Medien - Körper - Geschlecht: Diskursivierungen von Materialität [1. Aufl.] 9783839420843

Die westliche Moderne hat eine Gesellschaft erschaffen, in deren Zentrum der Anspruch auf Emanzipation steht. Diese Frei

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Medien - Körper - Geschlecht: Diskursivierungen von Materialität [1. Aufl.]
 9783839420843

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Maß aller Dinge. Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers
Wie man auf »780/800 fuckability« kommt. Zum Verhältnis von Crowdsourcing, Datenrevolution und Normalismus
Abstrakter Expressionismus und performative Mittelschichtgesellschaft
Subjektivierung durch Normalisierung. Zur Aktualisierung eines poststrukturalistischen Konzepts
»Risikobereit, flexibel und exzellent«. Moderne Subjektivität im Wissenschaftsbetrieb
Handlungsfähigkeit. Über Agency, das Konzept ›Cool‹, bestimmte Zumutungen der männlichen Rolle, ›Kommunikation‹ und die Medien
Mediatisierte Multituden. Fernsehen und Fernsehkritik als immaterielle Arbeit
Geschlechtliche Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen. Zur Überlagerung von Klasse und Gender im Phänomen »Frauendiskriminierung«
Biographie als Pathographie. Lebens- und Fallgeschichten zum Geschlechtswechsel
Das mann-menschliche Individuum. Paradoxe Konstruktionslogiken moderner Männlichkeit
Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik
»White men build cities, red men build sons«. Familien, Väter und Aneignungen des Indigenen in den USA, 1890-1940
Der Afghanistankrieg als diskursives Kampffeld
Entgrenzung der Gewalt. Diskursbedingungen der Dissoziationsmentalität im Kontext des »totalen Krieges«
Autorinnen und Autoren

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Birgit Riegraf, Dierk Spreen, Sabine Mehlmann (Hg.) Medien – Körper – Geschlecht

Sozialtheorie

Birgit Riegraf, Dierk Spreen, Sabine Mehlmann (Hg.)

Medien – Körper – Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität Festschrift für Hannelore Bublitz

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn und der Universitätsgesellschaft Paderborn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Dierk Spreen Lektorat: Sabine Mehlmann, Birgit Riegraf, Dierk Spreen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2084-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 Das Maß aller Dinge Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers

Hannelore Bublitz | 19 Wie man auf »780/800 fuckability« kommt Zum Verhältnis von Crowdsourcing, Datenrevolution und Normalismus

Jürgen Link | 37 Abstrakter Expressionismus und performative Mittelschichtgesellschaft

Michael Makropoulos | 51 Subjektivierung durch Normalisierung Zur Aktualisierung eines poststrukturalistischen Konzepts

Dominik Schrage | 73 »Risikobereit, flexibel und exzellent« Moderne Subjektivität im Wissenschaftsbetrieb

Julia Gruhlich, Birgit Riegraf, Lena Weber | 89 Handlungsfähigkeit Über Agency, das Konzept ›Cool‹, bestimmte Zumutungen der männlichen Rolle, ›Kommunikation‹ und die Medien

Hartmut Winkler | 107 Mediatisierte Multituden Fernsehen und Fernsehkritik als immaterielle Arbeit

Andrea Seier | 117

Geschlechtliche Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen Zur Überlagerung von Klasse und Gender im Phänomen »Frauendiskriminierung«

Regina Becker-Schmidt | 137 Biographie als Pathographie Lebens- und Fallgeschichten zum Geschlechtswechsel

Annette Runte | 155 Das mann-menschliche Individuum Paradoxe Konstruktionslogiken moderner Männlichkeit

Sabine Mehlmann | 177 Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik

Wolfgang Eßbach | 201 »White men build cities, red men build sons« Familien, Väter und Aneignungen des Indigenen in den USA, 1890-1940

Jürgen Martschukat | 217 Der Afghanistankrieg als diskursives Kampffeld

Margarete Jäger, Siegfried Jäger | 235 Entgrenzung der Gewalt Diskursbedingungen der Dissoziationsmentalität im Kontext des »totalen Krieges«

Dierk Spreen | 257 Autorinnen und Autoren | 285

Einleitung

»Im Beichtstuhl der Medien«, so Hannelore Bublitz in ihrem gleichnamigen Buch, »konstituiert sich ein – sich bekennendes, sich sprachlich und visuell präsentierendes – Subjekt, das sich in seiner öffentlichen Artikulation und Manifestation selbst auf die Spur kommt und sich im Spektrum von Konventionen, sozialen Codes und Normen erst bildet und formt.« (Bublitz 2010: 13) Mit dieser These lanciert Bublitz eine Theorie der neuen interaktiven Medien, die nicht kulturpessimistisch den Verfall des Privaten und das Ende des bürgerlichen Subjekts betrauert, sondern die die ›Entäußerungen‹ des Selbst in sozialen Medien und medialen Bekenntnis-Formaten als Formen der Selbstproduktion begreift. Das ›Posten‹ mehr oder weniger intimer Inhalte im Internet, das Verteilen von Daumen auf Facebook oder das permanente Kommentieren der Mitteilungen anderer sind demnach ebenso Aspekte zeitgenössischer Subjektivierungsprozesse, wie der nächtliche Anruf bei einem Bekenntnis-Format wie Domian1, in dem auch ›abseitige‹ Wünsche und die daraus resultierenden Probleme diskutiert und zur Schau gestellt werden können. Das Subjekt verschwindet also nicht, sondern im Raum des Medialen kommt eine Subjektivität der Vielen zu Geltung. Nicht die »Tyrannei der Intimität« (Sennett 1983) steht also auf dem Programm, sondern die Demokratisierung von Subjektivität.

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Domian ist eine Telefon-Talkradio-Sendung des Hörfunksenders WDR 1 (heute: 1 Live), die parallel im WDR-Fernsehen gezeigt wird. In NRW hat dieses Format einen gewissen Kultstatus erreicht.

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In ihrer Argumentation schließt Bublitz an ein klassisches soziologisches Paradigma an. Sie verweist darauf, dass reflexive Subjektivität und individuelle Autonomie sich erst im Spiegel und im Blick des Anderen konstituieren. Bereits George Herbert Mead machte hierauf nachdrücklich aufmerksam: »Wir müssen andere sein, um wir selbst sein zu können.« (Mead 1987: 327) Dieses Paradigma sensibilisiert für die Bedeutung der gesellschaftlichen Umgebung und sozialen Interaktion bei Subjektivierungsprozessen. Es lässt auch auf Veränderungen in diesem Verhältnis achten. Darauf, dass diese Prozesse nicht geschlechtsneutral sind, hat Bublitz bereits früh hingewiesen. Medientheoretisch fand sich das Paradigma in einer eingängigen Formulierung in der von David Riesman und seinen Mitarbeitern 1950 veröffentlichten Untersuchung The Lonely Crowd wieder. Das Buch konstatierte einen neuen Menschentypus – den »other-directed character« –, der sich ständig an seiner sozialen Umgebung orientiert und ausrichtet und dem die »Fähigkeit fehlt, seinen Weg allein zu gehen.« (Riesman et al 1958: 41) Weiter heißt es: »Der außen-geleitete Mensch ist ›Weltbürger‹. Die Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Fremden […] sind für ihn gefallen. […] Während sich der innengeleitete Mensch kraft seiner verhältnismäßigen Unempfindlichkeit anderen gegenüber ›in der Fremde zu Hause fühlen‹ konnte, ist der außen-geleitete Mensch in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft nur oberflächlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkehren. […] Der außen-geleitete Mensch […] muss in der Lage sein, Signale von nah und fern zu empfangen, es gibt viele Sender und häufige Programmwechsel. So ist es nicht erforderlich, einen Kodex von Verhaltensregeln, sondern jenes hochempfindliche Gerät, womit er diese Nachrichten empfangen und gelegentlich an ihrer Verbreitung teilnehmen kann, zu verinnerlichen. […] Der Kontrollmechanismus wirkt jetzt nicht in der Art eines Kreiselkompasses, sondern wie eine RadarAnlage.« (Ebd.)

Dass Riesman zur Beschreibung des außen-geleiteten Subjekttypus auf mediale Metaphern (›Radar‹, ›Sender‹, ›Nachrichten‹, ›Programmwechsel‹) zurückgreift, ist kein Zufall, denn schließlich liefern Massenmedien eben jene Informationen aus der ›Welt‹, die der neue Mensch braucht. Allerdings bleibt dieser Subjekttypus wesentlich ›rezeptiv‹. Er orientiert sich, indem er

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seine Umgebung mittels Ortungsstrahlen abtastet. An dem Bild, das auf seinem inneren Monitor erscheint, richtet er sich aus. Bublitz spricht diesbezüglich von »Normalisierung I«. Die Parole lautet: »Dabei sein ist alles!« (Bublitz 2005: 54) Medien vermitteln demnach ununterbrochen alle möglichen Stile und Haltungen, Wertideen, Normvorstellungen, Weltinterpretationen, Körperkonzepte, Geschlechteridentitäten, Praktiken etc. und stellen damit eine Kulturbühne für Orientierungswissen bereit, mittels dessen sich das Subjekt »selbstadjustieren« kann (vgl. Bublitz 2005: 59-63). Im Zeitalter interaktiver und sozialer Medien und des neoliberalen Empowerments – das heißt der sowohl medialen wie sozialen ›Aktivierung‹ der Subjekte – kommt es zu einer weiteren Verschiebung: »Normalisierung II« zielt nicht mehr lediglich auf Ausrichtung am verallgemeinerten Anderen, sondern auf flexible Selbstfindung und Differenzierung in Bezug auf ein Vergleichsfeld: »Alle gleich, jeder anders.« (Ebd.: 59) Wer will schon Durchschnitt sein? Zu ›schräg‹ ist aber auch schlecht!2 In diese Selbstfindung ist eine Optimierungsstrategie eingeschrieben, denn die experimentellen Selbstfindungsprozesse sind »eingebunden in gesellschaftliche Prozesse der Deregulierung und Flexibilisierung, die den Subjekten eine dauerhafte Form der Introspektion abfordern und das lebenspraktisch angestrebte Ideal der Selbstverwirklichung zur individuell geforderten Produktivkraft ummünzen.« (Bublitz 2005: 153) In dieser Normalisierungsordnung gewinnen die Extreme und Abweichungen eine neue Bedeutung, denn sie werden selbst »normalisiert«, d. h. für die ›normale‹ Subjektbildung bedeutsam: Das Wissen über das Anormale und Ungewöhnliche liefert Informationen darüber, was ›normal‹ ist. Es enthält zugleich Hinweise und Anregungen, wie es möglich ist, sich ausreichend vom Durchschnitt abheben zu können, ohne ganz aus dem Rahmen des sozial Tolerablen zu fallen (ebd.: 61-63). Erkennbar wird damit, dass Abweichung und Normalität sich in einem Kontinuum befinden. Erst jenseits dieses Kontinuums erscheint das normativ vollständig diskriminierte – vor allem ›Gewalt‹. Wird diese Grenze in der Realität überschritten, kommentiert die öffentliche Kulturbühne dies als ›Pathologie‹ und reagiert mit demonstrativem Unverständnis: ›Warum?‹

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Bublitz nimmt mit diesem Konzept die Arbeiten von Jürgen Link und Michael Makropoulos auf (vgl. Link 2006; Makropoulos 2008).

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Die in ihrer Differenz und Individualität aufeinander bezogenen Subjekte bedürfen außerdem der ständigen gegenseitigen Bestätigung ihrer Einzigartigkeit. Sie müssen daher öffentlich sichtbar werden, sich selbst zur Erscheinung bringen und sich auf medialen Bühnen positionieren. »In der Präsentation und Sichtbarmachung des eigenen Selbst (für andere), in der Selbstoffenbarung und Selbstdarstellung wird es erst, was es ist: ein Subjekt, das um sich selbst weiß, also ein Selbstbewusstsein hat. Dabei bewegt es sich immer in doppelter Bindung, zum einen in der Abhängigkeit und Kontrolle vom anderen, zum anderen durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet.« (Bublitz 2010: 27) Die öffentliche Bühne dafür liefern soziale Medien wie Facebook etc. oder Selbstdarstellungsformate wie Domian oder Germany’s next Topmodel. Dabei erzeugt der »panoptische« Blick »ein Subjekt, das sich in der Differenz zu anderen hervorbringt und dabei zeigt.« (Bublitz 2010: 23) Unter den Bedingungen der ›Normalisierung II‹ kann Selbstbildung daher weder im stillen Kämmerlein stattfinden, noch genügt passives ›Modelllernen‹.3 Selbstbildung bedarf vielmehr einer aktiv-darstellenden, flexiblen und experimentellen Nutzung der öffentlichen Bühne. Individualisierung und Subjektivierung sind dabei immer auch Vergesellschaftung. Demokratischer Massenaccess und eine weitreichende Entwertung der professionellen Content-Kontrolleure sind die medialen Möglichkeitsbedingungen dieser Vergesellschaftung. Nur so stellen sich normalverteilte Vergleichsfelder ein, innerhalb derer es möglich ist, sich als ›Individuum‹ darzustellen und zu kreieren. Auf den ersten Blick mag dies wie eine EgoShow erscheinen – und in dieser Weise wird das performative Handeln in Foren, Castingshows oder Talkformaten von der Kulturkritik der Regel wahrgenommen. Die Kritikerinnen und Kritiker unterstellen dabei aber eine Identitätskonzeption, die im Zeitalter permanenter und umfassender Vernetzung nicht mehr aktuell ist. Sie stellen sich vor, Subjektivität sei eine Privatsache, wohingegen die Öffentlichkeit der Raum des Rollenhandelns und der strategischen Public Relation sei. Diese Auffassung verkennt aber, dass

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Generell steht die Theorie der Selbstadjustierung quer zu den ›passivischen‹ Mainstreamtheorien der Medienwirkungsforschung, also der Katharsis-, Suggestions-, Habitualisierungs- und Kultivierungsthese und der Lerntheorie. Überschneidungen zeigen sich vielmehr mit den Ansätzen der Nutzungsforschung, die Rezeption als ›Produktion‹ verstehen (vgl. Spreen 2012).

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die mediale Bühne, auf der die modernen Subjekte sich jederzeit und ausdauernd selbst zur Darstellung bringen, ein Forum des kollektiven Vergleichs und damit der Differenzierung darstellt (vgl. Bublitz 2010: 17 f.). Die Annahme der sozialen Konstitution des Selbst gehört zu den Grundbeständen soziologischen Denkens. Sie findet sich auch bei Foucault wieder – dort allerdings erscheint, wie Bublitz herausstellt, die soziale Subjektbildung immer eingetragen in Machtdispositive. Die Verbindung von Machtanordnungen und Selbstkonstitution bzw. Subjektivierung fasst Foucault mit dem Schlagwort »Regieren durch Individualisieren« (Foucault 1987: 246). Damit sagt er, dass Subjektivierung nicht nur ein sozialer Vorgang ist, der auf den Blick des Anderen und die Internalisierung sozialer Normen und Werte verweist, sondern dass dieser soziale Vorgang nicht außerhalb von Machtbeziehungen und -ordnungen steht. Er weist damit die Vorstellung zurück, dass ›das Soziale‹ als eine an sich machtfreie Veranstaltung vorgestellt werden kann. Foucault geht es daher nicht darum, eine ›wahre Subjektivität‹ aus der Unterdrückung zu befreien; die Repressionshypothese lehnt er ab. Ebenso wenig geht es ihm darum, einer Art machtfernem ›Ursozialen‹ zur Wiederkehr zu verhelfen (vgl. Bublitz 1999: 122137). Die Fortführung dieser Soziologie der Macht ist ein Gravitationszentrum der Arbeiten von Bublitz. Mit ihren Analysen zur zeitgenössischen Individualisierungs- und Mediengesellschaft entwickelt sie Foucaults Machtanalytik zu einer Mediensoziologie weiter: »Massenkultur bildet die Performanz einer Macht, die den sozialen Raum in seiner Totalität und das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit vollständig umfasst. […] Subjektivitäten konstituieren sich demnach nicht durch ein Außen, das auf ein subjektives Innen wirkt. […] Durch zunehmende Überführung von Fremdzwang in Mechanismen der Selbstführung werden […] sukzessive individuelle Dispositionen freigesetzt, die soziale Integration […] aufgrund flexibler Selbsttechnologien gewährleistet.« (Bublitz 2005: 152 f.) Subjektivierung erscheint dabei als ein aktiver Prozess der Selbstkonstitution, der sich auf öffentlichen oder semi-öffentlichen Bühnen als eine andauernde Aufführung vollzieht und der nicht als Gegenpol zu Machtanordnungen zu verstehen ist, sondern ihrer bedarf. Mit der Untersuchung flexibler Selbsttechnologien leisten Bublitz’ Arbeiten zur massenkulturellen Subjektivierung einen Beitrag zu den Gouvernementalitätsstudien. Dieser Ansatz untersucht die zeitgenössischen Ten-

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denzen zur Ökonomisierung des Sozialen, die mit dem Begriff ›Neoliberalismus‹ bezeichnet werden, und schließt an Foucaults Überlegungen zur Führung durch Selbstführung an. Dem neoliberalen Konzept der Regierung durch ›unternehmerische‹ Selbstführung ist eine marktförmige Optimierungsrationalität eingeschrieben. Die Individuen sollen in ihre Zukunft ›investieren‹ und sich jederzeit ›verbessern‹. Dass neoliberale Selbstführungsstrategien und die medial-normalistische Form der ›Selbstsozialisation‹ einander ergänzen und sich miteinander verbinden können, ist wenig überraschend: Der mediale Möglichkeitsraum ist immer auch ein Raum der konkurrierenden Vergleichs – auch ihm ist das »360°-Feedback« eingeschrieben (Bröckling 2007: 236-247). In diesem normalistisch-medialen Feld hat man alle anderen im Blick und kann sich folglich als unverwechselbare Marke positionieren. Dass hierbei vom einzelnen Subjekt sehr viel verlangt wird, dass die generalisierte Produktion seiner selbst unter Normalisierungsbedingungen riskant und belastend ist, liegt auf der Hand. Nun müssen alle allzeit ihr Bestes geben. ›Exzellenz‹ und ›Selbstoptimierung‹ werden eine – paradoxe – Massenaufgabe. Mediale Selbst-PR wird dabei zur Verpflichtung. Und die Konkurrenz schläft nicht.4 Die intensive Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen Körper und Geschlecht bildet das zweite Gravitationszentrum der Arbeiten von Bublitz. In Anschluss an ihre frühe Beschäftigung mit den Verschränkungen von ›Klasse‹ und ›Geschlecht‹, denen sie am Beispiel von Arbeitertöchtern an Hochschulen (Bublitz 1980) sowie mit Blick auf die ›Überlebensarbeit‹ von Arbeiterfrauen (Bublitz 1992) nachgegangen ist, liegt der Fokus der

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In ihrer deutschen Auslegung neigen Gouvernementalitätsstudien dazu, Brüche und Widersprüche zu unterschätzen. Kämpfe und Widerstände sind demnach »immer schon Teil ihrer ›Rationalisierung‹.« (Bröckling et al. 2000: 23) Es ist zwar richtig, dass strategische Machtanordnungen versuchen, sich im Voraus auf Widerstände einzustellen (sonst wären sie nicht ›strategisch‹), allerdings gelingt dies immer nur teilweise. Strategien werden durchkreuzt. Ein Machtdispositiv ist daher keine homogene ›Totalität‹ (vgl. Spreen 2010). Bublitz arbeitet dies heraus, wenn sie im Anschluss an Judith Butler zeigt (s. u.), dass Körperlichkeit nicht in den medialen Machtdispositiven und -diskursen aufgeht. Auch lassen sich die Selbstpraxen, die die zeitgenössische Massenkultur ermöglicht und stimuliert, nicht schlicht mit den Selbstführungskonzepten der neoliberalen Ratgeberliteratur kurzschließen.

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späteren Arbeiten auf der Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Ansätzen, wobei sie in der Analyse des Konnexes von Macht, Körper und Subjektbildung insbesondere die dekonstruktivistische Geschlechtertheorie Judith Butlers kritisch würdigt (vgl. Bublitz 2002). Bublitz folgt zunächst Butler in der Annahme, dass das biologische Geschlecht (sex) letztlich im sozialen Geschlecht (gender) aufgeht, weil es ein Produkt von regulierenden Idealen und diskursiven Anrufungen ist: »Die Kategorie des ›sex‹ ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein ›regulierendes Ideal‹ genannt hat. In diesem Sinne fungiert das ›biologische Geschlecht‹ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren. Das ›biologische Geschlecht‹ ist demnach also ein regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist, und zu dieser Materialisierung kommt es (oder kommt es nicht) infolge bestimmter, höchst regulierender Praktiken. Anders gesagt, das ›biologische Geschlecht‹ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird.« (Butler 1995: 21)

Im Unterschied zu Butlers diskurs- und performativitätstheoretisch fundiertem Zugang allerdings lotet Bublitz Foucaults Konzepte der Bio-Macht und der Normalisierungsgesellschaft als Beiträge zu einer Gesellschaftstheorie der Geschlechterverhältnisse aus (vgl. Bublitz 1998, 2000 und 2001), die eine historische Rekonstruktion der modernen Gesellschaftsordnung und eine differenzierte Analytik von Geschlechter-, Körper- und Selbstverhältnissen ermöglichen (vgl. Mehlmann/Soine 2008: 376). Die historische »›Diskursstelle‹ des Geschlechts und der Geschlechterdifferenz« – so Bublitz – »befindet sich in modernen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert, besonders aber im 19. Jahrhundert, dort wo es um die Kopplung der Individualisierung mit der gesellschaftlichen Regulierung der Bevölkerung geht. An der Schnittstelle von Sexualität, Geschlecht und Fortpflanzung konstituiert sich Geschlecht als soziale und biologische Kategorie.« (Bublitz 2001: 272) Die von Butler theoretisch begründete Hegemonie der heterosexuellen Matrix als normativer Bezugspunkt einer biologisch begründeten und hierarchisch strukturierten (Zwei-)Geschlechterordnung wird in historischer Perspektive auf deren zentrale Funktion im Kontext bevölkerungspoliti-

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scher Strategien zurückführbar. Dabei wird die Disziplinierung des »individuellen Geschlechtskörper[s] […] mit Maximen der Fortpflanzung, der Lebensvor- und -fürsorge, der ›Gesundheit‹ und der ›Normalität‹ der Bevölkerung« (ebd.: 279) verbunden. Mit Blick auf die Norm heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit macht Bublitz zugleich auf die Flexibilität von Normalisierungsverfahren aufmerksam, die es ermöglichen, die vielfältigen diskursiv erzeugten sexuellen und geschlechtlichen Abweichungen in ein Normalitätsfeld einzuordnen und auf diese Weise in das System der Zweigeschlechtlichkeit zu integrieren (vgl. ebd.: 257 und 272). In ihren gegenwartsbezogenen Untersuchungen zur Normalisierungskultur beleuchtet Bublitz den engen Zusammenhang von Subjektivierung, Körperpraxen und Vergeschlechtlichung und bestätigt in ihren Analysen zugleich, was sich nicht nur mit Butler und Foucault, sondern auch aus phänomenologischer und anthropologischer Sichtweise erwarten lässt: Die normativen Zumutungen, die an den Körper in der Normalisierungskultur gerichtet werden – Fitness, Jugend, Attraktivität, Schlankheit –, lassen sich nicht vollständig erfüllen: »Es gibt eine Materialität des Körpers, die nicht in seiner Bezeichnung aufgeht« (Bublitz 2009: 154; vgl. Bublitz 2002: 68). An dieser Grenze werden Brüche sichtbar, früher oder später entziehen sich die Körper den diskursiven Zuschreibungen und medialen Darstellungspraxen. Dieser ›Verfall‹ ist für Bublitz einerseits ein Motor der Optimierungslogik; er treibt die Selbsttechniken der Optimierung an. Andererseits geht er in der normalistischen Steigerungslogik nicht auf und verweist auf Grenzen der diskursiven Zurichtung. ›Medien‹, ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ stellen damit zentrale Kategorien dar, mittels derer Bublitz die paradoxe Situation moderner Subjekte soziologisch aufschlüsselt. Diese Begriffe haben wir daher als Titel für diesen Band gewählt, der aus Anlass des 65. Geburtstags von Hannelore Bublitz erscheint. Die Autorinnen und Autoren sind der Geehrten als Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbunden. Mit dem vorliegenden Band würdigen sie ihr intellektuelles Werk und gratulieren ihr in Anerkennung, Dankbarkeit und Wertschätzung zum Geburtstag. Da niemand die Thematik dieses Bandes besser darstellen könnte als die mit ihm Geehrte selbst, setzt der Band mit einem Text von Hannelore Bublitz ein, der in der Zeitschrift ÄSTHETIK & KOMMUNIKATION erschien und die Frage nach dem Geschlechtskörper in der Medien- und Normalisie-

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rungskultur aufwirft. Anschließend diskutiert Jürgen Link das Verhältnis von Crowdsourcing, Datenrevolution und Normalismus. Anhand der Korrespondenzen zwischen dem Abstraktem Expressionismus und der performativen Mittelschichtgesellschaft befasst sich Michael Makropoulos mit der Geschichte des nachdisziplinären Normalismus. Das Verhältnis von Subjektivierung und Normalisierung ist ebenfalls Gegenstand des Beitrags von Dominik Schrage. Julia Gruhlich, Birgit Riegraf und Lena Weber widmen sich unter gouvernementalitätstheoretischen Gesichtspunkten den paradoxen Anforderungen an die Subjekte im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb. Hartmut Winkler diskutiert kritisch die Frage nach dem aktuellen Status von ›Agency‹ und ›Handeln‹. Andrea Seier wiederum untersucht Fernsehen und Fernsehkritik als immaterielle Arbeit. Von der Überlagerung von Klasse und Gender im Phänomen der Frauendiskriminierung handelt der Beitrag von Regina Becker-Schmidt. Annette Runte wiederum resümiert Lebens- und Fallgeschichten zum Geschlechtswechsel und Sabine Mehlmann befasst sich mit paradoxen Konstruktionslogiken moderner Männlichkeit. Zu den gewalthaltigen Aspekten der Moderne leitet der Beitrag von Wolfgang Eßbach zu Gemeinschaft, Rassismus und Biopolitik über. Jürgen Martschukat befasst sich mit Aneignungen des Indigenen und ›rassisch anderen‹ in den USA. Margarete und Siegfried Jäger analysieren den Afghanistankrieg als diskursives Kampfterrain und Dierk Spreen schließt mit einem Beitrag zu den Diskursvoraussetzungen der Entgrenzung der Gewalt im Kontext des Krieges. Ausdrücklich danken möchten die Herausgeberinnen und der Herausgeber der Fakultät der Kulturwissenschaften der Universität Paderborn und der Universitätsgesellschaft Paderborn. Ohne ihre großzügige und unbürokratische Unterstützung wäre die Festschrift nicht möglich gewesen. Ebenfalls gilt unser Dank dem transcript-Verlag, der das Erscheinen dieser Festschrift erleichtert hat. Dierk Spreen Sabine Mehlmann Birgit Riegraf

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L ITERATUR Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (2000): »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung.« In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-40. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bublitz, Hannelore (1980): Ich gehörte irgendwie so nirgends hin: Arbeitertöchter an der Hochschule. Gießen: Focus Bublitz, Hannelore (1992): »Überlebensarbeit und Geschlechterverhältnisse – ArbeiterFrauen und Töchter im intergenerativen Vergleich: Chancen ihrer ›Individualisierung‹ vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Strukturwandels.« In: Anne Schlüter (Hg.): Arbeitertöchter und ihr sozialer Aufstieg. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und sozialer Mobilität, Weinheim: Deutscher Studienverlag, S. 16-35. Bublitz, Hannelore (1998): »Das Geschlecht der Moderne – Zur Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz.« In: Hannelore Bublitz (Hg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt am Main: Campus, S. 26-48. Bublitz, Hannelore (1999): Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main: Campus. Bublitz, Hannelore (2000): »Zur Konstitution von Kultur und Geschlecht um 1900.« In: Hannelore Bublitz, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900. Frankfurt am Main: Campus, S. 19-96. Bublitz, Hannelore (2001): »Geschlecht als historisch singuläres Ereignis. Foucaults poststrukturalistischer Beitrag zu einer Gesellschafts-Theorie der Geschlechterverhältnisse.« In: Gudrun-Axeli Knapp, Angelika Wetterer (Hg.): Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 256287. Bublitz, Hannelore (2002): Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius. Bublitz, Hannelore (2003): Diskurs. Bielefeld: transcript. Bublitz, Hannelore (2005): In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld: transcript.

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Bublitz, Hannelore (2009): »Das Maß aller Dinge: Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers.« In: Ästhetik & Kommunikation, Heft 144/145, S. 151-160. Bublitz, Hannelore (2010): Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld: transcript. Foucault, Michel (1987): »Das Subjekt und die Macht.« In: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Belz, S. 241-261. Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag. Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag. Makropoulos, Michael (2008): Theorie der Massenkultur. München: Fink. Mead, George Herbert (1987): Gesammelte Aufsätze. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mehlmann, Sabine/Soine, Stefanie (2008): »Gender Studies/Feminismus.« In: Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 367-379. Riesman, David/Denney, Reuel/Glazer, Nathan (1958): Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt. Sennett, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer. Spreen, Dierk (2010): »Was bedeutet die Rede von Machtdispositiven? Zum Verhältnis von Macht und Recht nach Michel Foucault.« In: Ästhetik & Kommunikation, Heft 151, Themenheft »Rechtsempfinden«, S. 97-103. Spreen, Dierk (2012): »Jugend und gewalthaltige Massenkultur. Zur Soziologie der Unterhaltung und der Sozialisationsfunktion der Medien.« In: Jörg Herrmann, Jörg Metelmann, Hans-Gerd Schwandt (Hg.): Wissen sie, was sie tun? Zur filmischen Inszenierung jugendlicher Gewalt. Marburg: Schüren, S. 16-48.

Das Maß aller Dinge Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers1 H ANNELORE B UBLITZ

»I CH

HABE ES LANGE GENUG AUSGEHALTEN IN DIESEM K ÖRPER « Chad und Linda arbeiten im Fitnessstudio. Mit ihrem Wunsch zur Schönheitsoperation bringt die Fitnessangestellte Linda Litzke die Geschichte ins Rollen. Als Single-Frau über 40 will sie sich restaurieren, ein bisschen Speck an Bauch, Oberschenkel und Oberarmen weg, die Augenfältchen gleich mit und auch der Schwerkraft des Busens will sie nachhelfen. Nur das nötige Kleingeld fehlt, um als neugeborene Venus im Online-DatingDschungel Mr. Right zu treffen. Wie praktisch, dass Kollege Chad über eine CD mit offensichtlich brisantem Geheimmaterial im Umkleideraum stolpert und auf die glorreiche Idee kommt, den Besitzer, einen gerade gefeuerten CIA-Experten »Ozzie« zu erpressen. Die Sache läuft aus dem Ruder auch durch das amüsante Verwechsel-Spiel, bei dem »Ozzie«-Gattin Tilda Swinton ihren langweiligen Loser aus dem Loft wirft und gemeinsam mit Linda dem Charme des smarten Regierungsbeamten mit dem frommen Namen Harry Pfarrer erliegt, der selbstverständlich im trauten Heim die Kinderbuch schreibende Ehefrau umturtelt und im Keller heimlich Stuhlkreationen zur Triebbefriedigung für die Damen entwickelt. Am Ende gibt

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Vgl. auch Bublitz 2010.

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es einige Tote, mehrere kaputte Beziehungen, aufgeregte Geheimdienstmänner, brummige Russen und die gewünschte Rundumerneuerung.2 Das ist in Kürze die Handlung des Films Burn after Reading (2008). Der gesamte Film ist witzig, aber nicht nur das. Er zeigt, dass Körperpraktiken Selbsttechnologien sind, die in Selbstsorge erbracht werden müssen. Diese Selbstsorge bildet, neben der eigentlichen Geschichte, den zweiten roten Faden des Films. Und ein weiterer Aspekt ist interessant: Im Gespräch mit dem Schönheitschirurgen sagt die ca. 40jährige (!) Linda Litzke: »Ich habe aus meinem Körper herausgeholt, was möglich war« und »Ich habe es lange genug ausgehalten mit diesem Körper«. Diese Feststellungen lenken die Aufmerksamkeit auf ein Körperverständnis, das den alternden – »faltigen« und »schlappen«, stellenweise auch »fetten« – Körper als Last betrachtet, die man lange genug ›am Hals‹ hatte und nun ablegen möchte. Der Körper erscheint als Äußerlichkeit, als Verhüllung, als unmodernes, abgetragenes Kleid, das man wechselt, allerdings nur, um ein neues Kleid überzuhängen. Was zum Vorschein kommt, ist also nicht etwa der wirkliche, authentische Körper, sondern wieder ein Gewand, ein anderes Körperkleid – ein Gedanke, der nicht ganz neu ist, sondern sich schon lange im theologischen Kontext findet.3 Daran zeigt sich, dass der Körper keine unhintergehbare Natur ist, die es lediglich freizulegen gilt und die (von) »sich (aus zu uns) spricht«. Vielmehr ist er codiert, als Chiffre kultureller Normen lesbar und in mehr als einer Hinsicht als hinfälliger Körper markiert, nämlich zum einen als lebendiger, als solches vergänglicher, sterblicher Körper und zum anderen

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Vgl. Filmtrailer.

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So zitieren Bernhard Lang und Colleen Mac Danell in ihrem Buch Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens Paulus, der über die »Natur des Auferstehungsleibes« ausführt: »Der physische Leib im Gegensatz zum Auferstehungsleib gleicht einem Zelt oder Gewand, in dem das Ich oder die Seele wohnt. Gott wird der Seele nach dem Tod des Leibes ein neues Heim oder Kleid bereitstellen. Der Übergang von einem Gewand zum anderen ist mit einer gefährlichen Reise verbunden – dem Tod.« (Lang/Mac Danell 1996: 59) Dies gilt ganz sicher auch für eine Reihe von Baumaßnahmen, die den Körper auf eine biotechnisch angeleitete Reise schicken oder gar eine Reise durch den Körper machen.

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als maßgerechter Körper, der maßlosen Optimierungsmaßnahmen unterworfen wird – und damit einer ständigen, immer wieder neu produzierten Hinfälligkeit unterliegt. Der digital aufbereitete oder durch bio-ästhetische Selbstformungs- und Optimierungstechnologien immer wieder modifizierte Körper unterliegt, wie andere Waren der Massenkultur, einem – industriell vorgegebenen – Verfallsdatum, das, aufgrund des maßlosen Hungers der Schönheitsindustrie, immer schneller eintritt und den körperlichen Verfall beschleunigt. Das verweist auf das Verhältnis von Körper und Geschlecht. Auch der Geschlechtskörper ist – natürlichkünstlich – in mehr als einer Hinsicht als »hinfälliger« Körper markiert. Am Körper wird das Geschlecht zwar evident, anschaulich und sichtbar kommuniziert, aber das Geschlecht geht nicht unmittelbar aus dem Körper hervor. Es wird ihm eingeschrieben und in körperreflexive Praxen transformiert. Geschlechtskörper sind Körper nach Maß – »Waschbrettbauch« und »Wespentaille« werden künstlich produziert – und unterliegen einer permanenten historischen Verschiebung und Transformation. Der Geschlechtskörper erscheint als geschlechtlich kodierter und sexualisierter Körper, der nur solange sexuell attraktiv erscheint, als er Jugendlichkeit ausstrahlt, insofern also einem Verfallsdatum unterliegt. Besonders Frauen werden über sexuelle Attraktivität und körperliche Schönheit definiert. Der sexuell attraktive jugendliche Körper hat ein Geschlecht: es ist weiblich. Zunehmend rückt allerdings auch der männliche Körper ins medial inszenierte Blickfeld des sexuell attraktiven, schönen Körpers ein, während Männlichkeit als Geschlechternorm lange Zeit Darstellungen eines kraftvollen, mit Machtbewusstsein ausgestatteten männlichen Ideals unterworfen war.4 Der alternde, sexuell attraktive Körper hat auf jeden Fall ein Geschlecht; es ist männlich, während der alternde unattraktive Körper im-

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Dass der männliche Körper nach wie vor eher in Kontexten von Machtpositionen in Erscheinung tritt und als solcher eher (ver)nachlässig(t) wirkt, widerspricht der These, dass nun auch Männlichkeit zunehmend über den ästhetischen Körper codiert wird nicht, sondern zeigt eher, dass es die einer männlichen Geschlechternorm entsprechende »hegemoniale Männlichkeit« (Robert W. Connell) nur im Plural, nicht im Singular und immer eingebettet in die Relation zu anderen Kategorien wie Klasse, soziale Position, Ethnie etc. gibt (vgl. Martschukat/Stieglitz 2005).

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mer noch überwiegend weiblich kodiert ist. Als Elemente eines Geschlechterdispositivs unterliegen Geschlechtskörper der Verschiebung, was ihre gesellschaftliche Funktion betrifft.

Z UR E VIDENZ

DES

G ESCHLECHTS

Nichts verbürgt, so scheint es, das Geschlecht mehr als der Körper. Er steht im Zeichen des Geschlechts, ja, mehr noch, er bildet geradezu sein »WahrZeichen« (Bublitz 2001). Am Körper lesen wir das Geschlecht unseres Gegenübers ab und entscheiden uns im Zweifelsfall für ein Geschlecht – und nur für eins. »Ein männlich oder weiblich aussehender Körper ist Ausgangspunkt unterschiedlicher Etikettierung als Junge oder Mädchen [...]. Wenn wir bedenken, wie desorientiert sich jede(r) von uns fühlt, wenn er/sie nicht weiß, ob sein/ihr Gegenüber Mann oder Frau, (Knabe) [Junge] oder Mädchen ist, wird deutlich, wie bedeutsam das Geschlecht als Orientierung für jede Beziehung zu einem anderen (und zu uns selbst) ist.« (Bilden 1980: 777 f.)

Die Zuordnung einer Person zu einem Geschlecht, männlich oder weiblich, scheint unvermeidbar: Niemand kann sich der strikt binären Klassifikation entziehen, die am Körper festgemacht wird. »Die binäre Klassifikation ist der kategoriale Rahmen alltagsweltlichen Denkens: so werden Geschlechter identifiziert und gedacht.« (Gildemeister 1988, 495 f.) Diese augenscheinliche Evidenz des Geschlechtskörpers gilt es, zu hinterfragen und zu problematisieren. Denn ein Blick in das einschlägige historische Material zeigt, dass der Körper eine höchst unzuverlässige Ressource des Geschlechts ist (Mehlmann 2006). Am und im realen Körper gibt es keine Normen, sondern eine Streuung von Merkmalen, deren Homogenisierung zur Verdichtung in Geschlechternormen und -konventionen führt. An ihnen zeigt sich ein gesellschaftliches Geschlechterprogramm. Dabei bilden die »Abweichungen« von einer künstlich – semantisch-qualitativ und statistisch-quantitativ – festgesetzten Normalitätsgrenze diejenigen privilegierten Gegenstände, an denen sich die Norm und die Normalität der Geschlechterkonstruktion erst entschlüsseln lassen.

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Es gibt keine Unmittelbarkeit des Körpers. Weder bildet er die ahistorische Basis von Kultur und Gesellschaft noch ist er in sich kohärent, also stimmig und eindeutig strukturiert. Vielmehr ist der Körper Ort und Produkt der Geschichte und ihrer körperlichen »Eindrücke«. Die Maxime: »Fortan jedem ein Geschlecht und nur ein einziges«, mit der Michel Foucault einleitend zu den autobiographischen Erinnerungen des Hermaphroditen Herculine Barbin das Bemühen diverser Sexualtheorien seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet, »die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen« (Foucault 1998: 8) und das wahre Geschlecht im Körper zu verankern, könnte auch als Programmatik der vielschichtigen historischen Diskurse verstanden werden, die sich des Körpers als scheinbar eindeutigen Geschlechtskörpers bemächtigen. Damit wird der Körper zum Zeichen einer Gesellschaft, die sich ihrer sozialen Ordnung über den Körper vergewissert. In der Zuordnung zu einem Geschlecht, verortet in einer Matrix der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit (Butler 1991) wird er verfügbar gemacht. Eine »soziologische Reise durch den Geschlechtskörper« (Villa 2000) führt also zwangsläufig zu Fragen: Wie natürlich ist das Geschlecht, wenn wir nicht männlich oder weiblich geboren, sondern dazu gemacht werden? Wie werden Geschlechter gemacht? Was tun und/oder sagen wir, um ein Geschlecht, um Frau oder Mann zu sein? Wie verhalten wir uns also, um Geschlechternormen zu erfüllen, um die Norm zu sein, die die Gesellschaft uns vorschlägt oder verordnet? Und was tun oder sind wir außerhalb dieser Norm? Gibt es überhaupt ein solches Außerhalb? Und welche Grenzen werden den ›Abweichungen‹ oder subversiven Widerständigkeiten durch »die Matrix der Geschlechter« gesetzt?

M ATERIALITÄT

DES G ESCHLECHTSKÖRPERS UND KÖRPERREFLEXIVE P RAXEN Judith Butler geht davon aus, dass bereits das biologische Geschlecht (sex) ein sozial konstruiertes Geschlecht (gender), also sex = gender ist. Die Materialität von Geschlechtskörpern folgt demnach, wie sie es nennt, »regulierenden Idealen«, die sich in den Körper einschreiben und sich im Körper – zwangsweise − materialisieren. Diese symbolische, wiederholte Zuordnung des Körpers wird immer wieder vorgenommen, denn Körper

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sind, wie Subjekte, permanent gefährdet, ihre Fassung zu verlieren. In der ständigen Wiederholung verweist die körperliche Materialisierung von Normen auf Instabilitäten der Körper wie auch der symbolischen Ordnung. Zugleich zeigt sie, »dass die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird.« (Butler 1993: 21) Die Vergeschlechtlichung von Körpern beruht somit auf performativen Sprechakten und normativen »Anrufungen«. Daraus folgt ein ganzes Geschlechterprogramm: Aus der Aussage »Es ist ein Mädchen!« oder »Es ist ein Junge!« wird der Imperativ: »Sei ein Mädchen!« oder »Sei ein Junge!«. Damit wird ein entsprechendes Verhaltensrepertoire in Gang gesetzt, welches in Alltagssituationen ständig eingefordert wird: »Ein Mädchen tut dies nicht und das nicht, aber das…« oder »So sind Frauen eben«. Robert W. Connell spricht von »körperreflexiven Praxen«, die er im Anschluss an den tschechischen Philosophen Karl Koúik ontoformative Praxen nennt, in denen die geschlechtsbezogenen Zuschreibungen der Gesellschaft mit körperlichen Praxen sowie mit den eigenen Gefühlen verschmelzen. Sie konstituieren eine Welt mit einer körperlichen Dimension, die nicht durch die physische Logik des Körpers bestimmt oder biologisch determiniert sind, sondern immer in den sozialen Prozess einbezogen sind, ohne damit aufzuhören, Körper zu sein (Connell 1999: 84). Sie können Wohlbefinden und ein Gefühl der Vertrautheit hervorrufen, aber auch traumatische Erlebnisse auslösen und dem körperlichen Wohlbefinden feindlich gegenüberstehen. Connell schildert den Fall eines Jungen, bei dem sich traumatische Erlebnisse in der Beziehung zu seinem Vater so verdichtet haben, dass seine eigene Körperwahrnehmung gespalten ist in eine Innen- und Außenperspektive: »Er (der Vater) kaufte meinem Bruder zu Weihnachten einen Kricketschläger, aber mir wollte er keinen kaufen. Er sagte, ich könne nicht Kricket spielen. Oder einen Ball werfen. Ein Mann wirft einen Ball ganz anders wie eine Frau. Ich wollte vor meinem Vater keinen Ball werfen, weil ich wusste, es würde nicht richtig aussehen, es wäre nicht so, wie ein guter, starker Junge einen Ball werfen würde. Aber einmal, das weiß ich noch, traute ich mich, einen zu werfen. Und er hat sich über mich lustig gemacht und gesagt, ich würde wie ein Mädchen werfen.« (Connell 1999: 82)

Wie das Beispiel zeigt, wird der Körper als Geschlechtskörper »gesprochen« und in immer wieder eingeübten Praktiken zum Geschlechtskörper ge-

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macht. Nur Weniges an ihm entgeht der Sprache. Die Sprache bildet das Medium von Machttechnologien, die sich als kulturelle Signaturen in den Körper einschreiben. Sie bleiben als solche aber unsichtbar und verbergen sich in der vermeintlichen, täuschenden Natürlichkeit des Körpers. Nur bei Abweichungen von der Geschlechternorm wird es offensichtlich, dass es ein der Norm entsprechendes »richtig« gibt und dass zwischen Körper und Männlichkeitsnorm eine Lücke klafft. Beschrieben ist mit diesen Ausführungen zum einen ein diskurs- und sprachtheoretisches Programm. Zugleich hat sich gezeigt: Es gibt eine Materialität des Körpers, die nicht in seiner Bezeichnung aufgeht, wo die sprachliche Bezeichnung sich nicht mit den eigenen Praktiken und Gefühlen deckt. Mehr als bloßes Zeichen oder Symbol des Geschlechts und der sozialen Ordnung ist der Körper auch ein somatischer Komplex mit eigenständiger materieller Existenz, dessen Bedeutung als Agent der ständig wiederholten Eingravierung normierter Bewegungsabläufe, vereinheitlichten Bewegungskoordinationen und Formen der individualisierten Selbstpräsentation bedarf, um das zu verkörpern, was er ist: ein wirklicher Körper.

K ÖRPER

NACH

M ASS –

DAS

M ASS

ALLER

D INGE

Geschlechtskörper unterliegen, wie wir gesehen haben, idealen Vorstellungen, die sich körperlich in Maß und Zahl ausdrücken (z. B. »XXX« oder »YYY«, »BMI«). Körper nach Maß sind perfekte Körper, die je spezifischen, historischen und kulturellen Idealen von körperlicher Schönheit entsprechen und sich, darauf macht u. a. Umberto Eco (2006) aufmerksam, in bestimmten mathematischen Proportionen ausdrücken, wenngleich, so zitiert Eco den Philosophen Edmund Burke, gewisse Zweifel am Zusammenhang dieser Proportionen mit dem schönen Körper angebracht sind: »Meinerseits habe ich viele dieser Proportionen […] sehr sorgfältig geprüft und habe sie sehr ähnlich oder vollständig gleich gefunden bei Personen, die sich nur sehr stark voneinander unterschieden, sondern von denen auch die einen sehr schön und die anderen von Schönheit sehr weit entfernt waren. […] Der Hals, sagt man, hat bei schönen Körpern denselben Umfang wie Wade und den doppelten Umfang des Handgelenks; […] Aber welche Beziehung hat die Wade zum Hals und jeder von

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beiden Teilen zum Handgelenk? Sicher lassen sich jene Proportionen an hübschen Körpern finden − aber ebenso sicher auch an hässlichen […]. Und ich weiß nicht einmal, ob sie nicht an manchen Körpern, die zu den schönsten gehören, gerade am wenigsten exakt vorhanden sind. Man mag beliebige Positionen für alle Teile des menschlichen Körpers festsetzen − und ich garantiere dafür, dass ein Maler sich an alle halten kann wie an die Offenbarung selbst und trotzdem […] eine äußerst hässliche Gestalt zustande bringt. […] In der Tat kann man an den Meisterwerken antiker und moderner Skulptur bemerken, dass einige von ihnen sehr weit von den Proportionen der anderen abweichen, und zwar in sehr auffallenden Teilen von großer Wichtigkeit; − dass sie aber nicht weniger abweichen von den Proportionen, die wie an lebenden Menschen von außergewöhnlich einnehmender und angenehmer Gestalt finden. Und schließlich: wie weit sind sich denn die Verteidiger der proportionalen Schönheit untereinander über die richtigen Proportionen des menschlichen Körpers einig? Einige sind der Meinung, dass er die siebenfache Länge des Kopfes haben müsse; andere verlangen die achtfache, wieder andere gehen bis zur zehnfachen Länge − welch ungeheure Differenz angesichts so kleiner Verhältniszahlen! […] Aber sind diese Proportionen wirklich genau gleich bei allen hübschen Männern? Und kann man dieselben Proportionen überhaupt an schönen Frauen finden? Niemand wird das bejahen, und doch sind beide Geschlechter unzweifelhaft der Schönheit fähig und das weibliche der größten − ein Vorzug, der nach meiner Meinung schwerlich einer höheren Exaktheit der Proportionen beim schönen Geschlecht zuzuschreiben ist.« (Edmund Burke, zit. n. Eco 2006: 97)

Die moderne Massen- und Populärkultur unterstellt, es gäbe die idealen Proportionen, die den schönen Körper ausmachen. Der schöne Körper ist demnach durch numerische Messwerte – von Gewicht, Proportionen, Fettanteil und Muskelmasse etc. – definiert. Überdies ist er jung, ja, jugendlich, dynamisch und sexuell attraktiv. »Regulierenden Idealen« der Massenkultur erscheint er – medial künstlich produziert und digital aufbereitet – ästhetisch geformt. Biotechnologische und -ästhetische Baumaßnahmen unterwerfen den Körper Vorstellungen von ewiger Jugend, Schönheit und sexueller Attraktivität. Körper nach Maß sind schwerelose Körper, Körper ohne Gewicht. Aber no body is perfect. »Körper von Gewicht« (Butler 1995) sind im Rahmen der Biopolitik nicht gerade diejenigen, die regulierenden Idealen folgen und diese materialisieren. »Körper von Gewicht« finden sich vielmehr an einem der Extreme des körperlichen Kontinuums.

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»Dicksein«, dieses »Plus an Fett« gilt – wie Alter und Behinderung – als Belastung, »als Virus, als Mangel an Selbstbeherrschung und Willensschwäche, als persönlicher Makel und inakzeptable Belastung der (Konsum-)Gesellschaft, dem nur mit rigider Körper- und Bedürfniskontrolle beizukommen ist.« (Wilk 2002: 225) Schlanksein oder besser noch eine magere Figur werden besonders bei Frauen, zunehmend aber auch bei Männern mit einer höheren sozialen Position und mit Unabhängigkeit verbunden, vorausgesetzt, man sieht ihnen »das leibentfremdende Hungern« (ebd.) nicht an. Dem entspricht auf der anderen Seite die technisch-medial und ästhetisch in Szene gesetzte Vollbeschäftigung des Körpers. In der modernen Massen- und Medienkultur verschränkt sich der Körper mit bioästhetischen Selbstformungsexperimenten und Optimierungstechnologien, wie sie dem morphologischen Idealismus der gegenwärtigen Körperkultur zugrunde liegen. In ihr verklammert sich der Imperativ, an sich zu arbeiten mit dem Gemeinwohl aller (Maasen 2008). Der Körper wird so zum ästhetischen Zeichen eines imaginären Raums, das ihn – selbst Ausdruck eines berechenbaren Glücks, das sich in Maß und Zahl ausdrückt – zum Maß aller Dinge macht: Karriere, Erfolg, sozialer Status (vgl. Wilk 2002: 219 f.). Manipulationen am Körper wie Bodystyle und Schönheitschirurgie sind daher Technologien des Selbst, die zugleich eine qualitativ neue Form von Sozialität stiften. Sie sind eingebettet in eine komplexe Matrix von Technologien und Mikropolitiken. Inspiriert von Heldengeschichten der Medien, in denen der Körper durch Magen- und Schönheitsoperationen künstlich gezügelt und modelliert wird, ermöglichen medizinische Eingriffe und ästhetische Operationen, die den Körper umformen, eine Befreiung aus dem Gefängnis des »fetten« und verhassten Körpers, seinem »ungezügelten« Appetit, seiner »Gefräßigkeit« mit dem Ziel einer »selbstdisziplinierten Wiedergeburt« (Morgan 2008: 156). Durch Anwendung von Technologien des Selbst, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper […] vorzunehmen«, rückt es in greifbare Nähe, der »Zustand des Glücks, der Reinheit […] oder der Unsterblichkeit« (Foucault 1993: 26). Selbsttechnologien unterliegen einer Steigerungs- und Optimierungslogik, die sich mit der modernen Bio-Macht verschränkt, deren Ziel die Macht über das Leben und der gesunde Gesellschaftskörper sind.

