt das Bild der vollendeten Narrheit. Ihr Haar, das sich ehemals in natürlichen Locken um Nacken und Schulter wiegte, war jetzt in einander gewirrt […]. Fahles Gelb hatte die blasse Röthe ihrer Wangen verdrängt, ihr Kopf hing seitwärts, selbst ihr Körper war kleiner geworden.118

Während der Körper zunächst noch nobilitierende Qualitäten wie die „unterdrückte Unschuld“ und das „innere Leiden“ ausdrückt, zeigt er jetzt nur noch eine Leer116 Jakob verliebt sich in die schöne Magd Marie, die jedoch auf Grund des Standesunterschiedes die Einwilligung von Jakobs Familie zur Voraussetzung für eine Heirat macht. Jakob vertraut sich einem Freund an. Auf einem anschließenden Fest weiß jedoch bereits die ganze Familie von seiner nicht standesgemäßen Liebe und konfrontiert Jakob mit harten Vorwürfen. Jakob verschwindet von der Feier und erst sieben Tage später finden ihn seine Knechte fast tot in einer Heuscheune. Jakob genest zwar körperlich, weigert sich aber zu sprechen und hält seine Brust immer mit seinen Händen bedeckt. Erst der Magd Marie entdeckt er, dass er glaubt, seine Brust sei aus Glas und jeder könne in seinem Herzen lesen (vgl. Spieß: Biographien, Bd. I, S. 163–195). 117 Vgl. Alexander Košenina: Gläserne Brust, lesbares Herz. Ein psychopathographischer Topos im Zeichen physiognomischer Tyrannei bei Chr. H. Spieß und anderen. In: German Life and Letters 52 (1999), S. 159 und S. 164. 118 Spieß: Biographien, Bd. I, S. 46 f.

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stelle – die Abwesenheit des Verstandes – an. Der Verlust des Verstandes zerstört den menschlichen Körper und degradiert ihn zum tierischen, was beim Menschen Hässlichkeit bedeutet.119 Die Beschreibung des ehemals schönen Käthchen ist die einzige Stelle in den Biographien, in denen der Erzähler die „vollendete[ ] Narrheit“ beschreibt, die sonst nur erwähnt wird. Die Beschreibung des ‚glücklichen‘ Wahnsinns und der einfachen ‚Blödheit‘ wird dabei auf der körperlichen Ebene in die Kategorien schön‘ und ‚hässlich‘ überblendet. Während sich in diesem Beispiel die Natur des Wahnsinns den Körper formt, drücken sich die wahnsinnigen Frauen in den Erzählungen „Sophie G.“ und „Amalie F.“ selbst über ihren Körper aus. Die Fälle der beiden Frauen sind ähnlich, beide verlieben sich, nehmen für ihre Geliebten viele Opfer auf sich,120 beide lassen sich von den Männern unter dem Eindruck eines Heiratsversprechens verführen und werden von ihnen schwanger zurückgelassen, während die Männer eine andere Frau heiraten. Nachdem Amalie von der Hochzeit ihres Geliebten mit einer anderen Frau erfahren hat, flieht sie aus dem Freudenhaus, in das er sie eingesperrt hat, und bringt wenig später ihr totes Kind zur Welt. Amalie verliert ihre Sprache, ihre einzige Tätigkeit ist das Wühlen in der linken Brust: Sie aß und trank gleich einer Gesunden, sprach aber nie ein Wort mehr, und verrieth keine andern Symptomen ihres Wahnsinns, als daß ihre Rechte immer auf ihrem Herzen ruhte, sie mit dieser oft den innern, wahrscheinlich stets nagenden Schmerz herauszugraben suchte, und dadurch oft die linke Brust verwundete.121

Der psychische Schmerz wird im Herzen als dem emotionalen Zentrum des Menschen lokalisiert, denn Amalies Wühlen hat ihr „betrogenes Herz“ 122 zum Ziel. Der Schmerz bekommt zugleich eine physische Dimension, der sich in Amalies Versuch äußert, ihn aus dem Körper zu entfernen. Das Herz wird hier also sowohl in metaphorischer als auch somatischer Hinsicht angesprochen. Durch Amalies Wühlen verletzt sie sich selbst; der psychische Druck wird gewissermaßen in ‚reale‘ körperliche Schmerzen umgewandelt oder abgeleitet. Zuletzt nimmt der Schmerz tatsächlich körperliche Gestalt an: Da neugierige Besucher den Namen Wilhelm oft aussprechen, wühlt Amalie so oft und heftig in ihrer Brust, „daß bald ein unheilbarer Krebs an ihr nagte, und, aller Hülfsmittel ungeachtet, ihr Leben unter schrecklichs-

119 Vgl.: Spieß: Biographien, Bd. I S. 48. 120 Amalie flieht mit Wilhelm aus dem Kurbad Spaa, um in Leipzig ein neues Leben mit ihm zu beginnen (vgl. Spieß: Biographien, Bd. III, S. 1–180). Sophie bewirkt, dass die Todesstrafe, die gegen Wilhelm wegen Diebstahls verhängt wurde, in eine drei jährige Gefängnisstrafe umgewandelt wird und hält ihm während dieser Zeit die Treue, unterstützt ihn sogar mit Essensspenden (vgl. ebd. Bd. IV, S. 1–60). 121 Spieß: Biographien, Bd. III, S. 169 f. 122 Spieß: Biographien, Bd. III, S. 170.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

ten Schmerzen endigte“ 123. Der psychische Schmerz nimmt in Form des Krebstumors physische Gestalt an. Die kausale Verbindung von Schmerz und Krebs wird auch durch die Metaphorik des Essens deutlich, mit der die Wirkung sowohl des psychischen wie des physischen Leidens beschrieben wird. Beides wird als langsames ‚gegessen werden‘ evoziert: Der Erzähler spricht vom „stets nagenden Schmerz“ 124 und später davon, dass „ein unheilbarer Krebs an ihr nagte“ 125. Die Figuration des psychischen Schmerzes als Krebstumor findet sich auch in der Erzählung des „Graf von L.“ 126 Als der melancholische Graf seine totgeglaubte Ehefrau nach Jahren wiedersieht, wird er angesichts dieser plötzlichen Freude wahnsinnig und hält seine Frau für einen Geist. Als alle Versuche scheitern, den Grafen von seinem Wahnsinn zu heilen, erkrankt die Gräfin vor Kummer an Krebs: „Da ward die Wunde ihres Herzens zum fressenden Krebse, unheilbare Abzehrung nagte an ihrem Körper, nach drei langsam durchschmachteten Jahren endete der Tod ihr namenloses Leiden.“ 127 Auch hier wird der Krebstod als ein ‚gegessen werden‘ ausgedrückt und somit mit der gleichen Metaphorik beschrieben, die auch die Wirkungen des Schmerzes darstellt. Die literarische Figuration von Trauer und (psychischem) Schmerz im Krebs greift auf eine in der Medizin angenommene Verbindung von Melancholie und Krebs zurück, die dort im Erklärungsrahmen der Humoralpathologie allerdings als somatischer Vorgang gesehen wurde.128 Boerhaave schreibt beispielsweise über die Melancholie und schwarze Galle als Ursache von Krebs: Da es nun die Erfahrung giebt, daß diese scharzgallichte, und fast wie Pech zähe Materie durch die Länge der Zeit, darinn sie stocket, scharf und fressend werden, und alsdann die größten Uebel verursachen kann; so wird sich ein gleiches auch in einem Scirrhus ereignen können, besonders bey Personen von einem melancholischen Temperament; es wird also auch hier allein durch sein Alter bösartig werden, obschon keine andere Ursache dazu käme.129

123 Spieß: Biographien, Bd. III, S. 178. 124 Spieß: Biographien, Bd. III, S 170. 125 Spieß: Biographien, Bd. III, S. 178. 126 Der Graf heiratet eine arme Bürgerliche und zieht sich damit den Zorn der Adelsgesellschaft zu. Nachdem seine Frau auf einer Feier von einem anderen Grafen schwer beleidigt wird, erdolcht Graf L. diesen. Er wird zum Tode verurteilt, kann aber mit der Unterstützung der mitleidsvollen Fürstin aus dem Kerker entfliehen und lebt fortan als Schäfer in den Bergen. Der Totschlag wird zwar nicht gebilligt, da er aber aus Liebe und Ehrgefühl geschah mit Verständnis behandelt. Auch die Gräfin L. kann mit Hilfe der Fürstin auf einem einsamen Landgut weiterleben. Nach dem Tod ihres Mannes begnadigt die Fürstin den Grafen offiziell und die Eheleute können sich nach Jahren der Trennung wiedersehen. Der melancholische Graf wird jedoch angesichts dieser plötzlichen Freude wahnsinnig und hält seine Frau für einen Geist. Als alle Versuche scheitern, den Grafen von seinem Wahnsinn zu heilen, erkrankt die Gräfin vor Kummer an Krebs und stribt (Spieß: Biographien, Bd. IV, S. 61–178). 127 Spieß: Biographien, Bd. IV, S. 177. 128 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 133. 129 Hermann Boerhaave: Wichtige Abhandlung vom Krebs und Kranckheiten der Knochen aufs neue übersetzt und mit vielen Anmerkungen versehen. Frankfurt a. M. 1765, S. 19.

Panorama der Wahnsinnigen: C. H. Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen

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Boerhaaves somatische Erklärung des Krebses auf Grundlage der stockenden schwarzen Galle des Melancholikers wird in den oben genannten Beispielen aus den Biographien auf eine psychosomatische Ebene übertragen. Mit dem Ausdruck, dass die schwarze Galle „fressend“ werde, wird hier auf die Vorstellung des ‚Gegessenwerdens‘ zurückgegriffen, wodurch das Langsame und Qualvolle des Krebstodes ausgedrückt wird. Wie Amalie verliert auch Sophie G. mit dem Wahnsinn ihre Sprache und symbolisiert ihren Schmerz über den Körper: Schon am andern Morgen umgürtete sie ihren Körper mit einem langen Flore, und heftete auf ihre linke Brust, unter der ihr verlaßnes Herz ruhte, einen schwarzen Fleck. Sie zitterte und bebte, sie wüthete und raßte, wenn man ihr diesen Zierrath rauben wollte, sie schüttelte langsam und traurig den Kopf, wenn man sie trösten wollte.130

Der Schmerz wird wiederum in der linken Brust lokalisiert, in der das „verlaßne Herz“ liegt. Auf diese Weise drückt Sophie ihre Selbstwahrnehmung aus, was sprachlich nicht mehr möglich ist. Schmerz und Trauer werden durch die schwarze Kleidung und den schwarzen Fleck nach außen hin sichtbar gemacht, so dass der Körper zur Inszenierungsfläche für ihre Emotionen wird. Zuvor hatte der Erzähler die Entstehung des Wahnsinns als psychosomatischen Vorgang geschildert, dem der Leser quasi durch den Körperraum folgen kann: Undank und Grausamkeit hatten sie tödlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte jede Nerve, durchzitterte jede Faser des verlaßnen Mädchens. Mit jedem Tropfen Blutes rollte der zentnerschwere Gedanke langsam durch ihre Adern und strömte wieder hastig nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu suchen.131

Nerven und Blutkreislauf dienen hier als Verbreitungsmedien von Schmerz und Kummer. Seele und Körper werden ineinander geblendet und zueinander durchlässig. Dem Körper wird so ein metaphorischer Überschuss eingeschrieben, was erneut an der Doppelkonnotation des Herzens erkennbar ist: Zum einem fungiert es in seiner somatischen ‚Realität‘, als Verteilungsorgan des Blutkreislaufes und zum anderen als Ort der Emotionen, wo die „zentnerschwere[n] Gedanken“ 132 (vergeblich) Zuflucht suchen. Das Bild des Kreislaufes verdeutlicht dabei die Ausweglosigkeit der unverheiratet schwangeren Sophie und evoziert den Eindruck, dass der Wahnsinn unabwendbar ist. Die enge Verbindung von Körper und Seele wird auch dadurch deutlich, dass mit der Einbildungskraft eine seelische Entität der Kanal des Wahnsinns werden kann. Sie ist die Kraft, die dem Verstand bereits im gesunden Zustand entgegenge-

130 Spieß: Biographien, Bd IV, S. 52. 131 Spieß: Biographien, Bd IV, S. 50. 132 Spieß: Biographien, Bd. IV, S. 50.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

setzt ist und daher nicht zu stark werden darf. Der Wahnsinn entsteht, wenn die Einbildungskraft zum Erliegen kommt und nur noch eine Idee produziert: Jeder Mensch hat Leidenschaft, jede Leidenschaft tobt zuweilen. Wie leicht stockt das dann immer laufende Rad unsrer Einbildungskraft, welches gleich einer Laterna magika die Bilder der Vergangenheit und Zukunft vor unserer Seele vorüber dreht, und dann steht es da das Bild, welches sie eben darstellte, weicht nicht mehr, beschäftigt stets den Geist und verleitet ihn zum Wahnsinne.133

Die Seele wird hier als Maschine beschrieben, deren Funktionen mechanisch ablaufen. Die Analogie zur Funktionsweise der Laterna magica erklärt, warum die verdrängten Erinnerungen der Wahnsinnigen durch bestimmte Bilder zurückgebracht werden. Diese werden von der eigenen Seele nicht mehr projiziert und erst dadurch wieder belebt, dass sie der Seele von außen vorgestellt werden. Im gesunden Zustand produziert die Einbildungskraft verschiedene Bilder, der Wahnsinn hingegen entsteht durch eine Fixierung auf ein Bild. Entsprechend heißt es in der Erzählung „Sophie G.“: „Das Rad ihrer Einbildungskraft stockte, die immer tätige Seele konnte es nicht drehen, nicht wenden.“ 134 Die Einbildungskraft ist mit den Leidenschaften der körperlichen Liebe verbunden. Diese werden in Spieß’ Biographien mit den Metaphern beschrieben, die dem Bildfeld des Fluss oder Stroms entstammen. Konsequent wird dabei die Strommetapher der Vorrede wieder aufgenommen, denn die Wahnsinnigen haben alle an einer Stelle das sichere Ufer verlassen, so zum Beispiel Sophie G., die dem Drängen ihres Liebhabers nachgibt: Wer kanns dem liebenden Mädchen verdenken, wenn sie bei so voller Gewißheit ihres nahen Glücks dankbar zu sein wünschte, minder streng eine kleine Freiheit verweigerte und dadurch unvermerkt in die Fluthen des brausenden Stroms geriet, der alles mit sich fortreißt, was sich seinen Wellen naht.135

Leidenschaftliche Liebe und Wahnsinn werden im gleichen Bildregister beschrieben: „Wer kann im Sturme, im Drange der heftigsten Leidenschaften immer kalt überlegen? Wer kann in der Fieberkälte sich die Medizin in Löffel tropfen, die der Arzt als heilsam verordnet hat?“ 136 Argumentativ erscheint die Liebe im gleichen Feld wie das Fieber und somit als ‚krankhaft‘. Auch der Ausbruch des Wahnsinns wird mit der gleichen Flussmetaphorik beschrieben: „Er glich einem mit dem reißenden Strom kämpfenden, der letzte schwache Ast, von dem er wo nicht Rettung, doch Verlängerung seines Lebens hoffte, brach mit einmal, und alle Aussicht zu beiden verschwand.“ 137 Über die Fluss- und Strommetaphorik werden Liebe,

133 134 135 136 137

Spieß: Spieß: Spieß: Spieß: Spieß:

Biographien, Biographien, Biographien, Biographien, Biographien,

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

I, S. 187. IV, S. 50. IV, S. 44 f. I, S. 101. I, S. 151.

Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein

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Krankheit und Wahnsinn zusammengeführt. Ihnen gemeinsam ist das Extreme und Gewaltige, dem die Figuren nichts entgegenzusetzen haben. Die Aussage in der Vorrede, dass man dem ‚reißenden Strome‘ nicht mehr widerstehen kann, sobald man sich in seine Tiefe hinabbewegt hat, und die daraus resultierende Notwendigkeit vor dem Verlassen des Ufers zu warnen, werden somit von jeder der erzählten Biographien bestätigt. Auch in Jean Pauls Quintus Fixlein wird der Wahnsinn als authentische Lebensgeschichte von einem sehr präsenten Erzähler erzählt. Dieser überschreitet jedoch die ‚Grenzen‘, die dem Erzähler der Biographie gesetzt sind und rückt dabei die sprachliche Gemachtheit der dargestellten Krankheit selbst in den Fokus.

4.2 Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein Jean Pauls Idylle Leben des Quintus Fixlein aus funfzehn Zettelkästen gezogen (1796) ist Teil einer aus unterschiedlichen Gattungen bestehenden Textsammlung, deren Einzeltexte in sich abgeschlossen sind, aber auch aufeinander verweisen. Insbesondere die theoretische Erörterung Über die natürliche Magie der Einbildungskraft 138 ergänzt die Lebensbeschreibung des Hukelumer Pfarrers Quintus Fixlein, in der Krankheit allein durch zu starkes Wirken der Einbildungskraft hervorgerufen wird, so dass auch aus diesem fiktiven Text eine Art Fallbeispiel von etwas Allgemeinen wird. Dies geschieht sowohl auf inhaltlicher als auch auf gattungstheoretischer Ebene, denn der Magie-Aufsatz beschreibt Stufen, Wirkungsweisen und Aktivitäten der Einbildungskraft und exemplifiziert sie an der Gattung Idylle. Fixleins Lebensbeschreibung wird zum Beispiel der Wirkungsweisen der Einbildungskraft und auf formaler Ebene zum Fallbeispiel theoretischer Überlegungen zur Tätigkeit des Idyllendichters. Krankheitsszenen unterbrechen an zwei Stellen den narrativen Fluss von Jean Pauls Roman: Im fünften Zettelkasten des Werks findet der männliche Protagonist Quintus Fixlein die nach einem Aderlass blasse und geschwächte Thiennette, beim gemeinsamen Spazierengehen bricht ihre Wunde wieder auf. Im vierzehnten Zettelkasten erkrankt Fixlein aus Angst davor, aufgrund eines alten Familienfluchs zu sterben, an einem Fieberwahn. Die Themen Krankheit und Tod sind aber bereits zuvor in der Erzählung präsent und besitzen eine ambivalente Funktion.139 Durch den Familienfluch, dass jeder Mann in Fixleins Familie am Kantatensonntag in seinem 32. Lebensjahr sterbe, der sich seit Generationen erfüllt sowie durch den

138 ‚Natürliche Magie‘ bezeichnet im achtzehnten Jahrhundert so etwas wie Physik und beschreibt Wirkungen, die durch verborgene aber natürliche Ursachen entstehen (vgl. Ulrike Hagel: Elliptische Zeiträume. Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle. Würzburg 2002, S. 38). 139 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 187.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

Tod des älteren Bruders steht Fixleins Leben immer im Schatten eines möglichen frühen Todes und der Kantatensonntag bringt diese Bedrohung jährlich an die Oberfläche. Zugleich profitiert Fixlein vom Sterben des Konrektors Astmann und der apoplektischen Frau von Aufhammer, die ihm das Flachsenfinger Konkordat vermacht, das wiederum der Rat ihm nur überträgt, da die Mitglieder glauben, er werde aufgrund des allbekannten Familienfluchs, nicht mehr lange leben. Rita Wöbkemeier bezeichnet den Fluch daher zu Recht als „Motor“ 140 der Geschichte. Krankheit artikuliert sich dabei sowohl in einer räumlichen als auch zeitlichen Dimension. Sie entfaltet sich zwischen Körper und Seele sowie in Gedächtnisräumen. Die räumlich-zeitliche Artikulationsform, die Krankheit im Fixlein annimmt, hängt mit der spezifischen Zeit- und Erzählstruktur von Jean Pauls Idylle zusammen.141 Krankheit wird dabei zugleich als erzählerisches Sprachkonstrukt exponiert, als das sie entsteht, existiert und schließlich geheilt wird. Kompetenter Verfüger über die zeitlichen und räumlichen Dimensionen der Handlung ist der Erzähler, der gewissermaßen als Regisseur von Quintus’ Krankheit fungiert. Er ist von Beginn an sehr präsent: Er kommentiert seine Erzählweise und die Auswahl dessen, was er wiedergibt und arbeitet mit vielen Pro- und Analepsen. Dabei betreibt er ein auf Spannung und Unterhaltung ausgerichtetes regelrechtes Informationsmanagement, indem er zum Beispiel dem Leser Informationen für später ankündigt oder begründet, warum er sie bislang vorenthalten hat. Der Erzähler unterbricht seine Erzählung immer wieder, um sich direkt an den Leser zu wenden, seine Schreibweise zu reflektieren oder in Vergleichen und Bildern zu beschreiben. Dadurch entsteht eine autoreflexive Ebene, auf der die Tätigkeit des Erzählens deutlich markiert wird und zu der inhaltlichen Ebene in Bezug tritt.142 Bis zum elften Zettelkasten ist der Erzähler scheinbar heterodiegetisch, tritt dann jedoch selbst in den Kreis der Figuren ein und wird mit der Autorfigur ‚Jean Paul‘ identifiziert. Neben dem direkten Kontakt zu der Figur zieht der Erzähler seine Informationen aus Quintus’ eigenem autobiographischen Zettelkasten-Projekt: Seine Mutter mußt’ ihm nämlich die Landkarte seiner kindlichen Welt unter dem Käuen mappieren und ihm alle Züge erzählen, woraus von ihm auf seine jetzige Jahre etwas zu schließen war. Diesen perspektivischen Aufriß seiner kindlichen Vergangenheit trug er dann auf kleine Blätter auf, die alle unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn lauter solche Blätter, welche Szenen, Akte, Schauspieler seiner Kinderjahre erhielten, schlichtete er chronologisch in besonderen Schubläden einer Kinder-Kommode und teilte seine Lebensbeschreibung, wie Moser seine publizistischen Materialien in besondere Zettelkästen ein. Er hatte Kästen für Erinnerungszettel aus dem zwölften, dreizehnten, vierzehnten etc., aus dem einundzwanzigsten Jahre und so

140 Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 185. 141 Vgl. zur erzähltechnischen Auseinandersetzung mit der idyllischen Zeitstruktur bei Jean Paul: Hagel: Elliptische Zeiträume. 142 Vgl. Urs Kamber: Aberglaube im „Leben des Quintus Fixlein“. Eine Jean Paul Nachlese. In: ders. (Hg.): Farbige Träume aus den durchsichtigen Gedanken. Solothurn 1996, S. 41.

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fort. Wollt’ er sich nach einem pädagogischen Baufron-Tag einen Rastabend machen: so riß er bloß ein Zettelfach, einen Registerzug seiner Lebensorgel, heraus und besann sich auf alles.143

Quintus’ Zettelkästen erinnern an die Beobachtungsverfahren der Erfahrungsseelenkunde, die hier pardodiert werden.144 Gleichzeitig wird bereits Fixleins mangelhaftes Erinnerungsvermögen deutlich, denn er ist bei der Rekonstruktion seiner Vergangenheit auf die Erzählungen seiner Mutter angewiesen und kann keine Selbstbeobachtung leisten. Erst der Erzähler stellt Zusammenhänge her, denn er verfügt als Dichter über eine produktive Einbildungskraft sowie deren materielle Basis in der Literatur – die Schrift. Fixleins eigene ‚schriftstellerischen‘ Tätigkeiten beschränken sich hingegen auf das Erstellen von Errata für die Luther-Bibel und gehen demnach nicht über die reine Zeichenebene hinaus.145 Die fehlende Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen und richtig einzuordnen, verursacht später die Krankheit. Der Erzähler hingegen übernimmt nicht einfach Fixleins archiviertes Schreibmaterial, sondern ordnet dessen Texte eigenmächtig. Erst durch ihn entsteht eine Lebensbeschreibung, in der eine narrative Struktur und Sinngebung hergestellt wird. Zwar folgt er der Einordnung in Zettelkästen, „da der Quintus selber seine Biographie in solche Kästen abteilt“ 146. Während Quintus diese jedoch bloß chronologisch aneinanderreiht, weisen die unterschiedliche Fokalisierung und die Distanz zum Erzählten, die vielen Ana- und Prolepsen, die Wechsel von szenischem Erzählen und starker Raffung, die ironisch-humorvolle Kommentierung der Figuren und die Reflexion der eigenen Erzählweise die Zettelkästen als Konstrukt des Erzählers aus. Jean Paul hat den Fixlein zusammen mit seinen Erzählungen Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz (1790/93) und das Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel (1806–1811/1812) in der Vorschule der Ästhetik zu seinen Idyllen gezählt.147 Die Idylle ist keine fest definierte Gattung, sondern wird durch verschiedene Motive und Arten der Ausgestaltung charakterisiert, wozu beispielsweise der locus amoenus oder genus humile sowie die komplementäre Verbindung der Idylle mit der Satire gezählt werden.148 Zudem kennzeichnet eine spezifische Raum-Zeit-Konstellation die idyllische Gattung, in der versucht wird, „die Zeit aus der menschlichen Existenz auszuschließen“, wodurch – so Renate Böschenstein – 143 Jean Paul: Das Leben des Quintus Fixlein. In: ders: Werke. Abt. I, Bd. 4: Erzählende und theoretische Werke. Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hg von Norbert Miller. München 1962, S. 83 f. Auf die merkwürdige Tatsache, dass Fixlein nicht weiß, wie alt er ist, die Zettel jedoch nach Lebensjahren ordnet, verweist Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 147. 144 Vgl. zu Jean Pauls Rezeption vom Magazin zur Erfahrungsseelenkunde: Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse, S. 698–720. 145 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 206. 146 Jean Paul: Fixlein, S. 84. 147 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: ders.: Werke. Abt. I, Bd. 5: Erzählende und theoretische Werke. Vorschule der Ästhetik, hg. von Norbert Miller. München 1962, S. 259. 148 Vgl. Renate Böschenstein: Idylle. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 3 f. und S. 16.

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eine „Vorherrschaft des Räumlich-Zuständlichen“ 149 entsteht. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gibt es verschiedene Auseinandersetzungen mit der Gattung, die durch die populären Idyllen Samuel Geßners angeregt werden, und zu poetologischen Neubestimmungen etwa bei Mendelssohn, Herder, Goethe und Engel führen.150 Jean Paul bestimmt in seinem Idyllenparagraphen der Vorschule der Ästhetik die Idylle als epische Gattung und Nebenzweig des Romans. Während der Dichter meistens Leiden und Schmerzen des menschlichen Lebens darstelle, handele es sich bei der Idylle um die „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ 151. Grund für die Präferenz der Darstellung von Leiden und Schmerzen sei, dass der Dichter diese steigern könne: „Die Freude hat nicht viele Stufen, nur der Schmerz so viele.“ 152 Aus diesem Grund sei das Trauerspiel eine weit verbreitete Gattung und selbst das Lust- oder Lachspiel zeige Helden, die „gepeinigt“ würden, während hingegen eine Gattung „Freudenspiel“ nicht einmal erfunden worden sei. Ausnahme sei die „kleine epische Gattung“ 153 Idylle. Angesichts dieser Abgrenzung von Leiden und Schmerzen ist es interessant, dass Jean Paul gerade einen seiner dezidiert als ‚Idylle‘ bezeichneten Text zum Schauplatz von Krankheit macht. Der Fixlein weist einige Idyllen-Merkmale auf wie zum Beispiel das ‚einfache Personal‘, das Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik um bürgerliches Personal erweitert,154 des Weiteren die räumliche Begrenztheit, denn die ganze Erzählung spielt sich ausschließlich zwischen dem Schlossgarten, dem Pfarrhaus, dem angrenzenden Friedhof und der Kirche Hukelums ab, sowie der Aspekt idyllischer Zeitkonstruktion. Zwar scheint die ‚reale‘ Zeit gerade nicht aus der Erzählung ausgeschlossen, denn es gibt genaue Zeitangaben, nach denen sich rekonstruieren lässt, dass der Erzähler Fixleins Lebensspanne von 1791 bis 1794 erzählt und die Familie 14 Tage lang tatsächlich begleitet. Allerdings lassen sich bei genauem Hinsehen Datierungsfehler erkennen, so dass die Zeitangaben zugleich als Konstruktion hervorgehoben werden.155 Vor allem aber bedeutet das Nicht-Wissen von Fixleins Alter den Versuch, die Zeit aus dessen persönlicher Existenz auszuschließen. 149 Böschenstein: Idylle, S. 8 f. 150 Vgl. hierzu ausführlich Carsten Behle: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. Behle verankert die gattungstheoretischen Debatten in der Nachfolge von Geßners Idyllen in der zeitgenössischen sozialen Theorie; eine Verbindung, die laut Behle durch Mendelssohns Einführung des Begriffs ‚kleine Gesellschaften‘ in die poetologische Diskussion über die Idylle entsteht (vgl. ebd., S. 42). 151 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 258. 152 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 258. 153 Alle Zitate: Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 258. 154 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 258 und S. 261. Der Stand spiele keine Rolle, solange dadurch „die Bedingung des Vollglücks in der ‚Beschränkung‘“ (ebd., S. 261) nicht verloren gehe. 155 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 200. In der Vorschule der Ästhetik erklärt Jean Paul auch die aktuelle Zeit als ‚idyllenfähig‘ (vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 259). Er schließt zwar die „großen Staatsräder“ (ebd., S. 261) aus der Idylle aus, dennoch weist Fixlein satirische Bezüge zu aktuellen Ereignissen der zeitgenössischen Geschichte auf, insbesondere den politischen

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Die Forschung weist Jean Pauls Idyllen einen speziellen Platz zu, da er das ‚Idyllische‘ ins Subjektive verlagere,156 was auch an seiner Definition der Idylle als die „Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ 157 deutlich wird. Eine beschränkte Wahrnehmung wird hier als Entstehungsort der Idylle aufgefasst, die damit aber immer auch dem Verdacht ausgesetzt ist, dass sie nur eine Illusion ist 158 und dementsprechend sind Jean Pauls Idyllen vielfach als ‚gestörte‘ und ‚gefährdete‘159 gesehen worden. Ulrike Hagel identifiziert den Grund für die Störung oder Gefährdung der Jean Paulschen Idyllen in dem Widerspruch zwischen dem Versuch, die Zeit aus dem Dargestellten auszuschließen, und den temporalen Implikationen, die dem Erzählvorgang immer inhärent sind: „Es können zwar Idyllen, es kann aber nie idyllisch erzählt werden. Idyllisches Erzählen (und Schreiben) ist eine contradictio in adiecto.“ 160 Zeitliches Bewusstsein besteht nur auf der Erzählebene, während die Figuren der Idyllen darüber nicht verfügen, was an ihrem mangelhaften Phantasie- und Einbildungsvermögen liegt, so bleibt Fixlein auf niedrigsten Stufe der Wirkungsweisen der Einbildungskraft, die im Magie-Aufsatz beschrieben wird, stehen: dem „Ein- und Vorbilden.“ 161 Er kann die zeitlich-räumlichen Unterschiede sowie die Fiktionalität der von der Phantasie erzeugten Bilder nicht erkennen,162 was seine Krankheit gerade so gefährlich werden lässt. In den zwei ‚Krankheitsszenen‘, die im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sollen, spielt die spezifische Zeitstruktur der Idylle eine große Rolle. Beide Male wird der Protagonist Fixlein aus seiner Zeitlosigkeit gerissen, indem der bevorstehende Kantatensonntag ihn vor die Frage seines Alters und damit die Dauer seiner Lebenszeit stellt.

4.2.1 Weibliche Oberfläche (Thiennette) Thienette ist die eigentlich, weil dauerhaft, leidende Figur in Jean Pauls Erzählung. Dieses Leiden wird vage mit dem frühen Tod ihrer Eltern und ihrer finanzielle Not erklärt, die erst durch die Hochzeit mit Fixlein beendet wird, hängt aber insbeson(Französische Revolution) und sozialen Verhältnissen (Feudalsystem) (vgl. dazu Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 188 f.). 156 So führt Böschenstein seine Idyllen in dem Kapitel „Relativierende Idyllen“ auf (vgl. Böschenstein: Idylle, S. 90–92) und Behle behandelt Jean Pauls Idyllen auf Grund ihrer Sonderstellung als Exkurs (vgl. Behle: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“, S. 288–299). 157 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 258. 158 Vgl. Böschenstein: Idylle, S. 91; Behle: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“, S. 45 und S. 297 f. 159 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Gefährdete Idylle. In: Uwe Schweikert (Hg.): Jean Paul. Darmstadt 1974, S. 314–320; vgl. Jens Tismar: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973, S. 12–42. 160 Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 9. 161 Jean Paul: Fixlein, S. 195. 162 Vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 51.

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dere mit ihrem Geschlecht zusammen, womit sich die Figur in eine Reihe von kränklichen und leidenden Frauenfiguren bei Jean Paul einreiht,163 auch wenn sie nicht zu den ‚hohen‘ oder ‚heroischen‘ weiblichen Protagonistinnen in seinem Werk zählt.164 Weibliche Schönheit wird im Fixlein konstitutiv mit Leiden verknüpft, wenn der Erzähler angesichts von Thiennette die Schönheit des weiblichen Geschlechts aus deren Leiden ableitet: „Gutes Geschlecht! Auch ich halte jede Unglückliche für schön, und vielleicht bist du schon darum den Namen des schönen wert, weil du das leidende bist!“ 165 Die Konstituierung von Weiblichkeit über Leiden entspricht dabei der zeitgenössischen weiblichen Anthropologie, welche die Frau als passiv, schwach und kränklich konstruiert.166 Äußeres Kennzeichen von Thiennettes Leiden ist ihre blasses Gesicht, das Assoziationen von Leichenblässe hervorruft und an dem der Erzähler in seinem Erzählfluss immer wieder hängen bleibt, um sich in mitleidig-gefühlvollen Äußerungen an Thiennette zu wenden. Die weiße Oberfläche, welche die Figur der Thiennette charakterisiert, wird dabei durchgehend mit der Farbe Rot kontrastiert. In der ‚Verlobungsszene‘ von Fixlein und Thiennette im fünften Zettelkasten wird die Farbe Rot bereits über den Pontak-Wein und die Abenddämmerung eingeführt, bevor Fixlein die blutigen Spuren Thiennettes im Garten findet und ihnen zu ihr folgt.167 Die Szene wird geprägt von mehrschichtigen Fließbewegungen, die über den Wein, die vielfach fließenden Tränen und das Blut ausgestaltet werden. Die drei Flüssigkeiten werden dabei ineinander geblendet, so dass die gemeinsame Qualität des Flüssigen und die Bewegung des Fließens herausgestellt werden. So spürt Fixlein beim Trinken einen „brennenden Lavastrom“ 168, der durch seine Adern fließt und sein Herz durch Kochung zum Schmelzen bringt, so dass es in den Adern mitfließt. Die Wirkung des Alkohols wird in den ‚realen‘ Blutkreislauf verlagert und die aus der Humoralpathologie stammende Vorstellung des kochenden Blutes zur Inszenierung von Emotionalität genutzt. Das Blut fungiert dabei als mehrfachkodierte Figur der Grenzüberschreitung und seine somatische Realität wird mit metaphorischen Bedeutungen aufgeladen. Zudem hält es die Todesthematik immer präsent, die der Szene bereits dadurch zugrunde liegt, dass es der Vorabend vom Kantatensonntag ist, da es einerseits notwendig für das Leben ist und zugleich, sobald es sichtbar wird, immer auch für Leiden und Tod steht. Diesen Status reflektiert der Erzähler, als Fixlein Thiennettes Blut im Garten entdeckt: „Den Menschen schauert vor diesem Öle unseres Lebens-

163 Vgl. Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe, S. 103–124. 164 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 194. 165 Jean Paul: Fixlein, S. 112. 166 Vgl. Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfte, S. 105. 167 Vgl. Jean Paul: Fixlein, S. 109 f. Vgl. zu der Rot-Weiß-Kontrastierung auch Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 196. 168 Jean Paul: Fixlein, S. 112.

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Dochtes, wo er es vergossen findet: es ist ihm die rote Todesunterschrift des Würgengels.“ 169 Das Blut steht zum Leben in einer metonymischen Verbindung, als Fixlein später mit einem Goldstück Thiennettes wieder aufgerissene Wunde verschließt, heißt es, dass aus dieser „ihr gequältes Leben drang“ 170. Das Blut, das Thiennette nach einem Aderlass verloren hat und das Fixlein auf Steinen und Pflanzen im Garten findet, da sie es nach einer abergläubischen Praxis in den Teich gegossen hat,171 führt diesen zu ihr in eine Laube von weißen Akazien.172 Dort findet Fixlein die bleiche Frau schlafend vor, nur die Abendröte färbt ihr Gesicht und gleicht so den Blutverlust auf der Oberfläche aus. Die Frau wird als passives Objekt von dem Protagonisten und dem Erzähler wahrgenommen, und es wird betont, dass dies das erste Mal ist, dass Fixlein sie tatsächlich ansieht.173 Der Erzähler kommentiert, Fixlein glaube an einer Frau nur die Kleidung nicht aber den Körper wahrnehmen zu dürfen. Das Blut impliziert somit Körperlichkeit. Fixleins erwachendes Begehren wird durch die Schmetterlings- und Blumenmetaphorik ausgedrückt und dabei zugleich auf das Sehen beschränkt.174 Nach dem Aufwachen von Thiennette wird Fixleins implizites Ansehverbot reaktiviert. Er schaut sie nur noch im Spiegel des Fensters an und erst als Thiennettes Wunde beim Spazierengehen der Beiden erneut aufreißt, erfolgt die zweite körperliche Annäherung, die diesmal das bloße Anschauen überschreitet und in einem Kuss gipfelt.175 Das rote Blut wird mit dem weißen Kleid Thiennettes kontrastiert und fungiert als eine Art Erinnerung an die verdeckte Leiblichkeit unter der Kleidung: Das Blut überwindet gleich zwei Oberflächen, indem es sowohl die Körper- als auch die Kleidungshülle durchdringt. Die blutende Wunde der Thiennette ist zugleich Metapher, da sie auch ihre seelischen Verletzungen und Schmerzen sichtbar macht, so dass die somatische Realität des Blutes auf eine seelische Ebene verweist: Thiennette ist ein „doppelt verblutete[s] Mädchen“ 176 und Fixlein sieht ihr zukünftiges schweres Leben als „blutige Spur“ 177 vor sich. Das Ineinanderblenden von psychischer und physischer Verwundung wird auch daran erkennbar, dass Thiennettes neues Bluten Fixlein erbleichen lässt, weil er mit ihr leidet: „Das nachdringende Blut tropfte schon vom

169 Jean Paul: Fixlein, S. 109. 170 Jean Paul: Fixlein, S. 116. 171 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 196. 172 Vgl. zum Blut als Initiationszeichen der Liebe bei weiteren Jean Paulschen Liebespaaren: Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfte, S. 110. 173 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 194 f. 174 Die Blumenmetaphorik kennzeichnet die Figur der Thiennette auch im restlichen Text: vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 195. 175 Küsse in Jean Pauls Erzählungen gehen vielfach mit einem Aufritzen der Haut einher: vgl. Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfte, S. 111, insbesondere auch Fußnote 64. 176 Jean Paul: Fixlein, S. 111. 177 Jean Paul: Fixlein, S. 115.

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Kleide, und er wurde bleicher als sie, denn jeder Tropfen wurde aus seinem Herzensblut geschöpft.“ 178 Thiennettes Bluten wird so zum Symptom, an dem sich Fixleins Inneres ablesen lässt. Das Blut überschreitet in seiner Stellung zwischen somatischer und metaphorischer Bedeutung die Körpergrenzen und öffnet scheinbar einen Weg in das Innere der Protagonisten. Der Erzähler des Fixlein benennt es als Aufgabe des Dichters, das innere Leiden des weiblichen Geschlechts darzustellen: Und wenn der Professor Hunczovsky in Wien die Wunden aller Glieder in Wachs nachbildete, um seinen Schülern ihre Heilung zu lehren: so stell ich, du gutes Geschlecht, die Risse und Narben deiner Seele in kleinen Bildern dar, wiewohl nur um rohe Hände abzuwehren, damit sie dir keine neuen machen. ––179

Die Seele wird analog zum Körper als verwundbare Entität dargestellt, die man berühren kann. Während die körperlichen Wunden in den Aufgabenbereich des Arztes fallen, kann der Dichter die seelischen Verletzungen darstellen, er kann sie jedoch nicht heilen, sondern nur versuchen, weitere zu verhindern. Diesem Versprechen gemäß unterstreicht der Erzähler immer wieder das Leiden Thiennettes, hebt zum Beispiel nach der Hochzeit ihre geröteten Wangen hervor, hinter denen er jedoch noch immer ihre Todesblässe erkennen kann.180 Ebenso wird ihre Schwangerschaft als tödliche Bedrohung dargestellt.181 Auch die ‚Spur des Blutes‘, zieht sich durch den weiteren Text,182 wobei nicht nur Thiennette, sondern auch andere Figuren und der Erzähler selbst immer wieder an einem ‚seelischen‘ Bluten leiden. So bittet der Erzähler im 11. Zettelkasten das ‚Schicksal‘, ihn als einen Leidens-Stellvertreter an Stelle von Fixlein, dessen Mutter und Thiennette zu nehmen: Hast du einen scharfen Schmerz, so wirf ihn nur lieber in meine Brust und verschone damit drei gute Menschen, die zu glücklich sind, um nicht daran zu verbluten, und zu eingeschränkt auf ihr kleines dunkles Dorf, um nicht zurückzufahren vor dem Wetterstrahl, der ein erschüttertes Ich aus der Erde über die Wolke reißet.183

Die Bitte des Erzählers, die Drei in ihrer glücklichen ‚Beschränkung‘ zu bewahren, verweist darauf, dass die Erzählerfigur bereits außerhalb der idyllisch etablierten Ordnung steht. Die Gefährdung dieses Glücks durch das willkürliche Schicksal

178 Jean Paul: Fixlein, S. 116. 179 Jean Paul: Fixlein, S. 112 f. Johann Hunczovsky war ein Wiener Arzt und k. k. Leibchirurg von Kaiser Leopold II. Er war Lehrer an der Josephs-Akademie und erwarb für diese zahlreiche Wachspräparate (vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13. München 1881, S. 389–391). 180 Vgl. Jean Paul: Fixlein, S. 161. 181 Vgl. hierzu ausführlich Wöbkemeier: Erzählte Krankheit S. 202. 182 Eine ähnliche ‚Blutspur‘ zieht sich durch die Unsichtbare Loge, wie Dangel-Pelloquin aufzeigt: vgl. Eigensinnige Geschöpfte, S. 119. 183 Jean Paul: Fixlein, S. 170.

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können die Figuren – im Gegensatz zum Erzähler – nicht wahrnehmen. Eine Entgrenzung aus ihrer räumlichen Beschränkung würde sie überfordern. Trotz der Übergangsfigur, die das Blut in der Verlobungsszene darstellt, und trotz des Vorsatzes des Erzählers, das weibliche Seelenleiden darzustellen, bleibt die Figur Thiennette im gesamten Text reine Oberfläche. Ihr Inneres wird nicht erfahrbar oder zugänglich, sondern es sind nur die Eindrücke des Erzählers, die dieser bei der Wahrnehmung Thiennettes hat: Aber der Schmerz tut mir zu wehe, den ich von Thiennettens blassen Lippen lese, wiewohl nicht höre. Es ist nicht das Verziehen eines Marter-Krampfes, noch das Entzünden eines versiegten Auges, noch das laute Jammern oder das heftige Bewegen eines geängstigten Körpers, was ich an ihr sehe: sondern das, was ich an ihr sehen muß und was das mitleidende Herz zu heftig zerreißet, das ist ein bleiches, stilles, unbewegliches, nicht verzognes Angesicht, ein blasses blutloses Haupt, das der Schmerz nach dem Schlage gleichsam wie das Haupt einer Geköpften leichenweiß in die Luft hinhält; denn o! auf dieser Gestalt sind alle Wunden, aus denen sich der dreischneidige Dolch gezogen, fest wieder zugefallen, und das Blut quillet verdeckt unter der Wunde in das erstickende Herz.184

Thiennettes inneres Leiden wird mit drastischen Bildern wie dem des abgeschlagenen Kopfes unterstrichen und veräußerlicht. Während der Tote aber keine Tiefendimension mehr hat, auf die sein bleiches Gesicht verweist, versteckt sich laut dem Erzähler hinter Thiennettes Oberfläche das Leiden im Inneren. Die Risse in ihrer Haut sind verschlossen und das Blut fließt nur nach Innen und sammelt sich im Herzen als dem emotionalen Zentrum des Menschen. Die Funktion des Herzens als ‚Pumpe‘ des Blutkreislaufs wird hier umgekehrt, denn statt aktives Verteilungszentrum zu sein, erscheint das Herz als passives Gefäß, in dem das Blut zusammenfließt, so dass es schließlich ersticken wird. In dieser Passage wird zudem deutlich, dass Thiennette ihre Leiden niemals selbst in Worte fasst, der Erzähler kann sie nicht hören, sondern nur ‚lesen‘. Thiennettes Oberfläche ist ein Zeichen, das auf ein Leiden verweist, welches jedoch nur der Erzähler aufgrund seiner Lese- und Deutungstätigkeit konstruiert und interpretiert. Die Zeichenstruktur medizinischer Symptome, anhand derer die im Körperoder Seeleninneren verborgene Krankheit gelesen und gedeutet wird, wird hier in die Erzählertätigkeit verlagert, dabei aber die Unterscheidung zwischen Lese- und Konstruktionstätigkeit verwischt. Im Magie-Aufsatz heißt es, dass der Mensch mit Hilfe von Physio- und Pathognomik beständig alle Körper beseelt,185 indem er diese zum Zeichen eines „fremde[n] Ichs“ 186 macht, ohne dass er dieses jemals sinnlich sehen kann. Der Körper ist immer auch ein Zeichen für etwas Seelisches,

184 Jean Paul: Fixlein, S. 181. 185 Vgl. Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft. In: ders.: Werke. Abt. I, Bd. 4: Erzählende und theoretische Werke. Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hg. von Norbert Miller. München 1962, S. 204. 186 Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 203.

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Nicht‑Sichtbares und Nicht-Greifbares, aber das Verhältnis zum Bezeichneten erscheint nicht als eindeutig auflösbar etwa im Sinne physio- oder pathognomischer Konzepte,187 sondern ist bereits subjektive Interpretation. Dementsprechend wird Thiennettes Leiden vom Erzähler selbst in ihre Oberfläche ‚hinein-gelesen‘ und damit überhaupt erst erzeugt. So ist es auch der Erzähler, dem Thiennettes Leiden Schmerzen verursacht und diese Passage beschreibt letztlich nur seine Gefühle. Der Kontrast von glatter Oberfläche und aufreißender Wunde kann auf die Textstruktur des Fixlein selbst übertragen werden. Die Wunde als „(gewaltsame) Durchtrennung der Körperoberfläche“ 188 zerschneidet nicht nur den Körper der Figur Thiennette, sondern auch die idyllische Textoberfläche wird immer wieder durchbrochen: Letztlich betrifft die überall im Text anzutreffende Metaphorik der Wunde diesen selbst: Auch der Idyllentext ist defekt, öffnet sich in den blutenden Bildern, zerstört das vermeintliche Humoreske, das aber fortwährend in Frage gestellt wird von Bildern des kranken Fixlein, der blutenden Thiennette und der abgerissenen Köpfe.189

Im Magie-Aufsatz bezeichnet die Autorfigur Jean Paul sein eigenes erzählerisches Vorgehen im Fixlein als die Projektion eines „biographischen und idealischen Mondschein[s]“ 190 auf Fixleins Leben, durch welche die Charaktere idealisiert werden. Die sich wiederholenden Grab- und Skelettbilder, die Blut- und Wundenmetaphorik und Todes- und Krankheitsfälle durchschneiden jedoch die idyllische Oberfläche und lassen Leiden und Tod präsent sein. Die vielen erzählerischen Digressionen und Exkurse lenken zudem die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Erzählens und somit auf die Tätigkeit der ‚Mondschein-Projektion‘ selbst, so dass die erzählerische Konstruktion der Idylle herausgestellt wird.191 Auch in der Verlobungsszene ist der Tod als unterliegendes Thema gegenwärtig. Er wird bereits im ersten Satz des Kapitels vom Erzähler eingeführt, der die im Frühling aufblühende Natur mit der Trauer der Menschen kontrastiert, die im Winter eine geliebte Person verloren haben. Der Frühling hat jedoch auch heilsame Wirkung, denn er mildert die Trauer, indem er die Gräber mit Blumen bedeckt,

187 Vgl. zu Jean Pauls Rezeption und Kritik physiognomischer Konzepte: Gunnar Och: Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls. Erlangen 1985, S. 48–70 und hier besonders S. 53 und zur Physiognomie weiblicher Charaktere: Rita Wöbkemeier: Physiognomische Notlage und Metapher. Zur Konstruktion weiblicher Charaktere bei Jean Paul. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch, S. 676–696. 188 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 30, Sp. 1772 (auch zitiert in: Iris Hermann: ‚Blutende Fenster‘. Bilder verwundeter Körper bei Jean Paul, Franz Kafka und in der Psychoanalyse. In: Wolfgang Braungart, Klaus Ridder und Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven der Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 180. 189 Hermann: ‚Blutende Fenster‘, S. 180. Vgl. auch Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 213. 190 Jean Paul: Fixlein, S. 199. 191 Vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 25 und S. 54.

Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein

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eine Umschreibung, die als Reflexion auf die Tätigkeit des Idyllendichters gelesen werden kann. Schließlich wird der in stark metaphorischer Sprache dargestellte Kuss der beiden Figuren als ‚kleiner Tod‘ erzählt. Die Szene weist viele motivische und stilistische Ähnlichkeiten mit der kurzen Erzählung Tod eines Engels auf, die dem Fixlein in dem Musteil für Mädchen vorangestellt ist, und in der die Möglichkeit erprobt wird, den Tod zu narrativieren.192 Ein Engel, der den Sterbenden das Herz oder die Seele aus dem Körper zieht, um sie in den Himmel zu tragen, möchte erfahren, wie es ist, den menschlichen Tod zu sterben. Er nimmt den Körper eines verstorbenen Jünglings an und lebt ein menschliches Leben, das als ein permanentes ‚kleines‘ Sterben dargestellt wird. So glaubt der Engel im Schlaf und im Traum, beim Verlust seiner Geliebten sowie bei der Erfahrung von Feindschaft und Hass zu sterben. Als der Tod schließlich wirklich eintritt, ist dies jedoch kein schreckliches Erlebnis. Stattdessen wird eine überwältigende Entgrenzung dargestellt: Da öffnete die Entzückung seine Wunde, und das Blut, die Träne der Seele, floß aus dem Herzen auf den geliebten Hügel – der zergehende Körper sank süßverblutend der Geliebten nach – Wonnetränen brachte die fallende Sonne in ein rosenrotes schwimmendes Meer – fernes Echo-Getöne, als wenn die Erde von weitem im klingenden Äther vorüberzöge, spielte durch den nassen Glanz – Dann schoß eine dunkle Wolke oder eine kleine Nacht vor dem Engel vorbei und war voll Schlaf – Und nun war ein Strahlenhimmel aufgetan und überwallete ihn, und tausend Engel flammten; ‚bist du schon wieder da, du spielender Traum?‘ sagte er. – Aber der Engel der ersten Stunde trat durch die Strahlen zu ihm und gab ihm das Zeichen des Kusses und sagte: ‚Das war der Tod, du ewiger Bruder und Himmelsfreund!‘ –193

Sterben wird als Aufhebung der menschlichen Beschränkung und Aufbruch ins Unendliche konzipiert. Auch in der Kussszene im Fixlein evoziert eine dominante Flussmetaphorik den Eindruck einer umfassenden Entgrenzung, was dadurch verstärkt wird, dass die Flüssigkeiten sich ergänzen und substituieren. Die Tränen der weiblichen Figur ersetzen ihr Bluten, das Fixlein gestillt hat. Ihr verwundetes Herz taucht in den Tränen unter, um sich selbst zu heilen. Durch Verben wie „zerschmelzen“, „versinken“ und „ineinanderrinnen“ wird die Kussszene als Auflösung von Körper- und Ichgrenzen inszeniert. Auch wenn der Versuch, die ‚realen‘ Körpergrenzen durch die enge Umarmung zu überwinden, letztlich nicht gelingt, da die Arme sich nur „verstricken“ können194, rinnen doch die Seelen der Figuren ineinander. Auch die Feuer- und Elektrizitätsmetaphern zielen auf die Veränderung des festen Ichzustands, dessen Entgrenzung als Sterben dargestellt wird:

192 Vgl. zu Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Erzählbarkeit des Todes: Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 182. 193 Jean Paul: Der Tod eines Engels. In: ders. Werke. Abt. I, Bd. 4: Erzählende und theoretische Werke. Kleinere erzählende Schriften 1796–1801, hg. von Norbert Miller. München 1962, S. 49. 194 Vgl. zu Jean Pauls Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Körper und Seele sowie seiner Rezeption und poetischen Umsetzung materialistischer und spiritualistischer Konzepte: Maximilian Bergengruen: Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, S. 5–7 und S. 9–38.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

O da es jetzt zwölf Uhr wie zum Sterben schlug, so mußte ja der Glückliche denken, ihre Lippen sögen seine Seele weg, und alle Fibern und alle Nerven seines Lebens krümmte sich zuckend und fest um das letzte Herz der Erde, um seine letzte Wonne … Ja, Glücklicher, du drücktest deine Liebe aus, denn du dachtest, an deiner Liebe zu vergehen. …195

Thiennette rückt in dieser Szene in die Position des ‚Engels der ersten Stunde‘, der die Sterbenden mit einem Kuss begrüßt, denn sie saugt Fixlein die Seele aus dem Körper. Fixleins Körper wird über seine Nervenfibern, die sich um Thiennettes Herz krümmen, quasi in ihren verlängert oder aufgehoben, so wie sich der Körper des Engels gleichsam das Grab hinein ‚auflöst‘, in dem seine Geliebte liegt. Diese körperliche und seelische Entgrenzung ist jedoch nur sprachlich möglich. Die Kussszene wird in nur zwei langen, hypotaktisch aufgebauten Sätzen abgehandelt. Die Anfänge der Satzteile werden wiederholt, was die Sprache atemlos wirken lässt. Dieser Eindruck wird verstärkt durch das Auslaufen des ersten Satzes in Bindestrichen und die Unterbrechung sowie das Ende des zweiten Satzes durch drei Punkte, welche die Textoberfläche durchbrechen und dabei etwas ‚Unsagbares‘ andeuten. Die Andeutungen der dreifach gesetzten Punkte wird zu Beginn des nächsten Absatz mit der trockenen Feststellung „er verging aber nicht“ 196 unterbrochen. Es hat Mitternacht geschlagen und Fixlein lebt noch, obwohl der Kantatensonntag somit vorbei ist. Er beendet ‚nüchtern‘ die Szene wegen der Nachtkälte und die beiden frisch Verlobten verlassen die Akazienhaube. Die einfachen, die Tätigkeit der Figuren beschreibenden Aussagen kontrastieren mit Naturbildern, die der Erzähler um die beiden Liebenden herum entwirft und die den begrenzten Raum des Gartens Richtung Universum und Unendlichkeit hin öffnen. Im Magie-Aufsatz verlagert Jean Paul die Wirkung des Idyllischen auf die Erzähl- und Rezeptionsebene: Es ist der Erzähler, der Fixleins Leben in einen ‚Mondschein‘ hüllt, und die Idyllenleserinnen, die aus einfachen Landleuten Geßnerische Idyllenfiguren machen.197 Dadurch wird es fragwürdig, ob der Erzähler die Empfindungen seiner Figuren, die natürlich auch nur in seiner Erzählung existieren, beschreibt, oder nur seine eigene idyllische Konstruktion auf diese auflegt, was auch dadurch impliziert wird, dass er Fixleins Gefühle vielfach in Du-Erzählung darstellt, sie ihm somit gewissermaßen ‚unterstellt‘.

4.2.2 Kranker Innenraum (Fixlein) Die Erkrankung Fixleins hängt mit einem plötzlichen Zeitbewusstsein zusammen, das dadurch gefährlich wird, dass es nicht wie in der Verlobungsszene nur eine 195 Jean Paul: Fixlein, S. 116. 196 Jean Paul: Fixlein, S. 117. 197 Wie Hagel herausstellt, besteht die Idylle somit nur in der erzählerischen Präsentation und Perspektivierung: Elliptische Zeiträume, S. 25 und S. 54.

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Vermutung, sondern ein schriftlich fixiertes Wissen ist. Das Nicht-Wissen von Fixleins Alter, das heißt das Vergessen von Zeitlichkeit, bedeutet Gesundheit, indem es verhindert, dass Fixlein aus Angst vor dem Fluch tatsächlich erkrankt und stirbt. Als er jedoch sein Alter erfährt und somit Wissen über die eigene Zeitlichkeit erlangt, resultiert dies in Fixleins umgehender Erkrankung. Schließlich wird diese durch das erneute Aufheben des Zeitbewusstseins geheilt, indem der Erzähler Fixlein in eine in der Kindheit bereits durchlittene Krankheit zurück versetzt. Während der Erzähler bei Thiennette an ihrer Körperoberfläche hängenbleibt, dringt er in Fixleins krankes Körper- und Seeleninnere ein. Dazu passt, dass Thiennette an einer äußerlich sichtbaren Wunde leidet, die das Innen nur andeutet, während Fixlein an einem Fieberwahn und somit einer unsichtbaren, inneren Krankheit leidet. Wie schon in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen gehen Wahnsinn und Fieber eine konstitutive Beziehung ein. Das Todesthema wird bereits in den 12. und 13. Zettelkästen aufgebaut, in denen die Taufe von Fixleins Sohn am Kantatensonntag behandelt wird. Der Erzähler hat im 12. Zettelkasten zusammen mit der Mutter in einem Schränkchen des verstorbenen Bruders eine alte Hausbibel gefunden, in der dessen Vater das Geburtsdatum von Fixlein notiert hat, wonach Fixlein an genau diesem Kantatensonntag 32 Jahre alt wird. Er möchte Fixlein dieses Blatt vorenthalten, da „im metamorphotischen Spiegel seiner abergläubigen Phantasie und hinter dem vergrößernden Zauberdunst seiner jetzigen Freuden“ das Geburtsdatum zur „rote[n] Todes-Unterschrift“ 198 werden würde, und versteckt es im neuen Kirchturmknopf, der am Tag vor der Taufe – dem Kantatensonntag – angebracht wird. Das Wissen um Fixleins Geburtsdatum veranlasst den Erzähler im 13. Zettelkasten, in dem er rückblickend von dem Tauftag berichtet, immer wieder zu Reflexionen über Leben und Tod, wodurch die Todesthematik antizipierend verdichtet wird. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist der Kantatensonntag schon fast vorbei, der Erzähler bricht kurz vor Mitternacht mit der Erzählung ab. Als er mit dem 14. Zettelkasten beginnt, ist Fixlein bereits erkrankt, da er im alten Turmknopf eine Notiz gefunden hat, in der sein Vater als Spender genannt wird mit dem Zusatz, „er schenk’ es für seinen neugebornen Sohn Egidius etc.“ 199 Fixlein weiß nun sein wahres Alter und erkrankt an einem fiebrigen Wahn; sein Körper wird durch den Aberglauben, sterben zu müssen, tatsächlich krank. Jean Paul ruft hier ein vieldiskutiertes Feld der zeitgenössischen Medizin auf, in welcher der Begriff der Einbildungskraft oder Imagination eine wichtige Rolle spielte. Diese wurde im Zusammenhang mit der Frage nach den Wechselwirkungen von Körper und Seele thematisiert.200 Affekten und Emotionen wurde tendenziell

198 Jean Paul: Fixlein, S. 173. Das Bild des „metamorphotischen Spiegel[s]“ unterstreicht den schöpferischen Aspekt der Einbildungskraft, die ein Bild nicht wie der Spiegel nur reproduziert, sondern es verändert. 199 Jean Paul: Fixlein, S. 178. 200 Vgl. zur Imagination als psychosomatischen Akt Schott: Der sympathetische Arzt, S. 28–38.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

sehr große Macht über den Körper eingeräumt. Die vom Erzähler aufgestellte These, dass die männlichen Familienmitglieder aus Angst vor den Wirkungen des Fluchs sterben,201 der Affekt der Angst also so groß ist, dass er den Körper selbst auslöscht, entspricht den Theorien der Imaginationslehre.202 Gleichzeitig schwingen in ihr noch ‚vorwissenschaftliche‘, magische und dämonologische Erklärungsmuster für Krankheit mit,203 wie sie in der Idee eines Familienfluchs zum Ausdruck kommen.204 Das enge Ineinandergreifen von magisch-abergläubischen und psychologisch-natürlichen Krankheitsverständnissen wird zur Vorführung der Macht der Einbildungskraft genutzt, denn der Krankheitsverlauf und die Kommentare des Erzählers schließen die Möglichkeit eines tatsächlichen Fluchs aus, anders als in anderen Textsorten, in denen die Erklärungsmuster nebeneinander stehen bleiben. Wie eingangs gesagt, steht die Geschichte des Fixlein in Bezug zur den theoretischen Reflexionen in dem Aufsatz Die natürliche Magie der Einbildungskraft. Jean Paul unterscheidet darin verschiedene Grade von Einbildungskraft oder Phantasie:205 Im „bloßen Ein- und Vorbilden“ 206 stellt die Einbildungskraft abgerissene Bilder vor. Das Gedächtnis oder Erinnerungsvermögen als „eingeschränktere Phantasie“ 207 nimmt hingegen nicht nur zwei Bilder als identisch wahr, sondern erkennt auch die „Verschiedenheit des räumlichen und zeitlichen Verhältnisses gleicher Bilder“ 208. Auf der höchsten Stufe ist die Einbildungskraft eine synthetisierende und

201 Der Erzähler erklärt das seit Generationen anhaltende Sterben der männlichen Familienmitglieder im 32. Jahr am Kantatensonntag: „Die ersten paar Male traf sich’s nur zufällig so; – und die übrigen Male verstarben die Leute an der bloßen Angst: widrigenfalls müßte man das ganze Faktum lieber in Zweifel ziehen.“ (Jean Paul: Fixlein, S. 97). 202 So zählt Gesenius den Tod als heftigste Folge des plötzlichen Schrecks auf: vgl. Gesenius: Medicinisch-moralische Pathematologie, S. 136–148. Die Macht des Geistes, den eigenen Körper auszulöschen, wird auch in anderen literarischen Texten thematisiert. In Kleists Penthesilea geht sie soweit, dass Penthesilea nur durch ihren Willen zu sterben Selbstmord verübt. Insgesamt haben Erkrankungen in Jean Pauls Werk überwiegend psychogene und psychosomatische Ursachen (vgl. Scherer: Bis daß der Tod euch scheidet, S. 119; Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse, S. 719). 203 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 29. 204 Interessant ist, dass in der Erzählung auch die ‚aufgeklärten‘ Figuren an den Fluch glauben und ihn sogar zur Grundlage ihrer Handlung machen. Fixleins Braut Thiennette versucht, den möglichen Fluch hingegen durch andere abergläubische Praktiken unwirksam zu machen. So tritt sie zum Beispiel bei der Hochzeit einige Schritte hinter Fixlein zurück, weil es heißt, dass dieser Ehepartner dann früher sterben werde (vgl. zur Thematisierung von Aberglaube und Aufklärung im Fixlein: Kamber: Aberglaube im „Leben des Quintus Fixlein“, S. 39–52). 205 Vgl. dazu auch: Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 29–109; des Weiteren zu Jean Pauls Phantasiebegriff: Elisabeth Endres: Jean Paul. Die Struktur seiner Einbildungskraft. Zürich 1961; Eckhart Oehlenschläger: Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozeß bei Jean Paul. Tübingen 1980; Christoph Unger: Die ästhetische Phantasie. Begriffsgeschichte, Diskurs, Funktion, Transformation. Studien zur Poetologie Jean Pauls und Johann Wolfgang Goethes. Frankfurt a. M. 1996. 206 Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 195. 207 Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 195. 208 Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 195.

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produktive Kraft. Sie fügt die verschiedenen Sinnesempfindungen zu einem Ganzen zusammen, verändert das Wahrgenommene dabei jedoch auch und kann eigene Bilder erzeugen.209 Dieses Vermögen ist beispielsweise dem Dichter gegeben, an dessen Kunstwerken das ‚Unendliche‘ erahnbar wird, zu dem die Einbildungskraft also hinführen kann.210 Bereits im Magie-Aufsatz klingt die Unterscheidung in eine reproduktive und eine produktive Einbildungskraft an, die Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik noch weiter differenziert, wobei „Einbildungskraft“ das reproduktive und „Phantasie“ das produktive Vermögen bezeichnen, während die beiden Begriffe im Magie‑Aufsatz noch austauschbar sind.211 In bestimmten Krankheiten, insbesondere dem Fieber, kann die Wirkungskraft der Einbildungskraft oder Phantasie so stark wie Sinneswahrnehmungen werden. Die Imaginationen werden folglich für real gehalten. Krankheit wird demnach als die anhand von Kant und Platner eingeführte Vorstellung einer ‚Verrückung‘ konzipiert, in deren Folge die Einbildung mit der Realität verwechselt wird (siehe, Kap. 1.1.3). Fixleins Krankheit ist somit eine Fiktion der Einbildungskraft.212 Die Darstellung von Fixleins Krankheit, die im 14. Zettelkasten als Höhepunkt der Geschichte erzählt wird, geht vom Allgemeinen zum individuellen Fall und zurück zum Allgemeinen. Nach einer Einleitung, in welcher der Erzähler das plötzliche Einbrechen des Unglücks in das idyllische Leben sentenzartig mit einer Theatermetapher und einem Schlangenvergleich bereits vorwegnimmt 213 und anschließend skizziert, wie Fixlein zu dem Wissen um sein Geburtsdatum gekommen ist, wird zunächst dessen Todesvision und anschließend sein Fieberwahn erzählt. Der Erzähler wendet sich dann von Fixlein ab und der stumm leidenden Thiennette zu. Nach der Sentenz über das menschliche Leben und den Hintergründen von Fixleins plötzlichem Zeit-Wissen wird die Erzählung immer stärker auf Fixleins Wahrnehmung hin verengt. Die Angst, die in Fixlein entsteht, beschreibt der Erzähler als „Seeungeheuer des Todes“ 214, das mit einem Mal durch die Meeresoberfläche stößt und ihn mit sich reißt. Das Bild entwirft eine räumliche Struktur von

209 Vgl. Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 196 f. Jean Paul spricht von der „metamorphotische[n] Einbildung“ (ebd.). 210 Vgl. Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 200–202. 211 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 47–49. Im Folgenden soll im Sinne des Magie-Aufsatzes von ‚Einbildungskraft‘ die Rede sein, ohne die in der Vorschule der Ästhetik vorgenommene Einschränkung dieser auf das Reproduzieren von Bildern und Ideen zu implizieren. 212 Es ist jedoch falsch zu sagen, dass es die Einbildungskraft ist, welche die Idylle gefährdet (vgl. Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse, S. 719), sondern gerade Fixleins sonstige Phantasielosigkeit ist der Grund dafür, dass er in dem Moment, in dem die Einbildungskraft zu stark wird, nicht in der Lage ist, ihre Eindrücke von der realen Wahrnehmung zu trennen (vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 207). 213 Vgl. Jean Paul: Fixlein, S. 177. 214 Jean Paul: Fixlein, S. 178.

222

Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

Fixleins Innerem, in der das plötzliche Zeitbewusstsein die latent vorhandene Todesfurcht an die Oberfläche befördert und somit bewusst macht. Fixleins Versuch, ruhig zu bleiben und für seine Familie zu beten, wird durch das mitternächtliche, unheimliche Schlagen der Turmuhr verhindert, die wegen eines mechanischen Defekts nicht mehr zu schlagen aufhört. Das Schlagen setzt Fixleins Einbildungskraft in Gang. Ungeübt im Umgang mit der Phantasie versucht er, die anstürmenden Bilder zu löschen, indem er die Sinne ausschaltet: Er schließt die Augen. Fixlein hält den Tod für ein äußeres Schicksal, das fluchartig über ihn hineinbricht, während die Todesgefahr jedoch eigentlich in seinem eigenen Inneren entsteht.215 Im Schlaf bleibt die Phantasie aktiv und Fixlein hat einen Todestraum, in dem der Tod als zwei unterschiedliche Figuren personifiziert wird. Durch den Traum wird die schöpferische Dimension der Einbildungskraft vorgeführt, die Fixlein jedoch nicht kennt, so dass er das Erschaffene für real hält.216 Seine resultierende Todesvision wird intern fokalisiert erzählt. Anders als in den Biographien der Wahnsinnigen wird aus der Innenperspektive des Wahntraums erzählt. Zu Beginn markieren Ausdrücke wie „ihm war“ und „nun wurd’ ihm“ 217 das Erzählte noch als Fixleins Wahrnehmung. Zunehmend werden dessen Todesphantasien jedoch ohne diese Perspektivierungshinweise wiedergegeben. Der Erzählerbericht nähert sich dabei der ‚Echtzeit‘ von Fixleins Wahrnehmung an, was zum Beispiel an den vielen temporalen Adverbien und Konjunktionen wie „jetzt“, „da“ oder „als“ deutlich wird. Die narrative Vermittlung wird nur noch über das Präteritum angedeutet. Der Tod materialisiert sich auf dem anliegenden Friedhof, indem das dort liegende Knochenmaterial ‚lebendig‘ wird. Zunächst erscheint der Tod Fixlein „klein wie ein Skorpion“ 218, doch dieser kriecht auf den Gräbern herum und setzt sich aus Knochen zusammen, die dort liegen, wodurch er immer größer wird und Fixleins abstrakte Todesangst als ein grausig zusammengesetzter Knochenmann personifiziert wird. Zunehmend wird dieser mit Fixleins Vater identifiziert, so spricht das zusammengesetzte Gerippe Fixlein direkt an: „Fixlein, wo bist du? Mein Finger ist ein Eiszapfen und kein Finger, und ich will damit an dein Herz tippen.“ 219 Wenig später heißt es, dass das Skelett seinen Sohn am Fenster stehen sieht und auf ihn zuschreitet, um ihm den Finger in die Brust zu stoßen. Während das Gerippe näher kommt, verwandelt es sich jedoch und bekommt einen weiblichen Körper:220 Aber so wie er weiterschritt, wurden seine gebleichten Knochen röter, und Düfte flossen wollicht um seine stechende Gestalt. – […] und als er näherkam, war Uhr und Sichel weggeflossen,

215 216 217 218 219 220

Vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 185. Vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 52. Beide Zitate aus Jean Paul: Fixlein, S. 178. Jean Paul: Fixlein, S. 179. Jean Paul: Fixlein, S. 179. Vgl. auch Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 204.

Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein

223

und er hatte im Brust-Gerippe ein Herz und auf dem Knochenschädel einen roten Mund – und noch näher fing ein weichendes, durchsichtiges, in Rosenduft getauchtes Fleisch gleichsam den Widerschein eines hinter dem Sternenblau fliegenden Engels auf – und am nächsten wars ein Engel mit geschlossenen scheeweißen Augenlidern. …221

Die Verwandlung des Gerippes in eine Frauengestalt findet von innen nach außen statt, zunächst färben sich die Knochen rot, dann kommen das Herz und der rote Mund sowie das Fleisch hinzu. Die entstehende Figur ist ebenso wie Thiennette durch eine Weiß-Rot-Kontrastierung charakterisiert. Wieder wird die Farbe Rot im Unterschied zu den weißen Knochen als das ‚Lebendige‘ assoziiert. Die Verwandlung wird synästhetisch inszeniert, denn zusätzlich zu den visuell wahrnehmbaren Farben wird das Skelett von Düften eingekleidet sowie der Eindruck von Weichheit evoziert. Der ‚grausige‘ Knochenmann wird mit fließenden, stofflosen und weichen Dingen umhüllt; Attribute, die im Fixlein Weiblichkeit signalisieren. Fixleins Reaktion auf die Verwandlung des Knochenmanns wird mit ähnlichen Metaphern des Fließens beschrieben, die auch die Kussszene bestimmen, so dass das Sterben erneut als Zerrinnen und somit als Auflösung der festen Körpergrenzen dargestellt wird. Schließlich ist es jedoch nicht Fixlein sondern dessen Traum, der ‚zerrinnt‘. Der Übergang vom Traum- zum Wachzustand wird durch zwei Bindestriche markiert, danach beendet – wie in der Kussszene – eine einfache Feststellung die Traumdarstellung, dass Fixleins Leben aber nicht zerrann. Nach Fixleins Aufwachen wird der Verlauf seiner Krankheit über einen Tag hinweg beschrieben. Durch das Fieber werden die Erzeugungen der Einbildungskraft so stark wie die Sinneswahrnehmungen und daher für wahr gehalten, so dass sich die Krankheit tatsächlich in den Körper ‚ein-bildet‘. Die Einbildungskraft erzeugt ihre eigene Realität. Die Grenzen zwischen Körper und Seele werden dabei verwischt, indem Fixleins Fieberwahn als blutig-feurigen Ritt durch den Körperraum narrativiert wird, wobei sich die Bedeutung der Krankheit ständig zwischen somatischen und seelischen Ebenen verschiebt. Während der Erzähler von Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen in seinen Erzählungen Krankheit von einer eindeutig markierten Grenze aus beobachtet und Raserei und Fieber nur kurz aus einer Außenperspektive skizziert, dringt der Erzähler des Fixlein tief in die körperlichen und seelischen ‚Räume‘ der Krankheit vor. Die mit dem Fieber verbundene Assoziation von Hitze wird in eine dramatische Feuermetaphorik übersetzt: „Aber gegen Abend rannten seine Ideen wieder in einem Fackeltanz wie Feuersäulen um seine Seele: jede Ader wurde eine Zündrute, und das Herz trieb brennende Naphthaquellen in das Gehirn.“ 222 Die Fieberthematik wird mit dem Blutkreislauf verbunden, indem das Herz hier als treibende Kraft und die Adern als Verbreitungswege funktionieren. Das Bild der brennenden Naph-

221 Jean Paul: Fixlein, S. 179. 222 Jean Paul: Fixlein, S. 180.

224

Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

thaquellen223, die ins Gehirn getrieben werden, evoziert die Krankheit als Gewalterfahrung. Wie das Blut, das aus Thiennettes Wunde fließt, erscheint das Herz sowohl in seiner ‚realen‘ Funktion als Organ, über das der Blutkreislauf reguliert wird, als auch in seiner metaphorischen Funktion als Ort der Gefühle des Menschen.224 Es ist es jedoch eben nicht das Blut, das sich durch das Herz in Fixleins Körper verbreitet, sondern seine „Ideen“ und sein „Glaube[n] ans Sterben“ 225, die durch seine Adern pulsieren und deren zerstörerische Wirkung durch die Feuermetaphern ausgedrückt wird, die zugleich den Eindruck von Fiebrigkeit evozieren. Ähnlich wie in Spieß’ Erzählung „Amalie“ wird der Blutkreislauf als Verbreitungsweg psychischer Krankheit dargestellt. Mit Blutmetaphern werden auch die Vorgänge in Fixleins Seele beschrieben, die mit Blut regelrecht geflutet wird: Jetzt wurde alles in seiner Seele blutig; das Blut seines ertrunknen Bruders floß mit dem Blute, das aus Thiennettens Aderlaßwunde längst gedrungen war, in einen Blutregen zusammen – ihm kam immer vor, er sei in der Verlobungsnacht in dem Garten, und er begehrte immer Schrauben zum Blutstillen und wollte sein Haupt in den Turmknopf verstecken.226

Die Überblendung von somatischer und psychischer Krankheit wird hier erneut deutlich, da die immaterielle Seele wie der Körper bluten kann. Fixleins Wunsch, die Wunden mit Schrauben zu verschließen, stellt diesen Kontrast weiter heraus, da die mechanischen, harten Schrauben mit dem ‚Blutregen‘ und dem unkörperlichen der Seele kontrastieren und zudem nur weitere Verletzungen hervorrufen würden.227 Der Versuch, seinen Kopf in dem Turmknopf zu verstecken, in dem die Dokumentation seines Alters versteckt war, bringt zudem die Zeit wieder ins Spiel. Nachdem die Fokalisierung des Erzählers sich fast ganz auf Fixleins Wahrnehmung verengt hat, wird sie durch Erzählerkommentare wieder geweitet: Nichts tut weher, als einen mäßigen vernünftigen Menschen, ders sogar in Leidenschaften blieb, im poetischen Unsinn des Fiebers toben zu sehen. Und doch, wenn nur die kühle Verwesung das heiße Gehirn besänftigt und wenn, während der Qualm und Schwaden eines aufbrausenden Nervengeistes und während die zischenden Wasserhosen der Adern die erstickte Seele umfassen und verfinstern, wenn ein höherer Finger in den Nebel dringt und den armen betäubten Geist plötzlich aus dem Brodem auf eine Sonne hebt: wollen wir denn lieber klagen als bedenken, daß das Schicksal dem Augen-Wundenarzte gleicht, der gerade in der Minute,

223 ‚Naphta‘ ist eine alte Bezeichnung für flüssiges Erdöl. Das Wort ‚Naphtha‘ stammt aus dem Griechischen νάφθα und hat seinen Ursprung im semitischen (vgl. Der grosse Brockhaus. Handbuch des Wissens in 20 Bänden. Bd. 13. Leipzig 1932, S. 169). 224 Dangel-Pelloquin stellt diese Doppelfunktion des Herzens für den Hesperus fest: Eigensinnige Geschöpfe, S. 117. 225 Jean Paul: Fixlein, S. 180. 226 Jean Paul: Fixlein, S. 180. 227 Das Bild der blutstillenden Schraube findet sich auch im Hesperus: vgl. Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe, S. 118.

Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein

225

eh’ er dem einen blinden Auge die Lichtwelt aufschließet, auch das andere sehende zubindet und verdunkelt?228

Fixleins Krankheit breitet sich in einem psycho-physiologischen Raum aus.229 Das Fieber als tatsächliche Erhöhung der Körpertemperatur bringt den „poetischen Unsinn“ hervor, wobei das Adjektiv „poetisch“ darauf verweist, dass im Fieber die Einbildungskraft stark genug wird, um Bilder und Vorstellungen zu produzieren, die nichts mit den Sinneswahrnehmungen zu tun haben. Das Bild des „aufbrausenden Nervengeistes“ 230 rekurriert auf das physiologische Konzept des Nervenfluidums, das den Körper mit der Seele verbindet. Platner nennt diese Substanz „Lebensgeister“ und definiert sie als den „allerfeinste[n] Theil des Bluts, der aus den Blutgefäßen, die sich in ihrem Fortgange verringern endlich […] in die markischen Röhrchen eintritt“ 231. Die „markischen Röhrchen“ oder „Kanäle“ 232, aus denen die Nerven bestehen, verlängern die Blutgefäße des Körpers in das Gehirn hinein. Die Bewegung und Beschaffenheit der Lebensgeister im Gehirn sind für alle Tätigkeiten der Seele essentiell und beeinflussen insbesondere die Art, wie die Seele Eindrücke und Ideen wahrnimmt und welche Selektionen sie dabei vornimmt.233 Die enge Verbindung von Adern, Blut und Nerven sowie Nervenflüssigkeit, Gehirn und Seele findet sich auch in Jean Pauls bildlicher Ausgestaltung von Fixleins Krankheit, in der diese Bereiche beständig vermischt werden: nicht nur der „aufbrausende Nervengeist“, sondern auch „zischende Wasserhosen der Adern“ „umfassen und verfinstern“ die Seele. Bereits zuvor war es das Herz – also das Zentrum des Blutkreislaufs – das „brennende Naphthaquellen“ 234 in das Gehirn treibt und Fixleins Seele mit Blut flutet. Platner weist der Einbildungskraft ein ebenso pathologisches Potential wie Jean Paul im Magie-Aufsatz zu, wenn die durch sie hervorgerufenen Wahrnehmungen die Intensität von realen Eindrücken bekommen.235 Ideen können transformiert werden, indem etwas weggelassen, hinzugefügt oder ihre Charakteristika verändert werden. Werden diese Änderungen durch die Seele verursacht, sind sie Werke des Genies, werden sie jedoch nur von einer Bewegung der Lebensgeister hervorgerufen, nennt Platner sie „Missgeburten der Phantasie“ 236, die zum Beispiel

228 Jean Paul: Fixlein, S. 180. 229 Vgl. auch Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 208 230 Jean Paul: Fixlein, S. 180. 231 Platner: Anthropologie, S. 40. Vgl. zu Jean Pauls Platner Rezeption: Alexander Košenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ‚philosophische Arzt‘ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989 sowie Bergengruen: Schöne Körper, insbesondere S. 33 f. 232 Platner: Anthropologie, S. 41: „Die Nerven sind dünne Bündel von markischen Kanälen, die aus dem Gehirn herunter gehen.“ 233 Vgl. Platner: Anthropologie, S. 41 f. und S. 69–73. 234 Alle Zitate: Jean Paul: Fixlein, S. 180. 235 Vgl. Platner: Anthropologie, S. 90 (siehe Kap. 1.3). 236 Platner: Anthropologie, S. 165.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

im Traum und in vielen Krankheiten vorkommen. Diese „Missgeburten“ entstehen in allen Zuständen des Gehirns, in denen die Bewegung des Nervensafts (der Lebensgeister) „unordentlich und lebhaft ist. Am häufigsten sind sie im Schlafe, in der Fieberhitze und in den heftigen Anfällen der Furcht“ 237. Dem Dichter ist das Vermögen, Ideen durch die Einbildungskraft zu produzieren, als natürliche Anlage gegeben, beim ‚normalen‘ Menschen bedeutet dieser Zustand jedoch Krankheit. Fixleins Heilung wird im „letzte[n] Kapitel“ in ironisch-satirischer und distanzierter Sprache dargestellt, die zu der metapherngeladenen Sprache, in der die Krankheit inszeniert wurde, im Kontrast steht. Knapp konstatiert der Erzähler: „Ich bin aus Hukelum und mein Gevatter aus dem Bette, und einer ist so gesund wie der andere. Die Kur war so närrisch wie die Krankheit.“ 238 Der Übergang vom 14. Zettelkasten zum letzten Kapitel zeigt somit ebenso wie das Ende der Verlobungsund Kussszene die Sprach- und Stilwechsel, die im Fixlein auf engstem Raum stattfinden. Die Idylle ist eigentlich vom genus humile geprägt, der jedoch im Fixlein immer wieder durch Metaphernhäufungen und pathosgeladene Leidensdarstellungen unterbrochen wird.239 Die Metaphern changieren zwischen humoristischen Vergleichen, empfindsam-schwärmerischen Natur- und Liebesbildern, die teilweise allerdings parodistisch wirken, gleiten aber auch immer wieder in geradezu barock-hyperbolische Leidensbilder ab, wenn es um Krankheit und Wunden der Figuren geht. Nach Boerhaaves Regel, „Konvulsionen durch Konvulsionen“ zu therapieren, heilt der Erzähler bei Fixlein „Einbildung durch Einbildung“ 240. Er versetzt Fixlein in eine nach dem Tod des Vaters durch- und vor allem überlebte Blatternerkrankung zurück, indem er ihn mit seinem alten Spielzeug umgibt und nur die Mutter mit ihm reden darf. Durch diese Rückversetzung in die Vergangenheit wird Fixleins Zeitbewusstsein wieder ausgelöscht und gleichzeitig die Krankheitsursache entfernt. Die Wiederherstellung der idyllischen Zeitlosigkeit ermöglicht somit Fixleins Genesung.241 Während aus medizinischer Perspektive die Verbindung von Körper und Seele die Ursache für Fixleins Krankheit ist, verursacht im erzählerischen Kontext das Scheitern der ‚Verbannung der Zeitlichkeit‘ Fixleins Krankheit, da die ‚erzeugte‘ Wahrnehmung für real gehalten wird.

237 Platner: Anthropologie, S. 166 f. 238 Jean Paul: Fixlein, S. 181. 239 Vgl. zu Jean Pauls Metapherbegriff unter besonderem Bezug zum Fixlein: Brigitte Langer: Jean Pauls Weg zur Metapher. Sein ‚Buch‘ Leben des Quintus Fixlein. Frankfurt a. M. 2003. 240 Vgl. zu Beispielen zeitgenössischer Kuren von durch die Einbildungskraft verursachten Erkrankungen, durch die Umlenkung der Einbildungskraft auf andere Vorstellungen: Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse, S. 715 f. 241 Der Text bietet dabei keinerlei Hinweise dafür, dass Fixlein ein neues Zeitbewusstsein entwickelt, wie Kaiser behauptet (vgl. Herbert Kaiser: Jean Pauls Glauben. Grundsätzliches zum Verhältnis von Poesie und Aufklärung. In: Literatur für Leser 11 [1988], S. 7 und S. 9), vielmehr wird er gerade in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückversetzt (vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 192 f.).