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Ü BER

DIE H INFÄLLIGKEIT DES G ESCHLECHTS UND DES G ESCHLECHTSKÖRPERS Der Körper ist nicht nur die Schnittstelle, in der sich Fremd- und Selbstführung, mediale Applikationsfolien und nach innen gewendeter, imaginierter Blick der Anderen mit Selbststeuerung verbinden, sondern er ist auch das immer wieder neu aufgelegte »Schnittmuster« desjenigen Schönen, das, an einer marktförmigen »Ökonomie der Aufmerksamkeit« ausgerichtet (Franck 2004), »ankommt«. Nur so ist gewährleistet, dass er bereits in seiner physischen Konstitution und Morphologie in ein ästhetisches und soziales Normalitätsspektrum eingeordnet werden kann. Wer Schönheit ausstrahlt, gehört zu den Gewinnern der Gesellschaft. Ihm stehen Aufmerksamkeit, Position und soziale Anerkennung zu. So wirken die realen Körpersubjekte wie die Angestellten gesellschaftlich produzierter Körperbilder und durch sie generierter Modelle, die nur um den Preis des sozialen Ausschlusses, aufkündbar sind. Dabei führt die Maßlosigkeit und die Grenzenlosigkeit des technisch Möglichen Regie, die den Körper immer wieder neu modellieren und ihn seine »Haut zu Markte tragen« lassen.5 Wer nicht bereit ist, »Hand an sich zu legen«, hat auf dem Markt der Aufmerksamkeit das Nachsehen und gehört zu den »Losern«.6

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War die »Ware Arbeitskraft« und mit ihr die eigene Haut im 19. Jahrhundert alles, was derjenige zu Markte tragen konnte, der nichts als seine bloße Arbeits-/Körperkraft hatte, so ändert sich das im 21. Jahrhundert derart, dass jetzt mit dem Körper gleich auch noch die Persönlichkeit und sein Privates zu Markte getragen wird (Pollmann 2006: 320).

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Sinnfällig wird dies an einem – überaus langweiligen – TV-Format mit dem doppeldeutigen Titel The biggest Loser, moderiert von der ehemaligen Eiskunstläuferin Katharina Witt, deren Inhalt der kontrollierte, im Team organisierte Gewichtsverlust ist. Wer innerhalb einer Woche nicht genug abnimmt oder gar zunimmt, aber auch wer zu stark abnimmt, wird zunächst vom gesamten Team, dann von jedem Einzelnen, aus dem Team heraus gewählt und gehört nun wieder zu den »großen Verlierern«, zum einen, indem durch das Ausscheiden der Gewinn von 100.000 Euro unerreichbar geworden ist und zum anderen, indem der/die Ausgeschlossene zurückkehrt in den Pool der gesellschaftlichen Verlierer, die nun wieder aus eigener Kraft sehen müssen, wie sie sich der Körpernorm annähern.

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Abbildung 1: Diesel Anzeige – SAVE YOURSELF/BREATHE LESS. Der Anzeige liegt eine Arbeit von JeanPierre Khazem zugrunde.

© Diesel S.p.A.

Eingebettet in einen biopolitischen Körperkult, der nicht nur auf die Kontrollierbarkeit der Natur, künstliche Reproduktion, die Steuerbarkeit des Menschen sowie auf die techno-ästhetische Umdeutung von Schönheitsund Körperidealen hindeutet, sondern ökonomischen Maximen folgt, wird der alternde, hinfällige und sterbliche Körper zum Ausnahmezustand und der asketische ebenso wie der technisch (auf)gerüstete Körper nimmt quasireligiöse Züge an. Es ist die Wiederkehr des kindlich-jugendlichen Körpers, der – nicht nur – in der Werbung zum Fetisch eines erotisch aufgeladenen Zeichens der Reinheit und Unschuld, des ewigen Lebens geworden ist. Er verkörpert zudem Askese, Verzicht und Leiden. Mit dieser Heiligsprechung des Verzichts und der Askese wird der Körper zum ästhetischen Zeichen eines imaginären Raums, der widersprüchlich strukturiert ist: Zum einen überschreitet er mit dem Anspruch auf »ewige Jugend«, Schönheit und fortdauernder sexueller Attraktivität den begrenzten irdischen Raum des

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vergänglichen Lebens. Zum anderen aber verschreibt er sich genau damit den irdischen Begierden. Der perfekte, maßgeschneiderte Körper ist der, der beides verkörpert und unter dem Diktat der Jugendlichkeit Spuren der Zeit, subjektiver Erfahrung und Geschichte tilgt. So lautet der Text einer Werbebroschüre der Firma Diesel 2001/02, die unter dem Motto »Staying young forever« und »Save yourself« nach eigenen Worten »lebensrettende Ratschläge« »für ein erfolgreiches Leben« enthält: »With this handy guide to eternal youth, you can be young, beautiful and sexy for ever«. Oder ein anderes Beispiel: »I have enough breathe left to last for another 12 decades of teenage beauty. Imagine that I’ll look this good for another 120 years! Come and get me, boys!« (Abb. 1) Jugendliche Schönheit, die »ewig« andauert, zeigt sich als Ausdruck eines berechenbaren Glücks auf der Oberfläche einer Marke, die, wie ironisch auch immer gebrochen, über einen kaum mehr als geschlechtlich entzifferbaren Körper Attraktivität und Aufmerksamkeit garantiert. Der Körper unterliegt einem extensiven Wunsch nach mehr, nämlich nach Jugend, Unsterblichkeit und ewigem Leben. Gleichzeitig ist er als biotechnisch- und medienästhetisch gestylter Körper einem – immer schnelleren – Verfallsdatum unterworfen, obwohl bioästhetische Eingriffe in den Körper doch eine Steigerung und Verlängerung seines »Haltbarkeitsdatums«, nämlich seine Jugendlichkeit versprechen. Es entsteht eine Paradoxie: Der natürliche Verfall des Körpers wird durch ein technischindustriell produziertes Verfahren abgelöst, das den Körper einem warenökonomisch beschleunigten Verfallsdatum unterwirft, welches den »Altersverfall« bei weitem übersteigt. Die begrenzten Maße des organischen Körpers werden einer Maßlosigkeit des Begehrens unterworfen, die das begehrte Objekt – den perfekten Körper – in dem Moment entwerten, in dem er sich der Wunscherfüllung nähert. Denn die Vervielfältigung der Wünsche ist ebenso wie die immer wieder erneute Erzeugung der Mangelhaftigkeit des Körpers der Motor einer Konsumlogik, in der sich das Verlangen nach ewiger Schönheit und Jugend ebenso wie das Begehren, einen perfekten Körper zu besitzen, endlos aufrechterhält und erneuert. Tauschund Libidoökonomie greifen ineinander und geben sich einen Körper, dessen Tod und Verschwinden durch seinen ständig aufs Neue reproduzierten Mangel – und das Begehren nach Mehr – verhindert wird. Gleichzeitig entrückt der durch Gewichtsmanagement techno-ästhetisch durchgestylte Körper dem Leben immer mehr. Er hat sich – und seine Kontrolle –

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einer »inneren Polizei« übergeben, die schon im Magen dafür sorgt, dass der Körper nicht mehr vom Terror des Hungers überfallen wird und Heißhungerattacken abwehrt (Morgan 2008: 156 f.). Abbildung 2: Jil Sander Werbeanzeige von 2005.

© Jil Sander Group

D IE

HIMMLISCHE

S CHÖNHEIT

DER

G ESCHLECHTER

Am Ende erstrahlt der ewig jugendliche Körper in himmlischer Schönheit und signalisiert so das Ende aller Begehrlichkeiten. Technologisch produziert gibt der so präsentierte Körper gewissermaßen »den Geist auf«, indem er, betont künstlich arrangiert, wie ein »Zombie« erscheint, der als geschlechts- und lebloses Phantasma des Körpers zugleich so täuschend natürlich wie eine Puppe wirkt, die Lebendigkeit bloß simuliert und zugleich, als Fetisch, erotisch aufgeladen ist. Jil Sander macht das augenfällig (Abb. 2).

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Der Materialität entrückt, gibt der Körper sich als Repräsentant des ewigen Lebens aus, dem der Tod – und damit das »ewige Leben« – bereits auf die Stirn geschrieben ist. Symbol »ewiger Jugend« manifestiert sich der Tod im und auf der Oberfläche eines technisch optimierten Körpers, indem dessen Haltung und Ausdruck, eingefroren und – ins Jenseits – entrückt, scheinbar das Ende allen Begehrens anzeigen, der Körper aber gleichzeitig zum Objekt einer optimierten Vermarktung und Verwertung geworden ist. Ästhetisiert und stilisiert, wird der Körper zum signifikanten Symbol des endlos-endlichen Lebens, das sich seines Verfallsdatums scheinbar entledigt hat. Gerade in der Annäherung des Körpers an ein technisches Optimum aber »verfällt« die Materialität des Körpers in immer kürzeren Zyklen – wird seine »Sterblichkeit« paradoxerweise beschleunigt. Der christliche »Auferstehungsleib«, der den physischen Leib wie ein »Gewand«, das gewechselt wird, hinter sich lässt, kehrt als modisches Utensil himmlischen Glücks in irdische Wunschterritorien zurück. Damit rückt die »verewigte Schönheit des Leibes« (Lang/Mac Donell 1996) in greifbare Nähe. Das Leiden der ästhetischen Körperoptimierung erzeugt »weltliche ›Heilige des disziplinierten Fleisches‹« (Morgan 2008: 156) und gebärt himmlische Körper. Denn darin besteht der Ausgleich für das Martyrium der Enthaltsamkeit: Sie stellt die »Auferstehung des Fleisches« (Lang/Mac Donell 1996: 77) und dessen himmlische Schönheit in Aussicht. So schreiben die katholischen Theologen Bernhard Lang und Colleen Mac Donell in ihrer mit Bezug auf Augustins Vorliebe für die »Göttlichkeit des Schönen« und »die kirchliche Verheißung« der »verewigten Schönheit des Leibes«: »Im ewigen Leben wird menschliche Schönheit durch nichts mehr beeinträchtigt. Da ›fehlendes Ebenmaß Missfallen bedeutet‹, wird bei der Auferstehung ›die Körpergröße so bemessen sein, wie es der dem Leibe eines jeden Menschen eingepflanzten Idee vollendeter [...] Jugendkraft entspricht, wobei die einzelnen Glieder in schicklichem Verhältnis zueinander stehen werden.‹« (Lang/Donell 1996, 94)

Und sie setzen mit Augustinus fort, dass man auch »um die Mageren und Fettleibigen nicht besorgt zu sein [braucht], sie möchten etwa auch drüben so sein, wie sie hier ungern genug waren« (ebd.). Auch wird eine »ansprechende Farbe« der Haut nicht fehlen. Im Himmel wird es also nicht nur menschliche Leiber geben, sie werden alle auch nur denkbare Schönheit

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und jedes Ebenmaß besitzen (ebd.: 94). Denn Augustinus ist sich sicher: »Im Himmel herrscht Schönheit« (ebd.: 95). Unsicherheit besteht lediglich darüber, ob die »auferstandenen Frauen die Merkmale ihres Geschlechts verlieren«. Aber Augustinus ist beruhigt, dass das nicht nötig sein wird, denn »beide Geschlechter werden auferstehen« und auf diese Weise die »vollkommene Schönheit des Körpers bewundern können, dessen paradiesische Nacktheit wiederhergestellt sein wird. Die erotische Anziehungskraft wird frei sein von aller Begehrlichkeit […]. Im anderen Leben wird es kein Interesse am Geschlechtsverkehr geben, denn jede Begierde hört überhaupt auf.« (Ebd.)

S CHLUSS Erscheint der Körper einerseits, ungeachtet seiner historischen Formierung, als Garant einer fraglosen physischen Realität, so wird er auf der anderen Seite als Effekt historischer Körperpolitiken konturiert und damit als – soziohistorischen Normierungspraxen vorgängige – Naturkategorie dementiert. Fraglos ist der Körper lediglich in der Doppelung als natürlichkünstlicher Körper. Was als Natur erscheint, ist immer schon soziohistorisch kategorisiert und damit künstlich; aber dies setzt voraus, dass sich Bezeichnungspraxen körperlich materialisieren. Der Körper wird zum Zeichen des Geschlechts und dessen Ambivalenzen. Er verkörpert nicht nur das Spiel mit dem Geschlecht, seine performative Vereindeutigung, sondern er verkörpert auch seine performative Verschiebung, ja Außerkraftsetzung. Zugleich erleben wir die verstärkte Wiedereinführung eines sexualisierten Geschlechtskörpers, der, als perfekt gestylter für den Warenreichtum der Gesellschaft steht, wobei auch ihm, in seiner Künstlichkeit, medial digital bearbeitet, bioäshetisch und biotechnisch geformt, sein Verfallsdatum auf die Stirn geschrieben steht. Aber nicht nur der geschlechtliche, sexualisierte, sondern auch der kindlich-jugendliche, vorpubertäre Körper repräsentiert sexuelle Attraktivität. Beide machen sie Appetit auf modische Produkte und Accessoires, die sexuell aufgeladen werden. Als Maß aller Dinge, ästhetisches Symbol ewiger Jugend und ewiger Schönheit, gleicht der Körper dem »Auferstehungsleib«, der den lebendigen, hinfälligen Leib hinter sich lässt, aber auch »den Geist aufgibt« und

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als modisches Utensil himmlischen Glücks in irdische Wunschträume zurückkehrt. Während dem extrem jugendlichen, vorpubertären Körper alle Zeichen der Geschlechtlichkeit und Fruchtbarkeit entzogen sind und er damit indirekt auf die künstliche, gentechnologisch organisierte Fortpflanzung verweist, lässt sich der sexualisierte, geschlechternormierte Körper als Bezugnahme auf einen von der Fortpflanzung nun fast endgültig abgekoppelten Sex lesen. Beide werden als sexualisierte Objekte für Konsumanreize eingesetzt, sind einer performativen Hinfälligkeit unterworfen – und verewigen das Geschlecht auf ihre Weise.

L ITERATUR Bilden, Helga (1980): »Geschlechtsspezifische Sozialisation.« In: Klaus Hurrelmann, Dieter Ulich (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel, S. 777-812. Bublitz, Hannelore (2001): »Wahr-Zeichen des Geschlechts. Das Geschlecht als Ort diskursiver Technologien.« In: Andreas Lösch, Dominik Schrage, Dierk Spreen, Markus Stauff (Hg.): Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern. Heidelberg: Syndikat Verlag, S. 166-183. Bublitz, Hannelore (2008a): »Geschlecht.« In: Hermann Korte, Bernhard Schäfers (Hg.): Einführung in Hauptbegriff der Soziologie. 7. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag, S. 87-106. Bublitz, Hannelore (2008b): »Körper nach Maß − Produkt(e) mit Verfallsdatum? Zur Infrastruktur von Körper- und Selbsttechnologien.« In: Celina Camus, Annabelle Hornung, Fabienne Imlinger, Angela Kolbe, Milena Noll, Isabelle Stauffer (Hg.): Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen. Konstruktionen. Interventionen. Königsstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, S. 282-297. Bublitz, Hannelore (2010): »Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativ inszenierten Hinfälligkeit des Körpers«. In: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus!«. Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Mulitdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transkript, S. 33-50.

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Wie man auf »780/800 fuckability« kommt Zum Verhältnis von Crowdsourcing, Datenrevolution und Normalismus J ÜRGEN L INK

Was ist das Wesen des zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Welt dominierenden Typs von Gesellschaft? Die gleiche Frage lautet, etwas konkreter gefasst: Was ist das Wesen des aktuellen »westlichen« Gesellschaftstyps? Dazu fehlt es nicht an Angeboten auf dem Diskursmarkt: Natürlich längst »Industriegesellschaft« und dann auch »Dienstleistungsgesellschaft«, »Konsumgesellschaft«, »Wohlstandsgesellschaft«, »Überflussgesellschaft« (Galbraith), »offene Gesellschaft« (Popper), »auto-mobile Gesellschaft« (Katharina Steffen), »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck), »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze), »Wissensgesellschaft«, »Informationsgesellschaft«, »Mediengesellschaft«, »Bildungsgesellschaft« (Heike Solga), »Google-Gesellschaft« (Lehmann/Schetsche), »Spaßgesellschaft«, »Verwöhnungsgesellschaft« (Sloterdijk), »Multioptionsgesellschaft« (P. Gross). Et j’en passe. Versucht man, diesen »Multioptions«-Markt grob zu kartografieren, so zeigt sich, dass zunächst eine (schon ältere) Teilmenge offensichtlich eine Alternative zu »Kapitalismus« anbietet: »Konsumgesellschaft« usw. Da geht es darum, entweder den Antagonismus zu leugnen und den Kapitalismus zu positivieren oder von der ökonomischen Determination wegzukommen und »Überbauten« zur »Basis« zu ernennen. Eine zweite Teilmenge bietet offenbar statt der ökonomischen eine technische Determination an: »Mediengesellschaft«, »Google-Gesellschaft« usw. Vermutlich wird bald jemand »Wolken-Gesellschaft« vorschlagen (nach »Cloud«), ohne die Selbstironie des Doppelsinns zu bemerken (bei Sloterdijk gab es

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schon die »Schäume«, aber meines Wissens noch keine »Schaumgesellschaft«). Sodann sind da die eigentlich »postmodernen« Labels wie »Spaßgesellschaft« und »Verwöhnungsgesellschaft«, wenn nicht gar »Wegwerfgesellschaft«. Im Gegensatz dazu stehen »Disziplinargesellschaft« (Foucault) und »Kontrollgesellschaft« (Deleuze), die Hannelore Bublitz stellenweise zu »Disziplinar- und Kontrollgesellschaft« (Bublitz 2010: 97) ineinsfasst. Innerhalb dieses »Markts« fällt ein eigenartiger Gegensatz auf, der als Symptom für die Fragestellung der folgenden Überlegungen dienen kann: Insbesondere innerhalb der »postmodernen« Labels herrscht eine Dichotomie zwischen über-»schäumendem« (Sloterdijk) »Optimismus« und polemischem »Pessimismus«. Zum einen »Erlebnisgesellschaft«, »Spaßgesellschaft«, »Verwöhnungsgesellschaft«, »Multioptionsgesellschaft« – zum anderen »Risikogesellschaft«, »Disziplinargesellschaft«, »Kontrollgesellschaft«. Zu den eher kritischen Konzepten gehört auch die auf Foucault zurückgehende »Normalisierungsgesellschaft«, die auf den bereits in sich ambivalenten Begriff der »Normalität« verweist, der im Fokus der folgenden Ausführungen stehen wird. Synonyme sowohl der positiven wie der eher pejorativen postmodernen X-Gesellschaften sind alle Begriffe, die die neuen Medientechniken als gesellschaftskonstitutiv betrachten: »Mediengesellschaft«, »Informationsgesellschaft«, »Google-Gesellschaft«. Die Frage ist also, inwiefern die »optimistischen« und die »pessimistischen« Aspekte insbesondere der die ICT (Information and Communication Technologies) favorisierenden Benennungen sich eventuell aus einer gemeinsamen strukturellen Wurzel ergeben und inwiefern diese Wurzel als »medial« zu begreifen ist. Zur Lösung dieser Frage hat Hannelore Bublitz in ihrer Studie Im Beichtstuhl der Medien einen wichtigen, und zwar subjektivierungstheoretisch orientierten, Beitrag geleistet.1 Bublitz stellt das von ihr modellartig konstruierte Dispositiv eines »Beichtstuhls der Medien« in eine genealogische Reihe von früheren Dispositiven seit der katholischen Ohrenbeichte als Dispositiv der »Pastoralmacht«. Ähnlich wie Foucault die »Disziplinargesellschaft« im idealtypischen Modell des benthamschen Panopticums kondensiert, dient bei Bublitz das Radio- und Fernsehformat Domian als ein idealtypisches Modell für das Dispositiv eines »Beichtstuhls der Medien« (bekennendes

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Vgl. die Rezension zum Beichtstuhl der Medien von Michael Niehaus (2011).

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Subjekt, Talkmaster als »Beichtvater«, virtuell totales Publikum als säkularisierte Gottesinstanz). Ähnlich wie das Panopticum ist Domian ein Extremfall: In der Stille der Nacht, wenn die Normalität schläft, sprechen sich Extremfälle aus (bei den behandelten Beispielen geht es um lesbisches Harassment einer Muslimin, Scheidung mit 82 Jahren, weil der Mann perverse Masturbations-Maschinchen baut, Orgasmusschwierigkeiten eines Querschnittgelähmten, ein symbolisch-inzestuöses Dreieck, verschiedene Süchte des Partners, Depression nach Abtreibungen aus Karrieregründen). Domians Interventionen werden durchgehend als disziplinär-kontrollierend im Sinne einer imperativen Beratung interpretiert, was seiner flexibel-normalistischen Taktik nicht immer gerecht wird: Er toleriert alle traditionellen (protonormalistischen) »Anormalitäten« (Homosexualität, Masturbation, behinderte Sexualität, Abtreibung, im Prinzip auch symbolischen Inzest), besteht aber radikal auf Transparenz (keine Opazität gegenüber intersubjektiven Partnern) und Freiwilligkeit (Autonomie). Offenbar soll die freie »Aussprache« (Bekenntnis) vor dem Medienvater und dem Publikum als »Befreiungsschlag« für die autonome Subjektivierung dienen. Bublitz betont immer wieder (nach Foucault) die »Produktivität« dieser Art von Subjektivierung – sowohl für die Anrufer wie indirekt auch für die Zuhörer/Zuschauer, die sich mit den Beichtenden vergleichen und entsprechend einordnen, eventuell zu eigenen »Produktionen« stimuliert werden können. Hannelore Bublitz geht es dabei vor allem um die mediale Konkretisierung der Subjektbildung als solcher: »assujetissement« gleichzeitig als Autonomisierung (Konstitution als dieses einmalige Subjekt) und Unterwerfung (unter die Normen der Gesellschaft). Im Kontext der folgenden Überlegungen soll das Dispositiv eines »Beichtstuhls der Medien« zunächst normalismustheoretisch ergänzt werden: Wie bereits erwähnt, geht es in Domian um die Grenzen des flexibel-normalistischen Normalspektrums. Im Gegensatz zum Protonormalismus mit seinem in jeder Hinsicht »engen« Normalspektrum und seinen harten Normalitätsgrenzen, denen ein entsprechend ausgedehntes Anormalspektrum korrespondiert, sind die Normalitätsgrenzen des flexiblen Normalismus nicht bloß, von der »Mitte« aus gesehen, »sehr viel weiter hinausgeschoben«, sondern auch heimlich ambivalent-attraktiv. Sie verheißen »überdurchschnittliche« Erfahrungen, sie winken mit einem »höheren Grad an Subjektivität« (ganz einfach, weil sie statistisch weniger massenhaft sind), so dass die »Beichtenden« in

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ambivalenter Weise stolz auf ihre »Beichten« sein können. In einer Besprechung des Buches von Bublitz hat Michael Niehaus kritisiert, dass Domian ein Grenzfall sei, und dass eine Analyse »normalerer« FernsehtalkFormate zu wünschen gewesen sei. Das ist sicher richtig – eine solche Analyse hätte die Breite des flexiblen Normalspektrums genauer entwickeln und viele konkrete »Punkte« der latenten Normalverteilung im einzelnen abschreiten können. Wie allerdings bereits erwähnt, ist die Breite des flexiblen Normalspektrums stets in Gestalt des Publikums präsent. Auch ohne explizite Kommentare (als Anrufe oder Emails) und ohne explizite Ranking-Abstimmungen rezipiert die Masse des Publikums die »Geständnisse« als Extrempunkte auf einem Kontinuum, auf dem auch jedes einzelne Massenatom sich selbst befindet, so dass es sich typischerweise mit dem jeweiligen Beichtgeständnis »vergleicht«: ›Das könnte ich nie machen! – Immerhin habe ich schon mal xy gemacht‹. Es bleibt die Frage, ob das Dispositiv des »Beichtstuhls der Medien« nicht die idealtypisch unterstellte Polarität von flexiblem Normalismus und Protonormalismus falsifiziert, wie es die Sicht auf Domian als Zensor und die Einordnung des ganzen Dispositivs in eine »Disziplinar- und Kontrollgesellschaft« bei Bublitz nahelegt. Diese Problematik soll nun ebenfalls zunächst am Beispiel eines idealtypischen Modells, und zwar eines literarischen, entfaltet werden. In seinem Erfolgsroman Super Sad True Love Story von 2010 imaginiert Gary Shteyngart eine Zusammenbruchskrise der USA in naher Zukunft (konnotativ bereits etwa in den 2020er Jahren). Die nahkünftige Kultur ist eine Medienkultur, in der der »Beichtstuhl der Medien« jeden Augenblick des Lebens sämtlicher gesellschaftlicher Atome erfasst hat. Auf seinem »äppärät«, einem Super-Smartphone, wird jedes Atom ständig in vielen Dimensionen gerankt und beteiligt sich gleichzeitig »interaktiv« an den Rankings. Konkret sind die wichtigsten Dimensionen Geld und Sex, »credit« und »fuckability«. Über elektronische Säulen kann man die Daten sämtlicher Passanten jederzeit abrufen. In einer exemplarischen Szene befindet sich der Held, ein kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag stehender mittlerer Manager mit intellektuellen Zügen aus einer eingewanderten russisch-jüdischen Familie, der ein Tagebuch in autobiografischer Simulation führt, in einer Bar mit Freunden aus dem Medienmilieu und einer bunten Medienjugend. Einige typische Zitate:

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»The girl across the bar laughed immediately without even turning my way. A bunch of figures appeared on my screen: ›FUCKABILITY 780/800, PERSONALITY 800/800, ANAL/ORAL/VAGINAL PREFERENCE 1/3/2.‹ […] ›But I don’t even know her personality,‹ I said. […] ›The personality score depends on how ‘extro’ she is. […] Check it out. This girl done got three thousend-plus Images, eight hundred streams, and a long multimedia thing on how her father abused her. Your äppärät runs that against the stuff you’ve downloaded about yourself and then it comes up with a score. Like, you’ve dated a lot of abused girls, so it knows you’re into that shit. Here, let me see your profile.‹«

Das Datenprofil des Helden ist natürlich kläglich im Vergleich: »MALE HOTNESS« bloß 120 von 800, PERSONALITY bloß 450, allerdings SUSTAINABILITY-Y (Nachhaltigkeit des Kredits in Yüan) immerhin 630. Die Fuckability hängt erwartbar eng mit der Jugend zusammen, und der Held arbeitet in einer Firma für reverse engineering des biologischen Alters durch nanotachnische Zellenreparatur und Einfüllung von »smart blood«. Das Domian-Format war in diesem kurzen Ausschnitt durch die große Bedeutung von child abuse vertreten. Das Mädel mit den Spitzenwerten in Fuckability und Personality hatte ein »langes multimediales Dingen darüber, wie ihr Vater sie missbrauchte«, zu bieten. Shteyngart zeigt also den engen strukturellen Zusammenhang zwischen Beichtstuhl und normalistischen Massenrankings. Die Rankings quantifizieren genau den Ort des Individuums auf den Datenkurven, während die medialen Geständnisse die Daten ganz im Sinne von Hannelore Bublitz »subjektivieren«. Deshalb gibt es neben dem Tagebuchton des Protagonisten die Social-Network-Geständnisdiskurse der flexibel-normalen »Persönlichkeiten«, darunter vor allem der tragisch-traurig geliebten Heldin Eunice. Diese Social-Network-Diskurse sind bei aller schönen satirischen Verve hochgradig austauschbar, predictable und stereotyp, was bekanntlich auch für ihre realen Analoga gilt. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, warum die scheinbar grenzenlose Spreizung des Normalspektrums im flexiblen Normalismus dennoch normalistisch bleibt, das heißt in einer breiten Mittelzone statistisch dichte und durchschnittliche Subjektivitäten produziert – warum der Schlager »Du bist so anders als alle die andern« millionen- und milliardenfach applizierbar ist und warum gerade auch im flexiblen Normalismus der französische Sarkasmus gilt: »Plus ça change, plus c’est la même chose.«

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Wenn diese Frage die eine von zwei im Folgenden zu klärenden grundsätzlichen Fragen an die Normalismustheorie2 ist, so die zweite die nach dem Wesen einer unterstellten »Kontrollgesellschaft«. Noch radikaler als bei Hannelore Bublitz besitzt der flexible Normalismus bei Shteyngart einen – und diesmal mörderisch-totalitären – Schatten. Denn die flexiblen Medienereignisse (Gay Porn Livestreams etwa laufen selbstverständlich in der erwähnten Barszene im gleichen Livestream, den ein alter Medienfreund des Helden sendet und in den er dessen frustrierte Liebesgeständnisse Live einblendet, die allerdings die Zuschauerquote halbieren, so dass sofort zum Gay Sex zurückgeschaltet werden muss) – denn diese flexiblen Liveepisoden laufen über die gleichen äppäräti, mit denen eine simulierte künftige Ultra-Bush-Regierung jede politisch-oppositionelle Regung kontrolliert: Sind also flexibler Normalismus und Protonormalismus tiefenstrukturell nur zwei Seiten einer identischen kulturellen Formation? Diese Ansicht scheint bereits im Begriff der »Kontrollgesellschaft« angelegt, in dem »Kontrolle« doppeldeutig zwischen Selbst-Kontrolle (im Sinne von Selbst-Management) und Fremd-Kontrolle (Zensur, Disziplinierung, Normierung) schillert. Dies also die zweite im Folgenden zu verfolgende Frage. Man kann beide Fragen auch so formulieren: Was bedeutet die elektronische Kulturrevolution und was bedeutet insbesondere die explosive und tendenziell totale elektronische Medialisierung für das Konzept eines flexiblen Normalismus? Bei der Suche nach einer Antwort sollen nun einige exemplarische Publikationen befragt werden, die in der Kultur der Digital Natives die Rolle theoretischer Leitkonzepte spielen. Als erstes ist die Frage zu stellen, worin eigentlich das Neue der elektronischen Kulturrevolution in der Geschichte der Verdatung besteht. Bekanntlich ist die verdatete Gesellschaft als Bedingung der Möglichkeit normalistischer Dispositive zwei Jahrhunderte oder etwas mehr alt – ebenso wie die strukturelle Kopplung zwischen normalistischen Daten- und Kurvenlandschaften auf der einen und massenhaften (auto-)biografischen Fallstudien, die die Daten individualisieren und subjektivieren, auf der anderen Seite. Bisher

2

Vgl. zu den Konzepten einer »verdateten Gesellschaft« als Voraussetzung der Produktion von »Normalitäten« sowie der historischen Polarität zwischen einem rigiden »Protonormalismus« und einem »flexiblen Normalismus« nach dem Zweiten Weltkrieg Link 2009 sowie viele Beiträge in KULTURREVOLUTION. ZEITSCHRIFT FÜR ANGEWANDTE DISKURSTHEORIE,

Essen 1982 ff.

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hat das Internet das Spiel der statistischen Datenlandschaften, also der komplexen Verdatung körperlicher, medizinischer, psychologischer und soziologischer Dimensionen zwischen Demografie, sexuellem Verhalten, Verteilung des Lebensstandards, IQ, »Motivationen« aller Art und »Optimismus/Pessimismus« usw. wie auch das Spiel der repräsentativen Erhebungen nicht wesentlich berührt. Die Absatzstatistiken oder auch die Chart-Rankings von Popmusik, die ebenfalls einfach Absatzstatistiken abbilden, sind natürlich bereits durch die erste Welle der Computerisierung auflösungsschärfer und kurztaktiger geworden. Die Produktion dieser Art von Daten insgesamt hat das Netz allerdings bisher nicht wesentlich verbessert oder verdichtet. Allenfalls ist der »access« zu diesen Datenlandschaften tendenziell revolutioniert worden, weil jeder Interessierte im Prinzip nun umgehend Zugang zu allen Kurvenlandschaften hat. Die eigentliche Revolution ereignet sich (bisher) auf dem Feld der Massenbeteiligung an der Emergenz und Proliferation, an der Evaluierung und am Mainstreaming von einzelnen innovativen bzw. bloß neuen Produkten (zwischen bloßen binären Thumbsup- und Likeit-Buttons und komplexen Rankings). Diese Massenbeteiligung wird theoretisch erfasst im Konzept des »crowdsourcing« (Jeff Howe), einschließlich »crowdtesting«, »crowdrating«, »crowdranking« und »crowdcasting« (Howe 2008). Gegenüber herkömmlichen normalistischen Verdatungen sind die neuen Datenspuren des »crowdsourcing« also in der räumlichen Breite und Repräsentativität verdateter Populationen eingeschränkt, dafür aber verdaten sie erstmals mikroskopisch den Zeitverlauf. Dafür steht der Begriff des »Datenstroms«: Aufstieg und Etablierung, eventuell auch Aufstieg und Fall eines Produkts werden nun automatisch in kleinsten Zeittakten festgehalten. Diesen Prozess hat Geoffrey A. Moore ganz streng auf die Formel der Normalverteilung reduzieren wollen, wobei er die synchrone, räumliche Normalverteilung wie üblich aufteilt in den mittleren Mainstream und die marginalen Spitzen, diese Kurve nun aber gleichzeitig liest als diachronen, zeitlichen Prozess des Wachstums vom marginalen Nischenmarkt am Anfang bis zum Maximalwachstum an der Glockenspitze, bevor das Wachstum wieder bis Null absinkt (Moore 2002). Zwischen dem anfänglichen Nischenmarkt und dem Beginn des Mainstreaming liegt ein »chasm«, den die meisten Produkte nicht überbrücken können – sie bleiben günstigenfalls in der Nische und gehen meistens bald ganz unter. Dieses Modell ist sicher extrem idealtypisch und kann höchstens als grobe Daumenregel dienen. Es

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zeigt aber modellartig die neuen Möglichkeiten der elektronischen Informationstechnik, einen Proliferationsprozess präzise zu verdaten. Die konkreten Beispiele sind bei Moore wie bei Howe wie in anderen Publikationen allerdings stets die großen Erfolgsstorys zwischen American Idol (das Original von Deutschland sucht den Superstar), iStockphoto, YouTube und Wikipedia. Auch diese »Auslagerung an die Masse« (»crowdsourcing« gleich »outsourcing to the crowd«) ist im Prinzip nicht neu: Spätestens seit Fords Zeiten haben große Konzerne versucht, ihre Konsumenten nach Präferenzen zu fragen, diese Präferenzen zu verdaten und die Daten zur Produktplanung und zum Aufbau einer »Corporate Culture« mit Bindung an die Marke zu benutzen. Diese Einbeziehung der Konsumenten wird per ICT multipliziert, feinaufgelöst, zeitlich realtimegetaktet und automatisiert. Der alte kapitalistische Mythos vom »König Kunde«, der alles »frei wählt«, wird insbesondere durch crowdcasting intensiviert: Sängerinnen ohne vorgängige Beziehungen und ohne professionelles Studio bzw. Label können über YouTube sensationell von der »crowd« an die Spitze gewählt werden. Solches »crowdranking« und »crowdrating« produziert inzwischen ununterbrochen neue Daten im Milliardenumfang, etwa nach dem Fünf-Sterne-Bewertungsschema. Ängste vor Chaos werden dabei aber umgehend beruhigt: Es zeigt sich, dass die Rankings und Ratings dem »Power Law« folgen: Nur ganz wenige Produkte, Musiktitel, Personen usw. ziehen einen überwältigenden Anteil der Zustimmung auf sich, während der Rest an Angeboten steil abfällt und in den »long tail« der Masse mit einem oder keinem Punkt übergeht. Was wir also dank ICT im Detail beobachten können, sind Proliferationsprozesse, z. B. Prozesse der plötzlichen Emergenz neuer Stars (man könnte von »Verstarung« sprechen). Normalismustheoretisch ist in diesem Kontext die wichtige Feststellung zu treffen, dass Proliferationen stets eine vorgängige Normalität auf- und durchbrechen und dass sie sich keineswegs automatisch normalisieren müssen. Proliferationen als solche besitzen transnormalistisches Potential. Es ist dieses transnormalistische, also »utopische« Potential, das sich in der amerikanischen Netz-Literatur in Gestalt volldemokratischer Utopien niederschlägt. Während auch »crowdranking« und »crowdrating« im Prinzip das Potential der Emergenz wirklich transnormalistischer Kreationen und Inventionen in sich birgt, die aber selten empirisch zu beobachten sind, scheint »crowdcreating« (diesen Terminus habe ich noch nicht belegt gesehen), also kollektive Produktion kultureller

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Produkte, tatsächlich schon zu gelingen. Das allseits bewunderte Modell ist natürlich Wikipedia, deren anonyme Autoren die Profis von der Encyclopedia Britannica schlagen und die Abschaffung der »Papierversionen« aller großen Enzyklopädien erzwungen haben. Die Möglichkeit, ununterbrochen in ultrakurzen Zeittakten nicht bloß bestehende Artikel zu korrigieren und zu ergänzen, sondern auch neue Artikel in unbegrenzter Anzahl hinzuzufügen, ist zweifellos das Symptom einer wirklichen Kulturrevolution – denn hier werden nicht bloß kulturell-normale Produkte gerankt und mehr oder weniger unverändert millionenfach reproduziert, sondern außernormale bzw. transnormalistische Diskurstypen einschließlich Subjektivierungstypen können »eingebracht« werden – mit der Möglichkeit der Proliferation (so etwa der Wikipedia-Artikel zu Hannelore Bublitz). Wie eine Bestätigung des transnormalistischen Potentials der Crowd liest sich James Surowieckis The Wisdom of Crowds, bei dem es hauptsächlich außer um »crowdrating« um so etwas wie »crowdforecasting« geht: etwa die bekannten Wahlprognosebörsen (Surowiecki 2004). Surowiecki betont, dass die Exaktheit solcher Einschätzungen bzw. Prognosen von der Unabhängigkeit jedes Massenatoms bei der Datenproduktion abhänge, um »herding« zu vermeiden – »herding« und »Imitation« nämlich könne zur Bildung von »bubbles« führen, anders gesagt: zu Proliferationen. Insofern erscheint Surowieckis Buch als Versuch, das drohende Proliferationspotential des Netzes zu normalisieren. Wie eine aktualhistorische Ergänzung zu Foucaults Ordnung der Dinge (Les mots et les choses) liest sich David Weinbergers Everything is Miscellaneous. Ausgehend von einer Kritik des Gegenmodells einer streng systematischen Bibliothekstaxonomie bei Melvil Dewey (nicht identisch mit dem Philosophen) wird das Modell einer unbeschränkten Anzahl oszillierender Taxonomien je nach Perspektive entwickelt (Weinberger 2007). Jedes Foto etwa und jede Zeitungsmeldung oder jedes Buch kann unter sehr viel verschiedene Rubriken eingeordnet werden (chronologische, politik-, kultur-, militär- usw. historische, ästhetische, motiv- oder personbezogene usw.). Plattformen wie iStockphoto oder YouTube erlauben der Crowd, Fotos oder Videos beliebig zu »taggen« – was keine traditionelle Archivsystematik leisten könnte, ist elektronisch kinderleicht: Ein Klick genügt, um gigantisches Archivmaterial unter je wechselnden Aspekten umzuordnen. Ebenso erlaubt ICT, mittels »crowdranking« und »crowdrating« die Massen an Material zu »filtern«, ohne sie zu »zensieren«: Während ein

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herkömmliches Archiv ex ante selegieren muss, können die neuen elektronischen Archive einfach alles aufnehmen, um es dann ex post durch Massenratings selegieren zu lassen – im Prinzip können dabei nicht bloß statistische Verdichtungen, sondern auch individuelle Präferenzdatenströme befragt werden: Künftig kann mit wenigen Klicks erfragt werden, welche zehn russischen Ikonen des 15. Jahrhunderts eine bestimmte Person besonders geschätzt hat. Bekanntlich nutzt Amazon bereits jetzt diese Möglichkeiten eines automatischen »data mining«, um uns Nutzern fast täglich Titel zu empfehlen, die mit unseren bisherigen Präferenzen statistisch gekoppelt sind. Weinberger, der Sympathien für die liberalen und teils libertären Potentiale von ICT besitzt, betont insbesondere auch die Möglichkeit für Minoritäten, mittels »cybervoting« traditionelle Taxonomien umzustoßen oder sich überhaupt erst »einzubringen«. Sein Musterfall ist die Revolutionierung des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in der Nach-Achtundsechzigerzeit, als z. B. die Homosexualität als »Mental Disorder« getilgt wurde (erst in den 1970er Jahren!). Normalismustheoretisch betrachtet, lässt sich die Revolution des »miscellaneous« (durchaus auch übersetzbar als des »Bunten«) als ICT-basierter Schub des flexiblen Normalismus begreifen: Das Normalspektrum wird ausgedehnt, und die Quasi-Normalverteilung als Mantelkurve über der Gesamtpopulation wird »flacher« (weniger dicht in der Gesamt-Durchschnittszone und dichter in Richtung der »Ränder« – zudem wird die Mantelkurve weniger glockenförmig, da sie Verteilungen mit mehreren Buckeln normalisieren muss). Wenn man zudem die Oszillation durch verschiedene Präferenz-Verteilungen einbezieht, erscheint die Quasi- Normalverteilung des flexiblen Normalismus selbst als permanent oszillierend. Und doch sieht es nicht so aus, als ob die Quasi-Normalverteilung als Mantelkurve über der gesamten gesellschaftlichen Datenlandschaft grundsätzlich in Gefahr wäre. Im Gegenteil ist es angesichts der Explosion individueller Präferenzen und der Pluralisierung von Nischen umso auffälliger, dass sich das scheinbare Chaos des Miscellenaneous zu massenhaften Stereotypen und Normalitäten einpendelt. Plus ça change, plus c’est la même chose. Aus diskurstheoretischer Sicht ist dieser Befund freilich alles andere als überraschend: In der amerikanischen Netz-Literatur werden die individuellen Präferenzen in der Regel (man muss schon sagen:) recht naiv als je spontan aus ursprünglich-kreativen Subjekten hervorsprudelnd behandelt. Es fehlt dort jede Reflexion auf die Subjektivierung dieser Sub-

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jekte – der »Beichtstuhl der Medien« kommt nicht vor. Shteyngarts satirische Simulation deckt diese Tiefenstrukturen auf, indem sie die familialistische Prägung der flexibel-normalen Subjekte einbezieht – die sich auf der medialen Ebene im Symptom des wuchernden Themas Inzest und Kindesmissbrauch erweist: Um mit 780/800 Fuckability crowdgerankt zu werden, ist für einen weiblichen Crowdstar das »Angesagteste« der Vaterinzest als Kind! Die Antwort auf die erste der beiden grundsätzlichen Fragen an die Normalismustheorie lautet also: Die »neuen Medien« wirken im wesentlichen (bisher) als zusätzlicher Schub des flexiblen Normalismus, ohne ihn zu erschüttern. Allerdings besitzen sie transnormalistische Potentiale, insbesondere durch die Möglichkeit der mikroskopisch präzisen Verdatung von Proliferationen. Der in den Plattformen mit universellem Access strukturell inhärente Verzicht auf vorgängige Gatekeeper und vorgängiges Filtering erlaubt zudem eine enorme Emanzipation kleiner und kleinster Nischen, denen dadurch eine erhöhte Chance auf Proliferation zuwächst. Von der Struktur her könnten daraus hundert Avantgarde-Blumen und mehr erwachsen – dass das bisher nicht zu beobachten ist, liegt an der Durchschlagskraft normalistischer Filterungskriterien, die in die Subjektivität der beteiligten Massenatome einprogrammiert sind und ihre »freie Wahl« lenken und einschränken. Abschließend sei die zweite Frage gestellt: Muss nicht die Möglichkeit, die gigantischen neuen Datenmassen auch zu Kontroll- und Disziplinierungszwecken zu benutzen, mit diskursiver Notwendigkeit zur Stärkung protonormalistischer Restaurationstendenzen führen? An Symptomen zwischen Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren für extreme Anormalitäten wie insbesondere Kindesmissbrauch, Pädofilie, Terrorismus, Amoklauf u. ä. fehlt es nicht. Diese absoluten Anormalitäten dienen allerdings gerade auch dem flexiblen Normalismus als Normalitätsgrenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Protonormalistisch ist aber die Tendenz, von solchen extremen Grenzen zurück ins Normalspektrum zu fragen und nach »Vorfeldern« bzw. »ersten Schritten auf einer abschüssigen Bahn« zu fahnden. Typisch sind die Versuche, nach Amokläufen zu fragen, ob es keine »early warning signals« gegeben habe: Hat der Täter bestimmte Ballerspiele besonders fanatisch gespielt? War er sexuell anormal? War er in der Kindheit negativ geprägt worden? Das sind typisch protonormalistische Kategorien. Solche Fahndungen begegnen möglicherweise rein technisch

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den Verfahren des kommerziellen »data mining« individueller Präferenzenströme, etwa bei Amazon und Facebook. Tatsächlich sind viele Möglichkeiten der ICT ambivalent zwischen flexiblem Normalismus und Protonormalismus. Man denke an den Trend zu »neuen Krankheiten« wie ADHS oder Burnout. Sie dienen flexibel-normalistisch der Inklusion und Integration: Wenn solche »Probleme« derartig verbreitet sind, sind sie normal und können integrativ bewältigt werden. Gleichzeitig können sie protonormalistisch als »Vorfelder« ernsthafter Anormalitäten interpretiert werden – wobei die protonormalistische »Therapie« auch darin bestehen kann, »die Sache nicht hochzuspielen« und statt dessen eine symbolische Schocktherapie zu empfehlen. Erweist sich die »Anormalität« allerdings als hartnäckig, so plädiert die protonormalistische Mentalität für Separation, z. B. in Sonderschulen. Die Alternative zwischen Separation und Integration ist im Allgemeinen ein deutliches Symptom für die Alternative zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus. Gilt die Formel »The medium is the message«? Führt die Technik als solche zum Ermächtigungs- und Polizeistaat? Vielmehr ist die Explosion individueller Daten durch ICT für beide normalistischen und sogar für transnormalistische diskursive Strategien verwendbar. Wie bei der Subjektivierung als der eigentlichen Quelle von verdatbaren »Präferenzen« fasst eine diskurstheoretische Analyse die Ambivalenz bestimmter Datensätze und Kurvenlandschaften zwischen flexibel- und protonormalistischen Taktiken nicht als technisch prädeterminiert auf. Vielmehr hängt die Entwicklung solcher Ambivalenzen und Alternativen von aktual- und insbesondere diskurshistorischen Ereignissen ab. Solange der flexible Normalismus dominiert, werden die Tendenzen totalitärer »Kontrolle« als bedrohliche Fremdkörper und nicht als integrale Normalitäten der Netzkultur wahrgenommen. Der Begriff einer »Kontrollgesellschaft« deckt daher nicht eine, sondern zwei weitgehend inkompatible Diskurslandschaften und Kulturen. Dafür ist die plötzliche Proliferation der Piraten ein mächtiges Symptom. Flexible Selbstkontrolle und totalitäre Kontrolle durch einen Überwachungsstaat sind nicht glatt miteinander vereinbar. Gerade auch die entsprechenden Subjektivierungen einschließlich verschiedener denkbarer »Beichtstühle der Medien« sind überwiegend inkompatibel. Ein künftiger Umschlag der gesamten Kultur zu einem neuen Protonormalismus ist nicht unmöglich (er ist in der Situation der großen Krise seit 2008 sogar wahrscheinlicher geworden und scheint vor allem in den USA makabererweise

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»chancenreich«) – aber er wäre ein Mega-Ereignis, das sämtliche gesellschaftlichen Praxis- und Diskursbereiche, und vor allem auch die sozialen und politischen, erfassen würde. Ein solches historisches Großereignis wäre nicht technisch prädeterminiert.

L ITERATUR Bublitz, Hannelore (2010): Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld: transcript. Howe, Jeff (2008): Crowdsourcing. Why the Power of the Crowd is Driving the Future of Business. New York: Crown Business. Link, Jürgen (2009): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 4., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage (erste Auflage 1996). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Moore, Geoffrey A. (2002 [1991]): Crossing the Chasm. Marketing and Selling Disruptive Products to Mainstream Customers. New York: Harper Business. Niehaus, Michael (2011): »Der Beichtstuhl im Visier?« In: kultuRRevolution, Nr. 60, S. 77-79. Surowiecki, James (2004): The Wisdom of Crowds. New York: Anchor. Weinberger, David (2007): Everything Is Miscellaneous. The Power of the New Digital Disorder. New York: Henry Holt.

Mark Tansey, The Triumph of the New York School, Öl (monochrom) auf Leinwand, 188 x 304.8 cm, 1984

Abstrakter Expressionismus und performative Mittelschichtgesellschaft M ICHAEL M AKROPOULOS

I. Der Kampf ist zu Ende. Während im Hintergrund noch die Schlachtfelder rauchen, wird im Vordergrund bereits die Kapitulationsurkunde unterzeichnet, im Stehen, mitten im Schlamm, aber auf einem gedeckten, eigens dafür herbeigeschafften Tisch. Die Bevollmächtigten der gegnerischen Armeen stehen am Tisch, links etwas gebeugt und schreibend der Vertreter der Verlierer, rechts aufrecht und abwartend, die Hände entspannt in den Hosentaschen, der Vertreter der Sieger. Beide sind halbkreisförmig von Offizieren und Mannschaften umringt, einigermaßen geordnet bei den Siegern, die die Verlierer fest im Auge behalten, weniger geordnet bei den Verlierern, unter denen sich eine Gruppe vom Geschehen abwendet, während ein Offizier in sich gekehrt auf die Szene blickt und ein zweiter, ein militärischer Exot im Pelz, sich anders als seine Leute, interessiert dem Zentrum des Geschehens nähert. Die Sieger stehen lässig im Schutz eines gepanzerten Fahrzeugs. Sie tragen amerikanische Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg, die Offiziere haben ihre Mützen auf, die Mannschaften ihre Stahlhelme, und alle wirken wie Leute, die einfach ihren Job gemacht haben und allem anderen wenig Bedeutung beimessen. Die Verlierer dagegen stehen nervös vor einigen Kavalleristen, der traditionellen Avant-Garde, die mit Lanzen bewaffnet und zu Pferde sind. Sie tragen französische Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg, auch hier haben alle Mützen oder Helme auf, einige tragen Reitstie-

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fel, einige Teile von Paradeuniformen, andere gänzlich unmilitärische Kleidungsstücke, zwei tragen Säbel. Die Gruppe wirkt steifer, altmodischer, unzeitgemäßer, theatralischer, aber auch heterogener als die der Sieger. Es liegt eine gewisse Verachtung für die Sieger in ihrem Habitus, vielleicht die einzige Möglichkeit, der interessierten Herablassung der Sieger zu begegnen, die ihre militärische Überlegenheit so gelassen auszuspielen scheinen. Aber trotz aller psychologischen Plausibilität der Szene, stimmt auf dem Bild eigentlich nichts. Und spätestens wenn man sein ikonographisches Genre aufruft, bündeln sich die irritierenden Details der Darstellung zur kompletten historischen Absurdität der Szene: Auf dem scheinbaren Historiengemälde, das ausschließlich in roten und orangen Tönen gehalten ist und dadurch wie ein Foto aus einem alten Magazin wirkt, ergeben sich französische Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg amerikanischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem ist das Bild nicht reine Fiktion. Das Gemälde ist realistisch, beinahe fotorealistisch, und einige der Figuren sind nicht nur unterscheidbare Individuen mit erkennbaren Gesichtern, sondern einigermaßen identifizierbare Personen. Zur Gruppe der Sieger gehören neben ihrem Anführer Clement Greenberg, hinter dem Harold Rosenberg und Robert Motherwell stehen, im weiteren Halbkreis Mark Rothko, Willem De Kooning, David Smith, Barnett Newman, Arshile Gorky, Jackson Pollock und Joseph Cornell, dessen Aufmerksamkeit einem abseits stehenden Offizier der Verlierer gilt. Zur Gruppe der Verlierer gehört André Breton als Unterzeichnender, beobachtet von Pablo Picasso im Pelzmantel und Henri Matisse im Kutschermantel, hinter ihnen André Derrain, Pierre Bonnard, Fernand Léger und ganz hinten rechts mit den Händen in den Manteltaschen und fast schon ein Überläufer in seinem relativen Abseits Marcel Duchamp, vorne in der Gruppe, die sich demonstrativ vom Geschehen abwendet, rauchend Guillaume Apollinaire, mit dem Rücken zum Betrachter Juan Gris, dann Salvador Dalí mit Paradehelm und schließlich neben ihm mit Marschallsmütze, fast verdeckt, Henri Rousseau. Spätestens hier weicht die Absurdität der Szene, die den verschiedenen Zeitebenen, den unterschiedlichen Haltungen, den gegensätzlichen Kleidungsstilen und nicht zuletzt den ungleichen waffentechnischen Ausrüstungen der beiden Armeen geschuldet ist, einer komplexen emblematischen Evidenz: Die Szene ist kein Historiengemälde, sie ist vielmehr eine ausgesprochen voraussetzungsvolle Allegorie. Sie ist zunächst eine Allegorie auf die Ablösung der europäischen Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-

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derts als Inbegriff der Moderne durch die amerikanische Malerei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und genauer, der abstrakten europäischen Malerei durch die abstrakte amerikanische Malerei. Sie ist darüber hinaus eine Allegorie auf den allgemeinen Rückzug der europäischen Moderne vor der amerikanischen Moderne, deren historische Stunde mit dem Zweiten Weltkrieg gekommen war, wie Rosenberg bereits zu dessen Beginn erklärt hatte.1 Und sie ist – nicht zuletzt und vielleicht am aufregendsten – eine Allegorie auf die reflexiv herbeigeführte Transformation der modernen Malerei, die sich nicht nur in der unfreiwilligen Verlagerung ihres topologischen, politischen und gesellschaftlichen Zentrums von Paris nach New York manifestierte, sondern auch in ihrer Herauslösung aus den letzten außerästhetischen Bindungen durch die komplette selbstreferentielle Reduktion ihrer Gestaltungsmittel. Deshalb ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein Dichter, nämlich Breton, die Kapitulationsurkunde unterzeichnet, und ein Kunstkritiker, nämlich Greenberg, die Kapitulation entgegennimmt. Autorisiert ist der unterzeichnende Dichter zwar noch von einem Maler, nämlich Picasso, sekundiert wird der abwartende Kritiker aber bereits von einem anderen Kritiker, nämlich Rosenberg. Und vielleicht ahnt man schon hier, dass die Szene damit nicht zuletzt auch eine Allegorie auf die Verschiebung der kulturellen Bedeutungsgewichte von der Kunstproduktion zur Kunstvermittlung ist, die seitdem eine beispiellose öffentliche Karriere gemacht und der kuratorisch-kommentierenden Vernunft ungeahnte Institutionalisierungsmöglichkeiten beschert hat. Das Gemälde von Mark Tansey trägt den Titel »Der Triumph der Schule von New York«. Gemeint ist jene lose, heterogene, aber durch die beiden Kritiker Greenberg und Rosenberg zum »Abstrakten Expressionismus« homogenisierte Strömung der amerikanischen Malerei nach 1945, die nicht nur die Frage der Abkehr von der Gegenständlichkeit neu gestellt und die klassisch-modernen Konzepte der abstrakten Malerei revolutioniert, sondern auch die Emanzipation des Bildes von seiner Repräsentationsfunktion betrieben und die Freisetzung der Farbe von der Instrumentalität erreicht hat, an die sie die traditionelle Ausrichtung der Kunst auf Bedeutungen ge-

1

Harold Rosenberg (1959 [1940]): »The Fall of Paris.« In: Harold Rosenberg: The Tradition of the New. New York, S. 209-220.

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bunden hatte.2 Allerdings ist die Revolutionierung der modernen Malerei nicht die einzige Facette der Geschichte, die den Abstrakten Expressionismus so bemerkenswert macht. Denn der Abstrakte Expressionismus war auch die bewusste Herstellung einer eigenen ästhetischen Tradition, die die Vereinigten Staaten bis dahin nicht hatten, die sie aber benötigten, um im Kalten Krieg nicht nur militärisch und ökonomisch, sondern auch kulturell zu bestehen. Es ging darum, dem Liberalismus eine ebenso eigenständige wie elaborierte ästhetische Form zu geben. Dazu bedurfte es zumindest in den fünfziger Jahren mehr als einer avancierten Massen- und Konsumkultur; das State Department, erklärt Louis Menand, wollte der Welt vielmehr zeigen, »dass die Vereinigten Staaten eine Nation waren, die nicht nur aus Autos, Kaugummi und Hollywoodfilmen« bestand. Die moderne Malerei wurde deshalb – nicht zuletzt auf dem Wege organisierter Ausstellungen amerikanischer Maler in Europa – zum »idealen Propaganda-Werkzeug« einer Modernisierung im Zeichen des amerikanischen Liberalismus, die der Modernisierung im Zeichen des Totalitarismus sowjetischer Prägung entgegengestellt werden sollte, auch wenn es keine expliziten Arrangements zwischen der Regierung und den Kunstinstitutionen gab, weil sie in einem kulturellen Klima, in dem der Antikommunismus beinahe Selbstverständlichkeit besaß, schlicht überflüssig waren. Das betraf nicht zuletzt die beiden ›Erfinder‹ des Abstrakten Expressionismus: Greenberg, der den Mythos begründet hatte, dass diese Malerei reine Malerei sei, war wie Rosenberg, der den komplementären Mythos begründet hatte, dass diese Malerei reiner Ausdruck sei, ›linker‹ Antikommunist. Und was war überhaupt der Abstrakte Expressionismus, dieses widersprüchliche Amalgam aus Selbstbezug und Expression, das die organisierte Uneindeutigkeit zelebrierte, wenn nicht Liberalismus pur? »Er war Avantgarde, also Produkt einer avancierten Zivilisation. Im Kontrast zur sowjetischen Malerei war er weder repräsentationsgeleitet noch didaktisch. Er konnte als reine Malerei verstanden werden – als eine Kunst, die von ihren eigenen Möglichkeiten und Experimenten in Farbe und Form absorbiert war. Oder er konnte als reiner Ausdruck verstanden werden, also als eine Schule, in der jeder Künstler

2

Vgl. Clement Greenberg (1961 [1955]): »›American Type‹ Painting«, in: Clement Greenberg: Art and Culture, Critical Essays. Boston, S. 208-229 bzw. Harold Rosenberg (1959 [1940]): »The American Action Painters.« In: Harold Rosenberg: The Tradition of the New. New York, S. 23-39.

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eine einzigartige Signatur hatte. Ein Pollock sah nicht wie ein Rothko aus, der wiederum nicht wie ein Gorky oder Kline aussah. Aber wie auch immer, Abstrakter Expressionismus stand für Autonomie, nämlich die Autonomie der Kunst, die von ihrer Verpflichtung befreit war, die Welt oder die Freiheit des Individuums zu repräsentieren, also genau die Prinzipien, die die Vereinigten Staaten in ihrem weltweiten Kampf verteidigten.«3 Er war Teil eines Kampfes, und zwar eines Kampfes, in dem es nicht zuletzt um die Freiheit von tradierten Fixierungen an Bedeutungen ging. Deshalb hat Tansey diese Geschichte in eine Kapitulationsszene gefasst, in der sich eine geradezu übersignifikante Gruppe einer fast asignifikanten ergibt. Aber selbst wenn man eine offensive politische Geschichte des Abstrakten Expressionismus konstruiert, die ausgesprochen antieuropäisch gefärbt ist, und diese Geschichte ins Zentrum der Analyse stellt, lassen sich nur sehr oberflächliche Korrespondenzen zwischen der Konstitution dieser ästhetischen Strömung und der Konstitution einer Mittelschichtgesellschaft behaupten, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten etabliert und zumindest in der westlichen Hemisphäre von den Vereinigten Staaten als gesellschaftliches Leitbild propagiert wurde. Die amerikanische Malerei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – so muss man die These der folgenden Überlegungen deshalb spezifizieren – hat zwar viel mit der offiziellen Regierungspolitik der Vereinigten Staaten zu tun.4 Aber sie hat – wie alle autonome Kunst – selbst unter den politisiertesten Bedingungen zumindest prima vista nichts mit ihrer sozialstrukturellen Entwicklung zu tun. Wenn man aber ein bestimmtes prinzipielles Charakteristikum des Abstrakten Expressionismus neben ein zentrales tiefenstrukturelles Moment der amerikanischen Mittelschichtgesellschaft stellt, wird ein Dispositiv erkennbar, das vielleicht mehr als alle anderen Dispositive der Moderne signalisiert, worin die Besonderheit jener liberalen Kultur besteht, die seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der gesamten westlichen und zunehmend in der globalisierten Welt alle Rationalität auf ihrer Seite zu haben scheint.

3

So Louis Menand (2005): »Unpopular Front. American art and the Cold War.« In: The New Yorker vom 17. Oktober 2005 (Übersetzung vom Verf.).

4

Vgl. Serge Guilbaut (1997 [1983]): Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg. Dresden/Basel, bes. S. 71 ff.

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II. »Die Malerei Barnett Newmans«, hat Max Imdahl erklärt, »lässt sich als amerikanisch bezeichnen«. Damit ist natürlich etwas anderes gemeint als der triviale Umstand, dass Newman ein amerikanischer Maler war und in den Vereinigten Staaten arbeitete. Gemeint ist vielmehr, dass er jener amerikanischen Strömung in der modernen Malerei angehört, für die neben Newman vor allem Rothko, Kline, Still, Gorky, Motherwell, de Kooning und nicht zuletzt Pollock stehen. Gemeint ist aber vor allem, dass er trotz aller Unterschiede zu den Genannten, die ästhetischen Prinzipien dieser Malerei auf eine paradigmatische Weise vertreten hat. »Ein Charakteristikum der amerikanischen Malerei«, so Imdahl, »ist das große, unüberschaubare Bildformat (›big canvas‹) als eine Verneinung des europäischen Tafelbildes und der im Tafelbild verwirklichten Komposition: Der Unüberschaubarkeit des Bildes entspricht dessen antikompositionelle Binnenstruktur. Das unüberschaubar große und antikompositionelle Bild charakterisiert bereits die amerikanische gegenstandslose Malerei der vierziger Jahre, und zwar bleibt die mit ihm vollzogene Abwendung vom Tafelbild und dessen Komposition das allgemeine Merkmal der amerikanischen gegenstandslosen Malerei auch auf späteren Entwicklungsstufen.«5 Das bemerkenswerte an dieser Abwendung vom »europäischen Tafelbild« ist, dass der Begriff hier nicht etwa die Tradition der gegenständlichen Malerei seit der Renaissance bezeichnet, sondern die gegenstandslose Malerei der Klassischen Moderne, für die am klarsten die Arbeiten von Piet Mondrian stehen. »Für Newman steht Mondrian auf der Seite der traditionalen Malerei, der ›etablierten Rhetorik der Schönheit‹, das heißt unter der Voraussetzung der Idee des komponierten Tafelbildes«, das »ein in sich selbst abgeschlossenes, insgesamt zu überschauendes und insofern notwendig distanzgebietendes System« sei, das ein »System der Ordnung« von »unveränderlichen, harmoniestiftenden Beziehungen« repräsentiert. »Genau diese Repräsentationsfunktion des Bildes hat Newman kritisiert«.6

5

Max Imdahl (1996 [1971]): »Barnett Newman‚ ›Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III‹.« In: Max Imdahl: Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main, S. 244-273, hier S. 267.

6

Ebd., S. 249 f.

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Diese Abwendung von der Repräsentation durch die Unüberschaubarkeit und Kompositionslosigkeit des Bildes bedeutet die Radikalisierung der Abstraktion – und zwar nicht als bloße Überbietung der klassisch-modernen Abstraktion des Kubismus eines Picasso oder Gris und des Neoplastizismus eines Mondrian, sondern als definitive Distanzierung der Abstraktion von der Repräsentationsfunktion überhaupt. Das lässt sich auf dem Hintergrund der primären Abstraktion der Klassischen Moderne verdeutlichen. Diese primäre Abstraktion, für die paradigmatisch der Kubismus steht, war in ihrem Kern eine Antwort auf die zunehmende Unübersichtlichkeit und Unanschaulichkeit moderner Wirklichkeiten, die sich in den artifiziellen Lebenswelten technisierter und ästhetisierter Weltverhältnisse manifestierten. Der Komplexität dieser Wirklichkeiten entsprach – analog zum Weltbild der modernen Naturwissenschaften – die Standpunktabhängigkeit des Sehens und die damit verbundene Einsicht, dass jede Totalität in einzelne, gegeneinander nicht privilegierbare Perspektiven zerfiel. Das führte die Kubisten zunächst dazu, die Gegenstände der Dingwelt zu zerlegen und ihre verschiedenen Innen- und Außenansichten frei ineinander zu verschränken, so dass Inneres und Äußeres der Objekte gleichzeitig aus verschiedenen Gesichtswinkeln gesehen werden konnten. Der Kubismus brach auf diese Weise nicht nur mit der Zentralperspektive und der illusionistischen Beleuchtung der Gegenstände, die seit der Renaissance die Wahrnehmung auf eine räumliche und materiale Integrität des Gegenstandes gegründet hatte, die einem materialistischen Objektverhältnis entsprach; der Kubismus zielte darüber hinaus auf die prinzipielle Überwindung der Perspektivität überhaupt, um so das Wesen der Gegenstände zu erschließen, das gleichsam als analytische Form aus ihrer freigelegten Struktur abgehoben werden sollte. »Die erstaunliche Neuerung der Einführung mehrerer Ansichten desselben Gegenstandes, den man von oben, von der Seite, von vorn gesehen darstellte«, hat Arnold Gehlen erklärt, sei »eine Folge des Entschlusses« gewesen, »die standpunktsbezogene Erscheinungsmalerei aufzugeben« und so »den Gegenstand ›selbst‹, seinen vollen ›Begriff‹ in die Darstellung zu zwingen; so dass nichts hinderte, mittels mehrerer Ansichten desselben Gegenstandes eine ›analytische Beschreibung‹ von ihm zu geben«.7

7

Arnold Gehlen (1965 [1960]): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. 2. Auflage. Frankfurt am Main, Bonn, S. 91.

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Aber die potentielle Gesamtheit der Perspektiven war unendlich, sofern immer neue Einzelperspektiven interpolierbar waren. Entscheidend war deshalb die Transformation dieses »fragmentarischen Ansichtsbilds in ein ganzheitliches Vorstellungsbild«, wie Werner Haftmann den entscheidenden Sachverhalt mit Blick auf das virtuell Konstruktive gefasst hat, das bereits im ›analytischen Kubismus‹ steckt. Dazu bedurfte es freilich eines weiteren, synthetisierenden Moments, das kein Widerruf des analytischen war, sondern dessen weiterführende Ergänzung. Es war geradezu »logisch«, betonte Haftmann, die »analytische Interpretation des Gegenstandes zu verlassen und im synthetischen Umgang mit der Form selbst Gegenstände herzustellen, die sich entweder als Unvergleichbares der Natur gegenüberstellten oder den natürlichen Gegenstandsformen eine Eindringlichkeit und Wirklichkeit gaben, mit der sie bisher noch nicht gesehen wurden«.8 Die kubistische Lösung des modernen Wirklichkeitsproblems lag damit zwar in der Reduktion aufs Elementare, aber sie befreite sich nicht wirklich von der gegenständlichen Vorgabe, sondern zielte durch die analytische Summe ihrer perspektivischen Ansichten hindurch gleichsam auf den synthetischen Quotienten der konstituierenden Prinzipien dieser Vorgabe. Nicht das spezifische Objekt in seinen verschiedenen perspektivischen Anund Durchsichten, so könnte man sagen, war jetzt der Gegenstand, sondern sein allgemeines und gerade deshalb abstraktes Bauprinzip. Und in diesem Sinne war die primäre Abstraktion der Klassischen Moderne gerade in ihrer konstruktivistischen Variante noch eine ausgesprochen konkrete Kunst, nämlich das Medium für die Sinnlichkeit einer Abstraktion, die die Materialität und die Gegenständlichkeit zumindest als virtuelle noch mitführte. Diese Abhängigkeit der abstrakten Malerei der Zwischenkriegszeit von der Gegenständlichkeit bildet den Ausgangspunkt für die radikal gegenstandslose Malerei des Abstrakten Expressionismus seit ihren Anfängen in den späten vierziger Jahren und ihrer spektakulären Manifestation in den späten Arbeiten von Pollock. »Man arbeitete in den Jahren 1947-1950 daran, die grundlegendsten Elemente des Malens – Linie, Farbe, Handwerk – von ihren normalen Assoziationen mit der uns bekannten Welt zu befreien«, bemerkt Timothy J. Clark, »oder zumindest von der Welt, die aus Ob-

8

Werner Haftmann (1987 [1954]): Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte. 7. Auflage. München, S. 125 bzw. S. 147.

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jekten, Körpern und ihren Zwischenräumen besteht.«9 Abstraktion bedeutete hier aus diesem Grund nicht nur die Emanzipation des Sehens von der gegenständlichen Wirklichkeit, sondern die Emanzipation der Abstraktion selbst von jeder Repräsentation, also gewissermaßen eine Abstraktion zweiter Ordnung – auch wenn diese sich im negativen Bezug zum Konkreten manifestieren mochte, zu dem eben nicht nur die Objekte und Körper, sondern auch ihre räumliche Anordnung gehörte, sei sie auch noch so zufällig. In dieser Emanzipation von jeder Repräsentation realisiert sich zunächst jene nonfigurative Selbstreferentialität der radikalen Gegenstandslosigkeit in der Malerei, die pauschal als verfahrenstechnische Besonderheit avancierter Abstraktion gilt.10 Aber das ist nicht das Entscheidende – oder zumindest ist es nicht das spezifisch Unterscheidende, das den Abstrakten Expressionismus auszeichnet. Selbstreferentiell war schließlich schon das in jeder Hinsicht elementaristische schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch oder – noch früher und gleichzeitig gegenständlicher – der flirrende Pointillismus der Sonntagsnachmittagsszene von Georges Seurat. Selbstreferentiell war eben schon der Suprematismus, wenn nicht sogar der Impressionismus. Das Entscheidende ist deshalb vielmehr, dass sich unter der Voraussetzung radikalisierter Abstraktion in dieser Selbstreferentialität ein Weiteres, nämlich die Performativität vorbereitet, die zumal für Pollocks Ausprägung des Abstrakten Expressionismus charakteristisch ist – und zwar nicht nur als Produktions-, sondern auch als Formprinzip des Bildes. Zur Unüberschaubarkeit und Kompositionslosigkeit des Bildes in der Malerei des Abstrakten Expressionismus kommt also ein Drittes hinzu, das sie von vergleichbaren Tendenzen in Europa und namentlich von der Informellen Malerei der fünfziger Jahre unterscheidet, nämlich die Situativität und Performativität des ästhetischen Aktes, wie sie Pollock Ende der vierziger Jahre am entschiedensten erprobt und Rosenberg als Umstellung von Darstellung auf Handlung mit der Formel des »action painting« auf den Begriff gebracht hat.11 Das setzt die Radikalisierung der Abstraktion zwar

9

Timothy J. Clark (1994 [1990]): Jackson Pollock. Abstraktion und Figuration. Hamburg, S. 34.

10 Vgl. Pierangelo Masset (2002): »Zwischen Tradition und Neubeginn. Anmerkungen zur Kunst der fünfziger Jahre.« In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre. München, S. 103-109, bes. S. 104. 11 Ebd., S. 106 bzw. Rosenberg, »The American Action Painters«, S. 23.

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voraus, aber es führt zugleich ein zusätzliches aktivistisches Moment in die Malerei ein, das nicht mehr dem teleologischen Handlungsmodell entspricht – und das dennoch kein aktionistischer Automatismus im Sinne einer ›peinture automatique‹ ist. Es ist vielmehr ein Moment, wie es ein pragmatistisches Handlungsmodell rekonstruiert, in dem das Handlungsziel im Handeln selbst generiert wird und diesem gerade nicht handlungstranszendent vorausgeht. »Die ›drip paintings‹ der Jahre 1947-1950«, so Clark, »sollten eine bestimmte Erfahrungsordnung mitteilen«, nämlich eine Ordnung der Erfahrung, die selbsttragend war und deren Voraussetzung »gerade das Zerfallen jeder einzelnen, eindeutigen Zugehörigkeit zu einem Raum, einem Teil der Welt, einer Art von Natur« war. Dabei ging es nicht um Dissonanz, nicht um eine Ästhetik des Hässlichen und auch nicht um Ästhetisierung des Zerfalls, wie sie in der europäischen Tradition der Melancholie nicht erst nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs apokalyptisch outriert wurde. Worum es ging, war vielmehr die Emanzipation der Erfahrung von ihrer Bindung an Eindeutigkeiten überhaupt. Deshalb war »Dissonanz« gerade »nicht die Wahrheit in Pollocks Kunst«. Pollocks »Projekt« sei vielmehr der Versuch gewesen, »den Formen von Dissonanz ebenso wie den Formen von Totalität die Herrschaft nicht zu ermöglichen.«12 Man mag darin die amerikanische Variante dessen sehen, was dann ein Vierteljahrhundert später im europäischen Kontext poststrukturalistisch als Asignifikanz zum Einsatz gegen die totalitären Tendenzen klassisch-moderner, wenn nicht überhaupt abendländischer Signifikanzen wurde und noch in dieser Verspätung von der Fixierung an die spezifisch europäische Tradition und ihre historischen Realitäten geprägt ist.13 Die Positivierung des Situativen und Performativen lässt sich jedenfalls – anders, nämlich ›gestaltungspolitisch‹ gesagt – ebenso wie die Positivierung des Unüberschaubaren und des Antikompositionellen, als nachhaltige Emanzipation der Malerei von der Bindung an die Idee einer ästhetischen Souveränität verstehen, die gerade für die Abstraktion der klassisch-modernen Avantgarde charakteristisch ist und in der die abstrakte Malerei als Ausdruck

12 Clark, Jackson Pollock, S. 43 f bzw. S. 48. 13 Vgl. als geradezu liebenswürdige Feinderklärung an »den Signifikanten« Gilles Deleuze/Félix Guattari (1976 [1975]): Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main.

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eines dynamischen Gleichgewichts das konkrete Modell einer harmonischen, idealen und deshalb ebenso definitiven wie universalen metaphysischen Ordnung sein sollte, wie Mondrian programmatisch erklärt hat.14 Insofern steht die klassisch-moderne Abstraktion gerade durch ihre spezifisch gegennatürlichen Formexperimente noch weitgehend, wenn nicht ausschließlich in der Tradition der europäischen Melancholie, wie nicht nur Walter Benjamin wusste. Sie ist deshalb selbst in ihren selbstreferentiellen Dimensionen noch instrumentell, weil sie eine kompensatorische Antwort auf den Verlust einer kosmologisch oder theologisch oder rationalistisch garantierten, allemal aber sinnhaft orientierten Ordnung der Wirklichkeit ist. Unüberschaubarkeit, Kompositionswidrigkeit, Performativität – vor allem aber deren Positivierung führt dagegen auf ein Weltverhältnis, welches nicht das Weltverhältnis der europäischen Melancholie ist. Es geht in diesem Weltverhältnis nicht um die Kompensation einer verlorenen Einheit der Wirklichkeit im Ästhetischen, wie sie nicht nur die bürgerliche Kunst bis in die kunstreligiösen und die symbolistischen Ästhetizismen der Wende zum 20. Jahrhundert, sondern auch die dezidiert anti-bürgerlichen Avantgarden mit ihrem ästhetischen Totalitätsanspruch und ihren daraus abgeleiteten definitiven politischen Gestaltungsansprüchen bestimmt hat. Es geht in diesem Weltverhältnis auch nicht um die Option auf eine Souveränität der Kunst aus dem Geist der barocken Allegorie, wie sie noch die konstruktivistischen Abstraktionen bestimmt, die gerade durch die hochreflexive Selbstreferentialität der ästhetischen Gestaltungsmittel im Prinzip Konstellationen von potentiellen oder modellhaften Sinnelementen bleiben.15 Der historische und systematische Bruch des Abstrakten Expressionismus mit der Tradition der Klassischen Moderne, die eine zutiefst europäische Moderne war, ist nämlich vor allem der Bruch mit einem Weltverhältnis, das selbst dort noch auf ein garantierendes oder wenigstens doch stabilisierendes situationstranszendentes Ordnungsprinzip fixiert blieb, wo es bestenfalls noch dessen Trümmer feststellen konnte. Diese Deutung des

14 Vgl. Piet Mondrian (1956 [1937]): »Plastic Art and Pure Plastic Art.« In: Walter Hess (Hg.): Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek, S. 100-105, bes. S. 102 f. 15 Vgl. Walter Benjamin (1974 [1925]): Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Frankfurt am Main, S. 203-430, bes. S. 238 ff.

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barocken Weltverhältnisses hat Benjamin vielleicht am Eindringlichsten formuliert: »Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt«. Denn »die tiefer Schürfenden sahen sich in das Dasein als in ein Trümmerfeld halber, unechter Handlungen hineingestellt.«16 Und die radikale Abkehr von diesem melancholischen Weltverhältnis unterscheidet Pollock oder Newman oder Rothko tatsächlich etwa von Wols und trennt die amerikanische gegenstandslose Malerei der Nachkriegszeit von der europäischen, die mit der Wiederaufnahme der unterbrochenen klassisch-modernen Tradition in den dreißiger und vierziger Jahren auch das melancholisch-autoritative Weltverhältnis dieser Tradition übernahm. Bemerkenswert ist dies im Übrigen nicht zuletzt deshalb, weil der sprichwörtliche amerikanische Optimismus zumal nach der zermürbenden historischen Phase der Depression im Lichte dieser Deutung möglicherweise geradezu Entscheidungssache war, Resultat einer weiteren bewusst herbeigeführten, nunmehr nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Ablösung von Europa. Der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika Ende des 18. Jahrhunderts als Manifestation des politischen Liberalismus entspräche dann der Abstrakte Expressionismus als Manifestation des kulturellen Liberalismus. Er setzt die Emanzipation aus dem melancholischen Weltverhältnis und seinen transzendentalen Wirklichkeitserwartungen voraus. Und am Ende ist vielleicht genau das – mehr als alle Ökonomisierung des Ästhetischen – erst die zureichende Bedingung für die Herausbildung der späteren Pop-Kultur gewesen, die gerade durch Freisetzung der ästhetischen Gestaltungsmittel und der Zeichen aus ihren tradierten Bindungen an fixierte Bedeutungen zum Leitbild einer globalisierten Massenkultur werden sollte.

III. Es bietet sich an, das andere, nämlich das soziale Element des liberalen Weltverhältnisses, dem der Abstrakte Expressionismus angehört, also die Mittelschichtgesellschaft, an dieser Stelle über ihre spezifische, aber analogisierbare Differenz im Gleichen einzuführen. Dieses Gleiche ist das sozialstrukturelle Dispositiv der sozialen Mobilität – und zwar in seiner

16 Ebd., S. 317 f.

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vollen Bedeutung von Diskursen und Praktiken organisierter Selbstentfaltung und in seiner irreduziblen Ambivalenz von Möglichkeitsoffenheit und gleichzeitiger Stabilisierungsbedürftigkeit der sozialen Positionen, die eben keine gegebenen, sondern errungene soziale Positionen in einem unvollständig determinierten sozialen Raum sind. Notwendige Voraussetzung sozialer Mobilität ist die Auflösung oder zumindest die Durchlässigkeit der sozialen Struktur, ihre zureichende Voraussetzung aber ist die Internalisierung einer spezifischen, nämlich prinzipiell offenen Fiktionalität. Diese offene Fiktionalität, die das situationstranszendierende Denken nicht auf einen konkreten anderen Zustand finalisiert, sondern überbietungsoffen erhält, ist vielleicht die Essenz des ›Amerikanischen Traums‹. Auf jeden Fall aber wurde sie jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der amerikanischen Gesellschaft generalisiert – und vielleicht ist das Leben der amerikanischen Mittelschicht, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die tradierte Struktur der amerikanischen Vorkriegsgesellschaft durchgesetzt wurde, am Ende im positivsten Sinne des Begriffs ein Leben inmitten der Fiktion. Darauf verweist jedenfalls eine besondere Form der »antizipatorischen Sozialisation«, die in dieser Epoche zum ersten Mal für breitere Kreise wirksam wurde: »Das auffallende am amerikanischen Leben«, erklärten David Riesman und Howard Roseborough, sei, »dass die Menschen für Rollen vorbereitet werden, die ihre Eltern nicht gespielt haben, ja die überhaupt noch niemand gespielt hat; sie werden hinsichtlich der Motivation und der sozialen Geschicklichkeit (die einen guten Teil des ›know-how‹ ausmacht) für Berufstätigkeiten vorbereitet, die noch nicht erfunden sind, und für den Konsum von Gütern, die noch nicht auf dem Markt sind. (Wenn Kinder es weiterbringen sollen als ihre Eltern, so muss der Arbeitsmarkt und der Gütermarkt sich ausweiten).«17 Entsprechend ist nicht Tradition oder Moral das Medium der sozialen Integration, sondern Konsum. Und genau in die-

17 David Riesman/Howard Roseborough: (1973 [1955]): »Laufbahnen und Konsumverhalten.« In: David Riesman: Wohlstand wofür? Essays. Frankfurt am Main, S. 17-50, hier S. 22. Leider ist die Formel »anticipatory socialisation« des Originaltexts als »Vorweg-Sozialisierung« ins Deutsche übersetzt worden, wodurch das Fiktionale des Sachverhalts vollkommen unterbelichtet ist. Vgl. David Riesman/Howard Roseborough (1964): »Careers and Consumer Behavior.« In: David Riesman: Abundance for what? And other Essays. Garden City. New York, S. 107-130, hier S. 111.

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sem Sinne ist der statusindizierende, wenn nicht überhaupt statuskonstituierende Besitz des »Standardpakets« an Waren und Dienstleistungen, in dem sich die Zugehörigkeit zur Mittelschicht manifestiert und das zum eigentlichen Medium der Sozialintegration wird, ambivalent, nämlich konformistisch und möglichkeitsoffen zugleich.18 Hier greift zunächst eine Besonderheit des Massenkonsums, die diesen prinzipiell von allen Formen des Verbrauchs in einem traditionellen, bedürfnislogischen Sinne unterscheidet, nämlich das besondere Objektverhältnis, das den Massenkonsum zu einem Phänomen macht, das auf permanente Reproduktion gestellt ist. Natürlich geht es in diesem Objektverhältnis in erster Linie um die massenhafte individuelle Aneignung von gesellschaftlich fetischisierten und marktförmig verfügbaren Gütern. Aber gleichzeitig geht es auch um die Einübung der Individuen in den transitorischen Charakter von Objekten, die nicht nur überbietbar und ersetzbar sind, sondern tatsächlich ersetzt werden sollen, sobald ein neues Produktniveau erreicht ist, das seinerseits eine neue Stufe auf der imaginären Leiter des sozialen Aufstiegs markiert, indem es zu einem neuen gesellschaftlichen Standard wird. Vielleicht ist der gesellschaftstheoretisch belangvolle Aspekt des Konsums am Ende aus diesem Grund tatsächlich nicht so sehr die ökonomische Warenförmigkeit der Objekte, also der Vorrang ihres Tauschwertes gegenüber ihrem Gebrauchswert, der die politische Ökonomie lange Zeit in kritischer Absicht an tradierte Materialitätskonzepte gefesselt hat, sondern die Tatsache, dass diesen Objekten nichts Definitives eignet und dass sie deshalb nicht nur im ökonomischen, sondern auch im metaökonomischen, also ontologischen Sinne ebenso verfügbar wie veränderbar sind. Genau darin, in dieser sozialen Möglichkeitsoffenheit besteht schließlich auch die spezifische gesellschaftliche Erfahrung im 20. Jahrhundert, die dann als Erfahrung der sozialen Mobilität einen neuen, in De-Ontologie gegründeten Gesellschaftstyp konstituiert. Diese Erfahrung manifestiert sich nicht zuletzt in jener Fiktionalisierung des Begehrens, die es aus tradierten Bindungen freisetzt – aus tradierten sozialen Bindungen, vor allem aber aus tradierten materiellen Bindungen. Gleichzeitig ist diese Erfahrung nicht allein auf die konkreten Objekte selbst gerichtet, die angeeignet werden können, sondern auch auf den Mo-

18 Vgl. Riesman/Roseborough, »Laufbahnen und Konsumverhalten«, S. 19 et passim.

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dus des unaufhörlichen Aneignens. Dessen Medium im Sinne einer realitätskonstituierenden Modalstruktur sind Objekte, die von vorneherein auf Überbietbarkeit angelegt sind und entweder unter dem – technischen – Aspekt der Optimierung oder unter dem – ästhetischen – Aspekt der Innovation als solche produziert und in der distributiven Matrix der Mode konsumiert werden. Sie begründen und modulieren ein Weltverhältnis, das Übergangshaftigkeit und Unabschließbarkeit prinzipiell positviert und zum Kriterium für den individuellen wie kollektiven Horizont des Wünschbaren macht. Gleichzeitig signalisieren sie durch die Dinge hindurch eine möglichkeitsoffene Ontologie der sozialen Wirklichkeit, deren Modus in der Metapher der ›sozialen Mobilität‹ ein sinnlich-räumlicher, also ein konkret wahrnehmbarer Ausdruck verliehen wird. Die Theorie des »Standardpakets« ist in ihrer Ambivalenz von Konformismus und Möglichkeitsoffenheit auf genau diese Situation gemünzt, weil sie sowohl die konstitutive Stabilisierungsbedürftigkeit wie die konstitutive Instabilität – man könnte auch sagen: Kontingenz – sozialer Positionen verdeutlicht, die sich der sozialen Mobilität verdanken. Schließlich ist nicht nur die soziale Position, sondern auch die psychologische Disposition des Aufsteigers immer prekär und deshalb unaufhörlich anerkennungsbedürftig. Das Entscheidende ist nämlich, dass sich die Stabilisierung der jeweils erreichten Position immer nur performativ vollzieht, weil sie an fiktionalen Horizonten ausgerichtet ist und deshalb niemals in Definitives münden, sondern immer nur in Transitorischem manifest werden kann. Prekäre Anerkennungsprozesse, so könnte man sagen, manifestieren sich in transitorischen Objektverhältnissen und etablieren so eine unhintergehbare Struktur der Unabschließbarkeit. Und die generalisierte Positivierung dieser Situation, ihre Verstetigung zu einem gesellschaftlichen Organisationsprinzip wie zu einem individuellen Habitus, bildet gewissermaßen die historischontologische Voraussetzung einer Mittelschichtgesellschaft, die aus diesem Grund auch eine Gesellschaft ist, für die das Wachstum lebenswichtig ist. Damit ist zugleich das Defizitäre und Negative theoretisch vermieden, das die Herausbildung der Mittelschichtgesellschaft während ihrer Inkubationszeit seit den zwanziger Jahren begleitet hat und seinen Ausdruck in den Konzepten einer problematischen Angestelltenkultur von Siegfried Kracauer bis zu C. Wright Mills gefunden hat. Tatsächlich entspricht Mills‫ތ‬ Diagnose der »Abwesenheit jeglicher Glaubensordnung« und jeglichen »Lebensplans« in der nordamerikanischen Mittelschicht der späten vierzi-

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ger Jahre in vielfacher Hinsicht Kracauers Diagnose der »geistigen Obdachlosigkeit« der Berliner Angestellten der späten zwanziger Jahre.19 Das Defizitäre und Negative, das die Inkubationszeit der Mittelschichtgesellschaft theoretisch begleitet hat, ist allerdings auch in jener Konzeption der Mittelschichtgesellschaft vermieden, die Helmut Schelsky in seiner These von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« verdichtet hat.20 Trotzdem ist diese Situationsbeschreibung, die auf die frühe Bundesrepublik als avancierteste europäische Gesellschaft in den fünfziger Jahren gemünzt war, in einer zentralen Hinsicht anders als die von Riesman und Roseborough: Schelskys »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« entsteht nicht aus einer einzigen Aufstiegs- und Entgrenzungsbewegung in die Offenheit neuer sozialer Rollen und Positionen mit ihrer standardisiert-konformistischen Stabilisierung, sondern aus zwei gegenläufigen Bewegungen, nämlich dem Aufstieg ehedem proletarischer Schichten und dem Abstieg ehedem bürgerlicher Schichten, die aber dennoch als ›höhere‹ ökonomisch wie kulturell eine Leitbildfunktion für Aufstiegsprozesse bekommen, die sich nicht zuletzt in den Lebensstilpräferenzen zumal bildungsgetragener Aufsteiger niederschlägt. Die Mittelschicht, so könnte man Schelskys These reformulieren, hat eben keine eigene Kultur entwickelt. Darin begründet sich für ihn der unabweisbar und innerhalb einer Generation auch unvermeidbar kleinbürgerliche Zug dieser Gesellschaft, die dadurch nicht nur im geographischen Sinne die europäische und insbesondere die deutsche Variante der Mittelschichtgesellschaft bildet. Darin manifestiert sich allerdings – neben einer besonderen Ordnungserwartung, die sich im ständischen Rest der Schelskyschen Formel Ausdruck verleiht – auch ihre nach wie vor transsituativ-präskriptive und eben gerade nicht situativ-performative Orientierung. Das ist es, was die europäische Konzeption – und schlechterdings auch die europäische Realität – der Mittelschicht von der amerikanischen unterscheidet, nämlich die Persistenz einer Disposition, die im Aus-

19 C. Wright Mills (1956 [1951]): White Collar. The American Middle Classes. New York, S. XVI (Übers. vom Verf.); Siegfried Kracauer (1971 [1930]): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main, S. 205-304, hier S. 282. 20 Vgl. Helmut Schelsky (1965 [1956/1961]): »Gesellschaftlicher Wandel.« In: Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. Düsseldorf-Köln, S. 337-351, bes. S. 339 ff.

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laufhorizont der Autorität oder zumindest einer transzendental gesicherten Ordnung der sozialen Wirklichkeit steht, die sich selbst unter Bedingungen erweiterter sozialer Mobilität in einer nach wie vor prinzipiell ständischen Gesellschaftsstruktur manifestiert – jedenfalls dann, wenn es um den Zugang zu anderen Eliten als den öffentlichen oder staatlichen Funktionärseliten geht.21 Vielleicht konnte deshalb die These der Herrschaft technokratischer »Sachzwänge«, die Schelsky im Nachgang zu Gehlen formulierte, zu einem zentralen Streitpunkt der gesellschaftstheoretischen Debatten der sechziger Jahre werden.22 Schließlich ist in dieser These die Konstellations- und Kompositionsidee einer Totalität der Erfahrung weiterhin präsent, auch wenn sie auf ihre technisch-operative Seite reduziert und in die Anonymität von Organisationsstrukturen und Planungsprozessen transponiert worden ist. Und vielleicht ist deshalb die spezifisch europäische Antwort auf die Modernisierung, nämlich die poststrukturalistische, eine Antwort, die die performative Dimension der Mittelschichtgesellschaft gerade deshalb lange Zeit unterschätzt hat, weil sie diese nach wie vor im erweiterten Horizont fordistischer Sozialorganisation und einer metaphorisch erweiterten Technokratiekonzeption problematisiert hat. Dafür steht nicht zuletzt die ganze technizistische Metaphorik bei Michel Foucault. Das ändert sich erst und dennoch allenfalls teilweise mit der gesellschaftskritischen Diskussion um die neoliberale ›Ökonomisierung des Sozialen‹ im Nachgang zur paradigmatischen Erschöpfung der poststrukturalistischen Totalitarismuskritik. Auch wenn seine kritische Verwendung dies nicht meint und seine affirmative es verdeckt, steht der Begriff der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ näm-

21 Deshalb ist es keine semantische Obsoletheit und schon gar keine biographische Merkwürdigkeit, wenn Schelsky konsequent von der Mittelstandsgesellschaft spricht. 22 Vgl. Helmut Schelsky (1965 [1956/1961]): »Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation.« In: Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. Düsseldorf-Köln S. 449499, bes. S. 465 ff. u. 482 f. Vgl. Arnold Gehlen (1957): Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek, S. 7 ff. u. 104 ff. Vgl. mit sehr anderer Bewertung Jürgen Habermas (1968): »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.« In: Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt am Main, S. 48-103.

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lich für jene konstitutive Tendenz in der entwickelten Moderne, die mehr und anderes bedeutet als die weitgehende Kommerzialisierung und Verdinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen: ›Ökonomisierung des Sozialen‹ bedeutet im Wesentlichen vielmehr die Abkehr von der Autorität als gesellschaftlichem Organisationsprinzip durch marktförmige Organisation der Sozialbeziehungen – der Autorität in allen ihren personellen, strukturellen und infrastrukturellen Formen. Der Begriff erfasst also den sozialontologischen Sachverhalt, dass eine Gesellschaft nicht mehr auf situationstranszendente Ordnungsgaranten mit allen ihren heiligen oder profanen Derivaten ausgerichtet ist und dass Vergesellschaftungsprozesse deshalb nicht mehr präskriptiv, sondern performativ sind. Das Konzept der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ verweist damit auf eine gesellschaftliche Immanenz, die weder auf juridische, noch auf sozialtechnische, disziplinierende und regulierende Prinzipien gegründet ist, sondern auf eigendynamische Prozesse der Selbstkonstitution nach veränderlichen, aber marktförmig organisierten Kriterien von Wert und Nutzen. Die ›Ökonomisierung des Sozialen‹ signalisiert deshalb tatsächlich das Ende der Souveränität im Sinne einer externen, außersozialen Gesetzes- und Gestaltungsmacht in allen ihren personellen und institutionellen, bürokratischen oder technokratischen, politischen oder ästhetischen Formen. Das ist von Foucault zumindest teilweise in den Studien zur »Gouvernementalität« der nachdisziplinären »Normalisierungsgesellschaft« expliziert worden, die eine politische Theorie der modernen Gesellschaft in ihrer liberalen und insbesondere in ihrer neoliberalen Ausprägung sind.23 In ihrem Zentrum steht die Frage, wie ein soziales Organisationsprinzip beschaffen ist, das mit der heteronomen Konditionierung der Individuen bricht, indem es die produktivistische Optimierungslogik sozusagen auf die Gesellschaftsstruktur selbst appliziert und zum Kriterium der sozialen Subjektivität macht.

23 Vgl. Michel Foucault (2004): Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-79. Frankfurt am Main bzw. Michel Foucault (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt am Main.

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Diese Frage führte Foucault – trotz aller bekundeten Nähe – in einer spezifischen Weise über Max Weber und die Kritische Theorie hinaus.24 Weber ging es um das Schicksal des Individuums im »stahlharten Gehäuse« einer bürokratisierten Welt der funktionalen Rationalisierung, einer »verwalteten Welt«, wie Theodor W. Adorno diese Wirklichkeit dann im Anschluss an Weber bezeichnet hat, »in der die Schlupfwinkel« angesichts der »radikal vergesellschafteten Gesellschaft« verschwinden.25 Foucault hat dieses Konzept der Moderne, in dem diese Epoche im eminenten Sinne das gesellschaftliche Zeitalter ist, aufgenommen. Aber anders als Weber und Adorno zielte er in seinen Analysen der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf einen disziplinären und bürokratischen, sondern auf einen nachdisziplinären und nachbürokratischen Vergesellschaftungstyp, der zwar ebenfalls eine »soziale Ethik« realisierte, wie William H. Whyte das regulative Konzept der etablierten Moderne beschrieben hat, der aber ein Vergesellschaftungstyp war, in dem die Orientierung des Selbst essentiell auf die kommunikative Präsenz der Anderen und die performative Immanenz ihrer sozialen Organisation ausgerichtet ist, wie Riesman den spezifischen Konformitätstyp der amerikanischen Mittelschichtgesellschaft bestimmt hat.26 In diesem Sinne markieren die Analysen von Riesman und

24 Vgl. Michel Foucault (1984): »Un cours inédit (Was ist Aufklärung?).« In: Magazine Littéraire 207, S. 35-39, hier S. 39. 25 Vgl. Max Weber (1987 [1920]): »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.« In: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen, S. 17-206, hier S. 203 bzw. Max Weber (1972 [1921]): Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage. Tübingen, S. 551-579; Theodor W. Adorno: »Kultur und Verwaltung.« In: Theodor W. Adorno (1972 [1960]): Soziologische Schriften I (Schriften, Bd. 8), Frankfurt am Main, S. 122-146, hier S. 133 f u. S. 145. 26 William H. Whyte (1956): The Organization Man. Garden City. New York, S. 7; David Riesman/Nathan Glazer/Reuel Denney (1950): The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character. New Haven, S. 151 ff. (dt. Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Reinbek 1958). In der deutschen Übersetzung verliert dieser Typus als »außen-geleiteter Mensch« die intersubjektive Spezifik, die Riesmans Konzept der »other-directed person« hat, und die in der Ausrichtung auf personale Andere und nicht auf ein anonymes Außen besteht. Vgl. S. 157 bzw. S. 150 (dt.).

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Whyte die eigentliche soziologischen Nachbarschaft, in der Foucaults Theorie der modernen Gouvernementalität steht und in der sie ihre analytische Plausibilität gewinnt.27 Und am Ende ist die nachdisziplinäre »Normalisierungsgesellschaft«, die lange Zeit im Deutungsschatten der disziplinären »Normalisierungsgesellschaft« gestanden hat, tatsächlich die performative Mittelschichtgesellschaft, die sich zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zunächst in Nordamerika und dann in Westeuropa herausgebildet hat und seit geraumer Zeit dabei ist, das normative Sozialmodell einer wünschbaren globalisierten Moderne zu werden.

IV. Man kann die implizite These, die in diesen Überlegungen ein Stück weit erörtert worden ist, etwa so explizit werden lassen: In den tiefenstrukturellen Korrespondenzen von Abstraktem Expressionismus und performativer Mittelschichtgesellschaft wird eine Kultur erkennbar, deren soziale Besonderheit die Abkehr von der präskriptiven Autorität als grundlegendem Prinzip der Vergesellschaftung und deren ästhetische Besonderheit die Abkehr von der totalitätsfixierten Melancholie als prägendem Prinzip der modernen bürgerlichen und noch avantgardistisch-antibürgerlichen Kunst ist. Eine Gesellschaft ohne fixierte stratifikatorische Ordnung und eine Kunst ohne kompensatorische Option auf eine Einheit der Wirklichkeit wären dann tatsächlich Elemente eines avancierten liberalen Weltverhältnisses. Das ist in der Tat in beiden Fällen, im Ästhetischen wie im Gesellschaftlichen, ein neues Stadium. Und im Kontext der politischen Geschichte, in die die kunsttheoretische Konstruktion des Abstrakten Expressionis-

27 Das ist lange nicht so gesehen worden. Und es wäre eine eigene theoriegeschichtliche Untersuchung wert, weshalb Foucaults »Normalisierungsgesellschaft« zwar gelegentlich mit Adornos »verwalteter Welt«, aber nie mit den kritischen Analysen der Mittelschicht in Verbindung gebracht wurde, die ja immerhin Analysen der Trägerschicht jenes liberalen Modernisierungsprojekts waren, das nicht nur für Foucault seine theoretische Entsprechung im Strukturalismus hatte. In dieser Perspektive wird im Übrigen nochmals deutlich, wie sehr Foucaults gesellschaftstheoretisches Projekt dort, wo es politisch finalisiert werden konnte, in erster Linie ein antitotalitäres Projekt war.

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mus und die sozialgeschichtliche Durchsetzung der performativen Mittelschichtgesellschaft eingebettet sind, lässt sich tatsächlich eine Genealogie der liberalen Kultur trassieren, die bis an die Schwelle der Gegenkultur der späten sechziger Jahre führt, die ihrerseits nicht zufällig mit der Durchsetzung einer generalisierten Pop-Kultur einherging, die vor allem in der Etablierung einer durchgehenden Erfahrung einer »neuen Sensibilität« bestand, die tendenziell eine einzige, mittlere »neue Kultur« etabliert hat, die die »Kunst als Erweiterung des Lebens versteht«, indem sie die Trennung zwischen einer artistischen und einer industrialisierten Kunst durch die massenhafte Reproduzierbarkeit des Kunstwerks ermöglicht, wie Susan Sontag erklärt hat.28 Eine Gesellschaft ohne fixierte stratifikatorische Ordnung und eine Kunst ohne kompensatorische Option auf eine Einheit der Wirklichkeit wären dann gerade deshalb Elemente eines avancierten liberalen Weltverhältnisses, weil sie nicht nur die Selbstkonstitution einer in sozialem Wandel gegründeten Gesellschaft, sondern auch die Selbstkonstitution einer in ihrer eigenen Autonomie gegründeten Kunst ermöglichten, die ihrerseits wiederum die kulturellen Bedingungen für die Möglichkeit der verschiedenen Dispositive autonomer Selbstentfaltung geschaffen haben, die bis in die Gegenwart reichen. Aber vielleicht ist die kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Dimension dieser Korrespondenz nicht das einzig Interessante an dieser kultursoziologischen Konstellation avant la lettre, ebenso wenig wie es die theoretische Dimension der konzeptuellen Korrespondenzen ist, in deren Perspektive das gesellschaftstheoretische Konzept der ›Komplexität‹ zum Analogon des kunsttheoretischen Konzepts des ›big canvas‹ wird und darauf verweist, dass eine systemtheoretische Beschreibung der Gesellschaft wahrscheinlich mehr mit einem Gemälde von Pollock und namentlich mit einem seiner ›drip paintings‹ gemein hat, als der technizistisch-administrative Diskurs der Systemtheorie vermuten lässt. Suchte man aber nach einem halbwegs evidenten Moment, in dem der Abstrakte Expressionismus mit der performativen Mittelschichtgesellschaft tiefenstrukturell und damit systematisch verbunden ist, dann ist dies ihre essentiell modalontologische Konstitution: Abkehr von der Melancholie und ihrem Konzept der kompensato-

28 Susan Sontag: »One culture and the new sensibility.« In: Susan Sontag (1966 [1965]): Against Interpretation. And other Essays. New York, S. 293-304, hier S. 300 (Übersetzung vom Verf.).

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rischen Repräsentation situationstranszendenter Totalitäten, Selbstbegründung in marktförmiger Verfügbarkeit und optimierungslogischer Mobilität, beides ohne externe Referenz und begründet in einer performativen Ontologie, beides nicht zuletzt als strukturelle Unmöglichkeit dauerhafter Fixierungen. – Von wo aus und mit welchem Argument sollte dagegen ein ernsthafter Einwand formuliert werden?

Subjektivierung durch Normalisierung Zur Aktualisierung eines poststrukturalistischen Konzepts1 D OMINIK S CHRAGE

Die Bezeichnung »Poststrukturalismus« ist ein Sammelbegriff, der recht heterogene französische Denkansätze der 1960er bis 1980er Jahre retrospektiv zusammenfasst, die sich selbst nicht so bezeichnet haben, wie etwa die Arbeiten Jacques Derridas, Jacques Lacans, Gilles Deleuzes und Michel Foucaults. Diese Bezeichnung hebt ihre Abgrenzung zum Strukturalismus hervor, aber auch ihre Bezogenheit auf diesen – sie verweist also auf den gemeinsamen Entstehungskontext (vgl. Dosse 1996; 1997). In diesem lassen sich die Poststrukturalisten durch ihre Abgrenzung vom strukturalistischen Modell der Sprache als Grammatik einerseits, und ihre Gegenposition zur französischen Lesart der Subjektphilosophie, insbesondere im Existentialismus Jean-Paul Sartres andererseits verorten. Diese Gegnerschaft zur Subjektphilosophie rückt die Autoren wiederum in die Nähe des Strukturalismus, worauf der gelegentlich verwandte Ausdruck »Neostrukturalismus« verweist (Frank 1984). Die verschiedenen, auf unterschiedliche Disziplinen bezogenen und unter dem Begriff »Poststrukturalismus« zusammengefassten Denkansätze

1

Erweiterte Fassung eines Vortrags bei der Ad-hoc-Gruppe »Die Materialität sozialer Praxis: Zur Rolle des Poststrukturalismus in der Soziologie« beim DGSKongress 2006 in Kassel, eine frühere Fassung erschien unter gleichem Titel in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt am Main/New York: Campus 2008 (CD-Rom): S. 4120-4129.

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treffen sich sachlich in ihrer konsequent deontologischen Perspektive. Gegenüber dem linguistischen Modell des Strukturalismus wird der Ereignischarakter der Sprache betont, gegenüber einem ahistorischen Verständnis des autonomen Subjekts werden die historischen Konstitutionsbedingungen von Subjektivität betrachtet und gegenüber der Ideologiekritik marxistischer Prägung sowie dem Szientismus heben die Poststrukturalisten den performativen Charakter und die Historizität von Wahrheitsaussagen hervor. Diese gemeinsamen Merkmale des Poststrukturalismus treten in ihrem französischen Entstehungskontext zumeist soziologiefern auf; überhaupt lassen sich die einzelnen Autoren nur schwer Einzeldisziplinen zuordnen, denn den angesprochenen Positionen ist die Skepsis gegenüber den erkenntnistheoretischen Prämissen disziplinärer Forschung immanent. Gleichwohl bilden Philosophie, Literatur-und Geschichtswissenschaft sowie Psychoanalyse konstante Bezugspunkte der Poststrukturalisten – jedoch kaum die Soziologie. Dennoch ist es möglich, die unter Poststrukturalismus geführten Denkansätze soziologisch fruchtbar zu machen: Sieht man in der Bezeichnung »Poststrukturalismus« eine über die Diskurslage des französischen Entstehungskontextes hinaus aussagekräftige, also systematisch konsistente Gemeinsamkeit, müsste zunächst geklärt werden, welche paradigmatische Position innerhalb des Kanons der soziologischen Theorien ein Äquivalent zum linguistischen bzw. ethnologischen Strukturalismus Lévi-Strauss’ darstellen könnte – denn der soziologische Strukturbegriff ist anders konfiguriert: Die distanzierte Bezugnahme der Poststrukturalisten auf das grammatische Strukturverständnis Lévi-Strauss’ lässt sich nicht einfach schematisch übertragen auf eine Positionierung gegenüber einem soziologischen Verständnis von Sozialstruktur, das der Linguistik wenig, der Sozialstatistik und -politik jedoch umso mehr verdankt. Ein soziologischer Poststrukturalismus müsste sich, würde er entsprechend ausgearbeitet, in die Reihe von Denkansätzen verschiedener Provenienz stellen, welche die Annahme eines Primats der Sozialstruktur kritisieren oder zumindest relativieren, und müsste seine spezifische Position gegenüber diesen schärfen (Tenbruck 1990; Luhmann 1993; bzgl. Luhmann: Stäheli 2000). Auf anderes zielt Andreas Reckwitz’ (2000) symptomatische Lektüre, die im Poststrukturalismus ein Indiz unter anderen für die Durchsetzung eines disziplinenübergreifenden Paradigmas von Kulturtheorien sieht, das den Primat der Sozialstruktur korrigieren soll (vgl. auch Schrage 2008).