Krankheit in der Idylle: Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein

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Der Fieberwahn verwandelt sich in den „schönsten Wahn[ ]“ 242, wieder in der Kindheit zu sein, was auf den Körper eine heilende und beruhigende Wirkung hat.243 Nach dieser Beruhigung appellieren der Erzähler und der Quartiermeister an Fixleins Vernunft, mehr noch aber trägt die Drohung des Erzählers, seine Biographie nicht zu schreiben, „wenn er nicht nächstens aufstände und genäse“ 244 zu seiner Heilung bei. Fixleins Genesung wird somit zu einer fiktionsinternen Notwendigkeit der Geschichte, da sein Sterben auch die Schrift auslöschen würde, in der sein Leben beschrieben wird.245 Dieser Aspekt rückt die Aufmerksamkeit nicht nur auf den Zusammenhang von Schrift und Krankheit, sondern auch auf die Erzähltheit und Fiktionalität der Krankheit selbst, die nur innerhalb des Textes durch die Sprache des Erzählers entsteht, von dem sie auch geheilt wird. Wöbkemeier weist zu Recht daraufhin, dass Fixleins Erkrankung und Heilung eng an schriftliches Wissen und die Verfügung darüber gebunden ist.246 Der Erzähler versucht, die Schrift, die das Geburtsdatum von Fixlein fixiert, vor diesem zu verbergen, so dass er in seinem Zustand von Nicht-Wissen verbleiben kann, das ironischerweise Gesundheit bedeutet.247 Das Wissen um Zeit bedeutet Krankheit. Diese ist jedoch nur eine Fiktion seiner Einbildungskraft, die Fixlein aber nicht von der Realität trennen kann, so dass die fiktive Krankheit tatsächlich die körperliche Realität von Fixleins Leben bedroht. Die fiktive Krankheit wird vom Erzähler in einer Sprache dargestellt, die deutlich seine eigene ist. Er ist es, der die Fieberträume Fixleins sprachlich inszeniert.248 Auch wenn im Sinne einer der Gattung Biographie entsprechenden Legitimierungsstrategie kurz erwähnt wird, dass Fixlein seine Phantasien in einem klaren Moment erzählt, stellt die sprachliche Ausgestaltung der Krankheit sie als erzählerisches Produkt heraus, denn die Fülle an Metaphern und hyperbolischen Leidensbildern der in ‚Feuersäulen‘ verbrennenden und im Blut ‚ertrinkenden‘ und ‚erstickenden‘ Seele verweist nicht nur auf die psychische Dimension der Krankheit, sondern rückt auch ihre sprachliche Gemachtheit in den Vordergrund. Die Fiktion von Quintus’ Einbildungskraft wird durch die Fiktion des Erzählers gleich doppelt geheilt. Zunächst versetzt er Fixlein in eine andere Krankheit zurück, wodurch sich die unterschiedliche Kompetenz zeigt, die der Erzähler als Dichter und der Protagonist im Umgang mit der Einbildungskraft haben. Der Erzäh-

242 Jean Paul: Fixlein, S. 183. 243 Vgl. Jean Paul: Fixlein, S. 183. Zur Bedeutung der Kindheit im Werk von Jean Paul vgl. z. B. Beatrice Mall-Grob: Fiktion des Anfangs. Literarische Kindheitsmodelle bei Jean Paul und Adalbert Stifter. Stuttgart 1999. 244 Jean Paul: Fixlein, S. 184. 245 Vgl. auch Christian Sinn: Jean Paul. Hinführung zu seiner Semiologie der Wissenschaft. Stuttgart 1995, S. 127. 246 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 205. 247 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 186. 248 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 203.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

ler kann die zeitlichen Dimensionen der Einbildungskraft nutzen, um Fixlein fiktiv in die Vergangenheit zu führen. Dieser ist jedoch nicht in der Lage, zwischen den wiedererweckten Bildern der vergangenen Krankheit und seiner jetzigen Erkrankung zu unterscheiden; erneut verwechselt er die von der Phantasie produzierten Bilder mit der Realität und schafft diese dadurch erst. Fixlein erinnert sich nicht an seine Kindheit, er wird wieder zum Kind.249 Zuletzt muss Fixlein aber seine eigene fiktionale Krankheit überwinden, um nicht aus dem Text des Erzählers zu verschwinden und diesen somit zu löschen, womit auch seine Krankheit nicht mehr existent wäre. Krankheit wird im Fixlein in enger Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der Gattung Idylle und dem Akt der Narration dargestellt. Der Krankheitsverlauf kann mit den idyllischen Zeitkonstruktionen begründet werden. Zudem wird die Produktion von narrativer Wirklichkeit durch die Verknüpfung des Wahnsinns mit den Themen Zeichen und Schrift reflektiert. Wahnsinn erscheint als Folge einer fehlerhaften Zeichensetzung. Fehlerhafte Wahrnehmungen liegen auch der Krankheit des Protagonisten in E. T. A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels zugrunde, der als eine dritte Möglichkeit der gattungsspezifischen, narrativen Umsetzung von Krankheit fokussiert wird.

4.3 Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels Der Erzähler von E. T. A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1815/16) hat das ‚sichere Ufer‘ verlassen, von dem aus in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen erzählt wurden. Erzähler und Leser blicken nicht von außen auf den Wahnsinn, sondern das Leiden der Hauptfigur wird aus deren eigener Perspektive heraus dargestellt. Während der Wahnsinn in Spieß’ Texten aus einer festen, ‚auktorialen‘, distanzierten, wenn auch mitleidig affizierten Position narrativiert wird und der Erzähler des Leben des Quintus Fixlein durch den furiosen, aber stets kontrollierten Wechsel von Nähe und Distanz, Krankheit in der Idylle zwischen Komik und Gefährdung darstellt, wird die narrative Distanz in Hoffmanns Roman stark verringert, indem die Geschichte überwiegend intern fokalisiert von dem an Ich-Spaltungen und Wahrnehmungsstörungen leidenden Mönch Medardus als homodiegetischintradiegetischem Erzähler erzählt wird. Der Leser wird durch diese Art der Darstellung in die Perspektive des Wahnsinnigen hineingezogen.250 Medardus’ Perspektive wird durch die Einschübe von Aurelies Brief und dem Malerbuch sowie durch den vorgeschalteten Herausgeberteil und den Nachtrag des Pater Spiridion ergänzt. Zudem werden immer wieder Erzählungen anderer Figuren

249 Vgl. auch Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 92 und S. 134. 250 Vgl. ähnlich Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 235.

Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels

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in die Narration des Mönchs eingebunden. Diese Polyperspektivik und Verschachtelung der Erzählebenen unterstreichen die Begrenztheit und Unsicherheit der Wahrnehmung, so dass die psychopathologischen Themen mit Fragen der narrativen Darstellung und Vermittlung sowie Medialität verknüpft werden. Zu Beginn wendet sich der fiktive Herausgeber von Hoffmanns 1814 erschienenen Fantasiestücken in Callots Manier an den intendierten Leser.251 Der Herausgeber baut jedoch keine vermittelnde Distanz auf, sondern versucht vielmehr, den Leser als unmittelbaren Beobachter zu positionieren, wodurch das Mitempfinden mit der Hauptfigur möglich wird. Der Leser soll die gleiche Position einnehmen, die der Herausgeber beim Lesen des Lebensberichts innehatte: er sitzt zunächst mit dem Rücken zum Kapuzinerkloster von B. und schaut in eine eindrucksvolle Naturszenerie und wird dann angewiesen, sich umzudrehen und das Kloster anzuschauen. Bereits nach diesem ersten Blick verwandelt sich die Szenerie und gerät in Bewegung: Die Sonne steht glutrot auf dem Gebürge, der Abendwind erhebt sich, überall Leben und Bewegung. Flüsternd und rauschend gehen wunderbare Stimmen durch Baum und Gebüsch: als würden sie steigend und steigend zu Gesang und Orgelklang, so tönt es von ferne herüber. Ernste Männer, in weit gefalteten Gewändern, wandeln, den frommen Blick emporgerichtet, schweigend durch die Laubgänge des Gartens. Sind denn die Heiligenbilder lebendig worden, und herabgestiegen von den hohen Simsen?252

Die visuelle Wahrnehmung wird durch Gehör und Gefühl ergänzt und durchmischt. Gleichzeitig wird sie uneindeutig, was der Konjunktiv „als würden“ verdeutlicht. Die Heiligenbilder erscheinen als lebendige Menschen. Der Leseprozess erscheint als ‚Belebung‘ von etwas Unbelebtem und Statischem. Diese belebende Funktion der Wahrnehmung deutet bereits an, dass eine eindeutige, die Realität abbildende Sinneswahrnehmung vom Herausgeber nicht gemeint ist, sondern ein produktiver, verändernder Zug in die intendierte Wahrnehmung integriert ist. Damit gerät das Lektüreerlebnis bereits in Nachbarschaft zu dem zeitgenössischen semiotischen Konzept von Wahnsinn. Die mediale Distanz zwischen der schriftlich erzählten Geschichte und dem Leser, der zum unmittelbaren Beobachter wird, wird überwunden: Dir ist, als geschähe Alles vor deinen Augen, und willig magst du daran glauben. In dieser Stimmung liesest du die Geschichte des Medardus, und wohl magst du auch dann die sonder-

251 Steinecke weist darauf hin, dass bereits die Referenz auf die Herausgeberfiktion der Fantasiestücke eine „Schichtung und Brechung“ (Hartmut Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 2.2: Die Elixiere des Teufels. Werke 1814–1816, hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 2007, S. 593 f.) ergibt, da die Herausgeberfigur nicht eindeutig identifizierbar ist. 252 E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. In: ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 2.2: Die Elixiere des Teufels. Werke 1814–1816, hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 2007, S. 11.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

baren Visionen des Mönchs für mehr halten, als für das regellose Spiel der erhitzten Einbildungskraft.253

Die Illusion ermöglicht das Mitempfinden des Lesers, das als zentrale Wirkungsintention eingeführt wird. Der Herausgeber strebt nicht Distanz, sondern Nähe an, denn der Leser soll zum „treue[n] Gefährte[n]“ 254 von Medardus werden.255 Gleichzeitig verweist der Vergleich mit der „Camera obscura“ 256, die Bilder der Wirklichkeit in umgekehrter Form anzeigt, bereits auf die mediale Vermittlung des Geschehen und die ‚Verfälschung‘, die immer schon damit verbunden ist. Die Erzählung kann die ‚Wirklichkeit‘ nicht exakt wiedergegeben.257 Illusion und Überschreitung der Medialität bedeuten nicht Mimesis der Wirklichkeit, sondern verweisen auf die Subjektivität von Wahrnehmung. Das Gelingen der erzählerischen Vermittlung wird zudem zu einem großen Teil in die Rezeptionsweise des Lesers verlegt. Es ist dessen Imagination, welche die Geschichte des Medardus’ so belebt, dass sie mehr als „das regellose Spiel der […] Einbildungskraft“ ist. Diese Bemerkung des Herausgebers kann als autoreflexiver Kommentar des Leseprozesses selbst verstanden werden: Die Geschichte des Medardus’ ist aller Authentizitätshinweisen zum Trotz nicht mehr als ein Produkt der Einbildungskraft. Mit „Vision“, „Einbildungskraft“ und dem „geheimen Faden[ ], der sich durch unser Leben zieht“ werden zentrale Themen- und Spannungsfelder der Erzählung angedeutet und zugleich intertextuelle Bezüge zu den Themen der Schicksalsgebundenheit im Schauer- und Stammbaumroman ebenso wie in der romantischen Schicksalstragödie hergestellt.258 Neben diesen Gattungseinordnungen sind die Elixiere als ‚fiktive Autobiographie‘, (barocker) ‚Abenteuerroman‘, ‚Kloster- und religiöser Erlösungsroman‘ sowie ‚psychologischer Roman‘ bezeichnet worden.259 Die Vielzahl dieser aus thematischen Merkmalen generierten Gattungszuordnungen ergibt sich unter anderem aus der Verwebung genealogischer, religiöser und psychopathologischer Ursachen von Medardus’ Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsstörungen. Insbesondere durch die psychologischen

253 E. T. A. Hoffmann: Elixiere, S. 11. 254 Hoffmann: Elixiere, S. 12. 255 Vgl. auch Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 594. 256 Hoffmann: Elixiere, S. 12. 257 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 594. 258 Vgl. Lothar Köhn: Vieldeutige Welt. Studien zur Struktur der Erzählungen E. T. A. Hoffmanns und zur Entwicklung seines Werkes. Tübingen 1966, S. 57 und S. 75. 259 Vgl. Wolfgang Nehring: E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels (1815/16). In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Stuttgart 1981, S. 346; Franz Loquai: Kampf gegen das Böse. Zur Bedeutung literarischer Exorzismen bei E. T. A. Hoffmann. In: Aurora 57 (1997), S. 45–64; Ricarda Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität in E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels und Der Sandmann. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 49 (1999), S. 157.

Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels

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Aspekte in den Elixieren, die seit einiger Zeit im Fokus der Forschung stehen,260 werden jedoch Gattungstraditionen wie die des Schauerromans unterlaufen und verändert. Für Hoffmanns Gesamtwerk ist die zeitgenössische Medizin und Psychologie als Kontext in den Blickpunkt gerückt worden.261 Auch im Zentrum der Elixiere stehen Formen der ‚Geisteszerrüttungen‘ wie religiöser Wahn, Melancholie, Ich-Spaltung und Raserei, die mit Themen der sogenannten ‚Nachtseite‘ wie Traum, Visionen und animalischem Magnetismus verknüpft werden.262 Während die ältere Forschung annahm, dass Hoffmann diese Themen insbesondere zur Erzeugung phantastischer Spukeffekte herangezogen habe,263 hat die neuere Forschung Hoffmanns intensive Beschäftigung mit medizinisch-wissenschaftlichen Quellen umfassend herausgearbeitet.264 Dabei ist insbesondere auf die Funktion des animalischen Magnetismus’265 und des Wahnsinns einge-

260 Freud verweist auf die Elixiere in seiner Abhandlung über das Unheimliche: Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1917–1920, hg. von Anna Freud. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1966, S. 246. Vgl. auch Karl Ochsner: E. T. A. Hoffmann als Dichter des Unbewußten. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik. Leipzig 1936, S. 112–135; Natalie Reber: Studien zum Motiv des Doppelgängers bei Dostojevskij und E. T. A. Hoffmann. Gießen 1964; Katrin Cramer: Bewußtseinsspaltung in E. T. A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“. In: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft 16 (1970), S. 8–18; Deitrich Raff: Ich-Bewußtsein und Wirklichkeitsauffassung bei E. T. A. Hoffmann. Eine Untersuchung der „Elixiere des Teufels“ und des „Kater Murr“. Rottweil 1971; Horst S. Daemmrich: The Shattered Self. E. T. A. Hoffmann’s Tragic Vision. Detroit: 1973, S. 93–106; Elisabeth Wright: E. T. A. Hoffmann and the Rhetoric of Terror. London 1978, S. 14–49. 261 Vgl. Josefine Nettesheim: Poeta doctus oder die Poetisierung der Wissenschaft von Musäus bis Benn. Berlin 1975; Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1985; Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel; Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“. 262 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallerner Geister“, S. 235–276. 263 Vgl. dazu Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel, S. 2. 264 Vgl. Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel, S. 1–35; Patricia Tap: E. T. A. Hoffmann und die Faszination romantischer Medizin. Düsseldorf 1996. 1813 las Hoffmann Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) und ein Jahr später, während seiner Arbeit an den Elixieren, Die Symbolik des Traumes (1814), in der Schubert die zentralen Themen der Ansichten weiterführt. Über den animalischen Magnetismus informierte sich Hoffmann u. a. durch Kluges Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1811) und Bartels’ Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus (1812). 265 Vgl. zur Rolle des animalischen Magnetismus in Hoffmanns Werk: Maria Tatar: Spellbound. Studies on Mesmerism and Literature. New Jersey 1978 sowie die Publikationen von Barkhoff: Magnetische Fiktionen; Die Literarisierung des Mesmerismus bei E. T. A. Hoffmann. Ein Heilkonzept zwischen Naturphilosophie, Technik und Ästhetik. In: Jörg Zimmermann, (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung. Stuttgart-Bad Connstatt 1996, S. 269–283; Inszenierung – Narration – his story, S. 91– 122; Geschlechteranthropologie und Mesmerismus. Literarische Magnetiseurinnen bei und um E. T. A. Hoffmann. In: Gerhard Neumann (Hg.): ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005, S. 19–43. Bayer-Schur und Schweizer zeigen an-

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

gangen worden.266 Zudem stand Hoffmann während seiner Zeit in Bamberg in Kontakt mit den Medizinern Adalbert Friedrich Marcus, Friedrich Speyer und David Ferdinand Koreff.267 Zunehmend ist in der jüngeren Forschung die Frage nach dem ästhetisch-literarischen Umgang mit den genannten Krankheitskonzepten neben den Nachweis von Einflüssen und biographischen Fragen gestellt worden. So untersucht zum Beispiel Henriett Lindner für eine Reihe von Hoffmanns Werken, wie psychiatrisches, medizinisches und anthropologisches Wissen fiktionalisiert wird.268 Die medizinischen Themen spielen in den Elixieren dabei nicht nur inhaltlich eine Rolle, sondern beeinflussen auch die Form des Romans selbst. Die Konzepte von magnetischer Fernwirkung und Rapport werden genutzt, um die Figurenkonstellation zu etablieren und zu motivieren, insbesondere die geheimnisvollen Verbindungen von Medardus mit Aurelie und dem alten Maler.269 Ferner strukturieren unterschiedliche Phasen des Wahnsinns, wie sie beispielsweise von Reil konzipiert werden, die Handlung sowie Erzählmodus und -tempo. Medardus’ Lebensweg ist von einem wiederholten Wechsel von Melancholie zur Raserei bis zur Bewusstlosigkeit und ‚hellen Intermissionen‘ gekennzeichnet.270 Hoffmanns Rezeption medizinischer Themen und Verfahren der Fiktionalisierung in seinem Werk sind somit dokumentiert. Aus der gattungsspezifischen Fragestellung heraus sollen hier zwei Aspekte im Mittelpunkt stehen: erstens die Ver-

hand von Hoffmanns Erzählung Der Magnetiseur, wie der animalische Magnetismus die Form der Erzählung verändert: Barbara Bayer-Schur: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften. Zur narrativen Funktion der Naturwissenschaften in E. T. A. Hoffmanns „Der Magnetiseur“. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 15 (2007), S. 50–76; Stefan Schweizer: Zwischen Poesie und Wissen. E. T. A. Hoffmanns „Der Magnetiseur“. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 15 (2007), S. 25–49. Vgl. zur Funktion des animalischen Magnetismus bei anderen Autoren: Michael Holtmann: „Thierischer Magnetismus“ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 164–197; Barkhoff: Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe, S. 75–100; Uffe Hansen: Schiller und die Persönlichkeitspsychologie des animalischen Magnetismus. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 195–229 und für Kleist, Arnim und Tieck: Barkhoff: Magnetische Fiktionen. 266 Als wichtigste Quellen zum Thema Geisteskrankheit dienten ihm Reils Rhapsodieen und ferner Pinels Traité médico-philosophique sur l’alienation mentale, ou la manie (1801) sowie Joseph Cox’ Practical Observations on Insanity (1804) (vgl. Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel, S. 1–35). 267 Vgl. Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration. Studien zu Leben, Werk und Wirkung E. T. A. Hoffmanns. Frankfurt a. M. 1996, S. 61–75. 268 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“. 269 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 241. Vgl. zum religiösen Wahnsinn auch Schmaus: Psychosomatik, S. 52–64. 270 Vgl. zu diesen verschiedenen Stufen der ‚Geisteszerrüttungen‘ und den „hellen Zwischenzeiten“: Reil: Rhapsodieen, S. 298–439. Auch Lindner stellt fest, Medardus trage zunächst Kennzeichen der Melancholie, die sich während seiner Reise zur Raserei verändere und schließlich in Bewusstlosigkeit münde (vgl. „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 251). Diese Wechsel finden jedoch mehrfach statt; immer wieder hat Medardus melancholische Phasen aber auch Remissionen. Solche Wechsel bestimmen den Erzählvorgang.

Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels

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wendung von theatral-dramatischen Formelementen, die zur Darstellung der pathologischen Themen verwendet und in den narrativen Text integriert werden, und zweitens die Verbindung der Wahnsinnsdarstellung mit Reflexionen über die narrative und mediale Vermittlung und Produktion von Narrationen selbst. Der Roman stellt zum einen die sprachlich-erzählerische und mediale Vermittlung des Geschehens immer wieder autoreflexiv heraus und zugleich werden Möglichkeiten der Überschreitung von geschriebener, gemalter und gesprochener Medialität thematisiert, was bis in die Rezeption der Elixiere hinein reicht. ‚Theater‘ ist als Bezugspunkt für Hoffmanns Werk angesprochen worden.271 Die Verwendung dramatisch-theatraler Form- und Darstellungselemente in den Elixieren und die Rolle, die diesem Gattungswissen des Dramas bei der Thematisierung von psychischen Krankheiten zugewiesen wird, sind jedoch nicht ausreichend beachtet worden. Unter dem Dramatisch‑Theatralen (siehe Kap. 1.1.2) sollen Aspekte wie Polyperspektivik und die Integration von Monolog- und Dialogstrukturen in die Narration und die damit einhergehenden Auflösung der Hauptfigur in verschiedene Figurationen verstanden werden. Zudem soll mit dem DramatischTheatralen ein spezifischer Umgang mit Wahrnehmungs- und Beobachtungsvorgängen fokussiert werden, den Martin Huber bei seiner Etablierung von ‚Theater‘ als Modell für die Literatur um 1800 als literarisches Sinnbildungsmuster hervorhebt.272 An der ‚Theatralität‘ des Erzählens lassen sich auch Bezüge zur Theatermetaphorik in den psychomedizinischen Texten erkennen, die in Reils Rhapsodieen und Eschenmayers Versuch sowie den Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und dem Archiv für den thierischen Magnetismus identifiziert wurde. Diese wird in den Elixieren in die Narration selbst integriert. Anstelle inhalticher Beeinflussung werden so formale und strukturelle Interferenzen zwischen Medizin und Literatur in den Blick genommen. Die Wahnsinnsthematik ist in den Elixieren zudem mit Aspekten der narrativen und medialen Vermittlung verbunden, was insbesondere mit der Frage nach dem Bewusstsein der Figur verknüpft ist. Den psychischen Leiden entsprechen bestimmte Darstellungsweisen auf der Textebene, wie die fragmentarische IchPerspektive, die immer wieder durch andere Erzählungen und eingeschobene Textdokumente unterbrochen und ergänzt wird, sich dadurch aber auch weiter verschachtelt. Die interne Fokalisierung gewährt (scheinbar) einen Innenblick in das kranke Ich, das von der permanenten Unsicherheit der eigenen Wahrnehmung geprägt ist. Gedanken und Gefühle werden unmittelbar als Gedankenzitate und innere Monologe273 wiedergegeben und die textuell-rhetorischen Strategien zielen

271 Vgl. Heide Eilert: Theater in der Erzählkunst. Eine Studie zum Werk E. T. A. Hoffmanns. Tübingen 1977; Reber: Studien zum Motiv des Doppelgängers, S. 147. 272 Huber untersucht anhand von Texten von Goethe und Jean Paul, wie Fragen der Emotion und des Bewusstseins durch ein theatrales Erzählprinzip behandelt werden (vgl. Huber: Der Text als Bühne). 273 Vgl. zu den Begrifflichkeiten: Martínez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 62.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

auf die Herstellung von Präsenzeffekten. An den Elixieren wird somit ein neues ästhetisches Darstellungsparadigma des kranken Inneren erkennbar und zugleich das Potential der Narration bei der Herstellung eines durch den Wahnsinn verschobenen Sinns verhandelt.

4.3.1 Seelentheater: Figurationen von Wahrnehmungsstörungen Reil und Eschenmayer stellen ihre Konzepte von Wahrnehmungsstörungen und psychischen Krankheiten mit Hilfe von Theatermetaphern dar, durch die die Seele als eine Art Bühne dargestellt wird. Auch in den Elixieren wird das Dramatisch‑Theatrale genutzt, um Medardus’ pathologische Zustände sprachlich herzustellen. Dabei greift Hoffmann sowohl auf die Rollenstruktur des Dramas als auch auf bestimmte Effekte der Selbst- und Fremdwahrnehmung und Körperlichkeit, die das für die Aufführung konzipierte Drama impliziert, zurück. Wahnsinn, Ich-Spaltung und Magnetismus werden durch verschiedene Metaphern, Motive und narrative Strategien dargestellt, die Verdoppelung, Auflösung und Zerfall evozieren. Dazu gehört prominent das Doppelgängermotiv, mit dem Hoffmann auf Traditionen des Schauerromans rekurriert, diese aber zugleich mit Aspekten der Psychiatrie und Psychologie verknüpft, wodurch die Gattungskonventionen auch unterlaufen und verändert werden.274 Das Motiv des Doppelgängers275 wird insbesondere dadurch vielschichtig, dass es nicht ausschließlich den tatsächlichen, realen Doppelgänger betrifft, der sich schließlich als Medardus’ Halbbruder Viktorin herausstellt, sondern zugleich psychische Prozesse der Ich-Spaltung und Auflösung evoziert.276 Die Grenzen zwi274 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 566. Vgl. zu den Bezügen zum Schauerroman: Herbert Koziol: E. T. A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“ und M. G. Lewis „The Monk“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 26 (1938), S. 167–170; Christiane Zehl‑Romero: M. G. Lewis’ „The Monk“ and E. T. A. Hoffmann’s „Die Elixiere des Teufels“ – Two Versions of the Gothic. In: Neophilologus 63 (1979), S. 574–582; Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 275. 275 Vgl. zum Doppelgängermotiv bei Hoffmann u. a.: Martin Roehl: Die Doppelgängerpersönlichkeit bei E. T. A. Hoffmann. Rostock 1917; Reber: Studien zum Motiv des Doppelgängers; Cramer: Bewusstseinsspaltung in E. T. A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“, S. 8–18 und mit Bezug zur zeitgenössischen Medizin: Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 258–264. Vgl. zudem die Aufsätze in dem von Ingrid Fichtner herausgegebenen Sammelband Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens, der sich mit dem Motiv in verschiedenen Zeiten und Gattungen beschäftigt. 276 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 261. Es geht dabei zu weit, die Existenz des Doppelgängers gänzlich in Medardus’ Psyche zu verlegen, denn es ist vielmehr der Wechsel von realem Begegnen und wahnhaftem Vorstellen, der Medardus’ Leiden potenziert (vgl. Detlef Kremer: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 234). So hält es Daemmrich für möglich, dass sich die gesamte Erzählung ausschließlich in Medardus’ Phantasie abspielt (vgl. Daemrich: The Shattered Self, S. 98). Vgl. auch Johannes Harnischfeger: Das Geheimnis der Identität. Zu E. T. A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels.“ In: Mitteilungen der

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schen realer Existenz und Einbildung sind fließend: „Der Doppelgänger erweist sich […] zum Schluß als eine real existierende Person […], ohne seine Identität jedoch von der von Medardus zu objektivieren.“ 277 Es ist gerade der permanente Wechsel von Realität und Einbildung, der das Leiden des Medardus’ erzeugt.278 Mal ist er sich sicher, dass das „Fantom des Doppelgängers nur in meiner Fantasie spuke“ 279, dann wieder bricht diese reflexive Distanz zusammen und die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, außen und innen verschwimmen. Der Doppelgänger hat eine in zwei Richtungen wirkende Spiegelfunktion, indem er Medardus’ Äußeres reflektiert und zugleich etwas in ihn zurückspiegelt, so dass er sich in den inneren Bereich der Figur verlängert. Er existiert nicht nur als äußerliche Wiederholung des Ichs, sondern verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes etwas Psychisches; ein Prozess, den Viktorin in seiner Beichte als ‚Verpuppung‘ beschreibt: Ich hatte wohl Großes im Sinne, als ich beschloß, mich als ein geistlicher Herr darzustellen mit großem Barte und brauner Kutte. Aber als ich so recht mit mir zu Rate ging, war es, als träten die heimlichsten Gedanken aus meinem Innern heraus und verpuppten sich zu einem körperlichen Wesen, das recht graulich doch mein Ich war.280

Für Viktorin ist Medardus das „Ich meiner Gedanken“ 281, das sich in einer Art parasitärem Verhältnis von diesen ernähre. Dieselbe Struktur liegt der Ermordung Aurelies zugrunde, bei der Medardus’ Drang, Aurelie zu töten, von dem plötzlich auftauchenden Viktorin durchgeführt wird. Medardus‘ Gedanken realisieren sich somit durch den Doppelgänger, wodurch erst seine ‚Erlösung‘ möglich wird.282 Auf diese Weise sind Viktorin und Medardus einer permanenten Ungewissheit über ihr Inneres und die Außenwelt ausgesetzt, die sich auf komplexe Weise verschränken und beeinflussen, statt klar voneinander abgegrenzt zu sein.

E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft 36 (1990), S. 1–13. Dagegen argumentieren: Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 583; Cramer: Bewußtseinsspaltung in E. T. A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“, S. 10–18; Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität, S. 146f; Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 265. 277 Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 263 f. Vgl. auch Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 234. 278 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 583 f. und ähnlich Cramer: Bewußtseinsspaltung in E. T. A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“, S. 10– 18; Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 234. 279 Hoffmann: Elixiere, S. 227. 280 Hoffmann: Elixiere, S. 332. 281 Hoffmann: Elixiere, S. 333. 282 Diese komplexen Strukturen haben zu zahlreichen psychoanalytischen Interpretationen der Elixiere geführt, die jedoch Gefahr laufen, ahistorisch spätere Konzepte über den Text zu legen und zeitgenössische medizinisch-anthropologische und psychologische Konzepte zu vernachlässigen. Einen Überblick über die psychoanalytische Forschung gibt Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 19–23.

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Das Changieren zwischen eigenen und fremden Identitäten resultiert in immer neuen Narrationen, in denen die Geschehnisse jeweils mit Medardus oder Viktorin in der aktiven Rolle erzählt werden, und so versuchen, eindeutige Rollenzuschreibungen vorzunehmen. Der alte Maler erzählt die Geschehnisse auf dem Schloss des Baron F.s, wie sie sich tatsächlich ereignet haben, nur mit dem Teufel in der Rolle des Medardus, und bietet damit eine christlich-religiöse Lesart der Geschehnisse. Der Förster erzählt Medardus die Geschichte des wahnsinnigen Mönchs (Viktorin), der bei ihm wohnt, als die des entflohenen Mönchs Medardus. Durch Viktorins Beichte wird dessen, durch den Wahnsinn verzerrte, Perspektive eingeführt, aus welcher der Prior versucht, trotz einiger Ungereimtheiten die Geschehnisse mit Viktorin in Medardus’ Position zu erzählen. Erst durch den Abgleich von Viktorins und Medardus’ jeweils lückenhafter Perspektive gelingt es, den Ablauf der Geschehnisse zu erklären und die beiden als zwei Figuren voneinander abzugrenzen. Dennoch werden nicht alle Szenen aufgelöst und selbst kurz vor Medardus’ Tod ist die Stimme des Doppelgängers in seiner Kammer zu hören. Die Interaktion von Medardus und Viktorin wird mit Theatermetaphern eingeführt. Viktorin ist in den Abgrund gestürzt und der dazutretende Diener hält Medardus für den verkleideten Grafen und lobt die „Maskerade“ als „vollständig und herrlich“ 283. Medardus nimmt die ‚Rolle‘ an: „Der innere unwiderstehliche Drang in mir, wie es jenes Verhängnis zu wollen schien, die Rolle des Grafen fortzuspielen, überwog jeden Zweifel und übertäubte die innere Stimme, welche mich des Mordes und des frechen Frevels bezieh.“ 284 Bereits hier bedroht die angenommene Rolle das Ich von Medardus, das durch die „innere Stimme“ bezeichnet wird. Immer wieder kommt es im Verlauf der Erzählung zu einer Vervielfältigung von Stimmen innerhalb von Medardus’ eigenem Ich. Medardus spielt seine Rolle anschließend so gut, dass er zum einen Reinhold und den Baron davon überzeugt, Medardus zu sein und zum anderen Euphemie glaubt, er sei Viktorin, der sich als Medardus ausgebe. Dabei verliert er jedoch bereits die Kontrolle über die eigene Verstellung, was daran erkennbar wird, dass der Text, den er zur Überzeugung aller spricht, ihm von einer „fremde[n] Stimme“ 285 souffleusenartig zugeflüstert wird. Medardus wirkt fremdgesteuert und hat seine eigene Rede nicht mehr unter Kontrolle. Die gefährliche Verknüpfung von Medardus und Viktorin wird mit einem Chiasmus ausgedrückt, der die Verschränkung der Identitäten unterstreicht: „Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich.“ 286 Spiel und Sein verknüpfen sich auf undurchdringbare Weise, so dass bereits hier das äußere Rollenspiel zur Entzweiung innerhalb des Ichs führt.

283 284 285 286

Hoffmann: Hoffmann: Hoffmann: Hoffmann:

Elixiere, Elixiere, Elixiere, Elixiere,

S. 59. S. 59 f. S. 64. S. 73.

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Nur kurze Zeit später vertauscht Medardus selbst die Rollen und hält sich tatsächlich für Viktorin: Es war mir als würde er gleich herausbrechen: es ist ja Graf Viktorin, denn auf wunderbare Weise glaubte ich nun wirklich Viktorin zu sein, und ich fühlte mein Blut heftiger wallen und aufsteigend meine Wangen höher färben. – Ich baute auf Reinhold, der mich ja als den Pater Medardus kannte, unerachtet mir das eine Lüge zu sein schien: nichts konnte meinen verworrenen Zustand lösen.287

In der Rollenmetaphorik bleibend kann festgestellt werden, dass Medardus nicht mehr zwischen gespieltem und ‚eigenem‘ Ich unterscheiden kann, so dass sein eigenes Bewusstsein in der gespielten Rolle untergeht. Diese psychischen Vorgänge können mit der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geführten schauspieltheoretischen Diskussion verbunden werden, ob der Schauspieler sich mit seiner Rolle völlig identifizieren muss, um den Zuschauer durch sein Spiel zu täuschen, oder ob sich eine distanzierte Darstellungsweise besser eignet, in der die Unterscheidung zwischen eigenem Ich und der Rolle im Bewusstsein des Schauspielers bestehen bleibt.288 Aber nicht nur in der Beziehung zu Viktorin wird Medardus’ Kampf um seine eigene Identität mit Theatermetaphern beschrieben.289 Schon die Äbtissin macht dem begeistert predigenden Mönch den Vorwurf, „wie ein eitler Schauspieler“ 290 zu sein, der Gefühle vortäusche und Mimik und Bewegung einstudiert habe, um den Beifall des Publikums zu erhaschen. Die Schauspielermetapher drückt die Entfremdung vom vermeintlich authentischen Ich aus. Nach seinem Auszug aus dem Kloster spielt Medardus dann in jedem Kapitel eine andere Rolle. Nachdem er vom Schloss des Barons geflohen ist, versucht er alle Spuren des Mönchs zu tilgen und verändert sein Äußeres so sehr, „daß ich mich selbst, als mir der Bach mein Bild heraufspiegelte, kaum wieder erkannte“ 291. Mit dem Ablegen der Mönchskutte und dem Annehmen einer weltlichen Rolle verbannt Medardus auch all’ die feindseligen Erscheinungen auf dem Schlosse […]; denn ich fühlte mich froh und mutig, und es war mir, als habe nur meine überreizte Fantasie mir Viktorins blutige gräßliche Gestalt gezeigt, und als wären die letzten Worte, die ich den mich verfolgenden entgegen rief, wie in hoher Begeisterung, unbewußt, aus meinem Innern hervorgegangen.292

287 Hoffmann: Elixiere, S. 74. 288 Vgl. dazu Frederic Burwick: Illusion and the Drama: critical theory of the Enlightenment and Romantic Era. Pennsylvania 1991, S. 47–79. Diese Diskussion wird im 5. Kapitel aufgegriffen. 289 Bereits Eilert stellt Medardus’ Neigung zum Theatralischen heraus (vgl. Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 58). Nach Köhn funktioniert die ‚Rolle‘ in Hoffmanns Werk als anthropologische Kategorie (vgl. Köhn: Vieldeutige Welt, S. 81). 290 Hoffmann: Elixiere, S. 50. 291 Hoffmann: Elixiere, S. 97. 292 Hoffmann: Elixiere, S. 97 f.

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Die äußere Veränderung zeigt auch eine Veränderung des emotionalen, psychischen Zustandes an. Viktorin wird wieder aus Medardus’ Identität herausgerückt, was mit einer psychischen Entlastung bezüglich des Mordes an Hermogen einhergeht. Nach Ankunft in der Stadt hilft die neue Rolle des Privatmanns Leonhard, Medardus über das Erlebte hinwegzukommen, es schließlich zu vergessen: Ich versuchte dies Alles abzulegen, um jede Spur meines Standes zu verwischen. Nur darin fand ich Trost für mein Gemüt, daß ich mein ganzes Leben als ausgelebt möcht’ ich sagen, als überstanden ansah, und nun in ein neues Sein so eintrat, als belebe ein geistiges Prinzip die neue Gestalt, von der überbaut selbst die Erinnerung ehemaliger Existenz immer schwächer und schwächer werdend, endlich ganz unterginge.293

Der rein äußerliche Wechsel von Kleidung und Frisur bewirkt eine innere Modulation. Der metaphorische Ausdruck von den ‚untergehenden‘ Erinnerungen impliziert eine Durchlässigkeit der Psyche für verschiedene Rollen. Zudem wird der Eindruck eines gestuften Bewusstseins hervorgerufen, der mit neurophysiologischen Konzepten wie Reils zweigeteiltem Nervensystem korrespondiert. Als Aurelie ihn als Mörder ihres Bruders anklagt, bringt Medardus das beinah zu seiner alten Identität zurück, aber er wird aus der Haft entlassen und anschließend für einen polnischen Adligen gehalten. Nach der Flucht aus der Residenzstadt setzt Belcampo die Identität des Mönchs wieder ein: „Dem sei wie ihm wolle, ich halte dich nun einmal für den wahren Medardus.“ 294 Als äußeres Zeichen dafür erhält Medardus seine Mönchskutte zurück.295 In Rom schließlich findet Medardus Gefallen an seiner Rolle als Heiliger, die ihm aufgrund seiner strengen Bußübungen zugesprochen wird.296 Wie der römische Prior anmahnt, drohen aber auch hier Inneres und Äußeres auseinanderzuklaffen: „Verloren ist der, der […] glaubt den Himmel zu erstürmen durch äußeres Frommtun.“ 297 Seine exzessive Buße in Rom trägt ihm bald den Vorwurf ein, den reuigen Mönch nur zu spielen, so bemerkt der Abbate auf dem Spanischen Platz: „Ihr fallt zurück in Eure Rolle“ 298 und der Prior Leonardus wirft ihm später vor, er habe wie ein „eitle[r] Gaukler“ 299 gewirkt. Medardus wechselt ständig seine Rolle, indem er etwas darstellt, was er nicht ist. Äußerlichkeiten wie Frisur, Bewegung und Haltung sowie Kleidung signifizieren diese Rollenwechsel. Diese äußeren Zeichen verweisen aber nicht auf ein entsprechendes Inneres, denn Medardus ist in sich gespalten, so dass das Ich sich der eindeutigen Bezeichnung entzieht. Auch hier ist die Relation zwischen Zeichen und

293 294 295 296 297 298 299

Hoffmann: Elixiere, S. 110. Hoffmann: Elixiere, S. 263. Vgl. Köhn: Vieldeutige Welt, S. 61. Vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 272. Hoffmann: Elixiere, S. 273. Hoffmann: Elixiere, S. 304. Hoffmann: Elixiere, S. 329.

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Bezeichnetem ‚ver-rückt‘.300 Medardus erlangt keine Kontrolle über sein Rollenspiel, da er weder die Wahrnehmungsstörungen, an denen er leidet, klar diagnostizieren, noch die äußeren Einflüsse – zum Beispiel seiner Familiengeschichte – erkennen kann. Ursachen und Antrieb seines eigenen Verhaltens sind seinem rationalen, reflexiven Zugang bis kurz vor Schluss des Romans entzogen. Die Rollenmetaphorik zeigt die Vervielfältigungseffekte, denen Medardus’ Ich ausgesetzt ist, auf der Oberfläche an und verweist zugleich auf innere Prozesse der Entfremdung, an der er leidet. Die immer weitere Differenzierung in verschiedene Figurationen301 des eigenen Ichs lässt sich neben den äußeren Rollenwechseln auch auf psychischer Ebene erkennen. Medardus ist durch eine Art magnetischen Rapport mit anderen Figuren verbunden. Zudem wirken die Figuren, an deren Tod er beteiligt war, als Verkörperlichungen seiner Schuld in ihm fort. Medardus’ Innere ist voller ‚Stimmen‘, die als direkte Rede wiedergegeben werden und an der Grenze von innen und außen, eigen und fremd stehen. Hinzu kommen zahlreiche innere Monologe und Bewusstseinsströme, so dass Elemente der Dialog- und Monologstruktur des Dramas zur Darstellung der Psychopathologien in die Narration integriert werden. Dies korrespondiert damit, dass die narrative Vermittlung in diesen Szenen stark zurückgenommen wird und der Ich-Erzähler in Situationen, in denen er sich selbst nicht mehr wahrnehmen kann, auf die ergänzenden Perspektiven anderer Figuren angewiesen ist. Gleichzeitig rückt er sich in mehreren Traumsequenzen in die Beobachtersituation seines eigenen Selbst, so dass eine Art Seelentheater aufgeführt wird. Medardus’ Seele wird zu einer Bühne, auf der verschiedene Figuren auftreten. Die Metaphern vom Seelentheater, mit denen in Reils und Eschenmayers Texten die Bedeutung bestimmter psychologischer Pathologien visualisiert wird, sind hier zu narrativen Sequenzen ausgebaut. Medardus verliert mehrfach die Kontrolle über seine Gedanken, die sich als scheinbar selbstständige ‚Stimme‘ äußern, und hört zudem fremde Stimmen in seinem Inneren, die ihn mit seinen Taten konfrontieren oder als Personifikation des Wahnsinns zu bestimmten Verhaltensweisen antreiben. Diese Stimmen erscheinen hauptsächlich in Übergangssituationen, in denen Medardus’ Wahrnehmung extremen Veränderungen unterworfen ist und der Wahnsinn ausbricht. Eine Stimme drängt Medardus zum Beispiel, sich Aurelie zu nähern, sie zu vernichten oder zu besitzen. Sie ist an der Grenze von außen und innen angesiedelt und kann als eine Art ‚Stimme des Wahnsinns‘ gelesen werden, die dementsprechend von Medardus als ‚unbekannte Macht‘ personifiziert wird: „‚Zur Tat, zur Tat, was zauderst du, der Augenblick entflieht’ so trieb mich die unbekannte Macht in meinem Innern.“ 302

300 Vgl. Kohns: Die Verrücktheit des Sinns. 301 Vgl. zu Verwandlungen und Metamorphosen der Hoffmannschen Figuren den Sammelband von Daniel Müller-Nielaba, Yves Schumacher und Christoph Steier (Hg.): Figur – Figura – Figuration. E. T. A. Hoffmann. Würzburg 2011. 302 Hoffmann: Elixiere, S. 94.

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Gleichzeitig spricht oder denkt Medardus die Worte selbst, wobei die zitierte Rede jeweils den beginnenden Wahnsinn ankündigt. Dieser geht einher mit einer Wahrnehmungsverengung, was zum Beispiel daran deutlich wird, dass Medardus das Zitierte manchmal nur denkt, manchmal laut spricht und sich dessen aber oft nicht sicher ist: Noch einmal den Major scharf anblickend, war es mir plötzlich, als stehe Viktorin bei Aurelien. Da lachte ich auf im grimmigen Hohn: „Hei! – Hei! Du Verruchter, hast du dich im Teufelsgrunde so weich gebettet, daß du in toller Brunst trachten magst nach der Buhlin des Mönchs?“ – Ich weiß nicht, ob ich diese Worte wirklich sprach, aber ich hörte mich selbst lachen.303

Medardus ist in diesen Fällen nicht in der Lage, sich selbst als personale Einheit wahrzunehmen, sondern zerfällt wahrnehmungspsychologisch in verschiedene Beobachterpositionen. Informationen werden dem Leser durch das Zusammenspiel der begrenzten Eigenperspektive und externen Figurenperspektiven vermittelt. Die Frage des Hofmarschalls, worüber Medardus so herzlich lache, und der spätere Bericht des Leibarztes, dass Medardus überstürzt aus dem Saal gerannt sei, nachdem er graulich aufgelacht habe,304 implizieren, dass Medardus im zitierten Beispiel nicht gesprochen, aber gelacht hat. Gleichzeitig differieren die Bewertungen des Lachens, denn während der Hofmarschall es als fröhlich bewertet, zeugt es dem Leibarzt von „Tollheit“ und erregt „Grausen“ 305. Der Leser erhält Informationen über Medardus, die dieser selbst nicht vermitteln kann, aber zugleich bleibt er abhängig von den verschiedenen Perspektiven der Figuren und ihrer Verlässlichkeit. Hier wird die Beobachtungsstruktur des Dramas in den narrativen Text integriert, um die Wahrnehmungsproblematik darzustellen, die aus Medardus Psychopathologie erwächst. Die Zusammenstellung von verschiedenen Figurenperspektiven und das Fehlen einer übergeordneten narrativen Instanz erzeugt eine dramatische Struktur des Erzählens, mit der die Wahrnehmungsstörungen des Wahnsinns und das komplexe Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung im Fall von psychischer Krankheit ausgedrückt werden. Dementsprechend erfolgt auch die Diagnose, dass Medardus ‚krank‘ sei, durch andere Figuren.306 Durch direkte Rede artikulieren sich auch die Figuren in seinem Inneren, bei deren Tod Medardus eine Rolle gespielt hat. Diese Figurationen seiner Schuld entfalten sich in verschiedenen Situationen und können sowohl Auslöser als auch Ausdruck von Medardus’ Wahnsinn sein, der auf diese Weise eng mit den Themen der Schuld und Sünde verknüpft wird:

303 Hoffmann: Elixiere, S. 189 f. 304 Vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 190 f. 305 Hoffmann: Elixiere, S. 191. 306 Dies geschieht z. B. durch den Leibarzt (vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 193) und durch den Prior in Rom (vgl. ebd., S. 268).

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Ich konnte nicht mehr schlafen. In den wunderlichen Reflexen, die der düstre flackernde Schein der Lampe an Wände und Decke warf, grinzten mich allerlei verzerrte Gesichter an; ich löschte die Lampe aus, ich barg mich in die Strohkissen, aber gräßlicher tönte dann das dumpfe Stöhnen, das Kettengerassel der Gefangenen durch die grauenvolle Stille der Nacht. Oft war es mir, als höre ich Euphemiens – Viktorins Todesröcheln: „Bin ich Schuld an eurem Verderben? war’t ihr es nicht selbst, Verruchte! die ihr euch hingabt meinem rächenden Arm?“ – So schrie ich laut auf, aber dann ging ein langer, tief ausatmender Todesseufzer durch die Gewölbe, und in wilder Verzweiflung heulte ich: „Du bist es Hermogen! … nah ist die Rache! … Keine Rettung mehr!“ 307

Die Stelle zeigt den Übergang von Stumpfsinn, in dem alles gleichgültig ist, zu quälenden Formen der Wahrnehmung. Medardus’ Sinneswahrnehmung ist gestört, aus dem Licht der Lampe werden Fratzen. Der Versuch, die visuelle Wahrnehmung auszuschließen, verstärkt nur das Gehör, und er meint, das Kettengerassel und Stöhnen anderer Gefangener wahrzunehmen. Die Sinneswahrnehmung geht dann in eine innere, eingebildete Wahrnehmung über, und erneut zeigt der Ausdruck „war es mir“ deren Unsicherheit und Fragwürdigkeit an. Der Übergang ins Innere ist mit einem Wechsel von zusammenfassender Erzählung zur Wiedergabe von direkter Rede gekennzeichnet, denn Medardus redet mit den Toten, die ihn vorwurfsvoll heimzusuchen scheinen. Dieser Wegfall der narrativen Vermittlung zugunsten unmittelbar wiedergegebener wörtlicher Rede ist typisch für die Darstellung des Wahnsinns in den Elixieren und zeigt die Ich-Entzweiung in verschiedene Stimmen und Identitäten an. Die Figuren werden tatsächlich vor Medardus Augen und Ohren gestellt und die Dialoge und direkte Adressierung drücken diese direkte Konfrontation aus. Während der Dialog in den Biographien der Wahnsinnigen Einblick in das Innere der Personen bietet, wird er hier komplett in das Innere der Figur verlegt, was den Aspekt der ‚Stimme des Wahnsinns‘ komplexer werden lässt. Höhepunkte dieser Technik des ‚Vor-Augenstellens‘ bilden die verschiedenen (Wahn-) Träume, die Medardus hat, die ebenfalls von direkt zitierter Rede, Bewusstseinsstrom und einer szenischen Erzählweise geprägt sind. Reils Konzeption des Traumes als Theater, in dem das Individuum in verschiedene Gestalten seines Ichs zergliedert wird, wird in diesen Traumdarstellungen narrativ umgesetzt.308 Medardus’ Einbildungskraft inszeniert dabei das eigene Ich in verschiedenen Situationen, so zum Beispiel als Märtyrer: Ich sah mich selbst, wie ich zu den Pforten des Klosters hinausschritt, und wie eine finstre Gestalt mich schnell mit einem Dolch durchbohrte. Das Volk versammelte sich um den blutigen Leichnam. […] Da sieht Eine das Kreuz an meinem Halse, laut schreit sie auf: Er ist ein Märtirer, ein Heiliger – seht hier das Zeichen des Herrn, das er am Halse trägt, – da wirft sich Alles auf die Knie.309

307 Hoffmann: Elixiere, S. 200 f. Um die Funktionen der direkten Zitate in Hoffmanns Text zu verdeutlichen, werden diese in den Zitaten wie im Text mit Anführungszeichen aufgeführt. 308 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 93 (siehe Kap. 2.2.2, S. 77). 309 Hoffmann: Elixiere, S. 313.

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Durch den Traum kann Medardus in die Zuschauerposition gerückt werden, aus der er eine Szene mit sich als Märtyrer beobachtet. Die von außen an ihn herangetragene Rolle setzt ein ‚Seelentheater‘ in Gang, indem dem eigenen Ich eine Rolle zugewiesen wird. Diese theatrale Erzählweise310 nutzt wie Reils Theatermetaphorik Aspekte des Daramtisch-Theatralen zur Verdeutlichung der ich-gefährdenden Wirkungsweise der Einbildungskraft im Traum. Medardus beobachtet und inszeniert sich zugleich in der Rolle des Märtyrers. Die Beobachtungs- und Wahrnehmungsaspekte des Theaters werden so in die Narration eingebunden, um die Identitätsproblematik der Hauptfigur darzustellen. Dabei ist dies eine ganz andere Art der Selbstbeobachtung als sie von Moritz als Ideal der Wissensgenerierung über die kranke Seele formuliert wurde, denn die dunklen Wahrnehmungen der Seele können nicht kontrolliert beobachtet werden. Die Verschiebung der Beobachterposition ist nicht Ausdruck der Kontrolle, sondern vielmehr der Krankheit selbst. In dem Wahntraum, der den körperlichen Bußen im Kloster in Rom folgt, treten Figuren aus Medardus’ Leben auf und werden zu schauerlichen Bildern verfremdet, in denen Mensch und Tier, Körperteile und andere Gegenstände zusammenmontiert werden. Der Traum wird als Bewusstseinsstrom wiedergegeben, in den die direkte Rede der Figuren integriert ist. Euphemie tritt als die im Spätmittelalter beliebte ‚Frau Welt‘ auf, die von vorn betrachtet schön und verführerisch aussieht, deren Rücken jedoch voller Geschwüre und von Wunden bedeckt ist, in denen sich Schlangen und andere Tiere befinden.311 Die Figur des blutenden Hermogens betont den Aspekt der Schuld, die insbesondere durch die Kreuzförmigkeit seiner Wunde unterstrichen wird, welche Medardus’ eigene kreuzförmige Narbe spiegelt.312 Mit „sinnverwirrende[m] Flüstern und Rauschen“ 313 beginnt dann ein grotesker Karneval von Figuren, die eine Rolle in Medardus’ Leben gespielt haben: Köpfe krochen mit Heuschreckenbeinen, die ihnen an die Ohren gewachsen, umher und lachten mich hämisch an – seltsames Geflügel – Raben mit Menschengesichtern rauschten in der Luft. – Ich erkannte den Konzertmeister aus B. mit seiner Schwester, die drehte sich in wildem Walzer, und der Bruder spielte dazu auf, aber auf der eigenen Brust streichend, die zur Geige geworden. – Belcampo, mit einem häßlichen Eidechsengesicht, auf einem ekelhaften geflügelten Wurm sitzend, fuhr auf mich ein, er wollte meinen Bart kämmen, mit eisernem glühendem Kamm – aber es gelang ihm nicht. – Toller und toller wird das Gewirre, seltsamer, abenteuerlicher werden die Gestalten, von der kleinsten Ameise mit tanzenden Menschenfüßchen bis zum langgedehnten Roßgerippe mit funkelnden Augen, dessen Haut zur Schabracke worden, auf

310 Vgl. Hubers Analysen theatraler Erzählweisen in Texten von Goethe und Jean Paul (Huber: Die Bühne als Text). 311 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 611. Das Motiv der ‚Frau Welt‘ war seit Konrad von Würzburgs Der Welt Lohn (1120/30–87) verbreitet (vgl. ebd.). 312 Durch die kreuzförmige Narbe wird die Konstellation Viktorin und Medardus zu einer Trias geöffnet (vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 256). 313 Hoffmann: Elixiere, S. 270.

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der ein Reuter mit leuchtendem Eulenkopf sitzt. – Ein bodenloser Becher ist sein Leibharnisch – ein umgestülpter Trichter sein Helm! – Der Spaß der Hölle ist emporgestiegen. Ich höre mich lachen, aber dies Lachen zerschneidet die Brust, und brennender wird der Schmerz und heftiger bluten alle Wunden.314

Das eigene Lachen, das Medardus hört, impliziert, dass er selbst am „Spaß der Hölle“ teilnimmt. Es ist ein entfremdetes Lachen, das die Brust zerschneidet und körperliche Schmerzen verursacht, die auf die Intensität des seelischen Leidens verweisen. Erneut ist Medardus Beobachter einer Szene, in der er zugleich Akteur ist. Die Aufzählung der Wahnbilder, die durch Gedankenstriche getrennt aufgeführt werden, erzeugt die Bildabfolge, die Medardus Einbildungskraft produziert, erzählerisch. Der Bindestrich wird zum dominierenden Satzzeichen, so dass die Bilder des Wahnsinns in ‚Echtzeit‘ vor dem Leser ablaufen. Durch das Präteritum ist zunächst noch eine narrative Distanz auszumachen und der Ausdruck „Ich erkannte“ verweist auf eine Tätigkeit des Verstandes. Diese Distanz wird jedoch geringer. Der Erzähler wechselt ins Präsens und das wahrnehmende Ich verschwindet, beziehungsweise Medardus nimmt sich selbst als Teil des Höllenspaßes wahr. Der abgerissene Stil, die wiederholte Unterbrechung des Textes durch Bindestriche und der Wechsel ins Präsens, durch die der Wahnsinn rhetorisch hergestellt wird, erzeugen Präsenzeffekte, durch welche die unmittelbare Erfahrung des Wahnsinns anstelle der narrativen Vermittlung evoziert wird. Angesichts der auftauchenden Aurelie-Figur wird Medardus selbst aktiv und versucht, sie zu umschlingen. Der Annäherungsversuch ruft jedoch den Satan hervor, wodurch die religiösen Themen von Schuld und Sünde zugleich in Wahnbilder übersetzt werden: – Die Gestalt eines Weibes leuchtet hervor, das Gesindel weicht – sie tritt auf mich zu! – Ach es ist Aurelie! „Ich lebe, und bin nun ganz dein!“ spricht die Gestalt. – Da wird der Frevel in mir wach. – Rasend vor wilder Begier umschlinge ich sie mit meine Armen. – Alle Ohnmacht ist von mir gewichen, aber da legt es sich glühend an meine Brust – rauhe Borsten zerkratzen meine Augen, und der Satan lacht gellend auf! Nun bist du ganz mein! – Mit dem Schrei des Entsetzens erwache ich, und bald fließt mein Blut in Strömen von den Hieben der Stachelpeitsche, mit der ich mich in trostloser Verzweiflung züchtige.315

Das Zitat zeigt, wie sehr der Leser an die Wahrnehmung des Erzählers gebunden ist. Die Sukzession von der auftauchenden weiblichen Figur, der räumlichen Annäherung und der Identifikation als Aurelie führen den Wahrnehmungsprozess unmittelbar ohne narrative Vermittlung vor, was mit der szenischen Darstellungsweise korreliert.

314 Hoffmann: Elixiere, S. 270 f. 315 Hoffmann: Elixiere, S. 271.

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4.3.2 Körperbilder: Zerfallen, Zerreißen, Zerfließen Die Polyphonie in Medardus’ Innerem und der Wechsel von Fremd- und Selbstwahrnehmung implizieren eine Desintegration der personalen Einheit, die in den Elixieren auf seelischer, aber auch auf körperlicher Ebene stattfindet und durch Bilder des Zerfallens, Zerreißens und Zerfließens ausgedrückt wird. Die Seele erscheint als Durchgangsort für bestimmte (Kraft-)Ströme, die sie durchfluten, und kann selbst zerfließen: „Mein eignes Ich zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufalls geworden, und in fremdartige Gestalten zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all’ der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich hineinbrausten.“ 316 Die Bildlichkeit erinnert an Reils Beschreibung der kranken Seele, die angesichts des Auseinanderfallens der Seele-Körper-Einheit orientierungslos auf dem Meer treibt.317 Die Gefährdung der personalen Einheit wird durch das Bild vom Meer unterstrichen, auf dem das Ich keinen Halt finden kann und in fremde Figuren zerfließt, die an Medardus’ Ich teilhaben. Der Vorstellung eines zerfließenden Ichs entspricht der wiederholte Verlust eines festen Erzählstandpunktes zugunsten eines atemlosen, abgebrochenen und schnellen Bewusstseinsstroms, in dem die narrative Rede ebenfalls in Redebeiträge der ‚fremden‘ Figuren, in Bilder und Träume ‚zerfließt‘. Je nachdem wie nah der Erzähler dem haltlos schwimmenden Ich kommt, kann er auch keinen festen Erzählstandpunkt einnehmen. Diese Vorstellung des wahrnehmungspsychologisch auseinanderfallenden Ichs strukturiert Medardus’ Erwachen im Irrenhaus, das als psychosomatisches Phänomen dargestellt wird. Als Medardus bereits wieder bei Bewusstsein ist, beschreibt Belcampo ihm den Zustand, in dem er ihn aufgefunden hat: Auch die Bewegung deiner Gliedmaßen war nicht zu rühmen, Noverre und Vestris hätten dich tief verachtet, denn dein Kopf hing auf die Brust, und wollte man dich gerade aufrichten, so stülpest du um, wie ein mißratner Kegel. Auch mit der Rednergabe ging es höchst traurig, denn du warst verdammt einsilbig, und sagtest in aufgeräumten Stunden nur ‚Hu hu! Und Me … me …‘ woraus dein Wollen und Denken nicht sonderlich zu vernehmen, und beinahe zu glauben, beides sei dir untreu worden und vagabondiere auf seine eigene Hand oder seinen eignen Fuß. Endlich wurdest du mit einem Mal überaus lustig, du sprangst hoch in die Lüfte, brülltest vor lauter Entzücken und rissest dir die Kutte vom Leibe um frei zu sein, von jeder Naturbeschränkenden Fessel.318

Die Einheit des Ichs ist gestört, weder die körperlichen noch die seelischen Vorgänge werden noch einheitlich koordiniert, stattdessen sind Körper und Seele in Einzelteile zergliedert und funktionieren nicht mehr zusammen. Der Verlust der harmonisch und zweckgebunden zusammenwirkenden Körperteile, die durch das Bewusstsein gesteuert werden, wird durch den Verweis auf die Tänzer Jean-Georges Noverre und

316 Hoffmann: Elixiere, S. 73. 317 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 63 f. (siehe Kap. 2.2, S. 74). 318 Hoffmann: Elixiere, S. 264.

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Gaetano Apollino Baldassare Vestris unterstrichen.319 In zeitgenössischen Theorien zum Tanz wird vom Tänzer vollkommene Körperbeherrschung gefordert.320 Statt der kontrollierten und anmutigen Bewegung des Tanzes streben die Glieder des Kranken jedoch auseinander und der Kopf als Zentrale des Verstandes hängt herunter. Auch die seelischen Kräfte ‚Wollen‘ und ‚Denken‘ haben sich verselbstständig und sind der Einheit des Individuums, das durch das „dir“ angezeigt wird, nicht mehr untergeordnet. Das Verb „vagabondieren“ unterstreicht diesen Kontrollverlust und das Zerfallen der Einheit. Durch die ‚Verkörperlichung‘ der Seelenkräfte, die eigene Hände und Füße haben, wird diese Verselbständigung noch hervorgehoben. Belcampo setzt an dieser Stelle an, den in Spieß’ Erzählungen ausgesparten Zustand der Raserei zu erzählen. Dies hatte der Arzt zuvor mit Verweis auf Medardus’ Gefühle nicht getan: „Ihr waret dem wilden Tier gleich – doch nicht näher mag ich Euch einen Zustand schildern, dessen Erinnerung Euch vielleicht zu schmerzlich sein würde.“ 321 Medardus unterbricht Belcampo jedoch, bevor dieser nachträglich die Lücken füllen kann, die Medardus’ völliger Bewusstseinsverlust in der Erzählung verursacht hat. Medardus’ Erwachen wurde zuvor als Rückgängigmachen der Zergliederung dargestellt, die Belcampo beschreibt: Eine sanfte Wärme glitt durch mein Inneres. Dann fühlte ich es in allen Adern seltsam arbeiten und prickeln; dies Gefühl wurde zu Gedanken, doch war mein Ich hundertfach zerteilt. Jeder Teil hatte im eignen Regen eignes Bewußtsein des Lebens und umsonst gebot das Haupt den Glieder, die wie untreue Vasallen sich nicht sammeln mochten unter seine Herrschaft. Nun fingen die Gedanken der einzelnen Teile an sich zu drehen, wie leuchtende Punkte, immer schneller und schneller, so daß sie einen Feuerkreis bildeten, der wurde kleiner, so wie die Schnelligkeit wuchs, daß er zuletzt nur eine stillstehende Feuerkugel schien. Aus der schossen rotglühende Strahlen und bewegten sich im farbigten Flammenspiel. „Das sind meine Glieder, die sich regen, jetzt erwache ich!“ So dachte ich deutlich, aber in dem Augenblick durchzuckte mich ein jäher Schmerz, helle Glockentöne schlugen an mein Ohr. […] Jetzt erst vermochte ich die Augen zu öffnen. Die Glockentöne dauerten fort – ich glaubte noch im Walde zu sein, aber wie erstaunte ich, als ich die Gegenstände rings umher, als ich mich selbst betrachtete. In dem Ordenshabit der Capuziner lag ich, in einem hohen einfachen Zimmer, auf einer wohlgepolsterten Matratze ausgestreckt.322

Medardus’ Aufwachen wird mit Figuren dargestellt, die an Reils Beschreibung des Ruhrkranken erinnern, der seinen eigenen Körper aufgelöst in die Bestandteile eines anatomischen Kabinetts wahrnimmt.323 Die gesunde Einheit von Körper und

319 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 610. 320 Vgl. Anja Lemke: Gemüts-Bewegungen. Affektzeichen in Kleists ‚Marionettentheater‘. In: Kleist-Jahrbuch 2008/2009, S. 197. 321 Hoffmann: Elixiere, S. 261. 322 Hoffmann: Elixiere, S. 254. 323 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 80 (siehe. Kap. 2.2, S. 70).

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Seele ist während Medardus’ Raserei verloren gegangen, und der Sinn des menschlichen Organismus’ als Ganzes muss wieder hergestellt werden. Zunächst scheint der Blutkreislauf durch die arbeitenden Adern wieder zu funktionieren. Diese ‚Sensationen‘ werden zum Gehirn weitergeleitet, wo sie zum Gedanken werden können. Der Kreislauf der Wahrnehmung wird analog zum Blutkreislauf reaktiviert. Der Vergleich mit den Körperteilen als untreue Vasallen, die ihr eigenes Bewusstsein haben und den Gehorsam verweigern, erinnert an Reils Bild von den Provinzen, die abtrünnig werden.324 Medardus ist wahrnehmungspsychologisch in seine Einzelteile zerlegt, anstatt eines einheit-gewährenden Bewusstseins, das Reil als ‚Selbstbewusstsein‘ beschreibt, hat jedes Glied sein eigenes. Das Ich kann nach und nach die Einzelteile wieder als ihm zugehörig erkennen. Anschließend wird das Gehör durch die positiv konnotierten Glockentöne aktiviert und als letzten Schritt zum Erwachen das Öffnen der Augen eingeleitet. Das ‚Zur-Besinnung-kommen‘ wird in narrativer Echtzeit vorgeführt, so dass eine Mitsicht des Lesers hier möglich wird. Dafür ist der Erzähler im Folgenden auf die ergänzenden Perspektiven von dem Arzt, den Geistlichen und Belcampo angewiesen. In der oben zitierten Passage bringt der Schmerz Medardus zu Bewusstsein.325 Zumeist begleitet der Schmerz jedoch die emotionalen und psychischen Ausnahmensituationen, denen Medardus ausgesetzt ist. Der Körper wird somit in die Darstellung der Leidens des Medardus mit einbezogen, denn als psychosomatisches Phänomen durchläuft der Wahnsinn den gesamten Körper. Ebenso werden die Verbindungen im magnetischen Rapport als somatischer Vorgang evoziert. Wahnsinn, Rapport und extreme Leidenschaften kommen dabei von außen und treffen den Organismus immer überraschend. Die psychischen Transformationen werden mit Metaphern des Eindringens, Zerschneidens und Durchfahrens beschrieben.326 Den ersten Blick des alten Malers erfährt Medardus als Erdolchung: „Sein Gesicht war leichenblaß, aber der Blick der großen schwarzen stieren Augen, fuhr wie ein glühender Dolchstoß durch meine Brust.“ 327 In Rom dringt der reuevolle Gedanke, er habe Aurelie ermordet, wie ein „spitzes, glühendes Eisen“ 328 in Medardus ein. Die Vorstellungen von der Überwindung von festen Körpergrenzen, die in der sogenannten romantischen Medizin populär waren,329 erhalten hier einen bedrohlichen Anstrich, indem sie durch Bilder dargestellt werden, die ein tatsächliches Eindringen in das Körperinnere durch ein oftmals dingliches Objekt evozieren.

324 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 63 f. Vgl. auch Gabriele Stumpp: Die Sprache des Schmerzes bei E. T. A. Hoffmann. In: Yoshihiko Hirano und Christine Ivanović (Hg.): Kulturfaktor Schmerz. Internationales Kollouium in Tokyio 2005. Würzburg 2008, S. 118 f. 325 Vgl. Stumpp: Die Sprache des Schmerzes, S. 118. 326 Vgl. Stumpp: Die Sprache des Schmerzes, S. 113. 327 Hoffmann: Elixiere, S. 41. 328 Hoffmann: Elixiere, S. 268. 329 Vgl. Koschorke: Körperstörme und Schriftverkehr, S. 110–114.

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Nach dem Eindringen entfalten sich die psychischen Leiden im gesamten Körper und drohen gleichzeitig, diesen zu ‚sprengen‘ oder zu ‚zerreißen‘. Die Verbreitungswege hierfür sind die Nerven und Adern, durch die der gesamte Körper vernetzt ist,330 wie die folgenden Beispiele zeigen: Wie im tötenden Krampf zuckten alle meine Nerven, ich war außer mir selbst, ein niegekanntes Gefühl zerriß meine Brust.331 Von innerer verzweifelter Wut grimmig erfaßt, die geballte Faust vor der Stirn, schrie ich laut auf: Aurelie! […] haben Sie Mitleiden --- ich fühle es, daß Wahnsinn mir durch Nerv und Adern zu toben beginnt … entlassen sie mich!332 Ein Blitz fuhr durch mein Innres, mein Atem stockte, die Pulse schlugen, krampfhaft zuckte das Herz, zerspringen wollte die Brust!333

Emotionen und Gedanken werden als körperliche Schmerzen gefasst, die das Kollabieren des ‚gesunden‘ Wahrnehmens begleiten. Die Bilder des Zerreißens, Krampfens und Zuckens erinnern an physiologische Experimente an lebendigen Tierkörpern, bei denen der Schmerz die unsichtbaren neurophysiologischen und -psychologischen Vorgänge im Körper sichtbar machen sollte.334 Auch in den Elixieren macht der durch psychische Extremsituationen induzierte Schmerz das körperliche Innere ‚sichtbar‘335, das zugleich immer auf die psychischen Leiden verweist. Der Ausdruck von der ‚zerrissenen‘ und ‚zerspringenden‘ Brust rekurriert auf das Herz als emotionales Zentrum des Menschen und drückt den Aspekt der Ich‑Dissoziation auch auf körperlicher Ebene als gewaltsame Erfahrung aus. Die Ausdrücke und Bilder wiederholen sich nicht nur innerhalb der Elixiere, sondern auch in anderen Werken Hoffmanns, so dass Gabriele Stumpp von einer „Verformelung des Schmerzgeschehens“ 336 spricht, durch welche die sprachliche Vermittlung von Schmerzdarstellungen selbst herausgestellt werde.337 Neben den Bildern des im Körperinneren entfalteten Schmerzes spielt auch die Körperoberfläche in den Elixieren als Ausdrucksfläche der Qualen des Medardus eine Rolle. Dies geschieht nicht, wie in den Biographien der Wahnsinnigen als Veräußerlichung des Wahnsinns, sondern Medardus versucht zunächst seine Buße durch schwerste körperliche Geißelung zu verwirklichen, und seine Märtyrerphan-

330 Vgl. Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 115. 331 Hoffmann Elixiere, S. 51. 332 Hoffmann Elixiere, S. 206. 333 Hoffmann Elixiere, S. 188 334 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 23 f. 335 Vgl. Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 116. 336 Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 111. 337 Vgl. Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 114. Stumpp widerspricht Christians, nach dem die Literatur die Medialität des Schmerzes zugunsten von Unmittelbarkeit und Authentizität auszublenden versuche (Vgl. Christians: Über den Schmerz).

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tasien gehen immer mit körperlichen Verletzungen und Wunden einher. Zudem wird Medardus in Rom Opfer eines Giftanschlages, der seinen einen Arm völlig entstellt. Durch die exzessive Marter versucht Medardus, die empfundene Reue in körperliche Schmerzen zu transformieren, die somit eine Art betäubende Funktion haben: „Durch äußere Qualen gedachte ich die innere gräßliche Marter zu übertäuben. Es war vergebens, immer kehrten jene Gestalten, von dem Gedanken erzeugt, wieder.“ 338 Wenn schließlich der Schlaf die körperlichen Martern unterbricht, setzen träumerische Wahnbilder ein, welche die körperlichen Qualen fortführen, die Medardus sich als Buße bereitet: Aber wenn das Blut aus hundert Wunden rann, wenn der Schmerz in hundert giftigen Skorpionstichen brannte und dann endlich die Natur erlag, bis der Schlaf sie, wie ein ohnmächtiges Kind schützend mit seinen Armen umfing, dann stiegen feindliche Traumbilder empor, die mir neue Todesmarter bereiteten.339

Die Traumbilder setzen ein, wenn die körperlichen Schmerzen die inneren Leiden nicht mehr übertönen können. Der Versuch, seelische Qualen in körperliche ‚abzuleiten‘, zeigt ein Vorgelagertsein des Leidens an Gedanken und Erinnerungen, das im Schlaf nicht ausgeschaltet werden kann: Die körperlichen Leiden sind nur Ausdruck der seelischen. Die Folgen seiner Marter werden in drastischen Worten beschrieben: „Meine Augen waren erloschen, mein wunder Körper ein blutendes Gerippe, und es kam dahin, daß wenn ich Stundelang am Boden gelegen, ich ohne Hülfe Anderer nicht aufzustehen vermochte.“ 340 Die eindrücklichen Beschreibungen unterstreichen jedoch die Schwere und Dringlichkeit der psychischen Leiden, denn als Medardus mit der Folter aufhört, blutet seine „Herzenswunde“ weiter und „der Schmerz, der aus dem Innern heraus mich durchbohrte“ 341, lässt nicht nach. Medardus’ leidender Körper wird hier sowie nach dem Giftanschlag und in dem Traum, in dem er sich als hässliche Leiche sieht, in aller Deutlichkeit dargestellt, so dass Stumpps Feststellung einer „Ästhetik des Hässlichen“ 342 bei Hoffmann auch auf die Elixiere zutrifft. Die hyperbolischen Leidensbilder in Verbindung mit der christlichen Thematik erinnern an barocke Leidensdarstellungen, verweisen jedoch eben nicht eindeutig auf heilsgeschichtliche Bedeutungen. Immer wieder unterbrechen Ohnmachten und Fieber, die den Wahnsinnsanfällen folgen, die Erzählung. Zusätzlich zu den seelischen Ausnahmezuständen muss Medardus diese körperlichen Krankheiten überstehen.343 Wie in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen und

338 Hoffmann: Elixiere, S. 271 f. 339 Hoffmann: Elixiere, S. 269 f. 340 Hoffmann: Elixiere, S. 272. 341 Hoffmann: Elixiere, S. 275. 342 Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 121. 343 Vgl. Peter von Matt: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München 1994, S. 122.

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in Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein ist das Fieber, die körperliche Artikulationsweise des Wahnsinns, welche die psychischen Leiden begleitet. Während der Wahnsinn mit neurophysiologischen Bildern ausgedrückt wird, wird das Thema der Sünde mit humoralpathologischen Bildbereichen dargestellt. Diese Verbindung wird bereits zu Beginn bei der Prophezeiung des alten Pilgers deutlich: „Euer Sohn ist mit vielen Gaben herrlich ausgestattet, aber die Sünde des Vaters kocht und gärt in seinem Blute.“ 344 Über die humoralpathologische Vorstellung vom kochenden und gärenden Blut erhält die Sünde des Vaters selbst pathologische Züge. Der Aspekt der Sündhaftigkeit wird mit dem auf Aurelie gerichteten Begehren verbunden: Aurelien wiedersehen! – vielleicht in voller Anmut und Schönheit prangend! – Konnt’ ich das ertragen, ohne übermannt zu werden von dem Geist des Bösen, der wohl noch mit den Flammen der Hölle mein Blut aufkochte, daß es zischend und gärend durch die Adern strömte.345

4.3.3 Narrationen des Ichs: Mediale Vervielfältigung und personale Desintegration Durch die Desintegration von Medardus’ Psyche in verschiedene Stimmen und Figuren erscheint sie als Kreuzungspunkt mehrerer Personen.346 Die rapportartigen Verbindungen mit Aurelie und dem Maler resultieren in immer weiteren Erzählebenen, denn sie werden mit dem Auffinden weiterer Textdokumente und somit dem Einbeziehen neuer Erzählebenen und -perspektiven verbunden. Die Erweiterung und Differenzierung des eigenen Inneren, die durch den magnetischen Rapport und die Ich-Spaltungen entstehen, resultieren in einer zusätzlichen Verschachtelung der Erzählperspektive. Aurelie wird überwiegend aus einer Außenperspektive wahrgenommen. Sie erscheint als Objekt, auf das sich Medardus’ Begierde richtet. Durch Aurelies Brief werden die Ereignisse, die zu der Beichte in der Klosterkirche führten, sowie die Erlebnisse auf dem Schloss des Baron F.s und in der Residenzstadt aber rückblickend aus ihrer Perspektive intern fokalisiert erzählt. Diese weitere Perspektive ergänzt Medardus’ eigene Wahrnehmung, zugleich wirft sie jedoch neue Fragen bezüglich der Identität und geheimnisvollen Wirkungsmacht der Ahnenfigur Francesko auf und lässt die Ursache des Rapports zu Aurelie offen. Der Brief unterstreicht somit, wie begrenzt und fragmentarisch Medardus’ Wahrnehmung und sein Wissen von sich selbst und seinen Handlungen ist. Zudem ist auch Aurelies Erzählung geprägt von einem Kampf ums Verstehen, das nie ganz gelingt.

344 Hoffmann: Elixiere, S. 17. 345 Hoffmann: Elixiere, S. 317. 346 Vgl. auch Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 259.

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Die unsichtbaren Verbindungen und Bezüge zwischen Aurelie, Medardus und den gemeinsamen Ahnen werden über Bildmedien thematisiert. Die Ahnenfigur Francesko tritt in Aurelies Leben, als diese ihre Mutter bei der Anrufung eines Bildes von ihm überrascht. Der dargestellte Mann hat eine starke Wirkung auf Aurelie, die von seinen „lebendig strahlenden Augen“ 347 ausgeht, durch welche die Medialität des Bildes negiert wird.348 Nach dem Bericht dieser Ereignisse macht Aurelies Brief einen zeitlichen Sprung und sie erzählt, wie sie mit 14 Jahren erkrankt. Auf dem Höhepunkt dieser Erkrankung tritt Medardus über eine Art magnetischen Rapport in ihr Leben. Die Symptome und Befindlichkeiten Aurelies können mit den Zuständen während der magnetischen Behandlung parallelisiert werden und bilden verschiedene magnetische Grade nach Kluge ab.349 Der beginnende Rapport wird als ein qualvolles, psychosomatisches Phänomen beschrieben, das in der Seele beginnt und sich im Körper ausbreitet: Ein seltsames Übelempfinden schien aus der Seele zu kommen, und alle Lebenspulse gewaltsam zu ergreifen. Ich war oft der Ohnmacht nahe, dann kamen allerlei wunderliche Bilder und Träume, und es war mir, als solle ich einen glänzenden Himmel voll Seligkeit und Wonne erschauen und könne nur, wie ein schlaftrunknes Kind die Augen nicht öffnen. Ohne zu wissen, warum? konnte ich oft bis zum Tode betrübt, oft ausgelassen fröhlich sein. Bei dem geringsten Anlaß stürzten mir die Tränen aus den Augen, eine unerklärliche Sehnsucht stieg oft bis zu körperlichem Schmerz, so daß alle Glieder krampfhaft zuckten. Der Vater bemerkte meinen Zustand, schrieb ihn überreizten Nerven zu und suchte die Hülfe des Arztes, der allerlei Mittel verordnete die ohne Wirkung blieben. Ich weiß selbst nicht wie es kam, urplötzlich erschien mir das vergessene Bild jenes unbekannten Mannes so lebhaft, daß es mir war, als stehe es vor mir, Blicke des Mitleids auf mich gerichtet.350

Die fremde magnetische Kraft nimmt figürliche Form an, indem sie mit dem unbekannten Mann identifiziert wird, mit dem zunächst noch Francesko/Franz gemeint zu sein scheint, bevor dieser zu Medardus transformiert wird. Dessen Eindringen in Aurelies Seele entspricht den zeitgenössischen Vorstellungen des Rapports, bei dem auch Fernwirkungen für möglich gehalten wurden. Der zeitgenössischen Geschlechteranthropologie entsprechend ist es Medardus als Mann, der in die Psyche der schwächeren Frau eindringt.351 Während der Rapport bei Eschenmayer 347 Hoffmann: Elixiere, S. 239. 348 Das Auge und der durchdringende oftmals strahlende, stechende oder brennende Blick sind in Hoffmanns Werk durchgehende Zeichen der Magnetiseure (z. B. in Der Magnetiseur, Das öde Haus, Der unheimliche Gast, Don Juan, Die Automate). Vgl. zur Rolle des Auges des Magnetiseurs in der magnetischen Behandlung: Kluge: Versuch, S. 30 f. 349 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 242. 350 Hoffmann: Elixiere, S. 240 f. 351 Vgl. zur literarischen Ineinanderblendung von magnetischem Rapport und Liebesverhältnis bei E. T. A. Hoffmann: Stephan Schindler: Eingebildete Körper. Phantasierte Sexualität in der Goethezeit. Tübingen 2001, S. 219–235. Schindler verweist auch auf den Bezug zu frühromantischen Theorien über die Geschlechterbeziehung: Das Einverleiben durch ‚Verzehren‘ der passiven Frau

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und Schubert als ideale Form des Zusammenseins gewertet wird, erscheint er hier als gewaltsamer Akt, der seelische und körperliche Schmerzen erzeugt und dem Aurelie hilflos ausgeliefert ist: „Ach! – soll ich denn sterben? – was ist es, das mich so unaussprechlich quält?“ 352 Der Magnetismus wird zur Etablierung der Figurenkonstellation genutzt und bestimmt die Bewegungen der Figuren.353 Hoffmann übernimmt jedoch, wie an anderen Stellen seines Werkes, nicht die positive Bewertung des Magnetismus, die in Eschenmayers Versuch und den magnetischen Fallgeschichten deutlich wurde (siehe Kap. 2.3.3 und Kap. 3.3), sondern stellt die Fragmentierung und Manipulierbarkeit des Ichs heraus.354 Somnambulismus und Rapport erscheinen als Zustände der Entfremdung und Gefährdung des Ichs und nicht als Möglichkeit der Erhöhung und Einsicht. Die Medardus-Figur in Aurelies Inneren spricht sie direkt an und thematisiert die Sündhaftigkeit ihrer Liebe zu einem Geistlichen. Ihr Inneres wird dadurch um einen figürlich identifizierten Bewusstseinsbereich ergänzt, mit dem sie interagieren kann. Diese innere Differenzierung, „die fantastische Liebe zu einem Wesen, das nur in mir lebte“ 355, bringt Aurelie jedoch in Konflikt mit ihrer äußeren Umwelt: Das stete starre Festhalten jenes Bildes, die fantastische Liebe zu einem Wesen, das nur in mir lebte, gab mir das Ansehen einer Träumerin. Ich war für Alles verstummt, ich saß in der Gesellschaft ohne mich zu regen, und indem ich, mit meinem Ideal beschäftigt, nicht darauf achtete, was man sprach, gab ich oft verkehrte Antworten, so daß man mich für ein einfältig Ding achten mochte.356

Durch das erweiterte oder geteilte Bewusstsein ist Aurelie für ihre Umwelt nicht mehr erreichbar und die Ursache dafür muss ihrer Familie unerkennbar bleiben. Aurelie gerät in genau den Konflikt mit ihrer Umwelt, den Reil für Nachtwandler und Somnambule mit der Metapher von zwei Rollen auf einer Bühne beschrieben hatte.357 Es ist schließlich ein Buch, das Aurelie eine Interpretationsmöglichkeit für ihre Gefühle gibt. Im Zimmer ihres Bruders findet sie Matthew Lewis’ The Monk und

durch den aktiven Mann habe zum Beispiel Novalis als ‚idealisierter‘ Geschlechterbezug gegolten (vgl. Schindler: Eingebildete Körper, S. 222). 352 Hoffmann: Elixiere, S. 241. 353 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 241. 354 Margarete Kohlenbach hat Hoffmanns Kritik an den Themen der ‚romantischen‘ Medizin als Darstellung der „Nachtseite der Nachtseite“ auf eine griffige Formel gebracht (dies.: Ansichten von der Nachtseite der Romantik. Zur Bedeutung des animalischen Magnetismus bei E. T. A. Hoffmann. In: Saul (Hg.): Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften, S. 220). Vgl. zum Gewaltaspekt des Magnetismus und der literarischen Darstellung auch die Arbeiten von Barkhoff (siehe Anmerkung 251, Kap. 4.3). 355 Hoffmann: Elixiere, S. 241. 356 Hoffmann: Elixiere, S. 241. 357 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 81–83 (siehe Kap. 2.2.2, S. 76).