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Während die erste Option für eine poststrukturalistische Soziologie zwangsläufig dazu tendiert, die Differenzen der Referenzautoren unter dem Dach eines philologisch virtuellen und systematisch bislang ausgebliebenen »poststrukturalistischen Ansatzes« zu synthetisieren, sind aber auch spezifischere Heranführungen einzelner Autoren oder Konzepte an die Soziologie denkbar. Schließlich ist es keineswegs ausgemacht, dass die Arbeiten, um nur die oben genannten anzuführen, Derridas, Lacans, Deleuzes und Foucaults gleichermaßen soziologisches Potential bergen. Dieser Beitrag beschränkt sich auf einen Autor – Michel Foucault – und hat auch nicht den Anspruch, das Gesamtwerk Foucaults zu synthetisieren und in einen in sich systematischen soziologischen Ansatz zu überführen. Der Fokus soll auf einem einzelnen Konzept Foucaults liegen, dem der Subjektivierung durch Normalisierung. In diesem bündeln sich, so die Annahme, die insbesondere in der späten Werkphase ausgearbeiteten Überlegungen Foucaults zum Verhältnis von Individuum, Macht und moderner Gesellschaft, die für die Soziologie von besonderem Interesse sind. Anhand dieses Konzepts lässt sich Foucaults Beitrag zu einer Soziologie der Moderne, wenn auch bei ihm selbst nicht in dieser Weise expliziert, exemplarisch und in besonderer Deutlichkeit erkennen. Zunächst wird jedoch eine grobe Skizze der deutschen Rezeptionsgeschichte gegeben. Sie soll zum einen die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen dem Entstehungskontext und demjenigen der früheren und der aktuellen Foucault-Rezeption in der deutschen Soziologie lenken. Denn eine nicht allein philologisch, sondern systematisch interessierte Aufnahme Foucault’scher Konzepte in die Soziologie sollte darauf achten, zeitgebundene Idiosynkrasien sowohl des Referenzautors als auch früherer Rezeptionskontexte von aktualisierungsfähigen Gehalten zu unterscheiden. Vielleicht können in aller Kürze einige Schneisen in das Geflecht von Beziehungen und Nicht-Beziehungen zwischen deutschen und französischen Diskussionen, der Postmoderne-Debatte der 1980er Jahre und der Soziologie sowie den 1980er Jahren und heute geschlagen werden. Zum anderen soll der Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte klären helfen, aus welchen Gründen das soziologische Interesse an Foucault beziehungsweise am Poststrukturalismus gerade jetzt manifest wird, obwohl man diese Autoren auch in Deutschland nicht erst seit heute kennt.

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1. V ON

DER P OSTMODERNE -D EBATTE ZUR SOZIOLOGISCHEN ADAPTION

Die deutsche Rezeption der poststrukturalistischen Autoren erfolgte zunächst in den 1980er Jahren im Kontext einer intellektuellen Debatte, die im Zeichen des Schlagworts »Postmoderne« stand. In ihrer deutschen Spielart stand nicht der Bezug zum Strukturalismus im Zentrum, sondern die Frage nach dem Subjekt und seinem Verhältnis zum Wahrheitsbegriff – ob es verantwortbar sei, auf die normative Kategorie des Subjekts zu verzichten, dies war die umstrittene Frage (vgl. im Überblick Welsch 1987). Während die Projekte Foucaults und Derridas (ebenso auch Rorty 1987) die Historisierung bzw. Dekonstruktion des Subjekts betrieben und die Figur des Subjekts nicht zum erkenntnistheoretischen oder normativen Ausgangspunkt, sondern zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machten, erkannten Gegner unterschiedlichster Provenienz genau darin eine Aufgabe aufklärerischer Prinzipien – der oft gebrauchte Vorwurf der »französischen Unverantwortlichkeit« machte die Runde (vgl. besonders ressentimentgeladen: Laermann 1986). Auf Seiten der Postmoderne-Rezeption verband man demgegenüber gerade mit der Infragestellung moderner Gewissheiten eine ideenpolitische Radikalität, die sich in der Idee einer transgressiven, sowohl gegen die marxistische Orthodoxie als auch gegen die »verwaltete Gesellschaft« gerichteten, das Ästhetische ins Zentrum rückenden Vernunftkritik manifestierte (exemplarische Beiträge in Welsch 1988). Diese Debatte fand vor allem im Feuilleton und bezogen auf die Philosophie und die Literaturwissenschaften statt; die wenig ausgeprägte soziologische Rezeption war stark sozialphilosophisch orientiert: Es ging, dafür stand die einflussreiche Position Jürgen Habermas’ (1988): vor allem um die Verteidigung der normativen Perspektive einer kritischen Sozialwissenschaft, insbesondere bezogen auf die Frage des Subjekts. Bis auf wenige Ausnahmen (etwa Dane et al. 1985) ist eine über die reflexhafte Abwehr französischer Unverantwortlichkeit hinausgehende Rezeption Foucaults in der deutschen Soziologie der 1980er Jahre weitgehend unterblieben; sie kam erst in Gang, als sich dieser – wie auch Derrida – in den USA zu einem wichtigen Referenzautor entwickelt hatte (vgl. Eßbach 1991; Neumeister 2000). Nach 1989, ein Datum, das das Ende der alten Bundesrepublik auch in ideengeschichtlicher Hinsicht markiert, lässt sich dann in der Soziologie ein ver-

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stärktes Interesse an Foucault bemerken – stärker noch als an anderen poststrukturalistischen Autoren. Ein wichtiger thematischer Aspekt hierfür war anfangs die Etablierung der Geschlechterforschung in der deutschen Soziologie, mit der ein starkes Interesse an der sozialen Konstruktion von Geschlechterrollen sowie an der kulturellen Kodierung von Körpern und Sexualität einherging (TreuschDieter 1990; Bührmann 1995; Bublitz 1998). Daneben entdeckte man, unter dem Einfluss von Axel Honneths Kritik der Macht (1985): sehr vorsichtig und zum Teil aus dem Einflussbereich der Stigmatisierung der französischen Denker als »Jungkonservative« tretend, Parallelen zwischen Foucaults Machtkonzept und der älteren Frankfurter Schule. Eine weiterer Rezeptionsstrang sind die Gouvernementalitätsstudien, die vor allem an Überlegungen in Foucaults Spätwerk anknüpfen (Lemke 1997; Bröckling et al. 2000). Geschlechterforschung, kritische Theorie und Gouvernementalitätsstudien rezipierten Foucault dabei vor allem als gesellschaftskritischen Autor. Die Situation hat sich insofern seit den 1980er Jahren grundlegend verändert. Neben den kritischen Lesarten Foucaults, mit ihrem besonderen Interesse am politisch verstandenen Zusammenhang von Wissen und Macht bei Foucault, gibt es jedoch neuerdings auch ein dezidiert methodisches Interesse an der Diskursanalyse (vgl. zuerst Bublitz et al. 1999). Diese Rezeption scheint jedoch weitgehend neben den erwähnten politisch-kritischen Lesarten zu verlaufen, in konkreten Forschungsarbeiten beide Aspekte durchaus verbindend, jedoch die im Fach etablierte Trennung von Theorien und Methoden weitgehend anerkennend. In diesem Feld ergeben sich recht heterogene Verständnisse von »Diskurs« und der Methode »Diskursanalyse« – sie reichen etwa von ihrer Adaption an die quantifizierenden Methoden (Diaz-Bone 2005) über die Orientierung an der Diskursanalyse der französischen Linguistik (Angermüller 2007) bis hin zur Integration der Diskursanalyse in die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann (Keller 2005). In der akademischen Lehre, in der sich diese Differenzierungen nicht immer adäquat vermitteln lassen, wird auf die zunehmende Relevanz Foucaults mit der Suche nach kanonisierbaren Texten reagiert. Verbreitet ist dabei der Rückgriff die Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses (1974). Wegen ihres Akzents auf repressive, durch und auf den Diskurs ausgeübte Machtwirkungen lassen sich mit ihr aber weder das später ausge-

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arbeitete relationale Machtkonzept, noch die diskursanalytische Perspektive, noch die Arbeiten zur Subjektivierung adäquat greifen. Erfasst man die performative Ironie dieses Vortrags nicht – sie liegt darin, dass der Vortragende den institutionellen Rahmen einer hohen akademischen Ehrung als diskursiven Machteffekt beschreibt und damit entritualisiert –, so kann man im »Diskurs« hier eine Instanz der Entfremdung und in Foucaults »Diskurstheorie« eine Spielart schon bekannter repressionslogischer kritischer Theorien sehen (vgl. Schrage 2006). Neben der veränderten, die Rezeption Foucaults und anderer Poststrukturalisten begünstigenden Lage in der deutschen Soziologie fällt indes ein wichtiger Unterschied hinsichtlich des Rezeptionskontextes auf: In den 1980er Jahren wurden diese Autoren vor allem unter dem Rubrum »Postmoderne« geführt; die scharfen Kontroversen – insbesondere der verbreitete Vorwurf der »Beliebigkeit« – entzündeten sich an der von Jean-François Lyotard (1986) pointiert formulierten Diagnose eines »Endes der großen Erzählungen«. Damit wurde nicht allein der marxistische, sondern ebenso der modernisierungstheoretische und der humanistische Fortschrittsbegriff relativiert. »Postmoderne« war dabei nicht in erster Linie das Ende einer Epoche namens Moderne – zurückzuführen etwa auf Veränderungen der Sozialstruktur, Wertewandel oder Technikentwicklung –, sondern beschrieb vielmehr eine geistige Situation, in der die modernen Legitimationserzählungen ihre Selbstverständlichkeit verlieren – wenn nicht gar Legitimationsbedarf überhaupt –, die Moderne aber weiterbesteht. Diese in den achtziger Jahren kontroverse Situationsdeutung ist heute entschärft und lässt sich mit Hilfe des aktuell in der Soziologie vorherrschenden Verständnisses von »Postmoderne« als einer der Moderne nachfolgenden Epoche kaum noch nachvollziehen. Einige Argumente der Postmoderne-Debatte, wie die Kritik am teleologischen Fortschrittsbegriff der Modernisierungstheorie und an ihren implizit normativen Prämissen, haben Aufnahme in soziologische Gegenwartsdiagnosen gefunden und sind modernisierungstheoretisch adaptiert worden – im Sinne einer pluralen oder reflexiven Modernisierung (Eisenstadt 2000; Beck 1993). Der zentrale Streitpunkt der Postmoderne-Debatte der 1980er Jahre lag jedoch nicht in der – nach 1989 rasch unproblematischen – Frage, ob eine Epochenunterscheidung Moderne/Postmoderne triftig ist; die Vehemenz der Auseinandersetzungen erklärt sich vielmehr daher, dass die Postmoderne-Diagnose auf die Kontingenz der den verschiedenen Modernisierungserzählungen zugrunde liegenden

S UBJEKTIVIERUNG

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Sozialontologien aufmerksam machte. Im Kern des Streits um die Postmoderne stand die Frage nach dem ontologischen Status dieses Kontingenzbewusstseins, in dem man einerseits eine Bedrohung für das normative Fundament von Sozialtheorien, andererseits aber auch ein nicht erst seit den 1980er Jahren virulentes Merkmal von Modernität schlechthin sehen kann (vgl. Makropoulos 1997).

2. »S UBJEKTIVIERUNG DURCH N ORMALISIERUNG « – EINE AKTUALISIERUNG Die Aktualisierung eines Konzepts impliziert zweierlei: Zum einen die systematische Rekonstruktion seines Gehalts innerhalb seines Entstehungskontextes, was bezüglich der Arbeitsweise Foucaults auch immer heißt, dass die vielfältigen Modifikationen des Forschungsprogramms berücksichtigt werden müssen (dazu Lemke 1997; Kammler/Parr/Schneider 2008). Dieser fordert auch die Überprüfung gängiger Einordnungen des Autors, die vorangegangenen Rezeptionskonjunkturen entstammen, unterschiedliche Werkphasen hervorheben und heterogene Ziele verfolgen. Zum anderen impliziert eine Aktualisierung auch, dass Begrenzungen, Desiderata und offen bleibende Fragen in den Referenztexten benannt und Fragen gestellt werden, die darin gar nicht bedacht sind – sei es aus Desinteresse des Autors, oder sei es, dass sich in der Zwischenzeitganz neue Gesichtspunkte ergeben haben, die Aktualität des Konzepts also unvorhergesehen ist. Mit dem Konzept »Subjektivierung« setzt Foucault die Kritik der Poststrukturalisten an der Subjektphilosophie sowie am ahistorischen Modell des Strukturalismus in ein historisches Forschungsprogramm um. Es basiert auf der Überlegung, dass weder das cartesianische, noch das phänomenologisch-hermeneutische Subjektverständnis den Ausgangspunkt seiner historischen Analytik von Subjektivitätstypen darstellen könne; denn das moderne Subjekt stelle faktisch keine anthropologische Konstante dar und eigne sich deshalb auch nicht als Ausgangspunkt eines solchen Vorhabens. Foucaults Ordnung der Dinge (1974) konzentriert sich zunächst auf eine Epistemologie der ideengeschichtlichen Zentralstellung des Menschen in der Moderne. In den Arbeiten der 1970er Jahre modifiziert Foucault diese Fragestellung und befasst sich mit konkreten, Diskurse und Praktiken verknüpfenden Verfahren, die aus empirischen Einzelmenschen autonom han-

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delnde Subjekte und an die Erfordernisse der modernen Gesellschaft angepasste Individuen machen (Foucault 1977; 1983; 1989). Die implizit soziologische These dieser Arbeiten besagt, dass die Entstehung neuzeitlicher Individualität nicht einfach sich verbreitenden Humanitätsvorstellungen zu verdanken ist, sondern zugleich intrinsisch mit den funktionalen Erfordernissen der modernen Gesellschaft verknüpft sei. Das moderne Subjekt entstehe nicht spontan durch eine Zivilisierung der Strafpraxis, sondern werde mittels disziplinierender und regulativer Verfahren erzeugt. Subjektivierung bezeichnet vor diesem Hintergrund die in Institutionen stattfindende Verwandlung empirischer Einzelmenschen in solche, die sich als Subjekte begreifen und als Individuen handeln. Das Konzept ist somit spezifischer als das soziologische Konzept der Sozialisation, denn es zielt nicht auf die für jede Gesellschaft notwendige, sanktionsbewehrte Anpassung von Heranwachsenden an bestehende soziale Normen, sondern auf die kontrollierte Ermächtigung von Einzelnen zu eigenständigem Handeln in zunehmend komplexeren sozialen Wirklichkeiten, die in der Moderne eine Grundlage der Vergesellschaftung darstellt (diesbezüglich zentral: Foucault 1987). »Normalisierung« bezeichnet vor diesem Hintergrund eine Verfahrensweise, mit deren Hilfe die Umwandlung von Menschen in Subjekte bewerkstelligt wird; dem Wortsinn nach geht es um die Anpassung von Verhalten an Normen und/oder Normalität. Das Verständnis dieses Konzepts modifiziert sich allerdings in Foucaults Arbeiten: In Überwachen und Strafen wird es gebraucht, um die Funktionsweise der Disziplin zu kennzeichnen. Hier geht es um die Normierung von Verhalten durch körperlichen Zugriff, mit dem Ziel, abweichendes Verhalten durch die Formung eines aus Eigeninteresse produktiven, ökonomisch-rational handelnden Individuums zu verhindern. Disziplinäre Subjektivierung ist bei Foucault insofern die Anpassung an heteronome, präskriptive Verhaltensnormen (Foucault 1977: 276 ff.). In späteren Arbeiten differenziert Foucault zwischen disziplinierender Normierung und regulierender Normalisierung. Eine »Normalisierungsgesellschaft« besteht, so in den Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft, nicht allein in der Verallgemeinerung des Disziplinarprinzips. Neben dieser präskriptiven Norm der auf Individuen bezogenen Disziplin geht es nun auch um Normen, die sich aus der Normalität der Lage und des aggregierten Verhaltens von Populationen ergeben. Normalisierung ist nun als »Sicherheitstechnologie« zu verstehen und richtet

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sich auf die Steuerung von »Masseneffekten« auf der Ebene von Populationen, wie etwa Geburten- und Sterberaten, die sich nur statistisch und im Modus der Wahrscheinlichkeit beobachten lassen: Die Normalisierung dient der Verhaltenskoordination in Massengesellschaften (Foucault 1999: 287 ff.). Die Norm, welche die Normalisierung setzt, ist dementsprechend keine präskriptive, quasitechnische Norm, sondern sie ergibt sich aus der Kompilation des statistisch gewonnenen Wissens um die faktische Lage von Bevölkerungen. Die normalisierende Intervention ist deshalb nicht, wie die normierende, als Überwachung der Normenbefolgung zu verstehen, sondern besteht in der Ausrichtung von Subjekten am normalverteilten Verhalten Vieler (Ewald 1993). Das Normalisierungssubjekt ist demzufolge kein Resultat körperbezogener Normierung, sondern konstituiert sich durch seinen Bezug auf die Normalität gesellschaftlich verbreiteter Verhaltensweisen (Schrage 2001: 26 ff.). »Subjektivierung durch Normalisierung« bezeichnet daher, bringt man das hier nur knapp skizzierte Konzept auf einen allgemeinen Nenner, das In-Bezug-Setzen von Subjekten zu den nur in artifizieller Form manifestierbaren Massenprozessen in modernen Gesellschaften, mit dem Ziel, dauerhafte Weltverhältnisse zu etablieren, die weitgehend selbsttätig Orientierung an der sich permanent wandelnden Wirklichkeit der modernen Gesellschaft gewährleisten. Zur Erläuterung dieser Perspektive wird oft auf den Begriff der »Kontrollgesellschaft« zurückgegriffen, mit dem Gilles Deleuze (1993) in einem kurzen, aber einflussreichen Aufsatz auf einen Formenwandel der Überwachungsregimes anspielt. Deleuze bezeichnet damit, den Wortsinn des englischen control aufgreifend, die Vision einer postdisziplinären Gesellschaft, in der Kontrolle nicht durch Einschließung, sondern mittels Marketing-Mechanismen und Informationsverarbeitung erfolgt, mit allen hier möglichen Anschlüssen an systemtheoretische und kybernetische Konzepte. Indes führt das deutsche Verständnis von Kontrolle als Bestimmung durch eine fremde Instanz ebenso wie eine fehlende Differenzierung von Normierung und Normalisierung oft dazu, dass das Konzept der Subjektivierung repressionslogisch enggeführt wird und etwa die subtilen Effekte der Videoüberwachung mit einer totalitären Überwachung Orwell’schen Typs gleichgesetzt werden. Dabei liegt die Prägnanz des Konzepts der Subjektivierung durch Normalisierung gerade in der Unterscheidung zu disziplinierenden Überwachungstechnologien und in der These, dass fungible

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Subjektivität heute sich im Wunsch nach Anschlussfähigkeit manifestiert. Es ist nicht zu verstehen als Einprägung präskriptiver Normen durch eine übermächtige Instanz, sondern vielmehr als Arrangement, das die freiwilllige, selbstgetätigte Anschmiegung der Einzelnen an den Stand der Dinge befördert. Die Gouvernementalitätsstudien haben dies als Konstitution des »neoliberalen Selbst« beschrieben (Bröckling et al. 2000).

3. M EDIEN

DER

S UBJEKTIVIERUNG –

EIN

AUSBLICK

Worin besteht nun, aus der Sicht der heutigen Soziologie gefragt, der Aktualisierungsbedarf bezüglich des Konzepts der Subjektivierung durch Normalisierung? Und wie ließe es sich auf den Versuch beziehen, eine poststrukturalistische Perspektive in der Soziologie zu schärfen? Die Relativierung strukturtheoretischer Prämissen erfolgt in der Soziologie üblicherweise in Form von Handlungstheorien, welche die Konstitution von Sozialität auf die ursprüngliche und sinnerzeugende Spontaneität von Akteuren zurückführen – in diesem Punkt treffen sich weberianische, sozialphänomenologische oder symbolisch-interaktionistische Programme. Das Konzept der Subjektivierung stellt in dieser Hinsicht eine originelle, da diese Dichotomie unterlaufende Perspektive dar: Es identifiziert die Kategorie des Subjekts gerade nicht sozialpsychologisch mit den Bewusstseinszuständen und Intentionen von Akteuren und leitet die Subjektform somit nicht konstitutionslogisch aus deren Perspektive ab; vielmehr zielt es auf die soziohistorische Form typischer Akteursperspektiven. Foucaults Überlegungen zu Normalisierungsverfahren, Sozialdisziplinierung und auch seine Diskursanalyse lassen sich in dieser Weise lesen: Sie grenzen sich – gerade darin liegt ihr »Poststrukturalismus« – sowohl von der Statik strukturalistischer Grammatiken als auch vom Intentionalismus der Subjektphilosophie ab. Ihre Aktualisierung im Feld der Soziologie müsste diesen kategorialen Unterschied zwischen dem Bewusstseinsinhalt von Akteuren und den typischen Subjektformen, die ihr Weltverhältnis organisieren, aufgreifen und das damit entstehende Forschungsgebiet als ein genuin soziologisches begreifen. Ein Gegenstand, an dem diese Perspektive abschließend und exemplarisch aufgezeigt werden soll, sind die subjektivierenden Effekte der Massenmedien. Bei Foucault spielen die Medien selbst keine zentrale

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Rolle, was vor allem an der Ausrichtung seiner Quellenarbeit liegt, die hauptsächlich bis Mitte des 19. Jahrhunderts reicht und deshalb den Aufstieg der Massenmedien im späten 19. und vor allem 20. Jahrhundert nicht berücksichtigen konnte. Schon Friedrich Kittler hatte in den 1980er Jahren versucht, Foucault medientheoretisch zu interpretieren; sein Ausgangspunkt war allerdings nicht das Konzept der Normalisierung (wie auch generell die Frage der Subjektivierung bei ihm eher randständig ist): Vielmehr verstand er die Medien vor allem als Infrastrukturen der Speicherung und Übertragung kultureller Codes und damit als (wandelbare) technische Basis von Kultur. Deshalb schloss er auch in erster Linie an Foucaults Diskursanalyse an, die allerdings, so Kittler, nur auf das Gutenberg-Zeitalter der Schrift bezogen sei und deshalb angesichts der elektrischen und elektronischen Medien ergänzt werden müsse (Kittler 1986). An die Stelle des von Foucault noch selbstverständlich vorausgesetzten Mediums der Schrift müssten die analogen und digitalen Aufzeichnungs- und Chiffrierungsprozesse zu treten; und an die Stelle der Aussagen und des Diskurses habe die Hardware der Medien zu treten, welche die eigentliche Basis der symbolischen Prozesse unserer Kultur darstelle. Die Beobachtung Kittlers, dass Foucault die heute angemessenen medientheoretischen Begrifflichkeiten fehlen, ist nun zwar durchaus richtig und plausibel; jedoch lässt seine Fixierung auf die technische Seite der Medien ihre mit dem Konzept der Normalisierung gut beschreibbaren sozialen Koordinationsleistungen als ein bloßes Oberflächenphänomen erscheinen. Das Konzept der Normalisierung bietet einen anderen Weg, Foucault medientheoretisch zu erweitern – ein Weg, der soziologisch interessanter ist. Denn es liegt auf der Hand, dass die Massenmedien eine entscheidende Rolle spielen, wenn große, räumlich verstreute Populationen – als Publikum – sich in ihrem Verhalten an Normalitätsstandards orientieren. Verhalten wird dann nämlich nicht – wie bei der Disziplin – an vorab festliegenden Normen ausgerichtet, und diese Orientierung findet darüber hinaus nicht in geschlossenen Disziplinarinstitutionen wie der Fabrik, dem Gefängnis oder der Schule statt. Anders als die Disziplin ist Normalisierung, wie sie von Foucault konzipiert wird, aufgrund der räumlichen Verstreutheit der auf sie Bezogenen darauf angewiesen, dass das, was als Normalität gilt, einer als Publikum adressierten Population überhaupt zugänglich wird. Dies gilt umso mehr, wenn man auch die im 20. Jahrhundert deutlich werdende Wandelbarkeit der Normalitätsstandards berücksichtigt,

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wie sie in der Soziologie als »Wertewandel« beschrieben werden. Während die Disziplinarnorm auf ›eingeschlossene‹ Gruppen einwirkt, werden Normalitätsstandards (nahezu) simultan und gesellschaftsweit kommuniziert. Die Medien stellen in dieser Perspektive und im Vergleich zu den Einschließungsmilieus eine ›Öffnung‹ von Verhaltensspielräumen dar, zumal direkte Sanktionsmöglichkeiten weitgehend entfallen. Zur ›technischen‹ Norm der Disziplinarinstitutionen kommt somit eine nach anderen Gesichtspunkten funktionierende, nur mit Hilfe von Massenmedien kommunizierbare ›soziale‹ Normalität hinzu – ihre verhaltensprägende Kraft liegt, soziologisch formuliert, nicht in der Sanktionsdrohung, sondern im Konformitätsdruck. Es geht weniger um die Herstellung von Subjekten durch Einschreibung von Normen, sondern um die eher modal zu denkende, ›netzwerkförmige‹ Ausrichtung an pluralisierten Verhaltensstandards. Hier ergeben sich Parallelen zu David Riesmans Unterscheidung eines »innengeleiteten« und eines »an anderen orientierten Sozialcharakters« (other-directed) (Riesman 1963). Der Germanist Jürgen Link hat diese Parallelen in seiner Arbeit zum »Normalismus« gesehen und Foucaults Überlegungen zur Normalisierung weitergeführt (Link 1996). Als »flexiblen Normalismus« bezeichnet Link einen Modus der Orientierung an gesellschaftlicher Normalität, der weder auf rechtliche Verbote, moralische Normen oder die Normen der Disziplin bezogen ist, sondern auf der eigenständigen Ausrichtung der Subjekte an sich wandelnden Verhaltensstandards und an medial kommunizierten Kollektivsymbolen beruht. Eine Mediensoziologie, die solchermaßen an Foucaults Konzept der Normalisierung anschließt und nach den subjektivierenden Effekten der Medien fragt, prüft somit weder aus der Sicht der Medienanbieter – wie die Medienwirkungsforschung –, ob die kommunizierten Inhalte vom Publikum tatsächlich angenommen werden, noch erschöpft sie sich in der Suche nach eigenständigen Aneignungspraktiken der Mediennutzer. Aus ihrer Sicht stellen die Massenmedien vielmehr für die moderne Gesellschaft grundlegende Medien der Vergesellschaftung dar: Sie sind der Ort der wechselseitigen Konstitution von Subjektivität und gesellschaftlicher Struktur, der Ort, an dem – eine Formulierung Georg Simmels aufgreifend – das »Bewusstsein des Individuums die Form (erhält): die es zu einem sozialen Elemente designiert« (1992: 61). Sicher ist die hier vorgeschlagene nur eine von vielen Möglichkeiten, poststrukturalistische Konzepte soziologisch zu aktualisieren. Soziologisch

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interessant, das heißt: für die Soziologie interessant wären solche Aktualisierungen allerdings erst dann, wenn – bei allen notwendigen Modifikationen und Übersetzungen, die sich aus den Differenzen zwischen Entstehungs-und Rezeptionskontext ergeben – die Substanz des aktualisierten Konzepts auch kenntlich bleibt; gleichsam als etwas sowohl für die poststrukturalistischen Autoren als auch für die Diskursordnung des Faches Unvorhergesehenes. Ein allein an etablierte sozialkonstruktivistische, handlungs-, system-, kultur-oder strukturtheoretische Paradigmen adaptierter Poststrukturalismus mag diesen zwar neue Begrifflichkeiten zuführen – käme es aber nicht auch darauf an, sie zu irritieren?

L ITERATUR Angermüller, Johannes (2007): »Gesellschafts- als Diskursanalyse? Der Poststrukturalismus und die Methodenfrage.« In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel. Frankfurt am Main: Campus. (CD-ROM Ad-hoc-Gruppen und Foren). Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt am Main. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bublitz, Hannelore (1998) (Hg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt am Main/New York: Campus. Bublitz, Hannelore et al. (Hg.) (1999): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt am Main/New York: Campus. Bührmann, Andrea (1995): Das authentische Geschlecht. Die Sexualitätsdebatte der Neuen Frauenbewegung und die Foucaultsche Machtanalyse. Münster. Dane, Gesa/Eßbach, Wolfgang/Karpenstein-Eßbach, Christa/Makropoulos, Michael (Hg.) (1985): Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Tübingen: edition diskord.

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Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stäheli, Urs (2000): Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilerswist. Tenbruck, Friedrich (1990): »Repräsentative Kultur.« In: Hans Haverkamp (Hg.): Sozialstruktur und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 2053. Treusch-Dieter, Gerburg (1990): Von der sexuellen Rebellion zur Gen- und Reproduktionstechnologie. Tübingen: konkursbuch. Welsch, Wolfgang (1987): Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: Akademie-Verlag. Welsch, Wolfgang (1988): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim: Akademie-Verlag.

»Risikobereit, flexibel und exzellent« Moderne Subjektivität im Wissenschaftsbetrieb J ULIA G RUHLICH , B IRGIT R IEGRAF , L ENA W EBER

1. E INLEITUNG Die moderne Gesellschaft befindet sich gegenwärtig in grundlegenden Umbruch- und Umbauprozessen, die mit Verwerfungen für die Positionierungen von Gesellschaftsmitgliedern einhergehen, die inzwischen vielfach analysiert worden sind (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Bieling et al. 2001; Negt 2001; Rosa 2005; Sennett 1998). Stichworte wie »Ökonomisierung des Sozialen« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) oder »Vermarktung der Gesellschaft« (Negt 2001) deuten die Richtung der gegenwärtigen Veränderungsprozesse an. Bereits bei der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Luc Boltanskis und Eve Chiapellos weit beachteter Arbeit Der neue Geist des Kapitalismus (2003) war die Ökonomisierung der Gesellschaft mehr als lediglich ein vages Gefühl. In ihrer Managementstudie nehmen Boltanski und Chiapello (2003) einen grundlegenden Gedanken zur gesellschaftlichen Entwicklung auf, wie er bereits vor ihnen von soziologischen Klassikern, wie Thomas H. Marshall und Max Weber, ausgearbeitet wurde: Jede Etappe gesamtgesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse bedarf der kulturellen und mentalen Vorbereitung. Allerdings variiert von Etappe zu Etappe, was als angemessen, zeitgemäß oder ›richtig‹ gilt – für die eigene Lebensführung ebenso wie für die institutionelle Ausgestaltung (Aulenbacher/Riegraf 2011). Boltanski und Chiapello weisen in ihrer Untersuchung den mobilen, flexiblen und fortwährend in Projekten eingebunden Arbeiter_innen in der neuen Phase des Kapitalismus eine Schlüssel-

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stellung zu. Die Architektur dieser »Kultur des Projektes« lässt sich darüber bestimmen, inwieweit sich Menschen derzeit selbst, ihre sozialen Beziehungen und die Welt in der sie leben als Arbeitsprojekte begreifen, die es ständig zu managen und stets zu optimieren gilt, um in zunehmend unsicheren und instabilen Lebensweisen und -lagen bestehen zu können (Bröckling 2002: 260). In einer Analyse zeitgenössischer Selbstmanagementratgeber, die sich in den letzten Jahrzehnten einer boomenden Nachfrage erfreuen, geht Ulrich Bröckling davon aus, dass in diesen nicht lediglich Techniken effizienter Karriereplanung, Arbeitsorganisation und Stressbewältigung als zeitgenössische Klugheitslehren vorgestellt werden, sondern ein umfassendes Gesellschaftsmodell vermittelt wird (Bröckling 2002). In ihren Subjektivierungsprogrammen finde sich in komprimierter Form die Richtung wieder und werde zugleich entworfen, in die Individuen sich verändern sollen, um angesichts gewandelter Anforderungen aus der Arbeitswelt »zeitgemäß zu bleiben« und »Erfolg zu haben« (Bröckling 2002). Dass die entworfenen zeitgemäßen Subjektivitäten machtvolle Vergeschlechtlichungen enthalten, darauf machen wiederum die Arbeiten von Hannelore Bublitz aufmerksam (Bublitz 1998; 2001; 2008). In dem vorliegenden Aufsatz sollen die skizzierten Perspektiven am Beispiel des Wissenschaftssystems aufeinander bezogen werden. Das Wissenschaftssystem gehört ebenfalls zu den gesellschaftlichen Bereichen, die in den letzten Jahren entlang ökonomischer Prinzipien und Logiken grundlegend umgestaltet werden (Münch 2011; 2009; 2007; Riegraf/Aulenbacher 2010a; 2010b; Schimank 2002; 2005; Riegraf 2009). Ratgeberliteratur für Wissenschaftler_innen und damit auch die in ihnen entworfenen Subjektivierungsprogramme erfreuen sich zugleich im Wissenschaftssystem einer ständig wachsenden Nachfrage (Brennicke 2011; Färber/Riedler 2011; Feibelman 2011; Rompa 2010; Stock et al. 2007; Bär 2002; Knigge-Illner 2002; Rehder 1998). Wie Bröckling in seiner Analyse festhält, bleiben auch in diesen Ratgebern »Frauen das markierte Geschlecht« (2002: 184). Sie werden in besonderer Weise in ihrer Identität als Frauen in eigens für sie geschaffenen Ratgebern oder extra Unterkapiteln »angerufen« und ihnen wird entsprechender Handlungsbedarf unterstellt. Im Folgenden werden zunächst die Ökonomisierungsprozesse im Wissenschaftssystem skizziert, in denen »Exzellenz« einen zentralen Stellenwert als Orientierungspunkt wissenschaftlicher Leistungen erhalten hat, um

»RISIKOBEREIT ,

FLEXIBEL UND EXZELLENT «

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veränderte Anforderungen aus der wissenschaftlichen Arbeitswelt zu zeigen (Kapitel 2). Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, welches Bild von Wissenschaftler_innen und welche Handlungsprogramme in den Ratgebern entworfen werden (Kapitel 3). Schließlich steht das in ausgewählter Ratgeberliteratur für Wissenschaftler_innen zugrunde liegende Verständnis von Geschlecht im Zentrum und die Handlungsanweisungen und -strategien werden genauer betrachtet, die Wissenschaftler_innen auf den Weg zu Exzellenz bringen sollen (Kapitel 4).

2. »E XZELLENZ «

ALS

L EITBILD

VON

W ISSENSCHAFT

Die deutsche Wissenschaftslandschaft wird in den letzten Jahren über die Einführung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen grundlegend umstrukturiert. Vormals staatlich-bürokratische und hierarchische Organisations- und Regulierungsmaßnahmen (wie Detailregulierungen bei der Haushaltsplanung) werden zunehmend durch outputorientierte, allgemeine und unspezifische Kontextsteuerungen (wie das Erreichen von Exzellenz, Internationalität und Innovation) ersetzt, deren Übersetzung und Konkretisierung wiederum den Hochschulen und Wissenschaftler_innen überlassen bleibt (Riegraf 2007a; 2007b; 2008; 2009). Die Wissenschaftseinrichtungen erhalten im Zuge dieses Veränderungsprozesses mehr Gestaltungsautonomie und müssen sich im Wettbewerb mit den anderen Wissenschaftsorganisationen um finanzielle und symbolische Ressourcen (Forschungsgelder, Forschungsprämien, Lehrdeputatsreduktion, Auszeichnungen, etc.) immer wieder aufs Neue behaupten und miteinander messen. Begleitet werden diese Umgestaltungen entlang ökonomischer Prinzipien von der Einführung neuer, quantitativ messbarer Standards für ›erfolgreiche‹ wissenschaftliche Tätigkeit und von vermeintlich leicht messbaren und vergleichbaren Formen der Ergebnisevaluation und -kontrolle. Die Ökonomisierungsprozesse gehen in den Wissenschaftsorganisationen unter anderem mit der Zurückdrängung des Kollegialmodells der Selbstverwaltung zugunsten einer Professionalisierung der Managementqualitäten der Hochschulleitungen einher. Mit der Einführung privat- und betriebswirtschaftlicher Mechanismen werden Studierende zu »Kund_innen« des Wissenschaftsbetriebs, um welche die Universitäten in einem markförmig gestalteten Wettbewerb konkurrieren. Wissenschaftler_innen, die sich an den

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neuen Qualitätskriterien ihrer Arbeit orientieren müssen, übernehmen verstärkt Managementaufgaben. In den wissenschaftspolitischen Verlautbarungen wird die Implementation von Wettbewerbs- und Konkurrenzmechanismen um finanzielle und symbolische Ressourcen damit begründet, dass herausragende wissenschaftliche Leistungen von Wissenschaftler_innen oder aber an Standorten gebündelte »Spitzenleistungen in der Forschung« gezielt hervorgebracht werden sollen, nicht zuletzt um den Wissenschaftsstandort Deutschland in der internationalen Konkurrenz wettbewerbsfähig zu halten (Münch 2007; 2009; 2011). Der nicht genuin wissenschaftsimmanente Begriff »Exzellenz«, darauf weist Bröckling (2009) hin, fand erst mit der Einführung von privat- und betriebswirtschaftlichen Organisations- und Steuerungsmechanismen systematisch Eingang in die deutsche Wissenschafts- und Hochschullandschaft. Über die Auszeichnung ›exzellenter‹ wissenschaftlicher Leistungen soll nach US-amerikanischem Vorbild eine akademische Elite aus dem universitären Massenbetrieb hervorgehoben werden (Münch 2007: 8; Hartmann 2010). Entlang von überwiegend quantifizierbaren Maßeinheiten, wie hohe Drittmittelquoten und umfassende Publikationsoutputs, soll wissenschaftliche Exzellenz erfasst, gemessen, verglichen und zugewiesen werden. Als eine Messeinheit wissenschaftlicher Exzellenz legt beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft Publikationen fest, die wiederum über verschiedene bibliometrische Verfahren vermessen werden, wie der HirschIndex, der Science Citation Index (SCI) oder der Science Impact-Factor (SII). In diesen Kennziffern wird die Häufigkeit des Zitiertwerdens als Kriterium für die Güte von Fachzeitschriften und den Rang von Wissenschaftlern verwendet. Aber auch bruchlose Karriereverläufe und hohe über den nationalen Rahmen hinausgehende Mobilitätsbereitschaft markieren die Vorstellungen von exzellenten Wissenschaftler_innen.

3. »D IE V ERMARKTUNG DES S ELBST « – R ATGEBERLITERATUR FÜR W ISSENSCHAFTLER _ INNEN Der Erfolg von Ratgeberliteratur wie Forschung erfolgreich vermarkten (Universität Dortmund 2003), Erfolgreich promovieren (Stock et al. 2007) oder Der Weg zum Doktortitel (Knigge-Illner 2002) ist bereits ein Hinweis

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FLEXIBEL UND EXZELLENT «

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darauf, dass sich das Leitbild erfolgreicher Wissenschaftler_innen gegenüber traditionellen Vorstellungen grundlegend verändert. Max Weber (1922) zeichnet in seiner prominent gewordenen Arbeit Wissenschaft als Beruf das Bild eines Wissenschaftlers, der lebenslang, weltvergessenen und unabhängig von materiellen Interessen seiner Berufung zur wissenschaftlichen Erkenntnis nachgeht. Die dem Motiv der Berufung entsprechende volle Verfügbarkeit in zeitlicher, emotionaler und intellektueller Hinsicht, lässt Wissenschaft nicht als Beruf wie jeden anderen erscheinen. Stattdessen werden Wissenschaft und der Wille zur wissenschaftlichen Erkenntnis zur »Lebensform« (Mittelstraß 1982). Die letztendliche Bestätigung dieser Berufung und der erbrachten wissenschaftlichen Leistungen lassen sich in diesem Bild erst am Erreichen einer in Forschung und Lehre autonomen Professur messen. Die bei Weber skizzierte Idee einer per se vorherrschenden Berufung zur Wissenschaft, die durch den Durchlauf eines langen und mühseligen Sozialisations- und Aufstiegswegs durch die scientific community voll entwickelt und bestätigt wird, lebt als Orientierungspunkt für den Einstieg in das Berufsfeld Wissenschaft in Erfolgsratgebern, wie Wollen Sie wirklich Wissenschaftler werden? … dann los! (Brennicke 2011), Karriere am Campus (Rompa 2010) oder Black Box Berufung (Färber/Riedler 2011) weiter fort. Daneben gibt es aber deutlich andere Akzente. ›Wissenschaftliche Subjektivität‹ und die Orientierung auf Wissenschaft, so lautet das Credo der Ratgeber, kann durch Verhaltensänderungen und Verhaltenstechniken nicht nur, sondern muss entwickelt werden, um neben aller Berufung angesichts zunehmender Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen um Exzellenz den Anforderungen an Wissenschaft weiterhin zu genügen und nicht auf das wissenschaftliche Abstellgleis geschoben zu werden. Eine fortwährende und nie vollendete Arbeit an der eigenen Persönlichkeit wird nötig, um bestehen zu können.

3.1 Optimierungsstrategien auf dem unkalkulierbaren Weg zur Exzellenz Die Berufung zur Wissenschaft sowie die Bereitschaft Wissenschaft als Lebensform zu wählen, ist die zunächst notwendige Voraussetzung, um Unsicherheiten und Härten des Wissenschaftsfeldes bewältigen zu können,

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diese Rede findet sich in allen Ratgebern. Der »Hazard« der wissenschaftlichen Laufbahn (Weber 1922), der sich durch lange Zeiten prekärer Beschäftigungsverhältnisse mit entsprechend unsicheren Lebenslagen und -planungen, einer, statistisch gesehen, geringen Wahrscheinlichkeit tatsächlich eine Professur zu erhalten und hohem Konkurrenzdruck auszeichnet, erfordert ein absolutes Bekenntnis als Grundvoraussetzung für den Eintritt in die Wissenschaft. »Wollen Sie wirklich Wissenschaftler werden?« Dann »ziehen Sie ›Wissenschaft‹ als Beruf nur als Berufung in Betracht« (Brennicke 2011: 2). Und weiter: »Nur wer als wissenschaftlicher Mensch von besonderem ForscherInnendrang und dem Wunsch Neues zu entdecken getrieben ist, ist bereit, sich in diesem Feld zu behaupten« (Färber/Riedler 2011: 109). Die Ratgeber lassen aber keinen Zweifel daran, dass der Berufung zur Wissenschaft nachzugehen bedeutet, im enormen und wachsenden Konkurrenzdruck um wissenschaftliche Annerkennung und damit auch um Professuren, ständig als gesamte Person zur Disposition zu stehen: »Wer nach oben will, steigt mitunter einen steilen Weg hinauf, der von vielerlei Unannehmlichkeiten begleitet wird und in dessen Verlauf die Luft, die zum Atmen bleibt, durchaus dünn werden kann. Viel mehr, als in jedem anderen Beruf, stehen in der Wissenschaft durch berufliche Anerkennung oder Abwertung der Personen und Persönlichkeiten auf dem Prüfstand« (Färber/ Riedler 2011: 114). Wissenschaft wird aber zugleich als ein willkürliches, von persönlichen Interessenslagen bestimmtes Machtspiel skizziert (Färber/Riedler 2011: 18 f.). Die Unsicherheiten, die dieses Machtspiel für den Karriereweg mit sich bringen, mache es nötig, den Umgang mit den formalen und informellen Spielregeln zu lernen und zu beherrschen. Dazu gehören Techniken der Selbstdarstellung und der Karriereplanung. Der Tenor der Ratgeber lautet: Eine wissenschaftliche Karriere ist zwar nicht planbar, aber mit gezielten Strategien der Selbstoptimierung kann auf dem unkalkulierbaren Weg einer wissenschaftlichen Laufbahn der Erfolg berechenbarer werden. Um sich in der Konkurrenz mit anderen dauerhaft erfolgreich behaupten zu können, wird das wissenschaftliche Subjekt dazu angehalten, sich ständig neu zu modellieren, seine Leistung auf dem Arbeitsmarkt und in den Organisationen strategisch sichtbar zu machen, anzubieten und zu vermarkten. Die Idee der Vermarktung des Selbst (Bröckling 2007) zeigt sich auch hier: Geraten wird, sich selbst als unverwechselbare Marke zu

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kreieren und eine unentbehrliche Position in der Forschung einzunehmen, um sich von der Masse abzuheben. Lehrtätigkeiten bleiben in der Ratgeberliteratur ausgeblendet. Exzellenz lässt sich demnach ausschließlich durch strategische Forschungsentscheidungen erreichen: Bereits bei Eintritt in das Wissenschaftssystem gilt es »Profilbildung« zu betreiben, eine Nische zu besetzen, ein bestimmtes Forschungsfeld zu prägen und im Mainstream mit zu schwimmen, um sich so unersetzlich für andere Wissenschaftler im Themenfeld zu machen (Brennicke 2011: 51). Durch die Produktion von Daten, die für andere Voraussetzung ihrer Arbeit sind, kann man nahezu, die »Prioritätsregel«, als erste_r im Feld Wichtiges hervorgebracht zu haben, garantieren (Färber/Riedler 2011: 92). Für den höchst vagen und deshalb interpretationsoffenen Begriff Exzellenz gilt, wie »stets bei solchen Mobilisierungsvokabeln« (Bröckling 2009: 250), dass »inhaltliche Unbestimmtheit und Suggestivkraft in direkt proportionalem Verhältnis zueinander« stehen (ebd.). Axel Brennicke formuliert in seinem Ratgeber Wollen Sie wirklich Wissenschaftler werden? … dann los! einerseits, dass von Exzellenz in der deutschen Wissenschaft (noch) nicht gesprochen werden kann. Beim Schreiben eines DFG-Antrages kann einen deshalb beruhigen: »Vergessen sie nicht: Fast alle ihre Konkurrenten um das DFG-Geld sind auch nur der gute Durchschnitt.« (Brennicke 2011: 134). Von dem »Elite-Uni-Geschwafel« (Brennicke 2011: 56) hält er überhaupt nichts. Andererseits referiert auch er auf die Indikatoren, wie z. B. Publikationsumfang und Drittmittel, die durch die neuen Evaluierungssysteme als Maßstab für akademische Exzellenz eingeführt wurden. Exzellenz, vor allem als berechenbare, quantifizierbare und vergleichbare Messgröße verstanden, wird mitunter mit Effizienz gleichgesetzt, aber »Wie misst man die Effizienz?« Anzahl und Qualität der peer reviewed veröffentlichten Fachzeitschriftenartikel lautet die Antwort Brennickes (2011: 44). Und weiter: »Ein guter, seriöser Wissenschaftler schafft eine Effizienz von einem durchschnittlichen Paper pro Mannjahr« (ebd.). Aber der entscheidende Unterschied ist, »an welcher Stelle man auf diesen als Autor auftaucht.« (Ebd.: 119-120) »Klar« dabei ist, dass international, also auf Englisch publiziert wird (ebd.: 177). Neben der Quantität von Publikationen, zählt natürlich auch deren Qualität. Dabei sollte in den veröffentlichten Inhalten eine »Breite und Tiefe im Fach« erkennbar sein (Färber/Riedler 2011: 92).

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Der Orientierungspunkt für exzellente Wissenschaft bilden in den Ratgebern die Anforderungen in den Natur- und Technikwissenschaften, die sich traditionell durch Patente und Technologieentwicklungen und eine größere Nähe zur Wirtschaft auszeichnen. Weiterhin etablierten sie eine Publikationspraxis mit hohem Publikationsumfang und entsprechenden Zitationsfaktoren: »In einer Zeit, in der messbare und vergleichbare Daten in das Controlling der wissenschaftlichen Leistungen zunehmend Einzug halten, ist gerade in den Naturwissenschaften und der Medizin eine sehr strenge Orientierung an den Zitationsfaktoren […] und allgemein eine Orientierung an der Menge der Veröffentlichungen zu beobachten. Auch das Volumen der Drittmittel und die Reputation der Geldgeber gelten bei Berufungen als entscheidend« (Färber/Riedler 2011: 47-48). Die Naturund Technikwissenschaften geben die Konturen des neuen Leitbildes auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften vor, was sich zum einen in der Skizze des idealen Forschertypus widerspiegelt, der laut Brennicke, der »Organisator« oder Manager ist (2011: 145). Dieser versteht sich darin, die großen Drittmittel einzuwerben und die Aufgaben auf seine Laborangestellten zu delegieren. Dabei muss er nicht nur mit großen Geldsummen jonglieren können und Führungsqualitäten vorweisen, vielmehr muss er als »Organisator« auch Kontakte zu außerhochschulischen Akteuren, wie zur Industrie und Wirtschaft knüpfen und seine Forschungen zu vermarkten wissen. Der zweite als ehemals ideal entworfene Forschertypus ist der »Forscher« (ebd.) oder auch »einsame Wolf« (ebd.). In ihm lebt das historische Archiv des in Einsamkeit forschenden Genies weiter, der sich in seinem Labor eingräbt und eine kleine erlesene Gruppe von Nachwuchswissenschaftler_innen um sich vereint, aber am Ende den neuen Anforderungen an Wissenschaft nicht mehr gerecht wird. Da die scientific community letztlich über das berufliche Vorankommen entscheide, sind sich alle Ratgeber darin einig: Nationale und vor allem internationale Netzwerkbildung und Kooperationen sind im Feld der Wissenschaft zentral (Färber/Riedler 2011: 46). Als beste Strategie wird empfohlen, sich an denjenigen, die man bewundert zu orientieren oder gar eine Stelle bei ihnen anzutreten. In den Worten der Autorinnen Christine Färber und Ute Riedler: man soll »um die Sonne kreisen« (Färber/Riedler 2011: 94). Oder man verbringt viel Zeit auf Konferenzen um »spannende Peers kennenzulernen« (Färber/Riedler 2011: 88). Oder, noch besser, das wissenschaftliche Subjekt sollte sich daran gewöhnen aus dem Koffer zu

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leben, um an forschungsintensiven Einrichtungen – idealerweise im Ausland – einige Stationen seiner Qualifizierung zu verbringen.