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erkennt dadurch zum einen die Sündhaftigkeit ihrer Gefühle für einen Geistlichen, und zum anderen interpretiert sie die Mönchsfigur aus diesem Roman als Präfiguration des von ihr geliebten Mönchs.358 Wenig später scheint der Familienfreund Reinhold dies mit seinem Bericht von dem begnadeten Redner Medardus zu bestätigen. Aurelie setzt Medardus als denjenigen ein, den ihr Traumbild abbildet, da die Hauptfigur im Monk ebenfalls ein herausragender Redner ist. Nicht nur integriert Hoffmann hier sein eigenes intertextuelles Verfahren in seinen Roman, indem durch Aurelie die figürlichen Entsprechungen zu Lewis’ Roman aufgezeigt werden, sondern durch den Verweis auf The Monk wird auch der Verlauf der Erzählung in Teilen bereits alludiert.359 Aurelie benutzt den Roman zur Strukturierung und Ordnung ihrer eigenen, ihr unbegreiflichen Gefühle, denen sie hilflos ausgeliefert ist. Durch die fremde Narration versucht Aurelie die inneren Bilder in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Der intertextuelle Verweis auf Lewis’ Roman funktioniert somit als eine weitere Möglichkeit der Perspektivierung und Ich-Erweiterung sogar über die Grenzen der eigenen Erzählung in ein anderes Buch hinein. Das Herausstellen der Intertextualität unterstreicht die Multiperspektivik der Elixiere und entspricht der Verschachtelung der Handlung auf der inhaltlichen Ebene.360 Der Brief ergänzt nachträglich Aurelies Wahrnehmung der Beichte, die jedoch durch ihre Ohnmacht sehr begrenzt bleibt, sowie der Situation im Schloss ihres Vaters, in der sie insbesondere Hermogens Bewertung von Medardus als Teufel aufführt. Gleichzeitig werden Bruchstücke über Medardus’ Familie bekannt, denn Aurelie erkennt, dass Medardus’ Vater der Mann auf dem Bild ihrer Mutter ist. Die Ahnungen über die Wirrungen ihrer eigenen Familie bringen sie an den Rand des Bewusstseins und sie muss das Schreiben abbrechen.361 Als sie wieder ansetzt, ist sie entschlossen, Medardus trotz ahnungsvoller Zweifel für den polnischen Adligen Leonard zu halten. Medardus und der Leser sind hier informierter als die Figur Aurelie selbst, was die Begrenztheit der durch den Brief vermittelten Ich-Perspektive aufzeigt. Neben Aurelie ist Medardus auch mit dem alten Maler verbunden, der in mehreren entscheidenden Situationen auftaucht. Die Figur des Malers als „außerordentliche[ ] Erscheinung[ ], die jeder erlauerten Regel spotte[t]“ 362, transzendiert

358 Vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 242. 359 Vgl. Jürgen Nelles: Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts. Würzburg 2002: „Aurelies Leben (und ihr Tod) wird zur Wiederholung dessen, was sie bereits in einem Buch gelesen hat.“ (S. 273). Vgl. zu Hoffmanns Umgang mit der Vorlage: Horst Meixner: Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann. Frankfurt a. M. 1971, S. 155–172; allgemein zur Rezeption von Lewis in Deutschland: Karl S Guthke: M. G. Lewis’ Stellung in der Geschichte der deutsch-englischen Literaturbeziehungen. Göttingen 1958. 360 Vgl. Nelles: Bücher über Bücher, S. 263. 361 Vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 246. 362 Hoffmann: Elixiere, S. 274.

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die räumlichen, zeitlichen und körperlichen Bedingungen der ‚realen‘ Welt. So bemerkt der Prior des römischen Klosters, dass es ungewiss sei, „ob seine körperliche Erscheinung das ist, was wir wahr nennen. So viel ist gewiß, das niemand die gewöhnlichen Funktionen des Lebens bei ihm bemerkt hat“ 363. Belcampo bezeichnet ihn als „schnöde[n] Revenant“, „durch nichts anders zu bannen, als durch ein glühendes Lockeneisen, welches die Idee krümmt, welche eigentlich Er ist“ 364. Im Kapuzinerkloster in Rom erfährt Medardus, dass der Maler ein regelmäßiger Gast ist, und erhält von dem Prior das Malerbuch, durch das eine weitere Erzählebene eingeführt wird. An dieser Stelle unterbricht der Herausgeber die Erzählung und springt ein, da Medardus den Inhalt des Buches in seiner Narration übergeht, was insofern merkwürdig ist, als dass der Mönch an anderen Stellen durchaus zu erkennen gibt, dass er für einen potentiellen späteren Leser schreibt. Das Buch, so der Prior, bestand bislang nur aus unlesbarem Gekritzel und undeutlichen Skizzen, wurde jedoch „erkennbar und lesbar“ 365, als Medardus gebeichtet hatte. Diese unmittelbare Verbindung der Schrift mit dem Inneren des Medardus wird dadurch verstärkt, dass dieser gar nicht erst lesen muss, um zu wissen, was darin steht: Es gab kein Rätsel für mich, längst wußte ich ja Alles, was in diesem Malerbuch aufbewahrt worden. Das, was der Maler auf den letzten Seiten des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt gefärbter Schrift zusammen getragen hatte, waren meine Träume, meine Ahnungen, nur deutlich, bestimmt in scharfen Zügen dargestellt, wie ich es niemals zu tun vermochte.366

Medardus ist auf das Lesen nicht angewiesen, da er ein unmittelbares Wissen von dem Inhalt hat und eine mediale Vermittlung durch die Schrift nicht mehr benötigt. Das Buch erscheint als direkte Erweiterung seines Inneren, durch das die Perspektivik jedoch weiter verschachtelt wird. Der Herausgeber schaltet sich ein, um auch dem Leser ein „Verständnis des Ganzen“ zu ermöglichen: Wir, ich meine dich und mich, mein günstiger Leser! wissen aber viel zu wenig deutliches von den Ahnungen und Träumen des Bruders Medardus, als daß wir, ohne zu lesen, was der Maler aufgeschrieben, auch nur im mindesten das Band zusammen zu knüpfen vermöchten, welches die verworren aus einander laufenden Fäden der Geschichte des Medardus, wie in einen Knoten einigt.367

Damit der Leser, der aus Medardus’ Perspektive herausfällt, die bislang verworrenen Fäden verknüpfen kann, ist er auf die Vermittlung des Herausgebers angewiesen. Der Akt der narrativen Vermittlung wird durch das Herausstellen, dass es sich um eine Übersetzung handelt, und die Reflexion der richtigen Namen, die wie in

363 364 365 366 367

Hoffmann: Hoffmann: Hoffmann: Hoffmann: Hoffmann:

Elixiere, Elixiere, Elixiere, Elixiere, Elixiere,

S. 274. S. 120. S. 274. S. 275. S. 276.

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einem Drama vorangestellt werden, noch verdeutlicht. Das Malerbuch wird zunächst von einem heterodiegetischen Erzähler null-fokalisiert erzählt, der dann zum homodiegetischen Erzähler wird, jedoch trotzdem allwissend zu sein scheint.368 Dies entspricht der übergeordneten Position des Malers, der die Verhältnisse seiner Nachkommen überschauen, wenn auch nicht verändern kann.369 Das Malerbuch endet mit Medardus’ Geburt und den Hoffnungen, die mit ihm verbunden sind. Der Verweis auf die heilige Rosalia präfiguriert bereits das Ende des Romans. Die Schrift wird schließlich mitten in einem Satz über Medardus unleserlich, so dass die Aufklärung über Medardus’ Inneres abbricht, ein unmittelbarer Zugriff entzieht sich dem Leser. Neben den Textmedien werden die komplizierten Verbindungen von Medardus mit seiner Familienvergangenheit über Bilder ausgedrückt, deren Wirkung in die Narration eingebunden wird, indem das Betrachten der Bilder immer wieder in Handlung resultiert oder Gefühle und Leiden hervorruft. Durch das Malerbuch wird deutlich, dass zu Beginn des Geschlechterfluches das ‚sündige‘ Bild der Venusfigur steht, die sich in Form des ‚Teufelsweib‘ materialisiert, also wie im Pygmalion-Mythos tatsächlich ins Leben tritt. Die anhaltende Wirkung des Urahnen manifestiert sich immer wieder über die Wirkung der gemalten Bilder des ersten Francesko. Auch Aurelie wird, bevor Medardus sie tatsächlich gesehen hat, mit Hilfe des Bildes der heiligen Rosalia visualisiert, gewissermaßen ‚vor Augen gestellt‘: Ich hatte das Gesicht der Unbekannten nicht gesehen und doch lebte sie in meinem Innern und blickte mich an mit holdseligen dunkelblauen Augen, in denen Tränen perlten, die wie mit verzehrender Glut in meine Seele fielen, und die Flamme entzündeten, die kein Gebet, keine Bußübung mehr dämpfte.370

Aurelie bleibt als Bild in Medardus’ Inneren. Dieses innere Bild identifiziert er mit dem die heilige Rosalia darstellenden Altarbild. Im ganzen Roman funktioniert die Heiligenfigur als eine Art Doppelgängerin von Aurelie,371 durch die zum einen auf die Vergangenheit – nämlich auf Franceskos ‚sündiges‘ Bild der Heiligen – verwiesen wird und zum anderen das Ende des Romans präfiguriert wird, an dem Aurelie, als Heilige verklärt, Medardus ‚erlöst‘. Zwischen Aurelie und der heiligen Rosalia besteht ein metonymisches Verhältnis, denn Aurelie wird immer auch schon der Sphäre der Heiligen zugewiesen, bis sie zuletzt mit ihr identifiziert wird. Der Fluch, der durch das Lebendigwerden der Venusfigur ausgelöst wird, wird schließlich dadurch aufgehoben, dass die bildliche Repräsentation der heiligen Rosalia und die ‚reale‘ Person eins werden, wodurch

368 369 sen, 370 371

Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 243. Kremer bezeichnet die Figur als „Spielleiter“ des Romans (Kremer: Romantische MetamorphoS. 232). Hoffmann: Elixiere, S. 52. Vgl. Reber: Studien zum Motiv der Doppelgängers, S. 143 f.

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das Bild so nachträglich eine vorausdeutende Funktion erhält 372 und die Zirkelstruktur des Romans unterstreicht. Aurelie wird nun tatsächlich mit der heiligen Rosalia ineinander geblendet, so dass über die Heiligenfigur Medardus’ Liebe entkörperlicht und entsündigt wird. Seine ‚frevlerische‘ Ankündigung einer Heiligen, die er im Schloss von Aurelies Vater gemacht hatte, wird auf diese Weise nachträglich erfüllt, indem Imagination und Realität zusammentreffen. Das bildlich Repräsentierte wird real, so dass die Grenzen zwischen Medium und Original verschwimmen. Der Kanal dieser Überschreitung ist die (männliche) Imagination373 oder ein „verlebendigender Blick“ 374. Die gemalten Bilder sind nicht mehr wie im achtzehnten Jahrhundert Garanten von Deutlichkeit und Evidenz.375 Nicht die nachahmende Darstellung von ‚Wirklichkeit‘ wird angestrebt,376 vielmehr wird die Erzählrealität gerade durch die Bilder verändert und beeinflusst, denn sie verursachen und motivieren Handlung, lösen Liebe und Wahnsinn aus, beeinflussen die Figurenkonstellation und funktionieren als Verweise auf die Vergangenheit und Zukunft. Die Bilder sind Speicher der magnetischen Wirkkräfte, die sie erneuern und hervorrufen können und so die Familienvergangenheit präsent halten, da sich Medardus und Aurelie in den Wirkungsweisen der Bilder des Malers Francesko verlieren. Die Bilder in den Elixieren haben somit eine „infektiöse Dynamik“ 377, denn ihre Betrachtung hat eine ansteckende Wirkung, die gewisse psychische Zustände immer wieder hervorruft und verstärkt. Hoffmann entwirft eine Art „Poetik des Medienwechsels“ 378, indem auf der Handlungsebene das gemalte Bild in Nar-

372 Vgl. auch Monika Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt/New York: 2000: „Die Erlösungsstruktur verdankt sich den Über- und Rückführungen der Fabel innerhalb zweier medialer Ordnungen.“ (S. 196) 373 Vgl. Christine Lehleiter: On Genealogy. Biology, Religion, and Aesthetics in E. T. A. Hoffmann’s Elixiere des Teufels (1815–16) and Erasmus Darwin’s Zoonomia (1794–96). In: German Quarterley 84 (1) (2011), S. 49. 374 Katrin Bomhoff: Bildende Kunst und Dichtung. Die Selbstinterpretation E. T. A. Hoffmanns in der Kunst Jacques Callots und Salvator Rosas. Freiburg 1999, S. 42. 375 Vgl. Kohns: Die Verrücktheit des Sinns, S. 193. 376 Vgl. zu dieser Veränderung in der romantischen Ästhetik und zur Umsetzung bei Hoffmann: Helmut Pfotenhauer: Bild, Bildung, Einbildung. Zur visuellen Phantasie in E. T. A. Hoffmanns Kater Murr. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 3 (1995), S. 48–69; Bomhoff: Bildende Kunst und Dichtung, insb. S. 41 f.; Edgar Pankow: Medienwechsel. Zur Konstellation von Literatur und Malerei in einigen Arbeiten E. T. A. Hoffmanns. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 10 (2002), S. 42–57; Gabriele Brandstetter: Bild-Löschung und Bild-Belebung Imagination bei E. T. A. Hoffmann, Balzac und Hofmannsthal. In: Bernd Hüppauf und Christoph Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft. München 2006, S. 294– 310. 377 Sabine Schneider: Bilderzauber im Bewusstseinszimmer. Inspiration und die Folgen in „Die Elixiere des Teufels.“ In: Daniel Müller-Niebala, Yves Schumacher, und Christoph Steier (Hg.): Figur – Figura – Figuration. Würzburg 2011, S. 120. 378 Pankow: Medienwechsel, S. 42. Anders als in der Laokoon-Debatte wird hier nicht versucht, die verschiedenen Künste voneinander abzugrenzen, sondern intermediale Verbindungen herzustellen (vgl. Bomhoff: Bildende Kunst und Dichtung, S. 39 und S. 42).

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ration übergeht. Die Aufmerksamkeit wird so auf den Zusammenhang von Wahnsinn und Repräsentation gelenkt und die Krankheitsthematik mit Fragen der medialen und narrativen Vermittlung verknüpft.

4.3.4 Bewusstsein und Narration Der Wahnsinn produziert in allen im Kapitel Erzählte Leiden besprochenen Erzählungen neue Narrationen. Bei Spieß und bei Jean Paul spielt das Narrative aber auch eine Rolle, wenn es darum geht, den Wahnsinn unter Kontrolle zu bringen. In den Biographien der Wahnsinnigen gelingt dies durch den auktiorialen Erzähler, der alle Ursachengeflechte überblicken und einordnen kann. Fixlein wird durch Androhung des Nicht-Schreibens seiner Lebensgeschichte gesund. In den Elixieren hat das Erzählen des eigenen Wahnsinns eine herauszustellende Bedeutung. Der Akt der Narration kann dabei mit einer Zentralkategorie der zeitgenössischen Anthropologie und Psychologie, der des ‚Selbstbewusstseins‘, das anhand von Reils Rhapsodieen eingeführt wurde, verknüpft werden, insofern ihm ähnliche Funktionen zukommen. Mit dem zunehmenden Wissen um seine Familienhintergründe und der Reue über seine Taten wachsen Medardus’ Versuche, den Wahnsinn zu kontrollieren. Diese führen hinein in Fragen nach der Beziehung von Individuum und Schicksal oder Zufall und werden von Hoffmann zugleich mit dem Thema der Vererbung von seelischen Pathologien verbunden.379 Bereits am fürstlichen Hof gibt Medardus gerade die Erkenntnis Kraft, dass eine „fremde Macht“ in seinem eigenen „Wesen“ wirke: „Die Erkenntnis dieses Zwiespalts, der mein Inneres feindselig trennte, gab mir aber Trost, indem sie mir das allmähliche Aufkeimen eigner Kraft, die bald stärker und stärker werdend, dem Feinde wiederstehen, und ihn bekämpfen verkündete.“ 380 Das (vermeintliche) Erkennen der Ursache seines Leidens lässt Medardus zugleich hoffen, dass ein positiver Widerstand gegen die fremde Kraft möglich ist. Diese Freiheit des Einzelnen gegenüber der Macht von Schicksal oder Vererbung wird auch in dem Gespräch von Medardus und dem Papst thematisiert.

379 Fragen nach der Bestimmung des Individuums durch Schicksal oder Zufall und dem Einfluss der Familie waren prominente Themen der romantischen Literatur. Gleichzeitig wurden die mögliche Vererbung pathologischer Störungen in der Zeit um 1800 vielfach diskutiert, wie auch Reuß’ und Reils Ausführungen über die kulturelle Degeneration zeigen, die sich in neuro- und psychopathologischen Krankheiten manifestiere. Unter diesem Aspekt analysiert Lehleiter die Elixiere: On Genealogy, S. 41–60. Lehleiter stellt die These auf, dass Hoffmann sich in seinem Roman mit Vererbungstheorien von Erasmus Darwin auseinandersetzt, biologisch determinierte Modelle des Ichs aber letztlich ablehnt und stattdessen die Literatur als Mittel zur Auseinandersetzung mit psychologischen Fragestellungen postuliere (vgl. Lehleiter: On Genealogy, S. 51 f.). Hoffmann: Elixiere, S. 52. 380 Hoffmann: Elixiere, S. 157.

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Der Papst verweist angesichts Medardus’ Lebensgeschichte auf die Idee der Vererbung auch moralischer Fehler, die dadurch in die Nähe von Krankheiten gerückt werden,381 woraufhin Medardus die Möglichkeiten des Einzelnen in Frage stellt: „Muß der vom Sünder geborne wieder sündigen, vermöge des vererbten Organism, dann gibt es keine Sünde“ so unterbrach ich den Papst. „Doch! sprach er: der ewige Geist schuf einen Riesen, der jenes blinde Tier, das in uns wütet, zu bändigen und in Fesseln zu schlagen vermag. Bewußtsein heißt dieser Riese, aus dessen Kampf mit dem Tier sich die Spontaneität erzeugt. Des Riesen Sieg ist die Tugend, der Sieg des Tieres, die Sünde.“ 382

Das ‚Selbstbewusstsein‘ garantiert in der zeitgenössischen Anthropologie und Psychologie die Einheit des Individuums, setzt es zu seinen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen in den richtigen Bezug und unterscheidet zwischen Objekt und Subjekt. Das Bewusstsein wird im obigen Zitat zudem moralisch überformt; es garantiert nicht nur Gesundheit, sondern auch Tugend, die der tierischen Natur des Menschen gegenüber gestellt ist. Eine Störung des Bewusstseins markiert demnach in mehrfacher Hinsicht eine Normabweichung. Die moralische Überformung wird jedoch dadurch gebrochen, dass es der sündige Papst ist, der sie vornimmt.383 Die Bezeichnung des Bewusstseins als „Riesen“ verknüpft das Gespräch mit der folgenden Szene, in der Medardus auf dem Spanischen Platz die Marionettenaufführung des biblischen David-und-Goliath-Stoffes betrachtet.384 Der Puppenspieler ist Belcampo, der mit seinem eigenen Kopf auch zugleich den Riesen Goliath darstellt. Der Kampf von der Marionette David gegen den Riesen Goliath spiegelt Medardus’ Kampf gegen die ‚feindliche Macht‘, die sein Leben bestimmt,385 der Faden, an dem die Marionette hängt, wird mit dem ‚geheimen Faden‘ parallelisiert, der Medardus’ Leben determiniert. Das komische Marionettentheater hat zudem eine heilsame Wirkung auf Medardus, indem es ihn mit seiner Kindheit in Verbindung bringt und dadurch eine Art Selbsterkenntnis generiert.

381 Dazu passt, dass in der zeitgenössischen Medizin ‚moralisch‘ vielfach als Synonym für ‚geistig‘ oder ‚seelisch‘ verwendet wird. So spricht Reuß von ‚moralischen‘ Ursachen der Nervenkrankheiten, wenn er die psychische Faktoren untersucht (vgl. Reuß: Versuch, S. 101). Auch Reil sieht den moralischen Narren in Verwandtschaft zum pathologischen (vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 396). Vgl. dazu auch Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 85 f. 382 Hoffmann: Elixiere, S. 300. 383 Auf eine andere Weise reflektiert Belcampo die Konstellation von Wahnsinn und Bewusstsein. Auf Fichtes Wissenschaftslehre rekurrierend (vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 609 f.), wird das Bewusstsein als die Instanz gesetzt, durch die das Ich erst existiert (vgl. Hoffmann: Elixiere, S. 262). Wahnsinn ist vom Kontext abhängig, denn im Irrenhaus konstruiert sich der Narr Belcampo als nicht-närrisch. Gleichzeitig lässt sich eine Differenzierung zwischen Wahnsinn und der komischen Narrheit, die Belcampo verkörpert, erkennen, denn Belcampo ist zur Selbstreflexion durchaus in der Lage, während Medardus lange um diese Art der Einsicht kämpft. 384 Vgl. Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 61. 385 Vgl. Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 60.

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Medardus bricht, „in das längst ungewohnte Lachen der innern kindischen Lust“ aus und erkennt dadurch den Kontrast zu seinem aktuellen Zustand, in dem sein „Lachen nur der konvulsivische Krampf der innern herzzerreißenden Qual“ 386 ist. Dem Komischen wird ein spezifisches Potential des ‚Bewusstwerdens‘ zugeschrieben, das durch die komische „Kontrastfigur“ 387 Belcampo akzentuiert wird. Während dieser durch Gestik und Mimik in die Tradition des Buffone der Commedia dell’ arte gestellt ist und um sein Theaterspiel weiß,388 verliert sich Medardus in seinen Rollen, die zur Ursache und zum Ausdruck seiner Leiden werden, da er zwischen Wirklichkeit und Spiel, zwischen Ich und Rolle nicht unterscheiden kann: „Das Schauspielertum verhindert den notwendigen Prozeß der Selbstfindung und begünstigt so seinen Weg von Verbrechen zu Verbrechen.“ 389 Durch sein unbeschwertes Lachen fällt Medardus aus seiner Rolle als sündiger Büßer heraus, wobei das Kindliche für Medardus ursprüngliche Reinheit und Natürlichkeit steht.390 Der Verstoß gegen seine Rolle wird umgehend von dem Abbaten kommentiert, dessen „Hohngelächter“ 391 mit dem kindlichen Lachen des Mönchs kontrastiert wird. Medardus erkennt aber dadurch die erneuten Versuchungen, denen er erlegen ist, und das durch die Komödie ausgelöste Lachen wird als heilsam dargestellt.392 Neben dem Komischen wird auch das Narrative mit Fragen des Bewusstseins verknüpft und somit die spezifischen Bedingungen der Gattung über die Thematisierung des Wahnsinns reflektiert. Wie eingangs gesagt erscheint das Erzählen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert als herausragende Möglichkeit, Kenntnis über den ‚ganzen Menschen‘ zu erlangen.393 Gerade das Narrative hat das Potential, Erlebnisse räumlich und zeitlich zu ordnen und so Sinn zu stiften. Es über-

386 Beide Zitate: Hoffmann: Elixiere, S. 303. Vgl. auch Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 58. Durch den intertextuellen Bezug zu Goethes Wilhelm Meister, der als Kind das Puppenspiel liebt, wird die Szene zum Verknüpfungspunkt mit Medardus Kindheit (vgl. Steinecke Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 613). 387 Köhn: Vieldeutige Welt, S. 66. 388 Vgl. Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 58 f. Vgl. zur Funktion der Figur Belcampo auch Kremer: Romantische Metamorphosen, insb. S. 232–237 und S. 255. 389 Eilert: Theater in der Erzählkunst, S. 59. 390 Vgl. zur Inszenierung von Medardus’ Kindheit: Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 241. 391 Hoffmann: Elixiere, S. 305. 392 Die besondere Bedeutung des Lachens findet sich an anderen Stellen des Romans, in denen verschiedene Typen von Lachen in besonderer Weise auf das Innere verweisen. So kennzeichnet den Doppelgänger das wahnsinnige „hihihi“, das schauerliche Effekte hervorruft. Aber auch Medardus’ wahnsinnige Anfälle werden mit einem „dumpfen“ oder „höhnischen“ Lachen eingeleitet, das Medardus häufig selbst aus einer Art Beobachterposition hört. In diesen Beispielen zeigt das Lachen die Entfremdung und den Zwiespalt des eigenen Ichs sowie den Kontrollverlust über die eigenen Taten an (siehe zu der Beziehung von Bewusstwerdung, Heilung und Komödie Kap. 5.2). 393 Vgl. zur Verbindung von Anthropologie und narrativen Gattungen: Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall; Berg: Erzählte Menschenkenntnis.

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nimmt damit Funktionen, die wahrnehmungspsychologisch dem Selbstbewusstsein zugeschrieben werden. Durch die Ich-Erzählform werden in den Elixieren anthropologisch-psychologische Forderungen nach Selbstbeobachtung umgesetzt. Der Leser erfährt auf der letzten Seite des fiktiven, autobiographischen Berichts, dass Medardus seine eigene Lebensgeschichte auf Anweisung des Prior Leonardus schreibt: Du magst […] die Geschichte deines Lebens genau aufschreiben. Keinen der merkwürdigen Vorfälle auch selbst der unbedeutenderen, vorzüglich nichts was dir im bunten Weltleben widerfuhr, darfst du auslassen. Die Fantasie wird dich wirklich in die Welt zurückführen, du wirst alles grauenvolle, possenhafte, schauerliche und lustige noch einmal fühlen, ja es ist möglich, daß du im Moment Aurelien anders, nicht als die Nonne Rosalia, die das Märtirium bestand, erblickst; aber hat der Geist des Bösen dich ganz verlassen, hast du dich ganz vom Irdischen abgewendet, so wirst du, wie ein höheres Prinzip über alles schweben, und so wird jener Eindruck keine Spur hinterlassen. Ich tat wie der Prior geboten. Ach! – wohl geschah es so, wie er es angesprochen! – Schmerz und Wonne, Grauen und Lust – Entsetzen und Entzücken stürmten in meinem Innern, als ich mein Leben schrieb.394

Die Narration ist eine Confessio, die ihm der Prior aufgegeben hat und die nicht auf Medardus’ eigene Entscheidung zurückgeht.395 Das Schreiben ist gewissermaßen der Test, ob der „Geist des Bösen“ Medardus tatsächlich verlassen hat, denn nur dann wird er „wie ein höheres Prinzip über alle[m] schweben und so wird jener Eindruck keine Spur hinterlassen“ 396. Das Aufschreiben ersetzt die physischen Qualen der Buße, die Medardus sich in Rom zufügte. Was durch die körperlichen Schmerzen nicht erreicht werden konnte, wird durch die Erzählung möglich. Zugleich steht der Aspekt der Buße jedoch dem ordnenden und sinnstiftenden Erzählen der Autobiographie entgegen, denn die Buße wird gerade dadurch umgesetzt, dass das Schreiben Medardus dem Erlebten so sehr wieder annähert, dass das schreibende und erlebende Ich gleich werden. Das Medium dieser Annäherung ist die Phantasie. Für die Darstellung des Wahnsinns bedeutet dies, dass dieser unmittelbar aus der Perspektive des Kranken selbst erzählt wird, da die Phantasie den Schreibenden das Vergangene noch einmal fühlen lässt. Wie anhand Jean Pauls Konzepten der Einbildungskraft skizziert wurde, hatte die Einbildungskraft in der zeitgenössischen Psychologie wichtige Erinnerungsfunktionen,397 während andere Seelenkräfte dafür sorgen, dass das Vorgestellte in die richtige zeitliche Dimension gesetzt wird, es also im Normalfall nicht zu einer gänzlichen Zurückführung in das Erlebte kommt. Dies misslingt, wenn die Einbildungskraft zu stark wird, wodurch die Erinnerung fälschlicherweise für eine aktuelle Wahrnehmung gehalten wird, was zur pathologischen Störung

394 395 396 397

Hoffmann: Elixiere, S. 349. Vgl. auch Nelles: Bücher über Bücher, S. 267. Hoffmann: Elixiere, S. 349. Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 195 (siehe Kap. 4.2.2, S. 220).

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führen kann.398 Wenn die zeitliche Distanz durch das Erzählen selbst aufgehoben wird, impliziert dies also bereits eine Art Störung der Wahrnehmung, die damit auch durch die Erzählform selbst ausgedrückt wird. Das Zitat des Priors reflektiert die Erzählsituation des Romans: Über weite Teile der Erzählung ist die Distanz des erzählenden zum erlebenden Ich sehr gering und oft gar nicht wahrnehmbar. Zugleich hat das Wissen, dass der Kranke in der Lage ist, seine Geschichte rückblickend zu erzählen, aber eine stabilisierende Funktion. So stellt Lindner fest, dass durch die Erzählsituation „eine Art Einheit der Subjektivität“ 399 beibehalten wird: „Die Erzählung durch ein Ich setzt nämlich eine immanente Identität und Integrität dieser fiktiven Person voraus.“ 400 Auch der Prior spricht von einem „höheren Prinzip“, nach dem Medardus über dem Geschehen schwebt. Das Schreiben über die eigene (Kranken-)Geschichte erscheint als reflektierendes Moment, zu dem der Erzähler noch in der Lage ist. Der wiederkehrende Wahnsinn bedeutet keinen kompletten Verlust des Verstandes, sondern bloß eine temporäre Störung. Auch für Medardus verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was ‚real‘ und was eingebildet ist. Wie Kant in seiner Definition von ‚Verrückung‘ anführt, wir das Eingebildete mit der Wirklichkeit verwechselt.401 Ursache dieser Pathologie ist die Einbildungskraft, durch welche die Wirklichkeit immer weiter vervielfältigt werden kann. Die Frage ist, ob es gelingt, durch das Erzählen der Leiden die ‚ver-rückten‘ Sinnzusammenhänge wieder herzustellen. Die entgegengesetzte Möglichkeit des Narrativen wird im Rahmen der Gefängnisszene vorgeführt, als Medardus sich als polnischer Adliger ausgibt, um sein Leben zu retten. Um das Leben des Adligen Krczinski und die Vorfälle um Viktorin, Medardus und das Schloss des Baron F.s überzeugend darzustellen, beschließt er, die erfundene Geschichte aufzuschreiben: Der kleinste Umstand mußte reiflich erwogen werden; aufzuschreiben beschloß ich daher den Roman, der mich retten sollte! – Man bewilligte mir die Schreibematerialien, die ich forderte, um schriftlich noch manchen verschwiegenen Umstand meines Lebens zu erörtern. Ich arbeitete mit Anstrengung bis in die Nacht hinein; im Schreiben erhitze sich meine Fantasie, alles formte sich wie eine geründete Dichtung, und fester und fester spann sich das Gewebe endloser Lügen, womit ich dem Richter die Wahrheit verschleiern hoffte.402

Die Gewebemetapher bezeichnet traditionell den Prozess des Dichtens, die hier mit der Lüge enggeführt wird und darüber hinaus mit der mit Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ in Verbindung gesetzt wird. Die Erzählung der vermeintlich eigenen Le-

398 399 400 401 402

Vgl. die bereits zitierte Stelle bei Platner: Anthropologie, S. 90 (siehe Kap. 1.1.3). Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 263. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 263. Vgl. Kant: Versuch über die Krankheiten des Kopfes, S. 894. Hoffmann: Elixiere, S. 208 f.

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bensgeschichte produziert nur Fiktion, so dass nicht die eigene Identität gestärkt, sondern eine zusätzliche erfunden wird. Dies führt zu einer weiteren Verschachtelung von Medardus’ Ich, die durch die Gattung des Romans fixiert und scheinbar beglaubigt wird. Das Auftauchen des Doppelgängers unterbricht Medardus’ Schreibtätigkeit. Anschließend beschließt Medardus, sich selbst mit dem Messer zu töten und vorher dem Richter alles zu beichten. Bevor er mit dem Richter sprechen kann, versinkt er in einen Traum, in dem er vor einem Gericht der Inquisition aussagen möchte. Die mündliche Beichte gelingt jedoch nicht, weil außen und innen sich nicht entsprechen: „Ich wollte Alles, was ich je sündhaftes und freveliches begangen, offen eingestehen, aber zu meinem Entsetzen war das, was ich sprach, durchaus nicht das, was ich dachte und sagen wollte. Satt des ernsten, reuigen Bekenntnisses, verlor ich mich in ungereimte, unzusammenhängende Reden.“ 403 Medardus ist nicht in der Lage, sein eigenes Inneres sprachlich zu artikulieren, denn seinem Ich ist eine Differenz eingeschrieben, welche die Sprache nicht überbrücken kann. Das Problem der Geisteszerrüttung wird auf die Ebene der Sprachzeichen übertragen: „Nochmals strengte ich mich an, aber in tollem Zwiespalt stand Rede und Gedanke. – Reuevoll, zerknirscht von tiefer Schmach, bekannte ich im Innern Alles – abgeschmackt, verwirrt, sinnlos war, was der Mund ausstieß.“ 404 Die Rede bezeichnet nicht die Gedanken und Gefühle, sondern eine andere Ebene des Ichs, die Medardus’ Zugriff entzogen ist. Der Sinn ist in auch dieser Szene im wahrsten Sinne ‚ver-rückt‘, aber anders als im Fall Spalding, der seine Sprachstörung unter Kontrolle bringen kann,405 gelingt dies der Figur Medardus nicht, da er die Ursache dieser ‚Verrückung‘, die seiner rationalen Wahrnehmung entzogen ist, nicht erkennen kann. Die beiden Beispiele aus dem Gefängnis verknüpfen die Ich-Problematik mit dem Aspekt des Narrativen und zeigen, dass das Erzählen nicht nur Möglichkeit der Sinnstiftung ist, sondern auch der Lüge und weiteren Fragmentierung des Ichs. Das Ende der Elixiere und insbesondere die Frage, ob Medardus erlöst werde (wenn man das religiöse Bezugsfeld dominant setzt) oder Selbsterkenntnis erlange (wenn man das psychologische Bezugsfeld hervorhebt), ist unterschiedlich diskutiert worden. Während Hartmut Steinecke feststellt, dass Medardus’ Autobiographie keine teleologische Ausrichtung unterlegt sei,406 sieht Ricarda Schmidt eine triadische Struktur von Unschuld, Sünde, Erlösung und durch die christliche Thematik sehr wohl eine „geheime Ordnung und eine Teleologie“ 407, die sich auch in 403 Hoffmann: Elixiere, S. 212. 404 Hoffmann: Elixiere, S. 213. 405 Vgl. Spalding: Ein Brief an Sulzern über eine an sich selbst gemachte Erfahrung, S. 38–43 (siehe Kap. 3.2.2). 406 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 585. 407 Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität, S. 157. Kremer bewertet die heilsgeschichtliche Form der Elixiere als nur äußerlich erfüllt, während sie über weite Strecken des Romans folgenlos bleibt (vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 242).

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der narrativen Struktur und durch die wiederholten typologischen Spiegelungen manifestiere. Franz Loquai sieht dagegen gerade durch die religiöse Teufelsthematik die Unfreiheit des Menschen letztlich bestätigt. Die Morde und Verbrechen Medardus’ seien notwendig, damit dieser zur Erlösung gelange, so dass letztlich die Unmöglichkeit demonstriert werde, das eigen ‚Schicksal‘ zu verändern.408 Die Überschriften der einzelnen Erzählabschnitte deuten eine Entwicklungsstruktur der Hauptfigur an. Auch verweisen wenige moralische Bewertungen seines eigenen Handelns auf das erzählende Ich und eine nachtägliche Einordnung, die durch typologische Elemente, Wiederholungen und Sinnstiftung unterstrichen werden.409 Diese strukturierte Komposition kontrastiert aber damit, dass das Erlebte über große Teile des Romans ‚nur‘ wiederholt wird. Die auf Unmittelbarkeit und Präsenz zielenden Darstellungsweisen geben dem Leser während der Erzählung keine Garantie für eine finale Bestätigung des einheitlichen, gesunden Subjekts. Die Elixiere haben keine teleologische Struktur im Sinne einer bewussten Reifung und Bildung des Individuums, stattdessen wirkt die Entwicklung des Protagonisten wie ein gewaltsamer und von außen bestimmter Prozess.410 Die Strukturierung des Romans verweist auf eine außerhalb des Individuums liegende familiäre, religiöse oder – auf einer metapoetischen Ebene – literarische Determination. Medardus setzt sich zwar als Autor seines Lebens in die Beobachtungsposition seines eigenen Ichs, ist aber während des Schreibens oft nicht in der Lage, Bezüge zu überschauen und bewusst einzuordnen. Die Distanz der narrativen Vermittlung wird verringert und Medardus erlebt die Geschehnisse noch einmal. Diese Überwindung drückt er mit Wundenmetaphern aus, die auf die seelischen Leiden verweisen, wenn er schreibt, dass „alle längst verharschte Wunden aufs neue bluteten“ 411. Die Narration bringt die Leiden nicht sinnstiftend unter Kontrolle, sondern holt sie zurück in die Gegenwart des Schreibenden, so dass erneute Leiden verursacht werden. Über weite Strecken zielen die rhetorisch-sprachlichen Strategien, mit denen der Wahnsinn dargestellt wird, auf die Erzeugung von Präsenz und Evidenz. Anstelle der ordnenden Rückschau, narrativen Einordnung und Bewertung des Wahnsinns wird der Leser in die Perspektive des Wahnsinnigen hineingezogen.412 Die Zergliederung des von Moritz geforderten ‚kalten Selbstbeobachters‘ ist in den Elixieren nicht möglich. Die Einzelheiten, in die das Ich zerfällt, können nicht rational unter Kontrolle gebracht werden. An den Elixieren lässt sich somit ein verändertes ästhetisches Darstellungsparadigma des (kranken) Inneren erkennen: Distanz wird zum einen überwunden, zum anderen werden jedoch eine Vielzahl von Bedeutungen generiert, so dass die Möglichkeit das ‚Innere‘ zu erkennen und den ‚ver-rückten‘ Sinn wieder gerade zu rücken, fragwürdig wird.

408 409 410 411 412

Vgl. Loquai: Kampf gegen das Böse, S. 55. Vgl. Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität, S. 154. Vgl. Harnischfeger: Das Geheimnis der Identität, S. 2. Hoffmann: Elixiere, S. 349. Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 235.

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Zwar erlangt Medardus am Ende Wissen über den Doppelgänger, die familiären Hintergründe und die unheilvolle Verbindung zu Aurelie, ist dafür jedoch auf die ergänzenden Perspektiven anderer Figuren angewiesen. Zudem schließt der autobiographische Teil trotz dieser Erkenntnis mit Medardus’ Furcht, im Sterben erneut mit seinem ‚Widersacher‘ konfrontiert zu werden. Die Autobiographie endet somit in programmatischer Offenheit.413 Zwar findet Medardus einen Weg, seine eigenen Leiden zu artikulieren und die Hintergründe zu erkennen, doch die Aussicht erneut mit dem ihn entzweienden Prinzip des ‚Widersachers‘ konfrontiert zu werden, lässt es nicht zu, die Autobiographie als „Zeichen und Ergebnis des Lebensweges des Medardus zu sich selbst“ 414 zu sehen. Die Furcht Medardus’ wird durch den Bericht des Bibliothekars bestätigt, der als weitere Erzählebene, den Roman beschließt. Aus diesem kann der Leser folgern, dass sich kurz vor Medardus’ Tod, die Kämpfe wiederholen, die sein Leben bestimmt haben: Spiridion hört das Lachen und die Stimme des Doppelgängers, der nun wieder in die Psyche des Mönches verrückt zu sein scheint, nimmt dann jedoch den Rosenduft wahr, der für Aurelies Verklärung zur heiligen Rosalia steht und schließlich verlässt der alte Maler das Zimmer des Sterbenden und prophezeit die „Stunde der Erfüllung“ 415. Diese Szene weist somit die zentrale Konfiguration des Romans noch einmal auf.416 Der Bibliothekar, der die Hintergründe von Medardus’ Geschichte nicht kennt, berichtet anschließend, wie dieser genau ein Jahr nach Aurelie vor dem Altar in den Armen des Priors stirbt und bei seinem Requiem erneut Rosenduft die Kirche erfüllte, und seltene Rosen an dem Bild der Heiligen Rosalia befestigt waren. Der Bericht deutet somit Medardus’ Erlösung an, die jedoch im Vokabular eines religiösen Wunders formuliert 417 wird und aufgrund der Unwissenheit des Seripidion die Frage nach dem Bewusstsein nicht beantwortet. Der Herausgeber meldet sich abschließend nicht wieder zu Wort, sondern die Erzählung bricht mit dem Bericht des Seripidion ab. Eine erzählte Handlung findet somit nicht statt, der Herausgeber ordnet nur verschiedene Textdokumente an. Zu

413 Vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 585. 414 Wulf Segebrecht: Autobiographie und Dichtung. Eine Studie zum Werk. E. T. A. Hoffmanns. Stuttgart 1967, S. 164. 415 Hoffmann: Elixiere, S. 351. 416 Schmidt deutet die Szene als Erfüllung des Traumes von Medardus (vgl. Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität, S. 149 f.). 417 Nach Steinecke verbietet es die Aussage des Bibliothekars, die Umstände des Todes „ad majorem die gloriam“ zu erzählen, diese als objektiven Bericht über Medardus Tod zu lesen (vgl. Steinecke: Kommentar. In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 2.2, S. 615). Dagegen sieht Schmidt in den vielfältigen Vorausdeutungen (z. B. durch das Malerbuch, die Bewertung von Aurelies Tod durch den Maler und Medardus’ Traum) eine Bestätigung von Seripidions Perspektive (vgl. Schmidt: Narrative Strukturen romantischer Subjektivität, S. 153). Durchaus deutet sich durch Seripidions Bericht so etwas wie die Erfüllung von Medardus’ Leben und Leiden an. Zu betonen ist jedoch die Unwissenheit, in welcher der Bericht verfasst ist und dem somit eine bestimmte Offenheit inhärent ist, die das Erzählte abhängig von der Glaubwürdigkeit des Berichtenden macht.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

Beginn hatte er das ‚Gelingen‘ der Erzählung zu einem wesentlichen Teil in die Einbildungsfähigkeit des Lesers verlagert. Wie der homodiegetisch-intradiegetische Erzähler soll dem Leser das Geschehen tatsächlich vor Augen stehen. Es ist also möglich, dass die gesamte Erzählung ein Spiel der Einbildungskraft ist. Die Bemerkung des Priors in Rom über den alten Maler kann daher als ironischer autoreflexiver Kommentar auf Medardus und die fiktive, literarische Figur sein: „Ich bin zweifelhaft, ob seine körperliche Erscheinung das ist, was wir wahr nennen. So viel ist gewiß, das niemand die gewöhnlichen Funktionen des Lebens bei ihm bemerkt hat.“ 418 Die Authentizitätsfiktionen und Legitimierungsstrategien werden hierdurch ironisch gebrochen.

4.3.5 „Die Fieberhitze dieser Nachtstücke und Teufelselixiere ging auf das Publicum über“: Der Lektüreprozess als Krankheit Die Konzeption der schriftlichen Buße als Wiedererleben des Leidens deutet die Möglichkeit einer medialen Überwindung und unmittelbaren Wirkung des (eigenen) Schreibprozesses auf Medardus und somit eine Überwindung der medialen Distanz an, die den Leser betreffen kann.419 Solche Wirkungsweisen von ‚Sprache‘ werden in den Elixieren selbst thematisiert, so ist das zweite Einfallstor des Wahnsinns neben der Liebe das gesprochene Wort der Predigt.420 Wie die Gefühle für Aurelie werden die Inspirationsvorgänge, die zu seiner mitreißenden Predigt führen, mit Fluss- und Feuermetaphern dargestellt.421 Die religiöse Inspiration kann in die Nähe poetischer Inspiration in anderen Werken Hoffmanns gerückt werden.422 Liebe und Inspiration sind dabei lange als ‚höhere‘ Zustände gelesen worden,423 wohingegen inzwischen ihre Ambivalenz herausgestellt wurde, die sich auch aus dem möglichen Umschlag zur Pathologie ergeben. Die Rede übernimmt die Kontrolle über Medardus. Bei seiner ersten Predigt hält er sich zunächst eng an seine Handschrift, dann aber entfaltet etwas anderes in seinem eigenen Inneren eine Wirkung: „Bald aber war es, als strahle der glühende Funke himmlischer Begeisterung durch mein Inneres – ich dachte nicht mehr an die Handschrift, son-

418 Hoffmann: Elixiere, S. 274. Auch Kremer wertet das Zitat als ironischen Kommentar, ohne es aber auf Medardus zu beziehen (vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 241). 419 Vgl. zur Wirkung von Medien: Andree: Archäologie der Medienwirkung. 420 Die schwärmerisch-empfindsame Rezeption von Predigten ist in den im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde dargestellten Fällen die erste Stufe, die zur Theatersucht führt. 421 Vgl. zur Bedeutung der Metaphorik des Fließens in der romantischen Literatur den Sammelband von Walter Pape (Hg.): Romantische Metaphorik des Fließens. Tübingen 2007. 422 Dementsprechend schließt Lindner: „Die Religiosität ist in Hoffmanns Roman genauso eine Erscheinung der höheren Welt, wie die Poesie in seinen Künstlernovellen.“ (Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 240) 423 Vgl. Tatar: Spellbound, S. 127.

Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels

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dern überließ mich ganz den Eingebungen des Moments. Ich fühlte, wie das Blut in allen Pulsen glühte und sprühte.“ 424 Während seiner Predigt überlässt sich Medardus dem „Strom der Rede“ 425, der ihn führt, und „wie ein Feuerstrom“ fließen seine „Worte“ 426. Die ‚Rede‘ des Medardus zeugt von Inspiration, markiert aber auch den Beginn von Hochmut, Ehrgeiz, Verstellung und Wahn. Medardus’ Inneres wird permeabel und die religiöse Begeisterung überträgt sich in einer Art Ansteckung auf das Publikum: „Heftiges Weinen – unwillkürlich den Lippen entfliehende Ausrufe der andachtsvollen Wonne – lautes Gebet, hallten meinen Worten nach.“ 427 Ein „religiöser Wahn“ 428 ergreift die Stadt. Die Zustände der religiösen ‚Begeisterung‘, die auch in der zeitgenössischen medizinischen Literatur in die Nähe von Wahnsinn gerückt werden,429 übertragen sich durch die gesprochenen Worte. Die infektiöse Macht der Rede wird auch in der Szene auf dem Schloss des Baron F.s deutlich, in der Medardus Aurelie durch seine metaphernreiche Rede von der Religion und durch Gebet verführen möchte: Des Blutes Glutstrom stieg fühlbar auf in die geheimnisvolle Werkstatt des Gedanken, und so sprach ich von den wundervollen Geheimnissen der Religion in feurigen Bildern, deren tiefere Bedeutung die wollüstige Raserei der glühendsten verlangenden Liebe war. So sollte diese Glut meiner Rede, wie in elektrischen Schlägen, Aureliens Inneres durchdringen, und sie sich vergebens dagegen wappnen. – Ihr unbewußt sollten die in ihre Seele geworfenen Bilder sich wunderbar entfalten, und glänzender, flammender in der tieferen Bedeutung hervorgehen, und diese ihre Brust dann mit den Ahnungen des unbekannten Genusses erfüllen, bis sie sich von unnennbarer Sehnsucht gefoltert und zerrissen, selbst in meine Arme würfe.430

Der Effekt der Infizierung durch Worte soll über den Aspekt der ‚Uneigentlichkeit‘ von Metaphern transportiert werden. Medardus spricht vordergründig über die Religion, will jedoch sexuelles Begehren bei Aurelie hervorrufen. Die Wirkung der Worte soll sich unbewusst im Inneren der Zuhörerin entfalten, so dass die intendierte Wirkung einem Ansteckungsprozess gleicht: Das Begehren des Mönchs soll auf die Schülerin übertragen werden. Dieser Aspekt der Übertragung kommt auch in der Konzeption der Erzählung als Bußübung, die das vergangene Leiden erneuert, zum Ausdruck. Worte können oder sollen trotz der, der Sprache und insbesondere der Schriftsprache eingeschriebenen, Differenz zum ‚Realen‘ oder zum ‚Erlebnis‘ die gleiche Intensität erreichen. Das Begreifen der Narration als Buße, die das Erlebte erneut präsent macht, sagt

424 425 426 427 428 429 430

Hoffmann: Elixiere, S. 38. Hoffmann: Elixiere, S. 41. Hoffmann: Elixiere, S. 49. Hoffmann: Elixiere, S. 38. Hoffmann: Elixiere, S. 39. Vgl. dazu Schmaus: Psychosomatik, S. 52–64. Hoffmann: Elixiere, S. 86.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

auch etwas über die intendierte Wirkung des Erzählens aus. Das erneute Erleben, dem Medardus ausgesetzt ist, ist zugleich auch eine wirkungsästhetische Kategorie. Nach den Informationen des Herausgebers zögerte der Prior, zunächst Medardus’ Lebensgeschichte zu veröffentlichen mit dem Hinweis, eigentlich hätte sie verbrannt werden müssen. Der Erzählung selbst wird somit eine gewisse Gefährlichkeit zugesprochen. Die Gefahr der neuen Produktion von Leiden durch die Erzählung wird auch in der zeitgenössischen Kritik der Elixiere thematisiert, so dass das Thema des Romans auf der Rezeptionsebene wiederholt wird. Zum einen werden Krankheit und normabweichendes Verhalten als die Ursache der Erzählung gesehen, so dass die Elixiere zum Symptom der krankhaften Zustände Hoffmanns werden. Zum anderen erzeugt das Lesen der Elixiere neue Leiden. Die Literatur wird selbst zum Symptom einer psychopathologischen Störung, was sich an Thema und Form der Werke zeigt, die gegen „alle höheren Gesetze der Kunst“ 431 verstoße. Die Elixiere verdeutlichen, so der Literaturkritiker Rudolph Gottschall, „wozu eine krankhaft überreizte Phantasie führt, die jeden idealen Maßstab verloren“ 432. Gottschall kritisiert gerade die Mehrdeutigkeit der Erzählung, durch welche die Wahrnehmung des Lesers getrübt werde: „Die Phantasie schwelgt rücksichtslos im Gräßlichen, welches dadurch nicht gemildert wird, daß wir über die Identität der Person, die es vollbringt, beständig im Unklaren gelassen werden. Vor unsern Augen verwandelt sich dieser Bruder Medardus in seinen Doppelgänger; wir wissen nie, ob wir träumen oder wachen.“ 433 Die Unsicherheit des Protagonisten überträgt sich auf den Leser, der an die Perspektive des Wahnsinnigen und die erwähnten Zusatzperspektiven gebunden und nicht besser informiert ist als der Protagonist selbst. Erst mit Medardus gelangt er schrittweise zu einer gewissen Übersicht über seine Familienzusammenhänge und die dadurch entstandenen Handlungszwänge, denen dieser ausgesetzt ist, wozu er allerdings auf verschiedene Zusatzperspektiven angewiesen ist.434 Die Art der Darstellung führt dazu, dass bei der Lektüre der Elixiere der Wahnsinn auf den Leser in einer Art Ansteckung übertragen werden kann. Der TieckBiograph Rudolf Köpke schreibt über Hoffmanns Erzählungen: Hier gab es alle erdenkliche Zerrgebilde krankhafter Phantasie, den bis zum Schwindel gesteigerten Wechsel brennender Farben […]. Die Fieberhitze dieser Nachtstücke und Teufelselixiere

431 Rudolph Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt. Bd. 1. Breslau 1855, S. 286. Gottschall lobt trotz dieser Kritik die spannende Erzählweise von Hoffmanns Roman. 432 Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, S. 285. 433 Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, S. 285 f. 434 Vgl. Nelles: Bücher über Bücher, S. 268.

Innensichten des Wahnsinns: E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels

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ging auf das Publicum über; durch den nervösen Schreck wollte es ergriffen und geängstigt werden. […] Auf die Krämpfe folgte Abspannung.435

Hier werden mehrere Krankheitsphänomene anzitiert und zum Modell einer Leseerfahrung zusammengesetzt, die trotzdem Vergnügen bereitet: Krankhafte Phantasie steigert sich zu Schwindel, es folgt Fieberhitze und nervöser Schreck, nach Krämpfen folgt schließlich die Abspannung, die laut dem Verfasser nach sinnlichen Liebesromanen verlangt. Auch Peter von Matt stellt in seiner Studie über die Phantasie noch die ‚körperlich-krankmachende‘ Wirkung der Elixiere fest: „Man kann diesen Roman vom Fieber her verstehen. […] Das breitet sich aus in die Erfahrung des Lesers hinein. Man wird von dem Buch fast körperlich angegriffen.“ 436 Der Leseprozess ruft durch eine Art Ansteckung selbst Leiden hervor. Die Thematisierung von medialen Überschreitungen in der Erzählung wird in der Kritik aufgenommen und sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsebene angesiedelt: Krankheit äußert sich in Literatur und das Lesen verursacht erneute Leiden. Hoffmanns Erzählung von einem Wahnsinnigen benutzt das Wissen verschiedener Gattungen, was die Tendenzen zur Vermischung von Gattungen in der romantischen Literatur zeigt. Die Verknüpfung der Psychopathologie mit Aspekten der Narration und Theatralität verbindet anthropologische und ästhetische Fragestellungen miteinander. Das Gattungswissen von Schauerroman und Autobiographie wird aber gerade durch die Thematisierung der psychischen Leiden verändert und hinterfragt.437 Die Vorstellung einer sinnvollen, teleologischen Entwicklung oder Bildung des Ichs wird durch die Leiden fragwürdig. Der erzählenden Literatur gelingt zwar das Eindringen unter die ‚Oberfläche‘, in das Innere des Kranken, es sind aber keine sicheren Diagnosen und Erkenntnisse möglich. Anhand von Spieß’, Jean Pauls und Hoffmanns Texten lassen sich drei Arten der narrativen Krankheitsdarstellung um 1800 zeigen. In allen Texten stehen einzelne Fälle im Zentrum der Erzählungen. Herausgeberfiktionen und Erzählerkommentare spielen in unterschiedlichen Graden mit dem Anspruch von Authentizität, der in Spieß’ Text am ausgeprägtesten ist. Der Wahnsinn wird in unterschiedlichen Erzählsituationen dargestellt, was in verschiedenen Graden der Unmittelbarkeit resultiert. Spieß’ Erzähler entwirft eine Art Panorama von Wahnsinnsfällen, bleibt aber selbst klar außerhalb der erzählten Krankheit. Jean Pauls Erzähler wechselt zwischen Nähe und Distanz, wobei auch die Innensichten stark als erzählerisches sprachliches Produkt herausgestellt sind. Der Erzähler der Elixiere ist über weite

435 Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen. Bd. 2. Leipzig 1855, S. 43 f. 436 Matt: Das Schicksal der Phantasie, S. 122. 437 Vgl. Lindner: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“, S. 237 f.

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Erzählte Leiden: Krankheit in Erzähltexten

Strecken der kranke Protagonist selbst, so dass der Leser in die Perspektive der kranken Psyche hineingenommen wird. Die Einblicke, die diese Erzählweise generiert, bleiben jedoch unzuverlässig und unsicher. Der kranke Körper wird in allen Texten auf ähnliche Weise in die Wahnsinnsdarstellung einbezogen. Der Wahnsinn resultiert in Fiebererkrankungen, die sich in einem psychosomatischen Raum abspielen. Der Körper ist zudem Bildspender, um die Vorgänge des Wahnsinns zu verdeutlichen. Vor dem Hintergrund eines semiotischen Wahnsinnsbegriffs wird das Narrative selbst mit dem Wahnsinn und insbesondere mit der Einbildungskraft sowie dem Selbstbewusstsein verbunden. Durch den Wahnsinn werden einerseits neue unsichere Narrationen produziert, die somit in Bezug zur Einbildungskraft stehen. Insbesondere bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann spielen dabei Textmedien eine wichtige Rolle, sie lösen Wahnsinn aus und generieren neue Einsichten und Wahrnehmungen. Dadurch wird der Aspekt der Sprachlichkeit der Krankheit herausgestellt und zugleich die Wirkung von Medien reflektiert. Dieser Aspekt spielt bis in die Rezeption der Elixiere hinein eine Rolle. Der Akt des Erzählens wird aber anderseits als Möglichkeit der Kontrolle der kranken Wahrnehmung erprobt. Das Narrative hat dabei das Potential, die Funktionen textuell umzusetzen, die dem Selbstbewusstsein in der zeitgenössischen Psychomedizin zugeschreiben werden, indem es Erlebnisse und Gefühle zeitlich und räumlich einordnet und kausale Sinnzusammenhänge herstellt. Anhand von Spieß’ und Hoffmanns Texten wurde auch die Verwendung dramatischer Organisationsmuster und theatraler Wahrnehmungsstrukturen in den narrativen Texten fokussiert. Bereits in den Kapiteln Vorläufige Leiden und Fallleiden wurden Theatermetaphern und theatrale Strukturen als Organisationsfiguren von psychischer Krankheit sowie von fallbasierter Wissensgenerierung herausgearbeitet. Die Gattung Drama scheint ein spezifisches Erkenntnis- und Darstellungspotential für Krankheit, insbesondere für psychische Leiden, zu haben. Die Darstellung von Leiden im Drama und Theater wird im nächsten Kapitel untersucht.

5 Gespielte Leiden: Krankheit im Drama Das Drama unterscheidet sich von anderen literarischen Gattungen, weil seine Form immer auch auf eine Aufführung hin ausgerichtet ist,1 so dass der Text in Hinblick auf die spätere plurimediale Bühnendarstellung konzipiert ist.2 Daher spielen wirkungsästhetische Überlegungen für die dramatischen Gattungen um 1800 eine zentrale Rolle und bestimmen auch Gattungszuordnungen wie ‚Tragödie‘ oder ‚Komödie‘. Innerhalb der Tragödien- und Komödienästhetik eignen sich daher sicherlich nicht alle Krankheiten zur Erzeugung der intendierten Wirkungen wie Sympathie, Mitleid, Furcht, Katharsis oder Lachen. Wirkungskategorien wie Katharsis oder Sympathie stammen dabei selbst aus medizinischen Diskursen3 und deuten ein bestimmtes, den dramatischen Gattungen inhärentes Wissen über die Entstehung, Verbreitung und Heilung von Leiden(-schaften) an. Medizinische Debatten über das Lachen implizieren zudem ein komödienspezifisches Wissen von Krankheit und Gesundheit, was sich auch an inhaltlichen Überschneidungen mit komödientheoretischen Diskussionen zum Beispiel bei Lessing zeigt. Es ist anzunehmen, dass Krankheit in Tragödie und Komödie jeweils inhaltlich, formal und funktional eine andere ist. Die wirkungsästhetische Ausrichtung der dramatischen Gattungen rückt den Zuschauer und die Frage, welche Reaktionen Krankheitsdarstellung bei ihm auslösen können und sollen, in den Fokus. Die dramatische Figur erhält durch den Schauspieler, der sie ‚verkörpert‘, eine Gestalt, die für den Zuschauer audiovisuell unmittelbar präsent ist. Angesichts dieser unmittelbaren Präsenz ist die Frage nach dem leidenden Körper im Drama um 1800 interessant. In Umkehrung dieser Perspektive ist zu fragen, wie die Präsentation von Leiden auf den Schauspieler wirkt, der zum Medium der dargestellten Leiden wird. Mit der Ausrichtung auf eine Theateraufführung hängt auch die Rollenstruktur und die daraus resultierende dramenspezifische Sprechsituation4 zusammen, die bereits bei Platon und Aristoteles zur Differenzierung dramatischer und epischer

1 Vgl. William B. Worthen: Drama. Between Poetry and Performance. Chichester 2010, S. 24. 2 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. 10. Aufl. München 2000, S. 34. 3 Vgl. zum Verhältnis medizinischer Konzepte und wirkungsästhetischer Überlegungen insbesondere der ‚Katharsis‘: Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung, S. 12–48; Werner Mittenzwei: Katharsis. In: Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2001, S. 247; Hoessly: Katharsis. Vgl. zur ‚Ansteckung‘: Erika Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, In: Mirjam Schaub, Nicola Suthor, Nicola und dies. (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 35–50. Zumbusch untersucht, inwiefern medizinische Diskussionen um Impfung und Immunität um 1800 sich in die Ästhetik wiederfinden: Die Immunität der Klassik. 4 Vgl. zum Begriff ‚Sprechsituation‘ Hempfer: Gattungstheorie, S. 26 f. und S. 160–164.

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Gespielte Leiden: Krankheit im Drama

Gattungen verwendet wird.5 Das Fehlen einer narrativen Instanz stellt das Drama dann vor Herausforderungen, wenn ‚unsichtbare‘ Leiden dargestellt werden, da diese einzig durch Figurensprache und außersprachliche Zeichen wahrnehmbar gemacht werden können. Dies gilt vor allem für das ‚neue‘ psychologische und psychiatrische Wissen in der Zeit um 1800. Durch die Parallelität mehrerer Figurenperspektiven kann Krankheit im Drama als Phänomen von Selbst- und Fremdwahrnehmung thematisiert werden. Das Potential dieses Gattungswissens konnte bereits anhand der Theatermetaphorik in den psychomedizinischen Texten deutlich gemacht werden (siehe Kap. 2 und 3). Bei der Figurenkonzeption ist zu erwarten, dass die Entscheidung für die Gattung Komödie oder Tragödie die Art und Darstellung der Krankheit bestimmt. Während Krankheit in der Tragödie eher zum Leiden des Helden beiträgt, kennzeichnet sie in der Komödie eine Figur, über die gelacht wird. Als wichtiger Aspekt der komischen Wirkung ist die emotionale Distanz des Betrachters genannt worden, die ein Verlachen der Figur erst möglich macht.6 Krankheit in der Komödie muss demnach nichts Erhabenes haben, sondern vielmehr ein lächerliches Potential. Im achtzehnten Jahrhundert kommt es jedoch zu Versuchen, die Rolle des Merkmals ‚Lächerlichmachen‘ in den Komödiendefinitionen abzuschwächen oder ganz herauszunehmen, um Gattungen wie das rührende Lustspiel zu rechtfertigen.7 Auch Lessings Differenzierung von ‚Ver-lachen‘ und ‚Lachen‘ ermöglicht Veränderungen bei der Themenwahl der Komödie.8 Daher ist zu fragen, ob und wie sich diese Gattungsinnovationen auf Krankheitsdarstellungen auswirken, zum Beispiel, indem andere Krankheiten für die Stücke interessant werden. Die Tragödie kann im achtzehnten Jahrhundert innerhalb des literarischen Gattungssystems als so etwas wie eine ‚Leitgattung‘ bezeichnet werden, wobei insbesondere die aristotelischen Ausführungen über die Tragödie in seiner Poetik zentral

5 Vgl. Platon: Der Staat III, S. 199–205 (392c–394c); Aristoteles: Poetik, S. 19 f. (6). 6 Vgl. Walter Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy. The Discourse of Emotional Freedom. In: Frederic Burwick und ders. (Hg.): Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Berlin/New York 1990, S. 236. 7 Vgl. z. B. Christian Fürchtegott Gellert: Abhandlung für das rührende Lustspiel (Pro Comedia Commovente) übers. von Lessing. In: Theatralische Bibliothek. 1. Stück. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 3: Werke 1754–1757, hg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 272–279; Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele. Theatralische Bibliothek, 1. Stück. In: ders.: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 264–268. Auch Lenz’ Komödiendefinitionen in den Anmerkungen über das Theater (1774) oder der Recension des Neuen Menoza (1775) verzichten auf das Merkmal der Komik (vgl. Jakob Michael Reinhardt Lenz: Anmerkungen über das Theater. In: ders.: Werke und Schriften. Bd. 1, hg. von Britta Thiel und Helmut Haug. Stuttgart 1966, S. 329–362 und ders.: Recension des Neuen Menoza. In: Werke und Schriften, Bd. 1, S. 418 f.). 8 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 29. Stück. In: ders.: Werke und Briefe. Bd. 6: Werke 1767–1769, hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985, S. 323 f.

Gespielte Leiden: Krankheit im Drama

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für die Auseinandersetzungen mit der Gattung bleiben.9 Bereits in der Gattungsbestimmung der Tragödie liegt eine besondere Affinität zu extremen Leiden und Leidenschaften, so führt Aristoteles das Pathos – das schwere Leid – als wichtiges Element der Tragödienhandlung an.10 Auch Lessing sieht im Pathos ein notwendiges Merkmal der Tragödie11 und für Schiller ist es „die erste und unnachlaßliche Forderung an den tragischen Künstler“ 12. Durch die Darstellung der Leidenschaften ist in der Tragödie eine Nähe zu pathologischen Zuständen inhärent. In medizinischen und moralischen Diskursen des achtzehnten Jahrhunderts wird den Leidenschaften krankmachende Wirkung zugeschrieben oder sie werden selbst als Seelenkrankheiten aufgefasst.13 Krankheitsdarstellungen können zum Leiden des tragischen Helden beitragen und es intensivieren. Aristoteles’ Spezifizierung des Leids als „verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie zum Beispiel Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr“ 14, schließt Krankheiten zunächst nicht aus dem möglichen Themenarsenal der Tragödie aus. Tragödientheoretische Diskussionen über die Rolle der tragischen Figur beim Entstehen von Leid, dessen Bedeutung und die Handlungsfähigkeit des Helden lassen Krankheit als alleinige Ursache des Leidens der Hauptfigur hingegen als unwahrscheinlich erscheinen. Da Krankheitskonzepte um 1800 aus moralischen und magischen Zusammenhängen herausgelöst werden, implizieren sie für das tragische Geschehen eher Passivität und Erdulden. Krankheit ist demnach mehr als zusätzliches Leiden geeignet, an dem sich zum Beispiel die ‚Größe‘ der Figur zeigen lässt. So konzipiert Schiller das Handeln des tragischen Helden nicht als Tat, sondern als geistige Freiheit, durch die unausweichliches Leiden akzeptiert und somit überwunden wird.15 Auch die Konjunktur psychopathologischer Fragestellungen um 1800 wirft die Frage nach der tragischen Hauptfigur auf: Kann eine psychisch kranke Figur tragikfähig sein?

9 Vgl. Werner Frick: „La Querelle des anciens et des anciens“. Tragödienexperimente in der Ära der Weimarer Klassik. In: ders. (Hg.): Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Göttingen 2003, S. 218 f. 10 Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 37 (11). 11 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 38. Stück, S. 370. 12 Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992, S. 423 f. Vgl. zum Pathos-Primat in der Tragödie: Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888). München 2005, S. 45–48. 13 Vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 25–27 und zu Praktiken der Vorbeugung, S. 33 f. 14 Aristoteles: Poetik, S. 37 (11). 15 Vgl. Schiller: Über das Pathetische. In: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 423–451; ders.: Über das Erhabene. In: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 822–840 (bes. S. 836 f.). In Schillers klassischen Werken selbst, so eine gängige Forschungsmeinung, zeigt sich eine dem kranken Körper abgekämpfte geistige Anstrengung: vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 8 (insb. Fußnote 9).

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Gespielte Leiden: Krankheit im Drama

Diese Fragen zur Darstellung von Krankheit in dramatischen Texten und ihrer Inszenierung im Theater werden auf der Grundlage verschiedener Texte in den Blick genommen. Im Kapitel 5.1 Bühnenleiden wird zunächst anhand von Diskussionen über die körperliche Darstellung von seelischen Zuständen sowie der Frage nach körperlichen Schmerzen auf der Bühne (siehe Kap. 5.1.1) und Überlegungen zu Krankheiten von Schauspielern (siehe Kap. 5.1.2) performativen Funktionsweisen von Krankheitsdarstellungen in dramatischen Texten nachgegangen. In diesen Aspekten schlägt sich das wirkungsästhetische Paradigma nieder, nach dem dramatische Gattungen bis in die Zeit um 1800 ausgerichtet werden.16 Die Debatten um Körper und Krankheit auf der Bühne werden (überwiegend) anhand von tragischen Dramen geführt. Auch eventuelle Krankheitsdarstellungen in der Komödie müssen jedoch wirkungsästhetisch ausgerichtet sein. In einem zweiten Schritt soll nach Krankheit in der Komödie gefragt werden. Die Krankheit, die in der Komödie um 1800 thematisiert wird, ist die Hypochondrie, so dass sogar von einer eigenen Gattung ‚Hypochonderkomödie‘ gesprochen worden ist.17 Anhand dieser werden komödienspezifische Mittel zur Herstellung von Krankheit untersucht (siehe Kap. 5.2). Anschließend sollen anhand von Goethes Torquato Tasso (siehe Kap. 5.3) und Kleists Prinz Friedrich von Homburg (siehe Kap. 5.4) zwei ‚tragische‘ Darstellungen der pathologischen Wirkungen der Einbildungskraft untersucht werden, die diese Leiden in weitaus komplexeren Situationen verankern, als dies in der Komödie der Fall ist. Goethes Torquato Tasso greift die topische Verbindung von Wahnsinn und Dichter auf und verknüpft diese mit dem zeitgenössischen Thema der pathologischen Einbildungskraft. Mit Somnambulismus und animalischem Magnetismus funktionieren in Kleists Prinz Friedrich von Homburg viel diskutierte medizinisch-anthropologische Konzepte als Kontext. Beide Stücke wurden in zeitgenössischen Kritiken als ‚bühnenfern‘ oder ‚bühnenscheu‘ beschrieben, was – so die Argumentation hier – mit den ‚kranken‘ Hauptfiguren zusammenhängt, und somit Hinweise für die gattungsspezifische Darstellung von Krankheit liefern kann. Die Bezeichnung ‚Schauspiel‘ unterläuft die gängige Zuordnung zu den Gattungen Tragödie oder Komödie. Bis in die aktuelle Forschung hinein wird diskutiert, wie die beiden Stücke in dieser Frage zu positionieren sind. Insbesondere die als ‚offen‘ bis ‚positiv‘ gewerteten Enden haben zu der These geführt, die Stücke seien als Komödie oder zumindest komödienhaft zu bewerten.18 Dennoch 16 Vgl. zur Ablösung des wirkungsästhetischen Paradigmas um 1800: Szondi: Versuch über das Tragische. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1964, S. 97. 17 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 14. 18 Zur Gattungsdebatte bzgl. Goethes Tasso: Hartmut Reinhardt: Die kleine und die große Welt. Vom Schäferspiel zur kritischen Analyse der Moderne. Goethes dramatisches Werk. Würzburg 2008, S. 218. Reinhardt kommt zu dem Schluss, dass es keine Anhaltspunkte gibt, dass das Stück als Tragödie konzipiert ist. Die Offenheit des Schlusses betonen zum Beispiel Angelika Jacobs: Torquato Tasso: Goethes Antwort auf Rousseau. In: Ortrud Gutjahr und Harro Segeberg (Hg.): Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Würzburg 2001, S. 59 und Ehrhard Bahr: „Die ganze Kunst des höfischen Gewebes“. Goethes Torquato Tasso und seine Kritik an der Weimarer Hofklassik. In:

Bühnenleiden: Krankheit und Theater

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beinhalten beide Texte strukturelle und inhaltliche Merkmale, die sie an die Tragödie anschließen und gerade bei der Darstellung von Krankheit lassen sich Differenzen zu komödiantischen Behandlungen von Krankheit feststellen.

5.1 Bühnenleiden: Krankheit und Theater Durch die Ausrichtung auf eine spätere Aufführung kommt zusätzlich zu der Kommunikationsebene des dramatischen Textes eine theatralische Ebene hinzu, auf der Schauspieler und Publikum kommunizieren.19 Der Körper ist in schauspieltheoretischen Diskussionen der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, in der Schauspielkunst und Anthropologie eine enge Beziehung eingehen, sehr wichtig.20 Nicht nur die Figurenrede, sondern auch Mimik, Gestik und Körperhaltung sollen dazu beitragen, Affekte und Emotionen der dargestellten Figur sichtbar zu machen.21 Im Zeichensystem der eloquentia corporis wird der Körperausdruck des Schauspielers zu einem lesbaren Zeichen für Affekte, Emotionen und Leidenschaften. Das Innen der Figur soll an der Körperoberfläche des Schauspielers erkennbar werden. Der Schauspieler tritt dabei konsequent hinter die dargestellte Figur zurück,22 so dass der Zuschauer ihn nicht mehr als von der Figur getrennte Realität

William Donahue und Scott Denham (Hg.): History and Literature. Essays in Honor of Karl. S. Guthke. Tübingen 2000, S. 13. Dijk beurteilt das Ende positiv, Tasso sei ein „better man“ und mit seinem Feind Antonio versöhnt (Arjan van Dijk: Das Dämonische als moderne Rezeptionskategorie. Dargestellt an Egmont und Torquato Tasso. In: Neophilologus. 83 [3] [1999], S. 427). Japp bezeichnet Tassos Schicksal hingegen als tragisch (vgl. Uwe Japp: Das deutsche Künstlerdrama von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York 2004, S. 59). Zur Diskussion über die Gattungszuordnung beim Prinz von Homburg vgl. Rudolf Boehm: ‚Tragik‘ von Oidipus bis Faust. Würzburg 2001, S. 204; Franziska Ehinger: Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie. Studien zu Andreas Gryphius, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Friedrich Hebbel und Conrad Ferdinand Meyer. Würzburg 2009, S. 237; Günther Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a. M. 2011, S. 385. 19 Vgl. Bernd Hamacher: Aspekte der Dramenanalyse. In: Thomas Eicher und Volker Wiemann (Hg.): Arbeitsbuch Literaturwissenschaft. Paderborn 1996, S. 129 f. 20 Vgl. grundlegend die Untersuchung von Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, insb. S. 6 f. und die Aufsätze in Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des achtzehnten Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999; Giovanni Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 393–416; Ruedi Graf: Utopie und Theater. Physiognomik, Pathognomik, Mimik und die Reform von Schauspielkunst und Drama im 18. Jahrhundert. In: Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler (Hg.): Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Berlin/New York 1994, S. 17. 21 Vgl. Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 1 f. 22 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen. In: dies. und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999, S. 58.

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wahrnehmen soll. Dieser Vorgang kann als Verschwinden des „phänomenalen Leibs des Schauspielers in seinem semiotischen Körper“ 23 bezeichnet werden, der in rhetorischen Begriffen gesprochen, metonymisch auf die Leidenschaften und Affekte der Seele verweist.24 Die theoretischen Überlegungen zu einer psychologischen Schauspielkunst prägen auch die Dramenproduktion im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, wie Alexander Košenina in seiner Studie zur Anthropologie und Schauspielkunst anhand von Dramen von Lessing, Klinger, Gerstenberg, Kotzbue und Schiller aufgezeigt hat.25 Auch Rezensionen, in denen die Schauspieler für das Anzeigen bestimmter Affekte durch die Imitation natürlicher Körperzeichen gelobt werden, zeigen die Wirkungen dieser Überlegungen.26

5.1.1 „Ein Gemälde des Schmerzes“: Die Darstellung körperlicher Leiden auf der Bühne 1785 und 1786 veröffentlicht Johann Jakob Engel mit seinen Ideen zu einer Mimik den Versuch, diese Diskussionen praktisch fruchtbar zu machen. In der Mimik entwickelt Engel Regeln zur Verwendung mimischer und gestischer Zeichen, die es dem Schauspieler ermöglichen, seelische Zustände verständlich und vollkommen darzustellen.27 Engel geht von einem Abbildungs- und Zeichenverhältnis zwischen Körper und Seele aus, in dem alle Modifikationen der Seele ihren Ausdruck im Körper finden. Signifikant und Signifikat sind miteinander verbunden: Die Seele, so Engel, spreche durch Augen, Gesicht, Gebärden und Körperhaltung,28 das heißt von diesen äußeren Körperzeichen kann unmittelbar erschlossen werden, was „im Innern der Seele“ 29 geschieht. Der Körper fungiert als Medium, durch das die Seele wahrnehmbar wird, da ein unmittelbarer Zugang zu ihr nicht möglich ist. Er ist daher die einzige Möglichkeit, etwas über die Natur der Seele zu erfahren: Da wir sie unmittelbar nicht sehen können; so sollten wir um so fleissiger und aufmerksamer auf ihren Spiegel, oder noch besser, auf ihren Schleyer sehen, der fein und beweglich genug ist, um uns durch seine leichten Falten hindurch ihre Bildung errathen zu lassen.30

23 Vgl. Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, S. 38. 24 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 230 f. 25 Vgl. Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. 26 So z. B. die Sterbe-Darstellung von Lessings Sara Sampson: vgl. Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 117–151 sowie Rezensionen zu Ifflands Darstellung des Franz Moors in Schillers Räubern: vgl. Karl August Böttiger: Entwicklung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonat. Leipzig 1796, S. 290–329. 27 Vgl. Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und Erfahrung, S. 55. 28 Vgl. Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 64. 29 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 242. 30 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 24.

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Die Metaphern vom Körper als Spiegel und als Schleier der Seele heben zwei Aspekte des Seele-Körper-Verhältnisses hervor. Die Spiegelmetapher verweist auf den Aspekt der Abbildung: Der Spiegel impliziert eine genaue und naturgetreue Darstellung der Seele im Körper. Wer den Körper anschaut, sieht darin die Seele. Hier wird eine analoge Ähnlichkeit angedeutet, die so stark ist, dass die Abbildung das Urbild perfekt nachahmt. Diese Metapher verschweigt dabei die unterschiedliche Substanz von Seele und Körper, da die Möglichkeit eines Spiegelbildes Gleichartigkeit impliziert. Die Metapher des Schleiers31 deutet hingegen eine Struktur von Oberfläche und Tiefe an. Die Seele ist hinter dem Körper verborgen, aber in seinem Faltenwurf dennoch erkennbar. Der Körper ist somit zum einem dasjenige, was die Seele verdeckt, und zum anderen das Medium, durch das sie sich ausdrückt und interpretierbar wird. Die Schleiermetapher ruft zugleich eine Art „Programmatik des Geheimnisses“ 32 auf: Hinter den Falten des (körperlichen) Schleiers lässt sich der ‚eigentliche‘ Ausdruck der Seele erahnen. Paradoxerweise wird das Innen nur am Außen erkennbar, obwohl es zugleich immer unsichtbar bleibt.33 Das Verhältnis von Körper und Seele kann außer Kontrolle geraten und schädlich wirken. Die Störung geht entweder von der Seele aus, wenn sie nur noch undeutliche Ideen produziert und dem Körper dadurch falsche oder ambivalente Anweisungen gibt, oder vom Körper, der sich verselbständigt und gegen die Absichten der Seele arbeitet. In beiden Fällen geht das gemeinsame Ziel der „Selbsterhaltung“ 34 verloren. Wie in den medizinisch-psychologischen Texten zur Seele konstruiert auch Engel diese analog zum Körper. So vergleicht er das Aufeinanderfolgen und die Verbindung von Ideen in der Seele mit dem Puls: So wie der Arzt, wenn er den Zustand des Körpers erforschen will, nicht bloß auf Schnelligkeit oder Trägheit, auch auf Härte oder Weichheit, Fülle oder Schwäche, Gleichheit oder Ungleichheit des Pulses merkt; eben so muß der Psycholog, wenn er den Zustand der Seele schätzen will, nicht bloß auf eins oder das andre, er muß durchaus auf alles merken, was jenen körperlichen Beschaffenheiten der Seele, in dem Forttriebe ihrer Ideen, analog ist.35

Engel beansprucht die im Kapitel Fallleiden als Grundlage der Gattung Fallgeschichte identifizierte ärztliche Beobachtung, die jede Kleinigkeit registriert, für die Erforschung der Seele. Die Seele wird naturalisiert und erhält selbst mechanische Züge. Körper und Seele figurieren in ihrer Verbindung als datenverarbeitender Maschinen-Raum, der jedoch unter dem Eindruck zu heftiger Affekte und Leidenschaften ins Stocken geraten kann.

31 Vgl. zum Schleier als Metapher: Johannes Endres, Barbara Wittmann und Gerhard Wolf (Hg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. Paderborn/München 2005. 32 Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 253. 33 Vgl. Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers, S. 393. 34 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 218. 35 Engel: Ideen zu einer Mimik. 2. Teil, S. 237 f.

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Engel konstruiert ein kompliziertes System verschiedener Zustände der menschlichen Seele.36 Er differenziert zwischen Zuständen, die entweder mit dem Herzen oder dem Kopf im Zusammenhang stehen, und unterteilt diese in immer weitere, polar aufgebaute Stufen. Die beiden ‚unangenehmen Affekte‘ ‚Leiden‘ und ‚Schwermut‘ kommen dabei einer Krankheit am nächsten: Leiden ist ein unruhiger, thätiger Affekt, der sich durch Spannung der Muskeln äussert; es ist innerer Kampf der Seele gegen die schmerzhafte Empfindung, inneres Bestreben sie zu überwinden und ihrer los zu werden. Schwermuth dagegen ist matt, unthätig, schlaff; sie ist völlige Abspannung der Kräfte, völliges ruhiges Hingeben, ohne Widerstand weder gegen die Ursache, noch gegen die Empfindung des Uebels.37

Der im Zusammenhang mit dem Affekt ‚Leiden‘ erwähnte Schmerz ist als psychischer Schmerz zu denken und auch die Ursache ist psychischer Natur. Dennoch drückt sich das Leiden im gesamten Körper aus, der durch diesen Affekt in einen gespannten, verkrampften und zuckenden Zustand versetzt wird: Die Augenbraunen ziehen ihre inneren Spitzen gegen die Mitte der gekräusten Stirne hinauf, dem empörten angestrengten Gehirn gleichsam entgegen; in allen Gesichtsmuskeln ist Bewegung und Spannung; in den Augen viel, aber zitterndes unstättes Licht; die Brust hebt sich schneller und höher; der Gang tritt stärker und gewichtiger auf; der ganze Körper dehnt und reckt und verdreht sich, als ob er einem allgemeinen Krampf widerstünde; das zurückgebogene Haupt wendet sich seitwärts, den flehenden Blick gen Himmel richtend; die Achseln werden in die Höhe gezuckt […]; − alle Muskeln der Arme und Füße sind straff; die Hände, die mit Macht ineinander greifen, werden gebrochen, oft auch mit in einander geschobenen Fingern verwandt und vorne vom Körper weg oder gerade niedergekehrt. – Wenn die Thräne hervorbricht; so ist es nicht mehr die einzelne, voll, gedrängte Thräne, die oft dem unbefriedigten Zorn über die Wange zittert; nicht die stille, leise, die dem Schwermüthigen, wie von selbst aus überfüllten und erschlafften Gefäßen entrinnt: es ist ein Strom, der den Drüsen, unter sichtbarer Erschütterung des ganzen Körpers und convulsivischen Zuckungen aller Gesichtsmuskeln, entpreßt wird.38

Die Seele ‚bildet‘ sich regelrecht in den Körper ‚ein‘ und artikuliert sich in seinen Falten und Bewegungen: Die Augenbrauen ziehen sich zu dem angestrengten Gehirn hin und der gesamte Körper wird von Zuckungen erschüttert. Die Bewegungen und die Rastlosigkeit des Leidenden erinnern an einen Kranken, der seinen körperlichen Schmerzen nicht entkommen kann: Der Leidende ist wie ein Kranker, der in jeder Lage Schmerzen und Unbehaglichkeit fühlt, immer eine bequemere sucht, sie mit allem Herumwerfen nicht findet und immer sucht und

36 Vgl. dazu das Übersichtsdiagramm in Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Bd. 2. Tübingen 1983, S. 165. 37 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 290 f. 38 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 298–300.

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sich immer herumwirft. Steigt das Leiden bis zur Verzweiflung; so werden diese ängstlichunordentlichen Bewegungen gewaltsam: der Mensch wirft sich zur Erde nieder, wälzt sich im Staube, rauft sich das Haar aus, verwundet sich Stirne und Busen.39

Das seelische Leiden wird schließlich durch die Verletzung des eigenen Körpers in körperliche Schmerzen abgeleitet. Die Seele scheint unter dem Eindruck ihres Leidens zu kollabieren und die Zusammenarbeit mit dem Körper wird durch die autoaggressive Verstümmelung zerstört. Das Zufügen von Verletzungen ist direkter Ausdruck der leidenden Seele, denn sie versucht dadurch, die physischen Wirkungen des unangenehmen Affekts auszuschalten: Dieses […] ist aus dem Umstande klar: daß der Angrif vorzüglich auf Haupt, Stirne, Busen, Wangen, Seiten, also gerade auf diejenigen Theile geschieht, in welcher das Blut bey den Leidenschaften am meisten stürmt und die Nerven am gewaltsamsten erschüttert werden. Die Seele, scheint es, will dem innren Aufruhr des Blutes Luft machen: und wenn sie auch dieses zu rasch, zu ungestüm thut, wenn auch ihr Bestreben nach Erleichterung einen anderweitigen lebhaften Schmerz hervorbringt: so ist doch dieser Schmerz eben dadurch wohlthätig, daß er auf eine Weile die Aufmerksamkeit von dem jetzt am meisten verabscheuten Uebel abzieht und sie auf ein anderes verschiedenartiges heftet.40

Die Figuren von „Bewegung“ und „Aufruhr“ 41, „Stürmen“ und „Erschütterung“ beschreiben körperliche Vorgänge, die durch die leidende Seele erzeugt werden und unangenehm und schmerzhaft sind. Die Selbstverletzung ermöglicht es, wie in den Texten von Spieß und Hoffmann, dass diese Empfindungen quasi von innen nach außen abgeleitet werden. Die Vorstellung von der Abführung des ‚Schädlichen‘ aus dem Körper erinnert an das humoralpathologische Menschenbild. Der neue, rein körperliche Schmerz ist dabei paradoxerweise zunächst angenehm, da er den seelischen ersetzt und in körperlichen Schmerz umwandelt. Seelische und körperliche Schmerzen können zwar nicht gleichzeitig empfunden werden, dennoch verweist das körperliche Leiden, das Engel in seiner Mimik beschreibt, immer auf eine leidende Seele, die ihre Schmerzen in den Körper gleichsam einprägt, -ritzt oder -fügt. Bei der Darstellung originär körperlicher Leiden geht ein solches Verweis- und Bezeichnungsverhältnis von dem Körper auf die Seele verloren. Symptome körperlichen Leidens, die ihre Ursachen im Soma selbst haben, verweisen nur auf den Körper selbst und auf keine seelische Dimension. Für das Drama um 1800 mit seinen spezifischen Wirkungszielen ist das uninteressant. Der berühmteste leidende Körper in der europäischen Dramengeschichte ist der des Philoktet in Sophokles gleichnamigen Theaterstück (409 v. Christus). Im

39 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 300 f. 40 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 302 f. 41 Vgl. zur Verwendung mechanischer Konzepte in ästhetischen Theorien des achtzehnten Jahrhunderts Caroline Torra-Mattenklott: Die Seele als Zuschauerin, S. 91–108; dies.: Metaphorologie der Rührung.

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Rahmen der durch Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, ausgelösten Laokoon-Debatte42 entzündete sich an diesem Text in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine Auseinandersetzung zwischen Lessing und Herder, in der die Art der Schmerzdarstellung im Drama diskutiert und mit gattungs- und medientheoretischen sowie wirkungsästhetischen Fragestellungen verknüpft wird. Zentraler Punkt dieser Debatte ist die Wirkung der schauspielerischen Darstellung von physischen Schmerzen auf den Zuschauer. Die Figuration körperlicher Schmerzen im Drama wird somit eng mit den Aspekten der Performanz und der Medienwirkung verbunden. Die Illusion des Zuschauers ist ein zentrales Ziel des Theaters im achtzehnten Jahrhundert,43 wobei das überwiegend für die Tragödie und nicht die Komödie gilt.44 So schreibt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie: Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. […] Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegen zu setzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.45

42 Vgl. zur Laokoon-Debatte: David E. Wellbery: Lessings Laocoon. Semiotics and aesthetics in the age of reason. Cambridge 1984; Eva M. Knodt: „Negative Philosophie“ und dialogische Kritik: zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder. Tübingen 1988; Simon Richter: Laoccon’s Body and the Aesthetics of Pain. Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe. Detroit 1992; Monika Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“ ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim 2005; Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 86 f. und S. 250 f. Nach der ästhetischen Leidenstoleranz fragt auch Marie-Christin Wilms am Beispiel von Lessings Laokoon und von poetologischen Überlegungen von Lenz. Wilms arbeitet dabei heraus, wie Lessing Leidensdarstellungen mit der Erzeugung von Mitleid rechtfertigt. Lenz hingegen fordere eine Maximierung des dargestellten Leidens, die zur Reflexion des eigenen Leidens werden könne (vgl. Marie-Christin Wilms: Laokoons Leiden. Oder über die Grenze ästhetischer Erfahrung bei Winckelmann, Lessing und Lenz. In: Sonderforschungsbereich 626 [Hg.]: Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006). Vgl. zum Wechselverhältnis medizinischer und kunsthistorischer Forschungen in Winckelmanns ästhetischen Überlegungen: Elisabeth Décultot: Winckelmanns Medizinstudien. Zur Wechselwirkung von kunstgeschichtlichen und medizinischen Forschungen. In: Heidi Eisenhut, Anett Lütteken und Carsten Zelle (Hg.): Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert. Göttingen 2011, S. 108–130. 43 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 182. Zur Diskussion von ‚Illusion‘ als Wirkungsund Rezeptionsweise vgl. Marian Hobson: The Object of Art. The Theory of Illusion in EigtheenthCentury France. Cambridge 1983 sowie die Aufsätze in Frederic Burwick und Walter Pape (Hg.): Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Berlin/New York 1990; Burwick: Illusion and the Drama, dabei speziell zur Diskussion zwischen Nicolai, Mendelssohn und Lessing, S. 81– 126; Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 101–117. 44 Vgl. Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy, S. 230. 45 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 42. St., S. 392.

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Das Theater erscheint hier als ‚Simulationsmedium‘46, durch das die „Wirklichkeit“ so täuschend nachgeahmt wird, dass der Zuschauer für die Zeitdauer der Aufführung illudiert wird und das Dargestellte für real hält. Der Schauspieler ist dabei (zumindest in der Theorie) wichtiger Agent dieser Illusion, indem er durch das psychologisch-realistische Spiel gewissermaßen seine eigene Medialität Vergessen macht. Die Wirkung der Tragödie beruht also auf einer „Rezeptionsweise[ ] der Täuschung“ 47. Martin Andree unterscheidet in seiner Archäologie der Medienwirkung fünf Programme, mit denen der Eindruck von Selbstüberschreitung von Medialität erzeugt wird.48 In Bezug auf das Theater im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert kann von einer Verknüpfung der Programme ‚Ähnlichkeit‘ und ‚Unmittelbarkeit‘ gesprochen werden.49 Der Schauspieler ahmt das Dazustellende so realistisch nach, dass der Zuschauer die Vermittlung durch den Schauspieler vergisst, und durch die körperliche Präsenz des Schauspielers wirkt das Dargestellte unmittelbar auf den Zuschauer. Die Programmatik der ‚Ähnlichkeit‘ wird auch in der in den schauspieltheoretischen Diskussionen verwendeten Bildmetaphorik erkennbar. Das Bild kann nach Andree im Rückgriff auf Blumenberg als „fundamentale Metapher, welche der Programmatik der Ähnlichkeit vorausgeht“ 50 bezeichnet werden: „Seit der griechischen Antike ist das Bild das Medium der Ähnlichkeit schlechthin.“ 51 Lessing bezeichnet die Schauspielerei als „lebendige[ ] Malerei“ 52 und Herder spricht in Bezug auf den Philoktet von einem „Gemälde des Schmerzes“ 53. Die Bildmetaphorik bringt zum einen die oben angesprochenen Aspekte der ‚Ähnlichkeit‘ und ‚Simulation‘ zum Ausdruck und zum anderen die besondere Medialität der Theatersituation, welche die Gattung Drama von narrativen Gattungen unterscheidet. Die Aufführung des Dramas geht mit der unmittelbaren Präsenz des Schauspielers einher und eine vermittelnde, narrative Instanz fehlt. Lessing statuiert im Laokoon für die narrative Dichtung ein Wirken in der Zeit und für die bildende Kunst im Raum. Für die bildende Kunst hält Lessing, wie er am Beispiel der Laokoongruppe ausführt, eine abgeschwächte Schmerzdarstellung für angemessen, welche die Tätigkeit der Einbildungskraft noch weiter anregt, während der erzählende Dichter seine Helden vor Schmerzen schreien lassen kann, da es ein

46 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 35. 47 Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 33 48 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 25. 49 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 370. 50 Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 63 (zu Blumenbergs Konzept der „fundamentalen Metapher“ siehe die Angaben in Fußnote 168 bei Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 63). 51 Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 63. 52 Lessing: Laokoon, S. 36. 53 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen. In: ders.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993, S. 72.

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erzählerisch-vermittelter Schmerz ist. Die dramatische Dichtung unterscheidet sich aber eben gerade dadurch, dass nicht von „jemands Geschrei“ erzählt wird, sondern „das Geschrei selbst“ dargestellt und damit unmittelbar wahrnehmbar wird: Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deswegen sich an die Gesetze der materiellen Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir nicht bloß einen schreienden Philoktet zu sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien.54

Trotz der performativen Anschaulichkeit plädiert Lessing jedoch für einen schreienden Philoktet, denn das stoische Ertragen der Schmerzen sei untheatralisch und löse zwar Bewunderung aber nicht Mitleid beim Zuschauer aus.55 Für die Darstellung von körperlichen Leiden im Drama, insbesondere in der Tragödie, ist demnach die Frage zentral, wie die Gattung Tragödie im Medium Theater wirkt. Herder rückt diese Frage in seiner Auseinandersetzung mit Winckelmanns und Lessings Philoktet-Erörterungen in seinem Ersten Wäldchen mittels einer fiktiven Publikumssituation in das Zentrum seiner Argumentation. Er fingiert eine unmittelbare Zuschauerperspektive: „Lasset uns lesen, als ob wir sähen, und ich glaube, wir werden den nämlichen Philoktet gewahr werden, den Sophokles schuf, und Winckelmann anführt, wie er geschaffen ist.“ 56 Die ursprüngliche athenische Theatersituation wird, mit dem Ziel, den originären unmittelbaren Eindruck des Stücks zu erneuern, fiktiv wiederholt. Dadurch wird die Aufführung als Merkmal des Dramas in den Mittelpunkt gerückt. Anders als Lessing schließt sich Herder an Winckelmanns Position einer ‚gedämpften‘ Schmerzdarstellung an und lehnt den Schrei als Ausdrucksmöglichkeit körperlicher Schmerzen auf der Bühne ab.57 Im Zentrum von Herders Überlegungen steht die Sympathie, die beim Zuschauer des Trauerspiels erzeugt werden soll. In der zeitgenössischen Medizin bezeichnet Sympathie das Phänomen, das ein oder mehrere Organe von der Erkrankung eines anderen Organs mitbetroffen sind, obwohl sie räumlich entfernt davon lie-

54 Lessing: Laokoon, S. 36. 55 Vgl. Lessing: Laokoon, S. 21. Lessing führt das Mitleid gegenüber der Bewunderung als bevorzugtes Wirkungsziel der Tragödie in seinem Briefwechsel mit Mendelssohn ins Feld (vgl. HansJürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, S. 34–45). 56 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 69. Auch Wilms verweist auf die Bedeutung der gattungsspezifischen Leidensdarstellung und -toleranz in der Laokoon-Debatte, geht aber auf Herders Auseinandersetzung nur am Rande ein und rückt anhand von Lenz’ ‚Poetik des Leidens‘ allgemeine Fragen der ästhetischen Wahrnehmung von Leiden in den Mittelpunkt (vgl. Wilms: Laokoons Leiden, S. 19). 57 Singer weist auf Herders veränderte Philoktet-Interpretation in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache hin, die hier nicht thematisiert werden kann (vgl. Rüdiger Singer: Das Brüllen des Philoktet. Herders kathartische Poetik der unartikulierten Töne. In: Herder Jahrbuch 8 [2006], S. 72 f.).

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gen.58 Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert wird das Konzept auch auf seelische Vorgänge ausgeweitet. Im animalischen Magnetismus kann die Seele beispielsweise die körperlichen Grenzen des Individuums sowohl räumlich als auch zeitlich überschreiten und mit anderen Seelen in Verbindung treten oder in die Vergangenheit und Zukunft sehen. Die medizinische Lehre der Sympathie geht auf Paracelsus zurück und transportiert noch in der Aufklärung alte magische Wissenskonzepte mit, die Phänomene erklären, deren Ursachen und Wirkungsweisen nicht erkennbar sind. Im achtzehnten Jahrhundert wurden die Nerven oder Nervenfluida sowohl im organisch-körperlichen Bereich als auch im den Körper transzendierenden Bereich inter-seelischer Wirkungen zu Medien der Sympathiewirkung. ‚Sympathie‘ fungiert in allen skizzierten Bedeutungszusammenhängen als Figur der Übertragung, die eine unsichtbare Wirkung zwischen zwei (körperlichen oder seelischen) räumlich getrennten Entitäten beschreibt.59 Als wirkungsästhetische Kategorie impliziert die Sympathie also nicht nur ein moralisches und empathisches Mitleid, sondern eine tatsächliches ‚Mit-Leiden‘, indem seelische Nöte, Affekte und Emotionen derart mitgefühlt werden, dass sie sich in körperlichen Reaktionen wie Zittern, Weinen oder Ohnmacht äußern.60 Die Illusion, die durch das Schauspiel hervorgerufen wird, hat somit auch eine körperliche Dimension, was zu der Frage führt, welche Art der Sympathie die schauspielerische Darstellung körperlicher Schmerzen hervorrufen kann. Dieser Aspekt kommt in der Figur der ‚Ansteckung‘, mit der die Wirkung des Schauspielers auf den Zuschauer beschrieben wird, deutlich zu Tage. Engel beschreibt in der Mimik die Wirkung der dramatischen Illusion anhand der Figur des Theaterneulings61, der von einem Besucher mit mehr Theatererfahrung verwundert beobachtet wird: Alle Minen des Akteurs, sogar manche ihrer Bewegungen, ahmt der so ganz illudirte Zuschauer, wenn gleich schwächer, nach: ohne daß er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er

58 Vgl. zur Sympathie: Schott: Der sympathetische Arzt, S. 24–28. 59 Das Konzept der ‚Sympathie‘ ist mit der ‚Ansteckung‘ eng verwandt (vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 66 f.). 60 Vgl. die Rezeptionsdokumente, die Fischer-Lichte in ihrem Aufsatz Der Körper als Zeichen und Erfahrung (S. 67 f.) zitiert und den berühmten Augenzeugenbericht von der Uraufführung der Räuber: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten einer Ohnmacht nahe zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebel eine neue Schöpfung hervorbricht.“ (zitiert nach Anton Pichler: Chronik des Großherzoglichen Hof- und National-Theaters in Mannheim. Zur Feier seines hundertjährigen Bestehens am 7. October. Mannheim 1879, S. 67 f.) Der Bericht nimmt unabhängig von der Frage seiner Authentizität die Idee einer unmittelbaren körperlichen Reaktion auf die Darstellung auf (vgl. zur Frage der Authentizität: Otto Schmidt: Die Uraufführung der „Räuber“ – ein theatergeschichtliches Ereignis. In: Herbert Stubenrauch und Günter Schulz [Hg.]: Schillers Räuber. Mannheim 1959, S. 151). 61 „In dramatic practice and theory, however, the ‚unlearned‘ spectator […] traditionally is used as a device to illustrate the particular kind of illusion.“ (Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy, S. 232)

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ernsthaft mit dem Ernsthaften, fröhlich mit dem Fröhlichen: sein ganzes Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruß, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung getreu zurückwirft.62

Der Zuschauer spiegelt die Körpersprache und Mimik und damit die Affekte des Schauspielers, was Engel als das „Ansteckende [des] Gebärdenspielers“ 63 beschreibt. Das überzeugende mimisch-gestische Schauspiel macht die sprachliche Vermittlung der dargestellten Affekte fast überflüssig, denn der Zuschauer empfindet dieselben Affekte, ohne dass er noch wahrnehmen kann, was gesprochen wird. Die körperliche Anwesenheit des Schauspielers ermöglicht die ansteckende Wirkung des Schauspiels.64 Die Verbindung zwischen dem Körper des Schauspielers und dem des Zuschauers ist so unmittelbar und direkt, dass die sprachliche Vermittlung wegfallen kann.65 Die „nachahmende Malerey“ 66 des Theaterneulings wird nur unterbrochen, wenn eigene Empfindungen die Illusion durchkreuzen und die durch den Schauspieler erzeugten Empfindungen als fremd erkennbar werden. Engel entwirft hier ein bipolares Modell von Illusion als mediale Wirkungsweise: „Illusion will be applied to only one pole of the experience which will never be contaminated by an awareness that art is art.”67 Die Illusion des unerfahrenen Theaterbesuchers wird nicht durchbrochen, weil er sich des Kunstcharakters des Dargestellten bewusst wird, sondern weil das eigene Ich-Bewusstsein die Irrealität des Bühnengeschehens erkennbar werden lässt. Die Figur des Theaterneulings impliziert jedoch auch, dass der erfahren Theaterbesucher die Darstellung im Theater anders empfindet und eine Art Bewusstsein für die Spezifika der ästhetischen Illusion entwickelt hat. Was bedeutet die sympathetische Verbindung zwischen Schauspieler und Zuschauer, die so weit gehen kann, dass der Zuschauer sich beim Schauspieler ‚ansteckt‘, jedoch für die Darstellung von körperlichen Leiden? Um den Eindruck körperlicher Schmerzen beim Zuschauer zu erwecken, eignen sich – das zählen sowohl Lessing als auch Herder auf – Geschrei, Tränen und Zuckungen;68 ein Re-

62 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 87. 63 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 88. 64 Vgl. Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, S. 37. In jüngerer Zeit haben Giacomo Rizoletti und Corrado Sinigaglia ein Spiegel-Prinzip als biologische Grundlage des Mitgefühls mit Emotionen formuliert: Empathie und Spiegelneuronen. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M. 2009. 65 Interessanterweise sieht Engel in dem „Ansteckende[n] des Gebärdenspiels“ insbesondere für den Komödienschauspieler Potential, der es für die Erzeugung von Komik nutzbar machen soll (vgl. Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 88), während die dramatischen Illusionsmodelle meistens auf die Tragödie bezogen sind. 66 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 87. 67 Hobson: The Object of Art, S. 43. 68 Vgl. Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 101.

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pertoire, das Engels Aufzählung von Zeichen des Affekts ‚Leiden‘ entspricht. Durch diese Mittel lasse sich die Idee des körperlichen Schmerzes in die Zuschauer „einpflanzen“ 69. Die Pflanzenmetapher verdeutlicht noch einmal die Art der Wirkung, die vom Schauspiel erwartet wird: Die dargestellte Idee soll unmittelbar auch im Zuschauer entstehen. Art und Ort der Wirkung beim Zuschauer entsprechen dabei denen der dargestellten Leiden der Dramenfigur. Bei dem Zuschauer wird das gleiche Leiden erzeugt, das er am Körper des Schauspielers ablesen kann. Das heißt jedoch, dass er mit körperlichen Schmerzen nur körperlich sympathisieren kann. Herder beschreibt aus seiner fiktiven Beobachterposition: Meine Fibern kommen durch die Theilnehmung in eine ähnliche Spannung des Schmerzes, ich leide körperlich mit. Und wäre dieß Mitleid angenehm? Nichts weniger, das Zetergeschrei, die Zuckung fährt mir durch alle Glieder, ich fühle sie selbst; die nämlichen konvulsivischen Bewegungen melden sich bei mir, wie bei einer gleichgespannten Saite. Ob der in Zuckung liegende, winselnde Mann Philoktet sey, geht mich nicht an, er ist ein Thier, wie ich, er ist ein Mensch: der menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäude, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen röchelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das wie ich fühlet.70

Die sympathetische Verbindung zwischen Schauspieler und Zuschauer wird durch die Saitenmetapher ausgedrückt: obwohl sie sich nicht berühren, geraten sie in dieselben Schwingungen. Das körperliche ‚Mit-Leiden‘ kann jedoch nicht angenehm sein und reduziert die Beteiligten auf ihre ‚tierische Natur‘. Das Ansehen und Erkennen rein körperlicher Schmerzen führt nicht dazu, dass der Zuschauer Mitleid empfindet. Hier wird eine Zweiteilung des Menschen in Körper und Seele impliziert und mit den Attributen der um 1800 prominenten Debatte um das Verhältnis des Tierischen und des Geistigen im Menschen verbunden.71 Die Darstellung von körperlichem Schmerzen spricht ausschließlich den Körper und damit nur die ‚tierische Natur‘ des Zuschauers an. Der Schmerz des dargestellten Körpers überträgt sich aufgrund der „Ko-Präsenz“ 72 von Zuschauer und Schauspieler im Theaterraum in einer Art ‚Ansteckung‘73 auf den Körper des Zuschauers und wird auch in diesem

69 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 101. 70 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 101. 71 Auch Schiller wird später bestimmte Affekte aus der Tragödie ausschließen, „die den Sinn bloß quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu entschädigen“, da sie die tierische und nicht die geistige Natur des Menschen darstellen und ansprechen: „Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier, kein leidender Mensch mehr.“ (Schiller: Über das Pathetische, S. 428) 72 Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, S. 37. 73 Vgl. zur ‚Ansteckung‘ als ästhetisches Prinzip: Mirjam Schaub, Nicola Suthor und Erika FischerLichte (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005; Cornelia Zumbusch: Darstellung des Unbekannten. Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation. In: Johannes Ulrich Schneider (Hg.) Kulturen des Wissens. Berlin 2008, S. 577–584 und dies.: Die Immunität der Klassik, S. 11.

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erzeugt. Die Interaktion, die im Rahmen der Theatersituation zwischen dem dramatischen Text, den Schauspielern und den Zuschauer entsteht, kann somit selbst als Ansteckungsprozess gefasst werden. ‚Ansteckung‘ ist in der jüngeren Forschung als Begriff, der bestimmte Prozesse ästhetischer Wirkungen beschreiben kann, in den Blick gerückt worden. Dabei ist die Bedeutung des Ansteckungsbegriffs in den dramen- und theatertheoretischen Diskussionen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts betont worden.74 Während bestimmte Ansteckungsphänomene im Theater eben gerade gewollt sind, schließt Herder die Darstellung körperlicher Leiden als Thema der Tragödie aus, da ihre ansteckende Wirkung den Wirkungsintentionen der Gattung widerspricht. Wenn von der Darstellung des körperlichen Schmerzes keine ansteckende Wirkung ausgeht, das heißt die Illusion gelingt nicht und der Zuschauer wird sich der Täuschung bewusst, erzeugt die Darstellung nach Herder beim Zuschauer ‚Ekel‘, was er ebenfalls als mögliche Wirkungskategorie des Dramas ausschließt. Herder bezieht sich hier auf Mendelssohn, der in seinen Briefen, die neueste Literatur betreffend, Themen, deren Darstellung Ekel hervorrufen, als ungeeignet für das Trauerspiel erklärt hatte (siehe Kap. 3.1.2). Der Ekel „mißfällt nicht nur auf der Schaubühne, sondern auch in Beschreibungen und poetischen Schilderungen, und kann niemals die Quelle des Erhabenen abgeben“ 75. Wie im Kapitel Fallleiden bereits angesprochen, begründet Mendelssohn dies jedoch anders als Herder gerade damit, dass die ästhetische Täuschung beim Empfinden von Ekel nicht durchschaut werden könne, da ausschließlich die Einbildungskraft affiziert werde.76 Im Kontext seiner sinnesphysiologischen Ästhetik, die Herder in der Plastik entwickelt, schließt er aus dem Bereich der bildenden Kunst alle Phänomene aus, welche die glatte Haut durchbrechen und zählt dazu auch „Adern an den Händen, die Knorpel an den Fingern, die Knöchel an den Knien usw.“, da diese bereits nicht mehr „zu dem Einen, ganzen, gesunden Stücke des Körpers gehören“, sondern „die völlig Zerstörung des Körpers weissagen“ 77. Damit gehören sie für Herder nicht in den Bereich der Kunst, die „einen gesunden Menschlichen Körper bilden will“ 78. Ebenso wie für die Tragödie schließt Herder drastische körperliche Leiden aus der bildenden Kunst aus:

74 Vgl. Mirjam Schaub und Nicola Suthor: Einleitung. In: dies. und Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München 2005, S. 9–21; zur Diskussion im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert insb. Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, S. 36– 42. 75 Mendelssohn: Briefe die neueste Literatur betreffend. (1759–1765). 83. Brief, S. 133. 76 Vgl. Mendelssohn: Briefe die neueste Literatur betreffend. (1759–1765). 82. Brief, S. 131 f. 77 Herder: Plastik (1770), S. 434. Wie ein Gegenstück zu Herders Anforderung an den ‚schönen‘ Körper klingt Bachtins Definition des grotesken Körpers als alles, „was aus dem Körper herausragt oder herausstrebt, was die Grenzen des Leibes überschreiten will“ (Michaeil M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990, S. 16). 78 Herder: Plastik (1770), S. 434.

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Der verwesende Leichnam, der zerschellete, zerquetschte Hippolytus, wie er bei Euripides auf der Bühne erscheint, der zerfleichte Itys, ein ungestalter, mißwachsner, scheußlicher Körper, ein Wütender in alle Verzerrunen des Affekts, ein Philoktet in allen Zuckungen seiner Krankheit, ein Sterbender in seinem Todeskampf – scheußliche Gegenstände für die bildende Kunst.79

Wie in den Kritischen Wäldern führt Herder hier die Sympathie als Grund für diesen Ausschluss an: „Im ersten fühlbaren Tasten vergißts Künstler und Nachahmung; was es fühlt, ist nur Schmerz der Sympathie.“ 80 Diese Sympathie ist unangenehm, weil sie den Menschen seine eigene Unvollkommenheit und drohende körperliche Zerstörung fühlen lässt: Wie? wenn die tastende Hand in ihrer Dunkelheit auf solche Mißbildungen stößt, und einen Körper langsam durchfühlet, um an ihm nichts als Zerstörung, und Zuckung, und Verzerrung, und Mißbildung, und Unvollkommenheit zu empfinden; grausame Kunst! gebildete Unnatur! Statt Spuren der Vollkommenheit in schönen Gestalten zu empfinden, komme ich langsam auf Brechungen des Körpers, die auch meine Gefühlsnerven brechen, die mir einen ähnlichen widrigen Schauder durch die Glieder jagen, die mich meine Zerstörung innerlich ahnden lassen.81

Der körperliche Schmerz kann bei Herder kein ästhetisches Vergnügen bereiten, selbst wenn er als fiktiver erkannt wird. Anders hebt Aristoteles in seiner Poetik den Unterschied zwischen der Wirkung von realen und künstlerisch nachgeahmten ‚unangenehmen‘ Dingen hervor: „Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, zum Beispiel Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.“ 82 Auf diese Spezifik der ästhetischen Illusion geht Herder in seinen Überlegungen zum körperlichen Schmerz im Trauerspiel im Ersten Wäldchen nicht ein. In der Plastik bezweifelt er dieses Vergnügen an „häßliche[n] Vorstellungen in der Kunst“ 83, weil das Gefühl, das er als primären ästhetischen Sinn fasst, zu einer solcher Reflexion nachgeahmter Hässlichkeit nicht geeignet sei, sondern stattdessen eine sympathetische Wirkungsweise auftrete. Es sind also Phänomene der Sympathie und Ansteckung, welche die Krankheits- und Schmerzdarstellung für Herder begrenzen. Die plastische Darstellung körperlicher Schmerzen, unter welche die theatrale Inszenierung ebenfalls zu fassen ist, kann, nach Herder, nur grauenvolle Schmer-

79 Herder: Plastik (1770), S. 443. 80 Herder: Plastik (1770), S. 442 f. 81 Herder: Plastik (1770), S. 443 f. 82 Aristoteles: Poetik, S. 11 (4); vgl. dazu auch Thomas Pekar: Zur Funktion des Schmerzes in Lessings Laokoon. In: Yoshihiko Hirano und Christine Ivanović (Hg.): Kulturfaktor Schmerz. Internationales Kolloquium in Tokyo Würzburg 2005, S. 31. 83 Herder: Plastik (1770). In: Werke, Bd. II, S. 442.

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zen oder das Gefühl von Ekel beim Zuschauer erzeugen.84 Herder folgert daraus, dass der Schmerz niemals die Hauptidee des Trauerspiels sein kann und Philoktet in Sophokles Stück nicht schreit. Stattdessen rückt er Techniken in den Blickpunkt, mit denen in Sophokles’ Drama ein seelisches Mitleiden bei den Zuschauern erzeugt wird. Bevor das körperliche Leiden auf der Bühne dargestellt wird, werde Philoktet bereits „zum Freunde unsrer Seele“ 85 gemacht. Herder stellt die stufenweise Einführung des Philoktets heraus, der erst von den Figuren Odysseus und Neptolem sowie dem Chor charakterisiert wird, bevor er zum ersten Mal selbst die Bühne betritt. Insbesondere die narrative Vermittlung der Schmerzen durch den Chor hebt er hervor,86 durch die Philoktet bereits als Held etabliert ist, bevor der Zuschauer ihn kennenlernt. Das narrative Moment ist dazu geeignet, den Schmerzausdruck zu kontextualisieren und somit die Zuschauerreaktion zu lenken. Das Narrative hebt zudem die unmittelbare Beobachtersituation des Theaters auf, die für Herder der natürlichen Schmerzensäußerung entgegensteht.87 Herders Ablehnung der Schmerzdarstellung auf der Bühne und Befürwortung der Vermittlung durch die Erzählung anderer Figuren oder durch den Chor greift auf Horaz’ Beschränkungen der Themen zurück, die auf der Bühne unmittelbar präsentiert werden: Doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte, noch öffentlich menschlich Eingeweide der ruchlose Atreus koche, nicht in einen Vogel sich Prokne verwandle noch Kadmos sich in eine Schlange; was du mir so zeigst, dem kann ich nicht glauben, ich muß es verabscheun.88

Auch Horaz begründet die Vermeidung grausamer oder irrealer Themen auf dem Theater mit der Wirkung auf den Zuschauer. Er nimmt als Reaktionen Unglauben und Abscheu an; auf letzteres könnte Herder mit seiner Formulierung eines Ekelgefühls referieren.

84 Vgl. auch Singer: Das Brüllen des Philoktet, S. 71. 85 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 98. 86 Auch Schiller formuliert in seiner Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, dass der Chor geeignet sei, die „Gewalt der Affekte“ zu brechen. Während Herder jedoch die Illusion des Zuschauers erhalten will, stellt Schiller das Brechen der dramatischen Illusion als positive Wirkung des Choreinsatzes heraus, da so der Zuschauer seine „Freiheit“ (Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: Werke und Briefe, Bd. 5, S. 289) bewahren könne. Vgl. zum Chor auch: Walter Helg: Das Chorlied in der griechischen Tragödie in seinem Verhältnis zur Handlung. Zürich 1950; Gerhard Müller: Chor und Handlung bei den griechischen Tragikern. In: Hans Diller (Hg.): Sophokles. Darmstadt 1967, S. 212–238; Jürgen Rode: Das Chorlied. In: Walter Jens (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie. München 1971, S. 85–115; Peter Riemer (Hg): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart 1998. 87 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 270 f. 88 Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (V. 180–188).

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Durch die vorsichtige Einführung des Philoktet, hat der Zuschauer bei seinem ersten Auftritt bereits Mitleid mit ihm und kann dadurch auch seinen unmittelbaren „Anblick ertragen“ 89, wenn Philoktet mit einem ersten – freilich gemurmelten und nicht geschrienen – „Ach“ die Bühne betritt. Der Zuschauer imitiert nun Philoktet im Ertragen und Erdulden des Leidens. Hier wird deutlich, dass die Ansteckungsprozesse im Theater an die unmittelbare visuelle Wahrnehmung des Zuschauers gebunden sind,90 weshalb der dramatische Dichter kalkulieren muss, welche Ansteckungseffekte er hervorrufen will und welche ungewollt sind. Die Unmittelbarkeit der Aufführungssituation – insbesondere die körperliche Präsenz der Schauspieler – macht diese Effekte erst möglich. Die Diskussion um das Schreien des Philoktets zeigen jedoch, dass die intendierte Wirkung des Trauerspiels und das Gattungsmerkmal ‚Aufführung‘ die Inszenierung von Krankheit und körperlichen Leiden begrenzen. Der Ausdruck des Schmerzes wird von dem duldenden Helden unterdrückt, und nur manchmal entweicht ihm ein Seufzer. Roland Borgards zeigt anhand von Herders eigener szenischer Philoktetes-Bearbeitung, wie die ‚natürlichen‘ Artikulationen des Schmerzes durch eine „Rhetorik des Schmerzes“ als einer „Sprache an der Grenze des Schweigens“ 91 ersetzt werden. Diese Abschwächung der Schmerzdarstellung und der Duktus des ‚Ertragens‘ führen aber die Thematik der Seele wieder in den Ausdruck des körperlichen Schmerzes ein. Durch die Unterdrückung des Schreis rücken die charakterliche Größe und seelische Stärke anstelle des leidenden Körpers in den Blickpunkt. Herder kehrt dabei die typische Oberflächenund Tiefenstruktur um: Es ist sonderbar, daß der Eindruck, den dieses Stück bei mir von lange her zurück gelassen, derselbe ist, den W.[Winckelmann] will: nämlich der Eindruck eines Helden, der mitten im Schmerz seinen Schmerz bekämpft, ihn mit holem Seufzen zurückhält, so lange, als er kann, und endlich, da ihn das Ach! Das entsetzliche Weh! Übermannet, noch immer nur einzelne, nur verstohlne Töne des Jammers ausstößt, und das übrige in seine große Seele verbirgt.92

Das Verweisverhältnis von Seele und Körper wird somit wieder eingeführt, aber nicht der Körper verdeckt die Seele, sondern diese verbirgt den Schmerz im Körper, indem sie ihn nicht durch Geschrei an die Oberfläche dringen lässt. Der Schmerz bleibt in der Tiefe verborgen und tritt nur abgeschwächt an die Oberfläche wie es auch Winckelmann für die Laokoon-Statue postuliert: „So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Aus-

89 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 105. 90 Vgl. Fischer-Lichte: Zuschauen als Ansteckung, S. 36. 91 Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 283 f. Techniken dieser Rhetorik des Schmerzes sind nach Borgards Aposiopesen, Epanalepsen, Akkumulationen, Ellipsen, Interjektion, Exklamation und Deixis (vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 283). 92 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 69.

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druck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“ 93 Auch Lessing führt aus, dass sich die Schmerzen der Laokoon-Statue zwar in seinem Körper ausdrücken, sich jedoch in dem Gesicht die Seele ausdrückt, während Vergil in der Aeneis, Laokoon schrecklich schreien lasse.94 Gerade das Fehlen einer unmittelbaren Schmerzensäußerung verweist auf die seelische ‚Größe‘ der Figur Philoktet.95 Als Philoktet vor den Augen der Zuschauer von seinen Schmerzen übermannt wird, entladen sich diese dementsprechend in einem Anfall von Raserei, „um den Zuschauer von der Pantomime mehr auf die leidende Seele zu wenden“ 96. Herder betont dabei, dass Philoktet nicht an einer körperlich verursachten Krankheit leidet, sondern an einer von den Göttern als Strafe zugefügten Wunde.97 Somit hat bereits die Ursache der körperlichen Schmerzen eine Funktion, und der Schmerz verweist auf etwas anderes als körperliches Leiden. Borgards hat gezeigt, dass der Schmerz zeichentheoretisch sowohl in der Position des Signifikanten als auch des Signifikats erscheinen kann: Im ersten Fall ist er Zeichen für eine Krankheit oder eine Verletzung und im zweiten wird er durch eine Grimasse, einen Schrei oder eine Äußerung selbst bezeichnet.98 Das Anzeigen rein körperlicher Krankheit scheint jedoch für das Drama um 1800 unattraktiv. Die Signifikation muss sich auf einen seelischen oder charakterlichen Bereich der Figur beziehen, so dass der Schmerz immer bereits metaphorisch-metonymisch für die Seele steht. Mit seiner Annahme einer stufenartigen Etablierung des Philoktets als Helden, die von einer sukzessiven Erzeugung des ‚Mit-Leidens‘ begleitet wird, nähert sich Herder einigen Argumenten Lessings wieder an. Auch bei Lessing ist der Kontext, die Art der Einführung der Figur, die Darstellung einer göttlich zugefügten Wunde und die Ergänzung anderer Leiden wie Einsamkeit und Hunger wichtig, denn den rein körperliche Schmerz hält er ebenfalls für ungeeignet, Mitleid zu erzeugen.99 Die moralische Größe des Philoktets ist bereits etabliert, bevor sich sein körperlicher Schmerz äußert. Lessing entwirft dabei eine kulturspezifische Unterscheidung von Schmerzensäußerungen. Bei den Griechen, die näher an einem Naturzustand der Menschheit waren, äußere sich der Schmerz durchaus in einem Schrei als natürlichem und unmittelbarem Ausdruck körperlicher Schmerzen, ohne dass dies der Idee einer ‚großen Seele‘ widersprochen hätte. Das Unterdrücken des Schreis erscheint als Anzeichen der Naturferne einer kultiviert-verzärtelten Gesellschaft, die durch den Schrei in ihrem Geschmack verletzt wird, während der herausge-

93 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. von Max Kunze. Stuttgart 1982, S. 20. 94 Vgl. Lessing: Laokoon, S. 7. 95 Dies hatte Winckelmann bereits für Laokoon so herausgestellt. Vgl. auch Pekar: Zur Funktion des Schmerzes, S. 34. 96 Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 107. 97 Vgl. Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 107. 98 Vgl. Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 262. 99 Vgl. Lessing: Laokoon, S. 37–48.

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schriehene Schmerz als Ausdruck natürlicher Unmittelbarkeit erscheint.100 Bei dieser Unterscheidung bleibt die ‚Größe der Seele‘ der Bezugspunkt der Darstellung körperlicher Schmerzen beim Helden eines Trauerspiels. Anders als Herder hält August Wilhelm Schlegel die Darstellung körperlicher Leiden in der Dichtung und speziell auf der Bühne für zumutbar. Schlegel stellt dies im Kommentar zu seiner Übersetzung des 33. Gesangs aus Dantes Inferno fest, in der Ugolino von seinem Hungertod berichtet. Aus dem Eis des neunten Höllenkreises ragt nur Ugolinos Kopf hervor, der an dem Schädel seines Feindes, dem Erzbischof Ruggieri, nagt, der ihn und seine Kinder eingekerkert und verhungern lassen hat. Angesichts dieser grausamen Szene merkt Schlegel an: „Mit körperlichen Leiden können wir uns in der Darstellung aussöhnen, mit den Wunden Philoktets und Laokoons Todesqual […]. Aber ein fortgesetztes physisch grausames Handeln erfüllt uns mit Ekel und Abscheu, und gewährt keinen Ersatz für die Nothwendigkeit, es mit anzusehn.“ 101 Das Einzige, was die Darstellung des Kannibalismus erträglicher mache, sei das Bewusstsein, dass er „ein Werkzeug der vergeltenden Macht“ 102 sei. Wie Philoktets Wunde dadurch, dass sie eine göttliche Strafe ist, an Darstellbarkeit gewinnt, ist es auch in Schlegels Interpretation die Funktionalisierung über das individuelle Leiden hinaus, dass die Darstellung von Grausamkeit ermöglicht. Interessanterweise geht Schlegel auch kurz auf Heinrich von Gerstenbergs Ugolino (1768) ein und führt aus, dass der Stoff des leidenden Ugolino besser erzählerisch dargestellt werde und bedauert, dass dem modernen Dichter das Hilfsmittel des Chors fehle. Auch Schlegel begrenzt somit letztlich die dramatische Leidensdarstellung und schreibt dem Narrativen andere Möglichkeiten zu. Trotz Schlegels Diktum, körperliche Leiden seien für die Darstellung geeinget, werden genuin körperliche Krankheiten im Drama um 1800 nicht inszeniert, was zu den Ergebnissen der Herder Analyse passt. Wenn körperliche Leiden thematisiert werden, sind diese auf eine Verwundung zurückzuführen – zu nennen wären hier beispielsweise die Figur des Tellheim in Lessings Minna von Barnhelm, Goethes Götz von Berlichingen oder weniger bekannte Figuren wie der Baron von Schönwald in Lenz’ Prosadrama Der verwundete Bräutigam – die innerhalb des Dramengeschehens funktionalisiert wird.

5.1.2 „Die Kraft des Spiels nagt an den Nerven“: Die Krankheit der Schauspieler In den bisher erörterten Diskussionen zur Darstellung körperlicher Leiden auf der Bühne stand die Wirkung auf den Theaterbesucher, das heißt die sympathetische

100 Vgl. Lessing: Laokoon, S. 19 f.; zum Schmerz als „Radikal der Unmittelbarkeit“ Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 372. 101 A. W. Schlegel: Poetische Übersetzungen und Nachbildungen, S. 330. 102 A. W. Schlegel: Poetische Übersetzungen und Nachbildungen, S. 330.

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Verbindung zwischen ihm und dem Schauspieler, im Zentrum der Überlegungen. Das ‚Dargestellte‘ und der ‚Darsteller‘ fallen aus der Perspektive des Zuschauers im Programm der ‚Ähnlichkeit‘ und der resultierenden Wirkungsweise der ‚Täuschung‘ zusammen.103 Der Körper des Schauspielers fungiert als Zeichen für die Leidenschaften und Affekte der Figur. Ebenfalls in Bezug auf diese Zeichenfunktion wird Krankheit im Zusammenhang mit dem Schauspieler thematisiert. Die zentrale Frage ist, wie das Verhältnis von Schauspieler und Figur beziehungweise Rolle ist. Was passiert innerhalb des Schauspielers, wenn er extreme Leidenschaften und Affekte auf der Bühne ausdrückt? In schauspieltheoretischen Diskussionen um das Verhältnis von Figur und Schauspieler spielt das Bewusstsein eine zentrale Rolle. Anhand mehrerer Beispiele wurde bereits gezeigt, dass das ‚Selbstbewusstsein‘ oder ‚Selbstgefühl‘ in philosophischen, physiologischen und psychologischen Diskursen um 1800 eine zentrale und viel diskutierte Kategorie ist. Wie Reil definiert auch Platner das ‚Selbstgefühl‘ als zentrale Grundlage der eigenen Persönlichkeit und des gesunden Verhältnisses zur Umwelt: Ich bin mir der Gegenstände die ich denke, als außer mir bewußt, und unterscheide sie von meiner Person von mir selbst – ich vergleiche jedesmal das Verhältnis in denen ich mit ihnen stehe – Also bin ich mir meiner selbst bewußt, indem ich mich niemals mit andern Gegenständen vermische.104

Überträgt man diese Definition in die Diskussion um das Verhältnis des Schauspielers zu seiner Rolle, ist zu fragen, ob die Figur, die der Schauspieler darstellt, etwas ist, was er von seiner Person unterscheidet oder mit dem er sich vermischt, was nach Platners Definition zu Folge haben kann, dass er sich seines eigenen Daseins nicht mehr bewusst ist. So verliert sich Medardus in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels in seinem eigenen Rollenspiel, weil sein Bewusstsein darin untergeht. In den schauspieltheoretischen Debatten lassen sich zwei Positionen identifizieren:105 Zum einem wird die Selbsttäuschung des Schauspielers als notwendige Voraussetzung für die Täuschung des Zuschauers gesehen, der Schauspieler muss dann tatsächlich empfinden, was die Figur empfindet. Zum anderen wird eine distanzierte und affektfreie Darstellung gefordert, in der die Unterscheidung zwischen Rolle und Schauspieler im Bewusstsein des Schauspielers bestehen bleibt, auch wenn sie nach außen nicht sichtbar werden darf, denn hier ist die Illusion des Zuschauers das oberste Wirkungsziel. Pierre Rémond de Sainte Albine fordert in seiner Schauspieltheorie Le comédien (1747), die Lessing in der Theatralischen Bibliothek übersetzt, die vollkommene Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle: 103 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 53. 104 Platner: Anthropologie, S. 13. 105 Vgl. Burwick: Illusion and the Drama, S. 41–79; Günther Knautz: Studien zur Aesthetik und Psychologie der Schauspielkunst. Essen 1934.

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Wollen die tragischen Schauspieler, sagt der Verfasser, uns täuschen; so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, daß sie wirklich das sind was sie vorstellen; eine glückliche Raserei muß sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verrät, die man verfolgt. Dieser Irrtum muß aus ihrer Vorstellung in ihr Herz übergehen, und oft muß ein eingebildetes Unglück ihnen wahrhaftige Tränen auspressen. Alsdann sehen wir in ihnen nicht mehr frostige Komödianten, welche uns durch gelernte Töne und Bewegungen für eingebildete Begebenheiten einnehmen wollen. Sie werden zu unumschränkten Gebietern über unsere Seelen.106

Die Verknüpfung von Wirkung und Selbstaffizierung findet sich bereits in der antiken Rhetorik und Poetik.107 So nimmt Aristoteles an: „Der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreusten dar.“ 108 Dementsprechend fordert Horaz vom Schauspieler: „Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen, […], entledigst du dich nur eines unpassenden Auftrags, so schlafe ich ein oder muß lachen.“ 109 Bei Sainte Albine bedeutet dies, dass die Grenze zwischen Figur und Schauspieler innerhalb dessen Bewusstsein aufgehoben wird, denn nur dann kann eine Wirkung beim Zuschauer hervorgerufen werden. Mit der Bezeichnung „glückliche Raserey“ rückt Sainte Albine das Schauspiel dabei in die Nähe von extremen und gesundheitsgefährdenden Dimensionen der psychischen Verfasstheit. Nach der zweiten Position muss sich der Schauspieler stets bewusst sein, dass er die Affekte und Leidenschaften der Figur nur darstellt und nicht selbst erlebt. Die Distanz zur Rolle muss gewahrt werden, um überhaupt ‚schauspielern‘ zu können Dies wird beispielsweise von Francesco Riccobini in L’art du théâtre (1750) vertreten: Den Ausdruck nennt man diejenige Geschicklichkeit, durch welche man den Zuschauer diejenigen Bewegungen, worein man selbst versetzt zu sein scheint, empfinden läßt. Ich sage, man scheint darein versetzt zu sein, nicht daß man wirklich darein versetzt ist. […] Ich bin niemals der Meinung gewesen, ob sie gleich beinahe allgemein ist; ich habe vielmehr allezeit als etwas ganz gewisses angenommen, daß man, wenn man das Unglück hat, das was man ausdrückt wirklich zu empfinden, außer Stand gesetzt wird zu spielen.110

Die Identifikation mit der Figur wird zum Hindernis bei der Darstellung, da das ‚Spiel‘ durch ‚Sein‘ ersetzt wird. Riccobini unterstreicht dadurch die Differenz zwischen sprachlich-schauspielerischer Darstelltung und authentischen Gefühlen.

106 Auszug aus dem Schauspieler des Herrn Remond von Sainte Albine. Übersetzt von Lessing. In: Werke und Briefe. Bd. 3, S. 305 f. 107 Vgl. Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit, S. 7. 108 Aristoteles: Poetik, S. 55 (17). 109 Horaz: Über die Dichtkunst, S. 637 (V. 102–105). 110 Riccobini, Francesco: Die Schauspielkunst. L’Art du Théâtre. 1750. Übersetzt von Lessing. In: Lessing: Werke und Briefe. Bd. 1: Werke. 1743–1750, hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1989, S. 903 f.

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Diese Position wird von Denis Diderot in seinem Paradoxe sur le comédien (1773) aufgegriffen und auch von mehreren deutschen Schauspielern wie zum Beispiel Konrad Ekhof und Friedrich Ludwig Schneider vertreten.111 Lessing geht über diese Argumentation hinaus, indem er die kausale Beziehung zwischen Ausdruck und Identifikation nach einem „Gesetze, daß eben die Modificationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen hinwiederum durch diese körperlichen Veränderungen bewirket werden“ 112, umdreht. Der sinnlich-wahrnehmbare Ausdruck des Schauspielers wird nicht mehr durch Identifikation im Inneren verursacht, sondern das Verhältnis von Ursache und Wirkung umgekehrt. Die Nachahmung der willentlich hervorrufbaren Körperzeichen wirkt so sehr auf die Seele zurück, dass diese wiederum unwillentliche Körperzeichen wie das Erröten oder Weinen an der Oberfläche hervorruft.113 Die Seele der Figur wird nicht nur am Körperspiel des Schauspielers ablesbar, sondern das Körperspiel wirkt auf die Seele des Schauspielers selbst zurück. Der Schauspieler behält jedoch die Kontrolle über die Affekte, die er in seiner Seele hervorruft. Vor solchen Versuchen, die unwillkürlichen Körperzeichen an sich zu produzieren, warnt hingegen Engel: „Sich die Phantasie bis zu einem Grade zu erhitzen, wo ihre Einbildungen, wie die Wirklichkeit selbst rühren, ist, deucht mir, gefährlich.“ 114 Der Ausdruck „wie die Wirklichkeit selbst rühren“ impliziert die Gefahr, dass die Trennung von Spiel und Wirklichkeit porös wird. Auch hier kann das Modell der ‚Ansteckung‘ angewendet werden, mit der die Wirkung des Schauspielers auf den Zuschauer beschrieben wurde. Der Schauspieler steckt sich bei der dargestellten Figur an. Das dargestellte (psychische) Leiden auf der Bühne kann in reales Leiden des Schauspielers resultieren. Er kann nicht mehr zwischen sich und der Figur unterscheiden, was letztlich bedeutet, dass sein eigenes Bewusstsein in dem der Figur ‚untergeht‘, wie es streckenweise bei der Figur Medardus in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels der Fall ist. In Anlehnung an Platners Definition des ‚Selbstgefühls‘ kann davon gesprochen werden, dass sich der Schauspieler des eigenen Daseins nicht mehr bewusst ist und dieses nicht mehr von dem äußeren Gegenstand – der Rolle, die er spielt, – abgrenzen kann. Auch hier ist ein bipolares Modell von Illusion zu erkennen, denn das Wissen um die eigene Täuschung geht dem Schauspieler verloren. Die Aufführungssituation bedeutet somit eine Gefährdung der Gesundheit. Der Mannheimer Arzt Franz Anton Mai115 unterscheidet in seiner Abhandlung „Über

111 Vgl. Knautz: Studien zur Aesthetik und Psychologie, S. 48 f. 112 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 3. Stück, S. 198. 113 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 42. Stück, S. 199. Vgl. hierzu auch Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und Erfahrung, S. 57. 114 Engel: Ideen zu einer Mimik. 1. Teil, S. 104. 115 Mai (* 1742 Heidelberg † 1814 Heidelberg) studierte in Heidelberg und praktizierte anschließend in Mannheim, wo er u. a. eine Hebammenschule und Krankenpflegerschule gründete. Er engagierte sich für die Gesundheitsaufklärung und hielt z. B. im Theater Mannheims Vorlesungen für

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die Heilart der Schauspieler Krankheiten“ (1782), die er unter dem Eindruck der Uraufführung von Schillers Schauspiel Die Räuber schreibt, genau die zwei Typen von Schauspielern, die in der oben skizzierten Diskussion gegenübergestellt werden. Ohne auf die theoretischen Diskussionen einzugehen, favorisiert Mai den Schauspieler, der sich völlig in seine Rolle hineinversetzt, obwohl dessen Gesundheit dadurch gefährdet wird. Schauspieler, welche die dargestellten Leidenschaften nur nachahmen, aber ihre Nerven nicht in den dargestellten Zustand versetzten, rufen beim Publikum keine Wirkung hervor: Kalte Verstellung des Schauspielers läßt den Puls in ruhigen Schwingungen, sträubet niemals die Haare des Scheidels, macht die Oberfläche des Körpers niemals höckericht, läßt dem Auge seine Thränen dem Zwechfell das Schluchzen, hat hingegen die mächtige Wirkung auf den Zuschauer, ihn so recht aus der Tiefe der Brusthöhle gähnen zu machen.116

Durch die Wirkungslosigkeit dieses Schauspielertypus geht die positive Wirkung des Theaters – sittliche Besserung und Erbauung – verloren, die Mai als aufklärerisches Potential des Theaters ansieht. Die Wirkungslosigkeit wird dabei gerade an dem Ausbleiben einer körperlichen Reaktion auf das Dargestellte festgemacht; es findet eben keine Ansteckung statt. Von diesen Schauspielern der „kalte[n] Verstellung“ 117 grenzt Mai die ab, deren Nachahmung „fühlende Verstellung“ 118 ist. Mit drastischen Worten beschreibt er sie als „Nervenmatirer, welche zu unserer Unterhaltung, zu unserm Besten, sehr wohlfeile Schlachtopfer ihrer Kunst, und unsers Vergnügens werden“ 119. Das Theater bezeichnet er als Ort, „wo sich die innersten Falten des leidenschaftlichen Menschenherzes zur Besserung der Sitten, zum Vergnügen und Erbauung meiner Mitbürger wöchentliche dreimal zergliedert werden“ 120. Schauspieler sind für Mai: „Aerzte der Sitten, Mitarbeiter an Bildung des Menschenherzens und der Tugend.“ 121 Die Wirkung dieser Schauspieler auf den Zuschauer ist, wie die Sektionsmetapher und der Ärztevergleich bereits andeuten, eine tiefgehende und durchaus körperliche: „Wobei das Menschenblut erfrieren, und die Nerven, sowohl beim Schauspieler als Zuschauer, erstarren müssen, wenn ihre Urahnen nicht von Pantoffelholz gewesen sind.“ 122 Die körperlichen Auswirkungen treten jedoch nicht

die Öffentlichkeit (vgl. Eduard Seidler: Lebensplan und Gesundheitsführung. Franz Anton Mai und die medizinische Aufklärung in Mannheim. Mannheim 1975). 116 Franz Anton Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten. In: Pfalzbaierische Beiträge zur Gelehrsamkeit 2 (1782), S. 433. 117 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 433. 118 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 432. 119 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 431. 120 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 430. 121 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 434. 122 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 430.

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nur beim Zuschauer auf, sondern auch das Blut und die Nerven des Schauspielers werden affiziert. Die Kommunikation zwischen Schauspieler und Zuschauer beschreibt Mai ebenfalls als eine unsichtbare ‚Übertragung‘ im Sinne einer ‚Ansteckung‘: Von jenen Schauspielern rede ich, welche durch die lebhafte Vorstellung, durch den natürlichen Ausdruck der Leidenschaften wie ein elektrischer Funken in das Gefühl der Zuschauer hinblizen, und ihr ganzes Nervengebäude zur Mitleidenschaft erschüttern.123

Die Elektrizitätsmetapher verdeutlicht die Idee einer unsichtbaren Verbindung, die zwischen Schauspieler und Zuschauer hergestellt wird. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Fluidaltheorien und -modelle hat diese Verbindung zugleich einen unbestimmten körperlichen Aspekt; so ist auch die Erschütterung der Nerven gleichsam eine körperliche Reaktion auf das Schauspiel. Der Ansteckungsprozess verläuft aber auch in die andere Richtung und zeigt, dass Ansteckung nicht nur positiv ist, sondern für den Schauspieler auch bedeutet, dass etwas Fremdes in sein Inneres eindringt und es verändert, so dass das Bewusstsein des eigenen Ichs beeinflusst wird – wie es in dem Platnerzitat beschrieben wird.124 Wie für Lessing und Herder ist auch für den Arzt Mai die Täuschung des Zuschauers für das Gelingen des Schauspiels notwendig. Aber auch der Schauspieler muss illudiert sein. Seine Nachahmung der Affekte geht soweit, dass die Einbildungskraft die Nerven tatsächlich in den Zustand versetzt, in dem sie beim Empfinden des Dargestellten in der Realität wären: Das Spiel des Schauspielers soll ein treffender lebendiger Abdruck der vorzustellenden Leidenschaften seyn. Die Nerven des Schauspielers müssen also in dieselbige Schwingungen versetzt werden, welche der Leidenschaft wesentlich und von derselben unzertrennlich sind; sonst friert der Zuschauer bei der Wärme des Liebhabers, gähnet bei der Grosthat des Helden, und lachet bei dem Schmerze des Unglücklichen.125

Die Metapher des „Abdrucks“ impliziert hierbei, dass der Schauspieler einen Affekt nicht nur simuliert, sondern sich mit ihm identifiziert. Während die Malmetaphern, die Engel benutzt, einen gewissen Grad der Abweichung möglich machen, scheint dies beim „Abdruck“ nicht gegeben. Schauspieler und Figur werden für den Moment der Aufführung identisch. So liegt der Unterschied zwischen wahrer und verstellter Leidenschaft laut Mai nur in der Dauer, für die der Körper erschüttert wird: Zwischen der wahren und verstellten Leidenschaft ist der einzige Unterschied, daß bei der ersten die Wallungen des Blutes und Erschütterungen der Nerven länger, als bei der zweiten

123 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 431. 124 In den Elixieren wird dieses eindringende Fremde unter anderem mit Theatermetaphern beschrieben (siehe Kap. 4.31). 125 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 442 f.

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dauern, weil der Gegenstand länger gegenwärtig bleibt, und die erhitzte Einbildung mehr theilnehmend ist.126

Die ‚Grenzlinie‘ zwischen dem Bewusstsein des Schauspielers und der Figur verschwindet hier. Agent der identifikatorischen Spielweise ist die Einbildungskraft: Wenn das Spiel des Schauspielers täuschen soll, so muß seine Einbildungskraft alles Ruhige, alles Gleichgültige der Seelenstimmung hinweg zaubern, er muß ein wachender Träumer werden, sich in eine ganz andere Lage denken und hineinschwingen. Dieser Zustand schwächet unendlich die Nerven, weil ihnen Gewalt geschieht.127

Diese Art von Schauspiel greift immer die Gesundheit des Schauspielers an. Die Darstellung von Leidenschaften verändert sowohl den Körper als auch die Seele. Die Nerven werden weiter verfeinert und schließlich empfindlicher als die des „zärtlichsten Frauenzimmers“ 128. Während die starke Empfindsamkeit des weiblichen Nervensystems jedoch als natürlicher Zustand konzipiert ist, wird dieser Zustand beim Schauspieler durch künstlerische Verstellung erzeugt, die schließlich den natürlichen Zustand des Körpers verändert. Der Schauspieler neigt nach Mai zudem dazu, die Leidenschaften, die er auf der Bühne darstellt, auch außerhalb des Theaters auszuleben; er beginnt sozusagen damit, seine Rolle in der Realität nachzuahmen. Traditionelle moralische Vorwürfe gegen Schauspieler werden hier in Krankheit umgedeutet, ohne dass der Schauspieler dabei seiner Verantwortung gänzlich enthoben wird. Insgesamt wird der Bezug des Schauspielers zur Realität fehlerhaft, auch die Krankheit der Schauspieler resultiert somit aus einem Wahrnehmungs- oder Bezeichnungsfehler. Zu den gefährlichen Wirkungen der Einbildungskraft, welche die Nerven in einen Zustand der Spannung und Reizung versetzt, kommen schädlichen Wirkungen durch „ewige Anstrengung des Gedächtnisses“, „des Schminkens“, „Verkältungen im Winter“ und „Erhitzungen im Sommer“ 129 hinzu. Die Gesundheit des Schauspielers werde schleichend aufgebraucht und zerstört. Der Schauspieler leidet an „krämpfigte[n] Zusammenschnürrungen“, „Unterdrückung heilsamer Ausleerungen“, „rasende[m] Kopfweh“, „Fieberhitze“, „Schwermuth[ ]“ und „Gelbsuchten“ 130. Die Anstrengungen der Geisteskräfte insbesondere durch das Auswendiglernen greifen die Verdauungskräfte an. Mit Erklärungsmustern der Nerven- und Humoralpathologie wird der Körper des Schauspielers als überreizt, überspannt, fiebrig, sowie alternierend als entleert oder verstopft entworfen. Die dargestellten Leidenschaften entziehen dem Körper

126 127 128 129 130

Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 443. Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 443. Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 434. Alle Zitate: Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 431 f. Alle Zitate: Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 435 f.

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seine Kräfte: „Diese Kraft des Spiels […] nagt an den Nerven.“ 131 Über das Bild des Nagens wird das intensive Schauspiel in die Position von Krankheit gerückt, denn diese Metapher wird auch für die körperlich krankmachende Kraft psychischer Schmerzen (Gram, Kummer), für körperlichen Schmerz (Kopfschmerz) oder die Wirkung von Krebs verwendet.132 Die Rolle beraubt den Schauspieler auf geradezu aggressive Weise seiner körperlichen Kraftressourcen: „Ihre Rolle hat, wie ein trockener Schwamm, alle ihre Geisteskräfte, allen Vorrath von Nervensaft eingesaugt, ein Theil davon ist durch übertriebene Ausdünstung verraucht.“ 133 Auch der Leibarzt des Schauspielers August Wilhelm Iffland beschreibt in seiner Abhandlung über dessen Krankengeschichte, dass dieser durch die „kraftvollen Rollen, die er gegeben hatte“ 134, angegriffen werde und der Zustand des bereits schwer kranken Iffland zum Beispiel durch die Darstellung von Luther in Werners Weihe der Kraft drastisch verschlechtert worden sei.135 Das Darstellen einer Figur im Theater bedeutet für den Schauspieler den Kontrollverlust über das eigene Bewusstsein.136 Nimmt man die Bildmetaphorik auf, die im Zusammenhang mit dem Schauspiel von Lessing und Herder verwendet wird, bedeutet dies, dass das Bild ‚von der‘ Figur ‚zur‘ Figur selbst wird. Die Krankheit der Schauspieler resultiert somit wie die Illusion des Zuschauers aus der Überschreitung ihrer eigenen Medialität. Die Diskussion um die Wirkung dargestellter Leidenschaften auf den Schauspieler schreibt die Frage nach der Verbindung von Körper und Seele, die in vielen Dramen der Zeit thematisiert wird, quasi auf der Bühne fort. Wie bereits erwähnt verfasst Mai seinen Artikel über die Schauspielerkrankheiten, nachdem er der legendären Erstaufführung von Schillers Drama Die Räuber im Mannheimer Theater beigewohnt hat: „Man stelle das schauerliche Meisterstück, die Räuber, vor, ein Stück, mein Freund! wobei das Menschenblut erfrieren, und die Nerven, sowohl beim Schauspieler als Zuschauer, erstarren müssen.“ 137 Die Rollen Karl und Franz Mohr – so Mai – „verdämpfen wenigstens auf acht Täge den Nervensaft, und entkräften Leib und Seele“ 138. Das Thema des Stücks, in dem die Figur des Franz Mohr die Wirkungen der Seele auf den Körper erprobt und schließlich selbst Opfer seiner Experimente wird und in ein wahnhaf-

131 Mai: Üeber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 431. 132 Vgl. zu den ersten beiden Beispielen: Gesenius: Medicinisch-moralische Pathematologie, S. 47, 51 und 228 und zum Krebs die Beispiele aus Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen (siehe Kap. 4.1.3). 133 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 437. 134 Johann Ludwig Formen: Iffland’s Krankengeschichte. Berlin 1814, S. 14. 135 Vgl. Formen: Iffland’s Krankengeschichte, S. 33. 136 Der Bewusstseinsverlust des Schauspielers erinnert an die in der Romantik populär werdende Figur des ‚romantischen‘ Künstlers, der durch seine künstlerische Inspiration und Affizierung den Bezug zur Realität verliert und darüber wahnsinnig wird (vgl. zum kranken, ‚romantischen‘ Künstler: Hillen: Die Pathologie der Literatur, S. 234). 137 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 430. 138 Mai: Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten, S. 437.

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tes Fieber verfällt, wird in den medizinischen Überlegungen Mais weitergeschrieben. In seiner Dissertation beschreibt Schiller, wie psychische Schmerzen die körperliche Gesundheit zerstören können: Die Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, könnte man mit eben dem Recht, als Plato die Leidenschaften Fieber der Seele nannte, als Konvulsionen des Denkorgans betrachten. Diese Konvulsionen pflanzen sich schnell durch den ganzen Umriß des Nervengbäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Mißstimmung, die seinen Flor zernichtet, und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt. Das Herz schlägt ungleich und ungestüm; das Blut wird in die Lungen gepreßt, wenn in den Extremitäten kaum so viel übrig bleibt, den verlornen Puls zu erhalten. Alle Prozesse der thierischen Chemie durchkreuzen einander. Die Scheidungen überstürzen sich, die gutartigen Säfte verirren, und wirken feindlich in fremden Gebieten, wenn zu gleicher Zeit die bösartigen, die im Unrath dahingeschwemmt werden sollten, in den Kern der Maschine zurückfallen. Mit einem Wort: der Zustand des grösten Seelenschmerzens ist zugleich der Zustand der grösten körperlichen Krankheit.139

Schiller benutzt als Beispiel für körperliches Krankwerden durch die leidende Seele selbst die Figur des Franz Moors und seinen Zustand, nachdem er vom künftigen Strafgerichte geträumt hat: Hier bringt das plötzlich auffahrende Integralbild des Traums das ganze System der dunkeln Ideen in Bewegung, und rüttelt gleichsam den ganzen Grund des Denkorgans auf. Aus der Summe aller entspringt eine ganze äusserst zusammengesezte Schmerzempfindung, die die Seele in ihren Tiefen erschüttert, und den ganzen Bau der Nerven per Konsensum lähmt.140

Wie Mai nimmt Schiller an, dass die schauspielerische Darstellung bestimmter Figuren eine Wirkung auf den realen Körper des Schauspielers hat, denn „schon der nachgemachte Affekt macht den Schauspieler augenblicklich krank.“ 141 So habe zum Beispiel der englische Schauspieler David Garrick nach den Darstellungen von King Lear oder Othello einige Stunden in „gichterischen Zuckungen auf dem Bette“ 142 verbracht. Das Schauspiel fungiert gewissermaßen wie ein Ansteckungskanal und der dramatische Text wird selbst zur ‚Krankheit‘, da die fiktiven Leiden

139 Friedrich Schiller: Versuch über den Zusammenhang der Thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen. In: ders.: Schillers Werke. Bd. 20.1: Philosophische Schriften, hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 59. Vgl. zu den Verbindungen von Schillers frühen Schriften und Werken zur zeitgenössischen Anthropologie: Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schillers. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985; Holger Bösmann: Projekt Mensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. Würzburg 2005. 140 Schiller: Versuch über den Zusammenhang der Thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen, S. 60 f. 141 Schiller: Versuch über den Zusammenhang der Thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen, S. 61. 142 Schiller: Versuch über den Zusammenhang der Thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen, S. 61.

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auf den Schauspieler übertragen werden können und so weitere Leiden erzeugen. Der Hintergrund dieser Ansteckung ist die besondere Wirkung des Theaters auf die Einbildungskraft, die auch die Beispiele der Theatersucht und -wut in Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde verursacht. Auch dort wird die Aufführung der Räuber genannt, die das Paradebeispiel eines besonders eindrucksvoll wirkenden Theaterstücks sind.143 Insbesondere erkranken die jungen Männer jedoch an der Neigung, Komödien zu sehen. Welche Form und Funktion die Darstellung von Krankheit in der Komödie hat, soll im nächsten Kapitel untersucht werden.

5.2 Komische Leiden: Krankheit in der Komödie Lachen über Krankheit unterliegt heute vielen Einschränkungen und impliziten Verboten. In der Komödie aber muss Krankheit Komik erzeugen. Aristoteles bestimmt das Komische als die „Nachahmung von schlechteren Menschen […] insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht.“ 144 Aristoteles’ Definition des Komischen ist das Gegenstück zu seiner Bestimmung des Pathos als „verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr.“ 145 Die Annahme eines die Komik bewirkenden Fehlers146, der sich zum Beispiel als Normabweichung oder als Enttäuschung von etwas Erwarteten äußert,147 ist bis heute wichtiger Bestandteil der meisten Theorien über das Komische. Krankheit als Thema der Komödie scheint zunächst der aristotelischen Harmlosigkeitsforderung zu widersprechen. Dennoch wurde lange über bestimmte Phänomene körperlicher Leiden wie Behinderungen sowie über ‚Narrheit‘ im Theater gelacht, bevor es im achtzehnten Jahrhundert zu Einschränkungen dieses Lachens kommt. Ausnahmen werden aber gerade für die Komödie definiert und mit erzieherischen Funktionen legitimiert.148 Zudem gibt es Gattungen wie die Posse, die wei-

143 Vgl. Moritz: Ein unglücklicher Hang zum Theater, S. 122. 144 Aristoteles: Poetik, S. 17 (5). Das Hässliche bezeichnet dabei das „(sinnlich wahrnehmbare) Schlechte“ (Fuhrmann: Anmerkungen. In: Poetik. Griechisch/Deutsch, S. 108). 145 Aristoteles: Poetik, S. 37 (11). 146 Horn benutzt den ‚Fehler‘ als zentralen Bestandteil seiner Theorie des komischen Gegenstandes: vgl. Andreas Horn: Das Komische im Spiegel der Literatur. Versuch einer systematischen Einführung. Würzburg 1988. 147 Vgl. z. B. Siegfried J. Schmidt: Inszenierungen der Beobachtung von Humor. In: Friedrich W. Block (Hg.): Komik. Medien. Gender. Bielefeld 2006, S. 24. 148 Vgl. Claudia Gottwald: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld 2009, S. 212–219. Auch bestimmte Aspekte von Satire und Groteske stehen der Forderung nach Harmlosigkeit entgegen (vgl. Dieter Lamping: Ist Komik harmlos? Über Veränderungen der komischen Literatur seit dem neunzehnten Jahrhudert. In: ders. [Hg.]: Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne. Göttingen 1996, S. 91–93).

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terhin das Lachen über Behinderungen oder ‚Narrheit‘ ermöglichen.149 Der Psychiater Emil Kraepelin hebt in seiner Studie Zur Psychologie des Komischen (1885) die Bedeutung der Aspekte des Spiels und der Nachahmung für die Wirkung des Komischen hervor, die es ermöglichen, Themen als komisch zu emfpinden, die sonst „Unlust“ erregen würden: „Am leichtesten ertragen wir, wie bereits früher erwähnt, verhältnismäßig sehr starke Unlust erregende Situationen ohne Beeinträchtigung der komischen Wirkung unter der dauerneden Voraussetzung bloßen Spiels.“ 150 Kraepelins Aussage bezieht sich auf die Bedeutung der Darstellung und Inszenierung von Komik. Durch diese wird eine spezifische Kommunikationssituation151 etabliert, denn was im Theater komisch wirkt, muss in der ‚Realität‘ nicht so empfunden werden. Ebenso lenkt Henri Bergson die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Darstellung, wenn er schreibt: „Komisch kann jede Verunstaltung werden, die ein wohlgestalteter Mensch nachzuahmen vermöchte.“ 152 Auch die skizzierten Diskussionen um die Illusion des Zuschauers und des Schauspielers beziehen sich zumeist auf die Tragödie, während St. Albine den Schauspieler, dessen Spiel durchschaut wird, als ‚Komödianten‘ bezeichnet.153 Die Wirkung von Komik wird vielmehr oft mit einer emotionalen Distanz des Zuschauers begründet, die Bergson als „vorübergehende[ ] Anästhesie des Herzens“ 154 bezeichnet hat. Mit dieser Distanz scheint auch der Aspekt des ‚Verlachens‘, der Bestandteil vieler Komiktheorien ist, zusammenzuhängen. Das Lachen erscheint dann als Markierung und Bestrafung einer Normabweichung, eine Funktion, die etwa bei Hobbes, Kant, Bergson oder Hegel postuliert wird.155 Gegen diese Funktion des Lachens hat bereits Lessing die Option des ‚Mitlachens‘ formuliert und Theoretiker wie Bachtin haben zudem das kritische und relativierende Potential des Lachens betont.156

149 Vgl. Gottwald: Lachen über das Andere, S. 217. 150 Emil Kraepelin: Zur Psychologie des Komischen. Mit einem Vorwort von Klaus H. Fischer. Schutterwald/Baden 2001, S. 67. Bereits zuvor hatte Kraepelin ausgeführt: „Nur auf dem Theater und überhaput unter dauernder Voraussetzung bloßen Spiels vermögen auch gröbere Missgestaltungen in geschickter Nachahmung zur komischen Belustigung feinfühliger Gemüther beitragen.“ (ebd., S. 20) 151 Vgl. zum Komischen als Kommunikationsphänomen: Lamping: Ist Komik harmlos?, S. 94. 152 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter. Hamburg 2011, S. 26. 153 Vgl. Auszug aus dem Schauspieler des Herrn Remond von Sainte Albine. Übersetzt von Lessing, S. 305 f. (siehe Kap. 3.1.2). Vgl. zu den unterschiedlichen Illusionszielen in Tragödie und Komödie: Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy, S. 230–236. 154 Bergson: Das Lachen, S. 15. 155 Vgl. Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen. Tübingen 1993, S. 88–104. 156 Vgl. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 32–60.

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Das ‚Verlachen‘ hängt auch mit dem typisierten Personal der Komödie zusammen; so betont Bergson: „Die komische Gestalt ist ein Typ.“ 157 Die „komische Betrachtungsweise“ bewege „sich […] instinktiv auf das Allgemeine hin“ 158. Gottscheds Definition der Komödie als „Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann“ 159, legt den Fokus der Komödie auf die Handlung. Den Hinweis auf das Laster schwächt er später ab, indem er betont „Die Komödie will nicht grobe Laster, sondern lächerliche Fehler der Menschen verbessern.“ 160 Diese Definition setzt voraus, dass die Figur selbst verantwortlich ist für den ‚lächerlichen Fehler‘, und dass es die Möglichkeit der Besserung und Belehrung gibt, die Gottsched als zentrales Element der Komödie formuliert.161 Aus dieser Perspektive erscheint es notwendig, dass Krankheit in der Komödie nicht nur selbstverschuldet, sondern auch heilbar ist. Traditionell ähnelt die Struktur der Komödie der medizinischen Behandlung: Ein lächerlicher Typ wird einer Art Kur unterzogen. In der Hamburgischen Dramaturgie schreibt dagegen Lessing in Bezug auf Regnards Der Zerstreute: Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf für die Komödie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spötterein eben so wenig bessern als ein Hinkender.162

Die Kritik, die Lessing hier referiert, schließt nicht nur körperliche Krankheiten, sondern auch psychische Leiden, die nicht selbstverschuldet und nicht heilbar sind, als Themen der Komödie aus. Die Grenzen zwischen Moral und Pathologie sind nicht eindeutig gezogen.163 Lessing weist die Kritik an der Wahl der Zerstreuung als Thema einer Komödie jedoch zurück, indem er zum einen den pathologischen Charakter der Zerstreuung hinterfragt und zum anderen zwischen ‚Verlachen‘ und ‚Lachen‘ beziehungsweise ‚Mitlachen‘ differenziert. Letzteres ist frei von dem Gefühl der Überlegenheit und Schadenfreude und kann sich somit auch auf einen nicht-korrigierbaren Fehler richten.164

157 Bergson: Das Lachen, S. 106. 158 Bergson: Das Lachen, S. 119. 159 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 643. 160 Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 645. 161 Vgl. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, S. 631–657. 162 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 28. St., S. 322. 163 Reil führt z. B. Eitelkeit, Hochmut und Geiz als Ursachen von psychischen Krankheiten an (vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 294 f.). 164 Vgl. zum Unterschied zwischen ‚Ver-Lachen‘ und ‚Lachen‘ auch Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy, S. 244.

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Wenn in der deutschen Komödie des achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts Krankheit thematisiert wird, knüpft diese an eine lange Tradition der satirischen Auseinandersetzung mit Ärzten und Medizin in der Gattung Komödie an und rezipiert insbesondere das seit Molières La Malade imaginaire zu Verfügung stehende Modell einer ‚eingebildeten‘ Krankheit, die als Hypochondrie spezifiziert wird und mit den Aspekten der Ärztesatire und Medizinkritik verbunden wird. Die komisch-satirische Darstellung von meist als ‚Quacksalbern‘ dargestelltem Heilpersonal findet sich bereits in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Oster- und Fastnachtspielen.165 In der Commedia dell’arte gehört die Figur des Dottore zu dem feststehenden Typenpersonal. Er ist häufig ein Arzt, der sich durch Pseudowissen und gelehrtes Gerede profilieren möchte.166 Die Medizinthematik wird dabei zudem zur Erzeugung teils deftiger Körperkomik genutzt.167 Obwohl diese Art von Körperkomik in Molières Ärztekomödien keine Rolle mehr spielt, haben die Traditionen der Commedia dell’arte Molières komödiantischen Auseinandersetzungen mit Ärzten und Medizin beeinflusst, die beispielsweise in dem frühen Stück Le médicin volant, in L’amour médicin und Don Juan (1665) sowie in der Farce Médicin malgré lui (1666), in Monsieur de Pourceaugnac (1669) und am bekanntesten in seiner letzten Komödie Le Malade imaginaire (1673) stattfindet.168 Die dargestellten Ärztefiguren dieser Stücke tragen Spuren der Figur des Dottore der Commedia dell’ arte in sich.169 Auch in der Oper wird der Dottore zu einer stehenden Figur und tritt zum Beispiel noch in Rossinis Der Barbier von Sevilla (1816) in Erscheinung. Häufig verwenden Figuren, die sich als Arzt verkleiden, bestimmte Merkmale der Dottore-Figur, so zum Beispiel die Despina in Mozarts Cosi fan tutte (1790), deren Durchführung einer magnetischen Kur die Praktiken von Mesmer veralbert, was die Aktualisierungsfähigkeit der in der Figur angelegten Ärzte- und Medizinkritik zeigt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Theorien zum Komischen und zur Komödie scheinen mehrere Aspekte die Hypchondrie für die komödiantische Darstellung attraktiv zu machen. Dazu gehören insbesondere die implizierte Unvernunft sowie

165 Vgl. die Beispiele in Karl Friedrich Flögl: Geschichte des Grotesk-Komischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Mit dreiundsiebzig Bildbeilagen. Nach der Ausgabe von 1788. Bd. 1, bearbeitet und hg. von Max Bauer. München 1914, S. 180–184 und S. 221. 166 Vgl. Jürgen von Stackelberg: Molière. Eine Einführung. Stuttgart 2005, S. 13 f. und S. 146. 167 Vgl. das Beispiel in Flögl: Geschichte des Grotesk-Komischen, S. 146 f.: Ein Bauer verschluckt bei einer Zahnoperation Zahn und Zange, woraufhin der Dottore ihm – während er von zwei weiteren Figuren festgehalten wird – den Bauch aufschneidet, einen meterlangen Darm (aus Papier) herauszieht und nachdem er die Zange gefunden hat, völlig verknäult wieder einsetzt. Der Bauer steht sogleich wieder auf und ist gesund. Vgl. allgemein zur Körperkomik in der Komödie: Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernadon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn 2003; Eva Erdmann: Der komische Körper. Szenen – Figuren – Formen. Bielefeld 2003. 168 Vgl. Stackelberg: Molière, S. 145–147. 169 Vgl. Stackelberg: Molière, S. 146 f.

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die damit verbundenen moralischen Implikationen. Mit diesen Aspekten ist die Frage nach der Eigenverantwortung des Kranken eng verbunden, die wie Lessings Überlegungen zum Zerstreuten zeigen, für die Komödie des achtzehnten Jahrhunderts wichtig war. Durch das humoralpathologische Erklärungsparadigma ist der Hypchondrie zudem ein typisiertes Krankheits- und Menschenweissen eingeschrieben. Dazu treten neurophysiologische und -psychologische Deutungsmuster, über die Konzepte wie Empfindsamkeit und Emotionalität transportiert werden. Schließlich ist der Hypchondrie ein besonderer Bezug zur Selbst- und Fremdwahrnehmung gegeben, der sie für das Drama interessant macht. Pockels stellt in seinem Text über den ‚Fall‘ Adam Bernd den Hypochonder als ‚unvernünftige‘ und ‚lächerliche‘ Figur dar (siehe Kap. 3.2.3). Reuß assoziiert mit der Hypochondrie Aspekte der Verweichlichung und Dekadenz (siehe Kap. 2.3.3). Beide verbinden die Krankheit mit Vorwürfen anormativer Sexualität. Die Eigenverantwortung des Hypochonders für seine Krankheit ist dabei umstritten. Einerseits wird die Hypochondrie keinesfalls ausschließlich als ‚eingebildete Krankheit‘ angesehen und sie bedeutet durchaus schlimme und ‚reale‘ körperliche Leiden, trotzdem trägt der Hypochonder auch Verantwortung für sein Leiden.170 Dies wird insbesondere an der falschen Lebensführung deutlich, die immer wieder im Ursachenkatalog der Hypochondrie aufgeführt wird. Der Hypochonder vernachlässigt zudem durch exzessiven Selbstbezug die Interaktion mit Außenwelt und Gesellschaft und wirkt durch seine misanthropische Grundhaltung gesellschaftsschädigend. Auch psychopathologische Kategorien, mit denen die Hypochondrie beschrieben wird, werden häufig mit moralischen Kategorien vermischt, wodurch zusätzlich komisches und kritisches Potential erwächst.171 Der Kranke ist selbst für seine Krankheit verantwortlich, wenn eine moralische Verfehlung dieser vorausgeht, oder er verhält sich aufgrund der, durch die Hypochondrie verursachten psychischen Symptome wie Schwermut, Feigheit, Kleinmut, Furcht und Ängstlichkeit, Faulheit oder Aberglaube gesellschaftsschädigend.172 Diese Aspekte sind für die Darstellung in der Komödie interessant, denn die Hypochondrie ist somit geeignet, das traditionelle ‚Laster‘ der Komödie als Krankheit zu spezifizieren, ohne dass dabei die Möglichkeit der Belehrbarkeit oder Besserung verloren geht.173 Die Frage, weshalb Krankheiten wie die Hypochondrie und die Melancholie trotz des Aspekts der Eigenverantwortung im achtzehnten Jahrhundert ‚epidemisch‘ auftraten oder zumindest so wahrgenommen wurden, ist in der Forschung

170 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 68 f., S. 71 f. und S. 209. Vgl. zur Verknüpfung von Schuld und Hypochondrie auch Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 29. 171 Vgl. Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 70. 172 Vgl. zu dieser Aufzählung an Untugenden: Cullen: Anfangsgründe der praktischen Arzneywissenschaft, 3. Bd., S. 252 f. 173 Zur Frage, inwiefern die Hauptfigur der Komödie selbst verantwortlich für ihre Laster sein muss: Roman Lach: Characters in Motion. Einbildungskraft und Identität in der empfindsamen Komödie der Spätaufklärung. Heidelberg 2004, S. 116 f.

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unterschiedlich diskutiert worden.174 In einem sozialhistorischen Erklärungsansatz wird die Melancholie als innerliche Rückzugs- und Fluchtbewegung des Bürgertums angesichts ausbleibender politisch-gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten gesehen.175 Hans-Jürgen Schings widerspricht dem jedoch, indem er herausstellt, dass die Melancholie und damit assoziierte Figuren des Schwärmers und Müßiggängers den Werten des aufgeklärten Bürgertums gerade entgegenstanden. Die Debatten um Modekrankheiten wie die Melancholie und Hypochondrie sieht er vielmehr als Mittel der Ausgrenzung an.176 In jüngeren Erklärungsansätzen wird die Popularität der Hypochondrie mit der Entwicklung von Konzepten von Innerlichkeit, Empfindsamkeit und Individualität im achtzehnten Jahrhundert verknüpft.177 Die gesteigerte Empfindlichkeit des Hypochonders, die beispielsweise Reuß kritisiert (siehe Kap. 2.3.1), kann vor dem Hintergrund solcher Konzepte idealisiert werden, denn sie ermöglicht eine ausgedehnte Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und individuellen Empfindungen. Julia Schreiner stellt das Interesse an der Krankheit daher in einen Zusammenhang mit dem Sammeln von Fallgeschichten im Rahmen der Erfahrungsseelenkunde, in der die genaue und lückenlose (Selbst-)Beobachtung zum Mittel der Erkenntnis wird.178 Die Hypochondrie wird zunehmend vom Wahnsinn abgegrenzt und verliert somit ihre extreme pathologische Grundierung.179 Sie erscheint mehr als Krankheit, die jeden – und dabei insbesondere Gelehrte und Bücherliebhaber – befallen kann und der richtige, ‚aufgeklärte‘ Umgang mit dieser Krankheit rückt in den Blickpunkt. Die Diskurse über die Hypochondrie produzieren um 1800 eine große Menge an Schriften. Dazu gehören, wie das Beispiel Adam Bernd zeigt, (Auto-)Biographien und Fallgeschichten, des Weiteren Briefe und (Brief-)Romane.180 Diese Gattungen erscheinen als Ausdrucksformen der Innenschau und Selbsterforschung, zugleich diese Wahrnehmungsmuster aber auch als Produkte, die durch die Gattungen selbst erst hervorgebracht werden.181 Im Gegensatz zu den narrativen Auseinandersetzungen mit der Hypochondrie steht in der Komödie nicht das Innere des Kranken im Fokus, sondern dieser wird als lächerliche Figur vorgeführt. Hypochondrie ist dabei eine ‚eingebildete Krankheit‘, und der Hypochonder erscheint überwiegend als feststehender Typ im Sinne

174 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 188–196. 175 Vgl. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998. 176 Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 9. 177 Vgl. beispielsweise Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 34 f.; Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 221–243. 178 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 223–226. 179 Vgl. Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 23. 180 Vgl. Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 34 f.; Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 140. 181 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 187.

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der frühaufklärerischen Typenkomödie. Durch die Konzentration auf die Entstehung der Krankheit durch die Einbildungskraft ist sichergestellt, dass sie im Grunde ‚harmlos‘ ist, das heißt, es entsteht keine tatsächliche Bedrohung für das Leben des Kranken. Aristoteles’ Forderung, dass der in der Komödie dargestellte ‚Fehler‘, „keinen Schmerz und kein Verderben verursacht“, steht die Hypochondrie somit nicht entgegen.182 Während in den narrativen Gattungen die Hypochondrie im Eindruck von Sensibilität und Emotionalität inszeniert wird, bleibt das Leiden der dramatischen Hypochonder an der Oberfläche der wenig differenzierten Figuren. Sie wird nicht individualpsychologisch begründet, stattdessen existieren feste Versatzstücke an ätiologischen Erklärungen, die immer wieder verwendet werden. Dazu gehören insbesondere moralisch-diätetische und sexualpsychologische Begründungen, die mit der fehlerhaften Wirkung der Einbildungskraft ineinander geblendet werden.183 Im Fokus steht die soziale Funktion der Hypochondrie, die als Abweichung und Störung konstruiert wird. Diese Abgrenzung von den Ansprüchen der Gesellschaft wird nicht legitimiert, sondern muss komödienspezifisch korrigiert werden. Die Heilung des Hypochonders ist in den Komödien zudem auch notwendig, da dieser durch sein Verhalten sich und seine Umwelt negativ beeinflusst. Er hat sich durch seine Unvernunft selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt, hat aber meist durch seine Position Einfluss, so dass sein Verhalten sich nicht nur auf ihn als Individuum negativ auswirkt. Dabei lassen sich zwei Heilungsstrategien erkennen: zum einen die Intrige, die das gesellschaftsschädigende Potential des Kranken entschärft, und zum anderen die verstandsmäßige Einsicht des Hypochonders in seine eigene Unvernunft. Die Intrige ist notwendig, wenn die Unvernunft nicht durch den Verstand korrigiert werden kann, da die Krankheit nach der eigenen Logik der Störung durchaus verstandesgemäß ist. Durch die Intrige kann die Wahrnehmung des Hypochonders der Außenwelt wieder angepasst werden oder zumindest die schädlichen Wirkungen seiner Krankheit ausgeschaltet werden. Die Darstellung des Hypochonders wird daher vielfach mit einer beißenden Satire über die zeitgenössische Medizin und Ärzteschaft verbunden.184 Die Interaktion von Ärzten, dem Hypochonder und den weiteren Figuren unterstreicht die Potenzierung bestimmter Beobachtungsphänomene, die eng mit Krankheit verbunden sind. In der Hypochondrie wird alles Wahrgenommene zum Zei-

182 Aristoteles: Poetik, S. 17 (5). 183 Vgl Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 147. 184 Zur besonderen Interaktion von Ärzten und hypochondrischen Patienten vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 77. Die Hypochondrie galt auch als ‚ratlose‘ Diagnose des Arztes und die Vielzahl der möglichen Kuren als lukrative Einnahmequelle. Hoorn untersucht die Darstellung der Ärzteschaft in Mylius’ und Quistorps Komödien und identifiziert dabei verschiedene zeitgenössische medizinische Schulen, die in den frühaufklärerischen Komödien behandelt werden (vgl. Tanja van Hoorn: „Verachte alle vernünftigen Ärzte“. Komödiantische Medizindiskurse um 1750. In: Eisenhut/ Lütteken/Zelle (Hg.): Heilkunst und schöne Künste, S. 137–144).