3.2 Vom abwesenden Anderen zum Chamäleon: Das weibliche Subjekt in der Wissenschaft Die moderne Wissenschaft etablierte sich, wie David Noble (1992) rekonstruiert, über Jahrhunderte hinweg als »World without Women«, was weder der Arbeitsorganisation, den Tätigkeiten und Inhalten noch den Vorstellungen von Wissenschaftler_innen äußerlich blieb. Der Zugang zu den Universitäten als immer bedeutender werdenden gesellschaftlichen Organisationen der Wissensproduktion war noch bis vor einem Jahrhundert ausschließlich Männern vorbehalten. Die Exklusion des Weiblichen schlägt sich im skizzierten Leitbild des »wahren« Wissenschaftlers nieder, wie sie sich bei Weber findet: Der vergeistigten Existenz des in Einsamkeit und Freiheit forschenden, allein der reinen Erkenntnis verpflichteten Gelehrten. Dieses Leitbild verleugnet nicht nur die subjektiven Einflüsse auf die wissenschaftliche Wissensproduktion (Haraway 1996), sondern auch all die reproduktiven Leistungen, die es voraussetzt (vgl. Matthies/Oppen 2004: 287; Metz-Göckel 2009). Die meisten Ratgeber postulieren nicht zwischen männlichen und weiblichen Subjekten zu differenzieren: »Mit Wissenschaftler ist hier der Beruf gemeint und nicht ein männliches Wesen. [...] Alles in diesem Buch trifft den ›Wissenschaftler‹ als solchen, egal ob männlich oder weiblich« (Brennicke 2011: 1; vgl. auch Rompa 2010: 5). Dennoch fällt auf, dass es explizite Ratgeber für Frauen in der Wissenschaft gibt (Färber/Riedler 2011) oder eigens für sie formulierte Kapitel (Brennicke 2011: 142; Rompa 2010: 174). Dies spiegelt die Auffassung wider, es gäbe »geschlechtsneutrale« oder männliche Subjekte und weibliche Subjekte. Ratschläge zur Selbstverbesserung für Frauen in der Wissenschaft changieren zwischen »Affirmation und Auflösung der Geschlechterstereotype« (Bröckling 2002: 191). An der Stelle, an der die Subjekte explizit als weiblich oder männlich adressiert werden, werden ihnen immer auch vergeschlechtlichte Identitätskonstrukte angeboten. »Wie jede andere Dimension des Selbst«, so konstatiert Bröckling, wird auch Geschlecht »in den Dienst des Erfolges gestellt« (Bröckling 2002: 192). Diese Subjektentwürfe stützen sich auf

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eine in die Institutionen der Wissenschaft eingeschriebene Hierarchie und bringen diese diskursiv erneut hervor, bieten zugleich jedoch auch die Möglichkeit einer Verwerfung historischer Geschlechtercodierung (vgl. Bublitz 2008: 265 ff.). Wie für Frauenratgeber insgesamt typisch, unterstellen sie Wissenschaftlerinnen besondere Defizite hinsichtlich ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbstdarstellung, die es durch Optimierungstechnologien zu überwinden gilt (Bröckling 2002). Die Wissenschaftler_innen sollten auf jeden Fall anders sein, als es von »frau« üblicherweise erwartet wird: Frauen sollten »bestimmter, klarer und profilierter auftreten« (Färber/Riedler 2011: 208). Außerdem legen sie Wissenschaftlerinnen nahe an Mentoringprogrammen teilzunehmen, die ihnen Erfahrungsaustausch und Vernetzung zugleich ermöglichen, was dem defizitären weiblichen Wissenschaftssubjekt helfen soll »Selbstvertrauen und Resilienz zu stärken« (Färber/Riedler 2011: 114). Ziel der individuell zu verrichtenden Selbstoptimierung von Frauen ist es, den Ratgebern zufolge, die Aufmerksamkeit von der eigenen Geschlechtlichkeit, d. h. von ihren Kindern, ihren Beziehungen, ihrem Äußeren oder ihren Problemen möglichst ab und auf ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten und Kompetenzen zu lenken (Färber/Riedler 2011: 13). Mitunter wird an das weibliche Selbst moralisch appelliert, keine Unterstützungsleistungen aufgrund ihres Geschlechts anzunehmen: »Stellen sie sich einmal vor, dass Sie eine Stelle als Angestellte oder Beamte deshalb bekommen, weil sie weiblich sind und nicht weil sie besonders gute Arbeit leisten. Ist das mit ihrem Selbstwertgefühl auf längere Zeit vereinbar?« (Brennicke 2011: 143 f). In den Erfolgsratgebern werden Wissenschaftlerinnen mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die marktimmanent sind und die die »Mobilisierung des unternehmerischen Selbst« kennzeichnen (Bröckling 2002: 182). So schwanken die Autorinnen Färber und Riedler zwischen konkreten und ungenauen Hinweisen, wie Frau ›männlicher‹ wirken kann. Die Appelle werden paradox, wenn die Autorinnen zugleich betonen, dass es sich für Frauen entweder als nachteilig auswirken kann, wenn sie ihre Weiblichkeit betonen oder aber einen Vorteil innerhalb der Wissenschaftslotterie bedeutet, in dem es um größtmögliche Sichtbarkeit geht (Färber/ Riedler 2011: 98). Die strukturelle Überforderung über Widersprüche ist durchaus gewollt, erzeugt sie doch jene fortwährende Anspannung, die den »Einzelnen niemals zur Ruhe kommen lässt« (Bröckling 2002: 182). Die

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gesellschaftliche Erwartungshaltung sieht »permanente (Leistungs-)Steigerung, Wachstum und Bewegung« vor, ein »Stillstand wäre tödlich« (Bublitz 2010: 100). An anderer Stelle werden Präsentationstipps gegeben: »Kandidatinnen sollten bei einer Anhörung unbedingt ein Jackett tragen: Es betont die Schultern, verleiht Haltung und damit Profil und ist ein Zugeständnis an Männlichkeitsrituale« (Färber/Riedler 2011: 170). Das, was als typisch weiblich, aber auch das, was als zu »dominant«, »sinnlich« und damit als zu »gefährlich« wahrgenommen würde (wie z. B. rote Kleidung), gilt es im vermännlichten Wissenschaftsbetrieb zu vermeiden (Färber/Riedler 2011: 170). Gendermarker sind gleichzeitig Gefahr und Aufmerksamkeitsbonus. Es bleibt dem Subjekt überlassen für sich das »Risiko« zu prognostizieren, welche Entscheidung sich für den »Markteintritt« als rentabel erweist. Das Geschlecht als »Wahr-Zeichen« (Bublitz 2001) kann somit auch zielgerichtet als Ressource zum Einsatz gebracht werden, zum Beispiel als kompetitiven Vorteil, den es zu nutzen gilt: »Tipp: Gerade wenn Sie nicht ins Bild der Masse der Geförderten passen, könnten Sie besonders gute Chancen haben. So werden beispielsweise Frauen und Studenten mit Migrationshintergrund insbesondere gefördert, weil diese sich normalerweise seltener bewerben« (Rompa 2010: 22). Färber und Riedler wiederum empfehlen die Gleichstellungsbeauftrage sowie weibliche Kolleginnen gezielt als legitime Ressource zu nutzen (Färber/Riedler 2011: 75 ff.). Diesem Ratschlag geht die Annahme voraus, dass Wissenschaftlerinnen die (zumeist männlich geprägten) Netzwerke fehlen. Hinter diesen Ratschlägen stehen spezifische und absolute Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, welche durch die schematischen Darstellungen und kompromisslosen Ratschläge festgeschrieben werden. Dabei übersehen die Autorinnen, dass Geschlecht eher das ist, »was Menschen zu bestimmten Zeiten tun, als das, was Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort, also universell, sind« (Bublitz 2002: 73). Für das bisherige Leitbild des exzellenten wissenschaftlichen Subjekts war die Ausblendung familiärer Bindungen charakteristisch. Sigrid MetzGöckel et al. (2009) beschreiben, dass die nach wie vor aktuelle Vorstellung von »Wissenschaft als Lebensform« vorsieht, dass, um das Privileg einer «rein erkenntnisorientierten« Arbeit ausschöpfen zu können und sich ganz in den Dienst der Sache zu stellen, familiäre Belange oder Familiengründungen hinten angestellt werden müssen. Diese Idee findet sich in den

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Ratgebern explizit wieder und erhält dadurch eine neue Form der Relevanz. Die Familie wird nicht länger ausgeschwiegen, jedoch wird ihre formale Sichtbarkeit auf inhaltlicher Ebene erneut zurückgenommen: Als exzellente_r Wissenschaftler_in sollte man am besten über wenig aufdringlich Privates verfügen (wie Familie oder Kinder). Das wissenschaftliche Subjekt muss flexibel und mobil für internationale Kooperationen sein (Färber/ Riedler 2011: 93) und mit seiner Geschlechtlichkeit anpassungsfähig wie ein Chamäleon umgehen. So wird Familie in erster Linie als lang andauernde, zeitliche und finanzielle Belastung skizziert (Brennicke 2011: 139 f.) oder auch als ein »Experiment«, das in der Regel schief geht (Brennicke 2011: 140). In zugespitzten Formulierungen kommt zum Ausdruck: »Im Normalfall machen Sie sich mit Familie unglücklich« (Brennicke 2011: 141). Das von Leidenschaft getriebene Wissenschaftssubjekt kann zwar im »Kampf um das normale Leben« eine Familie gründen, aber nur darauf hoffen, »dass Frau und Kinder sie von ihrer Monomanie ablenken und sich nicht nur miteinander beschäftigen« (Brennicke 2011: 47). Analog zu den kommunizierenden Röhren bedeutet die Entscheidung für die Wissenschaft, eine klare Entscheidung gegen die Familie: »Denn eines können Sie als Wissenschaftler nicht machen – Elternzeit nehmen oder in Teilzeit arbeiten. Wissenschaft ist immer ein Vollzeitberuf« (Brennicke 2011: 140). Wenn die Bezahlung und Befristung wissenschaftlicher Verträge dies nicht zulässt, so kann es sein, dass Wissenschaftler »entnervt aufgeben und Lehrer werden« (Brennicke 2011: 45), wenn sie dem Druck der »jungen, hungernden Familie« erliegen. Dem Wissenschaftler bleiben für Freunde, Hobbys, Liebesbeziehung und besonders Familie »einfach keine Zeit und nur sehr wenig Platz im Kopf« (Brennicke 2011: 121 f.). Die andere Perspektive auf denselben Sachverhalt ist, dass Familie kein Widerspruch, sondern eine willkommene Ergänzung und einen notwendigen inneren Ausgleich bedeuten kann. Diese Idee wird vor allem an das weibliche Subjekt in der Wissenschaft im Ratgeber von Färber und Riedler adressiert: »Kinder können ein gutes Gegengewicht zur Wissenschaft bieten und damit eine Balance herstellen. Auch wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oft schwer zu managen ist, holen Kinder Menschen im Wissenschaftssystem aus dem Elfenbeinturm. Sie verleihen dem Leben einen Sinn und pusten den Kopf nach einem Tag im Labor oder mit Büchern gründlich durch« (Färber/Riedler 2011: 115). Die weiblichen Wissenschaftssubjekte müssen jedoch aufpassen, dass sie durch die Kinder

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nicht von ihrem beruflichen Weg abkommen und »in eine Familienkarriere […] schliddern« (ebd.). Anders als die allgemein formulierten Ratgeber (Brennicke 2011; Rompa 2010) gehen Färber und Riedler (2011) von einem Dual-Carreer-Couple weiblicher Subjekte in der Wissenschaft aus. Als Strategien für das Familienmanagement der weiblichen Subjekte empfehlen sie, sich emotional im Erfahrungsaustausch mit anderen leidgeprüften Eltern zu entlasten, Versuche zu unternehmen eine egalitäre Arbeitsteilung in der Partnerschaft auszuhandeln und sich Hilfe in Form einer externen Kinderbetreuung und Haushaltskraft zu suchen (Färber/Riedler 2011). Das wissenschaftliche Subjekt arbeitet aus »Engagement«, seine »Denk- und Arbeitszeit [lässt sich] nicht nur für einen Stundenlohn zur Verfügung stellen« (Brennicke 2011: 141 f.). Vielmehr ist es ein freiwilliger Arbeitssklave, das keiner Arbeitszeitkontrollen bedarf, weil es sich (und dies leidenschaftlich gerne) ausbeutet und die Freiheit der Arbeitszeitgestaltung benötigt, um dann arbeiten zu können, wenn das Projekt dies bedarf (Brennicke 2011: 15).

4. »P RODUKTIVE « U NEINDEUTIGKEITEN Die von Boltanski und Chiapello angenommene »Kultur des Projektes« schlägt sich auch im Wissenschaftssystem nieder. Die Betrachtung der Ratgeberliteratur für Wissenschaftler_innen zeigt, dass die entworfenen Subjektivitäten angehalten werden, sich als Arbeitsprojekt zu begreifen, das es ständig zu verbessern, zu entwickeln und zu optimieren gilt. Auch in dieser Literatur ist der Entwurf eines »unternehmerischen Selbst« erkennbar, dessen projekt- und prozessförmige Existenz eine never ending story darstellt (Bröckling 2002). Die Ziele, die im Sinne einer rationalen, effizienten und darum erfolgsverheißenden Gestaltung des Lebens im Entwurf des wissenschaftlichen Selbst zu erreichen gilt, sind beweglich und letztlich nie erreichbar. Dieses Selbst ist zur permanenten Verbesserung und Optimierung angehalten, wenn es die Unsicherheit seiner gesellschaftlichen Position erfolgversprechend, aber ohne Erfolgsgarantie bearbeiten will. Die Ratgeberliteratur thematisiert inzwischen durchaus Geschlecht, das wesentlicher Bestandteil dieser Subjektkonstruktionen ist und problematisiert – und das ist neu – das Verhältnis von Leben, Familie und Be-

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ruf(ung). Zudem werden Frauen auch als wissenschaftliche Subjekte anerkannt – wenn auch in besonderer Art und Weise. Insofern ist mit Butler (1990) nicht von einer Dekonstruktion von Geschlecht in der Wissenschaft zu sprechen: Männliche und weibliche Subjekte werden zwar weitaus weniger eindeutig entworfen, aber weiterhin als voneinander distinkt.

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Handlungsfähigkeit Über Agency, das Konzept ›Cool‹, bestimmte Zumutungen der männlichen Rolle, ›Kommunikation‹ und die Medien H ARTMUT W INKLER

Nicht erst seitdem Medien auf ›Interaktivität‹ umgestellt werden und von ihren Rezipienten mehr verlangen als nur Rezeption, seitdem das Web 2.0, Stichwort Crowdsourcing, Content aus User-Aktivitäten gewinnt, und seitdem Social Networks die User fordern, täglich aktiv ihre Netze zu pflegen, steht zur Debatte, was Handeln ௅ inner- und außerhalb der Medien ௅ eigentlich meint. In den Sozialwissenschaften eines der Basisprobleme, breit und kontrovers diskutiert, ist das Handlungskonzept für die Kulturtheorie dennoch in vieler Hinsicht ein Rätsel. Allzu tief eingelagert in unser Alltagsverständnis scheint es im hellen Licht sich zu verbergen. Handeln ist von einem ganzen Bündel von Selbstverständlichkeiten umgeben: ›Aktiv‹ erscheint selbstverständlich besser als ›passiv‹; aktives Handeln erscheint mit Kontrolle assoziiert, mit souveräner Daseinsbewältigung und der Möglichkeit, eigene Wünsche zu realisieren; Passivität mit einer Drohung, in der sich Fremdbestimmung, soziales Zurückfallen, Bilder von Couchpotato und Adipositas mischen. Arbeit/Aktivität steht nach wie vor im Zentrum einer protestantischen Ethik, die die Gesellschaft konfessionsübergreifend durchdringt und selbst Manager sagen lässt, ihr maßloses Gehalt sei an den 12-16 Stunden täglicher Arbeit zu messen. Arbeit erscheint nicht mehr als Fron, als auferlegt, sondern ௅ umgedeutet zum Besitz eines Arbeitsplatzes ௅ als Basis sozialer Teilhabe, Stress als der Ausweis

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derer, deren Arbeit besonders wichtig und/oder selbstbestimmt ist. In Freizeitsport und Aktivurlaub unterwirft das Handeln bis dahin ausgesparte Terrains. Die Beispiele und der Exzess des Handlungsmodells sind sicher der westlich/bürgerlichen Gesellschaft und dem jüngeren Neoliberalismus auf die Rechnung zu setzen. Das Handlungsmodell aber ist tiefer verwurzelt, bis in die Strukturen unserer Syntax hinein, die verlangt, dass ein ›Subjekt‹ mittels eines Verbs ›Objekte‹ ›regiert‹ und dazu zwingt, grundsätzlich alle Tatbestände nach Maßgabe des Handlungsmodells zu denken. Die Descartesche Subjekt-Objekt-Dichotomie, selbst ein Kind des frühbürgerlichen Aufbruchs, spitzt dies zu; und selbst eine Theorie wie die ANT, die beansprucht die Subjekt-Objekt-Dichotomie zu hinterschreiten, zahlt den Preis, dass sie den ›Akteur‹, und damit die Handlung, wie ein Brandmal im Namen trägt. All dies ist als Beobachtung nicht neu. Kulturtheorie aber, denke ich, sollte immer auch den Preis mit benennen, die Dimension subjektiver Krise, die das Handlungsmodell zwangsläufig mit sich bringt, und ausloten, wo es die Subjekte regelhaft überfordert. Und dies umso mehr, als das Konzept des Subjekts selbst sich dem Handlungsmodell vollständig verdankt.

U MSTELLUNG

VON PASSIV AUF AKTIV

Computer und Internet stellen die Medienlandschaft von ›passiver‹ Rezeption auf ›Aktivität‹ und Interaktivität um. An dieser Deutung und an dem Konzept der Aktivität/Passivität sind Zweifel sicherlich angebracht und in der Debatte z. B. um die ›Interpassivität‹ auch diskutiert worden. Gleichzeitig steht außer Frage, dass der Sekundärdiskurs, der die Durchsetzung des Computers begleitet, seine Rhetorik geradezu obsessiv auf das Handlungsmotiv abstellt, und zwar mit all den genannten, wertenden Konnotationen. Die neue Aktivierung der User wird als Hoffnung auf Teilhabe, als Bruch mit der One-to-many-Logik der audiovisuellen Massenmedien und als wunderbar kompatibel mit den impliziten Fortschrittsannahmen begriffen. Die Umstellung von passiv auf aktiv allerdings betrifft nicht die Medien allein. Sie reiht sich ein in den größeren Kontext jenes Umbaus der Gesellschaft (oder der Gesellschaftstheorie), die mit dem Begriff der ›Gouvernementalität‹ sich verbindet. Vor allem Foucault hat sich mit dem Handeln

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auf den unterschiedlichsten Ebenen auseinandergesetzt; zum einen, indem er nicht nur Dokumente, sondern im Anschluss an die Ethnologie auch Praktiken zum Gegenstand seiner Untersuchung machte; zum zweiten, indem er Praktiken gerade nicht an Intention und Bewusstsein band, sondern sich ganz im Gegenteil gerade für deren Opazität interessierte, also diejenigen Anteile, die den Handelnden notwendig entgehen; vor allem aber, indem er zeigte, dass Macht nicht auf Stillstellung/Duldung, sondern auf Mobilisierung zielt. So hat er in Sexualität und Wahrheit gegen die Repressionshypothese gezeigt, dass Sexualität auch in den Zeiten ihrer striktesten Regulierung nicht unterdrückt, sondern vielmehr angereizt wird. Dies ist das schlagendste Beispiel, dass es nicht um die Stillstellung der Subjekte, sondern um Aktivierung und Mobilisierung geht. Macht und Kontrolle bestehen nicht darin, Trieb oder Handeln zu unterdrücken. Ziel ist ganz im Gegenteil, aus Trieben Antriebe zu gewinnen, diese durchzuformen und für die Zwecke der Macht in produktiver Weise nutzbar zu machen. Das Konzept der Gouvernementalität ist noch keineswegs ausdiskutiert. Zumindest in einer seiner Dimensionen aber steht es für die These, dass Macht in der Aktivierung und Mobilisierung der Subjekte ihre hauptsächliche Ressource hat. Für die Arbeit galt dies selbstverständlich schon immer; und ebenso für die militärische ›Mobilmachung‹, die, wie Virilio und Kittler zeigen, Muster auch für zivile Mobilisierungen ist. Und sicherlich häufiger als mit aktivem Widerstand war die Macht mit einer hartnäckigen Trägheit auf Seiten der Machtlosen konfrontiert, mit Indolenz und zähen Formen passiven Beharrens. In der Moderne, und das macht die These geschichtlich konkret, nimmt dieser Widerspruch, die Spannung zwischen aktiv und passiv, dramatisch zu. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Strukturen von Traditionen gelöst und mobilisiert werden, braucht es Subjekte, die bereit sind, die Veränderungen ௅ unabhängig davon, ob sie ihnen zustimmen ௅ mitzutragen, sie durch ihre Arbeit konkret herbeizuschaffen, und zudem bereit und in der Lage, sich selbst, als Subjekte, auf den Stand einer ständig erneuerten Welt zu bringen. Die sich überstürzende Dynamik, die sich mit der Moderne verbindet, gerät in Spannung zur Beharrungskraft der Subjekte; deren Mobilisierung soll das Problem lösen; Handeln ist der Modus, der Veränderung wie Selbstveränderung trägt.

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K LEINKAPITAL Urbild des handlungsfähigen Subjekts ௅ auch dies ist vielfach dargestellt worden ௅ ist das Kleinkapital. Erst wo der Einzelne wirtschaftlich ›selbstständig‹ ist, erscheint er handlungsfähig in einem umfassenden Sinne. Antrieb (die Aussicht auf Gewinn), Risikobereitschaft (die Bereitschaft, das gerade errungene Kapital aufs Spiel zu setzen, das eine bürgerliche Rhetorik die ›Existenz‹ nennt), die Möglichkeit, über die Ziele des eigenen Handelns selbst zu bestimmen, Zurechenbarkeit/Verantwortung und die Aussicht auf persönliches Glück scheinen in der Rolle des ›Selbstständigen‹ mühelos sich zu vereinen. ›Selbstständig‹ aber meint durchaus noch mehr. ›Selbstständig‹ ist vor allem derjenige, der nicht von anderen abhängig ist. Für den Kleinkapitalisten ist dies vollständige Illusion, insofern er tatsächlich von seinen Kunden abhängig ist, von seinen Lieferanten und Konkurrenten, vom Staat und von vielem mehr. Anders als der Lohnabhängige oder Militär aber ist er zumindest nicht Weisungen unterworfen. Als Utopie hat ›Selbstständigkeit‹, verstanden als Unabhängigkeit, große Strahlkraft. Sie bringt den Kleinkapitalisten in die Nähe seines historischen Widerparts, des Fürsten, der vor allem als ›absoluter‹ sich allein vor Gott verantworten muss; und noch die Anarchisten der Gegenwart zitieren das Konzept, wenn sie sich ›Autonome‹ nennen. Fakt, Illusion oder Utopie, Handlungsfähigkeit scheint ganz wesentlich durch den Abbruch von Bindungen definiert. Und damit ist die Grundachse benannt, die ich im Folgenden weiter verfolgen will: Je strikter der Handelnde eingebunden ist in gesellschaftliche, institutionelle, formelle oder informelle Strukturen, je mehr er planen, Konsequenzen bedenken und ›Rücksichten‹ nehmen muss, desto eingeschränkter erscheint der Raum, in dem sich sein Handeln bewegt; Bindungen und Bedingungen tasten den Handlungsbegriff an. Im Idealfall ist Handeln ›frei‹ und das heißt unbedingt.

C OOL Die tatsächlichen Verhältnisse aber, das haben Marx, Durkheim und vor allem Elias gezeigt, sind anders, denn die gesellschaftlichen Interdependen-

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zen nehmen dramatisch zu. Industrialisierung und Moderne haben ein immer dichteres Netzwerk über den Globus geworfen, das die Aktivitäten des Einzelnen in immer mehr Zusammenhänge einbettet und in ein Feld immer komplexerer Interdependenzen stellt. Die zunehmende Interdependenz, dies ist der Punkt bei Elias, lässt die Handlungsketten länger werden, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung immer indirekter und die Handlungen als Eingriff in die Situation immer weniger spürbar. Das allerdings heißt nicht, dass Handeln und Aktivität an Bedeutung verlören, dass die Moderne auf Handeln und Aktivität nicht nach wie vor angewiesen wäre. Gefordert sind nun Formen eines den Strukturen angepassten, kompatiblen und konformen Handelns, das den Betrieb am Laufen hält und hilft, diesen ständig umzubauen und zu revidieren, das eine unbestimmte Zukunft herbeischafft, um sie in eine umso bestimmtere Gegenwart zu verwandeln. Einen emphatischen Handlungsbegriff allerdings kann dieses Handeln kaum noch erfüllen. Weder kann der Handelnde die Ziele seines Handelns setzen, noch im eigentlichen Sinne Verantwortung übernehmen, sich selbst als Wirkursache verstehen oder Glück, sofern es denn eintritt, als verdientes Resultat seines Handelns genießen. In diesem Widerspruch, sagt Elias, liegt ein erhebliches Frustrationspotential für die involvierten Subjekte. Die Moderne mutet ihnen zu, den Konflikt auszutragen, und zwar auf dem Terrain der eigenen Subjektivität und letztlich auf eigene Kosten. Um sich zu helfen, greifen die Subjekte zu probaten Mitteln: zu Double-knowledge-Strukturen, indem sie darauf beharren, dass beides wahr sein kann, sowohl das Handlungskonzept, als auch die Erfahrung, dass das tatsächliche Handeln es nicht erfüllt. Zu Selbstzweifeln, die den Widerspruch zu einem Problem der privaten Psyche machen; und schließlich zur Produktion semantischer Substitute, die den Widerspruch kreativ überbrücken. Das wohl augenfälligste solcher Substitute ist das Konzept ›Cool‹. Cool, in der Jugendsprache der letzten 50 Jahre das wohl prominenteste Wort, und in der Variante ›swag‹ 2011 von der Jury eines Verlages zum Jugendwort des Jahres gewählt, steht in klarer Weise für eine Doubleknowledge-Struktur: Definiert als »beneidenswerte, lässig-coole Ausstrahlung« umfasst es Vorstellungen von Souveränität und müheloser Daseinsbewältigung, der Fähigkeit, auch in fremden und überraschenden Situatio-

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nen Haltung zu bewahren und jenen ›kühlen Kopf‹, der für Reaktionsfähigkeit und Besonnenheit steht. Im Kern aber, und das macht die Sache pikant, heißt ›Cool‹ wohl unberührt. Auch wenn die Etymologie nicht vollständig geklärt ist, ist gesichert, dass das Wort in dieser Konnotation afroamerikanischen Subkulturen entstammt. Dies würde nahelegen, dass es ௅ ähnlich wie der Blues ௅ keineswegs Souveränität, also Handlungsfähigkeit, sondern ganz im Gegenteil Leidens- und Ohnmachtserfahrungen spiegelt. ›Cool‹ zu bleiben, also nicht affektiv zu reagieren, und Affekte auch dort zurückzustellen, wo sie mehr als angemessen wären, ist ein Überlebensmittel dort, wo der Gegner übermächtig und Widerstand ohnehin ohne Aussicht ist. Indirekt verweist ›Cool‹ zurück auf das amerikanische Trauma, die Sklaverei. Das Konzept ›cool‹, unberührt, scheint geeignet, das Widersprüchliche auf einzigartige Weise zusammenzubannen: einen ästhetisierten Aristokratismus und den Verzicht auf Widerstand, Empörung, Affekt; ausgestelltsichtbare Souveränität und gleichzeitig den Kompromiss mit den Umständen; Unterwerfung und Haltung, verbunden mit der Weigerung, den Preis psychischer Deformierung zu zahlen. Meine These ist, dass die Afroamerikaner den Weißen ein semantisches Kunstwerk überlassen, das den Widerspruch zwischen Handeln und Nichthandeln aufs Beste fasst. Während der Pol ›Souveränität‹ Handlungsfähigkeit konnotiert, liefert ›cool‹ den Gegenpol, die Unterwerfung als Anpassung an die Umstände, gleich mit.

AFFEKT ›Cool‹ macht deutlich, dass Handeln einen affektiven Kern hat; im Antrieb, der zum Handeln drängt und der das Handeln vorantreibt, in der affektiven (oder eben schaumgebremsten) Reaktion auf die Umstände, auf Widerstände, die dem Handeln entgegenstehen, in der freudigen oder bangen Erwartung, und im affektiven Bezug auf die schließlichen Resultate. Gerade der Affekt aber scheint das erste Opfer der ›Modernisierung‹ des Handelns zu sein. Psychoanalytisch geschult thematisiert Elias auch diesen Aspekt, indem er ௅ an dieser Stelle durchaus kurios ௅ einen historisch nicht exakt lokalisierten archaischen ›Krieger‹ jubeln und trauern, und zudem ›Frauen‹ genießen lässt. Im ›modernen‹ Handeln ist für solche Af-

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fekte kein Platz. Sie glühen nach, wenn der Wertpapierhändler vom Bildschirm aufspringt, die Faust zum Siegeszeichen geballt, und wenn die Wirtschaftswissenschaften in Metaphern der Kriegsführung (›Strategie‹, ›strategische Allianz‹, ›wie sind wir aufgestellt?‹) schwelgen. Hier aber ist das wilde Tier des Affekts zum Haustier geworden, bereit den Pflug zu ziehen, solange es Futter gibt. Nietzsche setzt dem ein Denkmal, wenn er sagt, der Moderne hülle sich in den Mantel der Vernunft, um dann seiner Wege zu gehen; und selbstverständlich geht es ihm um den spezifischen Charakter dieser ›Vernunft‹, die im Wesentlichen dem Realitätsprinzip verpflichtet ist. Exakt dies jedenfalls ist es, was die Gegenwart von den Handelnden fordert.

G ENDER Das alte, emphatische Handlungsmodell ௅ fast überflüssig dies zu sagen ௅ ist männlich konnotiert. Und seine Krise muss insofern vor allem die Männerrolle zu treffen. Handlungsfähigkeit, die ›einsame Entscheidung‹, der ›eigene Weg‹ ௅ all dies sind Westernklischees, vollständig unangemessen, überholt und unzeitgemäß; auch wenn die entsprechenden Rhetoriken immer noch eine Rolle spielen, etwa wenn es darum geht, den Subjekten Durchhaltevermögen einzureden, Durchsetzungskraft innerhalb statt gegen die bestehenden Hierarchien, oder Fitness im Feld der sorgfältig organisierten Konkurrenz. Selbst Aggressivität ist als ein Persönlichkeitsmerkmal durchaus verlangt, solange sie sich gegen vorab freigegebene Ziele richtet und als Kraftquelle, als Ressource der Apparatur zugutekommt. Gegenwärtige Hierarchien, Interaktionen und der Straßenverkehr sind durch eine außerordentliche Quote männlicher Täter gekennzeichnet, die gleichzeitig frustriertaggressiv und Memmen, dampfende Poser und Schafe im Wolfspelz sind. Was das Handlungsmodell zerreibt, es wurde gesagt, ist die Interdependenz der Handlungszusammenhänge. Auf Interdependenz bereitet die Männerrolle nicht vor; das Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten muss in schroffen Gegensatz zum Rollenbild treten. Frauen scheinen hierfür durchaus besser präpariert: »Mass culture is a woman«; hier erweisen sich Elemente des traditionellen Rollenbildes überraschend als funktional: Orientierung auf Menschen und deren komplexe Relationierung, Aufmerk-

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samkeit für den Kontext, und ௅ dies führt ins Feld der Medienwissenschaften zurück ௅ Orientierung auf Kommunikation. Wenn Luhmann den Handlungsbegriff verwirft und ausgerechnet Kommunikation neu gefasst zur Grundlage seiner Soziologie macht, hat dies, bei seinem mehr als männlichen Theorietypus unvermutet, einen verdeckten Gender-Aspekt. Kommunikation erscheint als Alternative, weil sie notwendig und immer schon eine Relation unterstellt, und den Netzwerken der Moderne angemessener als das an ein ›einsames‹ Subjekt gebundene Handlungskonzept. Der ›einsam Handelnde‹ macht im Feld umfassender Kommunikationen keinen Sinn.

S UBJEKTKRITIK Die französische Philosophie, die in den Siebzigern im deutschen Kontext eine Schockwelle auslöste, hat, so erscheint es im Rückblick, weniger den philosophischen Begriff des Subjekts demontiert, als aus der empirischen Krise des Subjekts die philosophischen Konsequenzen gezogen. Im Mittelpunkt allerdings steht eine radikale Sprach- und Zeichenkritik, und nicht, wie man erwarten könnte, eine Kritik des Handlungsmodells. Wenn das Subjekt an das Handlungsmodell aber gebunden ist, als grammatikalisches Subjekt in der Architektur der Syntax, in der Genieästhetik als ›Urheber‹ und Substitut für den Schöpfergott, in der Ökonomie als Subjekt der Arbeit, und in den Subjektphilosophien als das einzig gewisse Zentrum, Subjekt der Reflexion, der Vernunft und der Erkenntnis, von dem Handlung als gezielte Veränderung der Welt ausgeht, dann wäre der radikalen Zeichenkritik eine ebenso radikale Kritik der Praxen an die Seite zu stellen. Foucaults Aufmerksamkeit für die Praktiken denkt dies vor. Adorno/Horkheimer haben in der Dialektik der Aufklärung u. a. eine Kritik des männlichen Täters geleistet. Für das Gebot ›praktisch zu werden‹, zu handeln, haben sie nichts als Hohn, und sie zeichnen nach, dass die Initiative, die sich der Einzelne noch zuschreibt, lange auf die gesellschaftlichen Apparaturen übergegangen ist. Interessanterweise aber setzen sie dem noch einmal ein Subjekt entgegen, das sich dann notwendig nicht mehr über Handeln und Praxis, sondern über seine Fähigkeit bestimmt, sich in Differenz zum Bestehenden zu setzen. Wenn Adorno dies in der Ästheti-

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schen Theorie ausformuliert, spaltet er das Handlungskonzept auf: Praxen und ästhetische Praxen treten auseinander und nur den Zweiteren kommt die Kraft der Abstandnahme und der Veränderung zu.

R EINSZENIERUNG Die Medien, so scheint es, haben sich auf dem Terrain der Ästhetik für eine andere Lösung entschieden. Sie investieren gleichermaßen auf beiden Seiten und arbeiten dem Double-Knowledge entschlossen zu. In den Nachmittagsserien ௅ von Al Bundy bis Home Improvement ௅ wird kompromisslos die Demontage des männlichen Patriarchen betrieben; Folge für Folge wird ausgestellt, dass von der Handlungsfähigkeit nur noch ein Set von Gesten, eine Art Performance übrig blieb. »What happened to the strong, silent type?« lässt das Drehbuch Anthony Soprano fragen, was impliziert, dass Schweigen Handeln und Sprechen Schwäche, den Verzicht auf Handeln, bedeutet. Und völlig anders eben in anderen Genres. So zeigt DMAX noch echte Männer, die der Natur der Arktis Königskrabben und dem Wald das Holz entreißen. Überall, wo es action gibt, wird ௅ action heißt Handlung ௅ das ›alte‹ Handlungsmodell adoriert. Und ebenso ௅ modifiziert ௅ in den Casting-Shows. Hier ergeht die Order, selbst zu handeln, im heroischen Entschluss, against all odds und ohne Rücksicht auf den Kontext, auf Vorerfahrung oder Können, Allianzen oder Netze; und ohne Rücksicht auf die Statistik, die knapp bemessene reale Chance. Im Feuer reinen Handelns schmelzen alle Widersprüche ein: Individuum und Gruppenfeeling, Kooperation (Duett!) und erbittert-ernste Konkurrenz, Coaching und Beurteilung/Aburteilung, der liebend fördernde und der grausam-strenge Vater. Und treuherzig versprechen alle (alle!) Kandidaten, ›alles zu geben‹. Wer alles gibt, hat Maß, Tausch und Äquivalenz hinter sich gelassen und tritt in ein Bataillesches Universum bedingungsloser Verausgabung ein. Bedingungslosigkeit aber, wurde oben gesagt, ist eine Utopie. Die Utopie, aus den Interdependenzen noch einmal herauszutreten und handelnd das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Und exakt hier wird auch Gefühl wieder injiziert. Von den Subjekten wird verlangt, nach langen Jahren einer Sozialisation, die unter dem Diktat

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der Affektbeherrschung steht und, wie Reich uns zeigt, in der Ausbildung eines Körperpanzers mündet, nun Gefühl zu zeigen, und zwar so viel und so ›authentisch‹ wie möglich. Der Schauwert der Veranstaltung liegt darin, dass der Zusammenprall physisch deutlich wird: Wenn Angestelltenkörper plötzlich ›Soul‹ abliefern sollen, weiß das Publikum, dass dies misslingen muss. Double Knowledge, denke ich, ist hier fast offen zugestanden. Handeln ist der Ausgangspunkt; dass Entschluss und Handeln scheitern, wird als zweiter Teil der Botschaft mitgehört. ›Handeln‹ ist zu einem Ideologem geworden. Blauäugig, eingehüllt in ein Paket von Selbstverständlichkeiten erscheint es fast unbestreitbar als Wert. Wenn Handeln aber wäre, was es vorgibt, müsste niemand überredet werden.

Mediatisierte Multituden Fernsehen und Fernsehkritik als immaterielle Arbeit A NDREA S EIER

P RODUKTIVITÄT

DER

F ERNSEHKRITIK

Die gegenwärtige Kritik am Fernsehen ist eng an eines seiner spezifischen, wenn auch expandierenden, Segmente gekoppelt: das Reality-Fernsehen und seine ProtagonistInnen. Wer über die sinkende Qualität des Fernsehens spricht, hat in der Regel keine fiktionalen Programme im Sinn, sondern Casting-Shows, Doku-Soaps, Makeover- oder Coaching-Formate. Das Reality-Fernsehen nimmt in aktuellen Debatten über das Fernsehen eine Stellvertreterfunktion (pars pro toto) ein. Die Heterogenität des Fernsehprogramms insgesamt gerät damit tendenziell aus dem Blick. Auch die im Feuilleton, Zeitschriften- und Verlagswesen anzutreffende wertschätzende Bezugnahme auf so genannte Qualitätsserien kann dabei nicht als gegenläufige Tendenz angesehen werden. Denn sie dient keinesfalls dazu, das image des Fernsehens zu verbessern (vgl. Newman/Levine 2012). Sie befördert vielmehr eine Unterscheidung zwischen Programmen, die als so wertvoll eingestuft werden, dass sie ›besser‹ als Fernsehen bzw. gar nicht als Fernsehen, sondern als Kunst gelten und demnach vergleichbar mit Literatur, Kino, Oper, Malerei, und dem Rest, der als Fernsehen übrig bleibt.1 Für diesen ›Rest‹ hat sich eine Thematisierung etabliert, in der die

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Vgl. die Auseinandersetzung von Herbert Schwaab mit der im I.B. Tauris Verlag erscheinenden Buchreihe Reading Contemporary Television. Schwaab argumentiert, dass viele Bände dieser Buchreihe, die sich auf Serien wie The So-

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rhetorische Figur der Überbietung eine wesentliche Rolle spielt: So wie das Reality-Fernsehen sich in der lustvollen Ausdehnung von Geschmacks-, Niveau- und Ekelgrenzen trainiert, ging auch die Kritik am Fernsehen lange Zeit in einer verlässlichen diskursiven Dublette mit. Beinahe jedes neue Format wurde mit nicht weniger lustvoll vorgebrachtem Erstaunen über eine bis zu diesem Zeitpunkt für unmöglich gehaltene Steigerung der Niveau- und Geschmacklosigkeit begleitet. In jüngster Zeit wird diese Entwicklung nur sehr vordergründig, durch eine proklamierte Resignation, zu Ende gebracht. David Denk, der CoLeiter des Ressorts Taz-2 Medien schreibt in seiner Kolumne der onlineAusgabe der TAZ vom 26.1. 2012: »Als Fernsehkritiker macht es mich schon traurig, wie gering der Effekt unserer Arbeit ist. Man kann die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen – würde es aber so gern. Und kann zugleich nicht verhindern, dass das RTL-Promi-Endlager im australischen Busch ein Quotenrenner ist. Das Dschungelcamp ist mittlerweile so etabliert, dass ich mich dabei ertappe, mir bei Kritik daran vorzukommen wie eine Oma, der die Röcke heutzutage viel zu kurz sind: ziemlich gestrig.« (Denk 2012)

Dem Verdacht des Elitismus ist die Kritik am Fernsehen nicht ausgesetzt. Mit ihr wird keine riskante Position aufgerufen, die erst mit argumentativem Aufwand legitimiert werden muss. Kritik am Fernsehen ist vielmehr, auch jenseits politischer Lager, zum Common Sense geworden. Was sie diskursiv erfolgreich (im Sinne von anschlussfähig) macht, ist die Wiederholung einer Rede, die das Fernsehen als Negativ-Konsens längst etabliert hat.

pranos, Desperative Housewives, The L Word, 24 usw. beziehen, die untersuchten Serien gerade nicht als Fernsehen thematisieren, sondern eher (gewollt oder nicht) bereits existierende Hypes legitimieren, und wo es möglich wird, Fernsehproduktionen in die Nähe legitimierter Kulturformen bringen: »Reading Contemporary Television neigt dazu, zu contemporary zu sein, um die Bedeutung einer Serie wirklich zu erfassen, und droht so, zum Opfer eines Hypes zu werden. Die Buchreihe trägt dazu bei, bestimmte Rezeptionsformen (auf DVD oder im Bezahlfernsehen) zu naturalisieren und die Atomisierung des Publikums, die Umformung des Zuschauers in einen Kunden zu unterstützen.« (Schwaab 2010: 138)

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Im Feuilleton hat die Kritik am Fernsehen nach wie vor ihren angestammten Platz, ebenso wie in der Medien-, Fernseh- und Sozialwissenschaft. Sie hat sich aber auch in Internet-Blogs, in Kommentarfunktionen auf den websites der Fernsehsender und des Feuilletons sowie im Bereich der Sachbuchliteratur ausgedehnt (z. B. Jürgs 2009; Kissler 2009; Wieczorek 2009; Metz/Seeßlen 2011). Und nicht zuletzt wird die Kritik am Fernsehen auch für das Fernsehen selbst zum Gegenstand, der in verschiedensten Programmsparten von Talk-Shows über Comedy-Formate bearbeitet wird. Dieser Ausdehnung entsprechend werden hier unter ›Fernsehkritik‹ sämtliche öffentliche Formen der Problematisierung des Fernsehens verstanden, unabhängig von der Frage, ob sie von autorisierten Sprecherpositionen aus unternommen werden (wie etwa im Feuilleton), von ZuschauerInnen im Netz, von LeserInnen in Tageszeitungen oder vom Fernsehen selbst. Naheliegend erscheint ein solches Vorgehen aufgrund der Beobachtung, dass die voranschreitende Medienkonvergenz auch die Formen der Medienkritik grundlegend verändert. Das Portal und TV-Magazin FERNSEHKRITIK-TV. DAS KRITISCH-SATIRISCHE TV MAGAZIN, das auf der Basis der Verbindung von Fernsehen und Internet Zuschauer/innen einlädt, eigene Fernsehkritiken in Form von Texten und/oder Videoclips zu verfassen, liefert ein einschlägiges Beispiel für eine Entwicklung, in der Fernsehkritik an der Schnittstelle zwischen Serviceleistung (ZuschauerInnen beraten ZuschauerInnen) und Unterhaltung (im Stile der DIY-Kultur) medienpolitisch und diskurstheoretisch re-organisiert wird. Auf der Internetseite, mit der Gastbeiträge eingeworben werden, heißt es: »Beteiligen Sie sich an Fernsehkritik-TV. Fühlen Sie sich berufen, auch mal einen Beitrag für Fernsehkritik-TV zu machen? Dann los: Ab sofort gibt es in jeder Ausgabe des Magazins einen Gastbeitrag – also das kreative Werk eines Zuschauers. Und sogar finanziell lohnt es sich: 50 Euro Honorar zahlen wir für jeden Beitrag, der es in die Sendung schafft.͒Aber Vorsicht: Unsere Ansprüche sind hoch! Wir geben keine Garantie darauf, dass Ihr ›Meisterwerk‹ gesendet wird. Wichtig ist vor allem die Kreativitat – wenn technisch bei Ihnen nicht alles perfekt ist, muss das nicht unbedingt schlimm sein. Hauptsache, Sie haben eine Botschaft!«2

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http://www.fernsehkritik.tv/gastbeitrag/ (geöffnet: 2.4.2012). Das genannte Portal ist nur ein Beispiel unter vielen. Die Seite http://www.tv-kritik.de/ etwa ruft

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Die Kritik am Fernsehen ist nicht nur als ein fester Bestandteil der Geschichte des Fernsehens zu werten (vgl. Bleicher 2012). Sie spielt auch eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Frage, was Fernsehen ist, was seine Spezifik gegenüber anderen Medien und seine gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Funktionen ausmacht. Neben der Frage nach der Berechtigung der derzeit geäußerten Kritik am Fernsehen erscheint daher noch eine andere Perspektive relevant, die oftmals aus dem Blick gerät: diese beschäftigt sich mit den gouvernementalen und biopolitischen Effekten der genannten Auseinandersetzungen mit dem Fernsehen und versteht diese zugleich als Form immatrieller Arbeit.3 Nicht zuletzt mit Blick auf die oben skizzierten Medienkonvergenzen, die die Positionen und Rollen von ProduzentInnen, Rezipientinnen und KritikerInnen, von Repräsentationsund Partizipationslogiken verändern, gilt es zu untersuchen, wie die aktuellen Problematisierungen des Fernsehens (im Foucault’schen Sinne) an der Schnittstelle medialer und sozialpolitischer Dispositive Subjektivierungsprozesse anreizen, soziale Beziehungen intensivieren und affektiv besetzten. Nicht nur mit den neuen medienbasierten Netzwerken wie Facebook vernetzen sich Kultur, Medien und Subjektivitäten und führen damit

ZuschauerInnen zur Kontaktaufnahme mit Fernsehsendern auf, um, wie es heißt, »Lob und Tadel« zu hinterlassen (geöffnet 2.4.2012). 3

Maurizio Lazzarato und Antonio Negri/Michael Hard haben mit dem Begriff der immateriellen Arbeit auf die Verschiebungen kapitalistischer Produktionsweisen hingewiesen und in diesem Zusammenhang argumentiert, dass sich im Postfordismus auf der Basis von veränderten Informations- und Kommunikationsstrukturen auch die Produkte der Arbeit verändern. Konsumtion und Kommunikation, sei es auf sprachlicher, sozialer oder körperlicher Ebene spielen in der so genannten Dienstleistungsgesellschaft für die Zyklen der Kapitalreproduktion eine zunehmende Rolle. Das bedeutet nicht, dass die industrielle Fertigung an Bedeutung verliert oder zahlenmäßig abnehmen würde. Vielmehr integriert der Postfordismus weitere Ebenen in seine Reproduktionszyklen und führt dazu, dass die marxistische Unterscheidung von Basis und Überbau an Bedeutung verliert, »weil ›Leben‹, Subjektivität, Gesellschaft und Produktion zusammenfallen« (Foltin 2002: 11). Zu den Produkten der Arbeit im Postfordismus zählen entsprechend Information, Wissen, Kommunikation, Beziehungen und Gefühle, Kultur, Unterhaltung und Freizeit.

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zu einer Intensivierung eines sozialen Flows4 in dem Arbeit, Freizeit und Amusement, Mitmachen und Zusehen, Lesen und Schreiben, Aufzeichnen und Versenden eine untrennbare produktive Verbindung eingehen. Gegenwärtige Medienkonvergenzen und die Veränderungen von Lebens- und Arbeitsweisen insgesamt führen stattdessen dazu, dass die tradierten und ehemals getrennten Kategorien von Medien- und Kulturproduktionen (Sendern), Publikum, Kultur- und Medienkritik zu einem kulturproduktiven, dynamischen Geflecht von zirkulierenden Subjektivitäten, sozialen Beziehungen, Körpern und Technologien verschmelzen. Damit ist nicht gesagt, dass die klassische Fernsehrezeption nicht mehr stattfindet. Die Möglichkeiten, auf das Gesehene kurzfristig (z. B. in Form des Kommentars auf den Internetseiten der Sendung) oder langfristig (in Form von eigenen TVKritiken) zu reagieren, nehmen allerdings zu. Mit Bezug auf den von Jack Bratich entwickelten Zusammenhang zwischen postoperaistischen Thesen zur Biomacht, immatrieller Arbeit und den Traditionen der Zuschauerforschung ließe sich argumentieren, dass das Fernsehpublikum Teil einer mediatisierten Multitude wird. Der Begriff des Publikums reicht, so die These von Bratich, nicht mehr aus, den gesellschaftlichen Wandel der über das reine Konsumieren weit hinausgehenden Tätigkeiten des Partizipierens und Rezipierens anzuzeigen. Während die traditionelle Publikumsforschung grundsätzlich vom Primat einer Macht der Medien ausging und -geht, zu der sich das Publikum prinzipiell als nachrangige Kategorie verhält, soll der Begriff der mediatisierten Multitude hingegen die wechselseitigen Beziehungen zwischen (Massen-)medien und ihren Nutzer/innen als eine neue Form einer medienbasierten Agency verdeutlichen. Das Publikum wird in diesem Ansatz im Foucaultschen Sinne als Produkt einer diskursiven Problematisierung verstanden. Betont wird aber vor allem, dass diese Problematisierungen von Publika nicht zuletzt auch als Antwort auf die symbolischen und kulturellen Praktiken der

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Mark Coté und Jennifer Pybus verwenden den Begriff in ihrer FacebookAnalyse, die sich mit der Zirkulation von Sozialität und (Re-)produktion von Identitäten als Form von immaterieller Arbeit befasst. Mit Rückgriff auf Judith Butler wird hier die These verfolgt, dass die Bereitschaft zur immateriellen Arbeit und der »intensive Flow von Sozialität« am Beispiel Facebook durch das Verlangen zu erklären ist, als Subjekt anerkannt und in einer öffentlichen Sphäre ›wiedererkannt‹ (intelligibel) zu werden (Coté/Pybus 2011).

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MediennutzerInnen (und die von ihnen ausgehende Macht), zu verstehen sind (vgl. Bratich 2005). Im Sinne der mediatisierten Multitude ist hervorzuheben, dass es vor allem die Herstellung und Perpetuierung sozialer und affektiver Beziehungen auf der Basis von Medientechnologien und Repräsentationsformen sind, die im postfordistischen Medienensemble von entscheidender Bedeutung sind. Auch die Demarkationslinien sozialer Klassen und schichtenspezifischer Lebensstile werden, so lautet die den folgenden Überlegungen zugrundeliegende These, in diesem Zusammenhang (re-)aktualisiert. In den einschlägigen Auseinandersetzungen über das Reality-Fernsehen lässt sich dies besonders gut zeigen.

D URCHLÄSSIGE UND G RENZZIEHUNGEN

UNDURCHLÄSSIGE

Stand lange Zeit die Belieferung eines Publikums als ›Masse‹ im Zentrum der Kritik am Fernsehen, und die damit eng verknüpfte Heterogenität des Programms mit durchlässigen Grenzen zwischen Bildung und Unterhaltung, anspruchsvollem und weniger anspruchsvollen Programm (vgl. Bartz 2007; West 2011)5, bezieht sich die aktuelle Diskussion – vor dem Hintergrund der Ausdehnung von Sendezeiten und Programmangebot – auf die Annahme, dass das Fernsehen an einer gesellschaftlichen Segregation mitarbeitet. Anders ausgedrückt: Stand das Fernsehen in den Zeiten der Dominanz der öffentlich-rechtlichen Sender unter Verdacht, soziale Unterschiede tendenziell zu nivellieren, wird in aktuellen Diskussionen davon ausgegangen, dass die Ausdifferenzierung von Programm, technologischem Equipment und Nutzungsweisen die Durchlässigkeit zwischen anspruchsvollem und anspruchslosem Fernsehen minimiert bzw. weniger wahrscheinlich macht und sich somit Prozesse der sozialen Exklusion und Entkopplung verstärken. Das Fernsehpublikum zerfällt demnach in eine Klassengesellschaft, in der sich der eine Teil nach wie vor von öffentlich-rechtlichen Programmen beliefern lässt, in Kombination mit anspruchsvollem Spartenfernsehen, während sich der andere Teil durch die Wahl privater Sender ins kulturelle Abseits befördert. Diese, durchaus kontrovers diskutierte These,

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Ausgenommen ist hier der Begriff der individualisierten Masse, der Vermassung und Individualisierung zusammendenkt (vgl. Bublitz 2005).

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lässt sich u. a. auch in Paul Noltes Buch Generation Reform antreffen. Dort heißt es: »Die Vervielfachung des Angebots hat oftmals den Blick dafür verstellt, dass der theoretische Zuwachs an Optionen in Wirklichkeit sehr klassenspezifisch genutzt wird; mehr noch: der Demonstration und auch der Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Das Fernsehen ist dafür ein hervorragendes Beispiel und ein enorm einflussreicher Faktor zugleich. Der Aufstieg der Privatsender seit den späten 80er Jahren hat ja nicht einfach, im Sinne einer Angebotsvermehrung zu der kulturkritisch oft bemäkelten ›Bilderflut‹ geführt, sondern hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Sagen wir es ruhig doch deutlicher: Sie hat mit RTL und SAT1 ein spezielles Unterschichtenfernsehen entstehen lassen, und deshalb war es auch nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3Sat oder arte für die gehobenen Schichten etablierten.« (Nolte 2004: 41 f.)