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chen, das auf das eigene Leiden verweist oder die Gefahr von weiteren Leiden bedeutet. So schreibt der schottische Arzt Cullen, dass die Patienten in Ansehung aller künftigen Dingen immer das Uebelste oder den schlimmsten Ausgang, und daher oft aus leichten Gründen ein großes Unglück befürchten. Es pflegen auch dergleichen Personen besonders aufmerksam auf den Zustand ihrer Gesundheit zu seyn, und auf die geringste Veränderung der Empfindungen ihres Körpers Acht zu geben, und sie befürchten gleich, auch schon bey der geringsten Veränderung dieser Art, eine große Gefahr, ja oft den Tod selbst.185

Der Hypochonder ist permanent nur mit sich selbst beschäftigt. Dementsprechend grenzt Cullen die Hypochondrie von der Melancholie durch das Objekt ab, auf das sich die Angst bezieht: Die Furcht des Hypochonders beträfe den eigenen Körper, während die Angst des Melancholikers von außerhalb ihm selbst liegenden Dingen verursacht werde.186 Der Hypochondrie ist eine mehrfache Diskrepanz schon als Symptom eingeschrieben, durch die sie gewissermaßen erst konstruiert wird und durch die komisches Potential erwächst. Diese Diskrepanz ist zunächst innerhalb des Kranken eine zwischen Körper und Seele. So schreibt Unzer über den Hypochonder: „Von Seiten des Körpers ist er elend; von Seiten der Seele aber ist er lächerlich.“ 187 Die Lächerlichkeit entsteht aus der Selbstwahrnehmung des Kranken und der ‚objektiven‘, an somatischen Merkmalen festgemachten Schwere der Erkrankung.188 Diese Diskrepanz wird von außen wahrgenommen und bringt den Kranken mit seiner Umwelt in Konflikt. Diese sieht die subjektiv wahrgenommene Krankheit(en) nicht, und der Patient akzeptiert die von der Umwelt diagnostizierte Störung der eigenen Wahrnehmung nicht. Eine Therapie der Krankheit wird dadurch schwierig, da der Patient die therapeutische Kompetenz des Arztes durch seine fundamental andere Selbstwahrnehmung in Frage stellen muss, woraus das satirische Potential über Ärzte, Scharlatane und sonstiges Heilpersonal der Zeit erwächst. Die Komödien setzen an genau dieser Bruchstelle zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung an, die es ermöglicht, Krankheit und Tod als komisch zu empfinden: „Den ‚vermeintlichen Tod‘, den ‚geglaubten Tod‘ gibt es also sehr wohl in der Gattung – und dieser trägt erstaunlicherweise zur Komik bei.“ 189 Der Aspekt der ‚Einbildung‘, der mit der Hypochondrie konstitutiv verknüpft ist, führt zu einer komischen Brechung der dargestellten, persönlichen Krisensituation der Figur, durch die das Publikum

185 William Cullen: Anfangsgründe der praktischen Arzneykunst. 3. Bd. welcher die Nervenkrankheiten bis auf die Gemüthskrankheiten enthält. Zweyte Ausgabe. Nach der vierten englischen Ausgabe übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehret. Leipzig 1789 S. 252 f. 186 Vgl. Cullen: Anfangsgründe der praktischen Arzneykunst. 3. Bd., S. 63. 187 Johann August Unzer: Der Arzt. Eine medicinsche Wochenschrift. 1. Teil. 2. Aufl. Hamburg 1760, S. 395. 188 Vgl. auch Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 69. 189 Stackelberg: Molière, S. 155.

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Distanz aufbauen kann. Die Komödie kann dann als „Beobachtung von Tragödie“ 190 auch Situationen darstellen, die für die hypochondrische Figur extreme Leiden bedeuten. Ätiologie und Symptomologie der Hypochondrie ist eine Wahrnehmungsdiskrepanz inhärente, die mit der dramatischen Beobachtungs- und Rollenstruktur korrespondiert. Die deutschsprachige komödiantische Auseinandersetzung mit der Hypochondrie findet sich im gesamten achtzehnten Jahrhundert und insbesondere in der ersten Hälfte. Hierzu gehören Christlob Mylius’ Die Aerzte (1745) und Theodor Quistorps Der Hypochonder (1745), die beide Versatzstücke von Molières Malade imaginaire verwenden. Auch Frau von Ahnenstolz in dem Lustspiel Die ungleiche Heirath (1743) von Luise Gottsched und Frau Stephan in Gellerts Die kranke Frau (1746) sind ‚eingebildete Kranke‘. Ebenso erinnert die geizig-hypochondrische Hauptfigur Herr Gerhard in Wilhelm Gotters Lustspiel Die Erbschleicher (1789) an Figuren von Molière. Die Darstellung der Hypochondrie reicht bis ins neunzehnte Jahrhundert: 1803 wird Johann Friedrich Jüngers Posse Die Charlatans, oder der Kranke in der Einbildung uraufgeführt und 1824 veröffentlicht Balthasar von Amman sein Lustspiel Der Hypochondrist. Noch 1877 schreibt Gustav Moser ein Stück mit dem Titel Der Hypochonder.191 Die Hypochonderkomödien sind Typenkomödien, in denen die hypochondrische Figur als unvernünftig verlacht wird, was mit Kritik und Spott an den zeitgenössischen Medizinern verbunden wird.192 Die Texte sind auf der Differenz von ‚Vernunft‘ und ‚Unvernunft‘ bzw. ‚Tugend‘ und ‚Laster‘ aufgebaut und benutzen und variieren dabei immer gleiche Versatzstücke wie die Ärztesatire und die Heiratsthematik (die Hypochondrie verhindert die Hochzeit einer abhängigen Figur oder wird durch eine Hochzeit geheilt) und Typen wie den eingebildeten Kranken, die geldgierigen Ärzte und das schlaue Dienstpersonal. Bestimmte Aussageabsichten und satirische Spitzen werden bereits durch sprechende Namen wie „Ahnenstolz“ in Luise Gottscheds Die ungleiche Heirath, „Dr. Recept“ oder „Dr. Pillifex“ in Mylius’ Die Aerzte unterstrichen. Ärztesatire und Medizinkritik findet sich in allen Stücken wieder, aber auch die kranke Figur fungiert als Kritik zum Beispiel am Adel (die stolze und verblendete adlige Frau Ahnenstolz in Die ungleiche Heirath) oder dem Bürgertum (die geltungssüchtige Frau Stephan in Die kranke Frau). Nicht immer ist es die hypochondrische Figur, die einer ‚Kur‘ unterzogen wird, so bleibt

190 Ralf Simon: Theorie der Komödie. In: ders. (Hg.): Theorie der Komödie. Bielefeld 2001, S. 55. 191 Vgl. zur deutschen Rezeption von Molières Malade imaginaire auch Thomas Keck: „Molière imaginaire“. Von der Heilkraft deutscher Bühnenfassungen des Malade imaginaire. In: Thomas Unger (Hg.): Differente Lachkulturen? Fremde Komik und ihre Übersetzung. Tübingen 1995, S. 145– 192. Vgl. zu den Stücken von Mylius und Quistorp auch: Hoorn: „Verachte alle vernünftigen Ärzte“, S. 131–146; Ekiko Kobayashi: Hypochondrie im Konflikt der Kulturen. Satire und Wissenschaft in C. Mylius Die Ärzte und Th. J. Quistorps Der Hypochondrist. In: Jahrbuch für internationale Germanistik Reihe A 83 (2005), S. 237–244. 192 Vgl. auch Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 140 f.

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die Krankheit der Frau Ahnenstolz als Zeichen ihrer Unvernunft und auch ihres Standesbewusstseins bestehen, denn sie bildet sich viel darauf ein, einen empfindlicheren, kranken Körper als gesunde Bürgerinnen zu haben, während es der bürgerliche Willibald ist, der um jeden Preis in den Adel einheiraten will, der zur Vernunft gebracht wird. Die hypochondrischen Leiden der Frau Stephan entspringen eigentlich einem anderen Laster – ihrem Neid auf ihre Schwägerin, die von ihrem Mann eine neue, teure Andrienne193 bekommen hat – und verschwinden, sobald ihr Mann diese kauft. Unterschiedlich ist die Selbstdiagnose der Figuren, während Frau Ahnenstolz sich selbst als Hypochonderin bezeichnet und dies als Teil ihrer Identität als Adlige begreift, ist Frau Stephan dazu nicht in der Lage. In den Stücken Die Aerzte und Der Hypochonder von Mylius und Quistorp werden die kranken Figuren hingegen geheilt, indem sie ihre eigene Unvernunft erkennen. Die Frau Vielgut ist nach dem Verschwinden ihres Mannes in Indien in die Hände der Ärzte Dr. Recept und Dr. Pillifex geraten, die ihr ihre Krankheiten einreden. Sie steht so sehr unter deren Einfluss, dass sie sogar ihre Tochter an einen der beiden Männer verheiraten möchte, wofür sie einen Wettbewerb ausgelobt hat: Wer das kranke Hausmädchen Dorchen heilen kann, soll die Tochter bekommen. Erst als Dorchen, die von den Ärzten für ihren Wasserbauch behandelt worden ist, ein Kind bekommt, erkennt Frau Vielgut ihre Unvernunft und schwört den beiden Ärzten ab. Wie ihre Tochter Philine betont, entsprang ihre Krankheit jedoch einer positiven Tugend – dem Vertrauen. Die Hypochondrie des Hypochonders Gotthard in Quistorps Stück äußert sich weniger in körperlichen Leiden als in fixen Ideen, die ihm schreckliche Ängste bereiten und ihn mit permanenten Selbstmordgedanken spielen lassen, die schließlich in dem Versuch gipfeln, sich zu erhängen.194 Bereits während seiner Krankheit kann er die Unvernunft und Unwahrheit dieser Ideen zwischendurch erkennen, aber nicht danach handeln.195 An dieser Stelle setzt die gesellige Jungfer Fröhlichsinn an, in die sich Gotthard verliebt und die ihn darin bestärkt, sich mittels vernünftiger Erkenntnis gegen die ‚dunklen‘ Ideen zu wehren. Als zahlreiche Äußerungsarten ihrer Krankheit zählen die Figuren Leiden wie Schwindsucht, Brustpfeifen, Polypen, Leberentzündungen, Nierensteine, Seitenstechen, Steckfluss, Lungen- und Leberentzündung, verschrumpfter Magen, verschränktes Eingeweide, Magendrücken, Appetitlosigkeit, Verängstigung auf der Brust, Kopfschmerzen, Herzpochen, Verstopfungen, und starkes Wallen im Geblüte, Übelkeit, Kurzatmigkeit und Bangigkeit auf. Die Ähnlichkeit und die Wiederholung dieser Leiden in den verschiedenen Texten sprechen für die Stereotypisierung dieser Figur, die von Text zu Text fortgeschrieben wird.

193 Ein Kleid für festliche Anlässe. 194 Auch Adam Bernd leidet immer wieder an dem Verlangen, sich selbst zu töten (vgl. Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung, S. 118–120). Vgl. zur Neigung des Hypochonders, Selbstmord zu begehen: Schott: Der sympathetische Arzt, S. 130. 195 Vgl. Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 147.

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Die komödienspezifische Krankheitskonstruktion soll im Folgenden anhand Johann Friedrich Jüngers196 Posse Die Charlatans, oder der Kranke in der Einbildung (1803) und Balthasar von Ammans Lustspiel Der Hypochondrist (1824) näher untersucht werden. In Jüngers Posse, die durch den Titelzusatz direkt an Molières berühmtes Drama anschließt und ganz in der Tradition der frühaufklärerischen Typenkomödie verbleibt, kommt der satirisch-kritische Aspekt bereits im Titel vor. Es treten drei Scharlatane auf, die Eckstädt, dem eingebildeten Kranken, der davon überzeugt ist, an der Gelbsucht zu leiden, gegenübergestellt werden. Eckstädt vertraut keinen Ärzten mehr, sondern dem dubiosen Wunderheiler Trichter, der ihn nur zum Schein behandelt und vor allem Profit aus Eckstädts Leiden zieht. Als zusätzliche Komplikation müssen noch die Annäherungsversuche des zweiten Scharlatans Drachmasius abgewehrt werden. Die beiden geldgierigen Betrüger Trichter und Drachmasius überführen sich schließlich jedoch gegenseitig. Der dritte Scharlatan ist der verkleidete Diener Johann, dessen Herr, Reinhardt, die Tochter des kranken Eckstädts heiraten möchte. Eckstädts eingebildete Krankheit verhindert die Liebesheirat seiner Tochter Marianne jedoch, da der Vater bestimmt hat, dass diese erst heiraten dürfe, wenn er gesund sei. Mithilfe einer Intrige gelingt es dem schlauen Diener Johann jedoch, den Hypochonder durch den Rückgriff auf eine vermeintlich Wunder wirkende chinesische Medizin zu ‚heilen‘. Balthasar von Ammann197 veröffentlichte sein Lustspiel Der Hypochondrist unter dem Synonym Dr. Willibald und widmete es „allen Hypochondristen in Deutschland“. Sein Stück wurde 1824 uraufgeführt, aber die Publikumsreaktionen waren so vernichtend, dass die Aufführung abgebrochen werden musste, eine erneute Inszenierung ist nicht bekannt.198 In einer Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literatur Zeitung heißt es, in dem Stück würden „die dramatischen Gesetze“ zugunsten der medizinischen Zielsetzung missachtet, da nur verschiedene Szenen aneinander gereiht werden. Die Rezension schließt mit dem Wunsch, „dass das Stück wenigstens seinem ärztlichen Zweck recht oft erreichen möge“ 199. Auch in Ammanns Stück wird der Typus des Hypochonders bereits im Titel eingeführt. Der Hypochonder Martin Fliege befindet sich zu Beginn des Stücks zur Heilung in Karlsbad. Anhand mehrerer Szenen werden seine eingebildeten Leiden

196 Jünger (* 1759 (?) Leipzig † 1797 Wien) war ein Roman- und Lustspielautor, der um 1789 am Wiener Nationaltheater unter der Direktion von Johannes Franz Hieronymus Brockmann zum k. k. Hoftheaterdichter avancierte. Ab 1794 war er freischaffend tätig. Er war selbst mit Krankheit vertraut, litt an einer Augenerkrankung und zunehmend unter Depressionen (vgl.: Literatur-Lexikon. Bd. 6, hg. von Walther Killy. München 1990, S. 154). 197 Ammann (* 1788 Augsburg) lebte um 1800 noch in Augsburg; sein Todesdatum ist nicht bekannt (vgl. Edward Potter: Hypochondria as withdrawal and comedy as cure in Dr. Willibald’s “Der Hypochondrist” [1824]. In: German Life and Letters 65 [1] [2012], S. 3 f.). Im Folgenden wird sein Stück mit seinem Synonym zitiert, unter dem es auch veröffentlicht wurde. 198 Vgl. Potter: Hypochondria, S. 3 f.; Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 35. 199 D.:[Rezension]. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung. Bd. 3, Nr. 138 (1824), Sp. 144.

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sowie seine Unfähigkeit vorgeführt, sich in sein soziales Umfeld einzufügen. Auch in diesem Stück ist die Hochzeitsthematik zentral. Der Gast von Leer überredet Fliege, ein Los zu kaufen, mit dem er die Ehe mit der Schauspielerin Louise Herzwald gewinnen kann. Als weiterer Handlungsstrang wird die Geschichte der verwitweten Schwester Flieges, Jacobine Gurkenhahn, eingeführt, die ihren alten Liebhaber, den Deklamator Schallfink, wiedertrifft, der sie angesichts des ihr beim Tod Flieges zustehenden Erbes von 20.000 Gulden heiraten möchte. Jacobine hat sich jedoch geschworen, nicht wieder zu heiraten, bis Fliege gestorben ist. Eine Begegnung mit zwei Studenten, die den Mörder des Dichters August von Kotzebue gekannt haben, versetzt Fliege in so große Angst, dass er die Heimreise befiehlt. Anschließend werden die beiden Hochzeitsgeschichten weiter geführt. Die Schauspielerin Louise trifft ein, da Fliege sie tatsächlich gewonnen hat, dieser weigert sich jedoch, sie zu heiraten. Der Scharlatan Cyprian gibt im Auftrag von Schallfink vor, dass Fliege vergiftete Tabletten von ihm gekauft habe, woraufhin Fliege einen derartigen Schreck erleidet, dass er bewusstlos wird und von den anderen für tot gehalten wird. Jacobine ist nun bereit, Schallfink zu heiraten, doch Louise identifiziert diesen als ihren ehemaligen Verlobten, woraufhin Jacobine dessen moralische Defizite feststellt und die Verlobung löst. Zum Ende des Aufzugs erwacht Fliege wieder zum Leben und ist entsetzt, als er erfährt dass er beinah lebendig begraben worden wäre. Der zur erwarteten Hochzeit angereiste von Leer entspinnt dann im dritten Aufzug eine Verkleidungsintrige, durch die Fliege glaubt, ein englischer Wappenherold interessiere sich für seine geliebte Wappensammlung. Daraufhin bringt von Leer ihn dazu, seine Medikamente wegzuwerfen, dem Arzt zu kündigen und einen Ball zu organisieren, auf dem Fliege durch einen Tanz im Wappenrock des Engländers ‚geheilt‘ wird. Mit dem Scheintod greift Ammann ein Thema auf, das in medizinischen und populärwissenschaftlichen Diskursen um 1800 verbreitet ist. Die Überzeugung, bald sterben zu müssen, kennzeichnen seit Molières Malade imaginaire die hypochondrischen Figuren. In Ammanns Stück ist Flieges Scheintod für den Zuschauer auf der Bühne sichtbar.200 Der Zuschauer weiß allerdings bereits durch ein Gespräch zwischen Schallfink und Cyprian, dass diese Fliege nur in Todesangst versetzen wollen. Die Todesangst und das ‚Sterben‘ werden im Dialog zwischen Fliege und seiner Schwester vorgeführt, wobei beide weinen, was deutlich macht, dass auch Josephine das Sterben als ‚echt‘ wahrnimmt. Fliege schläft schließlich ein, woraufhin er für tot erklärt wird. Der Nebentext markiert ihn jedoch als schlafend.201 Flieges Aufwachen wird von seinem Diener Thomas berichtet und zudem sind Flieges Klage über die kalte Kammer, in die man ihn gelegt habe, hörbar. Die empört-verwirrten Kommentare von Flieges Schwester und seinem Diener, er habe

200 Vgl. Willibald [Balthasar von Ammann]: Der Hypochondrist: ein Original-Lustspiel in fünf Aufzügen; allen Hypochondristen in Deutschland gewidmet. Ulm 1824, S. 73–76. 201 Vgl. Willibald: Der Hypochondrist, S. 76.

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wohl vergessen, dass er gestorben sei und sei wieder auferstanden, lassen das Geschehen albern-komisch wirken.202 Es ist das Merkmal ‚Einbildung‘ der Hypochondrie sowie die besondere Beobachtungstechnik, die es ermöglichen, dass der Zuschauer über Todesfurcht und Scheintod lacht, obwohl diese für die Figur ‚echt‘ sind.203

5.2.1 Diagnosen: Figurenperspektiven In beiden der behandelten Stücke wird die Hypochondrie bereits durch die Titel diagnostiziert und somit eine „auktorial intendierte Rezeptionsperspektive“ 204 angelegt. Im ersten Akt wird diese Diagnose von den anderen Figuren weiter ausgeführt. Bereits in der ersten Aussage bezeichnet der Hofrat seinen Bruder als „Narr“ 205. Während Reinhardt Eckstädts paradoxes Vergnügen am Kranksein hervorhebt, widerspricht er, das Leiden des Bruders sei durchaus real, obwohl es nur von der Einbildungskraft erzeugt wird und kein ‚wirkliches‘ Substrat besitzt: „Er leidet wirklich, leidet sehr viel, so daß er mich manchmal recht herzlich dauert, so oft mir auch die Geduld über ihn ausgeht.“ 206 Dies ist die einzige Stelle, an der neben dem Spott über den Hypochonder auch Mitleid mit ihm angedeutet wird. Das Leiden Eckstädts ist von physischer Erkrankung abgelöst und wird einzig durch die Stärke der Einbildungskraft verursacht. Woran Eckstädt eigentlich leidet, ist die fixe Idee, krank zu sein. Er kann sich selbst nicht mehr richtig wahrnehmen und deutet seine Körperzeichen falsch: Es ist ihm vor einiger Zeit die Galle, glaub ich, einmal ausgetreten, weil er sich den Magen etwas zu stark überladen hatte, und seit dem will er mit aller Gewalt und allen vernünftigen Leuten zum Trotz, die Gelbsucht haben, ob er gleich so schön weiß und roth aussieht, wie das leibhafte Leben.207

Der Auslöser der Hypochondrie – der ausgetretene Gallensaft als Folge schlechter Verdauung – steht ganz im Paradigma der Humoral- und Organpathologie. Gleichzeitig wird durch den Vorwurf des übermäßigen Genusses der Zusammenhang mit Diätetik und maßvoller Lebensführung hergestellt. Eckstädt ist so zu sagen im Modus des Leidens geblieben, obwohl diese Eigenwahrnehmung den an der Körperoberfläche sichtbaren Zeichen widerspricht.

202 Vgl. Willibald: Der Hypochondrist, S. 89–94. 203 Vgl. Stackelberg: Molière, S. 152–156. 204 Pfister: Das Drama, S. 90. 205 Johann Friedrich Jünger: Die Charlatans, oder der Kranke in der Einbildung. Eine Posse in drey Aufzügen. Wien 1803, S. 3. 206 Jünger: Die Charlatans, S. 4. 207 Jünger: Die Charlatans, S. 7.

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Nach der Diagnose und Pathogenese der anderen Figuren wird die Figur Eckstädt in den folgenden Auftritten in ihrer Lächerlichkeit vorgeführt, indem seine Eigenperspektive immer wieder mit den Außensichten auf ihn kontrastiert wird. Eckstädt beharrt entgegen der Wahrnehmung der anderen Figuren auf seiner Gelbsucht, obwohl er sich bewusst ist, dass seine Krankheit von den anderen als nichtreal wahrgenommen wird: „Ich habe die Gelbsucht, euch allen zum Trotz, ob mir gleich jedermann ins Gesicht behauptet, daß ich so roth aussehe, wie die Gesundheit selbst.“ 208 Auch in Luise Gottscheds Die ungleiche Heirath wird die Diskrepanz zwischen Gesichtsfarbe und gefühlter Krankheit von anderen Figuren aufgeführt, so dass die Krankheit als falscher Leseprozess von Körpersymptomen gedeutet wird.209 Eckstädt führt verschiedene Leiden auf, die ihn als übertrieben sensibel und verweichlicht erscheinen lassen. Der stets bereite Trichter bietet für jede dieser Klagen eine humoralpathologische Erklärung im Zeichen der allgegenwärtigen Galle an. Patient und ‚Arzt‘ spielen bei der Erzeugung der Krankheit perfekt zusammen. Eckstädt wird zunächst „das Gehen so sauer“ 210, weil, so Trichter, seine Galle keine Bewegung vertrage. Im Sitzen hat Eckstädt jedoch das Gefühl zu ersticken, was Trichter damit erklärt, dass die Galle zusammengepresst werde. Diese Beschwerden werden in immer lächerlicher werdenden Differenzierungen weitergeführt. Die Erklärungen der Hypochondrie bleiben ganz in den Mustern der Säftelehre verhaftet, deren einfache und schematisierte Erklärungsmuster zugespitzt zur Erzeugung von Komik verwendet werden, indem der Gallensaft pauschal als Ursache für alles Leiden ins Feld geführt wird. Die Pauschalisierung unterstreicht dabei, dass die Krankheit etwas ist, das zwischen dem Patienten und dem ‚Arzt‘ verhandelt wird. Die Humoralpathologie ist hier nur der gemeinsame, leicht nachvollziehbare medizinische ‚Code‘, auf den man sich geeinigt hat, und kein Versuch, eine ernsthafte Erklärung zu liefern. Anders als im Fall Adam Bernd, dessen Hypochondrie mit nerven- und psychopathologischen Erklärungen begründet wird, nutzt Jünger das typisierende Wissen der Humoralpathologie zur Erzeugung komischer Effekte. Auch in Ammanns Lustspiel wird die Hypochondrie durch den Wechsel von Eigen- und Fremdperspektive konstruiert, die Symptome dabei aber detailreicher und breiter inszeniert. Fliege wird bereits durch den Zusatz „ein Gelehrter“ im Personenregister als wahrscheinlicher Kandidat für die Luxus- und Gelehrtenkrankheit Hypochondrie herausgestellt. Er ist schon im gesamten ersten Aufzug präsent, in dessen fünf Auftritten er mit verschiedenen Figuren sein hypochondrisches Leiden bespricht und alle Vorschläge und Möglichkeiten der Heilung als wirkungslos

208 Jünger: Die Charlatans, S. 10. 209 Vgl. Luise Gottsched: Die ungleiche Heirath. Ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. 4. Teil. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741–45. Stuttgart 1972, S. 80. 210 Jünger: Die Charlatans, S. 11.

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abweist. Das Stück wird somit durch ein Panorama der potentiellen Wirkungen und Erklärungen der Hypochondrie eingeleitet. Im Unterschied zu Eckstädt diagnostiziert sich Fliege selbst als Hypochonder, was für ihn jedoch die Realität seiner körperlichen Leiden nicht in Frage stellt. Zusätzlich zu seiner eigenen Diagnose liefert seine Schwester Jacobine in Gesprächen mit ihrem Verehrer Schallfink und dem Herrn von Leer die Anamnese von Flieges Hypochondrie. Jacobine berichtet, dass Fliege schon seit 15 Jahren jeden Tag zu sterben glaube. Ausgelöst wurde sein hypochondrisches Leiden durch einen Besuch beim Blocksberg in der Walpurgisnacht: Von dieser Zeit war es ihm auch nicht mehr richtig; ich glaube, seine Hypochondrie haben ihm die Hexen angethan, denn die Hexen, wenn sie Jemand erwischen können, sollen dem Menschen recht zusetzen, um ihn zum Bösen zu verführen, dieß hörte ich oft von meiner alten Großmutter sagen.211

Jacobines Erklärung ruft über das Motiv der Walpurgisnacht den Zusammenhang von Hypochondrie und Sexualität auf, der in den zeitgenössischen medizinischen Texten häufig zu finden ist. In diesen wird die Hypochondrie mit einem ausschweifenden Sexleben, Onanie oder kontrastiv-komplementär dazu mit der unnatürlichen Unterdrückung von Sexualität begründet.212 Der Ausdruck „zum Bösen [zu] verführen“ impliziert eventuell eine von Fliege praktizierte gesellschaftlich nicht legitimierte Sexualität. Gleichzeitig wird ein dämonisch-irrationales Verständnis von Krankheit aufgerufen, in dem Krankheit als ‚Strafe‘ für ‚Böses‘ präsentiert wird. Die Figur der Großmutter als Subjekt dieses Wissens verstärkt diesen Eindruck. Die Verbindung von Geschlecht, Sexualität und Hypochondrie wird auch durch Jacobines Bericht aufgerufen, ihr Bruder habe sich einmal eingebildet, an der ‚weiblichen‘ Version der Hypochondrie, der Hysterie, sowie anderen Frauenleiden erkrankt zu sein: Denken Sie sich den närrischen Gedanken; mein Bruder war einmal der festen Meinung, er leide nicht an der Hypochondrie, sondern vielmehr an der Hysterie, die doch eine eigenthümliche Krankheit der Frauenzimmer ist; ein andermal sah er ungewöhnlich blaß aus, daher glaubte mein Bruder bestimmt, er bekäme die Bleichsucht; ist das nicht zum närrisch werden? Zu einer andern Zeit, hatte er Grimmen, nun war er ganz überzeugt, es wären die Mutterwehen, und hatte fürchterlich bange vor der Niederkunft.213

Hysterie und Hypochondrie sind in den nosologischen Definitionen um 1800 nicht immer klar voneinander abgrenzbar, werden jedoch vielfach als geschlechterspezi-

211 Willibald: Der Hypochondrist, S. 35. Auch in Quistorps Hypochonder wird mehrfach auf den Blocksberg angespielt (vgl. Quistorp: Hypochonder. In: Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. 6. Teil, S. 322, S. 372) und der Diener Heinrich impliziert, dass Krankheit durch ein ausschweifendes Studentenleben hervorgerufen wurde (vgl. ebd., S. 93). 212 Vgl. dazu auch Potter: Hypochondria S. 10 f. 213 Willibald: Der Hypochondrist, S. 99.

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fische Ausprägungen derselben Krankheit gesehen.214 Edward Potter sieht in Flieges Einbildung einen Hinweis auf „gender confusion“ 215 und eine mögliche Homosexualität Flieges. Der Text gibt für eine homosexuelle Neigung Flieges jedoch keinen eindeutigen Hinweis, vielmehr gibt die Figur Fliege an, sie habe die Frauen einst geliebt und scheint auch der charmanten Julie Schmitz zunächst nicht abgeneigt. Auch wenn durch die Walpurgisnacht-Episode und die Vorstellung von Hysterie und Schwangerschaft die Themen Sexualität und Gender implizit präsent bleiben,216 dient das Unterlaufen der Geschlechterdualität durch die eingebildete Hysterie, die Bleichsucht und die angebliche Schwangerschaft vor allem dazu, Fliege als Mann mit feminin codierter Empfindlichkeit lächerlich zu machen. Jacobine gibt von Leer zusätzlich einen kleinen Auszug aus Flieges eingebildeter Krankengeschichte, damit jener einen Eindruck bekommt, was er so zuversichtlich zu heilen verspricht: Lassen Sie sich nur einiges von den seltsamen Krankheiten erzählen, an welchen mein Bruder in seiner Einbildung leidet. Seit heute Morgen laborirt er an der Lungenschwindsucht, weil er von einem unbedeutenden Husten überfallen worden ist; die vorige Woche lag er an der Wassersucht krank; und vor einigen Tagen, als er Herzklopfen bekam, ließ er sich’s nicht ausreden, und behauptete, er hätte am Herzen einen Polypen sitzen, der von Zeit zu Zeit ein leises Getön von sich hören ließ. Voriges Jahr kurierte er am Bandwurm, weil er sich aus der Knabenzeit zu erinnern wußte, daß er eine Brombeere mit einem Wurm verschluckt hätte. Herr von Leer, wie ich Ihnen sage, es giebt keine Krankheit in der Welt, die mein Bruder nicht schon gehabt hätte.217

Direkt zu Beginn ihrer Erzählung betont Jacobine, dass ihr Bruder nur in der Einbildung an diesen Krankheiten leidet. Die temporale Steigerung in die Vergangenheit von „heute Morgen“ zu „voriges Jahr“ zeigt, wie die immer neue Produktion von eingebildeten Krankheiten potentiell ins Unendliche läuft. Die Leiden sind dabei nicht miteinander verknüpft oder verwandt, sondern sind vieldiskutierte Erkrankungen – wie Lungenschwindsucht, Wassersucht und Polypen – der zeitgenössischen Medizin, deren vielzähligen nosologischen Definitionen das Arsenal für Flieges Einbildungen darstellen und die, wie bereits angeführt, auch in den anderen Hypochonderkomödien aufgezählt werden. Von Leer bezeichnet in seiner Replik auf Jacobines Bericht Fliege als „unglückliche[n] Mann“ 218, was eine der wenigen Stellen ist, an der neben dem Verlachen der hypochondrischen Figur im Sinne einer aufgeklärten Reaktion auch Mitleid angedeutet wird.

214 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 67; Potter: Hypochondria, S. 11 f. 215 Potter: Hypochondria, S. 11. 216 Potter sieht die sexuelle Thematik als eine der Hauptaspekte an (vgl. ders. Hypochondria, S. 3, S. 8–13 und S. 19). 217 Willibald: Der Hypochondrist, S. 98 f. 218 Willibald: Der Hypochondrist, S. 101.

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5.2.2 Der eingebildete Körper oder Wissen von Krankheit In der Interaktion zwischen den Hypochondern und den anderen Figuren wird ein Wissen um Krankheit und die Frage verhandelt, wer das Subjekt dieses Wissens ist. Fliege beobachtet und interpretiert seinen Körper permanent. Die unsichtbaren Vorgänge in seinem Körperinneren werden mit denselben Figuren des Spannens, Stockens, Verstopfens, Krampfens und Ziehens beschrieben, mit denen die Hypochondrie auch in den medizinischen Texten dargestellt wird 219 und somit ein umfassend leidender Körper entworfen. Fliege klagt unter anderem über ein „Drücken und Spannen im Unterleibe“ 220, aufsteigende Vapeurs, Verstopfung der Gefäße, einen „kranke[n] Zustand der Eingeweide“ oder die „Empfindung von einer rollenden und drückenden Kugel im Bauche“ 221. Dazu kommt das Gefühl der Beängstigung und Beklemmung, das im Bereich der Brust und des Herzens lokalisiert wird und sich in „Herzklopfen“ 222, „krampfartige[r] Beklemmung“ 223 und „Zusammenziehen der Luftröhre“ äußert. „Nervenunruhen“ 224 und „gichterische Zuckungen“ 225 der Nerven führen zu Ohnmachtsanfällen und der Überzeugung Flieges, dass er ohne Nerven „gesund wie ein Hecht“ 226 wäre. Den traditionellen medizinischen Vorstellungen der Hypochondrie gemäß wird der leidende Körper mit Gefühlen von Angst und Sorge verbunden. So heißt es beispielsweise bei Unzer: Das Gemüth eines Hypochondristen ist mit einer ängstlichen Traurigkeit und schädlichen Einbildungskraft beschweret, die oft mit einem Unsinne von Lustigkeit und Leichtsinne abwechselt. Die Traurigkeit macht diese Leute schwermüthig, feige, verzagt, kleinmüthig, furchtsam. Sie sehen ihre Krankheiten für weit gefährlicher an, als sie sind. Sie glauben immer zu sterben, und können doch nie dazu kommen.227

Entsprechend bescheinigt Fliege sich eine „melancholische[ ] Gemüthsstimmung.“ 228 Er äußert den Wunsch, sich selbst zu töten, was jedoch die Sorge verhindert, was dann mit seiner geliebten Wappensammlung geschehen würde. Eckstädt und Fliege beharren auf der Realität ihrer Leiden, während diese von außen bezweifelt, belächelt und als unvernünftig markiert werden. Fliege kontrastiert seine eigene Körperwahrnehmung mit den Vorschlägen der Ärzte, die immer

219 Die Symptome finden sich entsprechend in der zeitgenössischen medizinischen Literatur zur Hypochondrie: vgl. Bilger: Üble Verdauung und Unarten des Herzens, S. 65. 220 Willibald: Der Hypochondrist, S. 7. 221 Willibald: Der Hypochondrist, S. 23 f. 222 Willibald: Der Hypochondrist, S. 7. 223 Willibald: Der Hypochondrist, S. 19. 224 Willibald: Der Hypochondrist, S. 7. 225 Willibald: Der Hypochondrist, S. 15. 226 Willibald: Der Hypochondrist, S. 15. 227 Unzer: Der Arzt, S. 395. 228 Willibald: Der Hypochondrist, S. 7.

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verlangen würden, was er nicht tun könne oder wolle, und dem Verlachen der Gesellschaft. Er kann sich nicht bewegen, da ihn die Füße nicht tragen wollen. Er kann nicht aus dem Brunnen trinken, da ihm das schwefelige Wasser „Sodbrennen und Schmerzen“ 229 verursache. Die Bäder lehnt er ab, da seine „subtilen Nerven“ 230 die heißen Wasserdünste nicht ertrügen und ihm schwindelig werde. Da die Perspektiven der ‚eingebildeten‘ Kranken mit denen der ‚vernünftigen‘ Figuren kontrastiert und abgeglichen werden, wird jedoch kein subjektives Empfinden von Krankheit fokussiert. Die Überzeichnung der hypochondrischen Figur und der Widerspruch zu den anderen Figurenperspektiven dienen der Erzeugung von komischen Effekten und machen völlig klar, dass sich die Figuren ihr Leiden ‚nur‘ einbilden und diese – anders als in medizinischen Texten über die Hypochondrie – keinerlei körperliches Substrat haben. Dieses fehlerhafte Wirken der Einbildungskraft wird aus der Perspektive der anderen Figuren als gesellschaftsschädigend gekennzeichnet und ist keinesfalls ein akzeptierter Ausdruck von Individualität und Empfindsamkeit. Die ‚vernünftigen‘ Figurenperspektiven sind dabei deutlich bevorzugt und denen der Hypochonder übergeordnet und entsprechen der Perspektive, die durch die Titel eingeführt wird. Auch die wenigen Szenenanweisungen funktionieren dementsprechend, indem sie die Wahrnehmung der anderen Figuren bestätigen. So wird im Hypochondrist Flieges Besserung mit der Anweisung „von diesem Augenblick verschwindet immer mehr und mehr seine hypochondrische Laune“ 231 eingeleitet, wodurch sein Leiden als Stimmung abgewertet wird, die keine ‚wirkliche‘ Krankheit ist. Die Hypochondrie wird demnach in beiden Dramen als Krankheit der Einbildungskraft konstruiert. Die somatischen Ursachen, die in den medizinischen Schriften angesprochen werden, werden nur als ‚eingebildete‘ Leiden reproduziert. Sie werden jedoch nicht zur Erzeugung von Körperkomik benutzt, sondern der kranke Körper entsteht ausschließlich in der Figurensprache der hypochondrischen Figur, da er nur in deren Einbildung existiert sowie in der Rede desjenigen Heilpersonals, das die Leiden als ‚real’ behandelt.232 Das Leiden der Hypochonder ist ein imaginiertes Konstrukt des Patienten, das dem Einfluss von Vernunft und Verstand entzogen ist. Dabei drückt sich jedoch nicht etwa ein individuelles Verständnis vom eigenen Körper aus, sondern die eingebildeten Leiden figurieren schematisch in bestimmten Bildern und Mustern der zeitgenössischen Texte, die sich mit der Hypochondrie auseinandersetzen. Hier ist

229 Willibald: Der Hypochondrist, S. 4. 230 Willibald: Der Hypochondrist, S. 4. 231 Willibald: Der Hypochondrist, S. 104. 232 Es ist allerdings bedauerlich, dass keine Beschreibungen von zeitgenössischen Aufführungen gefunden werden konnten, denn auch wenn der dramatische Text keine Hinweise auf den Einsatz von Körperkomik gibt, kann dies in Aufführungen anders gewesen sein, insbesondere da die Hypochonderkomödien Bezüge zur Commedia dell’arte und ihrer derben Körperkomik haben.

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von einem hohen Wiedererkennungswert der hypochondrischen Figur auszugehen, die als Stereotyp von Text zu Text fortgeschrieben wird.233 Das Ineinandergreifen von individuellem Leidensanspruch und der Reproduktion schematischer Leidensdarstellungen verstärkt in den Komödien die lächerliche Wirkung. Die typisierte Figur des Hypochonders wird so zur satirischen Auseinandersetzung mit der Medizin genutzt. In Jüngers Stück wird dabei insbesondere die Säftelehre veralbert, während Ammanns Text an den Umbruchstellen im medizinischen Wissen ansetzt, die als Modeerscheinungen belächelt werden. Hierzu gehören beispielsweise die nervösen Leiden Flieges und der permanent Schiller-Zitate rezitierenden, ‚empfindsamen‘ Schauspielerin Louise Herzwald oder die magnetische Kur, die Cyprian Jacobine anrät sowie Cyprians Selbststilisierung als „kantische[r] Philosoph[ ]“ und somit „completter Doktor“ 234, mit der das Ideal des philosophischen Arztes veralbert wird. Anders als in narrativen Texten ist die Hypochondrie kein Mittel, um Empfindsamkeit und Subjektivität auszudrücken und somit ein eigenes ‚Inneres‘ zu konstruieren. Dagegen wird die Diskrepanz zwischen diesem eingebildeten Leiden und der Wahrnehmung der Außenwelt fokussiert und zur Erzeugung komischer Effekte genutzt. Die Ausgestaltung des Hypochonders weist in der Komödie über die Epochengrenzen hinweg überwiegend Kontinuitäten auf. Der Hypochonder ist auch nach 1800 in der Komödie mit seinem schematischen und lächerlich überzogenen Leiden nicht als Entwurf individueller Innerlichkeit geeignet, sondern dient als Typus, dessen Unvernunft verlacht wird. Dazu passt, dass für die Herstellung der Hypochondrie in der Komödie weitaus stärker als in narrativen Texten humoralpathologische Vorstellungen verwendet werden, da insbesondere die Temperamentenlehre ein typisiertes Wissen vom Menschen zur Verfügung stellt, aus dem auch ein satirisches Potential entsteht und das auch im neunzehnten Jahrhunderts zum Beispiel noch von Nestroy in seiner Posse Das Haus der Temperamente genutzt wird.235

5.2.3 Heilung: Intrige und Komödie Die Notwendigkeit, die Wirkungen der Hypochondrie zu beheben, und damit die Notwendigkeit zur Intrige erwächst aus dem gesellschaftsschädigenden Potential der Krankheit. Eckstädts Krankheit verhindert die Hochzeit seiner Tochter Marianne mit Reinhardt. Bei Fliege tritt dessen traditionell mit der Hypochondrie verbundener misanthropischer Grundzug durch seine vehemente Abneigung aller sozia-

233 Vgl. Schreiner: Jenseits vom Glück, S. 199 und S. 265. 234 Willibald: Der Hypochondrist, S. 38. 235 Vgl. Walter Pape: „Das Otello-Kleeblatt wird ein grimmiges Spectakel machen“. Dramatische Spiegelungstechnik. In: Nestroyana 31 (2011) H. 3/4, S. 133–149.

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len Veranstaltungen klar hervor, die in einem Drang gipfelt, alle Menschen zu vergiften. Seine Hypochondrie verhindert zudem zum einem die eigene Heirat und zum anderen die Hochzeit seiner Schwester Jacobine.236 Die soziale Störung, die beide Hypochonder verursachen, wird in beiden Stücken durch eine Intrige ausgeschaltet. Die Intrigen weisen dabei Merkmale auf, die sich auch in zeitgenössischen Konzepten einer psychischen Kur finden. So empfiehlt beispielsweise Cullen bei der Behandlung der Hypochondrie, die Krankheit ernst zu nehmen.237 Auch Reil sieht bei fixen Ideen, die sich auf den eigenen Körper beziehen, zu der er die Hypochondrie rechnet, das Eingehen auf diese Idee als notwendig zur Heilung an.238 In beiden Komödien wählen die ‚Intriganten‘ das vermeintliche Zugestehen des Leidens als Einstieg in ihre Intrige. Damit wird aber bereits angedeutet, dass eine verstandsmäßige Einsicht – anders als in den Stücken von Mylius und Quistorp – gar nicht möglich ist. Der als Wunderheiler verkleidete Johann geht auf Eckstädts fixe Idee, krank zu sein, ein und spannt dem Scharlatan Trichter den kranken Eckstädt förmlich aus, indem er sein Vorwissen ausnutzt, um Punkt für Punkt Eckstädts Vorstellungen zu bestätigen. Dazu gehören dessen großes Misstrauen gegenüber institutionell ausgebildeten Ärzten, die Überzeugung, an Gelbsucht zu leiden, und die vorgestellte Schwere der Erkrankung. Durch die Erfindung einer in der chinesischen Medizin bekannten roten Galle bringt Johann Eckstädts Leiden sogar in Einklang mit dessen Körpersemiotik. Johann schmeichelt dabei der Einbildungskraft des Hypochonders, indem er sich als wundersamen, uralten Kenner chinesischer Medizin inszeniert, der auf abenteuerlichen Reisen sein Wissen erlangt hat und erstaunliche Heilerfolge vorzuweisen hat. Die vermeintliche chinesische Medizin wird zum Code für eine überlegene Heilkraft, die sich aufgrund ihrer Fremdheit jeglicher Kontrolle und Überprüfbarkeit entzieht. Die Versuche Trichters, Johann als Scharlatan zu überführen, indem er zum Beispiel darauf verweist, dass es nur vier Fakultäten statt der von Johann angeführten sieben gebe, oder dass es schwarze und nicht graue Galle heiße, entkräftet Johann stets mit dem Verweis auf das phantastischgeheimnisvolle China. Johann verabreicht Eckstädt ein üppiges Mahl als chinesische Medizin, die auf wundersame Weise so schmecke, wie die Lieblingsspeisen des Patienten. Der Lieblingswein wird als Kordial gegen seine Leiden gereicht. Die Intrige ist jedoch nicht so sehr auf eine tatsächliche Heilung und Reintegration in die Gesellschaft ausgerichtet als darauf, die Hochzeit zu ermöglichen. Johann und die anderen Figuren inszenieren eine Gedächtnislücke Eckstädts, die als Nebenwirkung des Kordials bezeichnet wird, um die Festlegung der Mitgift, die Hochzeit und die Bezahlung Johanns zu ermöglichen. Die störende Wirkung der Hypochondrie wird quasi aus-

236 Vgl. Willibald: Der Hypochondrist, S. 63; ausführlich dazu Potter: Hypochondria, S. 11. 237 Vgl. Cullen: Anfangsgründe der praktischen Arzneykunst. 3. Bd., S. 272. 238 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 337.

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geschaltet und die sozialen Aufgaben des Vaters von den anderen Figuren übernommen. In seinen Rhapsodieen vertritt Reil die Ansicht, dass zur Heilung geisteskranker Patienten erreicht werden muss, dass sich der Kranke wieder als Subjekt seiner eigenen Anschauungen und Gefühle beobachtet. Der Kranke muss das normale Bewusstsein seiner eigenen Persönlichkeit wiedergewinnen.239 Das heißt, er muss in der Lage sein, sich selbst als Beobachter zweiter Ordnung im Verhältnis zur Umwelt zu sehen. Eben dies geschieht jedoch in Jüngers Posse nicht. Eckstädt erlangt zu keiner Zeit ein solches Bewusstsein. Vielmehr geschieht die Hochzeit seiner Tochter, während er selbst betrunken ist, und wird als vermeintliche Gedächtnislücke – also dem Verlust von Bewusstsein – inszeniert. Nicht der Verstand ermöglicht somit die Einsicht in die eigene Unvernunft und Heilung, sondern nur das Ausschalten des Bewusstseins ermöglicht die Hochzeit der Tochter. Aus der Unvernunft Eckstädts gibt es letztlich keinen Ausweg: „Einem Narren muß man keine Vernunftgründe entgegen setzen, denn die helfen nichts. Man muß seiner Narrheit schmeicheln, seinen Willen thun, statt ihm zu widersprechen.“ 240 Die ‚Heilung‘ von Ammans hypochondrischer Figur Fliege rückt die Gattung Komödie und ihr implizites Wissen über Lachen, Krankheit und Heilung in den Blickpunkt, indem Fliege durch eine komödienhafte Verkleidungsintrige der Figur von Leer geheilt wird. Die Verlachkomödie hat strukturelle Ähnlichkeiten mit einer medizinischen Therapie: Eine lasterhafte Figur wird einer Kur unterzogen. Die Spiel-im-Spiel-Situation der Verkleidungsintrige stellt diese Struktur noch zusätzlich heraus: Die Therapieform ‚Komödie‘ wird innerhalb des Stücks noch einmal wiederholt, indem Fliege durch eine Art Spiel-im-Spiel ‚geheilt‘ wird oder zumindest die gesellschaftsschädigenden Wirkungen seiner Krankheit gekappt werden. Schon in der Vorrede des Stücks hatte der fiktive Dr. Willibald die Forderung eines hypochondrischen Arztes zitiert, „den Hypochondristen […] auf dem Theater lächerlich“ 241 zu machen, denn das könne für viele „eine Radikal Kur abgeben“ und würde den Komödiendichtern den Dank der Hypochonder einbringen. Damit setzt er eine bestimmte Rezeptionsweise im Voraus fest. Das Lustspiel selbst wird als Therapie für Hypochonder inszeniert.242 Durch die Vorrede wird somit eine metatextuelle Ebene eingeführt, auf der die Komödie als Therapie reflektiert wird. Die Lächerlichkeit der hypochondrischen Figur kann potentiell zur Selbsterkenntnis und Distanzierung und damit zur Besserung bei ebenfalls hypochondrischen Zuschauern führen. Dr. Willibald warnt dabei davor, sein Stück für die Aufführung zu ändern und nennt die Hypochonder ausdrücklich als eigentliche Zielgruppe:

239 Vgl. Reil: Rhapsodieen, S. 248. 240 Jünger: Die Charlatans, S. 6. Wöbkemeier bezeichnet Eckstädts Heilung daher als „unvollständig“. (Wöbkemeier: Erzählte Krankheit, S. 150) 241 Willibald: Der Hypochondrist, S. VII. 242 Vgl. Potter: Hypochondria, insb. S. 1 und S. 18 f.

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Manchem wird mein Lustspiel zu breit angelegt vorkommen; ich werde aber in der Hauptsache nie etwas daran ändern, und ersuche besonders Theaterdirektionen, bei einer etwaigen Aufführung nichts zu streichen, indem das Lustspiel gewiß Niemand, am wenigsten Hypochondristen, für die es eigentlich geschrieben ist, zu lang vorkommen wird.243

Der Text wird dabei zu einer Art „secret code“ 244, der von den Hypochondristen auf jeden Fall verstanden werde, da sie sich in der stereotypen Figur des Hypochonders wiedererkennen können. Nachdem von Leers Versuch, Fliege mit der Schauspielerin Louise Herzwald zu verheiraten, gescheitert ist, tritt er als englischer Wappen-Herold Sir Tyrwhitt auf, der sich für Flieges Wappensammlung interessiert. Flieges Fixierung auf sich selbst und seine (vermeintlichen) Leiden wird dadurch aufgebrochen und auf die Auseinandersetzung mit seiner geliebten heraldischen Sammlung gelenkt. Von Leer nutzt die erfundene Anwesenheit des englischen Wappenexperten, um Fliege schrittweise von seiner Krankheit wegzuführen und deren gesellschaftsfeindliche Tendenzen auszuschalten. Er beginnt seine Therapie demnach mit der Anerkennung von Flieges Krankheit. Er nähert sich diesem mit der Ankündigung, ihm eine frohe Nachricht zu überbringen, die er ihm schonend beibringen werde, damit der empfindliche Fliege durch die plötzliche Freude nicht zu Tode erschreckt werde. Behutsam teilt er ihm dann mit, dass ein berühmter englischer Wappenherold in der Stadt sei, der Flieges Wappensammlung sehen wolle. Durch die Szenenanweisung „von diesem Augenblick verschwindet immer mehr und mehr seine hypochondrische Laune“ 245 wird dies deutlich als der Moment markiert, der Flieges ‚Heilung‘ einleitet. Von Leer regt sukzessive Flieges Selbsttätigkeit an und bringt diesen dazu, seine Krankheit selbst zu relativieren.246 Fliege verschmäht im nächsten Auftritt seinen Heiltee und seinen mit Kräutern gefüllten „hypochondrischen Gürtel“ 247, wirft seine Arzneien aus dem Fenster und kündigt seinem Arzt. Die kurze ‚für sich‘ Bemerkung Jacobines, „die Kur fängt gut an“ 248, durchbricht die Inszenierung von Leers und kommentiert das Gelingen der Therapie. Nachdem diese Fortschritte gezeigt wurden, tritt im vierten Auftritt von Leer als Sir Tyrwhitt ver-

243 Willibald: Der Hypochondrist S. VIII. 244 Potter: Hypochondria, S. 17. 245 Willibald: Der Hypochondrist, S. 104. 246 Von Leer gibt vor, Sir Tyrwhitt mit Verweis auf Flieges Krankheit gesagt zu haben, er könne die Sammlung nicht sehen, woraufhin Fliege beteuert, jeder, der Interesse an seiner Wappensammlung habe, dürfe jederzeit kommen (vgl. Willibald: Der Hypochondrist, S. 105). Von Leer geht dann einen Schritt weiter und verweist darauf, dass Sir Tyrwhitt Bälle liebe und göttlich tanze, woraufhin Fliege zusichert, für den Abend einen Ball zu organisieren, und vor Vorfreude in seinem Zimmer herumspringt (vgl. ebd., S. 107). An dieser Stelle entsteht beinahe so etwas wie Mitleid mit der Figur Fliege, die scheinbar durch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung seiner heraldischen Tätigkeit in die Hypochondrie geflüchtet ist. 247 Willibald: Der Hypochondrist, S. 108. 248 Willibald: Der Hypochondrist, S. 109.

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kleidet auf. Er fragt nach Flieges Gesundheit und empfiehlt das Tragen eines Wappenrocks als beste Abwehr gegen die Hypochondrie, denn er kenne keinen Wappenherold, der jemals an dieser Krankheit gelitten habe. Mit der Frage nach einem Buch über Flieges Sammlung regt er erneut dessen Selbsttätigkeit an, der eine Arbeit an einem solchen Werk umgehend verspricht. Gegen die Zusicherung, in dem Wappenrock zu tanzen, leiht Sir Tyrwhitt diesen dem überglücklichen Fliege. Fliege tritt im abschließenden, sehr kurzen fünften Auftritt im Kostüm des Wappenherolds auf. Die Kostümierung unterstreicht den Spiel-im-Spiel-Charakter der Szene und verdeutlicht Flieges Rollenwechsel. Mit dem Anlegen des Wappenrocks legt Fliege die Rolle des Hypochonders gleichsam ab. Seine misanthropische Grundstimmung ist ausradiert. Durch Tanz und Trank wird Fliege Teil der fröhlichen Gesellschaft. Flieges Verwandlung ist so stark, dass sich seine Schwester zunächst nicht sicher ist, ob er es ist. Fliege reflektiert dabei seine ‚Heilung‘, bereut es, sich nicht früher mehr bewegt zu haben, und lobt den Wappenrock als „Radikal Gegenmittel“ 249 gegen die Hypochondrie und Sir Tyrwhitt als Wunderarzt. Die Beobachtungssituation des Theaters wird dadurch verdoppelt, dass Jacobine und von Leer dem tanzenden Fliege zusehen. Jacobine kommentiert den Fortschritt der Therapie und prognostiziert einen schlimmen Rückfall des Bruders, sobald er von Leers Betrug erfährt. Dieser versichert jedoch: Daß er betrogen wurde, wird er nie erfahren, dafür stehe ich Ihnen. In einer Stunde werde ich auf dem Ball als Sir Tyrwhitt erscheinen und morgen sein Wappenkabinet besuchen, beym Abschiede werde ich ihm heilig versprechen, daß ich mit ihm in Korrespondenz treten wolle, das wird ein mächtiger Hebel für seine Gesundheit seyn.250

Fliege ist die Inszenierung – anders als dem Publikum sowie Jacobine und von Leer – nicht bewusst und so muss das Spiel-im-Spiel potentiell endlos weiter gespielt werden. Inwiefern die Figur Fliege wirklich als ‚geheilt‘ bezeichnet werden kann, bleibt daher fraglich. Im Grunde wird die Hypochondrie nur kuriert, indem eine andere ‚Realität‘ für Fliege erfunden wird. Auch hier ist es nicht das vernünftige Argument, dass zu ‚Besserung‘ und ‚Normalisierung‘ der hypochondrischen Figur führt. Die obsessive Beschäftigung mit der Heraldik scheint die hypochondrische Krankheit einfach zu ersetzen.251

249 Willibald: Der Hypochondrist, S. 119. 250 Willibald: Der Hypochondrist, S. 117. 251 Potter sieht hierin im Anschluss an Lepenies These, die Hypochondrie sei eine Reaktion des politisch machtlosen Bürgertums, eine politische Implikation. Die Hypochondrie bedeute die Pathologisierung der bürgerlichen Frustration. Diese werde durch Flieges Interesse an der Heraldik und somit adligen Herrschaftssymbolen ersetzt, was impliziere, dass das Bürgertum sich besser dem Adel widmen solle. Die restaurierte Gesellschaft werde somit bestätigt (vgl. Potter: Hypochondria, S. 18). Tatsächlich referiert der Text auf zeitgenössische politische Hintergründe, die als Hintergrundfolie des Stücks zu beachten sind. Allerdings ist zu fragen, inwiefern die These, Ammann präsentiere Flieges Hypochondrie als Reaktion auf politische Machtlosigkeit, nicht eine nachträgli-

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Das Thema der Heraldik kann als eine Anspielung auf Luise Gottscheds Lustspiel Die ungleiche Heirath verstanden werden, in dem der Ehemann der hypochondrischen Frau Ahnenstolz sich exzessiv mit den Wappen seiner alten, adligen Familie beschäftigt. Der ganze erste Auftritt von Gottscheds Stück besteht aus Belehrungen über die Wappen von Herrn Ahnenstolz’ Familie, was ihn ähnlich lächerlich wie seine kranke Frau erscheinen lässt. Die Heraldik ist dabei für ihn ebenso wie die Hypochondrie für Frau Ahnenstolz eine Bestätigung des eigenen adligen Standes. Auch in Ammanns Stück funktionieren Krankheit und Heraldik gewissermaßen als Identitätsentwurf für Fliege. Da die Heraldik auf einem symbolischen Zeichensystem beruht, impliziert dieser Wechsel von Identitätskonstruktionen auch die Symptome der Hypochondrie als Zeichen, die letztlich für etwas anderes als das vermeintliche körperlich-seelische Leiden stehen. Zum Schluss des Stücks tritt Fliege alleine in den Vordergrund der Bühne, während die anderen Figuren in den Hintergrund treten. Ein mit einem sechsfachen „Hi!“ 252 gekennzeichnetes Lachen eröffnet seine letzte Rede und rückt die Wirkung der Komödie in den Mittelpunkt. Fliege bezeichnet seine Kostümierung als „Radikal-Gegenmittel“ und Sir Tyrwhitt als „Wunderarzt“ 253. Er tritt ans „Parterre“ von den anderen Figuren weg und adressiert abschließend direkt das Publikum: Meine Herrn gibt es keinen Hypochondristen unter Ihnen? – nicht? Ist keiner da, der das malum hypocondriacum kennen sollte? Ist einer unter ihnen der komme zu mir herauf, ich will ihm gerne meinen Wappenrock leihen, in einer Viertelstunde ist er dann so gesund wie ich: glauben Sie meinen Worten. Meine Herrn, sehen sie nur mich an, wie ich tanze.254

Das therapeutische Tragen des Wappenrocks ist jedoch individuell auf Flieges Fall abgestimmt. Der letzte Appell ist somit figurenpsychologisch nicht mehr plausibel, denn wie gesagt, ist sich Fliege der Inszenierung von Leers gar nicht bewusst. Fliege erscheint nur noch als Repräsentant eines Typus, der sich als solcher selbst auf der Bühne erblicken und seine Rolle reflektieren kann. Durch die direkte Adressierung des Publikums, das gegenüber Fliege einen deutlichen Informationsvorsprung besitzt, wird die Trennung des inneren und äußeren Kommunikationssystems daher aufgehoben, und das Medium Theater und die Gattung Komödie werden selbst reflektiert. Die direkte Adressierung der Hypochonder im Publikum bindet das Ende des Stücks wieder an die Vorrede des fiktiven Autors Dr. Willibald zurück. Die heilsame Wirkung von ‚Lachen‘ wird um 1800 sowohl in medizinischen als auch literaturtheoretischen Diskursen erörtert. Der Dramatiker und Lyriker Karl

che Konstruktion ist. Zudem erscheint Flieges Liebe zu seinen Wappen nicht als Anerkennung des Herrschaftsanspruchs des Adels, sondern in erster Linie ebenfalls sehr lächerlich. 252 Willibald: Der Hypochondrist, S. 118. 253 Willibald: Der Hypochondrist, S. 119. 254 Willibald: Der Hypochondrist, S. 119.

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Friedrich Blenkowitz postuliert diese heilsame Wirkung bereits in dem Titel – Pfeile des Witzes und der Laune, abgeschossen von Addison und Steele: Ein Recept zum Lachen, ein Mittel gegen die Hypochondrie und eine Brennessel für die Narrheit (1798) – seiner Übersetzung und Sammlung satirischer Passagen aus der moralischen Wochenschrift The Spector. Die heilsame Wirkung wird dabei sowohl körperlich als auch psychisch gedacht, so heißt es in der Vorrede: Erholung des Geistes aber war nicht die einzige Absicht bei Herausgebe dieses Werkes, sondern es sollte auch zu gleicher Zeit ein Recept für den Körper sein. Lachen ist bekanntlich die heilsamste Erschütterung desselben, und es läßt sich eine Krankheit bei weitem eher hinweglachen, als hinwegweinen. Ja, wenn gleich Weinen bei Krankheiten des Geistes, ein Linderungsmittel ist, so ist doch Lachen auch bei diesen ein weit sichererers noch. […] Auf das Lachen, besonders als Heilmittel, hat man noch zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet […]. Keine Krankheit, besonders keine hypochondrische ist leicht so hartnäckig, daß sie nicht durch ein herzliches Lachen einen Stoß bekommen sollte. Nichts löst mehr Verschleimungen auf, befördert mehr die Verdauung und stärkt mehr den Appetit als dies.255

Eine psychische Heilmethode hat hingegen Reil im Blick, wenn er in seinen Rhapsodieen den Einsatz von Theatern und extra angefertigten Stücken zur Therapie in Irrenanstalten fordert, wo die Insassen ihre „eignen Thorheiten lächerlich machen“ 256 sollen. Hier wird auf ein komödienspezifisches Wissen vom Lachen referiert, das dadurch, dass es eine gewisse emotionale Distanz impliziert, in der Lage ist, das verrutschte Verhältnis vom kranken – das heißt hier närrischen – Selbst und der Außenwelt zu erkennen. Reils Vorschlag hebt dabei die Trennung von äußerem und innerem Kommunikationssystem auf, denn der Kranke ist zugleich Schauspieler und Zuschauer, der aufgrund der Lächerlichkeit der eigenen Darstellung geheilt wird. Das besondere Verhältnis von Komödie und Beobachtung wird so in eine therapeutische Situation umgesetzt. Die ‚Heilung‘ oder ‚Besserung‘ im Sinne eines ‚Bewusstwerdens‘ nach Reil findet in Ammanns Komödie jedoch nur als intendierte Wirkung im äußeren Kommunikationssystem statt, da der Zuschauer durch die Theaterdarstellung geheilt werden soll. Fliege selbst durschaut seine Kostümierung nicht. Eine andere Lösung wird in Quistorps Der Hypochondrist gefunden. Die gesellige und vernünftige Jungfer Fröhlichsinn, die zur Heilung des hypochondrischen Gotthard eingeladen wurde, versucht dies zunächst mit Mitteln, die auf die Komödie selbst referieren: Als Gotthard sie küssen will, täuscht sie Angst vor Ansteckung vor, damit er seine eigene „Thorheit“ an ihr erkennen kann. Diese versucht sie ihm auch durch Auslachen vorzuhalten. Beide Strategien schlagen jedoch fehl und zuletzt bleibt es an

255 Karl Friedrich Benkowitz: Pfeile des Witzes und der Laune, abgeschossen von Addison und Steele: Ein Recept zum Lachen, ein Mittel gegen die Hypochondrie, und eine Brennessel für die Narrheit. Breslau 1798, S. 5 f. Auf Beknowitz’ Überlegungen zur Heilsamkeit des Lachens verweist auch Potter (vgl. Potter: Hypochondria, S. 5). 256 Reil: Rhapsodieen, S. 246.

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der Vernunft, den Kranken zur Einsicht zu bringen: „Ich habe Sie heute mir Ihrer Hypochondria schon genug ausgelacht, und gehofft, Sie würden dadurch einsehen lernen, daß diese Krankheit zum Theile lächerlich sey. […] Allein, da ich mit derselben Cur nicht fortkomme: so wollen wir doch einmal von der Sache ernsthaft reden.“ 257 Die Strategie hat Erfolg, und der Kranke erkennt zum Schluss seine Lächerlichkeit. Eckstädt und Fliege erlangen diese Erkenntnis hingegen nicht, denn Intrige und Kostümierung werden auf der Figurenebene nicht durch rationale Erkenntnis ergänzt. Die Normalisierung, der die Figuren ausgesetzt werden, schaltet nur ihre gesellschaftsschädigenden Einflüsse aus.258 Anders als Reil hat Lessing den Zuschauer im Blick, wenn er in der Hamburgischen Dramaturgie die Nutzen der Komödie mit medizinischen Begriffen beschreibt. Er stellt die Möglichkeit der Komödie, Krankheiten zu heilen, wie es in Ammanns Vorrede behauptet wird, jedoch in Frage: Zugegeben, daß der Geizige des Molière nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumet, daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. […] Ein Preservatif ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres, als das Lächerliche.259

Der Kranke wird nicht durch die Komödie geheilt, aber der Gesunde gestärkt, so dass Laster, die ans Pathologische grenzen, verhindert werden können. Lessings Differenzierung von Verlachen und Lachen, das er dieser vorbeugenden Wirkung der Komödie zugrunde legt, findet jedoch in den Hypochonderkomödien keine Anwendung, denn in ihnen steht das Verlachen der hypochondrischen Figur im Mittelpunkt. Die eigenartige Stellung der Hypochondrie zwischen Moral und Pathologie kommt dabei zum Tragen: Moralische Besserung im Sinne der Verlachkomödie, nach der sich der Zuschauer von dem auf der Bühne vorgeführten Laster durch das Lachen abgrenzt, und medizinische Therapie für den kranken Hypochonder werden ineinander geblendet. Aufgrund der stereotypen Ausgestaltung der Hypochonderfigur kann sich der hypochondrische Zuschauer in dieser wiedererkennen, und die Tendenz des Hypochonders zur permanenten Selbstbeobachtung wird in die intendierte Zuschauerreaktion einbezogen.

257 Theodor Johann Quistorp: Der Hypochondrist. Ein deutsches Lustspiel. In fünf Aufzügen. In: Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. 6. Teil. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741–1745. Stuttgart 1972, S. 390. 258 Jessing bezeichnet die aufklärerische Komödie als „Normalisierungsmaschine“, die im Falle der Hypochonderkomödien weniger auf „Heilung“ als auf eine Ausschaltung des Unnormalen zielt. Er kontrastiert dies mit der in Goethes Singspiel Lila inszenierten psychischen Heilung, die ebenfalls durch eine Spiel-im-Spiel Situation erfolgt (vgl. Benedikt Jessing: Musikalische Therapeutik? Goethes Lila. In: Eisenhut/Lütteken/Zelle [Hg.]: Heilkunst und schöne Künste, S. 217–219). In den beiden hier besprochenen Komödien bleibt ein Erkennen der eigenen Unvernunft jedoch aus. 259 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 29., S. 323 f.

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In den Hypchonderkomödien wird ein eingebildetes Leiden inszeniert, das aufgrund seiner ‚Irrealität‘ es ermöglicht, Themen wie Krankheit, Selbstmord und Tod komisch darzustellen. Pathologien der Einbildungskraft sind dabei jedoch nicht auf die Komödie beschränkt, sondern werden zum Beispiel auch in Goethes Torquato Tasso fokussiert.

5.3 Krankheit im klassischen Drama: Goethes Torquato Tasso Bereits der Titel von Goethes 1790 erschienenem Drama Torquato Tasso ruft die topischen Paradigmen der Dichtermelancholie und des furor peoticus auf. Der italienische Epiker Torquato Tasso war zeitweilig gemüts- oder geisteskrank, litt unter pathologischem Verfolgungswahn und wurde 1579 in die Geisteskrankenabteilung des Hospizes von Sant’ Anna eingewiesen, wo er sieben Jahre in Verwahrung gehalten wurde.260 Schon der historische Tasso begriff dabei seine Krankheit sowohl als Bedingung wie auch als Negativseite seiner künstlerischen Kreativität. In der Folgezeit wurde Tasso als Repräsentant und Symbolfigur der „Dichtermelancholie“ 261 rezipiert. Bereits in der historischen und legendär überformten Figur kommt es somit zu einem komplexen Zusammenschluss von dichterischer Genialität und (Geistes-)Krankheit. Auch Goethe, dem dieser Zusammenhang aus seiner Lektüre mehrerer Tasso-Biographien bekannt gewesen sein wird, behandelt in seinem Drama das melancholische Leiden im Spannungsfeld von Psychopathologie und poetischer „Inspirationstheorie“ 262. Seine Bezeichnung Tassos als „gesteigerten Werther“ 263 unterstreicht die psychopathologische Dimension und die Künstlerthematik, wobei

260 Vgl. Dieter Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5: Klassische Dramen, hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 2008, S. 1393 f. 261 Vgl. Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, S. 1421. 262 Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002, S. 108 f. Vgl. zu dem Aspekt der Melancholie in Torquato Tasso auch: Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 256–269; Dieter Borchmeyer: Torquato Tasso. In: Goethe Jahrbuch 99 (1982), S. 138–145; ders.: Tasso oder das Unglück, Dichter zu sein. In: Dieter Kimpel (Hg.): Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus Anlass des 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 1985, S. 67–88; ders.: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994, S. 168–182; Reinhardt: Die kleine und die große Welt, S. 193 f. In jüngerer Zeit hat Löffler das Thema der Melancholie in Zusammenhang mit dem Stil und der Form des Schauspiels gesetzt und eine „Sprache der Melancholie“ in Goethes Schauspiel identifiziert, durch welche „die Bedingungen und Aporien der literarischen Semiose selbst thematisiert“ (Jörg Löffler.: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe. Berlin 2005, S. 93) werden. Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurde Goethes Schauspiel unter dem Aspekt der Melancholie untersucht. (vgl. dazu Jörg Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe, S. 92, Fußnote 259) 263 Goethe mit Eckermann, 3. 5. 1827. In: Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 12: Johann Peter Eckermann Gespräche mit Goethe, hg. von Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1999, S. 607.

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die Forschung Tassos Talent im Gegensatz zu Werthers Dilettantismus herausgestellt hat.264 Der Topos der Melancholie als Ursache dichterischer Produktivität lässt sich bis zu den pseudo-aristotelischen Problemata zurückverfolgen, in denen Melancholie und Genie in der Annahme verknüpft werden, dass alle außergewöhnlichen Menschen in Politik, Philosophie, Dichtung und den Künsten Melancholiker seien: Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark, daß sie sogar von kranhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle ausgehen, ergriffen werden?265

Im Kontext der Humoralpathologie wird eine Dominanz der schwarzen Galle über andere Säfte, die den Melancholiker kennzeichnet, positiv gewertet, solange sich ihre Temperatur in einem Mittelmaß befindet. Wird der Saft zu warm, führt dies zu manischen Zuständen, während Kälte depressive Verstimmung hervorruft. Geniale Schaffenskraft steht somit immer bereits an der Grenze zu Krankheit.266 Während die Melancholie im Mittelalter als acedia in theologischen Zusammenhängen überwiegend negativ bewertet wurde, wurde in der Renaissance, insbesondere im Kreise des Neuplatonikers Marsilio Ficino, an die pseudo-aristotelische Konzeption von

264 Vgl. Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 108; Katrin Seele: Goethes poetische Poetik. Über die Bedeutung der Dichtkunst in den Leiden des jungen Werther, im Torquato Tasso und in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Würzburg 2004; Richard Faber: Der Tasso Mythos. Eine Goethe Kritik. Würzburg 1999, S. 285 f. Die Künstlerthematik und die Diskussion des Kunstverständnisses im Tasso dominieren bis in die aktuelle Forschung hinein die Auseinandersetzung mit dem Stück: vgl. Japp: Das deutsche Künstlerdrama von der Aufklärung bis zur Gegenwart; Günter Seubold: Die Disproportion des Talents mit dem Leben. Zum Verhältnis von ästhetischer und praktischer Rationalität in Goethes „Torquato Tasso“. In: Hans-Jürgen Gawoll (Hg.): Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. München 1994, S. 151–153 sowie den Überblick über die Forschung bis in die 1990er Jahre bei Walter Hinderer: Torquato Tasso. In: Goethe Handbuch. Bd. 2, hg. von Theo Buck. Stuttgart 1996, S. 243–249. Eng mit der Künstlerthematik verbunden ist die Frage nach der Rolle der höfischen Gesellschaft: vgl. Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 110–114; Gerhard Neumann: Konfiguration. Studien zu Goethes ‚Torquato Tasso‘. München 1965. S. 34–92; Bahr: „Die ganze Kunst des höfischen Gewebes“, S. 1–17; Terence J. Reed: Tasso und die Besserwisser. In: John L. Hibbard und Hugh B. Nisbart (Hg.): Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Tübingen 1989, S. 95–112. Bahr und Reed kritiseren dabei, dass die Annahme eines kranken Tassos die Kritik an der höfischen Gesellschaft abschwäche. (vgl. Bahr: „Die ganze Kunst des höfischen Gewebes“, S. 9; Reed: Tasso und die Besserwisser, S. 95 f.) Diese Kritik ignoriert jedoch nicht nur wichtige Indikatoren der TassoDarstellung in Goethes Werk, die antagonistische Gegenüberstellung von Tasso und Hof vereinfacht auch die komplexe Struktur des Stücks (vgl. Hinderer: Torquato Tasso, S. 255). 265 Aristoteles: Problemata Physica XXX, 1. In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 19: Problemata Physica XXX, 1, hg. von von Helmut Flashar. Darmstadt 1962, S. 250. 266 Vgl. Helmut Flashar: Melancholie. Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1980, Sp. 1039.

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Genie und Melancholie angeknüpft.267 Die Herauslösung aus religiösen Zuschreibungen ermöglichte zudem neue medizinische Betrachtungen.268 Auch im achtzehnten Jahrhundert bleiben die Annahmen der Humoralpathologie prominent und die Vorstellungen von der schwarzen Galle stellen weiterhin ein umfangreiches Beschreibungs- und Bildmaterial für das melancholische Leiden sowohl in medizinisch-anthropologischen als auch in ästhetisch-literarischen Texten zur Verfügung.269 Gleichzeitig werden die humoralpathologischen Lehren mit neuen Erkenntnissen insbesondere aus dem Bereich der Neurologie verbunden und stehen oft unreflektiert nebeneinander. So heißt es beispielsweise in der Zeitschrift Der philosophische Arzt zur Melancholie: „Schweres dickes Blut kann zu Schwermuth eine physische Anlage geben. Die Empfindlichkeit der Zasern [Nervenfasern] macht, daß sie in allzugrosse Unruhe von jeder Kleinigkeit gesetzet werden.“ 270 Die bereits in der Humoralpathologie vorhandene psychosomatische Komponente der Melancholie trifft das Interesse der sogenannten ‚philosophischen Ärzte‘ an der Verbindung und den Wechselwirkungen von Körper und Seele. Dabei wird insbesondere die ‚fixe Idee‘, die übermäßige und starre Fixierung auf eine bestimmte Vorstellung oder ein Gefühl, die sich jeder vernünftigen Argumentation widersetzt, als Kennzeichen der psychischen Störung eines Melancholikers gesehen. Der Metaphorik der schwarzen Galle entsprechend wird diese Idee mit den Gefühlen der Traurigkeit und Sorge in Verbindung gebracht,271 die jedoch abrupt in manisch-euphorische Zustände umschlagen und sich zu Wahnsinn und Raserei steigern kann.272 Während in der oben zitierten Definition physische Aspekte die Ursache der psychischen Erkrankung sind, werden zunehmend auch Affekte und Leidenschaften als Ursachen der Melancholie angenommen. Schings hat herausgearbeitet, wie sich die Melancholietheorie im achtzehnten Jahrhundert vor allem die „admirativen Affekte“ einverleibt und dadurch „das platonische System der furores zum Gegenstand der pathologischen Diagnose“ 273 macht. Fester Bestandteil der zahlreichen nosologischen Definitionen der Melancholie ist seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Einbildungskraft. Wie anhand von Platners und Jean Pauls Wahrnehmungsmodellen, welche die Seele als Konglomerat von verschiedenen Kräften fassen, herausgearbeitet wurde, ist diese für Imagination und Erinnerung zuständig, also für Wahrnehmungsarten, die nicht auf Sin-

267 Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 2; Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 108 f. 268 Vgl. Hans Ulrich Lessing: Melancholie. Vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, hg von Joachim Ritter. Darmstadt 1980, Sp. 1040. 269 Vgl. dazu ausführlich und im Kontext historischer Quellen: Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 11–40. 270 Melchior Adam Weikard: Der philosophische Arzt, 1. Bd. Neue durchaus vermehte und verbesserte Auflage. Frankfurt a. M. 1790, S. 269. 271 Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 61. 272 Vgl. Schott: Der sympathetische Arzt, S. 133. 273 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 67.

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neseindrücken basieren.274 Gleichzeitig erscheint die Einbildungskraft, als psychophysiologische Übertragung des Mythos der Dichtermelancholie. Durch sie bleibt die in der Wirkung der schwarzen Galle enthaltende Nähe von Kreativität und künstlerischer Produktivität erhalten, die immer bereits an der Grenzlinie zum Wahnsinn stehen. Auch in Goethes Schauspiel ist sie der kritische Punkt, aus dem sowohl Tassos pathologischer Verfolgungswahn als auch seine Dichtung entsteht. Goethe führt den furor poeticus in der Form des klassischen Dramas ein. Die Konflikte zwischen poetischer Imagination, die sich bis zum Wahnsinn steigern kann, und der Notwendigkeit der rational-sprachlichen Präsentation sowie den Ansprüchen der höfischen Gesellschaft werden somit durch die Formgebung dramatisiert.275 Die Exzesse von Tassos Einbildungskraft sind in rhetorisch durchstrukturierter Dramensprache metrisch einheitlich im Blankvers verfasst, welche die Affektkontrolle der höfischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt.276 Auch das Akteschema, die drei Einheiten und die Ständeklausel sind eingehalten. Die Frage nach der Gattung hat die frühe Rezeption des Tasso dominiert und wird im Hinblick auf den Schluss des Stücks bis heute diskutiert.277 Die Handlungsarmut und die Konzentration auf das Innere der Figur(en), durch die das Drama von der aristotelischen Forderung abweicht, der Fokus der Tragödie müsse auf der Handlung liegen, ist in der zeitgenössischen Debatte sowohl gelobt als auch kritisiert worden.278 Dabei wurde übereinstimmend festgestellt, dass Tasso „kein Drama im herkömmlichen Gattungssinn sei und sich so von der Bühne entferne“ 279. Goethe selbst bedankt sich in einem Brief an die Schauspielerin Friederike Bethmann-Unzelmann dafür, „daß Sie dieses theaterscheue Werk hervorgezogen und in ein günstiges Bühnenlicht gestellt haben.“ 280 Er lehnte eine Aufführung in Weimar lange ab. Erst 1807 fand die Uraufführung zurückgehend auf die Initiative der Schauspieler am Weimarer Hoftheater statt, für die Goethe eine eigene Bühnenfassung schuf. Trotz des Erfolgs der Aufführungen schrieb Goethe noch 1823 über den Tasso: „Alles geschieht darin nur innerlich; ich fürchtete daher immer, es werde äußerlich nicht klar genug werden.“ 281 Sowohl Tassos Wahn als auch seine Dich274 Vgl. Platner: Anthropologie, S. 90; Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, S. 195. 275 Vgl. Frederic Burwick: Poetic Madness and the Romantic Imagination. Pennsylania 1996, S. 106. Vgl. zum Tasso als Künstlerdrama auch: Japp: Das deutsche Künstlerdrama von der Aufklärung bis zur Gegenwart, S. 51–70. 276 Vgl. Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 106. 277 Siehe Anmerkung 18 (Kap. 5, S. 272). 278 Vgl. Hinderer: Torquato Tasso, S. 241. 279 Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, S. 1406. 280 Goethe an Friederike Bethmann-Unzelmann, 17. 12. 1811. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Henrik Birus u. a. Abt. 2, Bd. 7: Napoleonische Zeit, hg. von Rose Unterberger. Frankfurt a. M. 1993, S. 719. 281 Mit Friedrich von Müller, 23. 3. 1823, zitiert nach Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, S. 1388. Vgl. zur weiteren Aufführungsgeschichte: Hinderer: Torquato Tasso, S. 242 f.

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tergabe sind in diesem Inneren verortet. Im Text und auf der Bühne figurieren beide ausschließlich in der Figurensprache und dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Perspektiven, die durch die Wechsel von Dialog und Monolog erzeugt werden. Nachfolgend sollen drei Aspekte der gattungsspezifischen Darstellung von Tassos Leiden im Mittelpunkt stehen: Leiden und Krankheit sind durch die verwendete Bildlichkeit und Metaphorik als Referenzpunkt implizit bereits präsent (siehe Kap. 5.3.1). Darüber hinaus werden die Figurenperspektiven und -konstellation zur Konstruktion von Krankheit genutzt und dabei die Rollenstruktur des Dramas zur Thematisierung einer bis ins Pathologische gesteigerten Gefahr des Ich-Verlusts eingesetzt (siehe Kap. 5.3.2). Abschließend wird untersucht, wie Tassos poetische Imagination im Text sprachlich erzeugt und dabei auf die spezifischen Implikationen der sprachlichen Formgebung und Vermittlung eingegangen wird (siehe Kap. 5.3.3).

5.3.1 Körper- und Krankheitsbilder Tasso konstruiert sein eigenes Inneres – sowohl seine Erhöhung und Freude als auch seine Erniedrigung und Enttäuschung – mit Körper- und Krankheitsmetaphern. Seine Empfindungen bei der Bekränzung im dritten Auftritt des ersten Aufzugs beschreibt er als heftige körperliche Reaktion: O nehmt ihn weg von meinem Haupte wieder, Nehmt ihn hinweg! Er sengt mir meine Locken! Und wie ein Strahl der Sonne, der zu heiß Das Haupt mir träfe, brennt er mir die Kraft Des Denkens aus der Stirne. Fieberhitze Bewegt mein Blut. Verzeiht! Es ist zu viel.282

Die Wiederholung der Bitte „nehmt ihn weg […] nehmt ihn hinweg“ und das Enjambement von Vers 488 zu 489 zeigen Tassos innere Aufruhr. Die Trennung des Satzes „Fieberhitze / Bewegt mein Blut“ erzeugt eine atemloses Sprechen, das in den Ausruf „Verzeiht“ und das Resümee „Es ist zu viel“ übergeht. Über die Bildlichkeit werden die Pathologie der Melancholie und der Topos der Dichtermelancholie zugleich eingeführt. Das Bild der Sonne, die das Haupt verbrennt, gehört zur Feuerund Hitzemetaphorik des Genies.283 Trockenheit und Hitze sind auch in medizinischen Texten Merkmale der pathologischen Melancholie, so werden bei Leichenöffnungen Melancholiekranker fast schon topisch ein vertrocknetes, verhärtetes

282 Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1, Bd. 5: Klassische Dramen, hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 2008, S. 747, V. 488–493. 283 Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 266.

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Gehirn und verstopfte Adern festgestellt.284 Auch die heftige Bewegung des Blutes stammt aus dem Bildarsenal der Humoralpathologie. Bilder, die auf körperliche Ursachen und Symptome der Melancholie rekurrieren, werden verwendet, um Tassos emotionalen Aufruhr darzustellen, der ihn nahezu körperlich überwältigt. Auf die symbolische Erhöhung durch den Lorbeerkranz von Seiten Alphons und der Frauen folgt die Ablehnung Antonios, der Tassos Freundschaftsgesuch zurückweist. Als das Gespräch von Tasso und Antonio eskaliert, verwendet Tasso ebenfalls Körper- und Krankheitsmetaphern, die aus dem Vorstellungsbereich der Humoralpathologie stammen, um seinen Zorn und verletzten Stolz zu verdeutlichen: Allein du schürest Glut auf Glut, es kocht Das innre Mark, die schmerzliche Begier Der Rache siedet schäumend in der Brust.285

Das Kochen und Schäumen der Säfte sowie das Aufsteigen in Brust und Kopf gehören zu den ätiologischen Vorstellungen der Melancholie.286 Später erklärt Tasso dem Fürsten seine Wut und seinen Kontrollverlust im gleichen Bildregister: „Bis er den reinsten Tropfen Bluts in mir / Zu Galle wandelte. Verzeih! Du hast mich hier / Als einen wütenden getroffen.“ 287 Die Verwandlung von Blut in Galle rekurriert erneut auf Vorstellungen der Säftelehre, in der das Blut dem sanguinischen und die gelbe Galle dem cholerischen Temperament entsprechen. Die psychosomatische Dimension der Humoralpathologie288 wird genutzt, um den gefühlten Zorn durch Körpermetaphern darzustellen. Anders als in den in Kapitel 5.1 Bühnenleiden aufgeführten schauspielpraktischen Anweisungen Engels werden die Affekte Tassos jedoch nur sprachlich ausgedrückt und die Idee, dass sich extreme Affekte auch im Körper äußern, die wie erwähnt zum Interessenfokus zeitgenössischer medizinischer, anthropologischer sowie theater- und dramentheoretischer Diskurse gehört,289 wird rein sprachlich ausagiert. Auch die psychischen Verletzungen, die Antonios Worte bei ihm hinterlassen haben, verschiebt Tasso in seiner Rede auf die Körperebene, indem er sie mit Gift vergleicht, das in den Körper eingeführt wird: Allein, wie tückisch seine Zunge Mit wohlgewählten Worten mich verletzt, Wie scharf und schnell sein Zahn das feine Gift

284 285 286 287 288 289

Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 63 f. Goethe: Tasso, S. 772, V. 1381–1384. Vgl. beispielsweise Danz: Semiotic oder Handbuch der allgemeinen Zeichenlehre, S. 129 f. Goethe: Tasso, S. 774, V. 1425–1430. Vgl. Schmaus: Psychosomatik, S. 14. Siehe Anmerkung 20 (Kap. 5.1, S. 273).