Durchlässigkeit und unsaubere Trennlinien zwischen Anspruch und Unterhaltung gelten in der aktuellen Debatte weniger als Problem, sondern als potenzielle Leistung des Mediums Fernsehen, die besonders im nostalgisch geprägten Rückblick in die Geschichte (des öffentlich-rechtlichen Fernsehens) aufgerufen wird. Auch mit Blick auf die Popularität der vorrangig als DVD-Boxen rezipierten Qualitätsserien, ist argumentiert worden, dass sie den Stellenwert des Fernsehens als kulturelles Forum veröden, wie er von Newcomb und Horace beschrieben worden ist (Newcomb/Hirsch 1992). Nicht nur dienen sie dazu Präferenzen des Fernsehpublikums zu vereindeutigen und aus ZuschauerInnen in erster Linie KundInnen zu machen. Vielmehr wird das Fernsehen als Medium, das ein tendenziell heterogenes, ungerichtetes und unabgeschlossenes Terrain eröffnet hat, in dem Anspruchsvolles und Anspruchsloses eine manchmal unvorhergesehene Nähe eingehen (können), nachhaltig umgebaut (vgl. Schwaab 2010).

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T ELEVISUELLE K LASSENGESELLSCHAFT MEDIATISIERTE M ULTITUDE ?

ODER

An der Diskussion über die sinkende Qualität des Fernsehens und die damit einhergehende Gefahr einer medialen Klassengesellschaft sind einige Aspekte bemerkenswert. Während im Postmarxismus der Klassenbegriff zugunsten von Begriffen wie Prekariat, Multitude, Singularitäten, die den Neustrukturierungen kapitalistischen Organisationsformen Rechnung tragen, in den Hintergrund getreten ist, kommt er im Bereich der publizistischkonservativen Kultur- und Medienkritik (ca. ab dem Jahr 2000) wieder zum Einsatz. Was er benennt, ist auf der politisch-ökonomischen Ebene sehr viel weniger deutlich, als auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit einer prognostizierten umfassenden kulturellen Fehlentwicklung, in der (mehr oder weniger gewählte) Lebensstile und (mehr oder weniger gewählte) Strategien des Mediengebrauchs sich gegenseitig negativ beeinflussen. Die vom Satiremagazin Titanic, von Harald Schmidt und Paul Nolte popularisierte Bezeichnung des »Unterschichten-Fernsehens« ist hier einschlägig und hat die Rede von der medialen Klassengesellschaft befördert. Der hier zum Einsatz kommende Klassenbegriff ist allerdings derart rhetorisch, das ökonomisch begründete Klassenzugehörigkeiten gerade nicht thematisiert, und diese Leerstelle mit dem Hinweis auf Strategien des Mediengebrauchs aufgefüllt werden. Anders ausgedrückt: während soziale Grenzziehungen und die Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit immer weniger adressierbar geworden sind6, gewinnen Medien und Mediennutzung, insbesondere das Fernsehen, bei einer auf Distinktion basierenden Bestimmung von Klassenzugehörigkeit eine zunehmend wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund einer insgesamt steigenden Mediennutzung im Alltag, liefert die Quantität allein kaum noch ein plausibles Abgrenzungskriterium. In diesem Kontext gewinnt die Frage nach ›Qualität‹ an Relevanz. Unterschlagen wird in der Regel, dass das Fernsehen selbst einen spezifischen Zugriff auf gesellschaftliche Zustände generiert und an den Wissensbeständen über soziale Hierarchien, Differenzen und Lebensstile mitarbeitet. Nicht nur greift das Fernsehen in Magazinen, Reportagen, Nachrichten und Talks-

6

Dies drückt sich in einer Vielzahl von neuen Begriffen aus, die nicht nur Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch Identitätsfragen adressieren (z. B. Bude/ Willisch 2008).

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Shows systematisch auf datenbezogenes und statistisch ermitteltes Wissen über bevölkerungspolitische Angelegenheiten zurück. Im Rahmen öffentlicher Debatten wird das Fernsehen zugleich zu einem wichtigen Diskursgenerator über Fragen des Lebensstils, der Bevölkerungspolitik, d. h. der biopolitischen Reg(ul)ierung. Die postoperaistischen Bestimmungen einer fortgeschrittenen Variante kapitalistischer Ausbeutungslogiken, die in hohem Maße abhängig sind vom Wissen über die Multituden, insofern sie sämtliche aus gesellschaftlichen Antagonismen entstehenden Auseinandersetzungen in hegemoniale Praktiken und Systeme integrieren, hat die Fernsehwissenschaft strukturell (und politisch weniger eindeutig) anhand der Entwicklungen vom Paläozum Neofernsehen beschrieben. Während im Paläo-Fernsehen die Sphären von Produktion und Rezeption hierarchisch getrennt waren und mit dem Fernsehprogramm ein national, kollektiv und klassenspezifisch organisiertes Publikum adressiert wurde, werden diese Grenzen im Neofernsehen instabiler. Das Publikum setzt sich im Rahmen einer globalisierten Medienkultur neu zusammen und wird zunehmend zu KundInnen und AuftraggeberInnen, aber auch zu TeilnehmerInnen und Ko-ProduzentInnen. Diese Verschiebung setzt stets ein Wissen über Bedürfnislagen, Interessen und Anliegen dieser potentiellen AdressatInnen voraus, so dass sich auch auf der Ebene des Programms die Verschiebungen vom Publikum zur mediatisierten Multitude abzeichnen. Im Hinblick auf das, was Casetti/Odin (2002) als den Kommunikationsvertrag des Neo-Fernsehens bezeichnet haben, ist darüber hinaus auch die ungerichtete Form der Adressierung zentral. Fernsehen verschiebt sich im Neo-Fernsehen nicht nur von einer zielgerichteten zur ungerichteten, institutionellen zur persönlichen, hierarchisch-pädagogischen zur komplizenhaft-sozialen Kommunikationsform. War für das Paläo-Fernsehen das Zuschauen als sozialer Akt (im Sinne einer Tätigkeit der Sozialisierung) beschrieben worden, insofern es das Fernsehpublikum als Kollektiv angerufen hatte, so gelten die Fernsehzuschauer des NeoFernsehens als eine Ansammlung von Individuen. Diese Ansammlung von Individuen zeichnet sich allerdings durch eine hohe Intensität kommunikativer, medientechnologisch gestützter affektiver Bindungen aus (sozialer flow), die sich aus überschneidenden Präferenzen und Verwerfungen von Programmsegmenten, Sendern und Rezeptionsweisen ergeben. Die produktive Tätigkeit der Herstellung von Bindung, Kontakt und Vorlieben schließt flexible Formen von Subjektivierungsprozessen ein und umfasst somit weit

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mehr, als es die begriffliche Verschiebung vom Publikum zum Konsumenten andeutet.

R EALITY -F ERNSEHEN , SOZIALE D IFFERENZ IMMATERIELLE ARBEIT

UND

Verfolgt man die Debatten über das aktuelle Reality-Fernsehen und seine ProtagonistInnen, so lässt sich die Produktivität des Fernsehens im Kontext immaterieller Arbeitsformen und sozialer Differenzierungsprozesse sehr gut aufzeigen. Die Kritik am Reality-Fernsehen geht in der Regel mit mehreren, aufeinander bezogenen Thesen einher. Kritisiert wird zum einen, dass das Reality-Fernsehen Angehörige sozialer Milieus sichtbar macht, die die Geschmacksgrenzen der Mittelschicht irritieren. Diese Kritik wird meist implizit vorgebracht und manifestiert sich im drastisch vorgebrachten Ausdruck über das Unbehagen über die im Reality-Fernsehen zu sehenden Wohnungseinrichtungen, Kleidungs- und Lebensstile.7 In dieser Argumentation werden nicht nur soziale Differenzen mithilfe von mehr oder weniger willkürlich gesetzten Geschmacksgrenzen codiert. Die sinkende Qualität des Fernsehens wird vielfach auch mit Sichtbarwerden eines expressiv auftretenden Prekariats im Fernsehen belegt.8 Zugleich werden die Ausbeu-

7

Vgl. z. B. Hans-Ulrich Jörges, der sich im STERN (Nr. 42/2004) folgendermaßen äußert: »Der Proleten-Guckkasten scheint zum Leitbild der Privaten geworden zu sein. Ganzkörpertätowierte Kretins und busenfixierte Siliconpuppen, beobachtet beim suppenkochenden Kampf um ihre Frau, beim erektionsfördernden Wannenbad zu zweit oder bei der egopolsternden Brustvergrößerung – das einstmals innovative Reality-TV treibt ab in die Gosse.« (http://www.stern.de/ politik/deutschland/zwischenruf/aus-stern-nr-422004-morgenthau-im-tv-530777 .html, 2.4.2012).

8

Auf diesen Zusammenhang hat auch Dietrich Diederichsen hingewiesen: »Wie also sind die auf den Bildern? Warum will man so nicht sein? Nun, im Gegensatz zu früheren, eher grauen Unterschichtsvertretern, die die naturalistische Ästhetik so liebt, sind sie sehr expressiv. Ihre Frisuren erinnern an präkolumbianische Häuptlinge beider Amerikas. Ihre Outfits mischen orientalische Prunkgewänder mit den Hypertrophien von Football-Staffagen. Sie tragen tribalistische Signaturen an den komischsten Körperstellen: Arschgeweih, Nasenring und

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tungslogiken der Fernsehsender in einer Weise kritisiert, die oftmals nach dem Muster ›Zynische Fernsehsender treffen auf chancenlose Opfer‹ funktioniert. Und auch in dieser Argumentation, so berechtigt und notwendig die Kritik an den Vorgehensweisen der TV-Sender ist, wird immer auch eine Abgrenzungsstrategie lesbar, die die KandidatInnen ausschließlich zu Opfern werden lässt, anstatt die Ambivalenz von Selbstdarstellung und Beobachtung, Stolz und Bestrafung, Expressivität und sadistischer Ausstellung genauer in den Blick zu nehmen.9 Was in dieser fernsehkritischen Rede vollkommen aus dem Blick gerät, ist, dass die KandidatInnen und TeilnehmerInnen des Reality-Fernsehens, exemplarisch kann hier das RTLFormat Raus aus den Schulden angeführt werden, durchaus unterschiedliche soziale Herkünfte aufweisen. In der Kritik am Reality-Fernsehen werden sie hingegen derart pauschal als Angehörige des Prekariats angerufen, dass der Eindruck entstehen kann, dass allein die Teilnahme an diesen

Trizeps-Tattoo. Das findet man nicht nur peinlich, weil man den ganzen Tiefsinn trübe findet, auf den Tätowierungen und Piercings verweisen. Vor allem finden die Beobachter der Unterschicht es überhaupt unangemessen, dass diese sich ausdrückt. Das nämlich ist nicht nur prinzipiell ein Privileg der selbstverwirklichenden Schichten.« (Diederichsen 2005). 9

Das Sichtbar-Werden des Prekariats ist in vielen Beiträgen zur Debatte über ›Unterschichtenfernsehen‹ ein zentrales Thema. So etwa auch in den Ausführungen von Georg Diez, die unter dem Titel »Die Armen sind die Avantgarde« am 7.3. 2005 in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erschienen sind: »Der junge Mann, der sein Arbeitslosengeld sofort ins Tattoostudio trägt. Die Frau von dreißig Jahren, die die Treppe zum Sonnenstudio hochsteigt, blaß wie sie ist. Der Mann, der um elf Uhr vormittags sein drittes Pils trinkt und dafür recht elegant die Bowlingkugel auf die Bahn bringt. Sie alle sind da, auf einmal und wie abgesprochen, in den Zeitungen, in der Politik und im Soziologieseminar von Paul Nolte oder Harald Schmidt. Sie sind die Unterschicht, und wer wissen will, wohin sich dieses Land entwickelt, der sollte ernst nehmen, was diese Schicht bewegt. Der sollte sich dafür interessieren, welche Musik sie hören und wann sie zuletzt ein Buch gelesen haben und welches Handy sie besitzen und wie lange sie im Internet surfen und welche Fernsehprogramme sie sehen. Der sollte mit ihnen zum Einkaufen gehen und sich an Tankstellen treffen und in der Küche sitzen. Der sollte die Kultur der Unterschicht kennen.« (Diez 2005)

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Die von Dath angesprochene Beschwörung einer Gruppe von Leuten als ›Unterschicht‹ wird hier in gewissem Sinne wiederholt, nur das die gleiche Gruppe von Leuten nicht mit dem Zauberwort ›Unterschicht‹, sondern mit der Umschreibung ›diejenigen, die im Fernsehen repräsentiert/sichtbar werden wollen‹ benannt wird, obwohl gerade dies kein Anliegen ist, durch das ausschließlich das Prekariat gekennzeichnet wäre. Auch wenn Georg Seeßlen in seinem Buch Blödmaschinen zurecht darauf hinweist, dass das Fernsehen selbst durch seine Inszenierungsweisen am Image seiner ProtagonistInnen maßgeblich mitarbeitet, basieren auch Seeßlens Ausführungen letztlich auf der (kurzsichtigen) These, dass es sich bei den TeilnehmerInnen des Reality-Fernsehens ausschließlich um Personen handelt, denen es an Intelligenz und Würde mangelt, den vielfältigen Angeboten (besser: Ausbeutungsstrategien) der Fernsehsender zu widerstehen. Zu der Beschwörung dieser neuen sozialen Gruppierung gehört auch ihre Anrufung als alternative TV-Stars oder als stilbildende Avantgarde.10

10 Vgl. Georg Diez (2005): »Denn, seltsames Paradox des kulturellen Austauschs: Während die Unterschicht gesellschaftlich, politisch, ökonomisch immer unsichtbarer wurde und langsam verschwand, war sie ästhetisch immer vorhanden, wurde sie in den letzten Jahren sogar noch präsenter, wird sie das nächste Jahrzehnt bestimmen. Nicht nur durch das, was Harald Schmidt ›Unterschichtenfernsehen‹ nannte. Sondern durch Bildwelten, Sprachveränderungen, Medien-

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Anstatt die Durchlässigkeit des Reality-Fernsehens zu benennen, das Angehörige unterschiedlichster sozialer Milieus (wie TV-Stars, Prominente, Mittelschicht und Prekariat) in Formaten wie Bauer sucht Frau (RTL), Ich bin ein Star holt mich hier raus (RTL), Frauentausch (RTL II), Das perfekte Dinner (Vox), Raus aus den Schulden (RTL) und Germanys Next Top Models (Pro7) auftreten lässt, wird in vielen dieser Auseinandersetzungen eine Zuspitzung vorgenommen, die diese Durchlässigkeit verschweigt und stattdessen Prekariat und Trash-TV so miteinander verschweißt, das beides sich wechselseitig definiert. Was aber hat es mit der in der Fernsehwissenschaft hervorgehobenen Heterogenität des Fernsehens und des Fernsehpublikums auf sich? Ist das Fernsehpublikum doch nicht (oder nicht mehr) so heterogen und verstreut, wie es die Fernsehwissenschaft annimmt? Ist es vielmehr strikt unterteilt, in diejenigen, die das Fernsehen kritisieren, diejenigen, die zusehen und diejenigen, die mitmachen (›Unterschicht‹)? Mit Blick auf Mark Andrejevics (2003) Thesen zum Reality-Fernsehen ließe sich außerdem fragen: wenn nicht mehr nur das Fernsehen als affektive Heimarbeit am Monitor, sondern auch die Teilnahme im Reality-Fernsehen als Arbeit (»The Work of Being watched«) zu verstehen ist, wie verhalten sich diese beiden Arbeitsformen eigentlich zueinander? Wer arbeitet wem zu? Wer hält wen von der Arbeit ab? Was sind und wem gehören die erarbeiteten Produkte? Und nicht zuletzt: welche Rolle kommt hier der Fernsehkritik als affektiver Arbeit zu?

W OCHENENDARBEIT : S ATURDAY N IGHT F EVER (ATV) In Österreich kulminierte die Kritik am Fernsehen in der Auseinandersetzung über das ATV-Format Saturday Night Fever – So feiert Österreichs Jugend. Das mit dieser Debatte nicht nur das Fernsehen thematisiert wird, sondern sich auch soziale Wirklichkeiten und Verwerfungen konstituieren, wird an diesem Beispiel deutlich. Das ATV-Format, das männliche Jugendliche wöchentlich bei Ausgeheskapaden zeigt, steht im Zentrum einer intensiv geführten Diskussion, in der Distinktion, Zynismus und Empörung, aber auch Solidarität, Empathie und Komplizenschaft eine Rolle spielen.

nutzung, Körperkult, Zeitvertreib. Durch eine kulturelle Praxis, die das vorwegnimmt, was die Gesellschaft in ein paar Jahren bewegen wird.«

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Jede Folge zeigt die Jugendlichen in verschiedenen Stadien der Abendgestaltung, von den Vorbereitungen des Ausgehens (Kleidung, Schminke) bis hin zu mehr oder weniger präzise kalkulierten Eskalationen. Ihre Verhaltens- und Redeweisen in Clubs, die im Wesentlichen von den Themen Geschlechterdifferenz und Alkohol getragen werden, fängt die Kamera in halbnahen Einstellungen ein. Dominant ist auf dieser Ebene allerdings der Voice-Over Kommentar im Reportagestil, der große Strecken der ereignislosen Phasen überbrückt. Der Voice-Over-Kommentar ist auch diejenige Instanz, die die Komplizenschaft zwischen ProtagonistInnen, Kamera und ZuschauerInnen erzeugt. Der Kommentar schließt allerdings das Gezeigte nicht ab, und bietet stattdessen verschiedene Perspektiven an. Die Zuschauerposition bleibt somit uneindeutig, was zur Beliebtheit der Sendung und den Möglichkeiten der affektiven Bindung (Ablehnung, Zustimmung und sämtliche Formen der graduellen Zwischenstufen) entscheidend beiträgt. Die Bilder der begleitenden Kamera werden häufig von kurzen Interviewsequenzen unterbrochen, in denen einzelne Beteiligte Situationen aus ihrer Sicht kommentieren und zusammenfassen. Im Zentrum dieser Gruppensituationen scheint vor allem auch der sprachliche Einsatz der männlichen Protagonisten eine der wesentlichen produzierten Erwartungshaltungen zu sein. Viele ihrer Begrifflichkeiten kursieren durch Presse und Feuilleton. Vordergründig werden sie zitiert, um die Trivialität und Geschmacklosigkeit der Sendung zu belegen. Die Häufigkeit, mit der bestimmte, meist sexistische Redensarten zitiert und wiederholt werden, weist allerdings zugleich auf die Attraktion und Unterhaltungsqualität dieser Redensarten hin, die auch bei den GegnerInnen des Formats noch seine Spuren hinterlässt. Die Zielgruppe des Formats sind Jugendliche zwischen zwölf und neunundzwanzig Jahre, die das Fernsehen zunehmend an das Internet verliert. Neben der wöchentlichen TV-Sendung, in der sich weibliche Teilnehmerinnen auch per Facebook beteiligen können, werden CDs produziert, Spin-Offs gedreht, und immer wieder neue Schauplätze etabliert. Deutsche und Schweizer Sender11 haben bereits die Rechte erworben und arbeiten an ähnlichen Formaten. Die erzielten Quoten von SNF im Fernsehen und auf

11 Der Schweizer Privatsender 3 PLUS TV strahlt seit Herbst 2010 eine eigene Version unter dem Namen Jung, Wild & Sexy – Baggern, Saufen, Party machen mit ähnlichem Erfolg (incl. Public Viewings und Facebook Fanclub) wie in Österreich aus. In Deutschland erwarb RTL II die Rechte.

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der ATV-Website im Netz sind ebenso hochͳʹ wie die intensiv geäußerte Problematisierung und Abgrenzung. Dieser Umstand muss nicht wundern, denn hohe Einschaltquoten müssen nicht automatisch an Zustimmung oder Gefallen gebunden sein. Ihre anhaltende öffentliche Thematisierung befeuert allerdings soziale Distinktions- und Integrationsprozesse. Sie liefert Empörten ebenso eine gemeinsame Projektionsfläche, wie denjenigen, die sich mit und über die Protagonisten von SNF amüsieren. Eine klassische These der Cultural Studies kommt hier zum tragen: Die Rezeption der Programme bleibt zu einem gewissen Grad unvorhersehbar und offen. Die Kommentare im Netz bestätigen diese Einschätzung. Die intensiv genutzte Kommentarfunktionen auf der Webseite des Senders ATV und vielen anderen Seiten, die Interviews und Bildmaterial rund um die vier TV-Stars bereit stellen, geben einen Einblick in die affektive Arbeit, die hier von allen Seiten geleistet wird. Diskutiert und bewertet werden die Verhaltensweisen der Jugendlichen, Geschlechterfragen, Lebensstile, Arbeits- und Beziehungsformen, aber auch Fragen der Repräsentation und die Inszenierungsstrategien des Fernsehsenders werden hier intensiv und kontrovers debattiert. Keinesfalls entsteht hier der Eindruck einer sozial homogenen Gruppe von ZuschauerInnen. Bestätigt wird eher der Eindruck einer starken Heterogenität, die zugleich die notwendige Voraussetzung für die Intensität der Diskussionen darstellt. Presse und Feuilleton sind angesichts der Beliebtheit der Protagonisten und der Intensität der Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht werden, ratlos, arbeiten ihr aber in ähnlicher Weise zu wie die Fans.13 Die Möglichkeiten der Subjektivierung (als Vorausset-

12 Einzelne Folgen erzielten bei zwölf bis neunundzwanzigjährigen ZuschauerInnen Marktanteile bis zu 41 Prozent. Seit März 2012 läuft bereits die 6. Staffel. Die erste Sendung wurde am 12. Januar (im Anschluss an das ATV-Format Das Geschäft mit der Liebe ausgestrahlt. 13 Zeitungsartikel in Standard, Die Presse, krone.at usw. befassen sich intensiv mit der »fast kultischen Verehrung« der Protagonisten im Netz und den mehrere 10.000 Fans umfassenden Facebook-Freunden. Vgl. z. B. »›Saturday Night Fever‹: Prolo-Formate als TV-Kult.« In: DiePresse.com vom 6.5.2010 (geöffnet: 2.4.2012). Im Artikel von Christina Böck (16.6.2010, DiePresse.com) heißt es: »›Saturday Night Fever‹ ist ein Fernsehphänomen. Es ist primitiv, es ist unsympathisch, es ist fast ein bisschen beängstigend. Und doch erstaunlich erfolgreich. Endlich wieder eine Sendung, für die man sich zu Recht genieren kann. Als Se-

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zung wie als Effekt der immatriellen Arbeit), die hier bereitgestellt werden, könnten allerdings eine mögliche Antwort sein. Wenn das ›Leben‹ selbst zum Produkt wird (Lazzarato 2007), so ließe sich argumentieren, liefert das Reality-Fernsehen das entsprechende Format, um seine biopolitische Produktivität aus- und bereit zu stellen. Sowohl das Zuschauen als kulturelle Praxis, das Teilnehmen an Fernsehformaten als auch der Austausch von Stellungnahmen auf Webseiten und im Feuilleton weisen im Sinne der immatriellen Arbeit eine äußerst hohe Produktivität auf. Sie lassen das Fernsehen nicht nur in der Hinsicht zur Agentur des Sozialen werden, das sie Anschlusskommunikationen gewährleisten, ein soziales Geflecht aus Beziehungen und Verwerfungen herstellen, Aushandlungsprozesse von Lebensstilen anreizen. Wenn das Verblassen kollektiver Rahmungen, institutioneller Bezugs- und Sicherungssysteme dazu führt, dass etwa berufliche Identitäten und/oder Identitäten insgesamt zunehmend selbstständig definiert werden müssen (vgl. Castel 2000), dann zeigen die Auseinandersetzungen mit den Lebens- und Arbeitsformen der Protagonisten von SNF diese Verschiebungen genau an. Immer wieder wird diskutiert, ob ihre Auftritte im Fernsehen ihre ehemals ausgeübten beruflichen Tätigkeiten langfristig ersetzen (können) und wie eine solche Ersetzung zu bewerten ist.14 In der Tradition des Postoperaismus ist mit dem Fernsehen vor allem ein Instrument der Kontrollgesellschaft aufgerufen. Antonio Negri schreibt diesbezüglich:

her und als Sender. Wie es schon im Kommentar aus dem Off hieß: ›Kaum gesprochen, schon gebrochen.‹« 14 Vgl. den Artikel von Tobias Müller »Ruhm aus der Wodkaflasche« im Standard vom 31.12. 2010, da heißt es: »Für die einen ist es ein Sozialporno, für die anderen Realität, zusehen tun sie alle – ›Saturday Night Fever‹ beschert AVT Traumquoten und den Protagonisten das Leben, dass sie immer wollten. Vor einem Jahr waren sie noch einfach Maurer, Elektrotechniker und Einzelhandhandelskaufmann. Dann entdeckte ATV sie in einer Disco bei St. Pölten. Heute sind sie Stars – zumindest bei Nacht: Spotzl (18), Molti (21) und Pichla (19) haben sich berühmt gesoffen.« (http://derstandard.at/1293369770864/Saturday-Night-Fever-Ruhm-aus-der-Wodkaflasche, geöffnet: 2.4.2012)

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»Mit Foucault gesprochen ließe sich somit feststellen, dass im Postfordismus eher durch das Fernsehen Kontrolle ausgeübt wird als durch die Fabrikdisziplin, eher durch Vorstellungen und Denken als direkt durch die Disziplinierung der Körper.« (Negri 2007: 26)

Formate wie Saturday Night Fever und die durch sie ausgelösten Diskussionen scheinen Negris These zu unterstützen. Sie erscheint allerdings nur dann produktiv, wenn das Fernsehen nicht allein im repressiven Sinne als Instanz der Manipulation und Denkkontrolle aufgefasst wird, sondern als Diskursgegenstand, der gerade dadurch wirksam wird, das (erstens) seine eigene gesellschaftliche Rolle und Funktion immer wieder neu problematisiert wird und (zweitens) in dieser Auseinandersetzung auch größer angelegte Zeitdiagnosen und bevölkerungspolitische Prognosen vorgenommen werden. Der Körper als Austragungsort kultur- und sozialpolitischer Anforderungen und Resistenzen spielt in Saturday Night Fever eine entscheidende Rolle. Kontrolle und Kontrollverlust, Sonnenstudio und Alkoholexzess wechseln sich immer wieder ab. Spotzl, einer der vier Protagonisten, hat sich auf die Brust das Bibelzitat »Ego Sum Qui Sum« tätowieren lassen: ich bin der der ich bin. Mit Foucault wäre darin möglicherweise die Rache der Infamen zu lesen (Foucault 2001). Auch ließe sich in dem Tatoo eine Beschwörung und ein Ringen um Subjektivität und Anerkennung ausfindig machen, die auf die notwendigen Anstrengungen dieser Prozedur verweisen. In der Rezeption verlaufen die klassenspezifischen Grenzlinien da, wo die Sichtbarkeit dieser Anstrengungen begrüßt oder verworfen wird. Aber auch die bürgerliche Verwerfung wird diese Anstrengungen immer nur kurzfristig verdecken können.

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Geschlechtliche Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen Zur Überlagerung von Klasse und Gender im Phänomen »Frauendiskriminierung« R EGINA B ECKER -S CHMIDT

1. K ONSTANZ UND W ANDEL : S OZIALE U NGLEICHHEIT , K LASSENDIFFERENZEN , GESCHLECHTLICHE D ISPARITÄTEN Ungleichheitsforschung ist gegenwärtig mit einem alarmierenden gesellschaftlichen Missverhältnis konfrontiert: In den Händen weniger konzentrieren sich Unternehmensgewinne und politisch-ökonomische Machtmittel. In einer kleinen Gruppe von Spitzenverdienern und Vermögenden zieht sich der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums zusammen. Nur ein Drittel der bundesrepublikanischen Bevölkerung verfügt über ein gesichertes Einkommen. Etwas über dreißig Prozent der Population versucht den Unwägbarkeiten des Arbeitsmarkts durch einen Wechsel von der Lohnarbeit in selbstständige Mini-Unternehmungen, durch Zusatzausbildung, Umschulung, durch die Akzeptanz von Qualifikationseinbußen und Verdienstminderungen bei der Stellensuche zu begegnen, ohne dass sich dadurch jedoch eine verlässliche Planungsperspektive für die Zukunft herstellen ließe. Der Rest ist durch ein strukturell bedingtes Wegbrechen von Arbeitsplätzen akut gefährdet oder bereits dauerhaft erwerbsarbeitslos (vgl. Dörre 2007: 290 f.) Für jene, die über kein beständiges bzw. kein existenzsicherndes Einkommen verfügen, hat sich die Bezeichnung »Prekariat« eingebürgert;

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für die Gefahr, dort zu landen, der Begriff »Prekarisierung« (vgl. hierzu Becker-Schmidt 2008: 38 f.). Derartige Konjunkturen im Beschäftigungssystem gehen mit Verschiebungen von Ungleichheitslagen und neuen Distributionsproblemen einher. Demarkationslinien zwischen Oben und Unten, Mitte und Rand der Gesellschaft scheinen zu verschwimmen. Das erschwert es, heute noch von »Klassen« zu sprechen, ohne die folgenden Veränderungen zu reflektieren. Sowohl die Klasse der Lohnabhängigen als auch die Gruppe der untereinander konkurrierenden Unternehmer sind unter dem Aspekt von Globalisierungsprozessen sicherlich in sich stärker fraktioniert als früher. Mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors, der in seiner Ausdehnung der Produktionssphäre den Rang abgelaufen hat, gliedert sich die Bevölkerung vielgestaltiger als es das Zwei-Klassen Modell vorgibt Aber trotz aller Differenzierungen, die wir zu beachten haben, ist der Klassenbegriff dennoch nicht einfach ad acta zu legen. Auch im Hier und Jetzt hebt sich der Block von politischen Führungskräften, kulturellen Gatekeepern und ökonomischen Shareholdern in ihren Möglichkeiten, auf gesellschaftliche Entwicklungen nach eigenen Vorstellungen und Interessen Einfluss zu nehmen, deutlich vom Rest der Bevölkerung ab, deren Entscheidungsspielräume entschieden enger gesteckt sind. Im Produktions- wie im Dienstleistungssektor sind Erwerbstätige mit unternehmerischen Zielsetzungen konfrontiert, an denen sie wenig ändern können. Einer kleinen Zahl von Funktionseliten, die politisch und ökonomisch weitreichende Beschlüsse fassen können, steht somit eine Mehrheit abhängig Beschäftigter gegenüber, die keine derartigen Machtbefugnisse haben. Die Relation zwischen der Zahl der Unternehmer, die über Gewinne sowie über Einstellungen und Entlassungen in Betrieben befinden können, und den Massen auf dem Arbeitsmarkt, deren Möglichkeiten der Gegenwehr begrenzt sind, ist unverhältnismäßig. Das rechtfertigt es m. E. weiterhin von einer Klasse der Verfügenden und einer Klasse abhängig Beschäftigter zu sprechen (vgl. hierzu Becker-Schmidt 2007a: 69 f.). Auch in der Frage, ob wir es noch mit hierarchischen Geschlechterverhältnissen zu tun haben, herrscht unter dem Eindruck widersprüchlicher Entwicklungen Unsicherheit: Es gibt Frauen, die Karriere machen, und andere die verarmen; die Zahl der Männer nimmt zu, die – wie viele weibliche Beschäftigte – berufliche Abstiege zu verkraften haben. Und umgekehrt ist in Berufsbereichen des mittleren und gehobenen Dienstes die Zahl

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von Angestellten groß, die an Frauen vorbei nach oben gelangen. Auch an den unteren Rändern der Erwerbssphäre, in den Niedriglohnbereichen, verändert sich die Relation zwischen Frauen und Männern. Sind dort bislang noch Frauen überrepräsentiert, so beginnen doch Männer angesichts drohender Arbeitslosigkeit weibliche Beschäftigte von dort zu verdrängen (Dörre 2007: 294 ff.). Können wir dennoch vom Fortbestand geschlechtlicher Ungleichheitslagen sprechen? Sozialstrukturanalysen weisen aus, dass Frauen immer noch gesellschaftlich diskriminiert werden: Sie verdienen im Durchschnitt weniger als Männer, sind im Alter weniger gut durch Sozialleistungen abgesichert, leisten mehr unbezahlter Arbeit, sind im Durchschnitt häufiger in ungesicherten Arbeitsverhältnissen zu finden und tragen die größere Last in der Bewältigung des Alltags. Auch wenn sie Karriere machen, stoßen sie eher an Grenzen des Aufstieges als ihre Kollegen. Zu hören ist allerdings ebenso das Argument, dass heutzutage die sozialen Unterschiede zwischen Frauen oft größer seien als die zwischen Frauen und Männern. Hinter diesem Hinweis steckt die Hypothese, die Kategorie »Geschlecht« habe ihre gesellschaftsstrukturierende Relevanz verloren (vgl. Heintz 2006: 213 ff.; Wilz 2007: 115; kritisch dazu Knapp 2001: 15 ff.). Aber dem ist entgegen zu halten, dass diese Aussage nicht überzeugt, sobald die sozialen Chancen von Frauen und Männer miteinander verglichen werden, die aus einem vergleichbaren gesellschaftlichen (Klassen)Milieu kommen. Dann treten nämlich die bereits genannten Disparitäten deutlich zutage, die auf Geschlechtszugehörigkeit zurückzuführen sind. Sie verschärfen sich, je prekärer die Lebenslagen von Frauen sind (vgl. Gottschall 2009: 133). Und dennoch ist dem gesellschaftlichen Wandel in Geschlechterverhältnissen, auf den Heintz (2006) und Wilz (2007) aufmerksam machen, Rechnung zu tragen. Darauf komme ich zurück. Gerade die kontroverse Diskussion ist eine Herausforderung zu untersuchen, ob Frauen anders als Männer nicht nur auf Grund ihres Klassenstatus, sondern gleichzeitig immer noch wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit mit erheblichen gesellschaftlichen Beeinträchtigungen konfrontiert sind. Das lässt sich klären, wenn wir in Betracht ziehen, dass in dem Phänomen »Frauendiskriminierung« zwei Herrschaftslogiken am Werk sind, die zwar seit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ineinander verstrickt sind, aber doch eine je eigene Geschichte haben. Frauenunterdrückung durch männliche Herrschaft ist älter als die Vernutzung von Frauenarbeit im Kapitalismus. Ich werde also zunächst die Dimensio-

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nen androzentrischer Logiken herausarbeiten, die bereits vor der neuen Ökonomie bestanden, und dann zu zeigen versuchen, wo sie sich in abgewandelter Form erhalten haben und sich in kapitalistische Strategien, Frauenpraxen zu instrumentalisieren, integrieren ließen.

2. M ECHANISMEN GESCHLECHTLICHER D IFFERENZSETZUNG : G ESCHLECHTERTYPISIERUNG UND GENDERBEZOGENE S TATUSZUWEISUNG Wenden wir uns zunächst der Frage zu, in welchen historischen Prozessen, die bis in die Moderne reichen, Frauen zum nachrangigen Geschlecht gemacht wurden. Dieser Vorgang hat zwei Stränge, die schwer voneinander zu trennen sind: Zum einen haben wir es mit der Ausbildung von Geschlechterkonstruktionen zu tun, in denen Frauen und Männer in ihrem Habitus, ihren Fähigkeitsprofilen und Handlungsmustern als ungleich präsentiert werden. Solche Differenzsetzungen, welche die Geschlechter polarisieren, sind Anknüpfungspunkte für deren Hierarchisierung (vgl. hierzu Gildemeister 2004; Wetterer 2004). Hierarchisierung bedeutet jedoch mehr als normative Ungleichsetzung: Über- und Unterordnung impliziert Prozesse der sozialen Verortung, in denen Frauen und Männern im Sozialgefüge als Ungleiche positioniert werden. Mechanismen der diskriminierenden Typisierung und asymmetrischen Statuszuweisung sind zwei Seiten einer Medaille: In beiden Dimensionen werden die Geschlechter wertend und abschätzend zu einander in Beziehung gesetzt.

2.1 Zur Konstitution von Genus-Gruppen durch Prozesse der »Versämtlichung« (Hedwig Dohm) Die Annahme, dass sich Bezogenheiten zwischen den Geschlechtern nicht einfach auf einzelne Frauen und einzelne Männer beziehen, sondern dass sie alle in Vertretung der Konstrukte »Frausein«/»Mannsein« in Rapport zu einander stehen, hat eine methodologische Voraussetzung. Es muss sich zeigen lassen, dass »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Konzepte sind, die

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Frauen und Männer zu gegeneinander abgrenzbaren sozialen Gesamtheiten formieren. Wir nennen diese Gesamtheiten »Genus-Gruppen«. Das impliziert die Frage, durch welche gesellschaftlichen Modalitäten Genus-Gruppen zustande kommen. Es liegt auf der Hand, dass hier Vorgänge der Stereotypisierung am Werk sind: Frauen und Männern werden durch Verallgemeinerungen, die von ihnen als Personen mit je spezifischen Besonderheiten abstrahieren, unter Klischees subsummiert, die als Indikatoren für »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Geltung beanspruchen. In ihnen stecken die Diskriminierungen, welche die Geschlechter etikettieren, polarisieren und hierarchisieren. Es gelingt zwar nicht, durch »Versämtlichung« (Hedwig Dohm) Genus-Gruppen zu schaffen, die in sich völlig homogen sind. Wie bereits gesagt, sind in geschlechtliche Ungleichheitslagen klassenspezifische und ethnienbezogene Benachteiligungsstrukturen eingelassen und daraus ergeben sich differente Lebensbedingungen für gut situierte und sozial schlechter gestellte Frauen, für privilegierte Männer und solche mit niedrigerem sozialen Status. Dennoch können wir daran festhalten, dass die Vergesellschaftung von Frauen und Männern – mit deutlichen milieuspezifischen Nuancierungen – in Ansehung ihres Geschlechts erfolgt.

2.2 Disparitäre Relationen im Geschlechterverhältnis als Ausdruck ideeller und materieller Gewalt In der Vergesellschaftung der Geschlechter haben wir es offensichtlich mit einer Doppelbewegung zu tun: Die beiden Genus-Gruppen werden zwar voneinander getrennt, gleichzeitig aber durch Kontrastierung und ungleiche Positionierung zu einander in Beziehung gesetzt. Im Begriff »Geschlechterverhältnis« finden wir die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs. Frauen und Männer erfahren ihre soziale Wertigkeit und gesellschaftliche Positionierung in Abgleichung aneinander. Das ist nur möglich, wenn zwischen ihnen Unterschiede gemacht werden (vgl. Gildemeister 2004) »Geschlecht« ist in seiner bipolaren Konstruktion ein Relationsbegriff. Relationen wie »ebenbürtig/minderwertig, sozial gleich/ ungleich, für bestimmte Praxen geeignet/weniger befähigt« geben im Geschlechterverhältnis die sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Maßstäbe dafür ab, welche Formen der sozialen Anerkennung und welche ge-

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sellschaftliche Stellung Frauen im Vergleich zu Männern zuzumessen sind. Die Ausrichtung der Relationen im Positiv-Negativ-Vergleich zeigt an, welche soziale Bedeutung »Frauen«, welche »Männern« in einer Gesellschaft zugestanden wird. Wenn wir von Relationen reden, müssen wir zwei gesellschaftliche Ebenen in den Blick nehmen, die wechselseitig auf einander einwirken. Die eine Ebene nennen wir die »symbolische Ordnung«. In sie sind die sozialkulturellen Vorgaben für die Ausrichtung weiblicher und männlicher Lebensführung eingeschrieben. In diesem Kontext spielt die Analyse von Geschlechterkonstruktionen eine wichtige Rolle: Ohne Kennzeichnungen, die »Frausein« und »Mannsein« mit Bedeutung aufladen, ließe sich nicht von getrennten, aber gleichzeitig auf einander bezogenen Genus-Gruppen reden. Aber ohne die gesellschaftliche Strukturierung des Geschlechterverhältnisses, in dem soziale Chancen der materiellen Lebenssicherung zwischen den Genus-Gruppen ungleich verteilt sind, könnte die normative Ordnung ihre Wirkmächtigkeit nicht entfalten. Gehen wir zunächst genauer auf die Ebene ideeller Gewalt ein: Eingebettet in die symbolische Ordnung geben die Bestimmungen, aus denen die Konstrukte »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« zusammengesetzt sind, ihre synergetischen Effekte preis. Zuschreibungen, unterstellte Handlungspotentiale und Zuordnung zu sozialen Zuständigkeiten, aus denen Rechte und Pflichten erwachsen, sind Markierungen, die sich – wie Elemente eines Clusters oder eines Syndroms – zu zwei Konfigurationen zusammenschließen, die auf je eins der beiden Geschlechter gemünzt sind. Mit ihrer Hilfe werden unter gesellschaftlich-geschichtlichen Rahmenbedingungen Geschlechterordnungen etabliert und Tätigkeitsfelder abgesteckt, für die eher Männer, weniger jedoch Frauen, und in der Regel Frauen, aber nicht Männer als besonders geeignet erscheinen. In der Vergeschlechtlichung von Eigenschaften und Befähigungen ist mitzudenken, dass diese auf Formen der Arbeitsteilung zwischen den Genus-Gruppen zielen. Frauen wird angezeigt, dass ihr Platz im Privaten und den in unteren Rängen des Erwerbssystems anzusiedeln ist, Männern, dass sie für Höheres im Staat, in der Öffentlichkeit und im Berufswesen geschaffen sind (vgl. Wetterer 2002: 63 f.; Kreisky 1995: 85 ff.) Bleibt zu klären, welcher Stützpfeiler jene symbolische Ordnung absichert, in denen Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen institutionalisiert werden, die zur Hierarchisierung der Genus-Gruppen führen. In ge-

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schichtlicher Perspektive hat das System der Zweigeschlechtlichkeit hier eine prominente Bedeutung (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992). Denn in ihm wird nicht nur Heterosexualität als einzig gültige Lebensform zur Regel gemacht. Die Polarisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit erzwingt – wie Judith Butler (1990) gezeigt hat – zwei Geschlechtsidentitäten, die sich wechselseitig ausschließen. Die Festlegung auf eines der beiden vorgeschriebenen Geschlechter, die bestimmte Verhaltensweisen und Lebensformen impliziert, setzt Mechanismen der praxisbezogenen Inklusion und Exklusion in Gang. Denn allein auf der Basis von normativen Setzungen hätte das System der Zweigeschlechtlichkeit die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht unter dem Prinzip weiblicher Nachrangigkeit strukturieren können. Es bedurfte gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, in denen sich männliche Hegemonien – in der Familie. im Gewerbe, in Kultur und Politik – ausbilden konnten (vgl. Beer 1990: 229) Damit haben wir die zweite Ebene von Verhältnisbestimmungen betreten, auf der ideelle und materielle Gewalt sich wechselseitig abstützen. Hier geht es um die Proportionen, in denen Frauen im Vergleich zu Männern über vergegenständlichte Machtmittel verfügen und in gesellschaftlichen Einflusssphären vertreten sind. Es ist zunächst das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit, das Männerherrschaft und die materielle Benachteiligung von Frauen auf den Plan ruft. Das wird deutlich, wenn wir nach den sozialen Kräften, deren Ziele und Herrschaftsmitteln fragen, welche Zweigeschlechtlichkeit als Norm der Lebensführung sowie Heterosexualität als ein »Dispositiv der Macht« (Foucault 1977: 91 f.) durchsetzten. Dabei tritt in Erscheinung, dass das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit nicht einfach ein moralisches Institut ist, das Sexualität in die Bahnen der Sittlichkeit kanalisiert. Es hat weit darüber hinausgehend gesellschaftsstrukturierenden Charakter: es impliziert nämlich Geburtenkontrolle, matri- oder patrilineare Genealogien, familiale Autoritäts-, Eigentums- und Arbeitsverteilung und hegemoniale Maskulinitätskonzepte (vgl. Becker-Schmidt 2007b: 269) Das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit entpuppt sich als Herrschaftsinstrument, das der Sicherung männlicher Privilegien dient (erfahrbar am Zugriff auf den weiblichen Körper und die Praxen von Frauen, an der Autorität des Mannes als Familienoberhaupt und Familienernährer, an seinen Privilegien im Privaten und in der Öffentlichkeit). Wir haben es hier mit einem Verfügungszusammenhang zu tun, in dem sich patriarchalische und staatliche

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Gewaltmonopole Geltung verschaffen. Deren Vertreter (kirchliche und weltliche Obrigkeiten, Wissensproduzenten, Eigentümer, Rechtsgelehrte) besitzen auf Grund des Monopols an Herrschaftswissen und ihrer Stellung in politisch, gesellschaftlich und kulturell einflussreichen Arenen die Ermächtigung zu bestimmen, was Männer und was Frauen zu tun und zu lassen haben. In den Rechts- und Eigentumsordnungen der europäischen vormodernen und modernen Gesellschaft sind bis weit in unserer Zeit hinein Maskulinitätskonzepte bestimmend (vgl. hierzu Beer 1990; Gerhard 1990). Ein wichtiges Ziel dieser männerbündischen Ordnung ist die Befestigung geschlechtlicher Arbeitsteilung. Das beginnt zunächst in der Familie, in welcher dem Mann die Position des Ernährers zugestanden, der Frau dagegen die ihm untergeordnete Stellung der Hausfrau zuerteilt wird. Daran ändert sich auch nichts, als Frauen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen (vgl. hierzu: Bock/Duden 1977; Hausen 1978). Die asymmetrische Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit im Geschlechterverhältnis tritt als Kristallisationspunkt sozialer Ungleichheitslagen zwischen den GenusGruppen zutage. Denn es bleibt nicht bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie. Sie wird im Zuge der Ausweitung der Erwerbszweige, in denen Frauen Beschäftigung finden, zum Modell für engendering-Prozesse in Betrieben und Dienstleistungsunternehmen. Die ungleiche Distribution von Hausarbeit zwischen den Geschlechtern weitet sich zu frauendiskriminierenden Segregationslinien im Erwerbssystem aus. Auch nach Auflösung vorbürgerlicher patriarchalischer Strukturen bleiben Männerbünde bestehen, die den Zugang zu Professionen, Ausbildungsstätten und politischen Interessenorganisationen unter Ausschluss von Frauen kontrollieren. Helga Krüger hat die Verkettung von Ungleichbehandlungen, die für Frauen in der Familie ihren Anfang nehmen und sich in allen Institutionen fortsetzen, die sie in ihrer Biographie durchlaufen, zum Kern ihrer Gesellschaftskritik gemacht (Krüger 2007: 185 ff.). In dieser Konfiguration kristallisiert sich ein Nexus von sozialen Arrangements heraus, der Disparität als vorherrschende Relation im Geschlechterverhältnis konstituiert.

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3. Z UM Z USAMMENHANG VON ANDROZENTRISMUS UND DER R ANGORDNUNG SOZIALER S PHÄREN , DER GESCHLECHTLICHE U NGLEICHHEITSLAGEN BEFESTIGT Die Etablierung geschlechtlicher Arbeitsteilung geht einher mit grundlegenden Veränderungen in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Die Durchsetzung des Geldwesens führt zur Ausklammerung der Hauswirtschaft aus der marktvermittelten Ökonomie und zur Privatisierung der Hausarbeit, die unbezahlt Frauen überantwortet wird. Die Marksphären, Arenen des Politischen und kulturelle Foren werden dagegen zu Männerdomänen. Da den Sphären der Öffentlichkeit und des Marktes mehr gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt wird als den privaten Lebenswelten und da in den sozial höher bewerteten Bereichen Männer überrepräsentiert sind, während Frauen den gesellschaftlich unterschätzten häuslichen Praxen zugeordnet werden, ist die Hierarchisierung der Geschlechter verknüpft mit der Über- und Unterordnung von Sozialbereichen. Asymmetrischen Relationen im Geschlechterverhältnis sind somit rückgebunden an die Rangordnung der gesellschaftlichen Sektoren. Diese Interferenz macht deutlich, dass Strukturierungsprozesse im Sozialgefüge mit der Ausbildung geschlechtlicher Ungleichheitslagen eng zusammenhängen und umgekehrt Geschlechterordnungen sich in der Formation der Gesellschaft niederschlagen. Dieser Zusammenhang verstärkt sich in der kapitalistischen Marktwirtschaft (vgl. Becker-Schmidt 2007a: 72 ff.).