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mir in das Blut geflößt, wie er das Fieber Nur mehr und mehr erhitzt – Du denkst es nicht!290

Die Verletzungen werden durch Worte zugefügt und existieren nur in diesen Worten. Die verwendete Hitzemetaphorik, die über das Fieber eingeführt wird, wird wenig später wieder auf eine seelische Ebene verschoben: „Und hätte meine Seele nicht geglüht.“ 291 Nach Antonios Entschuldigung beschreibt Tasso die Wirkung von dessen Worten ebenso als körperliche Verletzungen. Auf Antonios Differenzierung, er habe ihn wohl gekränkt, doch kein „schimpflich Wort“ 292 sei ihm entflohen, erwidert Tasso: Was härter treffe, Kränkung oder Schimpf, Will ich nicht untersuchen; jene dringt Ins tiefe Mark, und dieser reizt die Haut.293

Während Antonio den Schimpf als Verletzung der höfischen Regeln schlimmer fasst – zuvor hatte er zwischen Mensch und Edelmann differenziert –, versteht Tasso die Kränkung als härter, da sie in die Tiefe geht und nicht nur an der Oberfläche bleibt. Der sprachlich erzeugte Körperraum – die Differenzierung zwischen Körperoberfläche und -innerem – verweisen direkt auf das emotionale Innere der Figur, das über die Körperbilder wahrnehmbar wird. Dieses Innere wird von Tasso dabei dem höfischen Äußeren entgegengesetzt.294 Auch die Figurenrede der Prinzessin ist vom Vokabular des Schmerzes und Leidens geprägt.295 Neben Tasso ist sie die zweite Kranke in Goethes Schauspiel, die seit ihrer Jugendzeit von der Erfahrung der Krankheit bestimmt wurde.296 Die erste Begegnung mit Tasso markiert für die Prinzessin den Wendepunkt, nach der sie wieder gesund wurde.297 Der drohende Abschied von ihm bedeutet daher neue Leiden für sie: Dreimal verbindet die Prinzessin die Aussicht, Tasso zu verlieren, mit der Prognose neuer Schmerzen.298

290 Goethe: Tasso, S. 775, V. 1468–1472. 291 Goethe: Tasso, S. 775, V. 1478. 292 Goethe: Tasso, S. 807, V. 2560. 293 Goethe: Tasso, S. 807 f., V. 2564–2566. 294 Kemper verweist darauf, dass Tasso hier fehlerhaft kommuniziert, da die ‚eloquentia cordis‘ erst in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zu einem etablierten Kommunikationscode wurde (vgl. Dirk Kemper: Ineffabile. Goethe und die Individualtitätsproblematik der Moderne. München 2004, S. 168 f.). 295 Vgl. Johannes Manthey: Der Sprachstil in Goethes „Torquato Tasso“. Berlin 1959. S. 91 f. 296 Vgl. Goethe: Tasso, S. 785, V. 1803–1806. 297 Vgl. ihr Gespräch mit Tasso: Goethe: Tasso, S. 758, V. 863–867 und mit Leonore: S. 786, V. 1823–1836. 298 Vgl. Goethe: Tasso, S, 784, V. 1776; S. 787, V. 1855 und S. 788, V. 1896.

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Der Abschied von Tasso wird von der Prinzessin als Verlust von Sonne, Tag und Licht dargestellt. Statt der „Sonne Pracht“ 299 fällt sie einer Sphäre von Dämmerung und Nebel anheim. Die Prinzessin verwendet hier die kontrastive Tag- und Nachtmetaphorik, die sich über den ganzen Text verteilt und die Figurenkonstellationen mitorganisiert.300 Die Bilder von Nacht und Dunkelheit knüpfen an die traditionelle Vorstellung der schwarzen Galle und der damit implizierten Gemütslage an. Leonore, Antonio und Alphons sind den Bereichen des Tages und des Lichts zugehörig. Kontrastiv-komplementär zu der Prinzessin ordnet sich Tasso konsequent der Nachtsphäre zu und assoziiert die anderen Figuren mit Tag, Sonne und Licht. So gehört beispielsweise die Prinzessin aus seiner Perspektive zum Bereich des Tages, der Tassos Flucht in die Einsamkeit entgegengesetzt wird: Mir scheint die Einsamkeit zu winken, mich Gefällig anzulispeln: komm, ich löse Die neu erregten Zweifel deiner Brust. Doch werfe ich einen Blick auf dich, vernimmt Mein horchend Ohr ein Wort von deiner Lippe, So wird ein neuer Tag um mich herum Und alle Bande fallen von mir los.301

Die Einsamkeit – als Melancholieattribut 302 – wird personifiziert und versucht, Tasso aktiv zu sich zu locken. Ihr gegenüber steht die Prinzessin, durch die Tasso der Einsamkeit widerstehen kann. Diese Wirkung wird mit dem Beginn eines neuen Tages verglichen. Tassos Blickrichtung scheint dabei vom Dunklen auf das Helle gerichtet zu sein, aber seine Versuche dem Tagesbereich anzugehören scheitern. Der oben erwähnte „neue Tag“ ist nach seinem Streit mit Antonio beendet: Es geht die Sonne mir der schönsten Gunst Auf einmal unter; seinen holden Blick Entziehet mir der Fürst, und läßt mich hier Auf düstrem, schmalen Pfad verloren stehn. Das häßliche zweideutige Geflügel, Das leidige Gefolge der alten Nacht, Es schwärmt hervor und schwirrt mir um das Haupt.303

Statt Helligkeit und Licht wird Tasso nun wieder von der Nacht und der Dunkelheit umgeben. „Das […] Geflügel der alten Nacht“ stammt aus dem traditionellen Bildarsenal der Melancholie, so stellen beispielsweise Fledermäuse und Eulen in der bildenden Kunst und Literatur die Obsessionen des krankhaften Melancholiker

299 300 301 302 303

Goethe: Tasso, S. 787, V. 1870. Vgl. Neumann: Konfiguration, S. 104. Goethe: Tasso, S. 755, V. 752–759. Vgl. Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 119 f. Goethe: Tasso, S. 798, V. 2231–2237.

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dar.304 Die Bildersprache zeigt, dass Tassos Hoffnung, der Melancholie zu entkommen, sich nicht erfüllt. Krankheit und Schmerz werden in Tassos eigenen Aussagen durch die verwendete Bildlichkeit immer impliziert und sind als Referenzpunkte präsent. Sie sind dabei ausschließlich psychische Leiden, die aber im Bildregister von Körper und Krankheit sowie dem Mythos der schwarzen Galle entsprechend mit kontrastierenden Tag- und Nachtmetaphern erzeugt werden. Bei der Prinzessin und Tasso entsteht so ein Grundton des Leidens, der ihre Sprache prägt. Der rein figurensprachlich erzeugte Körper verweist konsequent auf eine seelisch-emotionale Ebene, die durch die Bildlichkeit und Metaphorik als leidend konstruiert wird. Der Körper des Schauspielers spielt hingegen im Dramentext keine Rolle und wird in den wenigen Szenenanweisungen nicht beschrieben. Diese beziehen sich meist auf den Ort, das Kommen und Gehen und die Adressierung von Figuren sowie auf die wenigen Handlungen: das Übergeben des Buches, die Bekränzung, das Ziehen des Dolches, die anschließende Abgabe des Kranzes und des Degens sowie das Umarmen der Prinzessin und deren Abwehr.305 Nur zweimal – beim Ziehen des Dolches und der Annäherung an die Prinzessin – schlägt Tassos Sprache in Handlung um. Damit überschreitet er jedoch die Regeln der höfischen Gesellschaft.306

5.3.2 Diagnosen: Figurenperspektiven und Figurenkonstellation Die Figur Tasso wird von Beginn an mit den topischen Merkmalen des Melancholikers ausgestattet. Bereits vor Tassos erstem Auftritt entwerfen die Frauen und der Fürst eine Art Pathographie des melancholischen Dichters, in der die Symptome der Melancholie deutlich erkennbar sind, auch wenn sie nicht ausdrücklich diagnostiziert wird.307 Schon im ersten Auftritt stellt die Prinzessin fest, dass der Dichter sie „zu meiden, ja zu fliehen scheint“ 308 und auch Alphons beklagt, dass Tasso „mehr / Die Einsamkeit als die Gesellschaft sucht“ 309. Tassos Flucht aus der Gesellschaft geht einher mit einem übertriebenen Misstrauen gegenüber ihren Mitgliedern bis hin zu Verfolgungswahn und Realitätsverlust. Noch vor Tassos Konflikt mit Antonio wird

304 Vgl. Borchmeyer: Tasso oder das Unglück, Dichter zu sein, S. 75 f. 305 Vgl. allgemein zu den Szenenanweisungen im Torquato Tasso: Gail K. Hart: Goethe’s Tasso. Reading the Directions. In: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America 3 (1986), S. 125–138. 306 Vgl. Burwick, Poetic Madness, 129 f. 307 Vgl. ausführlich zu den melancholischen Symptomen Tassos: Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 118–131. 308 Goethe: Tasso, S. 737, V. 148. 309 Goethe: Tasso, S. 740, V. 243 f.

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der Dichter von den anderen Figuren der Gesellschaft antithetisch gegenübergestellt. Sein Misstrauen und seine Flucht in die Einsamkeit werden als defizitär wahrgenommen und die notwendige Integration des Dichters in die Gesellschaft betont.310 Der Kontrast zwischen Dichter und Gesellschaft ist in den Figuren Tasso und Antonio externalisiert, über die Leonore anmerkt, dass sie „Feinde sind, weil die Natur / Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte.“ 311 Dieser Konflikt ist aber gleichzeitig auch in der Figur Tasso selbst angelegt. Tasso schwärmt von einer idealen Vergangenheit, in der Held und Dichter eins waren und der Dichter nicht, wie er, auf die praktischen Erfahrungen anderer angewiesen war.312 Im vierten Auftritt des vierten Aufzugs bringt er seine Hoffnung auf eine tatsächliche soziale Wirkung seiner Dichtung zum Ausdruck, wenn er sich wünscht, sein Epos Geruaselemme liberata möge zu einem Kreuzzug anregen.313 Er leidet zudem darunter, dass der Fürst ihn in praktischen und politischen Fragen nicht konsultiert, und blickt in dieser Hinsicht neidisch auf Antonio.314 Gleichzeitig wird die einsame Stille jedoch auch als notwendige Voraussetzung für das Dichtertalent gesehen. Leonore unterscheidet in ihrer Replik zwischen dem Talent, das außerhalb der Gesellschaft platziert wird, und dem Charakter, der sich nur innerhalb der Gesellschaft ausbilden kann: „Es bildet ein Talent sich in der Stille / Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“ 315 Tassos Dichten wird schließlich jedoch selbst zum pathologischen Merkmal, insofern Tasso seinen Schreibprozess nicht abschließen kann.316 Leonore beschreibt den Dichter bei seiner Arbeit: „Ich sah ihn heut von fern; er hielt ein Buch / Und eine Tafel, schrieb und ging und schrieb.317 Die Distanz zu dem schreibenden Tasso rekurriert erneut auf die topische Einsamkeit des Dichters. Allerdings wird hier nicht ein Moment musischer Inspiration vorgeführt, sondern Tassos tatsächliche Schreibtätigkeit beschrieben. Jörg Löffler analysiert, wie sich in der Verbalgruppe „schrieb und ging und schrieb“ die rhetorischen Figuren des Kyklos und des Polysyndetons verbinden: „Diese eröffnet eine immer weiter fortsetzbare Reihe

310 Vgl. Goethe: Tasso, S. 741, V. 293–298. 311 Goethe: Tasso, S. 782, V. 1705 f. Vgl. auch Burwick: Poetic Madness, S. 107. Zur Antithetik der Figurenkonstellation vgl.: Jacobs: Torquato Tasso: Goethes Antwort auf Rousseau, S. 50 f. 312 Vgl. Kemper: Ineffabile, S. 172. 313 Vgl. Goethe: Tasso, S. 809 f., V. 2636–2641. 314 Vgl. Goethe: Tasso, S. 802, V. 2366–2373. Der Konflikt zwischen Tassos Position als Hofdichter und der modernen ästhetischen Autonomie ist vielfach diskutiert worden: Vgl. Borchmeyer: Tasso oder das Unglück, Dichter zu sein, S. 69–75; Hinderer: Torquato Tasso, S. 247; Japp: Das deutsche Künstlerdrama von der Aufklärung bis zur Gegenwart, S. 59 f. 315 Goethe: Tasso, S. 741, V. 304–305. 316 Vgl. Löffler: Unlesbarkeit, S. 115. 317 Goethe: Tasso, S. 740, V. 252 f.

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von Konjunktionen, jene schließt die Reihe zum Kreis zusammen, der in seiner Anfangs- und Endlosigkeit ebenfalls eine Figur der Unabschließbarkeit ist.“ 318 Alphons greift diese melancholisch verursachte Unabschließbarkeit von Tassos Schreiben auf und beklagt: Er kann nicht enden, kann nicht fertig werden Er ändert stets, ruckt langsam weiter vor, Steht wieder still, er hintergeht die Hoffnung; Unwillig sieht man den Genuß entfernt In späte Zeit, den man so nah geglaubt.319

Die Aufzählung von mehreren symmetrisch aufgebauten und miteinander verbundenen Sätzen deutet auf die Unabschließbarkeit von Tassos Textproduktion hin. Zunächst wird angeführt, was Tasso nicht kann: „enden“ und „fertig werden“. Es folgt eine Aufzählung dessen, was dem Enden entgegensteht, wobei das erste Verb „ändern“ paronomastisch an „enden“ anknüpft.320 Tassos Schreibprozess wird hier selbst melancholisch.321 Bis zuletzt wird das Werk Gerusalemme liberata, an dem Tasso in Goethes Schauspiel arbeitet, aus seiner Perspektive nicht vollendet sein. Die Darstellung des dichterischen Schreibprozesses als melancholisch ermöglicht eine Verbindung zu den semiotischen Aspekten psychopathologischer Wahrnehmung, die bereits thematisiert wurden. Die ‚Verrückung‘ ist dabei zumeist in der Wahrnehmung der Figuren als ‚falsches Lesen‘ der Wirklichkeit angelegt. Die Beispiele von Sprachlosigkeit und Sprachfehlern in den Fallgeschichten des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde und der Figuren in den Biographien der Wahnsinnigen sowie in Medardus geträumten Straftribunal in den Elixieren des Teufels zeigen die ‚Verrückung‘ jedoch auch auf der Ebene des Bezeichnens und nicht nur des Lesens. Im Tasso betrifft sie die Produktion von dichterischer Schriftsprache. Wenn die Figur Tasso im dritten Auftritt das erste Mal die Szenerie betritt, hat der Zuschauer bereits eine bestimmte Vorstellung von ihr. Tassos Annäherung an die Gruppe, die von der Prinzessin in Echtzeit beobachtet und beschrieben wird, vollzieht das permanente Stocken und Aufschieben des Schreibprozesses in der Gangart der Figur Tasso selbst noch einmal: Schon lange seh ich Tasso kommen. Langsam Bewegt er seine Schritte, steht bisweilen Auf einmal still, wie unentschlossen, geht Dann wieder schneller auf uns los, und weilt Schon wieder.322

318 319 320 321 322

Vgl. Löffler: Unlesbarkeit, S. 115. Goethe: Tasso, S. 740, V. 265–269. Vgl. Löffler: Unlesbarkeit, S. 116. Vgl. Löffler: Unlesbarkeit, S. 115 f. Goethe: Tasso, S. 743, V. 373–376.

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Die Diagnose wird im Verlauf des Dramas im Dialog der anderen Figuren weiterentwickelt. So hebt Antonio nach dem Streit mit Tasso gegenüber Leonore ebenfalls dessen Hang zur Einsamkeit und Innenschau hervor: Bald Versinkt er in sich selbst als wäre ganz Die Welt in seinem Busen, er sich ganz In seiner Welt genug, und alles rings Umher verschwindet ihm.323

Das Verb „versinken“ deutet ein völliges Verschwinden Tassos im eigenen Selbst an. Der Chiasmus „die Welt in seinem Busen“ und „er sich ganz in seiner Welt“ zeigt die fehlende Balance zwischen eigenem Inneren und äußerer Welt. Der Übergang von äußerer und innerer Wahrnehmung funktioniert nicht, was dazu führt, dass Tassos Wahrnehmung fehlerhaft wird und er den Bezug zur Außenwelt verliert, die ihm „verschwindet“. Antonio hebt die Schwankungen zwischen manischen und depressiven Phasen hervor. Auf den Rückzug in das eigene Innere folgt ein eruptiver Ausbruch aus sich heraus: Er läßt es gehn, Läßt’s fallen, stößt’s hinweg und ruht in sich − Auf einmal wie ein unbemerkter Funke Die Mine zündet, sei es Freude, Leid, Zorn oder Grille, heftig bricht es aus: Dann will er Alles fassen, Alles halten, Dann soll geschehn was er sich denken mag; In einem Augenblick soll entstehn Was Jahrelang bereitet werden sollte, In einem Augenblick gehoben sein Was Mühe kaum in Jahren lösen könnte.324

Den von der Prinzessin noch positiv hervorgehobenen Versuch, das Einzelne zum Ganzen zu verbinden,325 wertet Antonio als unmöglich ab: Die letzten Enden aller Dinge will Sein Geist zusammen fassen; das gelingt Kaum einem unter Millionen Menschen, Und er ist nicht der Mann: er fällt zuletzt, Um nichts gebessert, in sich selbst zurück.326

323 324 325 326

Goethe: Tasso, S. 794, V. 2122–2132. Goethe: Tasso, S. 794, V. 2122–2132. Vgl. Goethe: Tasso, S. 740, V. 275–278. Goethe: Tasso, S. 794, V. 2135–2139.

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Die letzten Verse indizieren erneut eine ohne Anfang und Ende verlaufende Kreisstruktur. Tasso fällt in sein eigenes Inneres zurück, in dem er zu Beginn von Antonios Beschreibung versank. Die Formulierung „zuletzt, / Um nichts gebessert“ impliziert, dass eine Änderung von Tassos Verhalten unmöglich ist. Zu Beginn des fünften Akts persifliert Antonio im Gespräch mit Alphons Tassos exzessiven Lebenswandel und seine hypochondrischen Anwandlungen: Die erste Pflicht des Menschen, Speis und Trank Zu wählen, da ihn die Natur die so eng Nicht wie das Tier beschränkt, erfüllt er die? Und läßt er nicht vielmehr sich wie ein Kind Von allem reizen was dem Gaumen schmeichelt? Wann mischt er Wasser unter seinen Wein? Gewürze, süße Sachen, stark Getränke, Eins um das andre schlingt er hastig ein Und dann beklagt er seinen trüben Sinn, Sein feurig Blut, sein allzuheftig Wesen, Er schilt auf die Natur und das Geschick.327

Antonio bezieht sich auf das Krankheitsbild Hypochondrie, deren nosologischer Übergang zur Melancholie, wie bereits beschrieben, fließend ist. In dem sehr langen Dialogpart Antonios wird das komische Potential der Hypochondrie ausgenutzt, um Tasso als verweichlicht und selbstbezogen zu charakterisieren, auch wenn Antonio Lachen als Reaktion – anders als in den Hypochonderomödien – angesichts des von Tasso als real empfundenen Leidens ablehnt: Wie bitter und wie töricht hab ich ihn Nicht oft mit seinem Arzte rechten sehn; Zum Lachen fast, wär irgend lächerlich Was einen Menschen quält und andre plagt. „Ich fühle dieses Übel“, sagt er bänglich Und voll Verdruß! „Was rühmt ihr eure Kunst? Schafft mir Genesung!“ – „Gut, versetzt der Arzt, So meidet das und das – „Das kann ich nicht“ – So nehmet diesen Trank – „O nein! der schmeckt Abscheulich, er empört mir die Natur.“ 328

Alphons bestätigt Antonios Beschreibung.329 Antonios Darstellung wird somit durch eine weitere Figurenperspektive bestätigt und kann nicht ausschließlich auf seinen Konflikt mit Tasso und seinen durchaus vorhandenen und dem Zuschauer bekannten Neid gegenüber dem Dichter zurückgeführt werden.

327 Goethe: Tasso, S. 817 f., V. 2884–2894. 328 Goethe: Tasso, S. 818, V. 2895–2904. 329 Vgl. Goethe: Tasso, S. 818, V. 2196.

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Tasso wird durch die Diagnosen der anderen Figuren in die Rolle des Patienten gerückt, der dem ‚gesunden‘ Hof gegenüber steht. Selbst die Prinzessin markiert ihn mit ihrer Mahnung zur Rücksichtnahme auf den sensiblen Dichter als krank, indem sie ihn in Analogie zu einem am Fuß verletzen Freund setzt, für den man langsamer geht und den man stützt. Alphons nimmt in seiner Antwort die medizinische Analogie auf, indem er sich und die Schwester in die Position des Arztes und Tasso in die Rolle des Patienten rückt: Besser wär’s Wenn wir ihn heilen könnten, lieber gleich Auf treuen Rat des Arztes eine Kur Versuchten, dann mit dem geheilten froh Den neuen Weg des frischen Lebens gingen.330

Später wird Alphons erneut in der Rolle des Arztes auftreten.331 Als er dem Dichter erlaubt, sich vom Hof zu entfernen, drückt Tasso die Hoffnung aus, dass ihn „die kleine Frist von allem heilen“ 332 wird. Alphons nimmt dies auf und wünscht sich, dass Tasso „ganz geheilt“ 333 zurückkehren wird und macht Tasso den, völlig in den Vorstellungen der Humoralpathologie verharrenden, Vorschlag einer Blutkur:334 So solltest du erst eine kurze Zeit Der freien Welt genießen, dich zerstreuen, dein Blut durch eine Kur verbessern.335

Tasso selbst spricht in seinen Dialog- und Monologpassagen im Register von Leiden, Krankheit und Schmerzen. Er operiert mit den Kategorien ‚krank‘ und ‚gesund‘ und knüpft somit an die Diagnose der anderen Figuren im Dialog mit ihnen an. Im Gespräch mit Leonore und Alphons akzeptiert er die Rolle des Patienten. Nach Leonores Rat, sich aus Ferrara zu entfernen, spricht er sie direkt als „Arzt“ an: Verschone nicht den Kranken, lieber Arzt! Reich ihm das Mittel, denke nicht daran Ob’s bitter sei. – Ob er genesen könne, Das überlege wohl, o kluge, gute Freundin!336

330 331 332 333 334 335 336

Goethe: Tasso, S. 742, V. 328–334. Vgl. zu Alphons Rolle als Arzt des ‚kranken‘ Tassos: Faber: Der Tasso Mythos, S. 291. Goethe: Tasso, S. 821, V. 2999. Goethe: Tasso, S. 821, V. 3005. Vgl. auch Borchmeyer: Tasso oder das Unglück, Dichter zu sein, S. 76. Goethe: Tasso, S. 822, V. 3057–3059. Goethe: Tasso, S. 802, V. 2386–2388.

338

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Tassos Einsatz der Kategorien ‚krank‘ und ‚gesund‘ erscheint jedoch ambivalent. Er lehnt Alphons Kurvorschlag ab und bezeichnet stattdessen das permanente Arbeiten an seinem Werk als Therapie: Ich bin gesund Wenn ich mich meinem Fleiß ergeben kann, Und so macht wieder mich der Fleiß gesund.337

Später wird er jedoch prognostizieren: Ich fühl’, ich fühl’ es wohl, die große Kunst Die jeden nährt, die den gesunden Geist Stärkt und erquickt, wird mich zu Grunde richten, Vertreiben wird sie mich. Ich eile fort!338

Die Verwendung der Begriffe ‚krank‘ und ‚gesund‘ kann auch ein bewusstes Spiel Tassos sein zur Erreichung seiner Ziele nach dem Eklat mit Antonio, denn er bezeichnet sein Verhalten in den zitierten Dialogen in seinen Monologen als Verstellung. In diesen langen, psychologischen Monologen, die das Schauspiel prägen und in denen Tasso seine Gefühle und Motivationen reflektiert, kommt auch Tassos eigene Perspektive auf sein Leiden zum Ausdruck.

5.3.3 Rollendoppelungen Tassos erster Monolog befindet sich im zweiten Auftritt des zweiten Aufzugs. Nach dem Gespräch mit der Prinzessin ist Tasso in Hochstimmung. Er deutet seine Gefühle für sie an und wagt, auf Erwiderung zu hoffen. Tasso prognostiziert sich selbst das Ende seiner Melancholie:339 Nein, künftig soll Nicht Tasso zwischen Bäumen zwischen Menschen Sich einsam, schwach und trübgesinnt verlieren! Er ist nicht mehr allein, er ist mit Dir.340

Der Monolog zeigt den euphorischen Zustand, in dem Tasso sich befindet, als er im anschließenden Auftritt auf Antonio trifft, um den Wunsch der Prinzessin zu erfüllen, die beiden mögen sich verbinden. Dem Zuschauer deutet sich schon hier die zunehmend fehlerhafte Wahrnehmung Tassos an, die zum permanenten Fehlschlagen der dialogischen Kommunikation führt. Zum Ende des zweiten Auftritts

337 338 339 340

Goethe: Tasso, S. 822, V. 3063–3065. Goethe: Tasso, S. 825, V. 3133–3135. Vgl. auch Löffler: Unlesbarkeit, S. 129 f. Goethe: Tasso, S. 766, V. 1167–1169.

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erwidert die Prinzessin auf Tassos Andeutung, sie sei das Urbild all seiner Frauenbilder, durchaus ambivalent:341 Und soll ich dir noch einen Vorzug sagen Den unvermerkt sich dieses Lied erschleicht? Es lockt uns nach und nach, wir hören zu, Wir hören und wir glauben zu verstehn, Was wir verstehn, das können wir nicht tadeln, Und so gewinnt uns dieses Lied zuletzt.342

Tasso bezieht die Aussage der Prinzessin über die Wirkung seines Werks metonymisch auf sich als Person und kommt so zu seiner Fehleinschätzung der Möglichkeiten seiner Beziehung zu ihr. Im dritten Aufzug tritt Tasso nicht auf, stattdessen arbeiten die anderen Figuren in verschiedenen Konstellationen den Vorfall zwischen Tasso und Antonio auf und besprechen ihr Vorgehen. Der Dichter bleibt dabei immer im Zentrum der Figurenperspektiven. Diese Szenen bilden den Hintergrund, vor dem das weitere Geschehen gezeigt wird, und der Zuschauer erlangt einen Informationsvorsprung vor Tasso und den anderen Figuren, was die Beurteilung von Tassos Verhalten und seiner psychischen Verfassung bestimmt. Auf diese Weise wird deutlich, dass einige von Tassos Urteilen, insbesondere über die Prinzessin und Alphons und mit Abstrichen auch über Antonio und Leonore, einer falschen Wahrnehmung der Situation entsprechen. Der Zuschauer weiß jedoch auch, dass Antonio tatsächlich neidisch auf Tasso ist und Leonore ihren eigenen Vorteil im Umgang mit ihm sucht, so dass eine komplexe Situation von verschiedenen Interessen und Perspektiven erzeugt wird, in welcher der Hof und Tasso sich keinesfalls rein kontrastiv gegenüberstehen.343 Der vierte Aufzug ist von drei langen Monologen Tassos geprägt. Zu Beginn wird Tasso allein nach seiner Verhaftung gezeigt. Dieser Monolog steht im scharfen Kontrast zu dem ersten. Während er sich in jenem an der Schwelle zu einer neuen Zukunft sieht, beginnt dieser Monolog wie in direkter Rückbindung an den ersten mit mehreren rhetorischen Fragen, die Tassos Verunsicherung zeigen: Bist du aus einem Traum erwacht und hat Der schöne Trug auf einmal dich verlassen? Hat dich nach einem Tag der höchsten Lust

341 Vgl. zu den unterschiedlichen Bewertungen der Prinzessin: Erika Tunner: Tasso, der gescheiterte Intellektuelle. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hg.): Goethe. Neue Ansichten – Neue Einsichten. Würzburg 2007, S. 53. 342 Goethe: Tasso, S. 765, V. 1109–1114. 343 Auf die kontroversen Beurteilungen von Hof und Dichter sowie der einzelnen Figuren kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu: Borchmeyer: Tasso oder das Unglück, Dichter zu sein, S. 72–74.

340

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Ein Schlaf gebändigt, hält und ängstet nun Mit schweren Fesseln deine Seele?344

An die Metaphorik des ersten Monologs anknüpfend, wird Tasso wieder von der Sphäre der Nacht und der Dunkelheit eingeholt, aus der er sich befreien wollte. Der Monolog endet mit den Fragen: Wohin, wohin beweg ich meinen Schritt? Dem Ekel zu entflieht, der mich umsaust, Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt?345

Diese Fragen erzeugen den Eindruck von höchster Bedrohung für Tassos Ich. Bereits zuvor deutet Tasso in einem chiastisch aufgebauten Paradoxon den Verlust seines eigenen Ich-Bewusstseins an: „Und dennoch lebst du noch und fühlst dich an / Du fühlst dich an und weißt nicht ob du lebst.“ 346 Eine funktionierende Selbstwahrnehmung auf der Basis des Bewusstseins bestimmt in der zeitgenössischen Psychologie und Anthropologie das Wissen um sich selbst als ein lebendes Wesen in der Welt und wird daher als Beweis der Personeneinheit gesehen. In Fällen von Krankheit geht dieses ‚Selbstbewusstsein‘ verloren und das Zusammenspiel von Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der Welt kollabiert. Die Figur Tasso ist dieser Gefahr des Selbstverlustes zunehmend ausgesetzt. Zum Schluss des Dramas setzt Antonio die Möglichkeit der Selbsterkenntnis entgegen: „Und wenn du ganz dich zu verlieren scheinst, / Vergleiche dich! Erkenne was du bist!“ 347 Der vierte Aufzug ist im weiteren Verlauf nach dem Muster aufgebaut, dass monologische Reflexionen Tassos den dialogischen Passagen mit Leonore und Antonio folgen. Dieser Wechsel von Selbst- und Fremdwahrnehmung erzeugt die pathologische Wirkung der Figur Tasso.348 Leonore will Tasso überzeugen, den Hof mit ihr zu verlassen, während Antonio ihn zunächst zum Bleiben bewegen will, jedoch anschließend einwilligt, Tassos Wunsch auf Urlaub dem Fürsten zu übermitteln. Dieses Muster ermöglicht einen Einblick in Tassos Einschätzung der anderen Figuren und zeigt, wie seine fehlerhafte Wahrnehmung und sein Misstrauen zunehmen. Zu Beginn des dritten Auftritts im vierten Aufzug nimmt Tasso Leonores letzten Redebeitrag direkt auf. Diese hatte Tasso aufgefordert, sein krankhaftes Misstrauen gegenüber dem Hof zu erkennen:

344 Goethe: Tasso, S. 797, V. 2191–2193. 345 Goethe: Tasso, S. 798, V. 2238–2240. 346 Goethe: Tasso, S. 797, V. 2198 f. 347 Goethe: Tasso, S. 833, V. 3419 f. Zum Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung im Tasso vgl. Kemper: Ineffabile; S. 139 f. 348 Vgl. auch: Jacobs: Torquato Tasso: Goethes Antwort auf Rousseau, S. 49 f.; Kemper Ineffabile, S. 139 f.

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341

Du irrst gewiß, und wie du sonst zur Freude Von andern dichtest, leider dichtest du In diesem Fall ein seltenes Gewebe Dich selbst zu kränken.349

Leonore führt in der Gewebemetapher Tassos Dichten und seinen Verfolgungswahn zusammen. Das Verb „dichten“ fungiert als Synonym für „weben“ und bezeichnet sowohl die poetische Produktion als auch seine Vorstellungen von den Intrigen der höfischen Gesellschaft.350 Beide treffen sich im Aspekt der Fiktionalität und entspringen der Einbildungskraft, die kreative Schaffenskraft ermöglicht und zugleich zur Ursache pathologischer, fehlerhafter Wahrnehmung werden kann. Das Gewebe kann sowohl den gedichteten Text als auch die zunehmende Isolation bezeichnen, in die Tasso sich durch sein Misstrauen „einwebt.“ 351 Leonore kontrastiert jedoch die Wirkungsweisen von Dichtung und Wahn. Während Tassos Dichtung zur Freude der Rezipienten wird, schädigt er sich mit seinen Verfolgungsvorstellungen selbst. Leonores Vorsatz, das „seltene Gewebe“ zu zerreißen,352 das wie seine Dichtung das Produkt von Tassos Einbildungskraft ist, zeigt die destruktive Wirkung seines krankhaften Misstrauens, das ihn von der Gesellschaft isoliert. Die Metapher wird zu Beginn des folgenden Monologs im dritten Auftritt des vierten Aufzugs weitergeführt. Tasso verändert dabei ihre Bedeutung: Ich soll erkennen daß mich niemand haßt Daß niemand mich verfolgt, daß alle List Und alles heimliche Gewebe sich Allein in meinem Kopfe spinnt und webt!353

Die Verbindung des Modalverbs „soll“ mit dem Infinitiv „erkennen“ reflektiert den Vorwurf der falschen Wahrnehmung und deutet bereits Tassos ‚Nicht-Erkennen‘ an. Die Reihung von mit der Konjunktion „daß“ eingeleiteten Nebensätze, die von dem Prädikat „soll erkennen“ abhängig sind, scheint gleichsam die Tätigkeit des Webens fortzuführen. Die Aufzählung endet mit einer erneuten Verwendung der Gewebemetapher. Tasso referiert auf Leonores Warnung, dass sein Verfolgungswahn nur ein fiktives Gewebe seiner Einbildungskraft sei und weist dies gleichsam zurück, indem er es zum „heimliche[n] Gewebe“ von Leonores Rede umfunktioniert. Das Gewebe bezeichnet dabei wieder die Produktion von Sprache, denn Leo-

349 Goethe: Tasso, S. 804, V. 2461–2464. 350 Vgl. Löffler: Unlesbarkeit, S. 125. 351 Wagner-Egelhaaf arbeitet die Gewebemetapher ausgehend von Ovids Philomele-Mythos als typische Melancholiemetapher heraus (vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997, S. 208–210). 352 Vgl. Goethe: Tasso, S. 804, V. 2465. 353 Goethe: Tasso, S. 805, V. 2468–2471.

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nores Intrige wird ebenfalls im Medium des gesprochenen Wortes ausgeübt: „O warum traut’ ich ihrer Lippe je?“ 354 Nach dem Gespräch mit Leonore ist auch Tassos Meinung zu der Prinzessin verändert, die er durch Leonores Worte hindurch als „kalt und starr“ 355 wahrzunehmen glaubt. Er beschließt seinen Monolog mit dem Vorsatz, sich zu verstellen, um seine Ziele zu erreichen: Nur hüte dich und laß dich keinen Schein Von Freundschaft oder Güte täuschen! Niemand Betrügt dich nun, wenn du dich nicht betrügst.356

Damit schließt Tasso eine Lösung des Konflikts bereits aus und markiert sein Verhalten in den kommenden Dialogen als Inszenierung. Die Rolle auf dem Theater wird verdoppelt: die Figur Tasso wird nun einen anderen Tasso spielen und wird damit in ein eigentliches und ein öffentliches Ich gespalten. Die Ursachen für diese Aufspaltung oszillieren dabei zwischen Tassos Krankheit und den Ansprüchen der Gesellschaft. Die Rollenstruktur des Dramas führt hier die bis zur pathologischen Gefährdung der Ich-Einheit gesteigerte Diskrepanz von Selbst- und Fremdwahrnehmung vor. Tasso kennzeichnet sein Verhalten gegenüber Antonio im letzten Monolog des vierten Aufzugs nachträglich erneut als höfische Verstellung, eine „Kunst“, die er ausgerechnet von seinem Kontrahenten erlernt habe: Ich lerne mich verstellen, denn du bist Ein großer Meister und ich fasse leicht. So zwingt das Leben uns zu scheinen, ja Zu sein wie jene die wir kühn und stolz Verachten konnten. Deutlich seh ich nun Die ganze Kunst des höfischen Gewebes!357

Die erneute Verwendung der Gewebemetapher hat eine zweifache Wirkung. Durch das Adjektiv „höfisch“ wird sie nun eindeutig auf das Verhalten des Hofes bezogen. Die Pathologisierung von Tassos Einbildungskraft, die Leonore durch die Figur des Gewebes impliziert hatte, wird als höfische Intrige abgewehrt. Gleichzeitig wird dem Zuschauer Tassos Einschätzung von Antonio durch die Wiederholung der Gewebemetapher jedoch potentiell als pathologische Paranoia gekennzeichnet. Tasso reflektiert die Diagnose des Hofes und weist sie als zielgerichtete Konstruktion Antonios ab: „Er spielt den Schonenden, den Klugen, daß / Man nur recht

354 355 356 357

Goethe: Goethe: Goethe: Goethe:

Tasso, Tasso, Tasso, Tasso,

S. 805, V. 2492. S. 807, V. 2543. S. 807, V. 2544–2546. S. 812 f., V. 2742–2749.

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343

krank und ungeschickt mich finde.“ 358 Tasso verkennt Antonios Bemühen, den Konflikt zu lösen, und ist sich sicher, dass er ihn vom Hof vertreiben wolle. Tasso geht dabei davon aus, dass sowohl der Fürst als auch dessen Schwester Antonios vermeintlicher Intrige Glauben schenken und sich von ihm abgewandt haben. Insbesondere trifft ihn das Verhalten der Prinzessin, was die Wiederholungen des Ausrufes „Auch du! Auch du!“ 359 zeigen, der zum Ende des Monologs umgewandelt als „auch Sie! auch Sie“ 360 erneut wiederholt wird. Die Pluralisierung der Rollen meint Tasso auch bei Alphons zu bemerken. In seinem Monolog, der dem Dialog zwischen Alphons und Tasso im zweiten Auftritt des fünften Aufzugs folgt, in dem dieser den Fürsten bittet, sich vom Hof entfernen zu dürfen und Alphons es schließlich widerwillig gewährt, glaubt Tasso nicht dessen, sondern Antonios Stimme zu hören: „Das waren seine Worte nicht, mir schien / Als klänge nur Antonios Stimme wieder.“ 361 Der Zuschauer weiß aufgrund seines im dritten Aufzug erlangten Informationsvorsprungs, dass Tasso das Verhalten der Prinzessin und des Fürsten falsch interpretiert. Durch seine fehlerhafte Wahrnehmung kommt es zu einer Vervielfältigung der Stimmen und Perspektiven und die Redesituation des Dramas wird uneindeutig. Nach dem Gespräch mit Alphons kennzeichnet Tasso in seinem letzten Monolog im dritten Auftritt des fünften Aufzugs sein Verhalten noch einmal als taktisch durchdachte Verstellung. Er bestärkt sich selbst darin, dass diese Verhaltensweise notwendig sei: So halte fest, mein Herz so war es recht! Es wird dir schwer, es ist das erstemal, Daß du dich so verstellen magst und kannst.362

Das Herz bezeichnet dabei das emotionale Zentrum von Tassos Ich, das an seiner Oberfläche nun nicht mehr sichtbar wird. Die direkte Anrede an sein Herz verdeutlicht die Aufspaltung der Figur Tasso. Zu Beginn des vierten Aufzugs hatte er sich noch dafür gerühmt, dass er vom „Hoffnungswahn des Herzens übereilt“ 363 Antonios Freundschaft gesucht habe, sein Herz demnach in seiner Sprache nach außen hin sichtbar sei. Tasso leitet schließlich zum nächsten Auftritt über, indem er das Kommen der Prinzessin erwähnt. Sein Vorhaben, sich zu verstellen, wird durch die direkte Konfrontation mit ihr auf die Probe gestellt. Tatsächlich bricht Tassos ‚Akt‘ im Dialog mit der Prinzessin zusammen. Die Szenenanweisung „Tasso wendet sich weg“ 364

358 359 360 361 362 363 364

Goethe: Goethe: Goethe: Goethe: Goethe: Goethe: Goethe:

Tasso, Tasso, Tasso, Tasso, Tasso, Tasso, Tasso,

S. 813, V. 2751 f. S. 814, V. 2792. S. 815, V. 2829. S. 823, V. 3102 f. S. 823, V. 3098–3100. S. 797, V. 2205. S. 826, V. 3174.

344

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markiert dessen Bemühen, weiter seine eingeübte Rolle zu spielen, und zugleich den Umschwung. Die Szenenanweisung verweist nicht nur auf die Körperhaltung, sondern auch auf Tassos emotionalen Zustand. Tasso verliert zum ersten Mal die Kontrolle über sein eigenes Sprechen und erwidert der Prinzessin nichts. Die Sorge der Prinzessin lässt Tassos Verstellung zusammenbrechen. Nach der nebentextlich induzierten Sprechpause wechselt seine Stimmung von melancholisch umgehend zu ekstatischer Euphorie, in die er sich mehr und mehr hineinsteigert. Er nimmt die Vermutung des falschen Spiels der Prinzessin zurück, wodurch er selbst wieder zu seiner wahren Rolle zurückfindet: „Du bist’s und nun bin ich es auch.“ 365 Tasso unterscheidet dabei drei Ursprungsarten seines Gefühls für die Prinzessin: Ist es Verirrung was mich nach dir zieht? Ist’s Raserei? ist’s ein erhöhter Sinn, Der erst die höchste reinste Wahrheit faßt?366

Verirrung, Raserei und ein erhöhter Sinn, der durch gesellschaftliche Regeln hindurch eine essentielle Wahrheit entdeckt, werden in dieser Reihung von Fragen eng geführt. Tasso formuliert an dieser Stelle selbst die Möglichkeit, dass seine Wahrnehmung nur seinem eigenen Inneren entspringt und die Realität verkennt.367 Die klimaxartige Anordnung seiner Fragen und sein ekstatischer Beschluss, sein Gefühl für die Prinzessin nicht länger zu unterdrücken, machen jedoch deutlich, dass er sich für die letzte Möglichkeit entscheidet.368 Die erschreckte Mahnung der Prinzessin, er möge sich mäßigen, weist er als unmöglich zurück und nähert sich der Prinzessin schließlich auch körperlich, indem er sie umarmt. Wie in der Streitszene mit Antonio folgt Tasso seinen eigenen Worten, die so nach dem Ziehen des Degens zum zweiten Mal in Handlung umschlagen.369 Im Kontext der höfischen Gesellschaft stellt die Umarmung jedoch eine soziale Überschreitung dar, die sogleich von dem heraneilenden Alphons als pathologisch markiert und bestraft wird.370 Der Fürst diagnostiziert knapp: „Er kommt von Sinnen.“ 371 Somit kommt Alphons zu einer anderen Beurteilung von Tassos Wahrnehmung: Nicht ein erhöhter Sinn, sondern Raserei haben ihn sich der Prinzessin nähern lassen. In den Monologen wird insbesondere die expressive Funktion der Dramensprache ausgereizt. Tassos Überlegungen und Gefühle werden bis in die letzten Winkel

365 366 367 368 369 370 371

Goethe: Tasso, S. 827, V. 3226. Goethe: Tasso, S. 828, V. 3254–3256. Vgl. Burwick: Poetic Madness, S. 134. Vgl. Burwick: Poetic Madness, S. 133. Vgl. Reinhardt: Die kleine und die große Welt, S. 195. Vgl. Faber: Der Tasso Mythos, S. 292. Goethe: Tasso, S. 829, V. 3286.

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seines Ichs ausgeleuchtet. Gerade durch das ausgiebiges Reflektieren seines eigenen Inneren und die Fehleinschätzung der anderen Figuren, die dem Zuschauer durch seinen Informationsvorsprung deutlich wird, entsteht der pathologische Eindruck von der Figur Tasso. Die Monologe werden mit den anderen Figurenperspektiven kontrastiert, so dass eine komplexe Struktur von verschiedenen Perspektiven entsteht. In der Bühnenfassung des Tasso sind die Monologe im vierten und fünften Aufzug stark gekürzt, wodurch insbesondere die pathologische Wirkung Tassos abgeschwächt wird,372 denn vor allem seine Verdächtigungen und Beleidigungen gegenüber den anderen Figuren sind herausgenommen. Tasso wirkt dadurch weniger paranoid und inkonsistent in seinen Beurteilungen der Prinzessin und des Fürsten. Das extreme Ausleuchten des eigenen Inneren, in dem Tassos Leiden entsteht, scheint für die Bühne ungeeignet zu sein.

5.3.4 Sprachliche Repräsentation von Wahnsinn und Inspiration „Der Wahnsinn hin und her zu wühlen scheint / Und doch im schönsten Takt sich mäßig hält.“ 373 Dieses Ariost-Lob Antonios, das als implizite Kritik gegen Tasso gerichtet ist, dem Antonio stets Maßlosigkeit vorwirft, funktioniert ebenso als autoreflexives Kommentar zu Goethes Tasso.374 Tassos Sprache bleibt sowohl in seinen euphorisch-inspirierten als auch in seinen emotional-verzweifelten Zuständen kontrolliert und strukturiert: „Turbulent energies are made to wear the stately dress of courtly speech […]. Not even in Tasso’s emotional outbursts does language tumble wild and naked across the stage.”375 Bereits im ersten Auftritt hatte Leonore in den scheinbaren Oxymeronen „seiner Klagen Wohllaut“, „reizend Leid“ und „selge Schwermut“ 376 die paradoxe Verbindung von Leiden und ästhetischem Vergnügen zum Ausdruck gebracht. Vor dem Hintergrund der Tradition der Dichtermelancholie erscheinen diese Oxymerone jedoch nicht als Verbindung von Gegensätzen, sondern als konstitutiv zusammengehörig.377 Für die Verbindung von schönem Ton und trauriger Klage steht auch die Nachtigall, mit der Leonore Tasso vergleicht und die insbesondere in der Romantik zum Bildrepertoire der Melancholie gehört.378 Das Bild der klagenden Nachtigall wird später mit dem „Geflügel […] der alten Nacht“ 379 kontrastiert, wo-

372 Vgl. auch Faber: Der Tasso Mythos, S. 285. 373 Goethe: Tasso, S. 753, V. 732 f. 374 Vgl. auch William E. Yuill: Lofty Precepts and well-tempered madness. Generalisation and Verbal Pattern in Goethe’s ‚Torquato Tasso‘. In: German Life and Letters 21 (1) (1977), S. 114. 375 Burwick: Poetic Madness, S. 130. 376 Goethe: Tasso, S. 738, V. 195. 377 Vgl. Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe: Klassische Dramen, S. 1431 f. 378 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 207. 379 Goethe: Tasso, S. 798, V. 2235 f.

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durch der poetischen Nobilitierung die Pathologie der Melancholie zur Seite gestellt wird. Die Nähe von dichterischem Schaffen und Krankheit figuriert insbesondere in Tassos Seidenwurmmetapher, welche die Implikationen der bereits erwähnten Gewebemetaphern aufnimmt. Tasso versucht Alphons, seinen Zwang zu dichten und an seinem Werk zu arbeiten zu verdeutlichen. Auf dessen Aufforderung, nicht zu tief in sich selbst zu dringen, auch wenn der Poet dadurch verliere, erwidert er: Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr. Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt. Das köstliche Geweb entwickelt er Aus seinem Inneren und läßt nicht ab Bis er in seinem Sarg sich eingeschlossen.380

Traditionell bezeichnet die Vorstellung vom Seidenwurm das unermüdliche Arbeiten für eine Aufgabe. Sie wurde bereits von Petrarca als Metapher für das dichterische Schaffen verwendet, sollte aber den Anspruch dichterischer Eigenständigkeit gegenüber der geforderten imitatio alter Vorbilder unterstreichen.381 Im Tasso markiert die Metapher das Dichten als eine Art tödlichen Zwang, dem Tasso sich nicht entziehen kann, da er in seiner Natur inhärent ist. Der Dichter erscheint gerade nicht als souveräner Beherrscher seiner Arbeit, sondern die Dichtung als Gefährdung des eigenen Ichs.382 Das Gewebe bezeichnet nun nicht mehr Verfolgungswahn oder Intrige sondern die tatsächliche Produktion von poetischem Text, durch die Tassos Leiden erst erzeugt wird. Denn diese hat eine ebenso gefährliche Wirkung wie die krankhaften Wirkungen der Einbildungskraft, die Leonore als ‚Gewebe‘ bezeichnet, was auch an der Wiederaufnahme der Figur des gefährlichen Einwebens deutlich wird. Krankheit und Dichtung gehen eine bis zur Unkenntlichkeit reichende Verbindung ein. Nach dem klassischen Topos vom furor poeticus liegen die Quellen dichterischer Inspiration jenseits des rationalen Zugriffs durch den menschlichen Verstand.383 Auch Tassos Wahrnehmungssphäre wird von derjenigen der anderen Figuren abgesetzt. Seine poetische Produktionskraft wird alternierend als Gabe der Musen, der Götter oder der Natur bezeichnet und somit gewissermaßen extern begründet. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen medizinischen Theorien kommt zudem die Einbildungskraft als kritischer Punkt hinzu, in dem sich kreative

380 Goethe: Tasso, S. 823, V. 3081–3087. 381 Vgl. Dietrich Jöns: „Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen …“ Zur Tradition eines Bildes in Goethes „Torquato Tasso“. In: ders. und Dieter Lohmeier (Hg.): Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Neumünster 1998, S. 94 f. 382 Vgl. Jöns: „Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen …“, S. 108. 383 Vgl. Burwick: Poetic Madness, S. 105.

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Schaffenskraft und pathologische Wahnbildung treffen. Über sie wird der Ursprung der dichterischen Inspiration in das Innere des Dichters selbst verlegt. Die Quelle von Tassos poetischer Produktionskraft ist somit auf der Bühne nicht unmittelbar wahrnehmbar. Ebenso wie Tassos Melancholie wird die dichterische Inspiration nur durch Figurensprache erzeugt. Im ersten Auftritt beschreibt Leonore die Wahrnehmung des Dichters und setzt sie von der der anderen Figuren ab: Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum; Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur, Was die Geschichte reicht, das Leben gibt Sein Busen nimmt es gleich und willig auf: Das weit zerstreute sammelt sein Gemüt, Und sein Gefühl belebt das Unbelebte. Oft adelt er was uns gemein erschien, Und das Geschätzte wird vor ihm zu nichts.384

Als Agenten der Wahrnehmung werden der „Busen“, das „Gefühl“ und das „Gemüt“ bezeichnet. Das „Gefühl“ hat dabei poietische Kraft, die das „Unbelebte“ beleben kann. Die Formulierung „das weit zerstreute sammelt sein Gemüt“ postuliert das Verbinden von Teilen und Ganzem als Merkmal der dichterischen Tätigkeit, was im Verlauf des Dramas wiederholt aufgenommen wird.385 Die anderen Figuren haben nur über Tasso Zugang zu seiner Wahrnehmungssphäre: In diesem eignen Zauberkreise wandelt Der wunderbare Mann und zieht uns an Mit ihm zu wandlen, Teil an ihm zu nehmen: Er scheint sich uns zu nahn, und bleibt uns fern; Er scheint uns anzusehen, und Geister mögen An unsrer Stelle seltsam ihm erscheinen.386

Die Anapher „Er scheint“ und das Polyptoton „scheint – erscheinen“ lassen die Interaktion mit Tasso als kaum fassbar wirken. Der Kontakt mit ihm – das Annähern und das Ansehen – wird im zweiten Teil des Satzes wieder in Frage gestellt. Dem Verb „nahen“ wird das Adjektiv „fern“ entgegengestellt und die realen Figuren werden zu „Geistern“, womit sonst Tassos fiktive Gestalten bezeichnet werden. Tassos Wahrnehmung erscheint in Leonores Rede von jener der anderen Figuren abgesetzt. Leonore stellt aber auch das Bedürfnis der Frauen dar, an diesem „Zauberkreis“ teilzunehmen. Die Interaktion mit Tasso ist jedoch von der Unsicherheit des „Scheinens“ geprägt.

384 Goethe: Tasso, S. 737, V. 159–166. 385 Vgl. Bernhard Greiner: Mit meinen Augen hab ich es gesehn / Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne – Das Schöne als Symbol des Klassischen Theaters: Torquato Tasso. In: Euphorion 86 (1992), S. 172; zur Bedeutung des Zusammenspiels von Einzelnem und Ganzem in Goethes ästhetischer Theorie: vgl. Olaf Kramer: Goethe und die Rhetorik. Berlin 2010, S. 171. 386 Goethe: Tasso, S. 737, V. 159–171.

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Die Wirkungsmacht von Tassos poetischer Imagination wird nur wenig später unmittelbar auf der Bühne vorgeführt. Auf seine Bekränzung reagiert Tasso heftig mit fast körperlicher Ablehnung. Die Ermahnung der Prinzessin, den Kranz wie sein Talent zu tragen, sowie die Versicherung, das Symbol des Kranzes werde ihn ewig auszeichnen, setzt anschließend Tassos Imagination in Bewegung.387 An die topische Einsamkeit des Melancholikers anknüpfend entwirft er einen fiktionalen Zufluchtsort, an dem er sich als unverdient Bekränzter verbergen kann: Laßt mich mein Glück im tiefen Hain verbergen. Wie ich sonst meine Schmerzen dort verbarg. Dort will ich einsam wandlen, dort erinnert Kein Auge mich an’s unverdiente Glück.388

Aus diesem Bild entsteht sofort ein weiteres: Der Einsame, der von niemandem gesehen werden kann, sieht sich selbst im Spiegel eines Brunnens: Und zeigt mir ungefähr ein klarer Brunnen In seinem reinen Spiegel einen Mann, Der wunderbar bekränzt im Widerschein Des Himmels zwischen Bäumen zwischen Felsen Nachdenkend ruht: so scheint es mir ich sehe Elysium auf dieser Zauberfläche Gebildet. Still bedenk’ ich mich und frage Wer mag der Abgeschiedne sein? Der Jüngling Aus der vergangnen Zeit? So schön bekränzt? Wer sagt mir seinen Namen? Seinen Verdienst?389

Das Nicht-Gesehen-Werden in der Einsamkeit wird aufgehoben, indem Tasso sich selbst in die Rolle des Beobachters rückt. Dabei verwendet er mit dem „Spiegel“ eine „commonplace metaphor for poetic imagination“ 390, die zudem das Ideal der Mimesis ausdrückt.391 Tasso sieht in seinem Spiegel jedoch nicht die alten Meister oder die Natur, die der Dichter imitieren soll, sondern die Bilder seiner eigenen Imagination. Der Spiegel in Tassos Rede zeigt somit dessen eigenen Wahrnehmungsprozess: „Goethe’s Tasso affirms a version of the doctrine of imitation that was to become prominent in the romantic period: the poet imitates not the external object, but his own internal process of apprehending the object.“ 392 In einem weiteren Bild imaginiert Tasso sich die Dichtermeister der alten Zeit hinzu, die ihn umgeben:

387 388 389 390 391 392

Vgl. Greiner: Mit meinen Augen hab ich es gesehn, S. 176. Goethe: Tasso, S. 748, V. 528–531. Goethe: Tasso, S. 748, V. 532–541. Burwick: Poetic Madness, S. 135. Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 69. Burwick: Poetic Madness, S. 134.

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O säh’ ich die Heroen, die Poeten Der alten Zeit um diesen Quell versammelt! O säh’ ich hier sie immer unzertrennlich, Wie sie im Leben fest verbunden waren!393

Das Zusammensein von Helden und Dichtern wird zunächst im Konjunktiv heraufbeschworen.394 Der Charakter der Vision wird durch die Anapher „O säh ich“ noch verstärkt. Im Anschluss wechselt Tasso jedoch in den Indikativ und formuliert die Verbindung von Held und Dichter als Tätigkeit der Einbildungskraft:395 „So bindet der Magnet mit dem Eisen fest zusammen, / Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet.“ 396 Der Magnet funktioniert als Analogie zur Einbildungskraft, die Held und Dichter wieder verknüpft, wie der Magnet die Eisen zusammenzieht.397 Der erneute Wechsel zum Konjunktiv deutet abschließend das Zurückkehren Tassos aus seiner Imagination an: „O daß ich gegenwärtig wäre, sie / Die größte Seelen nun vereint zu sehen!“ 398 Dabei scheint Tasso wieder aus der Gruppe der alten Dichterhelden hinauszugehen und zurück in die Beobachterposition zu rücken. Tasso wird von Leonore mit dem Ausruf „Erwach! Erwach“ 399 zurückgerufen, mit dem sie Tassos Zustand als vom normalen Wachzustand abweichend charakterisiert. Obwohl er auf der Bühne anwesend ist, ist er den anderen Figuren entrückt. Tasso bezeichnet sich anschließend selbst als „entzückt“ 400 und referiert damit auf die Vorstellungen vom enthusiastisch inspirierten Dichter. Sein Widerspruch, er erscheine nur „abwesend“ 401, erinnert an Leonores Gegensätze von scheinbarer Nähe und tatsächlicher Ferne, mit denen sie die Interaktion mit Tasso beschrieben hatte. Die Prinzessin lenkt die Aufmerksamkeit auf Tassos Rede selbst. Sie zeigt sich erfreut, dass Tasso so „menschlich“ rede, wenn er mit seinen „Geistern“ 402 spreche. Tassos ‚Geister‘ sind für die anderen Figuren nicht direkt, sondern nur durch Tassos „menschliche“ Rede wahrnehmbar. Die Figuren und der Zuschauer können

393 Goethe: Tasso, S. 748, V. 545–548. 394 Vgl. Claude Haas: „Nur wer Euch ähnlich ist, versteht und fühlt“. Überlegungen zur Repräsentation von Heroismus und Souveränität. In: Kenneth S. Calhoon, Eva Geulen und ders. (Hg.): „Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht.“ Über den Blick in der Literatur. Berlin 2010, S. 54. 395 Vgl. Haas: „Nur wer Euch ähnlich ist, versteht und fühlt“, S. 65 f. 396 Goethe: Tasso, S. 748, V. 549–555. 397 Zum Magnetismus als ästhetisches Prinzip bei Goethe vgl. Jeremy Adler: Aesthetics of magnetism. Science, philosophy and poetry in the dialogue between Goethe and Schelling. In: Elinor Shaffer (Hg.): The Third Culture: Literature and Science. Berlin/New York 1998, S. 66–102. 398 Goethe: Tasso, S. 748, V. 556 f. 399 Goethe: Tasso, S. 748, V. 558. 400 Goethe: Tasso, S. 749, V. 561. 401 Goethe: Tasso, S. 749, V. 561 402 Goethe: Tasso, S. 749, V. 562.

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Tassos Inspiration somit nur wahrnehmen, da dieser das Imaginierte gleichzeitig in Sprache übersetzt. Die Funktionsweise der ‚Ein-Bildung‘ als produktiver Akt der (sprachlichen) Bildwerdung wird auf der Bühne vorgeführt. Tasso fügt in dieser langen Redepassage immer weitere imaginierte Bilder zu einer Szenerie zusammen.403 Auf ein Stichwort hin setzt er seine produktive Imagination in Bewegung. Dies zeigt sich auch im ersten Auftritt des zweiten Aufzugs, in dem Tasso nach der Erwähnung der goldenen Zeit durch die Prinzessin umgehend seine Vision dieser Zeit entwirft.404 Beim Ziehen des Dolches und der Umarmung der Prinzessin folgt Tasso schließlich seinen eigenen Sprachbildern.405 Die poetische Imagination gerät jedoch außer Kontrolle. Die dichterische, unmittelbare und irrationale Inspiration bleibt somit auf rationale, verständliche sprachliche Vermittlung angewiesen, da die anderen Figuren sonst nicht daran teilhaben können. Dieses „Paradox[ ] of […] Representation“ 406 wird in Goethes Drama durch die klassische Form und die rhetorisch streng strukturierte und pathetische Dramensprache verstärkt. Sowohl Tassos Leiden, seine emotionalen Ausbrüche als auch seine kreative Inspiration existieren ausschließlich in dieser Sprache. Die Konfrontation und Verbindung zwischen Leiden und dem Ausdruck in einer rhetorisch-strukturierten und metrisch geordneten Sprache wird in Tassos abschließender poetologischer Rede erneut formuliert. Tasso bindet seine Dichtung eindrücklich an sein Leiden. Er ergeht sich zunächst in Schmähungen gegen die anderen Figuren, bevor er sich verzweifelt selbst für seine Verbannung verantwortlich macht. Nach Antonios Ermahnung, sich zu vergleichen und über diesen Bezug zu einem Außenpunkt sich selbst zu erkennen, findet Tasso schließlich zu einem anderen Leidensausdruck als die „Lästrung“, die er zuvor als „SchmerzensLaut“ 407 bezeichnet hatte: Nur Eines bleibt: Die Träne hat uns die Natur verliehen. Den Schrei des Schmerzes, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles – Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.408

403 404 405 406 407 408

Vgl. Burwick: Poetic Madness, S. 135. Vgl. Goethe: Tasso, S. 761, V. 975–994. Vgl. Burwick: Poetic Madness, S. 130. Burwick: Poetic Madness, S. 144. Goethe: Tasso, S. 832, V. 3374. Goethe: Tasso, S. 833, V. 3425–3433.

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Tasso parallelisiert seine Dichtung mit den natürlichen und unmittelbaren Leidenszeichen der Träne und des Schmerzensschrei. Wie diese ist seine Dichtung eine angeborene Möglichkeit, sein Leiden auszudrücken. Während der Mensch schließlich „in seiner Qual verstummt“, bleibt Tasso die Möglichkeit, sein Leiden dichterisch auszudrücken. Die Zeichen des Leidens sind hierarchisch angeordnet. Das Wort „zuletzt“ deutet an, dass der Schrei erst erfolgt, wenn das Maximum an Leiden erreicht ist. Dem Schrei folgt das qualvolle Verstummen. Tasso bleibt in diesem Fall jedoch „zu sagen, wie ich leide.“ Auch hier wird der Ursprungsort von Tassos Dichtung in sein eigenes Inneres gelegt. Die Möglichkeit, sein Leiden auszudrücken, wird zum künstlerischen Privileg. Die Formulierung „Melodie und Rede“, mit der er sein dichterisches Sagen beschreibt, verweist jedoch darauf, dass hier nicht das Programm einer rein subjektiven, dichterischen Unmittelbarkeit entworfen wird, sondern einer geordneten dichterischen Sprache.409 Die Konflikte zwischen poetischer Imagination, die ins Pathologische entgleiten kann, und einer klassischen Poetik werden in Goethes Tasso bereits durch die sprachliche Formgebung thematisiert und reflektiert. Leiden, Verfolgungswahn, Intrige und kreative Inspiration figurieren in einer gemessenen, metrisch gebundenen Sprache, die zwar in Tassos emotionalen Reden zu einer Sprache mit höchstem Dramenpathos gesteigert wird, jedoch nie außer Kontrolle gerät. Sowohl die Gültigkeit der poetischen Imagination als auch der klassischen Poetik werden somit durch das Zusammenspiel von Inhalt und Form ausgedrückt. Im Briefwechsel mit Schiller im Dezember 1797 formuliert Goethe seine Zweifel, ob er eine „wahre Tragödie schreiben könnte“: Ich kann mir den Zustand Ihres Arbeiten recht gut denken. Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse ist es auch mir niemals gelungen irgend eine Tragische Situation zu bearbeiten und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein? daß das höchste pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mit wirken muß um ein solches Werk hervorzubringen. Ich kenne mich zwar nicht selbst genug um zu wissen ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin beinahe überzeugt daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte.410

409 Vgl. Walter Pape: „Ja, wenn man Tränen schreiben könnte“. Erzählte Tränen, gespielte Tränen um 1800. In: ders. und Antje Arnold (Hg.): Emotionen in der Romantik. Repräsentation, Ästhetik, Inszenierung. Tübingen 2012, S. 171–184. Nicht überzeugend sind daher Ryans gattungspoetologische Schlüsse: „der tragische Untergang des epischen, Welt gestaltenden Dichters leitet zur Geburt des lyrischen, bekennenden Dichters hinüber: aus Tasso ist gleichsam ein Goethe geworden.“ (Lawrence Ryan: Die Tragödie des Dichters in Goethes „Torquato Tasso“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 [1965], S. 312) 410 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 9. Dezember 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 462. Schiller hatte zuvor berichtet, dass „das pathologische Interesse der Natur“ an seiner Arbeit am Wallenstein seine Gesundheit angreife: vgl. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 8.1, S. 460.

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Die Nähe der Worte Pathos und Pathologie aufgreifend setzt Goethe „ein lebhaftes pathologisches Interesse“ für die dichterische Herstellung tragischer Situationen voraus. Mit dem Verweis auf die „Alten“ plädiert er jedoch dafür, den pathologischen Ursprung des Tragischen durch das „ästhetische Spiel“, das heißt durch die kunstvolle rhetorisch-sprachliche Ausgestaltung abzumildern und zu bändigen.411 Goethes Befürchtung, das Schreiben einer echten Tragödie könne ihn zerstören, impliziert ebenfalls die Gefährdung des Dichters durch die eigene Dichtung. Es scheint diesem Diktum zu entsprechen, dass Ausdrucksweisen des Leidens wie Tränen, Zittern, Augenrollen oder Schreien, die in den Überlegungen einer realistischen, anthropologischen Schauspielkunst und den Stücken, die diese umsetzen, vorgeschlagen werden, im Tasso keine Rolle mehr spielen. Tassos Leidenszeichen sind weit von Engels Überlegungen zur körperlichen Darstellung des Affekts Leiden entfernt. Seine Pathologien werden stattdessen in einer formal kontrollierten Sprache hergestellt, woran auch das veränderte Stilparadigma der Klassik deutlich wird.412 An der veränderten Darstellung und Herstellung von Leiden im dramatischen Text und auf der Bühne wird ebenfalls eine rezeptionsästhetische Veränderung bezüglich der Gattung Drama erkennbar. Zumbusch zeigt in ihrer Studie Die Immunität der Klassik, wie die wirkungsästhetische Ausrichtung auf Ansteckung in der Klassik durch Metaphern der Impfung und Immunität ersetzt wird.413 Das Leiden des Tragödienhelden ist für Schiller „eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird“ 414. Anstelle einer sympathetischen Übertragung ist die kontrollierte Ansteckung zwecks Immunisierung das Ziel der Leidensdarstellung. Diese immunia ab contagio stellt Zumbusch dabei als Modell für „die ästhetische Umstellung von der Wirkungs- auf eine Autonomieästhetik“ 415 heraus. Während die Wirkungskategorie ‚Sympathie‘ die Aufhebung von Subjektgrenzen impliziert, zielt die ‚Impfung‘ langfristig auf eine Abgrenzung; eine Umstellung, die im medizinisch-physiologischen Diskurs durch die Ablösung des

411 Vgl. auch Port: Pathosformeln, S. 9 f.; Kramer: Goethe und die Rhetorik, S. 177 f. 412 Vgl. zur Abgrenzung von Natur und Kunst bei Goethe: Ernst Stahl: Nature and Art in Goethe’s Science and Poetry. In: Literature and Science. Proceedings of the Sixth Triennial Congress, hg. von International Federation for Modern Languages and Literatures. Oxford 1955, S. 222; Eberhard Wilhelm Schulz: Die Wahrheit der Kunstwerke und das Kunsturteil, Anmerkungen zu Goethes Schrift ‚Der Sammler und die Seinigen‘. In: Hans Werner Eroms und Hartmut Laufhütte (Hg.): Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft und Kunst in der Auseinandersetzung mit Goethes Werk. Passau 1984, S. 32; Kramer: Goethe und die Rhetorik, S. 177 f.; Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 253 f. Dazu passen auch die schauspieltheoretischen Überlegungen Goethes, die sich von den Forderungen einer naturalistischen Darstellung entfernen: vgl. Kramer: Goethe und die Rhetorik, S. 188–190. 413 Vgl. Zumbusch: Die Immunität der Klassik. 414 Schiller: Über das Erhabene, S. 837. 415 Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 10.

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permeablen Gefäßkörpers der Humoralpathologie durch einen geschlossenen biologischen Organismus stattfindet.416 In der Forschung ist auf die bewussten Bezüge in Form und Figurenkonstellation von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg zum Tasso hingewiesen worden.417 Auch in Kleists Stück steht eine Figur im Zentrum, deren Einbildungskraft ins Pathologische wirkt. Die sprachlich-textliche Umsetzung der komplexen Leiden des Prinzen von Homburg lassen dabei jedoch formale und inhaltliche Unterschiede im literarischen Umgang mit Krankheit erkennen.

5.4 Pathologie der Einbildungskraft: Kleists Prinz Friedrich von Homburg Zahlreiche zeitgenössische Rezensenten haben den Prinzen von Homburg, die Titelfigur von Kleists letztem Schauspiel, als ‚krank‘ diagnostiziert. Es ist die Rede von „Verstimmungen und Krankheiten des Geistes“ 418, „der Krankheit des Geistes“ 419, von „einem anormalen Zustande“ 420 und „dem seelenkranken Prinzen“ 421, der ein „Nervenkranke[r] und Somnambule[r]“ 422 sei. „Das Magnetische, der Somnambulismus, das Schlafwandeln“ 423 sind dabei Kontext und Symptome dieser Krankheit. Nachtwandeln und Somnambulismus sind Phänomene, die in der zeitgenössischen medizinisch-anthropologischen Literatur – beispielsweise in den besprochenen Texten von Reil und Eschenmayer sowie den magnetischen Fallgeschichten (siehe Kap. 2.2, 2.3.2 und 3.3) – sowohl als Nerven- und Seelenkrankheit als auch als Zustand erhöhter Wahrnehmung diskutiert werden. Die Somnambulismusthematik ruft somit einen vielschichtigen und kontroversen Kontext auf. Während somnambule Zustände im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert als Verfassungen, die sich der Kontrolle des Verstandes entziehen, noch überwiegend ne-

416 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 47–52 und S. 54 f. 417 Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte: Heinrich von Kleist. Prinz Friedrich von Homburg. Frankfurt a. M. 1985, S. 23 und S. 80. 418 Heinrich Gustav Hotho: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Berlin 1827. Zitiert nach Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Dokumente zu Kleist. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1984, S. 211. 419 Georg Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik. I, hg. von Eva Modenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 315. 420 Karl Leberecht Immermann an Bernhard Rudolf Abeken, Münster 31. 12. 1822. Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 445. 421 Hotho: Über Kleists Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“. Morgenblatt Tübingen 18./ 22. November 1828. Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 455. 422 Julian Schmidt: Einleitung zu H. v. Kleists Gesammelten Schriften. Berlin 1859, S. CXIV. 423 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Berlin. Winter 1828/29 (nach H. G. Hotho). Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 214.

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gativ gewertet werden,424 erfahren sie in der romantisch-naturphilosophischen Medizin eine Aufwertung als Zustand erhöhter Wahrnehmung und Einsicht in die Geheimnisse der Natur. Diese Spannung zwischen Pathologisierung und Nobilitierung zeigt, dass es zu vereinfachend ist, den Prinzen von Homburg nur als romantischen Träumer zu bezeichnen.425 Dementsprechend ist der animalische Magnetismus in der Forschung verstärkt als Bezugspunkt für Kleists Drama in den Mittelpunkt gerückt worden.426 Kleist war mit den Inhalten und Ideen des animalischen Magnetismus vertraut. Schubert hatte im Winter 1807/08 in Dresden private Vorlesungen über die Naturphilosophie gehalten, an denen Kleist teilnahm.427 Teile davon erschienen in der von Kleist mitherausgegebenen Zeitschrift Phöbus. 1808 wurde die gesamte Vorlesung unter dem Titel Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften veröffentlicht. Der animalische Magnetismus wird dabei in der 13. Vorlesung behandelt, wobei es Schubert nicht primär um die heilkundlichen Aspekte des Magnetismus geht. Stattdessen soll untersucht werden, welche im bewussten Zustand verborgenen Eigenschaften des Menschen in den magnetischen Erscheinungen hervortreten und was diese über die Verbindung der menschlichen Organismen untereinander und zur Natur aussagen: Doch sollen uns diese medicinischen Wirkungen hier zunächst nicht beschäftigen […]; vielmehr wenden wir uns zu jenen tiefer gehenden Wirkungen des thierischen Magnetismus, durch welche Eigenschaften unserer Natur erweckt werden, welche sonst nie oder nur undeutlich hervortreten.428

Kleist war, nach Schuberts Memoiren, fasziniert von den magnetischen Erscheinungen und dem Somnambulismus: „Denn namentlich für Kleist hatten Mitthei-

424 Vgl. beispielsweise Karl Friedrich Pockels: Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, 3. St. (1788/89) S. 76–89 und Bd. 7, 1. St., S. 74–127. 425 Vgl. z. B. Schmidt, der den Prinzen als Träumer mit „romantischer Befangenheit in der eigenen Gefühlssphäre“ bezeichnet (Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihren Epochen. Darmstadt 2003, S. 21) und dabei die psychomedizinische Thematik übersieht. 426 Vgl. Tatar: Spellbound, S. 82–121; Barkhoff: Magnetische Fiktionen; ders.: Die literarische Karriere des Mesmerismus in Deutschland. In: Leonardy/Renard/Dörsch (Hg.): Traces du mesmérisme dans la littérature européene du XIXe siécle, S. 43–54; Uffe Hansen: Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 47–79; Katherine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus. Göttingen 2008. 427 Schubert ist die einzige, eindeutig festlegbare Quelle für Kleists Auseinandersetzung mit dem animalischen Magnetismus: vgl. ausführlich Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 109–135. 428 Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften. Unveränderter reproduzierter Nachdruck der Ausgabe Dresden 1808. Darmstadt 1967, S. 334.

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lungen dieser Art so viel Anziehendes, daß er gar nicht satt davon werden konnte und immer mehr und mehr derselben aus mir hervorlockte.“ 429 Somnambulismus und animalischer Magnetismus waren für die zeitgenössischen Rezipienten als Bezugspunkte für Kleists Schauspiel unverkennbar. Gleichzeitig hat die Figur des nachtwandelnden Prinzen als Held eines Schauspiels irritiert: Somnambulismus und Nachtwandeln werden als unpassend für einen Dramenhelden gesehen. Hegel nennt den Prinzen den erbärmlichste[n] General; beim Austheilen der Ordre zerstreut, schreibt er die Ordre schlecht auf, treibt in der Nacht vorher krankhaftes Zeug, und am Tage in der Schlacht ungeschickte Dinge. Bei solcher Zweiheit, Zerrissenheit und inneren Dissonanz des Charakters meinen sie [Dichter wie E. T. A. Hoffmann und Kleist] dem Shakespeare nachgefolgt zu seyn. Aber sie sind weit davon entfernt, denn Shakespeare’s Charaktere sind sich konsequent.430

Ähnlich stellt Karl Immermann fest: „Nie, glaube ich, würde Shakespeare oder Goethe einen Helden für das Drama gewählt haben, der in einem anormalen Zustande erscheint, wie der Prinz von Homburg.“ 431 1850 schreibt Christian Friedrich Hebbel, dass das Nachtwandeln des Prinzen „als störend zu tadeln“ sei, und wenn „dieser Zug […], tief in den Organismus des Werks verflochten wäre, so würde er ihm den Anspruch auf Klassizität rauben.“ 432 In der Aufführungspraxis wurden das Nachtwandeln des Prinzen und die Todesfurchtszene daher manchmal weggelassen oder erzählend vermittelt. Nach der Erstaufführung des Stücks in Berlin 1828 schreibt Heinrich Gustav Hotho im Morgenblatt Tübingen über die Schwierigkeiten, das Stück aufzuführen: Es kommt dem Dichter gar zu sichtlich darauf an, das verdammte Hellsehen und Nachtwandeln nicht nur zu retten, sondern dieser Krankheit des Geistes eine höhere Weisheit anzudichten als die ist, welche das wache Verhältnis zur Wirklichkeit zu geben imstande zu sein soll. Bei einer Bearbeitung dieses merkwürdigen Dramas für die Bühne können nur zwei richtige Wege eingeschlagen werden. Entweder man schneidet die ganze Nachtwandlung und deren Konsequenzen weg, oder man läßt alles, wie es der Dichter geschaffen hat, und begnügt sich mit einigen vielleicht nötigen Änderungen im vierten Akt. […] Höheren Orts, soll es, wie man sagt, mit Recht Mißfallen erregt haben, daß der Kurfürst gleich in den ersten Szenen mit dem seelenkranken Prinzen sein Spiel treibe, und daß der in früheren Akten tapfere Prinz, als es darauf ankomme, nach Urthel [sic.] und Recht zu sterben, so feige und lebenslustig erscheine. So hat man denn die dramatische Darstellung der ersten Szene in eine epische Erzählung und

429 Gotthilf Heinrich Schubert: Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben. Eine Selbstbiographie. Bd. 2. Erlangen 1855, S. 228. 430 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Berlin. Winter 1828/29 (nach H. G. Hotho). Zitiert nach Sembdner: Kleists Nachruhm, S. 214. 431 Immermann an Bernhard Ruolf Abeken, Münster 31. 12. 1822. Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 445. 432 Christian Friedrich Hebbel: Österreichische Reichzeitung. 3./6. 2. 1850. Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 463.

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die Todesfurcht des Prinzen in eine Furcht vor der Hinrichtung verwandelt, wie es denn freilich einem Prinzen gemäß ist.433

Auch wenn Hotho selbst in den Änderungen keine Verbesserung sieht, zeigt seine Skizze der epischen Darstellung des ersten Auftritts, dass der Somnambulismus insbesondere für den tragischen Bühnenhelden als unpassend wahrgenommen wurde, so dass die Unmittelbarkeit der performativen Darstellung durch narrative Vermittlung abgefangen wurde. Auch Herder hatte in der Philoktet-Diskussion dafür plädiert, die Darstellung körperlicher Schmerzen dem Blick des Zuschauers zu entziehen.434 Eine solche Abschwächung der unmittelbaren Beobachtung im Theater wird in der von Hotho erwähnten Inszenierung auch für seelische oder geistige Krankheiten durchgeführt. Der Somanmbulismus des Prinzen wird damit in die Reihe der Themen eingeordnet, die Horaz als unangebracht für die visuelle Wahrnehmung definiert.435 Dieses Beispiel einer narrativen Vermittlung zeigt, dass der Somnambulismus des Prinzen im Konflikt mit dem tradierten Gattungswissen des Dramas steht. Von der Schwierigkeit, die Figur des Prinzen auf der Bühne darzustellen, zeugt auch ein Auszug aus Eduard Schütz’ Briefe eines Schauspielers an seinen Zögling: Da Ihnen die abscheuliche Szene, wie Sie sie nennen, den Helden nahm, wurden Sie Mediziner, und warfen sich in die Krankheit des jungen Mannes, von daher Heil zu suchen. Da seine Erhebung am Schluss sie wieder irre macht, lassen Sie ihn in eine alles verlorengebende Stumpfheit verfallen, die sie Resignation nennen.436

Insbesondere der Somnambulismus und die Todesfurcht des Prinzen angesichts des für ihn bestimmten Grabes scheinen als „Gegenstand für die dramatische Kunst“ ungeeignet zu sein, denn „was zu erbärmlich ist, erweckt auf dem Theater nicht Rührung, aber Unwillen“ 437. Und so resümiert Julian Schmid in seiner Einleitung zu Heinrich von Kleists Gesammelten Schriften von 1859, dass „Nervenkranke und Somnambule […] nicht auf die Bühne, die nur mit gesunden zurechnungsfähigen Figuren zu thun hat“ 438 gehören. Kleist stellt in seinem Schauspiel eine scheinbar dramen- und bühnenuntaugliche Krankheit dar. Da diese Krankheit offensichtlich in Konflikt mit den Erwartun-

433 Hotho: Über Kleists Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“. Morgenblatt Tübingen 18./ 22. November 1828. Zitiert nach Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 455 f. 434 Vgl. Herder: Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, S. 105 (siehe Kap. 5.1.1). Vgl. auch Borgards: Poetik des Schmerzes, S. 270 f. 435 Vgl. Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (Z. 180–188). 436 Eduard Schütz: Briefe eines Schauspielers an seinen Zögling. Almanach für Freunde der Schauspielkunst 1842. Zitiert nach Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 464 f. 437 Elise von Hohenhausen: Morgenblatt, 22. 3. 1822. Zitiert nach Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 440 f. 438 Schmidt: Einleitung zu H. v. Kleists Gesammelten Schriften, S. CXIV.

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gen und Assoziationen gerät, die mit der Gattung verbunden sind, ist die Frage nach der gattungsspezifischen Form und Darstellung zentral. Die Krankheit des Prinzen ist als ‚Krankheit des Geistes‘ in seinem eigenen Inneren zu verorten und muss somit auf der Bühne erst wahrnehmbar gemacht werden. Die Somnambulismusthematik beeinflusst dabei die Form des Dramas, das nach außen in klassischer Struktur erscheint,439 indem es die Figurenkonzeption, die Funktionen der Dramensprache und der Nebentexte sowie den Handlungsablauf bestimmt. Der Prinz von Homburg wird direkt zu Beginn in einem unbewussten und sprachlosen Zustand als Nachtwandler oder Somnambuler eingeführt. Die Perspektive auf ihn wird durch die Szenenanweisungen im Nebentext und durch die anderen Figuren bestimmt, dennoch scheint auch sein Inneres sichtbar zu werden. Die Szenenanweisung, „es ist Nacht“ 440 deutet bereits an, dass es um die ‚Nachtseite‘ des Prinzen von Homburg geht. Der Nebentext, der dann den ersten Auftritt eröffnet, beschreibt ihn als „halb wachend, halb schlafend“ 441, wodurch zeitgenössische Diskurse aufgerufen werden, die Nachtwandeln und Somnambulismus als Zustände zwischen Schlaf und Wachen verhandeln. Auf die Rampe treten die anderen Figuren des Stücks und schauen auf den Prinzen herab, so dass die Beobachtungsperspektive des Theaters dadurch auf der Bühne wiederholt wird.442 Der Graf von Hohenzollern stellt den Prinzen und die Situation berichtend vor. Entgegen dem kurfürstlichen Befehl ist der Prinz nicht mit seinen Reitern nach Hackelberge weitergezogen, um sich dort den Schweden zu stellen, denn beim Aufbruch war er nicht zu finden. Bereits hier befindet er sich somit im Widerspruch zum Willen des Kurfürsten und seinen militärischen Verpflichtungen. Als Grund dafür gibt der Graf von Hohenzollern das Nachtwandeln des Prinzen an. Durch den Ausdruck „wie du nie glauben wolltest“ 443 wird zudem klar, dass der Prinz dieses Verhalten regelmäßig zeigt und Hohenzollern bereits mit dem Kurfürsten darüber sprach und diesem das Phänomen nun persönlich vorführen kann. Im weiteren Verlauf des ersten Auftritts führt Hohenzollern verschiedene Merkmale des Nachwandelns an. Der Prinz schlafe fest und könne durch Lichteinwirkung nicht aufgeweckt werden. Dies gehe nur durch die Nennung des Namens, wodurch der Prinz zunächst ohnmächtig werden würde, um anschließend aufzuwachen. Weitere den zeitgenössischen Somnambulismusdebatten entsprechende Merkmale sind die Fähigkeit, trotz geminderter Sinnestätigkeit komplizierte Hand-

439 Jochen Schmidt hat detailliert die Gliederung in fünf Akte, die symmetrische Komposition sowie den Blankvers der Dialoge herausgearbeitet (vgl. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise. Tübingen 1974, S. 137–140). 440 Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner. München 2001, S. 631. 441 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 631. 442 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 330. 443 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632.