4. G ESCHLECHT -K LASSE /K LASSE -G ESCHLECHT : W ECHSELSEITIGE Ü BERFORMUNGEN IM M EDIUM ANDROZENTRISCHER UND KAPITALISTISCHER H ERRSCHAFTSLOGIKEN Geschlechtliche Ungleichheitslagen gewinnen in Klassengesellschaften, in denen Männerherrschaft nicht einfach verschwindet, neue Konturen. In der Fortschreibung privater geschlechtlicher Arbeitsteilung durch das Hausfrauen-Modell und in der Frauendiskriminierung durch betriebliche engendering-Prozesse konvergieren androzentrische und politisch-ökonomische Interessen. Männer, denen die Position der Familienernährer zuerkannt

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wird, sind sehr viel weitgehender von Hausarbeit freigestellt als ihre Partnerinnen. Männer haben damit nicht nur den Rücken frei für berufliches Fortkommen, sondern auf dem Arbeitsmarkt generell eine Vorrangstellung. Unbezahlte Hausarbeit und care work ersparen der Wirtschaft Kosten für die Reproduktion, Prokreation und Regeneration der Ware Arbeitskraft. Mit Rekurs auf das männliche Familienernährer-Modell lässt sich zudem die schlechtere Entlohnung von Frauen legitimieren. Frauenarbeit ist billiger und flexibler einzusetzen als Männerarbeit. Und auch der Wohlfahrtsstaat profitiert von der Nachrangigkeit der Frauen auf dem Arbeitsmarkt: Er muss für deren Alterssicherung weniger ausgeben, weil weibliche Beschäftigte auf Grund ihres geringeren Einkommens nicht die gleichen Ansprüche auf Sozialleistungen stellen können wie Männer (vgl. Krüger 2007: 178 ff.). Solche Diskrepanzen in der Behandlung der Geschlechter verschärfen sich im Kapitalismus. Einen Schub erfahren Strategien, Arbeit profitabel zu verwerten, noch einmal im Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Organisation marktgängiger Arbeit. Sie dehnt sich über die industrielle Produktion hinaus auf alle Bereiche lohnabhängiger Beschäftigung aus. Verschärfte Zeitökonomie, der Zugriff von Unternehmungen auf alle Subjektpotentiale der Erwerbstätigen (z.B. Selbstverantwortlichkeit für den Erhalt und die Weiterqualifikation des Arbeitsvermögens, Selbstkontrolle durch intrinsische Motivation bei der Arbeit) sowie Übergriffe auf die Privatsphäre durch Flexibilisierung von Arbeitszeiten und durch die Entgrenzung von betrieblichen und häuslichen Arbeitsräumen betreffen Männer und Frauen, aber die Belastungen für Frauen sind doch größer (vgl. Aulenbacher 2005: 205 ff.). Zum einen liegt die Last der Vereinbarung von Erwerbstätigkeit und Familie in erster Linie auf ihren Schultern. Anders als bei Männern, gerät ihr gesamtes Ensemble von Tätigkeiten – Haushaltung, care work und marktvermittelte Beschäftigung – in den Sog kapitalistischer Übergriffe. Das ist umso unerträglicher, als in ihren Praxen, die im Privaten getätigt werden, sich Arbeit und Nicht-Arbeit mischt: Kinderversorgung, Pflege in der Familie, und psychosoziale Unterstützung der Angehörigen gehen in Begriff »Arbeit« nicht auf. Sie bedürfen Zeitstrukturen und Zuwendungsformen, die dem profitbezogenen Wirtschaften fremd sind. Darauf nimmt der Frauenarbeitsmarkt keine Rücksicht und Hilfen im Haushalt sind für weibliche Beschäftige mit geringem Einkommen kaum bezahlbar. Dazu kommt der psychische Druck, dass Frauen stärker von Prekarisierungsprozessen bedroht sind als Männer (vgl. Jürgens

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2010). Kerstin Jürgens hat die aktuellen Widersprüche zwischen und innerhalb der Sektoren Wirtschaft, Familie und Sozialstaat herausgearbeitet, welche sich im Zuge rezenter Transformationsprozesse verschärft haben, und die für alle lohnabhängig Beschäftigten soziale Unsicherheiten erhöhen. Vor allem wird es jedoch für Frauen, bei denen geschlechtliche und klassenspezifische Benachteiligungsstrukturen zusammentreffen, immer schwieriger, aus eigenem Vermögen lebenslang Gesundheit und Leistungsfähigkeit für familiale und berufliche Aufgaben sicherzustellen (Jürgens 2010: 578). Die »Überforderungssyndromatik« (ebd.) hat in weiblichen Lebensverhältnissen ein anderes Gewicht als in männlichen. Überformungen fanden jedoch auch in der anderen Richtung statt. Indem traditionelle Geschlechterordnungen zu Organisationsprinzipien klassenspezifischer Ungleichheitslagen wurden, entstanden in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft Spannungen, die bis heute virulent sind. Laut Ursula Beer war der ständische Patriarchalismus »als gesellschaftliche Norm der Unterordnung der Frau unter den Mann, als Ausschlusskriterium der Verfügung über Eigentum, des Zugangs zu Professionen und dem Wissen dieser Gesellschaft« eine wichtige Voraussetzung der Industrialisierung (Beer 1990: 252). Mit der Übernahme solcher Ordnungsprinzipien wurden in der kapitalistischen Produktionsweise Elemente formbestimmend, die in Widerspruch zur politischen Entwicklung des bürgerlichen Nationalstaates gerieten, in dem Rechtstaatlichkeit und eine demokratische Verfassung proklamiert wurden. Die Ungleichzeitigkeit von Patriarchalismus und Kapitalismus führte zur Kritik an vorindustriellen Geschlechterordnungen in einer sich modernisierenden Gesellschaft. Die Frauenrechtsbewegung konnte hier anknüpfen und ihre Anstrengungen fanden Niederschlag in neuen rechtlichen Regelungen. Seit der Eherechtsreform von 1977 sind die Dominanz des Mannes in der Familie und seine Befugnis, die Berufstätigkeit der Ehefrau zu erlauben oder zu verbieten, nicht mehr statthaft. Frauenpolitik griff solche emanzipatorischen Impulse auf und trieb sie weiter (vgl. Gerhard 1990). Gleichstellungsgesetze haben hier ihre Wurzeln. Sie sind zwar in mancherlei Hinsicht formal geblieben, aber dennoch sind eine Reihe von Erfolgen zu verzeichnen: Frauen haben sich den Zugang zu Ausbildungsstätten erstritten und sich in ihnen mindestens ebenso gut bewährt wie Männer. Sie haben mit ihrem Eintritt ins Erwerbsleben, der sich nicht durch patriarchale Bevormundung aufhalten ließ, an ökonomischer Selbständigkeit gewonnen, auch wenn diese oft nicht ausreicht, um die Existenz ange-

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messen zu sichern. Sie haben androzentrische Weltbilder erschüttert, indem sie in Domänen vorgedrungen sind, die vormals Männern vorbehalten waren (vgl. Gottschall 2009: 121 f.). Das System der Zweigeschlechtlichkeit, eine Bastion nicht-egalitärer gender regimes, ist zwar bisher nicht aus den Angeln gehoben worden, zeigt aber doch Risse: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften haben rechtlich an Boden gewonnen, auch wenn die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen fortbesteht und Heterosexualität im Alltag immer noch als Selbstverständlichkeit gilt. Geschlechtskonstruktionen verlieren gerade durch die Integration der Frauen in die Erwerbssphäre ihre Plausibilität – und damit auch an Stabilität. Insbesondere Frauen, die sich zwischen dem häuslichen und dem beruflichen Arbeitsplatz hin- und herbewegen, erfahren die Fadenscheinigkeit von geschlechtlichen Zuweisungen, welche durch die Separierung von Privatsphäre und Öffentlichkeit verdeckt bleiben. Überdies scheint die Familie mit ihrer traditionellen Aufgabenverteilung mehr und mehr in eine Krise zu geraten. Dafür spricht die steigende Zahl von Alleinlebenden, Kinderlosen, Ehescheidungen und die mit Nachdruck erhobene Forderung nach einer ausreichenden Zahl von Einrichtungen der Kinderbetreuung. In öffentlichen Diskussionen und privaten Erfahrungen stellt sich mehr und mehr heraus, dass das alte Modell, nach dem vorrangig Mütter für die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Kinderversorgung zuständig zu sein haben, nicht nur für Frauen unzumutbar ist. Die Ausnutzung der Familie als eine Ressource für generative Zwecke und die vorrangige gesellschaftliche Ausrichtung an politisch-ökonomischen Zwecksetzungen instrumentalisiert nicht nur das weibliche Geschlecht, es gefährdet die private Reproduktionssphäre insgesamt (vgl. Becker-Schmidt/Krüger 2009: 37 ff.). Damit gerät auch die Vorstellung ins Wanken, Unternehmen könnten ihren Bedarf an Arbeitskraft kostenlos durch Rückgriff auf unbezahlte Haus- und Versorgungsarbeit decken. Auch Forderungen nach der Gleichstellung und Gleichbehandlung der Geschlechter im Beschäftigungssystem tangieren das kapitalistische Wirtschaftssystem unmittelbar. Die Häufung von prekären Arbeitsverhältnissen in der weiblichen Genusgruppe wird ebenso angreifbar wie ungleiche Entlohnung. Vor allem im Gesundheitswesen, der Pflege und Kinderbetreuung – Praxisfelder, die mit »Weiblichkeit« assoziiert werden – wird das Missverhältnis zwischen der Anerkennung der dort von Frauen erbrachten Leistungen durch angemessene Besoldung und Professionalisierungschancen und der gesellschaftlichen Relevanz dieser

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Praxisbereiche besonders eklatant (vgl. ebd.). Ganz allgemein lässt sich rechtlich Einspruch erheben, wo Geschlecht als Hindernis oder Privileg für berufliche Karrieren missbraucht wird. Angesichts der widersprüchlichen Befunde, die sich aus den Überschneidungen von klassenspezifischer und geschlechtsbezogenen Ungleichheitslagen ergeben, sind wir mit einem Paradox konfrontiert: Einerseits hat sich im Zuge der Industrialisierung die Benachteiligung von Frauen durch die Verflechtung von häuslicher und beruflicher Arbeitsteilung verschärft. Anderseits stößt Frauendiskriminierung sowohl auf der Ebene sexuierter Zuschreibungen als auch auf der Ebene struktureller Benachteiligung heute im privaten und öffentlichen Bewusstsein eher auf Schranken als früher. Die Heteronomie von androzentrischen und kapitalistischen Herrschaftslogiken tritt deutlicher zutage.

5. W EITERFÜHRENDE F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN UND OFFENE F RAGEN Die aufgezeigten Paradoxien stellen an die Geschlechterforschung neue Herausforderungen. Viele Dunkelfelder bedürfen der Aufklärung. So wissen wir wenig darüber, wie sich die Berufs- bzw. Familienorientierung bei jungen Frauen und Männern entwickelt. Führt die Diskrepanz zwischen normativen Vorstellungen von egalitären Partnerschaften und faktisch gelebten Paarbeziehungen zu Verunsicherungen, was Familiengründung und Kinderwunsch betrifft? Werden Karriereambitionen angesichts wachsender beruflicher Anforderungen zurückgenommen, die kaum Zeit für ein Privatleben lassen (vgl. Bien 2006: 265 ff.)? Uns fehlen Informationen darüber, ob und in welche Richtung sich Geschlechterarrangements in der Verteilung von Haus- und Erwerbsarbeit angesichts der Erosion des männlichen Familienerhalter-Modells verändern (vgl. Dölling/Völker 2008: 57 ff.). Die Ansprüche an eine feministische Ungleichheitsforschung sind zudem im Zuge der Intersektionalitätsdebatte gestiegen. Ihr zufolge ist in der Untersuchung von Strukturen sozialer Ungleichbehandlung »Geschlecht« von anderen Bezugspunkten gesellschaftlicher Disparität wie Klasse, Rasse und Ethnizität nicht zu isolieren (Klinger 2003: 14 ff.). Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass sich die sozialen Differenzsetzungen entlang dieser drei Achsen sozialer Ungleichheit nicht einfach aufaddieren, sondern dass die

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jeweiligen Benachteiligungsstrukturen ineinander verflochten sind (vgl. Klinger/Knapp 2007: 35 ff.). Mit diesem neuen Paradigma (Knapp 2005: 68 f.) ist die feministische Ungleichheitsforschung mit theoretischen, epistemologischen und empirisch-methodologischen Problemen konfrontiert, die sich aus der Erfassung von nicht zu reduzierenden Komplexitäten ergeben. Das gilt insbesondere, wenn das Projekt »Intersektionalität« internationale Vergleiche einschließt. Schon auf der Ebene von Einzelgesellschaften ist der Nachweis von Interferenzen zwischen verschiedenen »Achsen der Differenz« nur zu erbringen, wenn einer Vielzahl von Interdependenzen nachgegangen wird. Die einzelnen Ungleichheitskonstellationen können nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Die je spezifischen historischen Kontexte, in denen sie entstanden sind, müssen vielmehr sowohl in ihrer Eigenlogik als auch in ihren Verwerfungen Beachtung finden, die sich aus den Überlappungen mit anderen sozialen Ungleichheitslagen ergeben. Nur so lässt sich klären, wann, wo und unter welchen geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellationen es zu deren Überkreuzung kommt. Welche Dynamiken in Gang gesetzt werden, wenn die Logiken der Differenzsetzung, die jeweils auf einer Achse am Werk sind, in Widerspruch zu den Strukturierungsprinzipien von anderen geraten, wo sich Bruchlinien ergeben und wo sich Hegemonien herausbilden und welcher der vier Strukturkategorien sozialer Disparität (Geschlecht, Klasse, Rasse, Ethnizität) gegenwärtig im Geflecht gesellschaftlicher Ungleichgleichheitslagen der Masterstatus zukommt, ist ohne solche Umwege nicht in Erfahrung zu bringen. Es gibt eine weitere theoretische und methodologische Schwierigkeit, die in der Intersektioalitätsforschung bisher nicht befriedigend gelöst wurde. »Geschlecht«, »Klasse«. »Rasse« und »enthnizistische Diskriminierung« sind Begriffe, die auf einer gesellschaftlichen Makroebene angesiedelt sind. In Phänomenen sozialer Benachteiligung treten jedoch Faktoren auf, die empirisch auf einer soziologischen Mikro- oder Mesoebene festzustellen sind: Alter, Bildung, körperliche Verfasstheit, Religion und anderes mehr (vgl. hierzu Lutz 2001: 215 ff.; Winker/Degele 2007). Die Antwort auf die Frage nach der Vermittlung zwischen den Kategorien, die sich auf differente Analyseebenen beziehen, steht aus.

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Biographie als Pathographie Lebens- und Fallgeschichten zum Geschlechtswechsel1 A NNETTE R UNTE dupes of gender MEYEROWITZ 2002: 12

S ANDWICH -D ISKURSE : S PIEGEL

ODER

M ASKE ?

Zu Anfang des 18. Jahrhunderts berichtete François Gayot de Pitaval über den merkwürdigen Fall eines Advokatensohns, der sich in ein kleines Dorf zurückzog, um als fromme Spinnerin der Pflege seiner Weiblichkeit zu frönen. »Man sah sie viel Zeit vor dem Spiegel verbringen, damit beschäftigt, ihre Frisur zu ordnen und ihrem Bilde zuzurufen: ›Ist das Fräulein nicht hübsch?‹ Erwiderte man, dass ihr Bartwuchs dem widerspreche, antwortete [sie], man solle ihn geflissentlich übersehen, denn auch die Natur schmücke Blumen zuweilen mit unpassenden Blüten.« (zit. n. Steinberg 2001: 94 f.)2 Glaubte Pierre Aymon Dumoret sogar, schwanger zu sein, hielt der Chronist seine Einbildungen vor allem deshalb für verrückt, weil er damit sein männliches Privileg preisgebe: »Welches Weib klagt nicht über die ihm

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht ergänzte Fassung eines Textes, der unter identischem Titel erstmals veröffentlicht wurde in: Bernhard Fetz, Hannes Schweiger (Hg.): Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Wien 2006: Zsolnay & Deuticke, S. 128-142. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.

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Alle fremdsprachigen Zitate sind von der Verf. übersetzt.

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auferlegte Unmündigkeit?« (zit. n. ebd.: 92) Im Gegensatz zu den Viten von passing women, die ihr Geschlecht mit der Kleidung tauschten, enthält Pitavals Memorabile bereits das Moment einer tiefer reichenden Identifikation. Daher fragt es sich, ob die beiden Möglichkeitsbedingungen für das spätere Auftauchen eines Wunsches nach Geschlechtsumwandlung, nämlich dessen klinische Diskursivierung und die Entwicklung einer medizinischen Operationstechnologie, ausreichen, um die Spezifität eines Begehrens zu erfassen, dessen Verwirklichung Einsicht in kulturelle Konstruktionsprozesse gewährt. Wenn man Diskurse nach Michel Foucault »als symbolische Ordnungen« begreift, die sich, wie Hannelore Bublitz prägnant formuliert, »zwischen die fundamentalen Codes einer Kultur« einerseits, d. h. »ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte« sowie die »Hierarchie ihrer Praktiken«, und »wissenschaftliche Theorien oder Erklärungen« andererseits schieben (Bublitz 1998a: 12), sind sie zugleich »Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen« (zit. n. Bublitz et al. 1999a: 13). Da sich »Wissen und Macht«, »trotz ihrer Differenz, in einer inneren Beziehung« befinden, »ohne identisch zu sein« (ebd.: 11), lassen sich Diskurse unter politischen Vorzeichen ebenso »als ›Ordnungshüter‹« wie als »›Rebellen‹« (ebd.: 12) verstehen. Im Folgenden möchte ich der an dieser grundlegenden Ambivalenz teilhabenden Entstehung eines im doppelten Sinne ambigen ›Genres‹ nachgehen, nämlich ›Diskursen der Transsexualität‹ (vgl. Runte 1996), d. h. Äußerungen zum Geschlechtswechsel und Aussagen über ihn, insbesondere aber der heute auffälligen Korrespondenz zwischen geschlechtlichen Übergangsformen und deren Artikulation im Textyp des vécu, einer »Heterobiographie in der Ichform« (Lejeune 1980: 236), in der sich die Rede eines autobiographischen Subjekts immer schon mit jener des sie aufzeichnenden biographischen (Ko-)Autors unentwirrbar verquickt. Doch wen kümmert’s noch, wer spricht? Aus diskurshistorischer Perspektive ist das textgenetische Dilemma, den Anteil der ghostwriter nicht identifizieren zu können, kaum relevant, weil Transsexuellen-Bekenntnisse, die inzwischen unter Titeln wie Im falschen Körper gefangen, Grenzübertritt oder Frau werden erscheinen, an einer Diskursformation teilhaben, die Subjekteffekte allererst bewirkt. Beruhte die Wechselkonstitution von Lebens- und Fallgeschichten bereits auf der Verschränkung medizinischer mit literarischen Diskursen, sind aktuelle Selbstzeugnisse durch eine stumme Stimme ge-

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prägt, die allenfalls als Name auf dem Buchdeckel figuriert. Obwohl die mündliche Produktion also im schriftlichen Produkt verschwindet, wird die Transformation eines unterstellten Ursprungstextes zur Allegorie seines Themas, dem keineswegs spurlosen Aufgehen im anderen Geschlecht, von dem die Selbstenthüllung zeugt. Dem paradoxen Imperativ, ›endlich das zu werden, was man schon immer gewesen ist‹, entspräche also die widersprüchliche Interferenz zweier Phantomtexte. So wäre eine Bauchrednerei, die als Gespenst der ›richtigen Seele im falschen Körper‹ laut wird, Indiz der Unreinheit einer Gattung, deren populäre Zweckform die Selbstbeobachtung des psychologischen Romans (nach Karl Philipp Moritz) auf ein Wieder(v)erkennen reduziert. Die Serie transsexueller Narrationen weist nicht nur besondere Regelmäßigkeiten, sondern auch signifikante Diskontinuitäten auf. Doch die zunehmende Normalisierung des transsexuellen gender breakdown verläuft nicht unbedingt »from life to text to life« (Prosser 1998: 125). Nicht der Übersprung vom Körper zur Schrift, sondern deren mehrfach überdeterminierter sandwich-Charakter macht aus dem mimetischen Spiegel eine opake Maske. Den hermeneutischen Zirkel zwischen Erzählung und Kommentar unterbricht eine symptomatische Lektüre, sofern sie sich der Entstellung diskursiver Übertragung ebenso gewahr bleibt wie der grundlegenden Nachträglichkeit jedweder Rede. In diesem Sinne wird »die foucaultsche Archäologie« zum Impetus einer diskursgeschichtlichen »›Diagnostik‹« (Bublitz 1999b: 45).

L EBENSGESCHICHTEN

ALS

F ALLGESCHICHTEN

UND VICE VERSA Erforderte die Durchsetzung eines Zwei-Geschlechter-Systems im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht nur den epistemischen Ausschluss monströser Uneindeutigkeiten, wie es etwa der Artikel »Hermaphrodite« aus der Encyclopédie bekundet, sondern damit auch die Annahme einer ›Wahrheit‹ des Geschlechts (Klöppel 2010: 163-233), wird deren empirisches Korrelat unter den Prämissen der ›Erfahrungsseelenkunde‹ zur möglichen Normabweichung narrativiert. So wie die Figur des Homosexuellen im 19. Jahrhundert aus der Trope des Zwitters hervorging, entstand Transsexualität mit der Paradoxierung dieser Figur.

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Indem der ärztliche Blick das Unsagbare platonischer Liebe als Sodomie zur Sprache brachte, provozierte er die Perversion seiner Lektüre. »Süßkind Blank war ein passiver Päderast ohne die geringste Bildungsabweichung der Geschlechtstheile«, stellte der Kreis-Physicus Hieronymus Fränkel 1853 fest, doch habe er »die Meinung zu verbreiten gewusst, dass er ein Zwitter oder gar ein vollständiges Weib« sei. Da der »steckbrieflich« Gesuchte, der junge Soldaten verführte, beim Transport ins Gefängnis Selbstmord beging, indem er von einer Brücke sprang, war seine Leiche für die Obduktion unbrauchbar. Den amtsärztlichen Bericht, der die Vita des Täters zur Jagd auf ein Opfer verkürzt, las der Jurist Karl Heinrich Ulrichs später polemisch gegen den Strich. Hatte der Gerichtsmediziner noch behauptet, die »läppische Affectation« eines israelitischen Gardinenaufsteckers sei diesem »allmählich zur anderen Natur« (Fränkel 1953: 102 f.) geworden, entgegnet sein Verteidiger: »War ohne Zweifel ursprüngliche Natur. Woher rührten denn feminine Wesens- und Lebensart, wenn nicht ›von einer in ihm wohnenden weiblichen Natur?‹« (Ulrichs 1864: 16). Indem sich der Akzent vom Verhalten aufs Wesen verschiebt, lässt sich sexuelle durch geschlechtliche Verkehrung rechtfertigen. ›Eine weibliche Seele im männlichen Körper‹ – übrigens weniger umgekehrt – lautet noch heute die populäre Zauberformel eines ›vergeschlechtlichten‹ Substanzendualismus. In Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (KrafftEbing 1984: 1886 ff.) erzeugt die duale Topik romantisierte Abenteuerromane. Sein wohl berühmtester Fall, die ungarische Gräfin Sandor/Sarolta Vay, die sich mit einer Frau verheiratete, entstammt einem »altadeligen« Geschlecht, in dem »Exzentrizität Familieneigentümlichkeit« war. Die »Marotte des Vaters« bestand darin, dass er seine Tochter »als Knaben erzog« und sie sogar ins »Lupanar«, d. h. Bordell, mitnahm, während er seinen Sohn »in Weiberkleider[n] steckte« (ebd.: 320 f.). Trotz dieser pädagogischen Zurichtung diagnostiziert die medizinische Exploration eine »angeborene krankhafte« Verkehrung des Geschlechtstriebs. Im genealogisch motivierten Geschlechtertausch wird Natur mit Kultur gekreuzt. Kommt das ›Mannweib‹ lediglich im Plädoyer zu Wort, bleiben auch die Protagonisten der sexualwissenschaftlich inspirierten Unterhaltungsliteratur zunächst sprachlos. In Adolphe Belots Roman Mlle Giraud, ma femme (1869) wird die lesbische Ehefrau im Gespräch des Gatten mit dem Arzt zum abwesenden Gegenstand medizinischer Belehrung. Die systematisierte Kasuistik aber, mit der sich Krafft-Ebing an Fachkollegen wendet, erhält

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ihr Echo von jenem Laienpublikum, das die Fallgeschichten, in denen es sich ratsuchend wiederfindet, bei jeder Neuauflage vermehrt. Dadurch dass sich die Normalisierung der Betroffenen – in der Expertenrede als Verzerrung der Experten – in der Betroffenenrede wiederholt, ergibt sich eine Spirale der Redundanz, die sich als Symptomatik pathologisieren lässt. In dem Maße nämlich, wie der Spezialistenkommentar den Patientenäußerungen Konsistenz verleiht, ordnen sich diese ihrer wissenschaftlichen Klassifikation freiwillig unter. Die »Weiberfleischwerdung« (Hirschfeld 1910: 64) eines in sein travestiertes Konterfei verliebten Sonderlings wird zur »seelische[n] Doppelgeschlechtlichkeit« (ebd.: 274), die ihr Träger aus einer hereditären Disposition ableitet. »Erklärt sich« jemand »seelisch für ein Weib«, »erscheint« er dem Arzt »bei näherem Verkehr« »mädchenhaft timid« (Krafft-Ebing 1984: 291). Aus dem Zusammenspiel von Suggestion und Einfühlung ergibt sich ein gemeinsam konstruierter Erwartungshorizont. Klaus Müller hat die Wechselimplikation in komplementären Interessen von Wissensbegehren und Anerkennungsanspruch begründet. Doch behält der medizinische Diskurs Definitionsmacht. Mit »Inklination für Knabensport« erweckt eine unter »Defeminatio« leidende Frau den »Eindruck eines in Weiberkleidern steckenden Mannes« (Krafft-Ebing 1984: 250). Auf der nächst höheren Stufe ausgeprägter »Viraginität« wird der gleichen Impression (ebd.: 315) bereits eine Kindheitsgeschichte unterlegt: »Schon als kleines Mädchen [...] Sinn für Schießen und Militärmusik« (ebd.: 316). Die Narrativierung folgt mythisierenden Geboten: »In amazonenhaften Neigungen [tut] sich die männliche Seele im weiblichen Busen kund« (ebd.: 302). Unter den Vorzeichen einer folie à deux gipfelt die klinische Hagiographie devianter Helden und Märtyrer im Picaro-Roman. Der zeitgenössische bildungsbürgerliche Fundus speist wissenschaftliche Kategorisierung wie biographische Anekdotisierung. Vergleicht sich ein Fin de Siècle-Zwitter mit Achill, hält eine psychiatrische Studie der 30er Jahre die Minnesänger für effeminiert (Masson 1935: 14). Während die Sexualpathologie die Weltliteratur nach Fällen durchforstet, appliziert sie selbst literarische Modelle und macht aus der Gynander, der virilisierten femme fatale französischer Dekadenzromane, einen exotischen terminus technicus für ›zerebralen Hermaphroditismus‹. Dabei bedient sich die Taxonomie einer quantifizierenden Stufenleiter, deren Sprossen aus akkumulierten Verstößen gegen Geschlechterstereotype bestehen. Auch wenn der projektive Charakter interaktiver Geschlechtswahrnehmung substanzialistische Vor-

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aussetzungen verstört, bleibt die Evaluation der Befunde stets an eine ausdrucks- bzw. abbildtheoretische Repräsentationslogik gebunden: »Ein nicht unschönes, intelligentes Gesicht, das [...] ein ganz entschieden männliches Gepräge hatte [...]! Fiel es doch selbst den Gerichtsärzten schwer, [...] immer gegenwärtig zu haben, dass es sich um eine Dame handelt, während der Verkehr mit dem Manne [...] viel ungezwungener [...] von statten« ging (Krafft-Ebing 1984: 320-325). In welchem Maße der klinische Kommentar die ›arme Sprache‹ der Unterschicht elaboriert, belegt das seltene Zeugnis ›wilder Rede(n)‹. So begründet ein Arbeiter sein Gesuch, Röcke tragen zu dürfen, relativ konfus mit seiner Invalidität: »Ich bin unschuldig. Ich habe vor vier Jahren einen Schlag ins Gesäß bekommen und dadurch [...] das Ziehen [...], sowie ich Hosen trage. [...] Ich kann Männersachen nicht aushalten, es hindert mich an meinem Nahrungszweig« (Oehmig 1912: 194). Und ein Schuhmacher, der sich 1910 in die Elbe stürzen will, um »wenigstens in Frauenkleidern zu sterben«, findet im Abschiedsbrief noch keine Worte für seine Leidenschaft: »Letzte Bitte. Meine lieben Kinder [...] Wie ich mich angezogen habe, (so) will ich begraben sein« (ebd.: 191). Obwohl der Sexualreformer Magnus Hirschfeld dem ›dritten Geschlecht‹ das Wort erteilt, geht er über die Eigenart der Phantasmen und ihre poetische Qualität einfach hinweg. Er überhört das Unerhörte, etwa einer Sexualität im Dienste des Geschlechts. So erträgt ein Transvestit die eheliche Pflicht nur, wenn seine Frau »ihre Nägel in [seine] Ohrläppchen presst und in [ihm] das Gefühl hervorruft, als besäße [er] Ohrgehänge« (Hirschfeld 1910: 28 f.). Findet ein Schriftsteller mit dem sprechenden Pseudonym »Luz Frauman« seine »Heimat« in seinem weiblichen Spiegelbild (ebd.: 21), tut sich darin real wie metaphorisch jene Bewusstseinsspaltung kund, deren narzisstische Sackgasse die Confessio eines ›trisexuellen‹ »Doppelings« (Carp 1928: 621) grammatikalisch aufzeigt: »Ich schämte mich [...] selbst als Betrachter vor der Betrachteten, die ja in einer Person, nämlich ›Ich‹, zusammenfielen, d. h. als Weib, das [erblickt] wurde, vor mir als Mann, [der] dieses Weib anschaute. [...] Mein Verhältnis hatte ich im Spiegel.« (Rohleder 1928: 115). Statt hinter der »imaginäre[n] Partnerin« die ödipale Mutter-Imago zu suchen (Binder 1933: 103), verstärken Betroffene die Bildmagie mithilfe sprachlicher Bilder: »Ich hatte damals die Neigung, auf ein Stück Papier Sätze zu schreiben wie: ›I am a very fine young lady‹«, und Worte wie »Hirschkuh« oder »Stute«, aber auch ein

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Vers aus dem Lied »Nun danket alle Gott« und eine Stelle aus Immermanns Oberhof »erregten mich« (Hirschfeld 1910: 62 ff.). Begehren findet nicht durch, sondern im Sprechen statt, erst seine Verbalisierung macht den transvestitischen »Toilettenbestand« zum surrealistischen Partialobjekt: »Eine blaubunte Schürze mit weißer Spitze garniert [...], eine braune Haube. Ein gewöhnliches Wolltuch. Ein[en] Filzhut mit resedafarbenem Band [...] und zwei Flügeln (von Vögeln) versehen« (ebd.: 78). Da der geschlechtliche Paradigmenwechsel um 1900 auf der Ersetzung einer exklusiven Binäropposition durch das Modell eines positivistischen Kontinuums beruht, löst sich die Geschlechterdifferenz in eine Unzahl von Graduierungsmöglichkeiten auf, die durch die Kombination heterogener Merkmale zustande kommen. Doch falls in extremis jedem Individuum seine eigene ›Zwischenstufe‹ entspräche, wäre Singularität allein in jener lebensgeschichtlichen Kontingenz zu fassen, deren fallgeschichtliche Schematisierung sie paradoxerweise wieder vereitelt. Wenn man die epochale ›Interdiskursivität‹, d. h. das Zusammenspiel von Spezialdiskursen und deren ›Übersetzungen‹ in den Alltagsdiskurs, als »historisches Archiv der Geschlechterverhältnisse« (Bublitz 1998a: 15) betrachten darf, erscheint das »Geschlechterparadigma« darüber hinaus auch »als semantisches Leitmotiv« (Bublitz 1999b: 38) einer ›Kultur der Moderne‹ in ihrer konstitutiven ›Krisenhaftigkeit‹ (vgl. Bublitz 1998b: 32 ff.).

V ON DER P ATHO - ZUR B IOGRAPHIK : M EDIKALISIERUNG DES G ESCHLECHTSWECHSELS Während effeminierte Homosexuelle ihre Selbstzeugnisse noch im Schutz einer Herausgeber-Fiktion veröffentlichen, meist als postumes Geständnis eines angeblichen Selbstmörders, stehen die autonom publizierten Bekenntnisse virilisierter Frauen im Zeichen körperlichen Zwittertums. Anna Laabs, die das Pseudonym »N.O.Body« wählt, um damit ihre geschlechtliche Ortlosigkeit auszudrücken, berichtet »aus eines Mannes Mädchenjahren«. Obwohl die chronologisch erzählte Geschichte eines Geschlechtsbestimmungsirrtums in dokumentarischem Stil verfasst ist, garantieren medizinische Vor- und Nachworte die Authentizität eines »zwischen Komik und Tragik sich windenden Roman[s]« (Body 1907: 9) im vorausgeschickten Appell an seine Autorin: »Schreiben Sie’s genau so nieder, wie Sie’s mir

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erzählt haben. Füllen Sie die Lücken Ihres Gedächtnisses nicht mit [...] Phantasterei aus [...]. Predigen Sie nicht und greifen Sie nicht an. Erzählen Sie: So war mein Leben« (ebd.: 12). Folgt der Imperativ quasi-mündlicher Verschriftlichung der aufklärerischen Absicht, nur wirklich »Erlebtes« (ebd.: 7) aufzuzeichnen, überspielt die Insistenz auf Wahrheitstreue das Dilemma, »als Knabe geboren, [aber] als Mädchen erzogen« worden zu sein (ebd.: 16). Wenn ›Herr Niemand‹ die ›Stimme‹ seines Körpers vernimmt, spricht dadurch sein Geschlecht aus seiner Seele (ebd.: 214). So restauriert das Märchen eines verkannten ›Königssohns‹ die Herrschaft der Natur über die Kultur. Einem durch das textuelle wie geschlechtliche ›Genre‹ mitgeprägten selektiven Gedächtnis unterworfen, stiften Kindheitserinnerungen das Konfliktpotential einer Krisenüberwindung, deren nosologisches Verlaufsschema dem Bildungsroman entstammt (Anz 2002: 92 ff.). Indem die Krankengeschichte die autobiographische Dreiteilung von Erinnern, Erzählen und Interpretieren als Trias von Anamnese, Diagnose und Therapie übernimmt, entfaltet die narrative Performanz eine argumentativ wirksame Dialektik zwischen Besonderem und Allgemeinem. Ein Musterbeispiel für den deduktiven Charakter der induktiven Methode ist der 1916 publizierte Fall von Geschlechtsumwandlungstrieb, anhand dessen Max Marcuse Biographeme sortiert, um Transsexualität erstmals von Travestie abzusetzen: »Der Drang zur Umwandlung des Geschlechtes reicht bis in die Kindheit zurück« und »erstreckt sich auf das körperliche, psychische und soziale Gebiet« (Marcuse 1916: 181 f.). Obwohl damit ein Muster für spätere Lebensläufe vorliegt, wird die »Hoffnung« des Kranken, die von der Presse kolportierte »Verweiblichung eines Damhirsches« (ebd.: 176) auf sich übertragen zu dürfen, noch enttäuscht. Wenig später verwirklichte sich der ›androgyne Wahn‹ (Hirschfeld). Denn Hormontheorien, die die Grenze zwischen den Geschlechtern restaurierten (Runte 2001), sahen sich auf Experimente am Menschen angewiesen. Bewirkte der deterministische Zirkel, der darin bestand, die Biologie für jenes soziale Verhalten verantwortlich zu machen, dessen Ausdruck sie doch sein sollte, ein semiotisches Gleiten vom äußeren zum inneren Geschlecht, schuf erst die plastische Chirurgie morphologischer ›Angleichung‹ das analogische Zeichen dafür. Denn Diskurse (er-)schaffen nicht nur Gegenstände, sondern bringen diese »kategorial […] bis in die Regulierung von institutionellen Praktiken hinein hervor« (Bublitz 1999b: 23).

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AUTO /B IOGRAPHISCHE ARCHETYPEN Im wahrscheinlich ersten autobiographischen Dokument zu einer Geschlechtsumwandlung, der Lebensbeichte des dänischen Malers Einar Wegener, den man 1930 in Dresden zu »Lili Elbe« umschuf, wird am ZwitterArgument festgehalten. Niels Hoyer, der Freund der postoperativ Verstorbenen, publizierte deren Aufzeichnungen unter dem Titel Ein Mensch wechselt sein Geschlecht in Buchform. Die Biographie, der Beweisstücke wie z. B. Briefe, Fotos und Schriftproben beigefügt sind, geht am existenziellen Wendepunkt in eine Autobiographie über. Betrachtet ihr Herausgeber sich im Vorwort als bloßen Testamentsvollstrecker, ertönt die transsexuelle Stimme gleichsam ›von jenseits des Grabes‹: »Lilis letztem Willen gemäß habe ich ihre hinterlassenen Aufzeichnungen zu diesem Buche gesammelt. Es ist ein wahrhaftiger Lebensbericht. [Ihr] Arzt [...] hat [ihn] gutgeheißen« (Elbe 1932: Vorw.). Auffälligerweise verzichtet diese biographie romancée, die zuweilen einem vitalistischen Blut & Boden-Jargon verfällt, auf die bereits vorhandenen entwicklungsgeschichtlichen Muster. Der Wunsch nach Verweiblichung wird durch den Zufall erweckt, als der Maler seiner Frau im Ballerinenkleid Modell sitzt. Macht der ›nordische‹ Demiurg, dem Wegener sich anvertraut, der transvestitischen Marivaudage romantischer Doppelgängerei ein Ende, klingt dabei bereits der eugenische Unterton faschistoider Biopolitik an. Für die zwittrigen Organe, die nicht genug »Raum« hätten, sei es von Vorteil, dass ihr Träger sich feminin fühle, denn dadurch erhalte er die Chance, »neue, kräftige Ovarien« (ebd.: 16) eingepflanzt zu bekommen. Im Unterschied zur Fallgeschichte Hirschfelds, der Wegeners körperliches Zwittertum dementiert (1935: 96), entsteht das transsexuelle Verlangen aus der Dramatisierung eines Strindberg’schen Geschlechterkampfs, in dem das personifizierte Weibliche obsiegt. Der Maler erkennt, dass er »in einem Körper sowohl Mann wie [Frau] war, und [letztere] dabei, die Überhand zu gewinnen« (Elbe 1932: 83). Das anzitierte Ideal platonischer Androgynie weicht dem Horror der ›multiplen Persönlichkeit‹: »In meinem siechen Körper wohnten zwei Wesen, unverwandt miteinander, feindlich einander« (ebd.: 94 f.). Verweist das masochistische Dispositiv auf jene ›Feminisierung der Kultur‹, gegen die sich die geschlechtlich übercodierte Modernekritik damals wehrte, lebt deren Schimäre noch in den mother blame-Theorien der 60er Jahre fort. Lili Elbe bescheidet sich mit einem Tonio Kröger nachempfundenen Nord/Süd-

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Gegensatz zwischen einem weichherzigen spanischen Vater und einer strengen dänischen Mutter (ebd.: 202). Elbes ›Schicksalstragödie‹ kennzeichnet ein doppelter Widerspruch: Einmal stellt sich Transsexualismus als jenes Zwittertum dar, als das ihn der medizinische Diskurs verkennend anerkennt, zum anderen wird die auto-biographische Rede nur im gesicherten Rahmen einer Biographie autorisiert, von der sie sich indes weder erzählerisch noch stilistisch unterscheidet. Dank einer meta-narrativen Schleife am Wendepunkt transsexueller Konversion wird die ›Selbsterlebniserzählung‹, um einen Jean Paul’schen Begriff abzuwandeln, als Geschichte in der Geschichte nachgetragen. Am Vorabend der Operation bittet der Biograph seinen Freund, unter Anspielung auf die Freud’sche talking cure, ihm seine Jugenderinnerungen zu erzählen. Mit dem inserierten Bekenntnis (in Ichform) erhält das Geständnis (in Erform) eine asymptotische mise-en-abîme-Struktur.

D ISKURSIVE S ERIE ( N ) Während die amerikanische Populärkultur der 30er Jahre die zweideutigen Geheimnisse medizinischer ›Science Fiction‹ in Confession Magazines trivialisierte, hinkte die autobiographische Produktion hinter einer wissenschaftlichen Erfolgsgeschichte her, die im totalitaristischen Kontext ohnehin im biopolitischen Arkanbereich verschwand. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg inszenierte sich Geschlechtsumwandlung dann als Presse-Scoop. Obwohl die sensationelle Schlagzeile von Christine Jorgensens Metamorphose (»GI Becomes Blonde Beauty«) 1953 um die ganze Welt ging, ließ ihre Personal Autobiography (1967), eine Huldigung an technische Machbarkeit, lange auf sich warten. Nachdem der ›Fall Jorgensen‹ noch zum darwinistischen Paradebeispiel konstitutioneller Bisexualität werden konnte, hatte sich die theoretische Aufmerksamkeit in den 60er Jahren bereits vom Körper auf die Psyche verlagert. Denn die Einsicht in die Wirksamkeit des Erziehungsgeschlechts bei Zwittern einerseits und dessen völlige Unwirksamkeit bei Transsexuellen andererseits führte zur Annahme einer von der ›sexuellen‹ zu unterscheidenden ›geschlechtlichen Identität‹ (Stoller 1968). Dieses psychologische Konstrukt taucht dann mit Verzögerung auch in den zunehmend vom fallgeschichtlichen Rahmen befreiten Lebensgeschichten auf. Verwies die Korrelation zwischen apologetischen Inszenierungsformen

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und dem Erklärungsmodell des Pseudo-Hermaphroditismus darauf, dass es für Bekenntnisliteratur andere Legitimitätsbedingungen gab als für wissenschaftliche Diskurse, verabschiedete sich das »transsexuelle Phänomen« erst mit Harry Benjamins gleichnamigem Pionierwerk (1966) von seinen (homo)erotischen Konnotationen. Doch bedurfte es noch der Popularisierung des Fachdiskurses, bevor ›affekt-engagierte‹ Betroffenheitsentwürfe das transsexuelle Syndrom als autonome Identitätsproblematik darzustellen wagten (Morris 1974). Dabei verdankte sich wachsendes Selbstexpertentum oftmals Verfahren der Komplexitätsreduktion. »Mühelos« etwa appliziert eine Lehrerin das Freud’sche »Denkmodell«: Ihr transsexuelles Ich schleppe »den Riesenfindling Über-Ich«, nämlich soziale »Rollenzwänge«, auf dem »Rücken«, während seine »Füße im Es Wurzeln« schlügen, bis das Ego zwischen diesen »beiden Supermächten« zermalmt würde (Anders 1984: 78 f.). Eine der Oral History verpflichtete »soziologische Biographie«, die die aus qualitativen Interviews gewonnene Lebensgeschichte zum Testfeld für die interaktionistische Labelling-Theorie macht, relativiert ihren Objektivitätsanspruch nicht nur durch die unreflektierte Auswahl, Anordnung und Semantik der Daten, sondern auch aufgrund der anti-psychiatrisch orientierten Solidarität zwischen Forscher und Beforschtem. Fazit ist ein Menschenrecht auf Selbstetikettierung, sollte sie auch tautologisch ausfallen: »I am what I am« (Bogdan 1974: 211). Zuweilen erstarrt die transsexuelle ›Odyssee‹ zum populärwissenschaftlichen Thesenroman, dessen klischeehafte Sequenzen der bloßen Illustration theoretischer Lehrsätze dienen. So heißt es im Report über eine Geschlechtsumwandlung: »Mein Körper ist der eines Mannes. Aber meine Seele ist die einer Frau« (Geibel 1983: 14). Die Paraphrase lautet: »Transsexuelle identifizieren sich psychisch völlig mit dem anderen Geschlecht« (ebd.: 21). Sowohl auf der Ebene der (auto)biographischen Gattung als auch auf jener der Lebensgeschichte werden transsexuelle Narrationen zu einem Arsenal kanonischer Muster, das von gruppentypischer Kollektivsymbolik, etwa der beliebten Reise-Metapher, bis zur Anekdoten-Sammlung reicht. Obwohl sich die Texte voneinander unterscheiden, besteht ihr triadischer Minimalverlauf aus dem Stadium der (Selbst)Erkenntnis, einer Phase konfliktuöser Normalisierungsversuche und der Durchsetzung der Geschlechtskorrektur. Die Vorher/Nachher-Achse der Operation wirkt schon durch ihr Vergleichspotential sinnbildend. Monoperspektivisches Erzählen aus der Rückschau hat wohl deswegen Vorrang vor szenischer Präsentation oder gar moderni-

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stischer Polyphonie (Dee 1974), weil es die Monomanie vor Infragestellung bewahrt. Dabei verstärkt die kommentatorische Ansteckung der Erzählung deren Entelechie. Meist am emplotment offizieller Leitsymptome (Sigusch u. a. 1979) ausgerichtet, folgen die Texte keinem gemeinsamen Kausalschema. Transsexuelle Herkunftsmilieus, Familienromane und Berufswege differieren ebenso voneinander wie die Vielfalt sexueller Orientierungen. Angewandte Erklärungsmodelle werden nur selten kontextualisiert. »Für Transsexuelle soll gelten, dass sie eine [...] fatal enge Beziehung zu ihren Müttern gehabt hätten. Unter diesem Aspekt passt mein Fall nicht ins klassische Schema, denn ich fand meine Mutter kalt«, kritisiert Nancy Hunt (1978: 49 f.) die beliebte Prägungstheorie Robert Stollers. Sylviane Dullak, die sich als Arzt selbst kastrierte, verteidigt ihre neuro-endokrinologische These transsexueller Selbstschöpfung mithilfe eines Katachresen-Mäanders, dessen Bildbruch-Kaskaden Baron Münchhausen alle Ehre gemacht hätten: »Seit einigen Jahren konstruiere ich eine Frau auf den Ruinen dessen, was ein faktischer Mann gewesen ist. Mir war nur mein Gehirn geblieben. Diesem Organisationszentrum gelang es, alle nötigen Bestandteile zum Aufbau eines seiner Natur entsprechenden Körpers zu entdecken. Ich musste diesem herrlichen Generator nur noch den ihm gemäßen Treibstoff liefern, den ich nach seinen eigenen Direktiven ausgemacht hatte« (Dullak 1983: 170). Die Tatsache, dass Transsexuelle viel häufiger autobiographisch tätig werden als die Mehrheit der Bevölkerung, nämlich ca. 1% der Operierten, ließe sich als Fortsetzung einer Überzeugungsmission begreifen, die das Messer gegen die Feder eintauscht. In dem Maße, wie das transsexuelle Paradox vom lebensgeschichtlichen Diskurs durch verzeitlichende Narrativierung, vom Expertenkommentar durch Ebenendifferenzierung aufgelöst wurde, ging die Medikalisierung des Geschlechtswechsels mit dessen massenmedialer Banalisierung einher. Inzwischen werden Treue und Transparenz des vécu schlicht vorausgesetzt. So entproblematisiert Catherine Rihoit ihre Ko-Autorschaft: »Jeanne ist eine absolut authentische Person. Doch sie ist keine Literatin, sie braucht Hilfe. Ich kann nun nicht mehr anders, als dafür da zu sein. Es handelt sich nicht um Phantasiearbeit. [Denn] nun gibt sie vor, was ich anzuordnen habe. Und zu verstehen. Nicht zu beurteilen« (1980: 13, 18). In diesem »biographischen Spiel zu zweit« (Bollème 1983: 33), dessen hypnotisches Moment in der transsexuellen Spaltung gründet, wird die ›leere Rede‹ des Subjekts durch eine Überredung gestützt, die auf

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Macht und Wissen beruht. Dem Meisterdiskurs entrinnen die ideologiekritischen Selbstreflexionen der 70er Jahre ebenso wenig wie die postmodernen Patchwork-Biographien im Umkreis einer transgender-Bewegung, die die Inklusion aller geschlechtlichen Minderheiten zum Programm erhebt. »We’re moving from perverts to experts«, spottet Kate Bornstein (1995: 241). Sind selbstanalytische Ambitionen der Politisierung gewichen, läuft die Ausdifferenzierung des Genres auf thematische Zerfransung, ästhetisierende Fiktionalisierung und ironische Dekonstruktion hinaus. Doch die satirische Abwehr bezieht sich stets auf das, was sie zu parodieren gedenkt: »I know that I am not a man [...] and I’ve come to the conclusion that I’m probably not a woman either« (ebd.: 8). Bornsteins ästhetisches Manifest endet bei der klassischen Avantgarde: »My identity as a transsexual lesbian [is] based on collage [...]. Sort of a cut-and-paste thing. And that’s the style of the book.« (Ebd.: 3) So weicht das pluralistische Credo inzwischen der Sehnsucht nach einer Welt ohne Geschlechter (Monro 2005: 11). »It’s hard to cross a boundary that keeps moving.« (Bornstein 1995: 52)

ASYMMETRIE

DER

G ESCHLECHTERDIFFERENZ

Die Trends zur Vervielfältigung bzw. Neutralisierung der Geschlechterdifferenz bewegen sich in einem Spannungsfeld von Konformismus und Transgression, das von einer geschlechtsspezifischen Asymmetrie markiert bleibt. Wenn die Verwirklichung eines emanzipatorischen Wunsches nach chirurgischer Vermännlichung zunächst nur im Schauerroman vorkam (Ewers 1929; Shérol 1930), tut sich darin das maskulinistische Imaginäre eines Damenopfers kund. Legitimierte man die Kastration von ›Sexualneurotikern‹ mit der Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft, versagte man sie der um Brustabnahme bettelnden Hysterikerin (Mühsam 1926: 452). Das doppelte Maß, mit dem männliche und weibliche Bittsteller gemessen wurden, erklärt den verschobenen Schreibeinsatz jedoch nur teilweise. Denn während virilisierte Zwitter ihre Lebensgeschichten seit der Jahrhundertwende publizierten, wurde die erste Autobiographie eines genuinen Frau-zuMann-Transsexuellen erst 1975 veröffentlicht. Wäre die nachhaltige Verdrängung der ›Transmänner‹ vielleicht noch ein Zeichen dafür, dass die viel zitierte ›Krise der Moderne‹ um 1900 (vgl. Le Rider 1990; Runte/Werth 2007) in ihrem metaphorischen Kern mit einer Recodierung der Geschlech-

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terdifferenz einherging? Im Rahmen diskursübergreifender zeitgenössischer Debatten äußerte »sich der Aspekt der Dekonstruktion einer allgemeinen Kultur, die nun als männlich-partikulare sichtbar wird, in der Diskursfigur einer drohenden Verweiblichung und Vergeschlechtlichung des männlichen Individuums«. Die »Pathologien« der Moderne wurden »allerdings in einer eigentümlichen Verkehrung mit dem – weiblichen – Geschlecht assoziiert«, so dass das Schlagwort von einer »Feminisierung der Kultur« zum »phantasmatische[n] Leitmotiv« (Bublitz 1998b: 22) avancierte, das zwar Angst auslöste, aber auch ein utopisches Potential barg. Doch während »der Mann als Individuum zum Menschen verallgemeinert« wurde, sahen sich Frauen seit dem »Ende des 19. Jahrhunderts als Gattungswesen ontologisiert« und als ›pervers‹ etikettiert, sobald sie ihre traditionellen Rollen »als Hausfrau, Mutter und Gattin« (ebd.: 36) überschritten, schlimmstenfalls auf dem Wege einer ›Vermännlichung‹, die gar in eine ›Geschlechtskorrektur‹ hätte münden können. Inzwischen sind die publizistisch lange Zeit unsichtbar gebliebenen ›Neo-Männer‹ längst als (literarische) Autoren (z. B. Julian Schutting) oder Transsexualismus-Forscher (z. B. Jannick Brauckmann) anerkannt, denn ihr mimetischer Gestus re-symmetrisiert eine Differenz. Die Doppelbiographie über den Geschlechtswechsel eines transsexuellen Paares, das vorher noch schnell ein Kind zeugte, betont das egalitaristische Projekt. Um keiner der beiden Perspektiven Vorrang zu geben, werden die jeweiligen Lebensphasen alternierend in der dritten Person wiedergegeben, entscheidende Erfahrungen aber in direkter Rede vergegenwärtigt. So erinnert sich die Ex-Frau an ihre erste Begegnung mit ihrem Ex-Mann: »[W]as it a man? Somehow the person I was looking at […] seemed more like a woman. He attracted me as a woman might, not like a man at all«. Und im Echo des Ex-Mannes kehrt die Rede des Anderen umgedreht zurück: »But then I was struck by one thought – it’s not a she! It’s a guy! […], I felt certain she was a man.« (Brown/Johnson 1982: 98 f.) Die Reziprozität dieses intuitiven Wissens wird im Vorwort vor-geschrieben: »From the first it seemed totally natural to regard them as the man and woman they sought [sic] to be« (ebd.: s. p.). Trotz dieser Spiegelbeziehung zwischen den Geschlechtern differieren die Selbstzeugnisse zumindest in einem Punkt: Bei Frauen äußert sich transsexuelles Begehren (fast) nie in Gestalt einer männlichen Zweitperson oder gar deren Dramatisierung zum Alter Ego (vgl. Ulrich/Karsten 1994). Wäre der phallische Signifikant, den Transsexuelle – Jacques Lacan zufolge – mit

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einem Organ verwechseln, nur durch DIE Frau, die es nicht gibt, zu realisieren (vgl. Millot 1983)? So könnte man mit Hannelore Bublitz resümieren, dass die »Kultur der Moderne« gleichsam »auf zweifache Weise ein weibliches Geschlecht« erhält, zum einen »als ›kulturelle Verweiblichung‹ durch gesellschaftliche und politische Emanzipationsbestrebungen […] der Frauen«, zum anderen »in Form der Verkörperung des Weiblichen in männlichen Geschlechtskonstrukten und deren individuelle Applikation in Geschlechtsidentitäten, was sich« im 20. Jahrhundert nicht nur durch »Erscheinungsformen des nervösen und des hysterischen Mannes« (Bublitz 1998b: 45), sondern auch im Diskursereignis des ›transsexuellen Phänomens‹ (Harry Benjamin) manifestierte.