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lungen, in diesem Falle das Flechten des Kranzes, durchzuführen sowie in einem gewissen Maß mit der Außenwelt zu interagieren.444 Die anderen Figuren führen verschiedene Erklärungen für das Nachtwandeln des Prinzen an.445 Hohenzollern rekurriert mit seiner Bemerkung, der Mondschein habe den Prinzen nachtwandelnd in den Garten gelockt, auf vorwissenschaftliche Erläuterungen des Phänomens.446 Die Kurfürstin und Natalie diagnostizieren den Prinzen als „krank“ 447. Ein Arzt solle gerufen werden und statt „zu spotten“, müsse dem Prinzen geholfen werden. Hohenzollern widerspricht und bezeichnet das Nachtwandeln als „Unart des Geistes“ 448, die den Prinzen aber im wachen Zustand nicht beeinträchtige: „Er ist gesund […]! Der Schwede morgen wenn wir im Feld ihn treffen, wirds empfinden!“ 449 Hohenzollern konstituiert hier eine Zweiteilung der Person des Prinzen, die jedoch wie der Verlauf des Dramas zeigt, nicht so klar funktionieren wird. Nach den naturphilosophischen Vorstellungen ermöglicht der Somnambulismus einen ‚direkteren‘ Zugang zum Inneren eines Menschen, als dies im Wachzustand möglich ist. Das Innere des Prinzen scheint unmittelbar und ohne sprachliche Vermittlung im Flechten des Lorbeerkranzes sichtbar zu werden, das pantomimisch auf der Bühne dargestellt wird. Der unbedeckte Kopf und die offene Kleidung verweisen darauf, dass der Prinz nicht in seiner offiziellen sozialen Rolle agiert. Das Flechten des Kranzes kann somit psychologisch als Ausdruck des Wunsches nach militärischem Ruhm und Erfolg gesehen werden450 und wird auch von den anderen Figuren so interpretiert: Der Kurfürst fragt, „was diesen jungen Toren Brust bewegt?“ 451 und Hohenzollern bezieht die Wünsche des Prinzen auf die morgige Schlacht: „Sterngucker sieht er, wett ich, schon im Geist, / Aus Sonnen einen Siegeskranz ihm winden.“ 452 Die unbewusste Handlung wird somit als pantomimische Darstellung dessen eingeführt, was den Prinzen beschäftigt und somit als Ausdruck seines Inneren. Das Innere, das sich im Flechten des Kranzes artikuliert, wird dann jedoch zum experimentellen Objekt.453 Der Kurfürst zweifelt an Hohenzollerns Darstellung des nachtwandelnden Prinzen und möchte das Phänomen näher untersuchen: „Fürwahr! Ein Märchen glaubt ichs! – Folgt mir Freunde, / Und laßt uns näher ihn

444 445 446 447 448 449 450 451 452 453

Vgl. Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, S. 335 und S. 356. Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 332. Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 333. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632. Vgl. zum Beispiel Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 369. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 330.

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einmal betrachten.“ 454 Mit der Neugierde eines „experimentell verfahrenden Wissenschaftlers“ 455 begeben sich Kurfürst und Hofstaat zum Prinzen herab, wo der Fürst aktiv in die Szene eingreift, um zu sehen, „wie weit ers treibt“ 456. Wie bereits gezeigt wurde, waren Experimente mit Somnambulen, in denen ausgetestet wurde, wie weit ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten ohne Sinneswahrnehmung und Bewusstsein gingen, im Magnetismusdiskurs weit verbreitet und galten als Mittel, die Phänomene des animalischen Magnetismus zu verstehen, zu systematisieren sowie das freigelegte Unbewusste zu erforschen (siehe Kap. 3.3). Dafür wurden auch Schmerzen der Patienten und theaterartige Vorstellungen in Kauf genommen.457 Die Inszenierung des Kurfürsten wird im Nebentext beschrieben: Der Kurfürst nimmt ihm den Kranz aus der Hand; der Prinz errötet und sieht ihn an. Der Kurfürst schlingt seine Halskette um den Kranz und gibt ihn der Prinzessin; der Prinz steht lebhaft auf. Der Kurfürst weicht mit der Prinzessin, welche den Kranz erhebt, zurück; der Prinz mit ausgestreckten Armen, folgt ihr.458

Der Kurfürst verschafft sich durch sein Eingreifen Zugang zur Wahrnehmungssphäre des Prinzen, der die umstehenden Menschen nicht wahrnimmt, den Kurfürsten jetzt aber ansieht. Das Erröten als verräterisches, nicht lenkbares Körperzeichen deutet zudem an, dass der Prinz bei etwas Heimlichem, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, entdeckt wurde. Als der Fürst den Kranz mit seiner Kette umschlingt und der Prinzessin gibt, setzt er den Prinzen gleichsam in Bewegung. Er steht auf und folgt der zurückweichenden Gruppe um den Kurfürsten und der Prinzessin, die den Kranz hoch hält, mit ausgestreckten Armen bis auf die zum Schloss führende Rampe. Die im Nebentext angeleitete Gestik des Prinzen wird durch sein Flüstern ergänzt. Nacheinander wendet er sich mit den Worten, „Natalie! Mein Mädchen! Meine Braut!“, „Friedrich! Mein Fürst! Mein Vater!“ und „O meine Mutter!“ 459 an die Mitglieder der Fürstenfamilie.

454 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632. 455 Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 330. 456 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. 457 Kleist war wahrscheinlich mit den Fallgeschichten in Gmelins Materialien für die Anthropologie bekannt (vgl. Steven R. Huff: Heinrich von Kleist und Eberhard Gmelin. Neue Überlegungen. In: Euphorion 86 (1992), S. 221–239). Verschiedene Patientinnen Gmelins sind in der Forschung als Vorbild von Kleists Käthchen von Heilbronn diskutiert worden. Auch Schubert greift in seinen Ausführungen über den animalischen Magnetismus vielfach auf Gmelins Fallgeschichten zurück (vgl. zu den Experimenten Gmelins auch Harald Neumeyer: Magnetische Fälle um 1800. Experimenten‑Schriften‑Kultur zur Produktion eines Unbewussten. In: Marcus Krause und Nicolas Pethes [Hg.]: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhunderts. Würzburg 2005, S. 251–285). 458 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. 459 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633 f.

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Das Experiment des Kurfürsten mit dem Inneren des Prinzen lässt die Situation und den scheinbare Zugang zum Inneren jedoch uneindeutig werden. Bringt der Kurfürst den Prinzen dazu „sein Innerstes zu offenbaren“ 460, und verstärkt den schon dagewesenen Wunsch nach militärischem Ruhm sowie die Liebe zu Natalie und der Fürstenfamilie? Oder werden diese Wünsche und Gefühle durch das Eingreifen des Fürsten erst – gezielt oder unabsichtlich – erzeugt? Katharine Weder nimmt an, dass der Kurfürst, „einem noch amorphen Begehren des Prinzen eine spezifische Richtung“ 461 gibt und ein vorhandenes Wunschbild konkretisiert. Der Kurfürst induziere damit selbst die berühmte „Parole des Herzens“ 462, die nur scheinbar vom Prinzen „unmittelbar vernommen wird“ 463. Der Prinz sei somit einer gezielten Fremdsteuerung ausgesetzt, für die der animalische Magnetismus ein anthropologisch-medizinisches Modell biete.464 Nach Uffe Hansen werden das Ruhmstreben und die Gefühle für Natalie sogar erst durch das Eingreifen des Kurfürsten erzeugt. Dieser manipuliere Homburg unabsichtlich, indem er gewaltsam in den somnambulen Zustand des Prinzen eingreife, dessen „tiefes Herz“ offenbare sich daher gerade nicht.465 Jürgen Barkhoff liest das Eingreifen des Kurfürsten hingegen als gezielte suggestive Manipulation, mit der er den Prinzen nach seinen Wünschen modelliere, um dessen „Schwärmerei“ für Preußen maximal nutzbar zu machen.466 Das Verhältnis des Kurfürsten zum Prinzen wird in diesen Lesarten als das von Magnetiseur und Magnetisierten interpretiert.467 Da das Nachtwandeln oft als Selbstmagnetisierung gesehen wurde, widerspricht dieser Interpretation auch nicht, dass die Position des Magnetiseurs zunächst unbesetzt bleibt.468 In dem Moment, in dem der Kurfürst Homburg den Kranz aus der Hand nimmt, setzt er sich selbst als Magnetiseur ein und verschafft sich Zugang zur Wahrnehmungssphäre des Prinzen.469 Der Text bietet jedoch keine eindeutigen Hinweise für eine gezielte, suggestive Manipulation des Prinzen. Dagegen spricht schon, dass das Experiment im ersten Auftritt offensichtlich außer Kontrolle gerät. Homburg spricht Natalie, die Kurfürs-

460 Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2002, S. 268. 461 Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 339. 462 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 340. 463 Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 340. 464 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 340; Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum „Fall“ der Kunst. Tübingen/Basel 2000, S. 255 f. 465 Vgl. Hansen: Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus, S. 60. Hansen betont, dass es keine eindeutigen Anzeichen gebe, dass der Prinz schon vor dem Eingreifen des Kurfürsten Gefühle für Natalie hatte. 466 Vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen, S. 261 f. 467 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 334; Barkhoff: Magnetische Fiktionen, S. 153. 468 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 334. 469 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 338 f.

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tin und den Kurfürsten mit Namen und mit Familienbezeichnung beziehungsweise Natalie mit dem Wunschtitel ‚Braut‘ an. Die Kommentare des Grafen von Hohenzollern und des Hofkavaliers zeigen, dass dies nicht angebracht ist: „Was sprach er?“ 470, „Wen nennt er so?“ 471 Hohenzollern nennt ihn einen „Rasende[n]“ 472, was den Zustand des Prinzen in die Nähe des Wahnsinns rückt. Homburg kann dies jedoch nicht hören, seine Aufmerksamkeit bleibt auf den Kranz gerichtet. Nach diesem greift er und erhascht dabei die Hand der Prinzessin, deren Handschuh er unbemerkt abstreift. Die Hofgesellschaft beginnt nun eilig ihren Rückzug. Hohenzollern versucht das im Inneren des Prinzen erzeugte Bild zu löschen: „Hier rasch herein, mein Fürst! / Auf daß das ganze Bild ihm wieder schwinde!“ 473 Zudem nimmt der Kurfürst das gesamte Ausmaß des Experiments gar nicht wahr, bezeichnet es selbst als „Scherz“ 474, wie der Zuschauer durch den Pagen im dritten Auftritt erfährt. Erst während Hohnezollerns Rückschau auf diese Szene erfährt er, dass der Prinz den Handschuh der Prinzessin abgestreift und welche Bedeutung er diesem beigemessen hat. Des Weiteren verhält sich der Prinz in der Schlacht keineswegs so, wie der Kurfürst es wünscht, der ihn am Ende der Paroleszene zur Ruhe ermahnt. Das Todesurteil für denjenigen, der in der Schlacht eingriff, fordert der Kurfürst ein, ohne zu wissen, dass es der Prinz von Homburg war. Das Verhältnis des Kurfürsten und des Prinzen weist zwar gewisse Merkmale von Magnetiseur und Magnetisiertem auf,475 aber die These, der Kurfürst programmiere das Innere des Prinzen als manipulativer Magnetiseur, scheint gewissermaßen die Annahme, er verfolge während des ganzen Stücks einen Erziehungsplan,476 in negativer Ausrichtung zu ersetzen. In beiden Fällen erscheint der Kurfürst als Lenker und Regisseur des gesamten Geschehens.

5.4.1 Traum und Wirklichkeit? Der Kurfürst und Hohenzollern unterteilen den Prinzen in zwei getrennte Bewusstseinsebenen. Die ‚Nachtseite‘ des Prinzen, die sich im Nachtwandeln und Somnambulismus äußert, wird mit der Wirklichkeit des Krieges kontrastiert. Diese klare Trennung entspricht medizinisch-psychologischen Diskussionen um 1800, die

470 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. 471 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 634. 472 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 634. 473 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 634. 474 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 635. 475 So wird es von Barkhoff und Weder interpretiert. Vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen, S. 260 f.; Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 340. 476 Vgl. zum Beispiel Walter Müller-Seidel: Heinrich von Kleist – „Prinz Friedrich von Homburg“. In: Benno von Wiese (Hg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf 1958, S. 402. Dagegen betont Müller-Salget, dass auch der Kurfürst Lernprozessen unterworfen sei (vgl. Müller-Salget: Heinrich von Kleist, S. 265).

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Somnambulismus und Nachtwandeln als Art Verdopplungsphänomene des wahrnehmenden Subjekts diskutieren. Besonders das „doppelte Gedächtnis“ 477, die fehlende Rückererinnerung beim Erwachen und die Beobachtung, dass der Nachtwandler sich beim nächsten Nachtwandeln wieder an das vorherige Mal erinnern kann, markieren diese Aufteilung in zwei Bewusstseinsebenen mit jeweils eigener Wahrnehmung: „Dagegen findet sich, was wohl zu bemerken ist, im gewöhnlichen Wachen auch nicht die Spur einer Erinnerung an den Zustand des Somnambulismus.“ 478 Aus dieser ‚Verdopplung‘ der Persönlichkeit entsteht aber eine potentielle Gefährdung der personalen Einheit des Ichs. In der Medizin der Spätaufklärung war dies die vorherrschende Meinung zum Somnambulismus bevor die romantische Medizin diese Zustände positiv umdeutete. So rückt beispielsweise der zwischenzeitliche Mitherausgeber des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde Pockels Nachtwandeln und Somnambulismus in die Nähe von Wahnsinn. Im Nachtwandeln sei die Einbildungskraft, die im Wachzustand vom Verstand kontrolliert wird, die vorherrschende Seelenkraft. Werde diese jedoch auch im Wachzustand beherrschend, das heißt, funktioniere die klare Trennung zwischen Wachen und Nachtwandeln nicht, schlage dies in Wahnsinn und Manie um.479 Auch Reil verweist in seinen Rhapsodieen auf die Gefährdung der Einheit des Bewusstseins durch Zustände wie dem Somnambulismus. Zur Darstellung dieser Gefährdung verwendet er das implizite Wissen des Theaters und Dramas, wie sein – bereits in Kapitel 2.2 zitierter – Bühnenvergleich zeigt: Die Nachtwandler sind sich meistens ausser dem Anfall dessen nicht bewusst, was in demselben mit ihnen vorging; erinnern sich aber der Begebenheiten der vorigen Anfälle in dem folgenden. Sie wissen es im Anfall nicht, dass sie auch noch zu einer andern Zeit, im Intervall existieren. Die Veränderungen der Anfälle reihen sich an eine; und die Erscheinungen der Intervalle an eine andere Person auf. Jede Epoche in der Succession des nemlichen Individuums wird in ein besonderes Bewusstseyn aufgefasst. Der Zuschauer sieht nur eine, das Indidivuum unterscheidet sich in zwey Personen. Besonders auffallend ist diese Duplicität der Persönlichkeit in der magnetischen Somnambüle. […] Die Somnambüle ist in der Crise ein anderes, und ein anderes Wesen ausser derselben. Ausser der Crise tritt die ursprüngliche Person wieder ein, die von allen dem nichts weiß, was die Person in der Crise wirkte. Der Mensch des Anfalls und der Mensch des Intervalls sind durch eine Modifikation des Bewusstseyns in zwey sich ganz unbekannte Wesen getheilt. Jedes besteht für sich und spielt seine eigene Rolle, verschieden von dem andern, nur auf einerley Theater. Das Ich muss das nemliche Ich sich als nicht Ich entgegensetzen und darüber mit sich selbst in Widerstreit geraten.480

477 Pockels: Psychologische Bemerkungen über Träumer und Nachtwandler, S. 65. Vgl. auch die Überlegungen von Reil: Rhapsodieen, S. 82. 478 Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, S. 349. Vgl. auch Kluge: Versuch, S. 156. 479 Vgl. Pockels: Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler, S. 76–89 und Bd. 7, 1. St., S. 74–127. 480 Reil: Rhapsodieen, S. 81–83. Siehe Kap. 2.2.2, S. 76. Auch zitiert in Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 345.

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Die Gefährdung des Ichs erwächst demnach daraus, dass der Somnambule zwei Rollen „auf einerley Theater“ spielt, und daher mit sich selbst oder mit den anderen Figuren auf der Bühne in Konflikt gerät.481 Die Trennung in zwei Bewusstseinsebenen funktioniert entweder in der Person selbst oder in ihrer sozialen Interaktion nicht mehr, denn die ‚Zuschauer‘ können nur eine Rolle wahrnehmen. Beides ist beim Prinzen von Homburg der Fall. Das im Somnambulismus Erlebte beeinflusst auch seine ‚wache‘ Wahrnehmung. Er baut seine Handlung auf dieser gestörten Wahrnehmung auf und gerät dadurch in Konflikt mit seiner Umwelt. Der von der Forschung oft thematisierte Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit ist so von Anfang an durchbrochen.482 Zum einem verläuft die Grenzlinie zwischen Traum und Wirklichkeit nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch innerhalb der Persönlichkeit des Prinzen selbst. Zum anderen symbolisiert der Kurfürst nicht einfach antagonistisch die Sphäre der Wirklichkeit gegenüber der Traumsphäre des Prinzen, sondern überschreitet diese Grenze selbst direkt im ersten Auftritt, indem er als Wacher in den somnambulen Zustand des Prinzen eingreift.483 Erst dadurch ergibt sich die Wahrnehmungsstörung des Prinzen, da die Trennung des somnambulen Bewusstseins vom bewussten Wachzustand nicht mehr funktioniert. Denn nach dem Erwachen erinnert sich der Prinz undeutlich an die nächtlichen Geschehnisse, interpretiert sie jedoch fälschlicherweise gerade als Traumgeschehen. Der von Hohenzollern intendierte Löschvorgang war nicht erfolgreich und das vom Kurfürsten inszenierte Bild ist nun auch im Wachzustand vorhanden.484 Physiologisch kann dies mit Reils zweigeteiltem Nervenmodell erklärt werden. Die Nerven zwischen Ganglien- und Cerebralsystem fungieren fälschlicherweise auch im Wachzustand als Konduktoren, so dass die Dominanz des Cerebralsystems gestört ist.485 Der Prinz setzt seinen Traum genau da an, wo im realen Bühnengeschehen der Kurfürst eingriff:486 Welch einen sonderbaren Traum träumt ich?! – Mir war, als ob, von Gold und Silber strahlend Ein Köngisschloß sich plötzlich öffnete, Und hoch von seiner Marmorramp’ herab, Der ganze Reigen zu mir niederstiege, Der Menschen, die mein Busen liebt:

481 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 344 f. 482 Fischer-Lichte identifiziert zwei Hauptlinien der Forschung: Der Traum als tiefere Wahrheit, der die Wirklichkeit korrigieren muss oder aber als Ausdruck eines Defekts beim Prinzen, der durch die Wirklichkeit korrigiert werden muss (vgl. Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 62 f.). 483 Vgl. Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 64. 484 Vgl. Blamberger: Heinrich von Kleist, S. 382. 485 Vgl. zu Reil und Kleist: Maria Tatar: Psychology and Poetics. C. Reil and Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Germanic Review. 48 (1973), S. 21–34. 486 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 347.

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Der Kurfürst und die Fürstin und die – dritte, – Wie heißt sie schon?487

Der Eindruck des von „Gold und Silber strahlend[en]“ Schlosses erinnert an die Strahlenerfahrungen magnetisch Behandelter.488 Die Raumaufteilung der Bühne in der Anfangsszene deutet der Prinz als eine Göttlichkeit der Kurfürstenfamilie, die zu ihm niedersteigt. Nach einigem Rätseln über die Identität der dritten Person fährt der Prinz fort: Und er, der Kurfürst, mit der Stirn des Zeus, Hielt einen Kranz von Lorbeern in der Hand: Er stellt sich mir vor das Antlitz hin, Und schlägt, mir ganz die Seele zu entzünden, Den Schmuck darum, der ihm von Nacken hängt, Und reicht ihn, auf die Locken mir zu drücken.489

Die Überhöhung des Kurfürsten wird durch den Vergleich mit Zeus weitergeführt. In der Erinnerung des Prinzen nimmt ausschließlich der Kurfürst eine aktive Rolle ein. So flicht nicht der Prinz selbst den Kranz, sondern dieser ist von Anfang an in der Hand des Kurfürsten. Das Eingreifen des Kurfürsten wird als zielgerichtet dargestellt. Die Metapher der Entzündung der Seele impliziert zudem, dass das Innere des Prinzen zugänglich ist und der Kurfürst darauf zugreifen kann. Der Prinz wird für ein bestimmtes Ziel begeistert – quasi entflammt. Mehrfach stockt der Prinz in seiner Traumerzählung, wenn es um die Identifikation der Prinzessin geht. Die Bildlichkeit der Traumerzählung lässt dabei die unsichere Wahrnehmung und Bedrohung des eigenen Ichs erkennen. Das Geschehen wirkt in der Erzählung des Prinzen nicht greifbar. „Doch wie der Duft, der über Täler schwebt, / Vor eines Windes frischem Hauch zerstiebt“ 490, weicht die Gruppe vor ihm zurück. Der Prinz greift ängstlich rechts und links, aber vergebens, die „Teuren“ werden in den Himmel entrückt und er bleibt mit dem Handschuh zurück. Das Aufwachen aus seinem Traum fällt in der Erinnerung des Prinzen mit dem Abstreifen des Handschuhs zusammen, was, wie Hohenzollern und die Zuschauer wissen, erneut nicht stimmt. Der Handschuh – als reales Überbleibsel des nächtlichen Geschehens – verhindert jedoch ein bloßes Übergehen zum Wachzustand. Er irritiert den Prinzen und aktiviert seine Erinnerung, die das Experiment des Kurfürsten zurück in sein Bewusstsein spielt. Während der Paroleszene im fünften Auftritt des ersten Akts ist er zerstreut, unaufmerksam und mehr mit der Herkunft des Handschuhs als mit dem Kriegsplan beschäftigt. Die Nachforschungen des Prinzen

487 488 489 490

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 637. Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 347. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 638. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 639.

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bezüglich des Handschuhs führen jedoch nicht zur Aufklärung des Geschehenen, über das Homburg im gesamten Drama im Unklaren bleibt, sondern treiben die zunehmende Destabilisierung seiner Persönlichkeit sogar voran.491 Nachdem Homburg erkennt, dass der Handschuh der Prinzessin Natalie gehört, interpretiert er den vermeintlichen Traum als prophetische Antizipation der Zukunft.

5.4.2 (Fehl-)Diagnosen: Eigenperspektive Der Prinz artikuliert diese Deutung des (vermeintlichen) Traums in einem Monolog im sechsten Auftritt, mit dem der erste Akt endet. Der Monolog adressiert in pathetischer Sprache die Göttin Fortuna und kann argumentativ in drei Teile gegliedert werden. Unter Bezugnahme auf die traditionellen Attribute der Kugel und des Füllhorns der Fortuna fordert der Prinz sie zunächst selbstbewusst auf, auf ihrer Kugel „heranzurollen“ 492. Anschließend formuliert er seine Deutung des Handschuhs als „Pfand“, das Fortuna aus ihrem „Füllhorn lächelnd ihm herab[warf]“ 493, um daraus folgend sein Vorhaben für die kommende Schlacht zu formulieren: Ich hasche dich im Feld der Schlacht und stürze Ganz deinen Segen mir zu Füßen um: Wärst du auch siebenfach, mit Eisenketten, Am schwedschen Siegeswagen festgebunden.494

Der gewaltsame Duktus kontrastiert mit der kurfürstlichen Ermahnung zur Ruhe und dem Befehl, den Platz nicht zu verlassen, und zeigt, wie stark der Prinz sich von seiner vermeintlichen Vision leiten lässt. Der Monolog ermöglicht traditionell einen Einblick in das Innere der Dramenfigur, die auf diese Weise ihre Gedanken und Gefühle unmittelbar ausdrücken kann.495 Im Monolog dominiert häufig die expressive Funktion der dramatischen Sprache, da die Figur ihr eigenes Selbstverständnis artikuliert, ihre Gefühle und Gedanken reflektiert oder zu einem Handlungsentschluss kommt.496 Auch der Prinz formuliert hier selbstbewusst und entschlossen in versierter Sprache sein Vorhaben für die kommende Schlacht. Der Brutus-Monolog, in dem der Prinz nach seiner Verhaftung feststellt, „mein Vetter Friedrich will den Brutus spielen“ 497, zeugt ebenso von einer abgeklärten Haltung. Der Prinz charakterisiert das Verhalten des Kurfürsten als Ausdruck der starren Antike und kontrastiert es mit seinem

491 492 493 494 495 496 497

Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 346. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 648. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 648. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 648. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 186. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 157. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 666.

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„deutsche[n] Herz, von altem Schrot und Korn“ und schließt mit den überheblichen Worten: „In diesem Augenblick […] tut er mir leid, und ich muß ihn bedauern.“ 498 Die monologische Selbstdarstellung des Prinzen wird jedoch figurenperspektivisch gebrochen. Der Zuschauer, der während des gesamten Verlaufs des Schauspiels einen Informationsvorsprung vor dem Prinzen hat, weiß um die Ambiguität des vermeintlichen Traumgeschehens und die daraus resultierende Fragwürdigkeit der Interpretation des Prinzen. Die psychisch-kognitive Fehlverarbeitung der eigenen Wahrnehmung des Prinzen wird durch diese Kontrastierung von Informationsvorsprung der Zuschauer und Selbstwahrnehmung des Prinzen impliziert. Der Zuschauer muss die Zeichen der gestörten Wahrnehmung des Prinzen demnach selber decodieren. Die Ich-Perspektive des Prinzen funktioniert nicht als reflektierender oder rationaler Zugriff auf dessen Inneres, da er aufgrund des gestörten Somnambulismus nur auf eine fehlerhafte Rückerinnerung zurückgreifen kann.499 Diese Fehlinterpretation setzt sich im Verlauf des Dramas fort, da der Prinz sich auf seinen scheinbar prophetischen Traum verlässt und die Zeichen der Wirklichkeit daher falsch deutet. In der Schlacht reagiert er aggressiv auf die Versuche der Offiziere, ihn zurückzuhalten, setzt sich über alle Einwände hinweg und greift in das Kriegsgeschehen ein. Der vermeintliche Tod des Kurfürsten scheint seine Vision zunächst zu bestätigen und so zögert der Prinz nicht, sich zum Vollstrecker seiner politisch-militärischen Pläne zu ernennen und sich zudem mit Natalie zu verloben.500 Auch nach der für ihn völlig überraschenden Verhaftung weigert sich der Prinz lange, diese ernst zu nehmen. Er ist überzeugt, dass der Kurfürst nur Härte zeigen will, um ihn dann doch gütig zu begnadigen: Der Kurfürst hat getan, was Pflicht erheischte, Und nun wird er dem Herzen auch gehorchen. Gefehlt hast du, so wird er ernst mir sagen, Vielleicht ein Wort von Tod und Festung sprechen: Ich aber schenke dir die Freiheit wieder – Und um das Schwert, das ihm den Sieg errang, Schlingt sich vielleicht ein Schmuck der Gnade noch; – Wenn der nicht, gut; denn den verdient ich nicht!501

Dass der Prinz noch immer auf einen „Schmuck der Gnade“ hofft, zeigt, wie sehr er auf der Grundlage seiner vermeintlichen Vision handelt und dadurch die ‚Realität‘ falsch versteht. Auch Homburgs Wahrnehmungsstörung beruht also auf dem fehlerhaften Bezeichnungsprozess, welcher der Konzeption psychischer Krankheiten als ‚Verrückung‘ zugrunde liegt.502 498 499 500 501 502

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 666. Vgl. Hansen: Anthropologie, S. 57. Vgl. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 657. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 668. Vgl. Kohns: Verrücktheit des Sinns, S. 59 und S. 328 (siehe. Kap. 1, S. 34).

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Das Pathos der Monologe ist trügerisch, denn während diese und Homburgs längeren Dialogpassagen wie beispielsweise die Traumerzählung rhetorisch kunstvoll ausgestaltet sind, aber gerade dadurch die fehlerhafte Wahrnehmung des Prinzen unterstreichen, sind die kurzen dialogischen Passagen einer prosaischen Dramensprache angenähert. Die Einschübe des Prinzen sind vielfach nur kurze, abbrechende Aussagen, Ausrufe und Fragen. Aussagen, wie „ich weiß nicht, liebster Heinrich, wo ich bin“ 503 oder „Herr meines Lebens! hab ich recht gehört?“ 504 zeugen von Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit und hinterfragen seine eigene Wahrnehmung. Nach seiner Gefangennahme, die mit seiner Eigenwahrnehmung im scharfen Kontrast steht, ist sich der Prinz seiner selbst nicht mehr sicher: „Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen?“ 505 Er kann zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterschieden und beginnt schließlich, an seinem eigenen Geisteszustand zu zweifeln: „Helft Freunde, helft! Ich bin verrückt.“ 506 Die Unsicherheit in Bezug auf sein Bewusstsein hält bis zum Schluss an, denn seine letzte Äußerung ist die Frage: „Nein sagt! Ist es ein Traum?“ 507 Der Prinz kennt dabei seine Veranlagung zum Nachtwandeln, denn nachdem Hohenzollern ihn im vierten Auftritt des ersten Akts geweckt hat, vermutet er „für sich“, dass er „unbewußt im Mondschein […] wieder umgewandelt“ 508 ist. Er versucht, seine Disposition aber zu verbergen und mit der Entscheidung, bis zur Parole am nächsten Morgen zu verweilen, bemüht er sich die Kontrolle über sich und die Situation wiederzugewinnen. Er sichert sich zudem ab, dass der Kurfürst von nichts wisse. Dass dieser sein Nachtwandeln beobachtet, sogar experimentell in dieses eingegriffen hat und somit die Ursache dafür ist, dass er die Zeichen der Wirklichkeit falsch interpretiert, erkennt der Prinz im gesamten Verlauf des Dramas nicht. Die auf seinen eigenen Zustand bezogenen Aussagen weisen somit keine bewusste reflexive Qualität auf, sondern zeugen vor allem von Hilflosigkeit gegenüber einem Inneren, das ihm selbst unverständlich bleibt. Deutlich wird dies im ersten Auftritt des zweiten Akts, in dem Homburg auf dem Schlachtfeld eintrifft. Er nimmt Hohenzollern beiseite und fragt ihn, was bei der Parole besprochen worden sei. Auf Hohenzollerns Aussage, er habe bemerkt, dass Homburg zerstreut gewesen sei, diagnostiziert sich Homburg selbst als „zerstreut – geteilt, ich weiß nicht, was mir fehlte, Diktieren in die Feder macht mich irr–“ 509. Homburg kann seine Zerstreutheit zwar im Nachhinein erkennen, er kann sie aber nicht einordnen oder erklären. Die Figurenrede des Prinzen ermöglicht daher kaum Einblick in sein

503 504 505 506 507 508 509

Kleist: Kleist: Kleist: Kleist: Kleist: Kleist: Kleist:

Prinz Prinz Prinz Prinz Prinz Prinz Prinz

Friedrich Friedrich Friedrich Friedrich Friedrich Friedrich Friedrich

von von von von von von von

Homburg, Homburg, Homburg, Homburg, Homburg, Homburg, Homburg,

S. 636. S. 644. S. 665. S. 666. S. 709. S. 636. S. 650.

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Inneres, da der Prinz nicht frei und souverän darüber verfügt und Gefühle und Gedanke nicht sprachlich formuliert und reflektiert. Die Ich-Perspektive wird durch den kranken Zustand des Prinzen unsicher und fragmentarisch und ermöglichen keinen eindeutigen Einblick in sein Inneres. Wie in Goethes Torquato Tasso werden die Wirkungen der Einbildungskraft durch Figuren der Verdopplung innerhalb der Rolleneinheit inszeniert. Anders jedoch als Tasso, der sich bewusst verstellt und sowohl seine eigene Rolle als auch die der anderen Figuren sprachlich reflektiert, gelangt der Prinz zu keinem Bewusstsein darüber und bleibt in einer fehlerhaften Eigenperspektive gefangen. Homburgs rhetorischer Pathos ist trügerisch und nur konstruiert, denn die Ursache seines Leidens liegt jenseits seines Bewusstseins, und er hat keinen Zugriff darauf.

5.4.3 Nebentext und Requisite Während der Graf Hohenzollern den Schlachtplan für den Prinzen wiederholt, wird dieser in der Szenenanweisung wieder als unaufmerksam charakterisiert. „Nach einer Pause, in der er vor sich niederträumt“ 510 spricht Homburg schon nicht mehr von der Schlacht, sondern wieder von dem nächtlichen, „wunderliche[n] Vorfall.“ 511 Die Regieanweisung im Nebentext verweist auf die inneren Vorgänge der gestörten Wahrnehmung des Prinzen. Der Prinz bemüht sich, die verpasste Schlachtanweisung nachträglich zu erfahren, ist in Gedanken aber bereits wieder bei dem Handschuh und dessen Herkunft. Warum er aber jetzt daran denkt – quasi der Prozess dieser innerlichen Wahrnehmung –, wird nur durch die im Nebentext verordnete ‚Pause‘ und das Verb „niedergeträumt“ angedeutet und nicht figurensprachlich ausgedrückt. Aufgrund der eingeschränkten expressiven und reflektierenden Funktionen der Figurensprache des Prinzen gewinnen diese Anweisungen im Nebentext an Bedeutung. Als Textsubstrat, das in reale außersprachliche Körperzeichen des Schauspielers übersetzt wird, ergänzen sie das sprachliche Zeichensystem, das, wie ausgeführt, aufgrund des Somnambulismus des Prinzen nicht eindeutig funktioniert. Die Anweisungen des Nebentextes, die sich auf die Physiognomie, Mimik und Gestik des Prinzen beziehen, kennzeichnen diesen dabei vielfach als abwesend und zerstreut und tragen somit dazu bei, seine Wahrnehmungsstörung und Spaltung auf verschiedenen Bewusstseinsebenen darzustellen.512 Wie schon gezeigt, wird der Prinz zu Beginn des Dramas durch Nebentext und die Aussagen der anderen Figuren als somnambul gekennzeichnet. Im zweiten

510 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 650. 511 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 650. 512 Vgl. zur Rolle des Nebentextes für die implizite Charakterisierung einer Figur: Pfister: Das Drama, S. 252.

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Auftritt des ersten Aktes wird Homburg unmittelbar nach dem Rückzug der Hofgesellschaft dargestellt. Die Szene besteht ausschließlich aus Nebentext, in dem der Prinz beschrieben wird: Der Prinz von Homburg bleibt einen Augenblick, mit dem Ausdruck der Verwunderung, vor der Tür stehen; steigt dann sinnend, die Hand, in welcher er den Handschuh hält, vor die Stirn gelegt, von der Rampe herab; kehrt sich sobald er unten ist, um, und sieht wieder nach der Tür hinauf.513

Der „Ausdruck der Verwunderung“ und das Partizip „sinnend“ deuten innere Vorgänge an. Die an die Stirn gelegte Hand mit dem Handschuh scheint ebenfalls auf einen Gedankenprozess zu verweisen und antizipiert zudem die Bedeutung des Handschuhs. Das Umdrehen und Hinaufschauen implizieren die fortdauernde Wirkung des gerade Erlebten. Gestik und Mimik verweisen auf Vorgänge im Inneren. Da der Prinz jedoch noch nicht bei Bewusstsein ist, gibt es keine Versprachlichung. Wie die im ersten Auftritt durch den Nebentext angeleiteten körperlichen Pantomimen des Prinzen können diese gestischen und mimischen Zeichen als Hinweise auf das Innere des Prinzen – zunächst seinen Wunsch nach militärischem Ruhm, dann seine Reaktion auf das Eingreifen des Kurfürsten und zuletzt als dessen Nachwirkung – gedeutet werden. Das somnambule Innere scheint am Körper des Prinzen ablesbar zu sein. So sieht Jochen Schmidt die Pantomimen des Prinzen in den ersten beiden Auftritten als Wesensoffenbarung des Helden, die den inneren Monolog ersetzen: Die ganze träumerische Ichbefangenheit des Prinzen, seine höchsten Sehnsüchte und Strebungen entfalten sich in ungebrochener Natürlichkeit vor dem Zuschauer. Was im ‚Käthchen‘ gelegentlich manieriert wirkt, die Darstellung des Unbewußten und der Traumwelt, das ist in dieser Szene vollendeter Romantik gelungen. Während im ersten Auftritt Hohenzollern der staunenden Hofgesellschaft den Zustand des schlafenden Reitergenerals noch verdolmetscht und der Kurfürst ihn an die Grenzen von Traum und Wirklichkeit lockt, wo die Worte beginnen, ist der zweite Auftritt ganz konzentrierte Selbstoffenbarung.514

Die Abwesenheit von Figurensprache wird von Schmidt positiv gedeutet, da sich das Innere ohne sprachliche Vermittlung am Körper des Prinzen ablesen lasse. Die Pantomime als Ausdruck der „höchsten Sehnsüchte und Strebungen“ wird jedoch zweideutig durch das vorherige Eingreifen des Kurfürsten. Die Körpersprache des Prinzen kann auch bereits seine Selbsttäuschung andeuten, die er später sprachlich formuliert. Das Zeichenverhältnis zwischen Körper und Innerem wird ambivalent und die Pantomime ist genauso Fragen der Interpretation unterworfen wie der sprachliche Ausdruck. Durch die Pantomime werden vielmehr die Artikulationsweisen des Körpers mit Aspekten von Rhetorizität verknüpft. Diesen Zusammen-

513 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 634. 514 Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, S. 67.

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hang fokussiert Kleist auch in seinem Aufsatz über das Marionettentheater: „Der Körper stellt keinen Ort für den eindeutigen Ausdruck von Affekten dar, sondern ist als Zeichen unter anderen Zeichen mitbetroffen vom Zwang der Lesbarkeit und Deutbarkeit und der damit verbundenen Ambivalenz und Kontingenz.“ 515 Im aufklärerischen Drama des achtzehnten Jahrhunderts nehmen Bühnenanweisungen in Nebentexten stark zu und erhalten eine selbstständige Bedeutung, was zum einen mit dem Interesse an den dunklen, nicht vom Verstand bestimmten Affekten und Zuständen des Menschen, und zum anderen mit der im Kapitel Bühnenleiden besprochenen Idee vom Körper als natürlichem Zeichen der Seele zusammenhängt, die sich in zahlreichen physiognomischen und pathognomischen Theorien niederschlug.516 Im Nebentext werden Anweisungen bezüglich Physiognomie, Mimik und Gestik der Figur gegeben, die während der Aufführung in Körperzeichen des Schauspielers übersetzt werden. Der Körper des Schauspielers wird dadurch zum Zeichen der seelischen Zustände der Figur, insbesondere solcher, die sich dem Verstand entziehen und deswegen nicht in eine rational-reflektierende Sprache übersetzt werden können. Diese Körperzeichen können oder sollen vom Zuschauer entziffern werden. Diese Zeichentheorie setzt eine menschliche Einheit voraus, in der das Innere außen ablesbar ist. Bei der Figur des Prinzen fällt diese Einheit jedoch auseinander. Seine Rolle unterliegt durch sein Nachtwandeln bereits Verdoppelungseffekten. Das experimentelle Eingreifen des Kurfürsten resultiert in einer zunehmenden Destabilisierung von Homburgs Identität, die den Bezeichnungscharakter zwischen Körperoberfläche und Innerem fragwürdig werden lässt.517 Nach dem Erwachen des Prinzen tragen jedoch die Regieanweisungen dazu bei, seine Wahrnehmungsstörung überhaupt erkennbar werden zu lassen. Szenenanweisungen wie „der Prinz stutzt“ 518, „verwirrt“ 519 „er besinnt sich“ 520, „er sinnt“ 521 und insbesondere das wiederholte „träumt vor sich nieder“ 522 deuten den eingeschränkten Bewusstseinszustand und das Konkurrieren von zwei Wahrnehmungsarten an.523 Die Wahrnehmungsstörung des Prinzen lässt sich in zeitgenössischen, medizinischen Terminologien als ‚Zerstreuung‘ und ‚Vertiefung‘ oder ‚Fixie-

515 Lemke: Gemüts-Bewegungen, S. 185 f. 516 Siehe Anmerkung 20 (Kap. 5.1, S. 273). 517 Vgl. zur allgemeinen Funktion der Nebentexte im Prinz von Homburg auch Erika Fischer-Lichte: Theatralität. Zur Frage nach Kleists Theaterkonzeption. In: Kleist Jahrbuch 2001, S. 34. 518 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 637. Vgl. zu den verschiedenen Zeichensystemen von Kleists Stück: Klaus Kanzog: Körperzeichen und Raumordnung, Semiotische und intermediale Aspekte der mise en scéne. In: Kleist-Jahrbuch 2007, S. 152–161. 519 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 645. 520 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 670. 521 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 689. 522 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 640, S. 646 und S. 650. 523 Vgl. Weder, Kleists magnetische Poesie, S. 353.

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rung‘ beschreiben. Nach Reil ist die Vertiefung „ein einstweiliger Zustand, der durch ein so festes Anhaften aller Seelenkraft auf einen Gegenstand entsteht, das ausser demselben weder Sinneseindrücke noch Erinnerungen unserer Pflichtverhältnisse zum klaren Bewusstseyn gelangen.“ 524 Der Zerstreute hingegen „irrt unter einer Menge von Gegenständen herum, ohne einen festzuhalten.“ 525 Beiden Zuständen gemeinsam ist, dass die Kranken, „die Eindrücke nicht auffassen, die sie nach ihrer gegenwärtigen Lage auffassen sollten“ 526 und so kann der Mensch beides zugleich, zerstreut und vertieft seyn. Er ist eingeschränkt auf einen gewissen Bezirk von Gegenständen, fasst aber innerlhalb desselben nirgends festen Fuss. Zuletzt veranlasst ihn dieser Zustand, in dem er seines Zwecks verfehlt, über die Grenze zu treten, und führt als denn zur unbegrenzten Zerstreuung.527

Die Vertiefung des Prinzen entsteht durch den Handschuh, der ihm zu einer Art fixen Idee wird. Gleichzeitig führt diese Fixierung dazu, dass er andere, äußere Eindrücke, insbesondere die Anweisungen zur Schlacht, nicht ‚festhalten‘ kann. Die komplementären Zustände der Vertiefung und Zerstreuung werden durch das Zusammenspiel von Nebentext und Dialogpassagen des Prinzen dargestellt. Besonders deutlich wird dieses Zusammenspiel in der Paroleszene im fünften Auftritt des ersten Akts.528 Homburg kann dem Feldmarschall, der den Offizieren den Kriegsplan vorliest, nicht folgen, da seine Aufmerksamkeit auf die mögliche Herkunft des Handschuhs fixiert ist. Er reagiert nicht auf seinen Namen, er fährt zusammen, errötet und sieht immer wieder zu den Frauen hinüber, so dass Hohenzollern ihn schließlich fragt, ob er bei Sinnen sei.529 Später werden Hohenzollern und der Feldmarschall diagnostizieren, dass der Prinz „zerstreut“ 530 gewesen sei. Die Szene wirkt durch die vielen beteiligten Personen, das simultane Abtreten der Frauen und Vorlesen des Schlachtplans unübersichtlich, was die zerstreute Wahrnehmung des Prinzen wiederspiegelt, die zwischen dem Kriegsplan und der Möglichkeit, die Herkunft des Handschuhs zu entdecken, hin- und herspringt. Dementsprechend spricht der Prinz mal „heimlich“ und „für sich“ dann wieder „laut.“ Als der Handschuh tatsächlich vom Kurfürsten identifiziert wird und Homburg ihn der Prinzessin zurückgegeben hat, glaubt er schließlich das Geheimnis des vermeintlich prophetischen Traumzeichens gelöst zu haben. Die Regieanweisungen beschreiben ihn zunächst als „verwirrt“, bevor er „wie vom Blitz getroffen

524 Reil: Rhapsodieen, S. 108. 525 Reil: Rhapsodieen, S. 109. 526 Reil: Rhapsodieen, S. 110. 527 Reil: Rhapsodieen, S. 110. 528 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 349–354. Weder interpretiert die Szene unter Bezugnahme auf Reils Modell vom Ganglien- und Cerebralsystem. 529 Vgl. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 643. 530 Vgl. für Hohenzollern: Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 650 und für den Feldmarschall: ebd., S. 702.

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[…] sich mit triumphierenden Schritten wieder in den Kreis der Offiziere zurück“ 531 wendet. Die Blitzmetapher drückt die plötzliche Erkenntnis aus, die wie eine Naturgewalt die Figur des Prinzen durchfährt.532 Die Unaufmerksamkeit des Prinzen nimmt dadurch noch zu: „Heimlich, in großer Bewegung“ 533 versucht er, mit dem unwilligen Hohenzollern zu sprechen, und bald darauf „träumt [er] vor sich nieder“ 534. Gerade in der Paroleszene und auch in der folgenden Schlachtszene wird durch den Nebentext deutlich, dass der Prinz, wie Reil es ausdrückt, zwei Rollen „auf einerley Theater“ 535 spielt. Da er auf seinen vermeintlich prophetischen Traum fixiert ist, gerät er mit seinen militärischen Verpflichtungen und der Realität in Konflikt. Insbesondere die Anweisung „tut so, als ob er schriebe“ 536 zeigt, dass der Prinz seine Rolle als Offizier nur noch nach außen darstellt. Die Szenenanweisungen lassen die Wahrnehmungsstörung des Prinzen erkennbar werden, die er selbst nicht sprachlich reflektieren kann und die somit äußerlich dargestellt wird. Gestik, Mimik sowie physiologische und körperliche Reaktionen, wie das Erröten oder Zusammenfahren, werden zum Indikator für etwas, das sprachlich nicht ausdrückbar ist. Im Gegensatz zur Pantomime des Prinzen scheinen sie als ‚natürliche‘ Zeichen zu funktionieren, die allerdings im gesamnten Stück nicht durch eine sprachlich-rationale Reflexion der Gefühle des Prinzen ergänzt oder erklärt werden. Neben dem Körper des Schauspielers fungiert das Requisit des Handschuhs537 als weiteres nichtsprachliches Zeichen der durch das kurfürstliche Experiment verursachten Wahrnehmungsstörung. Im vierten Auftritt des ersten Akts weckt Hohenzollern den somnambulen Prinzen, indem er ihn beim Namen nennt. Wie vorausgesagt, fällt der Prinz zunächst in Ohnmacht und erwacht danach. Er ist orientierungslos und hilflos – er weiß nicht, wo er ist, und kennt die Reiterei nicht, die er befehligt – versucht dies aber zu verbergen und die Kontrolle über die Situation wiederzugewinnen. Der Handschuh – als reales Überbleibsel des nächtlichen Geschehens – verhindert jedoch ein bloßes Übergehen zum Wachzustand. Er irri-

531 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 646. 532 Vgl. Tatar: Spellbound, S. 84. 533 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 646. 534 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 646. 535 Reil: Rhapsodieen, S. 79. 536 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 646. 537 Vgl. zur Rolle des Handschuhs Dagmar Ottmann: „Das stumme Zeichen“. Zum dramatischen Requisit in Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Chrsitine Lubkoll und Günter Oesterle (Hg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Würzburg 2001, S. 251 f. Nicht überzeugend ist Ottmanns These, dass der Handschuh als reales Relikt einer somnambulen Erfahrung und Garant ihrer Gültigkeit die schlafwandlerische Gefühlssicherheit des Prinzen betont, die aus der Enträtselung der Traumbilder resultiert, als die sich das Wiederfinden des Handschuhs darstellt. Der Prinz agiert nicht mit schlafwandlerischer Gefühlssicherheit, sondern aufgrund einer falschen Interpretation der Ereignisse im ersten Auftritt.

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tiert den Prinzen und aktiviert seine Erinnerung, die das Experiment des Kurfürsten zurück in sein Bewusstsein spielt. Der Prinz fragt zunächst verwundert: „Was ist dies für ein Handschuh?“ 538 Die Szenenanweisung, „er betrachtet den Handschuh, den er in der Hand hält“ 539 deutet schon eine schwache Erinnerung an, die er aber nicht einordnen kann. Der Prinz wirft den Handschuh weg und versucht sich in seiner wachen Situation zurechtzufinden. Der Handschuh beschäftigt ihn aber weiter, denn als Hohenzollern und Homburg gehen wollen, weist der Nebentext an: „Sie wollen gehen; der Prinz stutzt, kehrt sich um, und nimmt den Handschuh auf.“ 540 Hohenzollern versucht zu verhindern, dass der Prinz den Handschuh falsch deutet und erklärt ihn mit einer „Schäferstunde“ 541, die der Prinz hier zugebracht habe. Mit den Worten „Fort! Es ist zwölf. Was stehn wir hier und plaudern“ 542 treibt er den Prinzen zur Tat an. Aufgrund des Handschuhs ist die Erinnerung an das Geschehen während des Nachtwandelns aber noch wirksam. Auf die Versuche Hohenzollerns, das Geschehen ganz nüchtern zu erklären, reagiert der Prinz verwirrt: „Wessen?“, „Der Platen. Wirklich. Oder der Ramin. –“, „Was! Mir? Bei meiner Liebe – !“ 543 und „träumt vor sich nieder“ 544. Plötzlich fragt er nach der Prinzessin Natalie: „Ist die Kurfürstin noch und ihre Nichte hier, / Die liebliche Prinzessin von Oranien?“ 545 Die Erinnerung an Natalie wird nicht erklärt, sondern nur als lose Assoziation formuliert. Es bleibt dadurch unklar, ob der Prinz schon hier vermutet, die Prinzessin sei die Frau aus seinem Traum, oder der Gedanke an sie unbewusst entsteht. Der Handschuh begründet die fortdauernde Beschäftigung des Prinzen mit dem vermeintlichen Traum und macht Prozesse in Homburgs Inneren auf der Bühne sichtbar. Das Betrachten, Wegwerfen, Weggehen, Stutzen und Umkehren und erneute Aufnehmen bilden ab, wie das Experiment mit dem somnambulen Prinzen nachwirkt. Dabei werden auch Regieanweisungen, die zunächst nur eine Handlung beschreiben, vieldeutig und scheinen, auf innere Wahrnehmungsprozesse zu verweisen. Der Handschuh fungiert somit als äußeres, nichtsprachliches Zeichen der fixen Idee des Prinzen, durch das diese Wahrnehmungsstörung im inneren und äußeren Kommunikationssystem angezeigt und motiviert wird und erhält somit eine zentrale Funktion.546

538 539 540 541 542 543 544 545 546

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 636. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 636. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 637. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 639. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 640. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 639. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 640. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 640. Vgl. Ottmann: „Das Stumme Zeichen“, S. 252.

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Anhand von Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein wurde bereits die enge Verwandtschaft von Gedächtnis und Einbildungskraft in der Psychologie um 1800 eingeführt (siehe Kap. 4.2).547 Beide betreffen Abwesendes, wobei sie sich in der Intensität der Vorstellung und im Realitätsbezug unterscheiden. Wenn aber die Ideen, die von Gedächtnis und Einbildungskraft erzeugt werden, für ‚anwesend‘ gehalten werden, gefährdet das die Gesundheit, was nach Platner zum Beispiel während der Melancholie oder der Raserei geschieht.548 In Homburgs Fall sind sowohl Gedächtnis- als auch Einbildungskraft gestört: Erstere produziert Ideen, die fehlerhaft sind und durch die Einbildungskraft noch weiter verfremdet werden. Der Handschuh verursacht dabei, dass diese Ideen für den Prinzen ‚anwesend‘ sind, das heißt für real gehalten werden und löst als äußeres Zeichen die fehlerhaften Wirkungen der Einbildungskraft aus.

5.4.4 Diagnosen: Figurenperspektiven Neben den Szenenanweisungen wird die Krankheit des Prinzen durch die anderen Figuren wahrgenommen. Bereits zu Beginn explizieren diese die im Nebentext eingeführte Somnambulismusthematik. Hohenzollern stellt den Prinzen als Nachtwandler vor und bezeichnet das als bloße „Unart seines Geistes“ 549. Hingegen diagnostizieren die Kurfürstin und Natalie den Prinzen als ‚krank‘ und fordern, einen Arzt zu holen. Zudem übersetzt Hohenzollern der Hofgesellschaft und den Zuschauern, das somnambule Kranzflechten des Prinzen und schlägt damit eine bestimmte Interpretation von Homburgs Innerem vor, nach welcher der Prinz ehrgeizig und eitel erscheint. Hohenzollern glaubt, dass die Schlacht am nächsten Tag den Prinzen beschäftigt und und er sich seinen eigenen Siegeskranz windet. Als der Prinz sich seinen Kranz ansieht, spottet Hohenzollern, dass, wäre ein Spiegel in der Nähe, der Prinz „eitel, wie ein Mädchen […] sich den Kranz bald so, und wieder so, / Wie eine florne Haube aufprobieren“ 550 würde. Im weiteren Verlauf des Stücks sind die Reaktionen der anderen Dramenfiguren auf den Prinzen oftmals von Befremden geprägt. Der Prinz bleibt zumeist ein „Unbegreiflicher“ 551, wie Natalie es ausdrückt. Unter Rückbezug auf Reils Theatermetapher kann dies damit erklärt werden, dass der Prinz zwei Rollen auf einem Theater spielt und die anderen Figuren nur eine davon kennen. Die Aussagen der anderen Figuren beziehen sich dabei vielfach auf den Geisteszustand des Prinzen.

547 Vgl. zur Gedächtnisfunktion der Einbildungskraft auch: Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse, S. 717 f. 548 Vgl. Platner: Anthropologie, S. 90 und S. 104. 549 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 632. 550 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 633. 551 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 689.

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Mehrfach wird er von Hohenzollern und Natalie als „Rasender“ 552 oder „rasend“ 553 bezeichnet und damit in die Nähe von Geisteskrankheiten gerückt. Weitere Aussagen beziehen sich auch auf das Bewusstsein und die Wahrnehmung des Prinzen. So bezeichnet Hohenzollern ihn als „sinnverwirrte[n] Träumer“ 554, fragt ihn während der Paroleszene, „bist du bei Sinnen?“ 555 und stellt später fest „Du warst zerstreut“ 556. Der innere Antrieb des Prinzen bleibt den anderen Figuren durchgehend verborgen. Zum Schluss des Stückes wird der ‚Fall Homburg‘ von Oberst Kottwitz und dem Grafen Hohenzollern mit dem Ziel erzählt, eine Begnadigung zu erwirken. Kottwitz’ Fokus liegt auf der Insubordination des Prinzen. Er verteidigt das Verhalten Homburgs auf dem Schlachtfeld, obwohl er in der Schlacht selber versuchte, ihn von einem Eingreifen abzuhalten. Jetzt ist er sicher, dass der Sieg nur durch das Eingreifen des Prinzen erkämpft wurde. Dem Beharren des Kurfürsten, dass das Gesetz eingehalten werden müsse, setzt Kottwitz ähnlich wie zuvor Natalie die emotionale Bindung an den Kurfürsten entgegen, die ihn selbst leite557 und wendet sich somit gegen eine staatlich-abstrakte Vorstellung von einem durch Gesetz geregelten Verhalten im Krieg.558 Nach Kottwitz hält Hohenzollern sein Plädoyer für den Prinzen. Anders als sein Vorredner argumentiert Hohenzollern nicht mit dem Kriegsgeschehen selbst, sondern mit dem Somnambulismus des Prinzen und dem Eingreifen des Kurfürsten, das die gesamte Handlung weiter beeinflusst habe. Hohenzollern ist die Figur mit den meisten Informationen über den Zustand des Prinzen, denn nur er weiß von der Trauminterpretation Homburgs, nach der dieser handelt. Er ist damit auch die einzige Figur, die genauso informiert ist wie der Zuschauer. Das Plädoyer wiederholt berichtend die Ereignisse des ersten Akts und interpretiert das weitere Verhalten des Prinzen als Folge davon. Hohenzollern beginnt mit der These, der Kurfürst sei schuld am Fehlverhalten Homburgs in der Schlacht und betont die Bewusstlosigkeit des Prinzen, der „tief versenkt im Schlaf“ gewesen sei. Das Eingreifen des Kurfürsten interpretiert er als Prüfung des „tiefsten Herz“ 559, wobei das Herz das emotionale Zentrum des Prinzen bezeichnet. Hohenzollern deutet die Orientie-

552 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 634, S. 670 und S. 689. 553 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 636 und S. 653. 554 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 636. 555 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 643. 556 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 650. 557 Vgl. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 698. 558 Vgl. zum historischen Hintergrund und möglichen Utopien einer idealen Staatsordnung sowie der Verbindung zu Adam Müller: Klaus Peter: Ikarus von Preußen. Heinrich von Kleists Traum von einer besseren Welt. Heidelberg 2007; Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 77. Der politische Hintergrund und zusätzliche Bedeutungen, die der Somnambulismusthematik dadurch zukommen, können in dieser Arbeit nicht weiter diskutiert werden. 559 Beide Zitate: Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 700.

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rungslosigkeit des Prinzen nach dem Experiment des Kurfürsten an: „Und einsam – einen Handschuh in der Hand, den er, nicht weiß er selber, wem? Entrissen – im Schoß der Mitternacht, bleibt er zurück.“ 560 Wie der Kurfürst selber sieht er dessen Eingreifen als „Scherz“ an. Er kontrastiert dies jedoch mit der enormen Bedeutung, die dieser für Homburg hatte: So lebhaft, meint’ er, hab er nie geträumt −: Und fester Glaube baut sich in ihm auf, Der Himmel hab ein Zeichen ihm gegeben: Es werde alles, was sein Geist gesehn, Junfgrau und Lorbeerkranz und Ehrenschmuck, Gott, an dem Tag der nächsten Schlacht, ihm schenken.561

Hohenzollern betont dabei die Rolle der Erinnerung: Gießt die Erinnerung Freude über ihn, Nichts Rührenderes, fürwahr, kannst du dir denken. Den ganzen Vorfall, gleich, als wär es ein Traum, Trägt er, bis auf den kleinsten Zug, mir vor.562

Die Personifizierung der Erinnerung nimmt die zeitgenössische Unterscheidung von verschiedenen Wahrnehmungskräften der Seele auf. Die Erinnerung, und somit die nicht mehr absolut funktionierende Trennung zwischen Somnambulismus und Wachzustand, wird zur Ursache der Fehlinterpretation des Prinzen. Das Verb „gießen“ lässt das Innere als etwas nicht-Statisches erscheinen und deutet eine überwältigende Erfahrung an, der der Prinz passiv ausgesetzt ist. Der Handschuh als Verkörperung des Traumes „zerstört zugleich und kräftigt seinen Glauben“ 563 an den prophetischen Traum. Hohenzollern betont den zerstreuten Zustand des Prinzen während der Parole, als er bemerkt, dass der Handschuh der Prinzessin Natalie gehört. Der Prinz sei sei von nicht erklärbaren „Wundern“ umringt gewesen. Hohenzollern beschreibt den Zustand des Prinzen in Bildern, die ihn als bewusstlos erscheinen lassen. Er ist für die umgebende Welt nicht empfänglich und kann sie nicht wahrnehmen. Der „Donner des Himmels“ hätte ihn nicht erreichen können. Der Prinz sei ein „Stein“ 564 gewesen, der nur wie ein „Lebender“ schien, dessen „Empfindung wie durch Zauberschläge in ihm verlöscht“ 565 war. Erst am nächsten Tag sei er „ins Dasein“ 566 zurückgekehrt und habe sich erkundigt, was die Anweisungen für die Schlacht gewesen seien. Der

560 561 562 563 564 565 566

Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 700. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 700 f. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 700. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 701. Beide Zitate Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 701. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 701 f. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 702.

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Feldmarschall bestätigt die Erzählung Hohenzollerns: „Zerstreut sah ich ihn oft, / Jedoch in solchem Grad abwesend ganz / Aus seiner Brust, noch nie, als an diesem Tag.“ 567 Die Zweiteilung wird im Bild des ‚Außer-sich-seins‘ noch einmal verdeutlicht. Der Kurfürst reagiert insbesondere auf die Mitteilung, der Handschuh habe Natalie gehört. Der Nebentext weist an, „der Kurfürst fällt in Gedanken.“ 568 Schließlich resümiert er: Hätt ich, mit dieses jungen Träumers Zustand, Zweideutig nicht gescherzt, so blieb er schuldlos: Bei der Parole wär er nicht zerstreut, Nicht widerspenstig in der Schlacht gewesen. Nicht? Nicht? Das ist die Meinung?569

Der Kurfürst weist Hohenzollerns Erklärung jedoch zurück, denn erst auf dessen Initiative hin habe er das Experiment mit dem Prinzen durchgeführte. Er erwähnt gegenüber dem Prinzen das Plädoyer von Kottwitz570 aber nicht Hohenzollerns. Hohenzollern hingegen ist sich sicher, dass seine Erläuterungen Wirkung hatten. Das Stück bestätigt jedoch keine der beiden Interpretationen eindeutig, und was den Kurfürsten zur Begnadigung des Prinzen bewegt, bleibt mehrdeutig.571

5.4.5 Heilung? Die klassische Form, insbesondere die symmetrische Komposition, des Schauspiels hat zu der These geführt, dass der Vollkommenheit der Form eine ideale Auflösung des Konfliktes entspricht.572 Die Akzentuierung dieser These ist unterschiedlich, je nachdem, ob der Prinz oder der Kurfürst positiv oder negativ gewertet werden. Mal färbt die romantische Gefühlsbetontheit des Prinzen auf den Kurfürsten ab und

567 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 702. 568 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 701. 569 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 702. 570 Vgl. Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 703. 571 Hansen nimmt an, dass Hohenzollerns Bericht keine Rolle bei der Entscheidung des Kurfürsten spielt, den Prinzen zu begnadigen: Anthropologie, S. 76. Hansen problematisiert in diesem Zusammenhang die Figur Hohenzollerns, der den Prinzen zunächst wie ein „exotisches Tier“ vorführt und diesen anschließend im Ungewissen darüber belässt, was wirklich geschehen ist. In der Schlacht nennt er den Befehl des Kurfürsten nur einen „Rat“ und beschließt erst nach dem Eingreifen Natalies und Kottwitz’ auch für den Prinzen zu intervenieren. Hohenzollern, so Hansen, sei ein „autonom Böser“, der seinen Wissensvorsprung ohne Motive missbrauche (vgl. Hansen: Anthropologie, S. 75–77). 572 Vgl. Schmidt: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, S. 139. Vgl. auch der Forschungsüberblick bei Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 83 f.

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trägt dazu bei, die Utopie einer idealen Staatsordnung zu verwirklichen.573 Oder aber der Prinz entwickelt sich vom somnambulen, träumerischen und selbstbezogenen Menschen zu einem wachen und bewussten Menschen.574 Gegen diese positiven Lesarten wurde die Scheinexekution des Prinzen als grausam herausgestellt und die Begnadigung als erneutes, gewaltsames Eingreifen des Kurfürsten kritisiert, durch das er die Entscheidung des Prinzen zu sterben als positiven Identitätsentwurf zerstört.575 Auch auf der Grundlage der magnetischen Anthropologie ergeben sich verschiedene Interpretationen. So sieht Weder die Zustimmung des Prinzen zu seinem eigenen Todesurteil als Zwangshandlung in einem magnetischen Rapport an,576 wohingegen Hansen die letzte Szene als Erfüllung einer echten „somnambulen Vision“ 577 des Prinzen interpretiert. Aus medizinischer Sicht stellt sich die Frage, ob der Prinz von seiner ‚Krankheit des Geistes‘ geheilt wird: „By the end of the play, he is no longer a somnambulist and, from a medical point of view has been cured.“ 578 Lange verlässt sich der Prinz auf seine Interpretation der Ereignisse des ersten Akts. Erst als Hohenzollern ihm die politischen Konsequenzen seiner übereilten Verlobung mit Natalie verdeutlicht, schlägt die Sicherheit des Prinzen um: „O Freund! Hilf, rette mich! Ich bin verloren.“ 579 Das für ihn bestimmte, geöffnete Grab, das er auf dem Weg zur Kurfürstin erblickt, löst dann die berühmte Todesangst in dem Prinzen aus. Er ist bereit, alles – seinen sozialen Rang und seine Verlobung mit Natalie – aufzugeben, wenn er dafür am Leben bleibt. Bereits in dem Monolog des dritten Auftritts der vierten Szene scheint der Prinz sich jedoch mit dem Gedanken an seinen Tod abzufinden. Als der Kurfürst ihm wenig später die Möglichkeit gibt, sein Todesurteil selbst aufzuheben, indem er es als „Unrecht“ 580 bezeichnet, stimmt der Prinz, der kurz zuvor um jeden Preis leben wollte, seinem eigenen Todesurteil zu:

573 Vgl. Peter: Ikarus von Preußen, S. 22–25; Wolfgang Thorwart: Heinrich von Kleists Kritik der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Zu H. v. Kleists Leben und Werk unter Berücksichtigung der theologisch-rationalistischen Jugendschriften. Würzburg 2004, S. 260 und S. 264 f. 574 Vgl. Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin. Frankfurt a. M. 1940, S. 265. 575 Vgl. dazu Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 69–71; Tatar: Psychology and Poetics, S. 34. Ehinger liest die Ablehnung der Begnadigung als Selbstmordversuch des Prinzen (vgl. Ehinger: Kritik und Reflexion, S. 241 f.). 576 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 361 f. 577 „An der Wahrheit des Clairvoyance gemessen verläuft die Handlung als ein Gewirr von Fehleinschätzungen, Mißverständnissen, Intrigen und Fehlplanungen, was aber die Realisation der clairvoyanten Vision nicht beeinträchtigt.“ (Hansen: Anthropologie, S. 79 und ähnlich auch S. 55) 578 Tatar: Psychology and Poetics, S. 34. Tatar identifiziert verschiedene Stufen der Heilung des Prinzen, die sie nach von Reil vorgeschlagenen Heilmethoden vorschlägt. 579 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 672. 580 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 687.

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Ich will ihm, der so würdig vor mir steht, Nicht, ein Unwürdger, gegenüber stehn! Schuld ruht, bedeutende, mir auf der Brust, Wie ich es wohl erkenne; kann er mir Vergeben nur, wenn ich mit ihm drum streite, So mag ich nichts von seiner Gnade wissen.581

Diese Aussage drückt jedoch nur das Endergebnis des zuvor angedeuteten Gedankenprozesses aus und erklärt nicht, wieso der Prinz seine Schuld nun eingesteht, während ihm zuvor jedes Schuldbewusstsein fehlte.582 Vorher werden durch eine Mischung aus Gestik, kurzen Aussagen und Fragen des Prinzen und den Reaktionen Natalies nur die äußeren Zeichen dieses Umschwungs dargestellt. Was den Prinzen dazu bringt, dem Todesurteil zuzustimmen, bleibt letztlich unklar. Die Zustimmung erscheint nicht so sehr als Resultat einer Heilung oder eines Erziehungsprozesses, sondern als der Versuch, seine Ehre zu retten.583 Am Ende scheint sich alles in Wohlgefallen aufzulösen, das Schauspiel endet nicht tragisch, sondern komödienhaft.584 Der Prinz wird nicht nur begnadigt, sondern bekommt Lorbeerkranz und Natalie. Die letzten beiden Auftritte des Dramas weisen deutliche Parallelen zu der Anfangsszene auf. Die Wiederholungsstruktur wird bereits in der Szenenanweisung betont: „Schloß, mit der Rampe, die in den Garten hinabführt; wie im ersten Akt. – Es ist wieder Nacht.“ 585 Das Bühnenbild, die räumliche Anordnung der Figuren und die Nachtzeit sind gleich. Der zehnte Auftritt korrespondiert mit dem zweiten Auftritt des ersten Akts, in dem der Prinz nach dem Experiment des Kurfürsten allein zurückblieb. Diesmal erwartet er mit verbundenen Augen im Garten des Schlosses seine Hinrichtung. Im Hintergrund sind die „Trommeln des Totenmarsches“ 586 zu hören, obwohl die Zuschauer bereits wissen, dass der Prinz begnadigt werden soll. Zu Recht kann daher von einer Scheinexekution gesprochen werden.587 Anders als im ersten Akt artikuliert der Prinz sich sprachlich. Während er im ‚Derwisch-Monolog‘ den Tod körperlich als Vermodern dachte, adressiert er nun voller Pathos die Unsterblichkeit und betont dabei insbesondere das geistige Weiterleben nach dem Tod:

581 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 690. 582 Fischer-Lichte zeigt das Fehlen von Einblicken in die Gründe und Motive der Kleistschen Figuren als Charakteristikum seiner Dramatik auf, durch die seine Figurenkonzeption sich eindeutig von der Klassik entferne (vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Tübingen 1999, S. 11 f.). Vgl. auch Gerhard Kluge: Die mißlungene Apotheose des Prinzen von Homburg. In: Neophilologus 82.1 (1998), S. 284. 583 Vgl. Blamberger: Heinrich von Kleist, S. 385 f. 584 Vgl. Blamberger: Heinrich von Kleist, S. 385. 585 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 707. 586 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 707. 587 Vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen, S. 266.

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Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, Die muntre Hafenstadt versinken sieht, So geht mir dämmernd alles Leben unter: Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.588

Die direkte Anrede der „Unsterblichkeit“ erinnert an das Vorhaben des Prinzen, Fortuna vom Siegeswagen der Schweden zu erhaschen. Durch die Feststellung „nun […] bist du ganz mein“ erscheint es fast, als hätte der Prinz dieses Ziel doch noch erreicht. Er vollzieht sprachlich bereits seinen Tod, indem er seinen Geist vom Körper trennt und dies als Abschied vom Leben und der diesseitigen Welt inszeniert. Im Präsens beschreibt er dabei verschiedene Stufen dieses Prozesses. Zunächst wird die „Unsterblichkeit“ für ihn wahrnehmbar, die wachsenden Flügel ermöglichen es seinem Geist, sich vom Körper zu lösen und auf die Unsterblichkeit zuzubewegen. Der Abschied vom Leben wird mit den Metaphern des fortfahrenden Schiffs und zurückbleibenden Hafens beschrieben und geht einher mit einer undeutlich werdenden Wahrnehmung, die in einem Moment noch „Farben und Formen“ unterscheidet, während dann nur noch „Nebel“ unter ihm liegt. Die Strahlen- und Glanzmetaphorik nimmt motivisch die Traumerzählung des Prinzen wieder auf. Zudem erinnert sie an die Aussagen magnetisch Behandelter, die, wie anhand der Fallgeschichten (siehe Kap. 3.3) aufgezeigt wurde, ihre Erfahrungen vielfach mit Metaphern des Strahlens und Fließens beschreiben.589 Auch Schubert schreibt: Vorzüglich merkwürdig ist aber jenes innre Licht, welches nach der Aussage der magnetisch Schlafenden ihren ganzen Körper durchströmt […]. Es wird bey tiefen Ohnmachten öfters ein eigenthümliches Leuchten vor den Augen gesehehn, und die aus diesen Ohnmachten und dem Scheintod Erwachenden, beschreiben den nach der Aussage fast Aller ungemein seeligen Zustand, in welchem sie sich befanden, öfters so, daß sie von einem hellen glänzenden Schein umflossen gewesen wären.590

Das Bild vom Geist, der durch Ätherräume fliegt sowie die Schiffs- und Hafenmetaphorik nehmen zudem Schuberts Vorstellung von der Verwandtschaft von Somnambulismus und Tod auf, die er mit ähnlichen Bildern beschreibt: Sie sind, wie wir in der vorhergehenden Vorlesung sahen, die Momente wo die menschliche Natur den Anker nach einer schöneren Heymath lichtet, und wo die Schwingen des neuen

588 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 707. 589 Vgl. auch Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 364. 590 Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, S. 357.

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Daseyns sich regen.[…] So bezeichnet […] das Erscheinen des Lichts, überall den Moment, wo die irdischen Dinge sich über die Natur des Planeten erheben, wo sie von diesem frey werden, und in eine höhere Ordnung der Dinge eintreten.591

Auch der Prinz bezeichnet das Jenseits als „zu Hause“ 592. Die motivischen Anknüpfungen an sprachliche Inszenierungen des Somnambulismus und Magnetismus deuten an, dass sich der Prinz erneut in einem somnambulen Zustand befindet.593 Nach Kluge kann man den Prinzen hier in den sechsten und letzten magnetischen Grad, der „Allgemeinen Klarheit“ 594 einordnen. Der Magnetisierte tritt aus sich selbst heraus und durchbricht die „äußere Dunkelheit zur höheren Beschauung der gesamten Natur“ 595. Die Hinweise auf den erneuten Somnambulismus sprechen gegen die These, der Prinz werde im medizinischen Sinne davon geheilt. Noch deutlicher wird dies im letzten Auftritt, in dem die Zirkelstruktur lineare Entwicklungen im Sinne von Heilung oder Erziehung überlagert. Der Kurfürst inszeniert im letzten Auftritt die positive Erfüllung der vermeintlichen Vision des Prinzen. Die aktive Rolle des Kurfürsten spricht gegen eine parapsychologische Deutung, nach welcher der kranzflechtende Prinz eine somnambule Vision hat, die sich im letzten Akt erfüllt. Hansen nimmt an, „daß er [der Prinz] im Zustand der somnambulen Luzidität sich selber mit dem Lorbeerkranz geschmückt sieht, daß er eine unmittelbare […] Prävision hat von der triumphalen Schlußszene des Dramas.“ 596 Hansen geht davon aus, dass das Kranzflechten des Prinzen die echte Vision ist, die „als ein ihm unverständlicher positiver Antrieb“ 597 handlungsmotivierend wirke. Wie Hansen selber bemerkt, hat der Prinz hieran aber keine bewusste Erinnerung. Es ist vielmehr die durch den Kurfürsten inszenierte ‚Vision‘, die sich auf die Handlung des Prinzen auswirkt und die wieder durch eine Inszenierung des Kurfürsten im letzten Akt erfüllt wird. Die Vorstellung, der Prinz habe ein Ahnungsvermögen, das am Ende des Dramas bestätigt werde, verpflichtet Kleists Schauspiel auf eine genaue Rezeption der spiritualistischen Ausrichtung des Magnetismus nach Puységur, die Schubert unter Berufung auf Forscher wie Johann Heineken, Johann Nathanael Pezold und Eberhard Gmelin in Deutschland popularisiert hat.598 Gleichzeitig werden die Brüche ignoriert, welche die Thematik im Prinz von

591 Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, S. 360. 592 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 707 f. 593 Vgl. auch Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 364. 594 Kluge: Versuch, S. 112. 595 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 125. 596 Hansen: Anthropologie, S. 56. Viele Magnetismusforscher verteidigten die Fähigkeit der Somnambulen, zukünftige Ereignisse vorauszusehen, als realistisch (vgl. z. B. Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, S. 350–355). 597 Hansen: Anthropologie, S. 57. 598 Vgl. Hansen: Anthropologie, S. 54 f. Hansen weist zum Beispiel Barkhoffs Interpretation, der Prinz sei ein willenloses Werkzeug der gezielten Manipulation des Kurfürsten, mit der Begründung ab, dies stehe im Widerspruch zur Puységuristischen Auffassung (vgl. Hansen: Anthropologie,

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Homburg aufweist, die den Somnambulismus als Ursache einer fundamentalen Wahrnehmungsstörung wirken lassen. Wie zu Beginn erscheinen Kurfürst und Hofstaat auf der Rampe des Schlosses und steigen zu dem Prinzen herab. Der Prinz nimmt dies trotz verbundener Augen als Glanzerscheinung wahr: „Lieber, was für ein Glanz verbreitet sich?“ 599 Erneut wird damit an die Glanzbeschreibungen der magnetischen Fallgeschichten angeknüpft, in denen die Patienten häufig angeben, dem Magnetiseur ströme Licht aus Händen und Kopf. Gleichzeitig entspricht die Wahrnehmung des Prinzen seiner Traumerzählung, in der er das Erscheinen des Kurfürsten und des Hofstaates ebenfalls „von Gold und Silber strahlend“ 600 beschreibt. Stranz kündigt dem Prinzen an, die Hinrichtung stehe bevor. Stattdessen erlebt Homburg die Erfüllung seiner erinnerten Traumvision. Diese wird im Nebentext beschrieben und erneut pantomimisch vorgeführt: Der Kurfürst gibt den Kranz, an welchem die Kette hängt, der Prinzessin, nimmt sie bei der Hand und führt sie die Rampe herab. Herren und Damen folgen. Die Prinzessin tritt, umgeben von Fackeln, vor den Prinzen, welcher erstaunt aufsteht; setzt ihm den Kranz auf, hängt ihm die Kette um, und drückt seine Hand an ihr Herz. Der Prinz fällt in Ohnmacht.601

Die Ohnmacht ist ein weiteres Zeichen, dass der Prinz sich im Zustand des Somnambulismus befindet, da der Prinz diesen Zustand bekanntlich vor dem Erwachen durchläuft. Gleichzeitig ‚erlebt‘ der Prinz damit den Zustand seiner Erhöhung in tiefster Bewusstlosigkeit. Stellte Hohenzollern im ersten Akt fest, dass die Nennung von Homburgs Namen wie eine Kanonenkugel trifft, wird er diesmal tatsächlich durch Kanonenschüsse aufgeweckt und von den anderen Offizieren als „Sieger der Schlacht bei Fehrbellin“ 602 verherrlicht. Nach dem Erwachen ist der Prinz erneut orientierungslos und unsicher bezüglich seiner eigenen Wahrnehmung. Seine letzte Aussage, bevor er in dem allgemeinen Ausruf, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“ 603 untergeht,604 ist: „Nein, sagt! Ist es ein Traum?“ 605 Hielt der Prinz zuvor einen vermeintlichen Traum, der eigentlich ein Eingriff in seinen somnambulen Zustand war, für die Wirklichkeit, hält er nun die Wirklichkeit für einen Traum.

S. 59) und es gebe keine zeitgenössischen Fallbeispiele, die eine solche Lesart erlaubten (vgl. Hansen: Anthropologie, S. 60 und S. 66). 599 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 708. 600 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 637. 601 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 708. 602 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 709. 603 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 709. 604 Vgl. zur Frage, ob der Prinz mit ruft oder nicht: Hans Jürgen Knobloch: Ein Traum in Preußischblau? Zu Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Aurora 56 (1996), S. 47; Kluge: Die mißlungene Apotheose des Prinzen von Homburg, S. 288. 605 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 709.

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Die Thesen eines Bildungsgangs vom somnambulen Träumer zum bewussten Menschen oder von der Heilung des Prinzen werden damit fragwürdig. Die Themen Somnambulismus und Nachtwandeln wurden in der Medizin um 1800 in einem vielfältigen Kontext von Nerven- und Geisteskrankheit, einer Psychologie des Unbewussten und naturphilosophisch-romantischen Nobilitierung und Transzendenz diskutiert. Kleists Prinz von Homburg bezieht sich neben der offensichtlichen Nachtwandelthematik durch die sprachliche Ausgestaltung der Monologe sowie der Traumerzählung des Prinzen motivisch und metaphorisch auf zeitgenössische Somnambulismusdarstellungen im Kontext des animalischen Magnetismus.606 Die Funktion des Somnambulismus’ kann jedoch nicht als eine bloße Wiedergabe der Vorstellungen Schuberts gesehen werden, der den Magnetismus als transzendentales, dem Wachzustand überlegenes Wahrheitsmedium idealisiert. Die Somnambulismusthematik ist stattdessen mehrdeutig mit anderen Themen verflochten. Die Figur des Prinzen wird durch den Somnambulismus in zwei Bewusstseinsebenen eingeteilt. Im Zustand des Somnambulismus’ scheint das Innere des Prinzen zunächst an der Oberfläche sichtbar zu werden. Es wird jedoch zum Interpretations- und Experimentgegenstand der anderen Figuren. Das Eingreifen des Kurfürsten hat dabei weitreichende Folgen, denn die Aufteilung in zwei getrennte Bewusstseinsebenen mit entsprechenden Wahrnehmungsarten funktioniert danach nicht mehr, was eine fundamentale Wahrnehmungsstörung hervorruft. Der Prinz von Homburg erinnert das Geschehen als Traum, den er als Antizipation zukünftiger Ehre und Liebe versteht. Diese Fehlinterpretation bestimmt die gesamte Dramenhandlung des Prinzen und verursacht den Konflikt mit dem Kurfürsten. Der Prinz selbst wird sich seiner Wahrnehmungsstörung nicht bewusst. Zwar weiß er, dass er zum Nachtwandeln neigt, von dem Scherz des Kurfürsten erfährt er jedoch im gesamten Schauspiel nichts. Noch zum Schluss hat er Schwierigkeiten, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Zwar erscheint der Kurfürst nicht als allmächtiger Magnetiseur, vergleichbar mit E. T. A. Hoffmanns Magnetiseur, der den Prinzen gezielt manipuliert, dennoch entsteht eine Spannung zwischen dem freigelegten eigenen Inneren und der Fremdheit dieses Inneren. Der Prinz kann dieses eigene Innere nicht mehr bewusst erfassen und richtig interpretieren. Das beeinflusst die Sprache des Prinzen, die zwischen überlegenem Pathos in seinen Monologen und kurzen, oft als Fragen formulierten Äußerungen in den Dialogen schwankt. Auf den eigenen Zustand bezogene Aussagen sind vielfach von Hilflosigkeit und Unsicherheit bezüglich der eigenen Wahrnehmung geprägt und erlangen keine reflektierende oder expressive Funktion. Während diese bei Tasso bis zur Krankhaftigkeit gesteigert war, ist die Ich-Perspektive des Prinzen unsicher und gebrochen.

606 Vgl. Weder: Kleists magnetische Poesie, S. 328–369.

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Gespielte Leiden: Krankheit im Drama

Die Krankheit des Prinzen wird zudem durch das Zusammenspiel von Figurensprache und Szenenanweisungen dargestellt, die den Prinzen nach der zeitgenössischen Psychologie vielfach als ‚vertieft‘ oder ‚zerstreut‘ kennzeichnen. An den pantomimischen Darstellungen im ersten und zweiten Auftritt wird auch deutlich, dass die Zeichenrelation zwischen Körper und Innerem nicht immer eindeutig ist, denn durch den gestörten Somnambulismus wird auch das Verhältnis von Körper und Seele gestört. Die Körpersprache scheint einerseits die Krankheit des Prinzen sichtbar zu machen, anderseits aber als Ausdruck seines Inneren ambivalent zu bleiben.607 Die Krankheit des Prinzen wird zudem durch die Perspektive der anderen Figuren wahrgenommen, die ihn vielfach in die Nähe von Wahnsinn rücken. Allerdings bleibt ihnen der innere Antrieb des Prinzen unbekannt. Die Ausnahme bildet der Graf Hohenzollern, der Charakter mit den meisten Informationen, der wie der Zuschauer während des ganzen Stücks informierter als der Prinz selbst ist. Er fasst das Geschehen zum Schluss als Fallgeschichte eines Somnambulen zusammen. Die Wahrnehmung des Prinzen erfolgt demnach über weite Strecken von außen und sein Leiden wird gewissermaßen erst durch die Informationsstruktur des Stücks wahrnehmbar gemacht. Anders als in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels, wo der Leser selbst an die Perspektive des kranken Medardus’ gebunden ist, ist der Zuschauer bei Kleist informierter als die Titelfigur. Die Figur des somnambulen Prinzen steht im Widerspruch zu der durchgearbeiteten, klassischen Form des Schauspiels. Die Handlung entsteht nicht wie im klassischen Drama aus rationalen und bewussten Entscheidungen der Figuren, die diese sprachlich vollziehen können.608 Das ist dem Prinzen von Homburg aufgrund seiner Wahrnehmungsstörung nicht möglich und wo er es doch macht, unterliegt er einer Selbsttäuschung. Kleists Schauspiel scheint somit näher an der psychologischen Theaterkonzeptionen der Spätaufklärung zu sein.609 Allerdings wird die Zeichenrelation zwischen Körper und Innerem durch den Somnambulismus brüchig. Im Zuge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der ‚Nachtseite‘ des Menschen zeigt sich hier auch eine veränderte ästhetische Wahrnehmung des Inneren. Die Zitate der zeitgenössischen Rezensenten zeigen, dass der Prinz von Homburg die klassische, tragische Heldenrolle nur schlecht ausfüllt. Hothos Bericht, dass die Szenen, die dieser Heldenvorstellung am meisten entgegenstehen auf der Bühne durch narrative Sequenzen ersetzt wurden, zeigen dass das implizite Gattungswissen, das der Tragödie um 1800 eingeschrieben ist, mit der Darstellung eines ‚kranken‘ Helden kontrastiert. Auch Goethe hatte, wie bereits erwähnt, für die Aufführung des Torquato Tasso die Monologe gekürzt, über die Tassos krank-

607 Vgl. allgemein zur Körpersprache in Kleists Dramen: Alexander Košenina: Will er „auf ein Theater warten welches da kommen soll“? Kleists Ideen zur Schauspielkunst. In: Kleist Jahrbuch 2001, S. 38. 608 Vgl. Fischer-Lichte: Prinz Friedrich von Homburg, S. 22 f. 609 Vgl. Košenina: Will er „auf ein Theater warten welches da kommen soll“?, S. 38–54.

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hafter Verfolgungswahn, seine fehlerhafte Wahrnehmung und seine Ausfälle gegenüber den anderen Figuren ausgedrückt wurden, und somit die pathologische Ausprägung der Figur zurückgenommen. Die zeitgenössischen medien- und gattungstheoretischen Diskussionen zeigen, dass rezeptions- und wirkungsästhetische Annahmen und Ziele, die mit der Gattung Drama – insbesondere der Tragödie – verbunden sind, die Form und Funktion von Krankheitsdarstellungen beeinflussen und zum Beispiel die Thematisierung von körperlichen Leiden ausschließen. Diese Diskussionen nehmen den Zuschauer in den Blick und beschreiben die Wirkungsweisen des Theaters als eine Art ‚Ansteckung‘. Dabei kann die Darstellung der dramatischen Figur für den Schauspieler selbst zur Ursache von Krankheit werden. Die besprochenen Dramen thematisieren Krankheit überwiegend aus psychopathologischer Perspektive, indem sie krankhafte Wirkungen der Einbildungskraft vorführen. Die Krankheiten werden von einer falsch funktionierenden Einbildungskraft hervorgerufen und entstehen im Inneren der Figuren. Den Darstellungen wird ein weiter Krankheitsbegriff zugrunde gelegt, und die Leiden der Figuren werden in einem komplexen Geflecht von Einflussfaktoren inszeniert. Auch wenn die Darstellung von ‚Pathologien der Einbildungskraft‘ als übergeordneter Aspekt der Herstellung von Krankheit in den dramatischen Gattungen festzustellen ist, ist Krankheit in den besprochenen Komödien eine andere als in den Schauspielen von Goethe und Kleist. In ersteren wird Krankheit zur Ursache und Mittel von Komik und Satire. Die Komödien thematisieren die seit der Antike tradierte und um 1800 zur ‚Zeitkrankheit‘ stilisierte Hypochondrie. Die Neuausrichtung der Hypochondrie als psychische Krankheit empfindsamer Individuen findet in narrativen Texten statt, während der Hypochonder in der Komödie auch um 1800 ein konventionalisierter Typus bleibt, der verlacht wird. Gattungsinterne Neuerungen, durch die dem Komödienfigural ein höherer Grad an Individualisierung zugestanden wird, werden für die komödiante Darstellung von Krankheit kaum aufgegriffen. Stärker als in der Tragödie wird Krankheit zur Reflexion und Herausstellung der eigenen Form genutzt, denn den inhaltlichen, formalen und wirkungsästhetischen Kriterien der Komödie ist ein Wissen über ‚Krankheit‘ und Therapie inhärent, das auch in theoretischen Komödiendiskussionen thematisiert wird. In den besprochenen Schauspielen von Goethe und Kleist werden anders als in der Komödie aktuelle, medizinisch-anthropologische Wissenskonzepte genutzt. Beide Stücke unterlaufen gängige Gattungsnormen, was unter anderem mit den kranken Hauptfiguren zusammenhängt, durch die sich die Stücke von der Bühne entfernen. Während in den Komödien Krankheit als komisch ‚veräußerlicht‘ wird, wird in den ‚ernsten‘ Stücken Krankheit zur Dramatisierung von Innenräumen genutzt. Die Stücke stehen dadurch vor der Herausforderung, unsichtbare psychopathologische Zustände sichtbar zu machen, obwohl durch diese die Möglichkeiten sprachlicher Ausformulierung des eigenen Inneren in Frage gestellt werden. In der

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Tragödie nach 1800 werden daher extreme psychopathologische Leiden wie der Wahnsinn vielfach durch Requisiten ausgelöst, die den Wahnsinn gleichsam visualisieren und zugleich ambivalente Erklärungsmuster von Krankheit zwischen medizinischen und fantastisch-übernatürlichen produzieren.610 Körperlichen Zeichen kommt auf der Bühne eine besondere Bedeutung zu, aber trotz der performativen Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit dramatischer Texte wird der leidende Körper nicht auf der Bühne inszeniert. Der Körper funktioniert immer nur in Bezug zur Seele, ob nun als Zeichen dafür, als sprachliches Bild, mit dem die leidende Seele sichtbar gemacht wird, oder als ambivalente Referenz, die mehr die Brüche im Verhältnis von Körperoberfläche und seelischem Innenraum herausstellt, als Aufschluss darüber geben zu können. Selbst in den Hypochonderkomödien, in denen ein vielfältig leidender Körper im Zentrum der Selbstwahrnehmung der Hauptfiguren steht, zeigt er durch seine eigentliche Nicht‑Existenz doch wieder Störungen der Einbildungskraft an. Durch die Rollenstruktur des Dramas kann ein bestimmtes Wissen von psychischer Krankheit evoziert werden, indem Fragen gestörter (Selbst-)Wahrnehmung in besonderer Weise verhandelt werden können, so dass die dramenspezifische Ausgestaltung und Herstellung von Krankheiten und Leiden insbesondere durch den Aspekt der Rolle oder Figur fokussiert werden konnten. Dabei lassen sich vereinfacht gesagt drei Modelle unterscheiden: Die Rolle kann erstens zur Visualisierung von Krankheit auf der Bühne genutzt werden, oder zweitens wird die Einheit von Rolle und Figur durch Krankheit problematisch und fragmentarisch und schließlich kann drittens die Rolle selbst Krankheit hervorrufen. Zur Verdeutlichung soll noch einmal auf drei Passagen aus Reils Rhapsodieen zurückgegriffen werden, womit natürlich nicht impliziert werden soll, dass Reils Text direkter Impulsgeber für die zuvor besprochenen Texte gewesen ist. Vielmehr greift der Mediziner Reil auf dramatische Wirkungsmodelle zurück, um seine Ansichten über psychische Krankheiten und ihre Heilung zu formulieren. Für seine Konzeption einer psychischen Kur fordert Reil, dass jedes Irrenhaus ein Theater haben sollte: Ich bemerke bloss im Allgemeinen, dass jedes Tollhaus zum Behuf ihrer imposanten Anwendung und zweckmässigen Zusammenstellung ein für diese Zwecke besonders eingerichtetes, durchaus praktikabeles Theater haben könnte, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Machinerien und Decorationen versehen wäre. Auf demselben müssten die Hausofficianten hinlänglich eingespielt seyn, damit sie jede Rolle eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom Himmel kommender Engel, und aus den Gräben wiederkehrender Todten, nach den jedesmaligen Bedürfnissen des Kranken, bis zum höchsten Grad der Täuschung vorstellen könnten. Ein solches Theater könnte zu Gefängnissen und Löwengruben, zu Richtplätzen und Operationssälen formirt werden. Auf demselben würden Donquichotte zu Rittern geschlagen, eingebildete

610 Vgl. zum Beispiel Ludwig Tiecks frühe Dramen Karl von Berneck und Der Abschied (Tieck: Schriften in zwölf Bänden, Bd. 1) sowie ohne die eindeutige pathologische Konnotierung Dramen wie Zacharias Werners 24. Februar (1810) oder Adolph Müllners 29. Februar (1810).

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Schwangere ihrer Bürde entladen, Narren trepanirt, reuige Sünder von ihren Verbrechen auf eine feierliche Art losgesprochen.611

Das Theater dient hier dazu, die inneren Wahnfiguren der Kranken auf der Bühne zu visualisieren und zu narrativieren. Durch diese Darstellung werden sie aus dem kranken Bewusstsein herausgelöst und durch die Einbindung in einer kurzen, täuschenden Handlungssequenz sinnstiftend aufgelöst. Die Bühne ermöglicht die Gestaltwerdung der innerlichen Störung, die als ‚Rolle‘ oder ‚Figur‘ außerhalb der kranken Person präsentiert wird. Die fiktionale ‚Lösung‘ der Störung – etwa das Entbinden bei einer eigentlich nicht vorhandenen Schwangerschaft oder das Vergeben der Sünden – soll dabei die eigene fehlerhafte Wahrnehmung wieder angleichen. Dabei ist es denkbar, dass die kranke Person selbst nur Zuschauer bleibt oder aktiv in das fiktionale Geschehen eingebunden wird. Diese Art der Kurmethode wird schon vor dem Erscheinen von Reils Rhapsodieen in Goethes Singspiel Lila erprobt.612 Das Leiden der melancholischen Lila, die in einem krankhaften Wahn zunächst davon überzeugt ist, ihr Mann sei tot beziehungsweise ihn später von bösen Geistern gefangen glaubt, soll durch eine psychische Kur geheilt werden, die dem Motto „Phantasie durch Phantasie kurieren“ 613 folgt. Dafür werden Lilas Wahnbilder als Figuren eines Spiel-im-Spiels aufgeführt. Der Hof begibt sich in Lilas pathologische Phantasiewelt, gerade um sie der Wirklichkeit wieder anzunähern, so dass schließlich „Phantasie und Wirklichkeit zusammentreffen“ 614. Das Spiel-im-Spiel ermöglicht dem Zuschauer Einblick in die Phantasie und Wahrnehmungssphäre Lilas, die im Drama nur durch die Figurensprache Lilas darstellbar wäre. Die Phantasiegebilde der pathologisch wirkenden Einbildungskraft werden als Rollen oder Figuren in einem Theaterspiel vorgeführt. Zum Schluss wird Lila die Inszenierung selbst suspekt und sie ist es, welche die sekundäre Ebene des Spiels-im-Spiel wieder an die primäre Ebene des Dramengeschehen bindet: „Was soll diese Mummerei am hellen Tage? Irr’ ich mich nicht, so scheinst du älter als du bist. Dieser Bart schließt nicht recht an’s Kinn.“ 615 Lila durchschaut die Maskerade, ihre Wahrnehmung ist somit der ‚Realität‘ wieder angepasst und die krankhaften Wirkungen ihrer Einbildungskraft geheilt. Im Unterschied zu den besprochenen Hypochonderkomödien gelangt Lila tatsächlich zu ei-

611 Reil: Rhapsodieen, S. 209 f. 612 Schmaus hat herausgearbeitet, wie Goethes dramatisierte Vorführung einer psychischen Kur die psychiatrischen Programme Reils und Hoffbauers nach 1800 vorwegnimmt (vgl. Schmaus: Psychosomatik, S. 73 f. und S. 94). 613 Johann Wolfgang von Goethe: Lila. 3. Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1, Bd. 5: Klassische Dramen, hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 2008, S. 845. 614 Goethe: Lila, S. 846. 615 Goethe: Lila, S. 868.

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ner Einsicht, während die Täuschung der Hypochonder Eckstädt und Fliege durch eine andere ersetzt wird.616 Anhand Reils zweiter Forderung nach funktionsfähigen Theatern in den Irrenhäusern lässt sich noch ein weiterer Rollen-Aspekt im Zusammenhang mit Krankheit fokussieren. Ausgangspunkt ist diesmal Reils Überlegung, den passiven Kranken durch das Schauspielen oder Zuschauen wieder zu einem „handelnden Subjekt“ 617 zu entwickeln. Dabei kommt Reil auf das ‚Lächerliche‘ der Geisteskrankheiten zu sprechen: Könnten nicht eigne Schauspiele fürs Tollhaus angefertigt werden? Die Besonnensten führten sie auf, die übrigen sähen sie an. Zuverlässig erfordert dies Spiel die pünktlichste Aufmerksamkeit. Dann könnte man durch die Vertheilung der Rollen noch andere Vortheile erreichen; jeden Narren seine eignen Thorheiten lächerlich machen lassen.618

Die Kranken sollen ihre eigene ‚Narrheit‘ spielerisch darstellen und auf diese Weise lächerlich machen. Dies erfordert einen gewissen Grad an ‚Besonnenheit‘, der die Möglichkeit der emotionalen Distanz zur eigenen „lächerlichen Torheit“ impliziert, die in einem zweiten Schritt verstandsmäßige Einsicht ermöglicht. Die Umwandlung der ‚Torheiten‘ in eine ‚lächerliche‘ Rolle ruft ein spezifisches wirkungsästhetisches Wissen der Komödie ab, auf das sich zum Beispiel Ammanns Stück bezieht. Die lächerliche Wirkung impliziert dabei immer auch eine moralisch-soziale Position, von der aus die Krankheit als ‚lächerlich‘ markiert und als Abweichung definiert wird. In den beiden bisher besprochenen Stellen wird psychische Krankheit über die Rolle auf dem Theater ‚ver-äußerlicht‘ und somit sowohl für den Kranken selbst als auch den Zuschauer sichtbar gemacht. Dramatische Techniken hierfür sind das Spiel-im-Spiel, die Intrige und Komik. Dazu passt, dass die kranken Figuren in der Komödie wenig differenzierte Figuren sind, deren Leiden an der Oberfläche bleiben. Die Situationen, in denen Krankheit entsteht und dargestellt wird, sind dagegen in Goethes und Kleists Stücken weitaus komplexer. Eine solche Sichtbarmachung des Inneren ist nicht mehr eindeutig möglich, stattdessen wird die Einheit der Figur fragwürdig. Zur Verdeutlichung sei erneut auf Reils Darstellung der Wirkungen von Nachtwandeln und Somnambulismus mit Theatermetaphern verwiesen. Reil spricht in dieser Passage drei Aspekte an: Erstens die Person, die in zwei Rollen unterteilt wird, ohne dass ihr das bewusst ist, zweitens das Theater als Wirkungs- und Darstellungsort dieser Person und drittens die Zuschauer, die in die

616 Vgl. Jessing: Musikalische Therapeutik?, S. 217–221. Jessing bezieht sich allerdings auf die Beispiele der frühaufklärerischen Hypochonderkomödien, in der eine ‚Normalisierung‘ durch den Verstand erreicht werde. 617 Reil: Rhapsodieen, S. 237. 618 Reil: Rhapsodieen, S. 246:

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Zweiteilung keine Einsicht haben und daher irritiert sein müssen. Dramatische Texte können dieses Konzept von Krankheit aufgrund ihrer Rollenstruktur inszenieren und fiktionalisieren. Verdopplungsfiguren finden sich sowohl im Torquato Tasso als auch im Prinz Friedrich von Homburg. Sie bleiben in letzterem unbewusst und werden zu einem komplexen Leiden ausgebaut, das die Figur fragmentarisch werden lässt, sie in Konflikt mit den anderen Figuren bringt und die Funktionen der Dramensprache beeinflusst. Anders als in den zuvor angesprochenen Theatermodellen Reils, nach denen die Leidensfiguren tatsächlich visualisiert werden, bleibt das Leiden im Inneren der Figur, und der Zuschauer sieht nur eine Figur auf der Bühne. Während Tasso seine Leiden ebenso wie seine dichterische Inspirationen sprachlich artikulieren kann und gerade über die extreme Ausreizung der expressiven Funktion der Dramensprache eine pathologische Wirkung impliziert wird, bleiben beim Prinzen von Homburg die Zeichen ambivalent, die auf das Innere verweisen. Da sich die Person selbst der Rollendopplungen nicht bewusst wird, das Leiden also nicht artikulieren kann, werden diese in gewisser Hinsicht von den anderen Figuren auf der Bühne und dem Zuschauer überhaupt erst mitkonstruiert. Zuletzt kann die Rolle selbst Krankheit hervorrufen, wie an den Auseinandersetzungen mit den Bühnenleiden (siehe Kap. 5.1) gezeigt werden konnte. Dies gilt sowohl für den Zuschauer, der sich durch das Spiel des Schauspielers ‚ansteckt‘, als auch für den Schauspieler, der nicht mehr zwischen seiner eigenen Person und der Rolle/Figur unterscheiden kann, und dessen seelische und körperliche Gesundheit durch die Übersetzung der dramatischen Leiden und Leidenschaften angegriffen wird. Der Bezug zur Rolle zeigt, dass das Drama bereits durch seine Form ein bestimmtes Wissen von Krankheit thematisieren und deren Wirkungen und Effekte vorführen kann. Durch die Herausstellung und Thematisierung dieser Form wird zugleich eine Art spezifisch dramatisch-theatrales Wissen vom Wissen über Krankheit sichtbar. Somit nehmen die literarischen Texte nicht nur das Thema Krankheit auf, sondern produzieren selbst Wissen von Krankheit.

6 Fazit „Illness is the night-side of life, a more onerous citizenship. Everyone who is born holds a dual citizenship in the kingdom of the well and in the kingdom of the sick.”1 Mit diesem metaphernreichen Vergleich beginnt Susan Sontag ihre kritische Auseinandersetzung mit der Metaphorisierung von Krankheiten in ihrem Essay Illness as a metaphor (1977). Der Ausgangspunkt ihres Essays, dessen Vehemenz Sontag später selbst mit ihrer eigenen Krebserkrankung begründet, ist die Forderung, Krankheit frei von metaphorischen Denkweisen zu betrachten: „My point is that illness is not a metaphor, and that the most truthful way of regarding illness […] is one most purfied of, most resistant to, metaphoric thinking.“ 2 Der Essay endet mit der Hoffnung, dass metaphorisches Sprechen über Krebs mit zunehmendem medizinischen Wissen abnehmen wird: „It is, of course, likely that the language about cancer will evolve in the coming years. It must change decisevely, when the disease is finally understood and the rate of cure becomes higher.“ 3 Sontags Forderung erscheint vor dem Hintergrund verschiedener Forschungsperspektiven der letzten Jahrzehnte, in denen die kulturelle Kodierung von Körper und Krankheit herausgestellt wurde, einseitig szientistisch. Dennoch zeigen ihre Analysen und ihr berechtigter Verweis auf die Auswirkungen, die metaphorische und narrative Ausgestaltungen von Krankheit für das kranke Individuum, die Therapie und die Bewertung durch die Gesellschaft haben können, dass das Verständnis und die Analyse der sprachlich-rhetorischen Dimensionen bei der Produktion und Rezeption von Wissen über Krankheit zentral ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Medizin aus gattungsspezifischer Perspektive ermöglichte es, solche ‚Sprachen des Leidens‘ zu fokussieren, das heißt zu untersuchen, wie Krankheit metaphorisch, rhetorisch, narrativ und dramatisch her- und dargestellt wird. Die Analysen haben dabei deutlich gemacht, dass die ‚Sprachen des Leidens‘ um 1800 durch die Gattungs- und Diskurswahl auf komplexe Art und Weise bestimmt werden. Die Textauswahl der vorliegenden Arbeit umfasst ein breites Spektrum der Gattungen um 1800. Zukünftige Ausweitungen des Untersuchungsfokus sind sowohl auf weitere Texte in der Zeit um 1800 als auch auf weitere Gattungen denkbar. Die gattungsspezifische Fragestellung kann zudem auf andere Zeitabschnitte ausgeweitet und eine Gattung oder eine Krankheit in verschiedenen Gattungen in diachroner Perspektive untersucht werden. Hierbei ist auch die Frage nach dem Ver-

1 Susan Sontag: Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors. New York 2001, S. 3. 2 Sontag: Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors, S. 3. 3 Sontag: Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors, S. 86. In ihrem Essay AIDS and Its Metaphors schwächt Sontag ihre Forderung eines metaphernfreien Sprechens ab. Ein Denken ohne Metaphern sei nicht möglich, dennoch sei es gerade deshalb so wichtig, diese zu analysieren (vgl. Sontag: Illness and Metapher and AIDS and Its Metaphors, S. 93).

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hältnis von Diskurs und Gattung zu beachten.4 Beide organisieren und kontrollieren das Reden und Schreiben über Wissensinhalte. Beispiele – wie die kritischen Reaktionen auf Kleists Darstellung eines nervenkranken Dramenheldes – zeigen jedoch, dass sie nicht eins zu eins zu setzen sind. Durch die Interpretation einer Vielzahl unterschiedlicher Texte aus gattungsspezifischer Perspektive hat diese Studie Zusammenhänge von Gattung und dargestellter Krankheit auf verschiedenen Ebenen zeigen können. Literaturwissenschaftliche Kategorien wie ‚Gattung‘, ‚Werk‘ oder auch ‚Autor‘ sind in der Vergangenheit mit Skepsis behandelt und kritisch hinterfragt worden.5 Durch die gattungsspezifische Fragestellung konnte in dieser Studie die ‚Gattung‘ hingegen für aktuelle interdisziplinäre wissenshistorische und -poetologische Fragen fruchtbar und anwendbar gemacht werden. Der Bezug zur Gattung und die daraus resultierenden textnahen Analysen ermöglichen es, ästhetische, rhetorische und formale Aspekte der Krankheitsdarstellung zu untersuchen und tatsächlich die Frage nach dem wie der Repräsentation zu stellen. Wissenspoetologische Fragestellungen können so konkretisiert werden und die Frage nach Medizin und Literatur jenseits von unterschiedlichen Modellen thematischer Beeinflussung fokussiert werden. Anhand der Untersuchungen ließen sich die in der Einleitung skizzierten, vier Funktionszusammenhänge herausarbeiten. Diese überschneiden sich untereinander, ermöglichen es aber Dimensionen der gattungsspezifischen Perspektive zu fassen. Dazu gehören erstens die gegenseitige Beeinflussung von Form und Inhalt der Gattung, zweitens die Verwendung der Gattung als wissensprogrammatische Kategorie, drittens der Zusammenhang von Gattung und Rezeption und viertens die Frage nach gattungsspezifischen Schreibweisen, die gattungs- und diskursübergreifend wirksam sein können. In jedem dieser Funktionszusammenhänge wird das Gattungswissen genutzt, das durch Poetiken und Lexika, durch Produktions- und Rezeptionstraditionen sowie durch Assoziationen und außtertextuelle Referenzrahmen zur Verfügung steht, aber möglicherweise auch verändert wird. Im Zentrum der Untersuchungen stand die erste genannte Annahme, dass es zwischen Form und Inhalt der Gattung enge Wechselbezüge gibt. Die Diskurs- und Gattungswahl legt bereits bestimmte formale, strukturelle, narrative und rhetorische Darstellungsweisen sowie inhaltliche Entscheidungen nahe. Gleichzeitig kennzeichnen bestimmte Krankheiten bestimmte Gattungen, und neue Krankheitskonzepte können mit veränderten Darstellungsparadigmen einzelner Gattungen verknüpft werden. Anhand der Gattungen Fragment und Rhapsodie (siehe Kap. 2) konnte gezeigt werden, dass die inhärenten Teil-Ganze-Semantiken und die rhapsodische Kompilationslogik auch die Bildlichkeiten und Konstruktionen der dargestellten Krankheiten kennzeichnen, die als Auseinanderfallen eines Systemganzen konzipiert

4 Vgl. auch: Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 9 f. 5 Vgl. Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung: Gattungs-Wissen, S. 9 f.

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werden. Ebenso konnte die ‚Vorläufigkeit‘, die als dominierendes Wahrnehmungsmuster der Gattungen herausgearbeitet wurde, als eine Rhetorik der Vorläufigkeit auf der Wortebene entsprechend identifiziert werden. Zu ihr gehören die Aufzählung von Symptomen, die in verschiedenen Konstellationen zusammengesetzt werden, die Beteuerung der eigenen Unwissenheit und die Kompilation des Wissens aus verschiedenen Quellen. Im 3. Kapitel Fallleiden wurde deutlich, wie die Gattung Krankengeschichte, die der Medizin seit der Antike zur Verfügung steht, die kontingente, individuelle Krankheitsgeschichte in ein bestimmtes Wahrnehmungsraster einordnet und sie somit auf spezifische Art sichtbar macht. Durch die Personaltopik und die tagebuchartige Dokumentation, die zu der Organisationsstruktur der Gattung gehören, wird eine Beobachtungsperspektive etabliert, mit der alle Zeichen und Symptome gesehen und in Bezug zueinander gesetzt werden, so dass aus der individuellen Leidensgeschichte das Ganze einer Krankheitsgeschichte entsteht. Die Analysen von Fallbeschreibungen aus Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zeigen, dass die tradierte Gattung Krankengeschichte in den neuentstehenden Bereich der psychologischen Fallgeschichte übertragen wird und dort dazu beiträgt, pathologische Phänomene zu strukturieren. Durch dieses Muster werden zugleich bestimmte seelische Zustände bereits als pathologisch gekennzeichnet, indem durch die Gattung eine bekannte Wahrnehmung etabliert wird. Gleichzeitig wird die Gattung durch die Thematisierung psychischer Krankheiten aber verändert, denn deren Darstellung resultiert in anderen Erzählsituationen. Moritz formuliert zur Erforschung der Seele die Selbstbeobachtung als ideales Mittel, wobei der Ich-Erzähler in der Lage sein muss, Distanz zu seinem kranken Inneren aufzubauen. Auch ‚unmittelbare‘ textuelle Äußerungsweisen von seelischer Krankheit – wie beispielsweise die Lebensgeschichte des Hypochonders Adam Bernd – können zum Thema der psychologischen Fallgeschichte werden. Dadurch gewinnen andere Textebenen wie Vorworte, Fußnoten oder Kommentare eine stärkere Bedeutung, da in ihnen die Stimme des psychisch Kranken als pathologisch markiert wird. In den magnetischen Fallgeschichten führen hingegen eine veränderte Haltung gegenüber Krankheit und die Nobilitierung der magnetischen Zustände zu einer deutlich stärkeren Gewichtung der Patientinnenperspektive, die zur Entwicklung theoretischer Annahmen genutzt wird. In den Erzählten Leiden (siehe Kap. 4) wird die Wahrnehmung von Krankheit mit Aspekten der Erzählstimme und -haltung verknüpft, durch welche die ‚realen‘ Begrenzungen der Beobachtung des kranken Inneren, an denen die Fallgeschichten sich abarbeiten, potentiell wegfallen. Erzählliteratur hat aufgrund der Stimme und des Modus narrativer Vermittlung privilegierte Möglichkeiten, das kranke Innere zu narrativieren. Der Erzähler in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen berichtet vom Wahnsinn aus ‚sicherer‘ Distanz und imitiert dabei Strategien der psychologischen Fallgeschichte. Es wird ein Panorama verschiedener Wahnsinnsfälle kreiert, die kausalgenetisch dargestellt und erklärt werden. Der Erzähler in Jean

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Fazit

Pauls Leben des Quintus Fixlein ist ebenfalls sehr präsent. Während er das Innere der leidenden weiblichen Figur nicht darstellt, sondern nur seine eigenen Projektionen versprachlicht, gestaltet er das fiebrige und wahnsinnige Innere der Hauptfigur erzählerisch. Die metaphorischen Exzesse und hyperbolischen Leidensbilder von abgeschlagenen Köpfen, Wunden und blutigen Seelen kontrastieren mit der Gattung Idylle und spielen mit den Erwartungen des Rezipienten. Die Wechsel von pathosgeladenen Leidensdarstellungen und humoristischer Nüchternheit stellen die Krankheit zugleich als sprachlich gemachte heraus. Der Erzähler in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels ist der kranke Protagonist selbst. Anstelle eines Panoramas ermöglicht die Erzählhaltung hier eine Innensicht des Wahnsinns, die jedoch zugleich von Unsicherheit und fehlerhafter Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Medardus’ Narration des Wahnsinns ist eine Bußübung, die das Erlebte wiederholt. Anhand der drei Texte wird deutlich, dass sich die Darstellungsweise des pathologischen Inneren um 1800 verändert, was mit neuen literarischen Ausdruckformen einhergeht. Während Spieß’ Erzähler den Wahnsinn erzählerisch unter Kontrolle bringt, ist die Erzählperspektive in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels sehr viel unmittelbarer, was einerseits zu größerer Nähe zu der pathologischen Wahrnehmung, anderseits aber zu fragmentarischen und unsicheren Einsichten führt. Die Themen der zeitgenössischen Medizin werden nicht ‚nur‘ aufgegriffen, sondern korrespondieren auch mit neuen Darstellungs- und Organisationsformen der Narration. Daran wird deutlich, dass Literatur und Medizin an einer gemeinsamen Wissenskultur partizipieren, Literatur aber auch bewusst andere Aspekte dieses Wissens artikulieren kann. Auch in den Dramen wird die Darstellung von Krankheit mit Fragen der Wahrnehmung verknüpft (siehe Kap. 5). Über die Rollenstruktur des Dramas werden Fragen gestörter Selbst- und Fremdwahrnehmung behandelt und dargestellt. Krankheit ist in der Komödie eine funktional andere als in der Tragödie, da sie lächerlich wirken muss. Vor diesem Hintergrund wird die Krankheit Hypochondrie fest mit der Komödie verbunden. Dabei konnten die Analysen zeigen, dass weder ‚Neuerungen‘ der Krankheitskonzeption noch der Gattung aufgenommen werden. Der Hypochonder auf der Bühne bleibt ein lächerlicher Typus, der verlacht werden soll, während die Hypochondrie in narrativen Texten und Ego-Dokumenten für Empfindsamkeit steht und zum Beispiel als Krankheit der Adoleszenz inszeniert wird. Gleichzeitig aber hat die Komödie selbst die Struktur einer Kur. Durch sie kann die Lächerlichkeit der Krankheit ‚veräußerlicht‘ und somit bewusst gemacht werden. Anders als in den analysierten Komödien werden in den Texten von Goethe und Kleist aktuelle Themen des medizinischen Diskurses thematisiert. Im Torquato Tasso werden diese mit dem alten Topos des Dichterwahnsinns verknüpft. Kleist thematisiert mit Somnambulismus und Magnetismus Themen der Nervenpathologie. Die Krankheit beeinflusst die Form von Kleists Prinz Friedrich von Homburg, indem die Einheit der Figur fragmentiert wird und sowohl die Funktionen der dra-

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matischen Sprache als auch die Körperzeichen fragwürdig werden. Das Gattungswissen wird somit durch die Darstellung der Leiden verändert. Die komplexe Informationsstruktur, die dabei herausgearbeitet wurde, macht die fehlende Selbsterkenntnis des Helden deutlich und bezieht die Zuschauerperspektive geschickt in die Konstruktion von Krankheit ein. Dramatische Texte stehen vor der Herausforderung, ein inneres Leiden, dass sich dem Bewusstsein der Figur selbst entzieht und somit nur begrenzt verbal artikulierbar ist, mit den Mitteln des Dramas darzustellen. Während dieses Problem in den spätaufklärerischen Dramendiskussionen durch die Konzeption eines semiotischen Schauspielerkörpers gelöst wird, verschiebt Goethe im Torquato Tasso alles Leiden auf die Sprachebene. In Kleists Prinz Friedrich von Homburg hingegen bleiben sowohl die Körper- als auch die Sprachzeichen uneindeutig. Wie bei den narrativen Gattungen werden somit anhand der Dramenanalysen unterschiedliche ästhetische Darstellungsparadigmen um 1800 deutlich. Der Vergleich der Krankheitsdarstellung in der Erzählliteratur und den Dramen zeigt, dass narrative Gattungen mehr Möglichkeiten haben, das leidende Innere über Erzählmodus und -stimme wahrnehmbar zu machen. Anhand der analysierten narrativen Texte wurden unterschiedliche Möglichkeiten der erzählerischen Distanz und Fokalisierung aufgezeigt, mit denen der Wahnsinn um 1800 erzählt wird. Insbesondere die Ich-Perspektive in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels ermöglicht einen scheinbar unmittelbaren Zugang zum kranken Inneren, was allerdings gleichzeitig in einer unsicheren und limitierten Wahrnehmung resultiert. Während der Leser in die Perspektive der Hauptfigur einbezogen wird, bleibt Kleists Prinz Friedrich von Homburg dem Zuschauer und sich selbst über weite Strecken ein Rätsel, ein „Unbegreiflicher“ 6. Am Ende ist der Zuschauer informierter als der Prinz selbst. Gerade die Stellen, wo auch die Die Elixiere des Teufels keine sichere Aufklärung über Medardus’ Inneres zulassen, werden interessanterweise mit dramatisch-theatralischen Inszenierungsformen dargestellt. Gattungsspezifische Unterschiede lassen sich auch in Hinblick auf den Einbezug und die stilistische Darstellung des leidenden Körpers feststellen. Der kranke Körper wird aus dem Drama aufgrund wirkungsästhetischer Paradigmen ausgeschlossen – trotz der unmittelbaren Präsenz des Schauspielerkörpers auf der Bühne und der Annahmen pathognomischer Diskurse (siehe Kap. 5.1). Ausnahme sind wenige Beispiele von verstümmelten oder verwundeten Körpern, die im Kontext des Geschehens funktionalisiert werden. Die Körperdarstellung in der Krankengeschichte wird hingegen mit einer starken Rhetorik des Ekels versprachlicht (siehe Kap. 3.1). Die verwendeten Bilder und Analogien machen die Beobachtung des kranken und insbesondere des toten Körpers zum einen an Alltagserfahrungen anschließbar und evozieren zum anderen Fäulnis, Korruption und Gestank.

6 Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, S. 689.

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An der Kategorie des Ekels zeigt sich somit, wie der Diskurs die Inszenierung von Leiden bestimmt. Während Ekel als dramenästhetische Wirkungskategorie ausgeschlossen wird, wird in den medizinischen Fallgeschichten über ekelhafte Beschreibungen des Körpers der Eindruck von Authentizität vermittelt und der eigene Anspruch empirischer Beobachtung rhetorisch umgesetzt. Die Darstellung des kranken Körpers im Drama wird aufgrund der durch die visuelle Unmittelbarkeit ausgelösten Sympathie problematisiert. Während die aristotelische Poetik den leidenden Körper nicht von der Bühne verbannt, findet sich diese Beschränkung der Unmittelbarkeit bereits bei Horaz, der bestimmte Stoffe als ungeeignet für die Bühne erklärt.7 In den Berichten von Leichenöffnungen wird hingegen gerade versucht, die sprachliche Medialität zu überwinden und durch eindrückliche Bilder einen vermeintlich unmittelbaren Zugang zum geöffneten Körper zu ermöglichen. Beispiele ‚ekelhafter‘ Körperdarstellung in den psychologischen und magnetischen Krankengeschichten legen nahe, dass diese Darstellungsstrategien als Merkmale der fallbasierten Krankheitsdarstellung transportiert werden. Der leidende Körper wird in den Komödien und im Torquato Tasso hingegen in die Figurensprache verschoben (siehe Kap. 5.2.2 und 5.3.1). Tassos Rede ist durchzogen mit Bildern der Säftelehre, mit denen er seine Empfindungen darstellt. Der vermeintlich umfassend leidende Körper der Hypochonder entsteht ebenfalls nur auf der Wortebene (siehe Kap. 5.2.2). Auch in der Erzählliteratur werden überwiegend psychische Krankheiten dargestellt (siehe Kap. 4). Der kranke Körper wird in diese Darstellungen aber stärker als im Drama mit einbezogen. Die Bedeutung, die sowohl Lessing als auch Herder in ihren Auseinandersetzungen mit dem leidenden Philoktet dem Chor beimessen, zeigt, dass dem Narrativen hier andere Vermittlungsoptionen zugeschrieben werden (siehe Kap. 5.1.1). Bereits Horaz differenziert zwischen dem was „auf der Bühne vollbracht“ wird und dem Bericht über „Vollbrachtes“ 8 und emfpiehlt für bestimmte ‚grausame‘ Themen die erzählerische Darstellung. Die fehlende Unmittelbarkeit der Erzählliteratur ermöglicht es, den leidenden Körper zu erzählen und in seinem funktionalen Kontext darzustellen. Beispiele hierfür sind die Krebserkrankungen in Spieß’ Texten, die Wunden und Nervenfieber bei Fixlein und die zuckenden Nerven sowie der gemarterte Körper bei Medardus. Die Beispiele zeigen jedoch, dass die körperlichen Leiden auf seelische bezogen bleiben: Die Frauen bei Spieß erkranken aus Kummer an Krebs, Fixleins Nervenfieber erweitert sich zum furiosen Rundgang durch seine blutige Seele und Medardus’ Selbstmarter ist der Versuch, seelische Leiden in körperliche Schmerzen zu transformieren. Es gibt permanente Rückkoppelungen von seelischer und körperlicher Krankheit. Die kranke Seele wird in Analogie zum kranken Körper entworfen und durch die Sprache vom leidenden Körper wahrnehmbar gemacht.

7 Vgl. Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (Z. 180–188). 8 Horaz: Über die Dichtkunst, S. 641 (Z. 180).

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Die Bereiche des Körpergeschehens, auf die sich die Texte beziehen, wiederholen sich dabei; es sind immer wieder Herz, Blut und Blutkreislauf, Nerven und Nervenfibern oder -flüssigkeiten, Schmerzen, Säfte und das Gehirn als zentrales Wahrnehmungsorgan. Insgesamt lässt sich über die einzelnen Texte hinweg eine Austauschbarkeit und Formelhaftigkeit der Körper- und Krankheitsdarstellungen erkennen. Dabei wiederholen sich auch bestimmte Metaphern und Ausdrucksformen: Schmerz kann als langsames ‚Gegessenwerden‘, der bei Spieß in Krebserkrankungen überführt wird, oder durch Figuren des ‚Zerschneidens‘ und ‚Durchzuckens‘ dargestellt werden. Damit sind schon die Elektrizitäts-, Feuer- und Blitzmetaphern angesprochen, die zum Beispiel den beginnenden Wahnsinn einleiten. Während diese insbesondere Jean Pauls und Hoffmanns Texte kennzeichnen, finden sich daneben bei Spieß auch mechanische Körpervorstellungen. Die Konstanz humoralpathologischer Bildfelder in den Gattungen aller Diskurse zeigt die Validität bestimmter metaphorischer Vorstellungen und Konzepte, welche die Wahrnehmung von Krankheit über die ‚wissenschaftliche‘ Aktualität bestimmter Theorien hinaus bestimmen und ordnen. Körperliche Leidensbilder werden bei Jean Paul und Hoffmann mit einer gewissen Drastik dargestellt, die sich bei Hoffmann zu Ansätzen einer Ästhetik des Hässlichen entwickelt.9 Hier wird eine Auflösung des dichterischen Schmerz- und Krankheitsverzichts und damit neue Möglichkeiten der Leidensdarstellung in der Romantik gegenüber der Aufklärung und Klassik erkennbar. Die Berschränkungen der Darstellung, die anhand von Herders, Lessings und Mendelssohns ästhetischen Überlegungen skizziert wurden, werden nicht mehr mitgetragen. Entsprechend ist auch festzustellen, dass das implizite Verbot, Zustände der Raserei zu erzählen, das in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen feststellbar ist, ebenfalls abgeschwächt wird. Die Wahl der Gattung determiniert somit die Art, wie Krankheit dargestellt wird. Sie signalisiert zudem dem Rezipienten, wie er den Inhalt zu lesen und zu verstehen hat. Auf dieser Signalwirkung der Gattung beruht der zweite Funktionszusammenhang der Gattung als wissensprogrammatische Kategorie. Diese Funktion wurde insbesondere für Texte im medizinischen Diskurs festgestellt (siehe Kap. 2). Die Gattung wird zur rhetorischen Strategie, um das Wissen von Krankheit als vorläufige Anordnung zu etablieren und so dominante zeitgenössische wissenstheoretische Verständnisse auszudrücken. Das Fragment und das Bruchstück kennzeichnen die Krankheitsbeschreibungen als Teil eines Ganzen. Dieses Ganze wird vorsprachlich als natürliche Krankheitseinheit und zukünftig als sprachlich artikulierte Wissensordnung verstanden. Die Gattung markiert somit einen limitierten Anspruch; sie ist Teil des Übergangs zu einer festen Wissensordnung. Die Semantik und Tradition der Rhapsodie impliziert ebenfalls das Zusammenführen von unterschiedlichen Teilen zu etwas Ganzem. Diesem Gat-

9 Vgl. Stumpp: Sprache des Schmerzes, S. 121.

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tungswissen entsprechend wird das Wissen aus heterogenen Quellen zusammengefügt. Zudem lenkt die Inspirationstopik, die zur Rhapsodie gehört, den Fokus auf die Tätigkeit des Arztes, der als Genie stilisiert wird. Der Versuch vereint philosophische Schreibweisen mit naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen und ermöglicht es, ein ‚Wissen auf Probe‘ zu formulieren, so dass forcierter als in den anderen Textgattungen der Übergang zu einer Theorie oder einem System angestrebt wird. Durch die Gattungswahl wird somit eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur von Krankheit, Mensch sowie Wissen etabliert und sprachlich ausgedrückt. Die Wahl literarisch‑poetischer Gattungen im medizinischen Diskurs zeigt ein spezifisch‑literarisches Wissen an, das in einer besonderen Form‑Inhalt‑Relation literarischer Texte begründet ist. Anders als Epik und Drama sind die untersuchten ‚vorläufigen‘ Gattungen kaum durch Poetiken spezifiziert, was es gerade ermöglicht, sie zur Artikulation von Umbrüchen und Veränderungen im Wissen über Krankheit zu nutzen. Ihre programmatisch‑rhetorische Funktion erhalten sie durch ihre Semantiken und Traditionen und die dadurch ausgelösten Assoziationen, die insgesamt das Gattungswissen konstituieren. Auch die Fall- oder Krankengeschichte (siehe Kap. 3) übernimmt epistemologische Funktionen, denn sie erscheint dazu geeignet, Fakten, Tatsachen oder Erfahrungen wiederzugeben und zu versprachlichen. Den Fallgeschichten liegt der Anspruch zugrunde, eine Beobachtung in Sprache zu übersetzen, was sich bis auf die Ebene der Wortwahl nachvollziehen lässt. Trotz der Ideale der empirischen Beobachtung naturgegebener Erfahrungen sowie des Sammelns von Tatsachen und Fakten sind die Fallbeschreibungen in unterschiedlichem Maße bereits auf übergeordnete Narrative und Theorien ausgerichtet. Die magnetischen Fallgeschichten zeigen dabei, dass je stärker dieser Bezug ist, die Rahmung der Fälle durch weitere Textdokumente wie Vor- und Nachworten oder Fußnoten eine stärkere Bedeutung erhält. Auf Grund der wissensprogrammatischen Funktion der in Kapitel 2 und 3 analysierten Gattungen können sie als „epistemische Genres“ 10 bezeichnet werden, die kognitiven Inhalten textuelle Formen zur Verfügung stellen. Die Gattungen ermöglichen „das Sammeln, Beschreiben und Anordnen von unverarbeitetem Erfahrungsmaterial“ 11 und werden genutzt, um Wissensinhalte als vorläufig und zukünftigen Transformationsprozessen unterworfen zu markieren. Der Einsatz der Gattung als wissensprogrammatische Kategorie und epistemologisches Reflexionsmittel hängt eng mit dem dritten Funktionszusammenhang von Gattung und Rezeption zusammen. Goethes und Schillers Briefwechsel ist geprägt von der Sorge, die falsche Gattung für einen bestimmten Stoff oder komplementär hierzu den falschen Stoff für eine bestimmte Gattung zu wählen. Sowohl der Produzent als auch der Rezipient beziehen sich auf ein der Gattung inhärentes

10 Pomata: Fälle mitteilen, S. 23. 11 Pomata: Fälle mitteilen, S. 24.

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Wissen. Dieses ist für literarische Gattungen stärker expliziert. Die Beispiele der Kritiken und Rezensionen zeigen, dass es die Art, wie Krankheitsdarstellungen in literarischen Texten bewertet wird, beeinflusst. Die Gattungswahl lenkt die Lesererwartungen, wie die Kritik von Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen zeigt: Krankheit in wahren Fällen, die moralisch nützlich erzählt wird, muss mit anderen Mitteln dargestellt werden als in fiktiver Unterhaltungsliteratur. Die starke Konventionalisierung des Gattungswissen des Dramas wird durch die Rezeption von Kleists Prinz Friedrich von Homburg unterstrichen: Der somnambule Prinz wird als ungeeignet für einen ‚klassischen‘ Dramenhelden abgelehnt. Auch Goethes Befürchtungen, dass die Ereignisse im Torquato Tasso sich zu sehr im Inneren abspielen und seine Kürzungen des Textes für die Bühnenfassung sowie Herders Beschränkungen der Schmerzdarstellung zeigen, wie die Aufführung, die mit der Gattung verknüpft ist, die Art von Krankheit und Darstellungsweise bestimmt. Insbesondere die Darstellungsoptionen der dramatischen Gattungen sind von Beschränkungen betroffen, die aus den rezeptions- und wirkungsästhetischen Paradigmen entstehen, die mit der Gattung verbunden sind. Am Beispiel von Hoffmanns Elixieren des Teufels wurde deutlich, wie die Kritiken des Romans den Lektüreprozess selbst als Krankheit beschreiben. Damit verlängern die Kritiker Themen der medialen Überschreitung, die in dem Text wiederholt Handlung verursachen, auf die Ebene der Rezeption. Krankheit und Lesen beruhen auf dem Prinzip einer unsichtbaren Überschreitung. Immer wieder finden sich sowohl in medizinisch-psychologischen als auch in literarischen Texten Figuren, die durch Lektüre erkranken. Vergleichbar kann die Darstellung dramatischer Figuren auf dem Theater beim Schauspieler Krankheit hervorrufen sowie der Besuch des Theaters krank machen. Hier geraten Aspekte des ‚Erzählens‘ und ‚Spielens‘ von Leiden in den Fokus, die mit dem Konzept der Schreibweisen erklärt werden können. Die formale Organisationsstruktur narrativer und dramatischer Gattungen wird selbst zur Vergegenwärtigung und Repräsentation zeitgenössischer Krankheits‑ und Gesundheitskonzepte verwendet. In der Einleitung war hierfür der Begriff der ‚Schreibweise‘ eingeführt worden, unter dem bestimmte Organisations-, Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen verstanden werden sollen, die dominant mit bestimmten Gattungen verknüpft sind. Es erwies sich als produktiv, sowohl das Narrative als auch das Dramatisch‑Theatrale mit zeitgenössischen psychologisch‑medizinischen Konzeptionen des Selbstbewusstseins und der Einbildungskraft in Verbindung zu setzen. Die kohärenzbildende Ordnungsfunktion des Narrativen entfaltet vor dem skizzierten besonderen Bezug von Medizin und Literatur zum Zeichen und zur Interpretation von Zeichen ein besonderes Potential. Anhand der „Fragmente aus der Geschichte des Catharrhalfiebers“ (siehe Kap. 2.1.2) und den analysierten Krankengeschichten (siehe Kap. 3) wurde deutlich, dass das wahrnehmbare Ganze der

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Krankheit erst durch den Akt der Narration entsteht, ohne den nur einzelne Symptome ohne Zusammenhang untereinander aufgelistet werden können. In der Krankengeschichte erhält die Krankheit durch die Struktur der Gattung bereits einen Anfang, Verlauf und Ausgang und somit eine zeitliche und kausale Ordnung. Je weniger die Texte auf die Erstellung eines Ganzen und die Darstellung einer zeitlichen Ordnung zielen, je vorläufiger also ihre Krankheitsdarstellung ist, desto weniger stark ist das narrative Element. So liegt beispielsweise in dem „Bruchstück“ über die Bleichsucht der Fokus auf einzelnen Symptomkonfigurationen (Kap. 2.1.1). In den Krankengeschichten ist hingegen der zeitlich ordnende Aspekt des Narrativen zentral, wofür die Distanz zum Erzählten gegeben sein muss. Dies wird daran deutlich, dass sobald diese geringer wird – zum Beispiel durch die Verschriftlichung der eigenen letzten Krankheit durch R. (Kap. 3.2.2) – die Bedeutung ergänzender Textdokumente und damit Erzählebenen zunimmt. Das Narrative hat ein besonderes Potential, die semiologische Dimension von Krankheiten um 1800 zu verdeutlichen. Dies konnte in den Untersuchungen dadurch gezeigt werden, dass das Verhältnis von Erzählhaltung und -stimme zu zeitgenössischen Aspekten des ‚Selbstbewusstseins‘ und der Einbildungskraft in Verbindung mit einem semiotischen Wahnsinnsbegriff fokussiert wurde.12 Die Narration kann dabei zum einen stabilisierend wirken, zum anderen aber auch selbst pathologische Wirkungen entfalten. Das Narrative kann ähnliche Funktionen wie das ‚Selbstbewusstsein‘ übernehmen, wenn es Geschehnisse in ihre kausalen, temporalen und räumlichen Zusammenhänge bringt. Das gelingt in Spieß’ Biographien der Wahnsinnigen, in denen der Erzähler die Rede der Wahnsinnigen unter Kontrolle bringt (siehe Kap. 4.1). In Jean Pauls Leben des Quintus Fixlein wird die Heilung durch die Drohung bewirkt, die Erzählung von Fixleins Leben zu löschen (siehe Kap. 4.2). In Hoffmanns Die Elixiere des Teufels funktioniert die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte als Medardus’ Buße (siehe Kap. 4.3). Zugleich wird das Gelingen der narrativen Ordnungsleistung jedoch fragwürdig: Die Narration bietet keinen festen Halt mehr. Anstelle von Kohärenz entstehen immer neue Erzählebenen, welche die Desintegration der personalen Einheit unterstreichen. Dies ist besonders interessant, da auch in den Fallgeschichten weitere Textebenen ergänzt werden, je unmittelbarer die Stimme des Kranken integriert wird. Während das pathologische Innere so unter die Kontrolle des psychologischen Diskurses gebracht werden soll, wird die Möglichkeit der Kontrolle in den Elixieren des Teufels zunehmend fragwürdig. Neben der Ordnungsleistung des ‚Selbstbewusstseins‘ kann das Narrative somit in Bezug zur Einbildungskraft und ihrer zeichenproduzierenden Wirkungsweise gesetzt werden, durch die immer neue Erzählungen entstehen. Wenn diese mit der ‚Realität‘ verwechselt werden, wird das Narrative selbst pathologisch. In den Erzähltexten wird dieses wahrnehmungspsychologische Auseinanderfallen über

12 Vgl. Kohns: Verrücktheit des Sinns.

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Aspekte der Narration inszeniert. Insbesondere in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels wird dies auf der Textebene nachvollzogen, so dass Krankheit gleichzeitig zur poetologischen Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten der Erzählliteratur in den Texten herangezogen wird. Die Organisationsstruktur narrativer Gattungen kann also mit zeitgenössischen psychologischen Konzepten und Bewusstseinsdebatten verknüpft werden. Das Narrative als Schreibweise ist geeignet, das vieldiskutierte Innere darzustellen. Die Erzählliteratur kann dabei gleichzeitig den Fokus auf die Darstellungs- und Repräsentationsebene lenken und ein Bewusstsein für die Funktionen des Narrativen exponieren. Dazu passt, dass alle drei Wahnsinnserzählungen auch Erzählungen über das Erzählen selbst sind. In den Texten von Spieß und Hoffmann werden auch dramatische Organisationsformen genutzt. Die Verwendung einer dramatischen Dialogform in den Biographien der Wahnsinnigen hat dabei unterschiedliche Funktionen und muss nicht mit der Krankheitsdarstellung zusammenhängen. Nur in den Erzählungen, in denen die Erzählhaltung unmittelbar ist, dienen sie der Artikulation der fixen Ideen der wahnsinnigen Figur. Die dramatischen Elemente bleiben hier eindeutig als solche gekennzeichnet. Bei Hoffmann wird das Dramatisch-Theatrale hingegen in den narrativen Text integriert und damit durch die externe und interne Aufteilung der Hauptfigur in immer neue Rollen ein bestimmter Aspekt psychischer Pathologie formal inszeniert (Kap. 4.3). Dies resultiert in einer szenischen Erzählweise, in welcher der Ich-Erzähler sich selbst beobachtet. Diese Form von Theatralität findet sowohl als Rollenmetapher aber auch als Methode, die pathologischen Wahrnehmungsstörungen von Medardus darzustellen, Eingang in den narrativen Text. Medardus ist sich über seine Handlungen oft im Unklaren und auf die externe Perspektive anderer Figuren angewiesen. Die narrative Vermittlung wird stark zurückgenommen und die Erzählweise der dramatischen Unmittelbarkeit angenähert. Durch die Rollenstruktur des Dramas und die daraus resultierenden Beobachtungsperspektiven können Aspekte psychischer Krankheit dargestellt werden. Auch Moritz beschreibt seine Idee der Selbstbeobachtung zur Erforschung der kranken Seele mit Theatermetaphern und integriert dadurch das Dramatische in die Fallgeschichten (Kap. 3.2). Der Selbstbeobachter sieht sich auf dem Theater und kann seine Handlungen aus der Zuschauerperspektive heraus erforschen. Während Moritz das pathologische Potential dieser Ich-Vervielfältigung nicht thematisiert, kommt es in Hoffmanns Text deutlich zum Tragen und wird zum handlungskonstitutiven Moment. Medardus sieht sich selbst, aber dies bedeutet keine Stabilität, sondern die Desintegration des eigenen Ichs in immer neue Rollen, Stimmen und Beobachterpositionen. Das Dramatisch-Theatrale hat also das Potential, bestimmte Aspekte von Krankheit zu verdeutlichen. Die Rollenstruktur und die Beobachtungssituation des Theaters werden genutzt, um das Zerfallen der personalen Einheit während (psy-

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chischer) Krankheit gleichsam ‚vor-Augen-zu-stellen‘. Dieses Darstellungspotential des Dramatisch-Theatralen lässt sich auch anhand der schauspieltheoretischen Debatten, ob der Schauspieler sich mit der Rolle identifizieren solle, sowie an dem an diese Diskurse anknüpfbaren Text „Ueber die Heilart der Schauspieler Krankheiten“ von Mai (Kap. 5.1.2) identifizieren. Das Gespielte Leiden bedroht das Individuum, wenn dieses sich im Spiel verliert und nicht mehr zwischen Rolle und Selbst unterscheiden kann. Auch Reil und Eschenmayer benutzen zur Etablierung ihrer psychopathologischen Konzepte Theater- und Bühnenmetaphern (siehe Kap. 2.2 und 2.3.2). Im Individuum werden mehrere Rollen angelegt, was unproblematisch ist, solange dafür ein Bewusstsein besteht. Bei Krankheit geht jedoch die integrierende Funktion des ‚Selbstbewusstseins‘ verloren. Die sozialen Folgen davon verdeutlicht Reil mit einer Bühnenmetapher; das Ich ist sich nicht bewusst, dass es mehrere Rollen spielt, was es in Konflikt mit den Mitspielern bringt. Reil und Eschenmayer greifen auf das Wissenspotential des Theatralen und der Organisationsstruktur des Dramas zurück, um die pathologische Desintegration der Psyche in mehrere Ichs in verschiedenen pathologischen Zuständen zu erklären. Auch in Goethes Torquato Tasso (Kap. 5.3) und in Kleists Prinz Friedrich von Homburg (Kap. 5.4) entsteht die Pathologie der Figuren durch das Zusammenspiel der Figurenperspektiven und dem Einbezug der Zuschauer. Homburg gerät mit sich selbst in Konflikt und spielt, ohne es zu wissen, mehrere Rollen, durch welche die dramatische Figur fragmentarisch wird. Der Zuschauer wird durch die dramenspezifische Informationsvergabe in die Konstruktion von Krankheit einbezogen. Die Bühnenmetaphorik in den medizinischen Texten und die dramatisch-theatrale Darstellungsweise in den narrativen Texten lassen strukturelle Interferenzen zwischen den medizinischen und literarischen Behandlungen von Krankheit deutlich werden. Das Dramatisch-Theatrale ist als rhetorische Darstellungsstrategie geeignet, bestimmte Konzepte von Krankheit sprachlich umzusetzen und auch in andere Gattungen zu transportieren. Es kann den Zerfall der personalen, wahrnehmungspsychologischen Einheit im Krankheitsfall visualisieren und Krankheit als Produkt von Selbst- und Fremdwahrnehmung herausstellen. Die Schauspieler- und Bühnenmetaphern funktionieren in diesem Zusammenhang als Visualisierungsstrategie, die geeignet ist, die Auswirkungen von Krankheit, insbesondere die Auflösung des Ganzen, darzustellen. Gleichzeitig kann über die theatrale Visualisierung eine stabilisierende Wirkung erreicht werden. Die Aufspaltung in Zuschauer und Schauspieler kann – wie das Ideal von Moritz, die Überlegungen Reils zur Einrichtung von Theatern in Irrenhäusern oder die intendierte Heilung von Hypochondern durch Ammanns Stück zeigen – auch heilsam sein und zwar dann, wenn ein Bewusstsein für diese Aufspaltung besteht. Dann eignet sich das Theater als Modell für eine spezifische ‚Veräußerung‘, die das Leiden unter Kontrolle bringen soll. Dieses Potential ist insbesondere mit der Komödie verbunden, in der Beobachtungsvorgänge stark expliziert werden.

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Das Erzählte und das Gespielte Leiden können somit als interdiskursives Element Krankheitsdarstellungen anderer Gattungen kennzeichnen und bestimmte Aspekte von Krankheit in diesen wahrnehmbar machen. Die gattungsspezifische Schreibweise wird zur rhetorischen Strategie, um bestimmte Ursachen, Äußerungsweisen und Wirkungen von Krankheit zu modellieren und evident zu machen. Der Transport bestimmter inhaltlicher Aspekte in unterschiedliche Texte und Diskurse über literarische Form- und Organisationsweisen expliziert das literarische Wissenspotential, die metadiskursven Zusammenhänge von Wissen und formaler, rhetorischer Gestaltung herauszustellen und zu reflektieren. Sontags Metapher von den zwei Staatsbürgerschaften impliziert eine klare Trennung zwischen Krankheit und Gesundheit. Noch deutlicher trennt die Gesundheitsdefinition der WHO: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ 13 Während diese Definition es als fraglich erscheinen lässt, ob es überhaupt Zustände von Gesundheit gibt, die über Momentaufnahmen hinausgehen, erscheint Gesundheit in den Texten um 1800 als eine Verfassung des idealen Maßes und der Mitte. 1833 erscheint in Hufelands Journal, Carl Vogels Beschreibung der „letzte[n] Krankheit Goethes“. Den Regeln der Gattung Krankengeschichte gemäß beschreibt Vogel das Aufstoßen, den Stuhlgang, das Schwitzen und den Urin des berühmten Patienten. In seiner Nachschrift fügt Hufeland der Krankheitsdarstellung eine Beschreibung des gesunden Goethes bei. Das Vereinzelte der Symptomreihungen und Tag-für-Tag-Dokumentationen der Krankengeschichte wird dadurch nachträglich am ‚Ganzen‘ der Biographie des Kranken ausgerichtet. Der dargestellten Körperlichkeit Goethes wird so ein Bedeutungsüberschuss eingeschrieben, indem sie trotz aller Leiden auf die Außergewöhnlichkeit des Kranken verweist. Das Kasuistische wird dadurch verdoppelt: Die Krankengeschichte stellt nicht mehr nur einen Fall von Krankheit dar, sondern überschreitet das Partikuläre und Kontingente der Krankheit auf ein biographisches Sinnganzes hin:14 Es ist mir nie ein Mensch vorgekommen, welcher zu gleicher Zeit körperlich und geistig in so hohem Grade vom Himmel begabt gewesen wäre, und auf diese Weise in der That das Bild des vollkommensten Menschen darstellte. Aber nicht bloss die Kraft war zu bewundern, die bei ihm in so ausserordentlichem Grade Leib und Seele erfüllte, sondern mehr noch das herrliche Gleichgewicht, was sich sowohl über die physischen als geistigen Funktionen ausbreitete, und die schöne Eintracht, in welcher beide vereinigt war, so dass keines, wie so oft geschieht, auf Kosten des andern lebte, oder es störete. Man kann mit Wahrheit sagen, dass dieses hauptsächlich seinen Geist auszeichnete, dass alle Geisteskäftte in gleich hohem Grade und in der schönsten Harmonie vorhanden waren, und dass selbst die bei ihm so lebendige, so schöpferische, Phantasie durch die Herrschaft des Verstandes gemässigt und gezügelt wurde. Und eben

13 WHO: Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. New York 1946, S. 1. 14 Diese Strategie findet sich auch in der Darstellung von Ifflands Sterben: vgl. Formen: Iffland’s Krankengeschichte.

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dies gilt von dem Physischen; kein System, keine Funktion hatte das Uebergewicht; alle wirkten gleichsam zusammen zur Erhaltung eines schönen Gleichgewichts.15

Gesundheit ist ein Zustand, in dem sich verschiedene Einzelteile zu einem funktionierenden Ganzen zusammenfügen. Krankheit entsteht, wenn dieses Gleichgewicht verloren geht und ein Systemganzes in seine Einzelteile zerfällt. Sie entsteht aus einem Ungleichgewicht, sei es von Säften, von diätetischen Verhaltensweisen, von Reizen, Fluida, von Polaritäten, von Körper- und Seelenkräften oder Wahrnehmungen. Die Analysen der vorliegenden Studie haben dieses Auseinanderfallen von etwas ‚Ganzem‘ als übergeordnete Konzeption von Krankheit am Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert erkennbar werden lassen. Dieses Auseinanderfallen wird mit wahrnehmungspsychologischen Fragestellungen und somit mit den Themen Subjektivität und Individualität verbunden: Krankheit – so die Indikation von zahlreichen der analysierten Beispiele – bedeutet, dass das ‚Ich‘ zerfällt, zerfließt, zergliedert wird, sich verdoppelt oder seine Identität verwechselt. Figuren von Tiefe und Oberfläche oder Einzelnem und Ganzen strukturieren die Wahrnehmung und Sprache von Krankheit. Das Schreiben über Krankheit wird dementsprechend sowohl im medizinischen als auch im erfahrungsseelenkundlichen und literarisch-ästhetischen Bereich mit Sektionsmetaphern als Zergliedern beschrieben. Diese Spannung von Einzelnem und Ganzem lässt sich auch auf der Ebene der Instrumentarien zur Erforschung, Erkenntnis und Darstellung von Krankheit erkennen, sowohl als naturwissenschaftliche und anatomische Praktiken als auch auf der Ebene textlicher und gattungsspezifischer Darstellung.

15 Christoph Wilhelm Hufeland: Nachschrift: Die letzte Krankheit Goethes. In: Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarzneykunst. Bd. 76, 2. St., (1833), S. 31 f.

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Darstellungen

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Personenregister Ackermann, Carl Heinrich 127–128 Adler, Hans 8, 35 Adler, Jeremy 349 Aepli, Alexander 108, 115, 118, 123 Alber, Wolfgang 106 Alt, Peter-André 325 Amelung, Franz A. 53 Andree, Martin 35, 264, 278–279, 289–290, 348 Anz, Thomas 2 Apel, Friedmar 9 Aristoteles 9, 11, 57, 269–271, 285, 291, 298, 304, 325 Arnold, Antje 38, 198, 291, 351 Auhuber, Friedhelm 41, 231–232 Aumüller, Gerhard 140 Bachmann-Medick, Doris 4 Bachtin, Michaeil M. 284, 299 Bahr, Ehrhard 272, 325 Barkhoff, Jürgen 41, 89, 93, 162, 231–232, 251, 354, 360–361, 379, 381 Baumgarten, Alexander Gottlieb 8 Bayer-Schur, Barbara 231–232 Beck, Hansjürgen 46, 74 Beetz, Manfred 132 Behle, Carsten 210–211 Behler, Ernst 45 Benkowitz, Karl Friedrich 322 Bennholdt-Thomsen, Alfred 140 Benthien, Claudia 4, 26, 33, 116, 122, 128 Bergdolt, Klaus 37–38, 46, 86–87, 113, 177, 181 Bergengruen, Maximilian 217, 225 Berg, Gunhild 7, 18–19, 21, 23, 100, 172–174, 176, 180–181, 186, 188, 258 Bergson, Henri 299–300 Bernd, Adam 151, 154–156, 172, 302–303, 307, 311, 393 Bezold, Raimund 131 Bies, Michael 7, 16, 18–19, 21, 80, 392 Bilger, Stefan 152–153, 302–303, 305, 308, 314 Bilguer, Johann Ulrich 152–153 Birus, Henrik 16 Blamberger, Günther 273, 363, 379 Blanckenburg, Christian Friedrich von 32, 107, 171, 173–174, 184, 191

Blumenberg, Hans 29–30, 279 Bodmer, Johann Jakob 172 Boehm, Rudolf 273 Boerhaave, Hermann 111, 204–205, 226 Bölts, Stephanie 157 Bomhoff, Katrin 255 Bonsiepen, Wolfgang 82, 84, 88 Borchmeyer, Dieter 324, 327, 332–333, 337, 339, 345 Borgards, Roland 2, 5, 13, 20, 27, 80, 99, 115, 247, 274, 286–288, 356 Böschenstein, Renate 209–211 Bösmann, Holger 297 Böttiger, Karl August 274 Brandstetter, Gabriele 2, 255 Breitinger, Johann Jakob 172 Bremer 114–115, 123–125 Büchner, Andreas Elias 52, 111, 119 Büchner, Georg 106 Burwick, Frederic 237, 270, 278, 290, 327, 332–333, 344–346, 348, 350 Butler, Judith 26 Callisen, Adolph Carl Peter 52 Carpi, Jakobo Berengario da 128 Christians, Heiko 115, 247 Cox, Joseph 232 Cramer, Katrin 231, 234–235 Cullen, William 82, 302, 305, 317 Daemmrich, Horst S. 231, 234 Dangel-Pelloquin 41, 212–214, 224 Dante 289 Danz, Ferdinand Georg D. 57, 146, 329 Daston, Lorraine 108–110 Davies, Martin L. 131 Décultot, Elisabeth 278 Dickson, Sheila 40, 105–106, 110, 132, 136 Diderot, Denis 292 Dijk, Arjan van 273 Dohm, Burkhard 162 Dörner, Klaus 82 Dornheim, Jutta 106 Duden, Barbara 26, 30, 116, 121, 126 Ecker, Hans Peter 134 Eckhardt, Georg 131

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Personenregister

Ego, Anneliese 88–89, 160 Ehinger, Franziska 273, 378 Eilert, Heide 233, 237, 257–258 Ekhof, Konrad 292 Ellenberger, Henri F. 89 Endres, Elisabeth 220 Endres, Johannes 275 Engelhardt, Dietrich von 1–2, 6, 20, 158 Engel, Johann Jakob 42, 146, 184, 210, 274– 277, 281–283, 292, 294, 329, 352 Epstein, Julia 110–111, 113 Erdmann, Eva 301 Erhart, Walter 2, 20 Eschenmayer, Carl August 40, 81, 89–99, 105, 107, 133, 157–159, 161, 165, 167, 233–234, 239, 250–251, 353, 402 Faber, Richard 325, 337, 344–345 Feldhausen, Dietrich 193 Feldt, Heinrich 88 Fetscher, Justus 44–45 Fichte, Johann Gottlieb 158, 257 Fichtner, Ingrid 234 Fischer, Christian Ernst 53 Fischer-Lichte, Erika 178, 269, 273–274, 276, 278, 281–284, 287, 292, 353, 363, 370, 375, 377–379, 384 Flashar, Helmut 36, 269, 325 Flatten, Guido 40, 81 Flatt, Johann Friedrich von 78 Fleck, Ludwig 6, 27, 30–31 Flögl, Karl Friedrich 301 Formen, Johann Ludwig 296, 403 Forrester, John 103, 106 Forster, Michael N. 28 Förstl, Hans 26 Foucault, Michel 5–6, 21, 36, 46, 48–50, 54– 55, 57, 68, 105, 107–108, 113, 119, 122, 175, 181, 183, 196 Freud, Sigmund 106, 231 Frickmann, Sybille 131 Frick, Werner 271 Friedreich, Johann Baptist 66 Friedrich, Johann Georg 45 Fulda, Daniel 24–25 Gadebusch, Mariacarla 33, 122, 128 Gailus, Andreas 131 Gamper, Michael 7, 16, 18–19, 21, 66, 80, 392 Garber, Jörn 132

Garrick, David 297 Garve, Christian 171, 184 Gautieri, Guiseppe 58 Gellert, Christian Fürchtegott 270, 306 Genette, Gérard 19 Gerabek, Werner E. 37, 81 Gerstenberg, Heinrich von 289 Gesenius, Wilhelm 194, 220, 296 Geßner, Samuel 210, 218 Gesse, Sven 13–14 Gessinger, Joachim 147–148 Ghert, P. G. van 162–166, 168 Girtanner, Christoph 124 Giseke, Paul Dietrich 103 Gmelin, Eberhard 76, 90, 97, 359, 381 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 9–16, 22–23, 29, 31, 33, 41–42, 106, 122, 129, 158, 171, 210, 232–233, 242, 258, 272, 289, 323– 327, 329–352, 355, 368, 384–385, 387– 388, 394–395, 398–399, 402–404 Goldmann, Stefan 104–107, 110–111, 114, 132, 136, 140–142, 145, 147, 149 Gotter, Wilhelm 306 Gottschall, Rudolph 266 Gottsched, Johann Christoph 3, 172, 300, 323 Gottsched, Luise 306, 311, 321 Gottwald, Claudia 298–299 Graczyk, Annette 46, 60 Graf, Ruedi 273 Greiner, Bernhard 299, 347–348, 360 Grimm, Jakob und Wilhelm 104, 216 Grimm, Sieglinde 15 Gruber, Bettina 81, 98, 161–163 Gruner, Christian Gottfried 112, 119 Gumpert, Christian Gottlieb 45 Gurisatti, Giovanni 273, 275 Guthke, Karl S. 252 Gymnich, Marion 17, 21 Haas, Claude 349 Hagel, Ulrike 207–209, 211, 216–218, 220, 222, 226, 228 Hagens, Gunther von 129 Hagner, Michael 4–5, 27, 37, 94 Hallet, Wolfgang 7 Hamacher, Bernd 273 Hamann, Johann Georg 28, 45, 63–64 Hansen, Uffe 232, 354, 360, 366, 377–378, 381–382 Harnischfeger, Johannes 234, 262

Personenregister

Hart, Gail K. 332 Hartje, Ulrich 178–179 Hartmann, Karl Heinz 171 Hebbel, Friedrich 355 Hegel, Georg Wilhelm 9, 28, 82, 299, 353, 355 Heineken, Philipp Kornelius 90, 167, 381 Heinz, Jutta 5, 41, 172, 184, 258 Heiser, Ines 196 Helg, Walter 286 Hempfer, Klaus 16–17, 269 Henning, D. 115, 121 Henschel, Elias 108 Herder, Johann Gottfried 8, 28, 42, 45, 63–64, 127, 210, 278–280, 282–289, 294, 296, 356, 396–397, 399 Hermann, Iris 216 Herz, Marcus 60, 70–71, 73, 108, 123, 141– 149, 196 Hess, Volker 32, 120 Hildebrandt 114, 119, 129–130 Hillen, Meike 42, 106, 134, 140, 296 Hilscher, Christian Gottlob 61 Hinderer, Walter 325, 327, 333 Hobson, Marian 278, 282 Hoessly, Fortunat 36, 269 Hoffbauer, Johann Christoph 387 Hoffmann, E. T. A. 33, 41–42, 93, 106, 159, 161, 172, 174, 228–259, 261–268, 277, 290, 292, 355, 383–384, 394–395, 397, 399– 401 Hoffmann, Gottlieb 45 Hohenhausen, Elise von 356 Holthausen, Günther 43 Holtmann, Michael 232 Homberg, Tinette 78 Honegger, Claudia 93 Hoorn, Tanja van 304, 306 Horaz 9, 12, 286, 291, 356, 396 Hörisch, Jochen 27, 152 Horn, Andreas 298 Horst, Georg 58 Hotho, Heinrich Gustav 353, 355–356, 384 Huber, Martin 13–14, 25, 32, 35, 72, 98, 233, 242 Huch, Ricarda 37 Hufeland, Christoph Wilhelm 40, 43–44, 46– 47, 52–53, 58, 90, 107–108, 112–113, 136, 149–151, 153, 165–166, 403–404 Huff, Steven R. 359 Humboldt, Alexander von 81

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Humboldt, Wilhelm von 16, 28–29 Hunczovsky, Johann 214 Iffland, August Wilhelm 274, 296, 403 Immermann, Karl Leberecht 353, 355 Jackendoff, Ray 21 Jacobs, Angelika 19, 272, 333, 340 Jaeger, Stephan 28–29 Jagow, Bettina 2, 6, 38, 42 Jahnke, Jürgen 131 Jakob, Ludwig Heinrich 135 Japp, Uwe 273, 325, 327, 333 Jean Paul 41–42, 90, 174, 207–227, 233, 242, 249, 256, 259, 267–268, 326–327, 374, 394, 397, 400 Jessing, Benedikt 323, 388 Johnson, Lauri Ruth 8, 157 Jolles, André 106 Jonas, Johann Christian 53, 58 Jöns, Dietrich 346 Josephi, Wilhelm 79 Jünger, Johann Friedrich 306, 308, 310–311, 316, 318 Kaiser, Herbert 226 Kamber, Urs 208, 220 Kamphausen, Georg 89 Kant, Immanuel 34, 63, 72–73, 77, 127, 142, 221, 260, 299 Kanzog, Klaus 370 Kaulbach, Friedrich 46, 74 Keck, Thomas 306 Kelch, Wilhelm Gottlieb 125 Kemper, Dirk 330, 333, 340 Kieser, Dietrich Georg 158–159, 163 Kleeberg, Ingrid 7, 16, 18–19, 21, 392 Klees, Johann Georg 52–59, 130 Klein, Christian 24 Kleinschmidt, Erich 8, 29 Kleist, Heinrich von 42, 93, 106, 140, 161, 220, 232, 272–273, 353–359, 361, 364–385, 388, 392, 394–395, 399, 402 Klingemann, August 41, 140 Kluge, Carl Alexander Ferdinand 90, 92, 94, 160–161, 231, 250, 362, 381 Kluge, Gerhard 379, 382 Knautz, Günther 290, 292 Knobloch, Hans-Jürgen 382 Knodt, Eva M. 278

442

Personenregister

Kobayashi, Ekiko 306 Kohlenbach, Margarete 251 Köhn, Lothar 230, 237–238, 258 Kohns, Oliver 33–34, 144, 239, 255, 366, 400 Kommerell, Max 378 Konrad von Würzburg 242 Köpke, Rudolf 266–267 Koppe, David 78 Korte, Hermann 36 Körte, Monika 255 Koschorke, Albrecht 37, 95, 116, 246, 353 Košenina, Alexander 4–5, 32, 41, 106, 146, 177, 202, 225, 273–274, 384 Kosmeli, Michael 61 Kottow, Andrea 27 Koziol, Herbert 234 Kraepelin, Emil 299 Kramer, Olaf 347, 352 Krause, Hubertus Walter 45 Kremer, Detlef 234–235, 242, 254, 258, 261, 264 Krüger-Fürhoff, Irmela Marei 127–129 Kurz, Gerhard 15 Lach, Roman 302 Lamping, Dieter 298–299 Langer, Brigitte 226 Langermann, Johann Gottfried 68 Lange, Thomas 2, 39 Leary, David E. 27, 29–30 Lehleiter, Christine 255–256 Leibold, Tobias 4 Lemke, Anja 245, 370 Lenz, Jakob Michael Reinhardt 270, 278, 280, 289 Lepenies, Wolf 303, 320 Lessing, Gotthold Ephraim 10, 25, 42, 45, 107, 127, 137, 146, 269–271, 274, 278–280, 282, 288–292, 294, 296, 299–300, 302, 323, 396–397 Lessing, Hans Ulrich 326 Leventhal, Robert 38, 103, 106, 132–133 Lewis, Matthew G. 179, 251–252 Lindner, Henriett 41, 228, 231–232, 234–235, 249–251, 257–258, 260, 262, 264, 267 Link-Heer, Ursula 3, 6 Link, Jürgen 3, 6 Lipsius, Justus 154 Löffler, Jörg 324, 333–334, 338, 341 Loquai, Franz 230, 262

Lunbeck, Elisabeth 108–110 Mai, Franz Anton 42, 292–297, 402 Mall-Grob, Beatrice 227 Manthey, Johannes 330 Marks, Ralph 94, 99 Martinez, Matias 24, 151, 233 Matthäi, Carl Christian 108 Mattle, Heinrich 73 Matt, Peter von 248, 267 Mauchart, Immanuel David 70–71, 139 Maulitz, Russell C. 122 Meixner, Horst 252 Mendelssohn, Moses 63, 127–128, 132, 142, 210, 278, 280, 284, 397 Menninghaus, Winfried 127 Mertens, Hieronymus Andreas 61 Mesmer, Franz Anton 88–90, 301 Mittenzwei, Werner 269 Mocek, Reinhard 60 Molière 301, 306, 308–309, 323 Morgagni, Giovanni Battista 122 Moritz, Karl Philipp 26, 40–41, 71, 90, 106– 107, 131–137, 139, 141, 148, 152, 156–157, 162–163, 165, 172–173, 185, 188, 242, 262, 298, 393, 401–402 Moser, Gustav 306 Mülder-Bach, Inka 195 Müller, Adam 375 Müller, Friedrich von 327 Müller, Gerhard 286 Müller, Götz 131, 209, 220–221, 226, 374 Müller-Kampel, Beatrix 301 Müller-Nielaba, Daniel 239 Müller-Salget, Klaus 360–361 Müller-Seidel, Walter 361 Müllner, Adolph 386 Mumenthaler, Marco 73 Mylius, Christlob 304, 306–307, 317 Nasse, Friedrich 158–159 Nehring, Wolfgang 230 Nelles, Jürgen 252, 259, 266 Nettesheim, Josefine 231 Neumann, Birgit 17, 21–22 Neumann, Gerhard 2, 325, 331 Neumeyer, Harald 2, 20, 39, 359 Nowitzki, Hans Peter 82, 84 Nünning, Ansgar 21–22

Personenregister

Oberteuffer, Johann Heinrich 114, 116, 125–126 Och, Gunnar 216 Ochsner, Karl 231 Oehlenschläger, Eckhart 220 Oeing-Hanhoff, Ludger 46, 74 Oschmann, Dirk 8, 10, 16 Ostermann, Eberhardt 45 Ottmann, Dagmar 372–373 Pankow, Edgar 255 Pape, Walter 29, 73, 126, 134, 264, 270, 278, 281, 299–300, 316, 351 Pattie, Frank A. 89 Paulin, Richard 41, 106 Peil, Dieter 154 Pekar, Thomas 285, 288 Peter, Klaus 271, 375, 378 Pethes, Nikolas 1–2, 5, 20, 24, 27, 40–41, 80, 103–104, 106–107, 110, 136, 140 Pfister, Manfred 269, 310, 365, 368 Pfotenhauer, Helmut 255 Pichler, Anton 281 Pinel, Philippe 57, 68, 232 Platner, Ernst 4, 34–35, 60, 64–65, 150, 200, 221, 225–226, 260, 290, 292, 326–327, 374 Platon 11, 62–63, 67, 98, 269–270, 297 Pockels, Karl Friedrich 135, 139, 149, 151–156, 172, 302, 307, 354, 362 Pomata, Gianna 101, 105, 108, 110, 398 Porter, Roy 106 Port, Ulrich 271, 352 Potter, Edward 308, 312–313, 317–320, 322 Promies, Wolfgang 175, 177, 179, 197, 200 Quistorp, Theodor Johann 304, 306–307, 312, 317, 322–323 Rademacher, Johann Gottfried 108 Radkau, Joachim 86 Raff, Dietrich 231 Rau, Peter 131 Reber, Natalie 231, 233–234, 254 Reed, Terence J. 325 Reil, Johann Christian 31, 35, 43–44, 60–61, 64–79, 90, 94, 97–99, 105, 108–109, 133–134, 139, 141, 148, 158, 165, 173, 196, 232–234, 238–239, 241–242, 244–246, 251, 256–257, 290, 300, 317–318, 322– 323, 353, 362–363, 371–372, 374, 378, 386–389, 402

443

Reinhardt, Hartmut 272, 324, 344 Renneke, Petra 2 Reuchlein, Georg 26, 33, 140, 176, 178, 181, 183–184, 187, 195, 197–198, 231 Reuß, Franz Ambros 81–88, 92, 94, 99–100, 256–257, 302–303 Riccobini, Francesco 291 Richter, Karl 2 Richter, Sandra 1–2, 5, 20, 27, 140 Richter, Simon 278 Ricœur, Paul 25 Riedel, Wolfgang 4, 8, 38, 297 Rieger, Stefan 74–75 Riemer, Peter 286 Ritter, Johann Wilhelm 45 Rizoletti, Giacomo 282 Rode, Jürgen 286 Roehl, Martin 234 Römer, Tina 196 Rudolph, André 63–64, 78 Ryan, Lawrence 351 Saage, Richard 69 Sainte Albine, Pierre Rémond de 290–291 Sarasin, Philipp 26–27, 29, 113 Saul, Nicolas 2, 26 Schäffner, Wolfgang 32, 50–51, 57, 67 Schanze, Helmut 172 Schaub, Mirjam 283–284 Scheffel, Michael 151, 233 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 8, 16, 28, 37, 81, 94, 158 Scherer, Gabriele 41, 176–177, 194, 200, 220 Scherpe, Klaus 8 Schiller, Friedrich 1, 9–16, 22, 81, 106–107, 133, 140, 232, 271, 274, 281, 283, 286, 293, 296–297, 316, 351–352, 398 Schindler, Stephan 250–251 Schings, Hans-Jürgen 2, 4, 126, 131, 280, 303, 324, 326, 328–329 Schlegel, August Wilhelm 10, 289 Schlegel, Friedrich 9, 15–16, 28, 157, 171 Schlichting, Johann Ludwig Adam 135 Schmalz, Gottlieb Heinrich 114–116, 125 Schmaus, Marion 35, 37–38, 60, 65, 232, 265, 329, 387 Schmidt, Jochen 354, 357, 369, 377 Schmidt, Johannes August 113, 116, 123, 125, 129–130 Schmidt, Johann Joachim 45

444

Personenregister

Schmidt, Julian 353, 356 Schmidt, Otto 281 Schmidt, Ricarda 230, 235, 261–263 Schmidt, Siegried J. 298 Schmitt, Franziska 45, 60 Schmitz-Emans, Monika 8 Schneider, Friedrich Ludwig 292 Schneider, Sabine 255 Schnelle, Thomas 89 Schön, Erich 35 Schönert, Jörg 2 Schott, Heinz 36–38, 88–89, 152, 162, 204, 219–220, 281, 307, 326 Schrader, Monika 278 Schreiner, Julia 153, 302–304, 313, 316 Schrimpf, Hans Joachim 131 Schubart, Ludwig Albert 71, 139–140, 185 Schubert, Gotthilf Heinrich 90–91, 161, 231, 251, 354–355, 358–359, 362, 380–381, 383 Schulz, Eberhard Wilhelm 352 Schumacher, Katrin 80, 149 Schumacher, Yves 239 Schweizer, Stefan 231–232 Scrivers, Christian 154 Seele, Katrin 325 Segebrecht, Wulf 232, 263 Seidler, Eduard 293 Sembdner, Helmut 353, 355–357 Seubold, Günter 325 Shaffer, Elinor 2–3 Simon, Ralf 306 Sindlinger, Peter 140 Singer, Rüdiger 280, 286 Sinigaglia, Corrado 282 Sinn, Christian 227 Snow, Charles Percy 1 Sontag, Susan 27, 391, 403 Sophokles 42, 277, 280, 286 Spalding, Johann Joachim 147–149, 261 Spieß, Christian Heinrich 42, 106, 140, 174– 185, 187–193, 195–206, 219, 223–224, 228, 245, 248, 256, 267–268, 277, 296, 393–394, 396–397, 399–401 Stackelberg, Jürgen von 301, 305, 310 Stafford, Barbara 31, 37, 100, 122, 149 Stahl, Ernst 352 Stahnisch, Frank W. 73 Staiger, Emil 16 Steger, Florian 2, 38, 42

Steier, Christoph 239 Steigerwald, Jörn 13 Steinecke, Hartmut 229–230, 234–235, 242, 245, 257–258, 261, 263 Steiner, Andreas 86 Steinmayr, Frank 28 Steinmetz, Horst 17 Stumpp, Gabriele 246–248, 397 Süßmann, Johannes 105–107, 120, 157 Suthor, Nicola 283–284 Szondi, Peter 8, 10, 16, 272 Tap, Patricia 231 Tatar, Maria 231, 264, 354, 363, 372, 378 Terezakis, Katie 28 Thaer, Albrecht 61 Thoma, Heinz 132 Thorwart, Wolfgang 378 Tieck, Ludwig 41, 140, 386 Tismar, Jens 211 Titzmann, Michael 2, 177 Torra-Mattenklott, Caroline 36, 277 Trappen, Stefan 8–9, 16 Tunner, Erika 339 Unger, Christoph 220 Unzer, Johann August 82, 152, 305, 314 Utz, Peter 108 Valk, Thorsten 324–327, 331–332 Vesal, Andreas 128 Vogel, Carl 33, 113, 403 Vogl, Joseph 1, 5–6, 18, 20 Vollmuth, Ralf 122 Voßkamp, Wilhelm 17–19, 171–173 Wagner-Egelhaaf, Martina 341, 345 Wagnitz, Heinrich Balthasar 64–65 Wahrenburg, Fritz 172 Watzke, Daniela 13, 75, 95 Weder, Katherine 354, 357–365, 370–371, 378, 380–381, 383 Weikard, Melchior Adam 45, 326 Weiner, Dora B. 68 Wellbery, David E. 278 Wendel, Johann Andreas 79 Werner, Friedrich Ludwig Zacharias 386 Werner, Zacharias 296 Wesche, Jörg 17 Wichmann, Johann Ernst 45

Personenregister

Widmaier, Tobias 62–64 Wiesing, Urban 81, 100 Willer, Stefan 28–29 Willibald, Dr. [Ammann, Balthasar von] 308– 310, 312–321 Wilms, Marie-Christin 278, 280 Winckelmann, Johann Joachim 278, 280, 287– 288 Wingertszahn, Christof 105–106, 136 Wöbkemeier, Rita 42, 151, 155, 207–214, 216, 221–222, 225, 227, 272, 303–304, 306– 307, 318 Wohlfart, Günter 28 Worthen, William B. 269 Wright, Elisabeth 231

445

Wübben, Yvonne 7, 107, 132, 136, 138 Wulf, Christoph 26 Wuthenow, Ralph-Rainer 211 Yuill, William E. 345 Zehl-Romero, Christiane 234 Zelle, Carsten 7–8, 52, 107, 110–111, 114, 119 Zimmermann, Johann Georg 28, 54 Zittel, Claus 30 Zumbusch, Cornelia 36, 53–54, 269, 271, 278, 281, 283, 352 Zwierlein, Hans Karl von 61 Zymner, Rüdiger 7–9, 16–17, 19–21, 23