G ENDER ( S ) – G ENRE ( S ): AUTOBIOGRAPHISCHE P ROSOPOPOIIE Verbindet sich im Transsexualismus das Skandalon vermeintlicher Grenzüberschreitung mit der Irritation einer Alltagsevidenz, ist die emblematische Formel des metaphysischen Körper/Seele-Dualismus in klinische wie juristische Kriterienbildung eingegangen. Darin, dass sich die Diagnose des Patienten in der Behandlung verwirklicht, liegt die performative Schnittstelle medizinischer und biographischer Diskurse. Insofern waren transsexual narratives einer doppelten Normalisierung unterworfen, die sich im Rahmen der Geständnishermeneutik verstärkte, einmal ihrer Verwissenschaftlichung, zum anderen (auto)biographischen Dispositiven, deren totalisierender Zug dem theoretischen Wahrheitsgestus entspricht. Doch Brüche mit Genre-Konventionen oder semantische Inkohärenzen, aber auch eine Rhetorik von Lücke und Exzess, verweisen auf die Spuren traumatisch bedingter Entstellung. Obwohl der sexuierte Körper für Transsexuelle ein sie travestierender Todfeind ist, wird er selten zum Ort psychosomatischen Geschehens. Vielmehr erscheint Leiblichkeit als quasi-fotografische Überblendung zweier Phantasmen, eines entsexualisierten ›Rumpfkörpers‹ mit jenem der Idealzüge des anderen Geschlechts, dem glorifizierten Zukunftskörper. Dieses immaterielle Sandwich-Foto (Runte 1999), eidetisches Pendant des Sandwich-Diskurses, realisiert sich in quasi-mystischen Spiegelszenen: »Endlich kann ich mich wirklich von innen heraus kontemplieren, und dieses Innere passt zum äußeren Bild, so dass ich mich an diese

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Spiegelung meiner selbst klammere, um nicht vor Rührung abzustürzen« (Marin 1987: 28 f.). Endet die Organphobie, die sich gegen das aufgepfropfte ›Zuviel‹ richtet, mit der postoperativen déjà vu-Euphorie, so erscheint die ›gestaltistische‹ Fixierung als Indiz einer Verwerfung der geschlechtlichen Endlichkeit, d. h. der symbolischen Kastration, die als Bitte um eine reale aus der Realität wiederkehrt (Runte 1996: 184 ff.). Im morphing besiegelt das Spiegelphantasma den Kurzschluss zwischen Ich und Idealich. Wird visuelle Angleichung daher zur »Affäre zwischen sich und sich« (Marin 1987: 27), triumphiert der Besitz des Selben über Alterität: »Die Frau hatte sich, sich selbst« (Freyberg 2003: 152). Trotzdem weckt die transsexuelle Schwellenerfahrung Leiden am Geschlechtsgedächtnis und löst zuweilen eine sexuierte Weltwahrnehmung aus, die an die Memoiren des Präsidenten Schreber gemahnt: »Monatelang machte ich seltsame Erfahrungen durch, z. B. im Supermarkt, wo ich begann, Lebensmittel geschlechtlich einzuordnen. So zögerte ich, ein Müsli-Paket mit der Aufschrift Cheerios zu kaufen, weil sein Markenname mir zu männlich vorkam, als ob ich Angst gehabt hätte, rückwärts wieder über die Grenze zu stolpern« (Conn 1974: 175 f.). Brüsten sich Transsexuelle wie einst der Seher Tireisias damit, »beide Ufer kennen gelernt [zu] haben« (Freyberg 2003: 21), wird diese Nobilitierung durch den Einbruch eines Dritten ver/stört, der die Einheit als mémoire involontaire bedroht: »Lilis Augen sind Maleraugen geworden. Und sie erschrickt: ›Das sind nicht meine, das sind Andreas‹ Augen ... Ist er denn noch nicht tot in mir?« »Wie ein Brückenbauer komm ich mir vor. [Doch] ich muss die Brücke freischwebend nach dem anderen Ufer hinüber bauen. Und dann weiß ich oft nicht, ob das andere Ufer das Vergangene oder das Zukünftige ist« (Elbe 1932: 133, 217 ff.). Kompensierte die autobiographische Form also die transsexuelle Spaltung? In dem Maße, wie die lebensgeschichtliche »Zwei-Ebenen-Struktur« (Link-Heer 1988: 63) die dreifache Dichotomie der Zeit (Erzählen/Erzähltes), der Handlung (Geschichte/Sprechakt) und des Subjekts (Erzähler/Protagonist) umschließt, bewirkt die Verschränkung des »temporalen Totalisierungsschemas« mit aktantiellen Konstrukten die »Transformation von Kontingenz in Kohärenz« (ebd.: 56). Und unter pragmatischen Aspekten zeigt das ambige Genre des vécu, dass der ›autobiographische Pakt‹ (Lejeune) auch simuliert werden kann, ohne seine Effizienz einzubüßen. Da der kontraktualistische Ansatz aber die transzendentale Frage nach dem

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Verhältnis von textueller und außertextueller Autorität offen lässt, hat Paul de Man die Autobiographie als eine »Lese- und Verstehensfigur« begriffen. Wird die »Struktur wechselseitiger Reflexion« der beiden an ihrem Konstitutionsprozess beteiligten Subjekte, »die einander gegenseitig durch gemeinsame reflexive Substitution bestimmen«, zu einem »inneren Textmerkmal« (de Man 1979: 134), nutzt das Autobiographische den Dualismus zwischen erzählendem und erzähltem Ich zur Theatralisierung eines temporalen Abstands, der immer schon eine Identitätsdifferenz beinhaltet (Chiantaretto 1995: 27). Die Relation zwischen Aussage- und Äußerungs-Ich wird in Transsexuellen-Zeugnissen, die diese Opposition zudem geschlechtlich formulieren, um beide Pole durch die todesähnliche Schranke der Operation für immer zu trennen, zur anthropomorphen Schize verdinglicht, jedoch nie als Dialog inszeniert. Direkte Zwiesprache mit dem einstigen Selbst bleibt ausgespart. »Lili und ich wurden zu zwei Wesen. War Lili nicht da, so sprachen wir von ihr wie von einer dritten Person. Und war Lili da, d. h. war ich nicht da, so wurde zwischen ihr und Grete von mir wie von einer dritten Person gesprochen« (Elbe 1932: 55). Im ›Fort/Da‹ von Präsenz und Absenz, das keine Aufhebung des Anderen im Selben verspricht, (ver)schließt der blinde Fleck der Selbstbeobachtung den Abgrund bewusster Bewusstseinsspaltung: »Die beiden Personen wussten immer umeinander. Ihre einzige scharfe Trennlinie bestand darin, dass die eine männlich, die andere weiblich war« (Richards 1983: 30). Doch da Allwissenheit im autobiographischen Genre ebenso unmöglich ist wie Nullfokalisierung, führt das »double jeu du double je« (Chiantaretto 1995: 242) zum Trugbild narzisstischer Selbstverschlingung: »Ich habe einen anderen gesucht, der der/selbe war. Er und ich, wir tauschten die Krawatten und die Rollen. Trans-, sicher, von dieser Silbe habe ich geträumt. Über mich gebeugt, nenne ich mich: Narziss! Bin ich es?« (Murail 1985: 37 f.) Der Leser wird zum Zeugen eines melancholischen Selbstverhältnisses, in dem das frühere Ich den Status eines immer schon ›verlorenen Objekts‹ gewinnt. Dagegen hilft nur ein makabrer Amoklauf, wie ihn Hans Heinz Ewers in seiner Novelle »Das andere Ich. Der Tod des Baron Jesus Maria von Friedel« (1928) imaginiert, wo ein Transvestit sich gleich zweimal erschießt, als Frau und als Mann. Inkarniert die Prosopopoiie, als »Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität«, die Trope der Autobiographie, »durch die jemandes Name [...] so erinnerbar wird wie sein Gesicht«, bleibt sie als Sprachfigur stumm wie ein Bild (de Man 1979: 140 f.). Nicht

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umsonst greift Vera Freyberg zur Metapher des Klons, um das post-transsexuelle Unbehagen zu dämpfen. Sitzt das Individuum »Vera« bis zuletzt »zwischen den Geschlechtern« (Freyberg 2003: 245), versinnbildlicht sein Klon »Verus« deren Harmonie, denn die »ältere« Neo-Frau sei nunmehr »Kopie jenes Werner, den sie, den er nie lieben konnte«, aber »inzwischen« »liebt« (ebd.: 247). So wird das »Geschlechts-los« der Lebenslotterie zum »Hauptgewinn« (ebd.: 250) einer parthenogenetischen Geschlechts-losigkeit. Ist Selbstschöpfung eine Metapher für Mord, »entstellt« die »Wiederherstellung der Sterblichkeit durch die Autobiographie [...] genau in dem Maße, wie sie wiederherstellt« (de Man 1979: 145).

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Das mann-menschliche Individuum Paradoxe Konstruktionslogiken moderner Männlichkeit1 S ABINE M EHLMANN

E INLEITUNG Im Mittelpunkt des Beitrags stehen zwei zentrale Konstruktionsmodi moderner Männlichkeit: die Konstruktion des Mannes als ›überlegenes‹ Geschlecht und die des Mannes als geschlechtsneutralem Menschen (vgl. Klinger 2005: 334). Beide haben – so Cornelia Klinger – in ihrer Verknüpfung wesentlich zur Fundierung und Stabilisierung der hegemonialen Position des Männlichen in der Geschlechterordnung beigetragen. Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die historische Genese dieser beiden Konstruktionsmodi und die darin eingelassenen ›internen‹ Paradoxien sowie ihre geschlechtertheoretische Einbettung werfen. Ausgehend von der ›paradoxen Sexuierung‹ des mann-menschlichen Individuums im medizinisch-anthropologischen Diskurs über die Geschlechtscharaktere zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet sich der zweite Abschnitt der ›paradoxen Sexualisierung‹ der Geschlechterdifferenz am Beispiel der Evolutionstheorie und der Sexualpathologie im letzten Drittel des 19. Jahr-

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Der vorliegende Beitrag ist eine leicht ergänzte Fassung eines Textes, der erstmalig unter dem Titel »Das sex(ualis)ierte Individuum – Zur paradoxen Konstruktionslogik moderner Männlichkeit.« In: Ulrike Brunotte, Rainer Herrn, (Hg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007: transcript, S. 37-56 erschienen ist. Wir danken dem transcript-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.

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hunderts. Im Mittelpunkt des letzten Abschnitts stehen die Geschlechtertheorien Otto Weiningers und Sigmund Freuds, die im Zeichen einer sich um 1900 zuspitzenden ›Erosion‹ der Geschlechterordnung und ihrer legitimatorischen Naturbegründung stehen (vgl. Schäffner 1995; Runte 1996; Schäffner/Vogl 1998; Bublitz 2000; Bublitz 2001). Der Fokus der Betrachtung liegt auf den Akzentverschiebungen und Verlagerungen, die sich sowohl in Bezug auf die beiden Konstruktionsmodi »männlicher Hegemonie« (Meuser/Scholz: 2005)2 als auch im Hinblick auf die zugrunde liegenden geschlechtertheoretischen Paradigmen ergeben: Der bei Weininger und Freud in je unterschiedlicher Weise begründete ›Paradigmenwechsel‹ von einer biologischen zu einer psychologischen Begründung geschlechtlicher Identität wird vor diesem Hintergrund als ›Umschrift‹ einer zweigeschlechtlich und asymmetrisch-hierarchisch strukturierten Geschlechterdifferenz betrachtet: Hier zeichnet sich eine »Vergeschlechtlichung«3 des mann-menschlichen Individuums (Mehlmann 1998:

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Meuser und Scholz führen den Begriff »männliche Hegemonie« ein, um die »Produktion, Reproduktion, aber auch Transformation männlicher Macht« zu fassen, die auf der »Dominanz männlicher Wert- und Ordnungssysteme, Interessen, Verhaltenslogiken und Kommunikationsstile etc.« basiert. Bei aller Unterschiedlichkeit liegt, so Meuser/Scholz, der gemeinsame Kern dieser sozialen Praxen darin, dass »das Männliche [...] als Norm und gegenüber dem Weiblichen als überlegen« (Meuser/Scholz 2005: 223) gesetzt wird. Im Unterschied zu Connells Konzept »hegemonialer Männlichkeit« (Connell 1999), das – so die Kritik – »die symbolische Mächtigkeit der Vorstellung von der männlichen Überlegenheit« (Meuser/Scholz 2005: 224) verkenne, wird im Rekurs auf Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt die Wirkungsmacht der naturalisierten hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit akzentuiert, in die diese Vorstellung bereits eingeschrieben ist. Als ein weiteres zentrales Moment der Reproduktion männlicher Hegemonie bestimmen Meuser/Scholz – mit Simmel – die »Hypostasierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen«, welche die Herrschaft von Männern »als Herrschaft unkenntlich macht und einer Wahrnehmung als geschlechtlich markiert entzieht.« (Ebd.: 225)

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Der Begriff der ›Vergeschlechtlichung‹ zielt hier speziell auf die explizite Konstruktion des Mannes als Geschlechtswesen. Der im Folgenden ebenfalls verwendete Begriff der ›Sexuierung‹ bezieht sich demgegenüber allgemeiner auf die geschlechtliche Codierung von Körper, Psyche und sexuellem Begehren.

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97, vgl. hierzu ebenfalls Bublitz 1998; Klinger 2008) ab, welches seinen hegemonialen Anspruch nunmehr als erstes Geschlecht behauptet.

›P ARADOXE ‹ S EXUIERUNG Die Kritik feministischer Philosophinnen am Androzentrismus moderner Rationalitäts- und Subjektkonzeptionen hat aufgedeckt, »dass sich hinter den vorgeblich auf das geschlechtsneutrale Menschliche beziehenden Positionen männliche Perspektiven und Interessen verbergen bzw. umgekehrt formuliert, dass im Konzept ›des Menschen‹ der weibliche Mensch nicht oder nur in höchst prekärer und sekundärer Weise enthalten ist.« (Klinger 2005: 334) Mit der Konzeption des geschlechtsneutralen bürgerlichen Vernunftsubjekts, die sich im philosophischen Diskurs der Aufklärung formiert, wird der Mann als alleiniger Träger von Wissen und Erkenntnis und als Begründer moralischer Werte eingesetzt, während die Frau – metaphorisch und faktisch – aus dem Bereich der selbstreflexiven Vernunft ausgeschlossen und in den Bereich der Familie zur Reproduktion der Gattung verwiesen wird. Die Gestaltung von Gesellschaft und Geschichte nach Maßgabe der Vernunft wird damit zum geschlechtlichen Privileg des männlichen Menschen, ein Privileg, das jedoch nicht als geschlechtliches thematisiert wird bzw. werden muss. Die universalistische Konzeption des selbstreflexiven Subjekts konturiert sich im Kontrast zur Markierung der Frau als Geschlechtswesen – die Bestimmung des Mannes als ›allgemeinmenschliches‹ Individuum stützt sich auf die Verschiebung alles Geschlechtlich-Partikularen auf die Frau. Das ›Besondere‹ des MenschenMannes besteht demgegenüber in seiner Entbindung vom Geschlecht, dem die vergeschlechtlichte Frau als Negativfolie gegenübergestellt wird. Im Horizont des Konzepts der Geschlechtscharaktere, das im medizinisch-anthropologischen Diskurs an der Wende von 18. zum 19. Jahrhundert ausgearbeitet wurde, wird diese asymmetrisch-hierarchische Differenzkonstruktion, die der Unterscheidung Individuum Mann/Geschlechtswesen Frau folgt, biologisch fundiert. Die Neubegründung der »Ordnung der Geschlechter« (Honegger 1991), die nicht zuletzt aufgrund des aufklärerischen Postulats einer als Naturrecht verankerten Gleichheit aller Menschen notwendig wurde (vgl. Hark 1999: 84), stützt sich – wie Thomas Laqueur (1992) gezeigt hat − auf das neue Modell einer radikalen

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Verschiedenartigkeit und Unvergleichbarkeit der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane. Die Konstruktion des Körpers als »erzeugungsmächtiger ›Analogien-Operator‹« (Honegger 1991: 8), aus dessen geschlechtsspezifischer Organisation die Geschlechtscharaktere von Männern und Frauen und deren soziokulturelle Bestimmung nur noch abgelesen werden müssen, basiert – so Claudia Honegger – auf einer epistemologischen Wende in der Thematisierung ›des Menschen‹ durch die Humanwissenschaften. Dabei wird der Körper nicht nur als psycho-physische Einheit aufgewertet, sondern »zum Ursprungsort einer diffusen, dunklen und dennoch zwingenden Kausalität, die die organischen Gegebenheiten in psychische und moralische Qualitäten [der Geschlechter] übersetzt.« (Schäffner/Vogl 1998: 224). Im Mittelpunkt des Diskurses über die Geschlechtscharaktere stehen jedoch vor allem die ›Besonderheiten‹ des weiblichen Geschlechts, das als Abweichung von der Norm des – männlichen – Menschen entworfen wird. Während die ›Organisation‹ des weiblichen Körpers als von Schwäche und Sensibilität durchdrungen charakterisiert ist, wird aus der Konstitution des männlichen Körpers »neben der kraftvollen, der Stärke der Organe geschuldeten Fähigkeit zur Weltveränderung […] die […] Überlegenheit des Verstandes zur Wirkung auf die Natur und die übrigen lebenden Wesen« (Honegger 1991: 159) abgeleitet. Die aus der Struktur und Funktion sexuierter Körper abgelesene hierarchische Differenz der Geschlechter assoziiert Mann und Frau zugleich auf unterschiedliche Weise mit dem Geschlechtlichen (vgl. Bührmann 1995): Während die Frau aufgrund ihrer körperlichen Organisation und ihrer reproduktiven Funktionen den Gesetzen des Geschlechts unterworfen ist, gelten diese Gesetze für den Mann in paradoxer Einschränkung: Gerade der männliche Körper soll jene weitgehende Entbindung vom Geschlechtlichen ermöglichen, die den Mann qua Geschlecht zur Verkörperung des Allgemein-Menschlichen macht. Diese Gleichzeitigkeit von ›Sexuierung‹ und ›De-Sexuierung‹, die die Begründung der Geschlechtscharaktere als Einheit von körperlicher Organisation, Fortpflanzungszweck und psychisch-sozialer Bestimmung zugleich aufgreift und relativiert, wird u. a. im Rückgriff auf anatomisch-morphologische Analogien plausibilisiert: Im Unterschied zum Gattungswesen Frau, das vom Uterus bzw. später den Eierstöcken ›beherrscht‹ ist, werden die spezifische Funktion und Lage der männlichen Zeugungsorgane als Zeichen der Unabhängigkeit von geschlechtlichen Be-

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stimmungen und Begrenzungen gelesen (vgl. Honegger 1991: 198 f.; Mehlmann 1998: 105).

›P ARADOXE ‹ S EXUALISIERUNG Das Projekt der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« wird nach Karin Hausen (1976) insbesondere dadurch fundiert und abgestützt, dass das Modell einer fundamentalen Verschiedenheit der Geschlechter mit der These einer ›natürlichen‹ Komplementarität im Rahmen einer ehelich-monogamen »Liebes- und Fortpflanzungsgemeinschaft« (Soine 2002: 142) verknüpft wird. Historisch parallel zu den medizinisch-anthropologischen Diskursen über die Geschlechtscharaktere ereignet sich eine ›Diskursexplosion‹ über das ›Sexuelle‹, die sich – wie Michel Foucault (1989) gezeigt hat – vor allem auf die Abweichungen von der Norm der ehelichen fortpflanzungsbezogenen Sexualität konzentriert. Neben den Figuren des masturbierenden Kindes und der hysterischen Frau avanciert insbesondere der perverse – männliche – Erwachsene zum privilegierten Gegenstand medizinischpsychiatrischen Wissens. Darin wird die Idee eines im Körper verankerten ›natürlichen‹ Sexualtriebs als ›innere Wahrheit‹ der Individuen hervorgebracht, ein Trieb, der die Geschlechter aufeinander bezieht und zugleich voneinander unterscheidet. Die ›Sexualisierung‹ der Geschlechterdifferenz, die in ›innergeschlechtlicher‹ Dimension mit der Konstruktion von »Antitypen« (Mosse 1996) als ›Kehrseite‹ der Norm »hegemonialer Männlichkeit« (Connell 1999) einhergeht, möchte ich nun exemplarisch an zwei zentralen Diskurspositionen betrachten: Zum einen an Charles Darwins 1871 veröffentlichtem Werk Die Abstammung des Menschen, das zwar nicht explizit den ›Wissenschaften vom Sex‹ zugeordnet werden kann, in dem sich aber gleichwohl jene Wendung zum ›Sexuellen‹ spiegelt; zum anderen an Richard von Krafft-Ebings erstmals 1886 erschienener Psychopathia sexualis, die zum Standardwerk der Sexualpathologie des 19. Jahrhunderts avanciert.

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Darwin: Geschlechtliche Zuchtwahl als Modus geschlechtlicher Differenzierung In der Evolutionstheorie Darwins wird die geschlechtliche Differenzierung in eine umfassende Theorie der Entstehung der Arten integriert, welche die Genealogie des Menschen einschließt. Die ›Polarisierung der Geschlechtscharaktere‹ wird darin als Ergebnis optimierender Ausleseprozesse bestimmt, die als Werk einer durch Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit charakterisierten ›Natur‹ erscheinen. Im Rahmen des Konzepts der geschlechtlichen Zuchtwahl erhält Sexualität einen zentralen Stellenwert: Hier wird ein kausaler Zusammenhang zwischen sexueller Begierde, Fortpflanzungsauslese und evolutionärer (Höher-)Entwicklung einerseits und der Ausbildung der sog. sekundären körperlichen und geistigen Geschlechtsmerkmale4 andererseits hergestellt. Im Unterschied zur natürlichen Zuchtwahl, die nach Darwin auf dem Erfolg beider Geschlechter im ›Kampf ums Dasein‹ basiert, wird die geschlechtliche Zuchtwahl als Kampf um die besten Fortpflanzungschancen zwischen rivalisierenden Männchen einer Spezies charakterisiert. Die Aktivität des mit dem ›Brutgeschäft‹ betrauten Weibchen bleibt demgegenüber auf die Wahl des am besten ausgestatteten Männchens beschränkt, das seine superioren Eigenschaften auf dem Wege der Vererbung weitergibt und so zur »Verbesserung der natürlichen Rassen« (Darwin 1951: 220) beiträgt. Die Optimierung zweckmäßiger (Spezies-)Merkmale durch sexuelle Selektion wird damit an das männliche Geschlecht gebunden. Im Rahmen dieser ›männlichen Genealogie‹, die auf der »heißere[n] Begierde« (ebd.: 232) der männlichen Exemplare bei (fast) allen Tierarten gründet, wird die Entwicklung körperlicher und geistiger Unterschiede zwischen den Geschlechtern als »permanente Steigerung der ›Männlichkeit‹« (Bergmann 1998: 108) konzipiert, die sich im Laufe der Evolution von einer mit ›Kindlichkeit‹, ›Indifferenz‹ und (primitiver) ›Ursprünglichkeit‹ assoziierten Weiblichkeit abzuheben beginnt (vgl. Darwin 1951: 556). Hier nimmt Darwin allerdings eine bemerkenswerte Einschrän-

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Im Unterschied zu den primären Geschlechtscharakteren, die die Fortpflanzungsorgane bezeichnen, bezieht sich der Begriff der sekundären Geschlechtscharaktere auf alle weiteren körperlichen und geistigen Geschlechterdifferenzen, »die mit dem Fortpflanzungsakt in keinem direkten Zusammenhang stehen.« (Ebd.: 216)

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kung vor: Während er »die bedeutendere Größe, Kraft, Kühnheit, Kampflust und Energie« (ebd.: 602) auf die geschlechtliche Zuchtwahl zurückführt, wird die Entwicklung ›höherer‹ geistiger Fähigkeiten wie »Beobachtung, Verstand, Erfindungsgabe und Phantasie« (ebd.: 562 f.) mit der Funktion des Mannes als Ernährer und Beschützer der Familie verknüpft und in den Kontext der natürlichen Zuchtwahl gestellt. Darüber hinaus hebt Darwin hervor, dass sich die sexuelle Rivalität beim Mann in Folge des Zivilisationsprozesses abgeschwächt habe. Gleichwohl unterliege dieser »in der Zeit seiner Mannbarkeit, wenn er für sich und seine Familie zu sorgen hat, einem harten Kampf ums Dasein […]; das aber wird dazu führen, dass sich seine geistigen Fähigkeiten erhalten oder gar noch vermehren, worauf die jetzige Ungleichheit der Geschlechter beruht.« (Ebd.: 564) Bezogen auf den organischen Sitz jener geistigen Überlegenheit, nimmt Darwin an, dass diese vor allem im ›absolut größeren‹ (vgl. ebd.) Gehirn des Mannes ihren Niederschlag gefunden hat. Die über die Größe des ›Kulturorgans‹ bestimmte Differenz und Hierarchie zwischen den Geschlechtern wird dabei zugleich als Kriterium für die Hierarchisierung von Rassen bzw. von ›zivilisierten‹ weißen und ›unzivilisierten‹ schwarzen Männern eingesetzt. Darwin stützt sich dabei auf eine zentrale Hypothese der auf Gehirnvergleiche und Schädelmessungen spezialisierten anthropologischen Forschung, wonach der »Unterschied der Geschlechter in Bezug auf die Schädelhöhle mit der Vervollkommnung der Rasse zunimmt, so dass der Europäer weit mehr die Europäerin überragt, als der Neger die Negerin.« (Ebd.: FN 431) In geschlechtertheoretischer Perspektive verweist Darwins phylogenetische Argumentation, die den ›indirekten‹ Einfluss des Nervensystems auf die »progressive Entwicklung zahlreicher körperlicher und gewisser geistiger Eigenschaften« (ebd.: 431) hervorhebt, auf eine Entkoppelung anatomischer und psychophysischer Geschlechtscharaktere. Für die Ontogenese wird jedoch der Einfluss der Keimdrüsen auf jene im Gehirn verorteten geistigen Eigenschaften akzentuiert. Hier führt Darwin – am Beispiel des Mannes – die »Tatsache« an, dass »manche[r] unserer [!] geistigen Fähigkeiten […] bekanntlich erstens zur Zeit der Geschlechtsreife einer beträchtlichen Veränderung unterliegen und dass zweitens Eunuchen Zeit ihres Lebens in diesen Eigenschaften minderwertig sind.« (Ebd.: 563) Darwins Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl markiert eine Neuakzentuierung des Sexuellen für die Höherentwicklung der Gattung und die geschlechtliche Differenzierung, die beide auf die größere ›Begierde‹ des

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männlichen Teils der Spezies zurückgeführt werden. In dieser Perspektive ist es die Ausstattung mit den stärkeren ›Leidenschaften‹ (als Wille zur Fortpflanzung), die das ›Fortschreiten‹ der menschlichen Gattung und die Fähigkeit zur Differenzierung und Individuierung an das – überlegene – männliche Geschlecht bindet. Umgekehrt erscheint die Undifferenziertheit und ›Stagnation‹ des weiblichen Teils der Spezies als Folge seiner geringeren sexuellen ›Potenz‹. Im Kontext dieser Argumentation zeichnet sich die Tendenz zu einer ›Sexualisierung‹ des männlichen Individuums ab: Wurde im Konzept des männlichen Geschlechtscharakters die Superiorität des Mannes als Repräsentant des Allgemein-Menschlichen mit der Fähigkeit zur Transzendenz der Geschlechtlichkeit begründet, werden in Darwins Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl Triebstärke, individuelle Variabilität und Entwicklungsfähigkeit parallelisiert. Die Bedeutung der sexuellen Dominanz für die Ausprägung der geistigen Individualität (und Überlegenheit) des Menschen-Mannes wird allerdings mit Verweis auf den Zivilisationsprozess relativiert und mit Blick auf die männliche Ernährer- und Beschützerrolle als Resultat des Konkurrenzkampfes in einer »aggressive[n] Männerkultur« (Bergmann 1998: 113) konzipiert. Die im ersten Teil skizzierte Strategie einer ›paradoxen Sexuierung‹ des männlichen Körpers finden sich in Darwins Entwurf einer dominanten, viril-aggressiven, gleichwohl ›kulturtragenden‹ (weißen) Männlichkeit nur in Ansätzen: Der Hinweis auf die Vererbung, die Macht des Nervensystems sowie die Verortung der geistigen Überlegenheit des Mannes im Gehirn legt zwar eine vom anatomischen Geschlecht unabhängige Entwicklung nahe. Auf der Folie einer ›organischen‹ Verbindung zwischen Gehirn und Genitalien werden jene geistigen Fähigkeiten jedoch unmittelbar an die Funktion der männlichen Keimdrüsen gebunden.

Krafft-Ebing: (Hetero-)Sexualität als Ordnung des Geschlechts Krafft-Ebings Psychopathia sexualis markiert eine Neuordnung von Sexualität und Geschlecht im Rahmen einer fortpflanzungsbezogenen heterosexuellen Matrix, in der sich die Norm eines ›gesunden‹, d. h. reproduktionsorientierten Sexualverhaltens und die Norm einer exklusiven psychophysischen Zweigeschlechtlichkeit überkreuzen. Auf der Basis der Konstruktion

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eines wirkmächtigen sexuellen Triebes, der, über den ›bloßen‹ Gattungszweck hinausgehend, zur Grundlage des gesamten individuellen und sozialen Daseins erklärt und zugleich als beständige Gefahrenquelle für die körperliche und geistige Gesundheit der Individuen und der Bevölkerung inszeniert wird, werden sittliche, psychologische und anatomisch-physiologische Standards einer ›normalen‹ Sexualität gesetzt, die die Folie für die Ausarbeitung der ›Perversionen‹ des Sexualtriebes bilden. Sexualität und Geschlecht werden dabei auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft: An Darwins Konzept der geschlechtlichen Zuchtwahl anschließend entwirft Krafft-Ebing (1886: 4) ein ›anthropologisch-historisches‹ Stufenmodell einer zunehmenden kulturellen Versittlichung des Geschlechtslebens, das die gesellschaftliche Organisation der Sexualbeziehungen mit der Organisation der Geschlechterverhältnisse parallelisiert: Ausgehend von einer noch bei »wilden Völkern« vorfindbaren »primitiven Stufe«, auf der »die Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Menschen wie die der Thiere« erfolgte und »das Weib […] Gemeingut der Männer, temporäre Beute des Mächtigsten, Stärksten« (ebd.: 2) war, wird das bürgerliche Ideal der zum »Liebesbund zwischen Mann und Frau« verklärten ehelichen Reproduktionsgemeinschaft als höchste Stufe der zivilisatorischen Entwicklung bestimmt. Analog zur Konzeption der Geschlechtscharaktere leitet Krafft-Ebing aus der je spezifischen »sexualen Organisation« (ebd.: 10) ein ›normaler‹ männlicher und ›normaler‹ weiblicher Sexualtrieb ab. Der Charakter des Mannes wird mit einem aktiven und lebhaften Sexualtrieb, der Charakter der Frau mit einem passiven und schwächeren Sexualtrieb verbunden, dem im Unterschied zum männlichen Begehren eine eher geistige als sinnliche Qualität zugesprochen wird, die sich im ›Normalfall‹ zur Mutterliebe transformieren soll. Darüber hinaus schreibt Krafft-Ebing dem ›sexuierten‹ Sexualtrieb eine unterschiedliche Wirkungsmacht auf die Psyche zu, wobei sich für Mann und Frau eine je spezifische paradoxe Konstellation von ›Sexualisierung‹ und ›De-Sexualisierung‹ ergibt: Während er der Sexualfunktion des Mannes einerseits eine zentrale Rolle »für die Entstehung und Erhaltung des [männlichen, S.M.] Selbstgefühls« einräumt, betont er andererseits in Bezug auf die »geistige Individualität« des Mannes, dass »das Gebot der Natur nicht sein ganzes psychisches Dasein aus[füllt, S.M.]. Ist sein Verlangen erfüllt, so tritt seine Liebe temporär hinter anderen vitalen und sozialen Interessen zurück.« (Ebd.) Bei der Frau verhält es sich umgekehrt: Hier sei die Bedeutung der Sexualfunktion für das Selbstgefühl »weniger

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einschneidend«, gleichwohl mache »sich in dem Bewusstsein des Weibes das sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. Das Bedürfnis nach Liebe ist größer als bei diesem, continuierlich, nicht episodisch.« (Ebd.) In sexualphysiologischer Hinsicht geht Krafft-Ebing (ebd.: 19) von der Annahme einer funktionalen Verbindung zwischen Fortpflanzungsorganen (Keimdrüsen), spinalen Zentren und einem psychosexuellen Zentrum im Gehirn aus. Dieses psychosexuelle Zentrum wird als ›organischer‹ Sitz des Geschlechtstriebs und psychischer Geschlechtscharaktere sowie als »centrale und oberste Instanz« bestimmt, die den gesamten »sexualen Mechanismus« steuert und über »hemmende Vorstellungen« (ebd.) reguliert. Vor dem Hintergrund der Verknüpfung geschlechtlicher Identität mit der Ausrichtung des sexuellen Begehrens steigt das nicht-fortplanzungsbezogene gleichgeschlechtliche Begehren in Gestalt der sog. konträren Sexualempfindung nicht nur zum »Paradigma sexueller Perversion« (Müller 1991: 126), sondern zugleich zum Modell- und Problemfall einer pathologischen ›Verkehrung‹ der Geschlechtscharaktere5 auf, die beim Sexualtrieb beginnend, das ›ganze psychische Sein‹ erfasst und im Extremfall in einer morphologischen Annäherung an das andere Geschlecht mündet. Diese ›rätselhaften‹ Formen einer progressiven Verweiblichung bzw. Vermännlichung, die bei ansonsten völlig ›normaler‹ Gestaltung der Fortpflanzungsorgane auftreten, führt Krafft-Ebing (1886: 21) – im Horizont der Degenerationstheorie – auf angeborene oder erworbene »meist erbliche krankhafte Veränderungen des Zentralnervensystems« zurück, die als ›cerebrale Anomalien‹ im Gehirn lokalisiert werden. Bei der erworbenen Genese wird insbesondere der Onanie eine zentrale Rolle für eine ›Zerrüttung‹ der Nerven und ›Zerstörung‹ des männlichen Selbstgefühls zugeschrieben, die am Beginn einer psychosexuellen Metamorphose stehen. Im Unterschied zur Evolutionstheorie Darwins, in der die sexuelle Differenz in erster Linie quantitativ definiert wird, ist die ›Sexualisierung‹ der

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Krafft-Ebing entwickelt seine Konzeption der konträren Sexualempfindung (auch) im Rückgriff auf Karl Heinrich Ulrichs Entwurf der mannmännlichen Liebe als Merkmal einer geschlechtlichen ›Sondernatur‹, eines ›dritten Geschlechts‹. Zu Ulrichs emanzipatorischem Entwurf der Männerliebe als Ausdruck einer ›im männlichen Körper eingeschlossenen weiblichen Seele‹, der den sexualwissenschaftlichen Diskurs entscheidend prägen sollte, vgl. den Beitrag von Rainer Herrn.

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Geschlechterdifferenz in der Sexualpathologie Krafft-Ebings mit einer ›Sexuierung‹ des Sexualtriebs verbunden, der die Geschlechter entlang der Achse aktiv/passiv, Stärke/Schwäche, Sinnlichkeit/Liebe unterscheidet und in ein komplementär-hierarchisches und asymmetrisches Verhältnis zueinander setzt. Die paradoxe ›Sexuierung‹ des männlichen Individuums wird hier in eine ›paradoxe Sexualisierung‹ übersetzt: Im Unterschied zum Gattungswesen Frau, deren ganzes psychische Dasein durch die Sexualfunktion bestimmt ist, die sich jedoch nicht als sinnliches Begehren, sondern als Mutterliebe äußern soll, tritt diese beim Individuum Mann nur temporär in Erscheinung. Mit Blick auf die Stärke des männlichen Sexualtriebs erscheint die – stets gefährdete – Balance zwischen »Sinnlichkeit und Sittlichkeit« (ebd.: 5) gleichermaßen als Voraussetzung für die Kontrolle über die Frau wie für jene weitgehende geschlechtliche Entbindung, die den Mann zur Verkörperung des allgemein-menschlichen Individuums macht und zum Träger der Kultur erhebt. ›Normale‹, d. h heterosexuelle Männlichkeit muss sich jedoch nicht nur von der Frau, sondern von der ›innergeschlechtlichen‹ Negativfigur des ›verweiblichten‹ Homosexuellen abheben, die vollständig durch ihre ›verkehrte‹ Sexualität bestimmt ist. Die Konstruktion der konträren Sexualempfindung, die als ›rätselhafte‹ Inkongruenz zwischen Keimdrüsen und Gehirn codiert wird, markiert zugleich eine Erosion der anatomisch-physiologischen Begründung der Geschlechtscharaktere, die den sexuierten Körper als zuverlässigen Referenten geschlechtlicher Identität zu unterminieren droht (vgl. Heidel 2001: 304).

E ROSIONEN UND ›U MSCHRIFTEN ‹ DER G ESCHLECHTERDIFFERENZ Um 1900 spitzen sich diese Erosionstendenzen angesichts einer expansiven Vervielfältigung sexueller und geschlechtlicher Abweichungen in den sexualwissenschaftlichen Debatten über die Ätiologie von Homosexualität und Hermaphroditismus zu.6 Das Problem der ›Unzuverlässigkeit des Körpers‹

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Die Vielzahl der »Abweichungen der Natur von sich selbst« (Runte 2001: 267) wirft grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Kultur, der inneren Verbindung von Körpergeschlecht, Sexualtrieb und Psyche (vgl. Schmersahl 1998), einem gesicherten Bezugspunkt für die Bestimmung der Ge-

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(vgl. Mehlmann 2006), das sich in einer »Krise des Geschlechterwissens« (Schäffner 1995) manifestiert, erscheint dabei umso drängender, da sich zugleich eine Erosion der ›natürlichen‹ Geschlechterordnung durch die Forderungen der Frauenbewegung nach gleichberechtigter Teilhabe an Politik, Erwerbsleben und Wissenschaft (vgl. Bublitz 1998: 45) sowie durch die um gesellschaftliche Anerkennung sexueller Minderheiten kämpfende Homosexuellenbewegung (vgl. Mosse 1997: 118) abzeichnet. Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend auf die Geschlechtertheorien Weiningers und Freuds eingehen, die durch eine Verlagerung von einer biologischen auf eine psychologische Argumentation gekennzeichnet sind. Im Vergleich beider Positionen möchte ich zeigen, dass dieser geschlechtertheoretische ›Paradigmenwechsel‹ mit unterschiedlichen Strategien der Wiederherstellung eines asymmetrisch-hierarchisch strukturierten Zweigeschlechtermodells verbunden ist, die in je spezifischer Weise auf die skizzierten Konstruktionslogiken des mann-menschlichen Individuums rekurrieren.

Weininger: Sexuelle Mannigfaltigkeit und geschlechtliches ›Sein‹ In seiner 1903 erschienenen antifeministischen (und antisemitischen) Dissertationsschrift Geschlecht und Charakter sieht sich Otto Weininger (1997: V) vor die Aufgabe gestellt, die »geistigen Differenzen der Geschlechter in ein System« zu bringen. Diese Aufgabe ergibt sich für Wieninger aus dem Problem der Unbestimmtheit bzw. Unbestimmbarkeit der Geschlechterdifferenz. Weiningers psychologische Wendung ist dabei bekanntlich mit einem expliziten geschlechterpolitischen Interesse verbunden: Es geht um die Frauenfrage als zentrales »Kulturproblem« (ebd.: VII), das durch eine ›Neubewertung‹ des Wesens der Frau und deren Bedeutung im »Weltganzen« einer endgültigen Lösung zugeführt werden soll, die sich allerdings, wie Weininger im ersten biologisch-psychologischen Teil seiner Arbeit vorführt, nicht länger auf ›natürliche‹ Geschlechtergrenzen stützen kann. Hier bestreitet er die Existenz von »ein- und bestimmt-geschlechtlich

schlechtergrenzen (vgl. Schäffner 1995; Runte 1996; Bublitz 2000) sowie der Grenzen geschlechtlicher Normalität auf (vgl. Link 1997; Dornhof 1998; Mehlmann 2000; Bublitz 2001).

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zu bezeichnenden Lebewesen« (ebd.: 12) und weist die anthropologische Norm ›reiner‹ Männlichkeit und Weiblichkeit als idealtypische Konstruktion aus, die in der Wirklichkeit nicht vorkomme. Demgegenüber postuliert er ein psychophysisches Kontinuum von »unzählige[n] Abstufungen zwischen Mann und Weib« (ebd.: 9), die durch je spezifische Mischungsverhältnisse männlicher und weiblicher Anteilen (m und w) gekennzeichnet sind. Gestützt auf das Theorem einer ursprünglichen phylo- und ontogenetischen Bisexualität wird nunmehr eine ›dauernde Doppelgeschlechtlichkeit‹ zum ›Normalfall‹ des Geschlechts erhoben. Ausgehend von der konstitutiven Kopplung von Sexualität, Geschlecht und Identität, die im Horizont der sexuellen Matrix zu einem Gesetz der sexuellen Anziehung der jeweiligen männlichen und weiblichen Anteile ausgearbeitet wird, werden alle geschlechtlichen Mischformen, einschließlich der Homosexualität, als normale, nicht-pathologische Phänomene ausgewiesen. Anatomisch physiologische Basis des ›Prinzips‹ sexueller Zwischenformen, das Magnus Hirschfelds Theorie der sexuellen Zwischenstufen7 radikalisiert, ist ein Modell unzähliger Zellgeschlechter, die in ihrer sexuell-geschlechtlichen Ausprägung nicht nur graduell und lokal, sondern auch temporär variieren. Aus diesen ›sex(uali)sierten‹ Körpern lassen sich weder eindeutige und noch dauerhafte geschlechtliche Zuordnungen und Identitäten mehr ableiten (vgl. Schäffner 1995: 286). Weininger begegnet diesen Problemlagen im zweiten philosophischpsychologischen Hauptteil seines Werkes zunächst mit dem Postulat eines ›geschlechtlichen Seins‹, das als Ort des ›wahren‹ Geschlechts bestimmt wird: »Trotz allen sexuellen Zwischenformen ist der Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib.« (Weininger 1997: 98).8 Mit diesem geschlechtlichen Identitätsprinzip wird ein fixer Bezugspunkt für eine metaphysisch-ontologische Neubestimmung der Geschlechterdifferenz eingeführt, in der der (ideale) Mann (m) zum ›rein geistigen‹ Repräsentanten eines Allgemein-Menschlichen Seins erhoben, während das (ideale)

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Zu Hirschfelds Zwischenstufentheorie vgl. Herrn 2008. Weininger stützt sich bei dieser Grenzziehung auf die Figuren des/der Homosexuellen, die – auf der Folie der heterosexuellen Matrix der geschlechtlichen Anziehung – als Beleg für die (subjektive, innerpsychische) Unhintergehbarkeit des Mann- oder Frauseins (vgl. Spörri 2000: 38) und zugleich als Modell für eine Entkopplung von Physis und Psyche eingesetzt werden.

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Weib (w) demgegenüber als Verkörperung des Sexuell-Geschlechtlichen, rein materiellen Nicht-Seins entworfen wird. Basis seiner sexuellen Typenlehre, die den Mann als eigentliches ›Rätsel‹ der Geschlechterpsychologie ausweist (vgl. ebd.: 277), ist die Figur des vom Geschlechtlich-Sexuellen nur temporär affizierten männlichen Individuum, der nun allerdings die Figur einer vollständig vom Sexuellen durchdrungenen Frau gegenüber gestellt wird.9 Weininger wendet sich damit zugleich gegen eine Sexualisierung des männlichen, kulturschaffenden Geistes, die er in Darwins Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl und in den Sexualwissenschaften ausmacht. In seiner philosophischen Argumentation, in der ›Sex‹ und ›Geist‹ (wieder) als Antagonismen definiert werden, greift Weininger auf den gesamten abendländischen Bestand geschlechtlich codierter Binäroppositionen zurück, wobei w als Negation der durch das Prinzip m vertretenen – menschlichen – Charakteristika des Bewusstseins, der Seele, des Willens, der Logik und der Moral (vgl. ebd.: 378) ausgewiesen wird. Vor dem Hintergrund dieser – wie Weininger selbst einräumt – vollständigen Entwertung des Weiblichen, wird das gesamte Spektrum sexuell-geschlechtlicher Zwischenformen, das bislang als ›normal‹ ausgewiesen wurde, pathologisiert, wobei jede ›Mischung‹ mit w mit dem Stigma – sittlicher – Entartung belegt wird. Die ›Neuerfindung‹ des idealen, d. h. zugleich genialen Mannes als Raum, Zeit und Materie transzendierendes intelligibles und wertsetzendes Subjekt bildet zugleich die Folie für eine asymmetrische Neukonstruktion der Geschlechtergrenze, die wiederum mit einer für Mann und Frau je unterschiedlichen Konzeption des Verhältnisses zwischen Physis und Psyche verknüpft wird: Da Weininger (ebd.: 241) in der Seele des Mannes alle Möglichkeiten des Seins angelegt sieht, könne dieser »zur höchsten Höhe hinaufgelangen und auf tiefste entarten, er kann zum Tiere, zur Pflanze, er kann auch zum Weibe werden, und darum gibt es weibliche, weibische Männer.« Umgekehrt aber, könne »die Frau […] nie zum Manne werden.« Während Weininger das Prinzip des psychophysischen Parallelismus für den Mann außer Kraft gesetzt sieht, bleibt das Weib »[t]rotz aller Bisexualität« an ihre körperliche Geschlechtlichkeit gebunden, womit dem Emanzipationsbedürfnis der Frauen, das er auf deren männliche Anteile zurückführt (vgl. ebd.: 50 f.), wieder ›natürliche‹ Grenzen gesetzt sind.

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Zur »Neu-Entdeckung« der sexualisierten Frau um 1900 vgl. von Braun 1990: 186 f.

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Neben der ›Neubestimmung‹ der Geschlechterdifferenz spielt die Übertragung der charakterlogischen Typenlehre auf das Judentum eine zentrale Rolle in Weiningers Arbeit, wobei Misogynie und Antisemitismus in der These von der Weiblichkeit des Juden untrennbar miteinander verknüpft werden (vgl. Brunotte 2004: 109). Dem ›feminisierten‹ Homosexuellen, den Weininger im ersten Teil im Rahmen seiner Theorie sexueller Zwischenformen entwirft, wird nun der ›feminisierte‹ Jude zur Seite gestellt, dem im zeitgenössischen Diskurs ebenfalls eine zentrale Bedeutung als Negativfigur zur ›normalen‹ Männlichkeit zukommt (vgl. Mosse 1996: 98).10 Die Weiblichkeit, von der das Judentum »durchtränkt« (Weininger 1997: 409) sei, ist bei Weininger, der selbst explizit auf seine jüdische Herkunft verweist (vgl. ebd.: 406 FN 1) in zweifacher Weise bestimmt: Im Horizont seiner sexuellen Typenlehre wird der Jude in Abgrenzung zum Arier gleichzeitig als »sexuell weniger potent« und »stets lüsterner, geiler« (ebd.: 417) beschrieben. Bemisst sich das ›Weibische‹ des Juden im Vergleich zum arischen Mann am Grad der ›Virilität‹, ergibt sich die spezifische Verbindung zum ›Wesen‹ des Weibes insbesondere über die Zuschreibung des übergroßen sexuellen Begehrens, das sich im »Drang zum ›Koitus‹ und zur ›Kuppelei‹« (Brunotte 2004: 109) sowie im »Unverständnis für alle Askese« (ebd.: 110) spiegele. Im Horizont seiner philosophischen Deduktionen erscheint der ›echte‹ Jude ebenso wie das ›echte‹ Weib als ichund geistlose Wesen ohne jeden »Eigenwert« (Weininger 1997: 412), die »nur in der Gattung, nicht als Individualitäten« (ebd.: 416) leben. Spiegelt Weiningers inhaltliche Argumentation »eine von ihm in klassischer Identifikation mit dem Aggressor ›akzeptierte‹ Stigmatisierung als ›Jude‹ im Sinne der antisemitischen Propaganda« (Link 1997: 375), ergeben sich aus seinen geschlechtertheoretischen Überlegungen entscheidende Differenzen zur Rassenanthropologie: Während Weininger zunächst die Anwendung des Prinzips der sexuellen Zwischenstufen diskutiert und einräumt, dass bei über einige ›Völker‹ bzw. ›Rassen‹ »ein größeres Quantum

10 Wobei, wie Mosse mit Blick auf die vielfache Bezichtigung von Juden als homosexuell feststellt, das Bild des Juden und das des Homosexuellen einander ergänzten (vgl. Mosse 1996: 95). Diese Verbindung wird in der Person Weiningers, der nicht nur als Jude, sondern auch als Homosexueller identifiziert wurde, geradezu exemplarisch ›verkörpert‹. Vgl. hierzu den Beitrag von Jay Geller.

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von Weiblichkeit insgesamt ausgestreut« (Weininger 1997: 404) zu sein scheint, wird das Judentum im Weiteren jedoch nicht als ›Rasse‹ oder ›Volk‹, sondern als »eine Geistesrichtung, [...] eine psychische Konstitution« definiert, »welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet« (ebd.: 406). Der Konzeption der Prinzipien von m und w als platonische Ideen folgend, weist Weininger nicht nur die Vorstellung eines ›absoluten‹ Juden und eines ›absoluten‹ Christen (vgl. ebd.: 418), sondern ebenfalls die Vorstellung biologisch fixierter ›Rassencharaktere‹ und -grenzen zurück (vgl. Thorson 2000: 74 f): »Es gibt Arier, die jüdischer sind als mancher Jude, und es gibt wirklich Juden, die arischer sind als gewisse Arier.« (Weininger 1997: 407) Analog zur Weiblichkeit, die in der Seele des Mannes als Möglichkeit ›tieftster Entartung‹ angelegt ist, wird auch das Judentum als etwas entworfen, vor dem sich der arische Mann hüten müsse: »als Möglichkeit in ihm selber.« (Ebd.: 409) Gleichzeitig eröffnet die Konstruktion des von Naturgesetzen ›befreiten‹ intelligiblen männlichen Subjekts, das – so Weininger – seinen Körper im Unterschied zum ›passiven‹, (nur) durch fremden Willen formbaren Weib ›aktiv‹ nach seinem eigenen Willen schaffen und umschaffen kann (vgl. ebd.: 396), nicht nur die Option einer Überwindung des Weiblichen und der damit verknüpften Sphäre des Sexuell-Geschlechtlichen, sondern (zumindest prinzipiell) auch des ›Jüdischen‹ (vgl. ebd.: 438). Diese nunmehr als moralischer Imperativ formulierte Option wird schließlich mit der – eingeschlechtlichen – Vision eines ›reinen‹, d. h. am christlich-asketischen Ideal der Keuschheit orientierten (männlichen) Menschen verknüpft (vgl. ebd.: 456 f.).11

11 Mit Blick auf Weininger selbst, der nach Erscheinen seines Werkes Selbstmord beging, lässt sich diese Konstruktion als Versuch der Abwehr eines doppelten – mit Verweiblichung assoziierten und am bzw. im Körper verankerten – Stigmas des feminisierten homosexuellen Juden lesen. Weiningers ›Bruch‹ mit der biologischen Begründung der Geschlechtscharaktere stellt sich in dieser Perspektive auch als ein Versuch der Einschreibung in das Modell der hegemonialen, d. h. hier: christlich-arischen Männlichkeit dar. Für diesen Hinweis danke ich Ulrike Brunotte.

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Freud: Geschlechterdifferenz und psychosexuelle Entwicklung Anders als bei Weininger, der auf das Problem geschlechtlicher ›Grenzüberschreitungen‹ fokussiert, stehen in Freuds erstmals 1905 veröffentlichten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die ›außerordentliche‹ Verbreitung und Mannigfaltigkeit sexueller Abirrungen im Vordergrund, die die ›Natur‹ des Sexualtriebs im Sinne eines angeborenen Fortpflanzungstriebs (vgl. Freud 1905: 47) ebenso wie die Möglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen in Frage stellen (vgl. ebd.: 70 f.). In seiner Kritik der »Inversion« als geschlechtliche ›Sondernatur‹ grenzt sich Freud gleichermaßen von degenerationstheoretischen Begründungen wie der Konzeption eines ›dritten‹ Geschlechts einschließlich gehirnlokalistischer Spekulationen ab und stellt die kausale Beziehung zwischen anatomischen und psychischen Geschlechtscharakteren einerseits und die Verknüpfung von geschlechtlicher Identität mit der Ausrichtung des sexuellen Begehrens andererseits zur Disposition (vgl. ebd.: 48-58). Darüber hinaus werden angesichts der »Verhältnisse beim Weibe« und »beim Kinde« (ebd.: 118) sowie der widersprüchlichen Befunde von Kastrationen, die darauf verweisen, dass die Sexualerregung und die Geschlechtscharaktere »in beachtenswertem Grade unabhängig von der Produktion der Geschlechtsstoffe« (ebd.) sein können, auch die Keimdrüsen als organische Grundlage der Geschlechtlichkeit verworfen (vgl. ebd.: 120 FN 1, editorische Anmerkung). Die Freud’sche ›Lösung‹ dieser Problemlagen besteht in zwei zentralen Perspektivverschiebungen: Erstens wird in seiner Theorie der psychosexuellen Entwicklung die normale, fortpflanzungsbezogene Heterosexualität zum erklärungsbedürftigen Phänomen erhoben und an die Umgestaltung einer ursprünglichen infantilen polymorphperversen und bisexuellen Anlage gebunden. Zweitens wird die anatomisch-physiologische Begründung der Geschlechtscharaktere durch eine psychologische Argumentation ersetzt: Die psychosexuelle Differenzierung, die ausgehend von der These einer ›primären‹ Männlichkeit beider Geschlechter bekanntlich einen zweifachen Geschlechtswechsel des weiblichen Kindes voraussetzt, wird als Ergebnis eines konfliktträchtigen und störungsanfälligen Prozesses gefasst, in dem die Kohärenz von Körpergeschlecht, Psyche und Sexualtrieb auf innerpsychischem Wege hergestellt wird. Grundlage dieses Prozesses bildet die psychische Aneignung des ana-

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tomischen Geschlechts, die in Gestalt von Kastrationsangst und Penisneid als Movens und Motiv für die – kulturell eingeforderte – Umwandlung infantiler libidinöser Objektbesetzungen in gleichgeschlechtliche Identifizierungen und heterosexuelle Objektwahlen im Rahmen des ödipalen Familiendrama konstruiert wird.12 An der Nahtstelle von Kastrations- und Ödipuskomplex wird der ›unzuverlässige Körper‹ über die Wendung ins Imaginäre als Bezugspunkt eines asymmetrisch-hierarchischen Zweigeschlechtermodells wieder eingesetzt. Im Freud’schen Konzept der psychosexuellen Entwicklung wird die ›geistig-moralische‹ Überlegenheit des Mannes, aus der – im Idealfall – vollständigen Auflösung des Ödipuskomplexes sowie den Sublimierungen des Sexualtriebs abgeleitet; eine Leistung, die wiederum auf die Signifikanz des männlichen Genitals verweist, das als ›Phallus‹ zum Zeichen und Maß des Geschlechterverhältnisses erhoben wird (vgl. Breidenstein 1996: 235). Im Diktum der »Anatomie als Schicksal« (vgl. Freud 1924: 249), das die Frau nicht nur zum Mangelwesen macht, sondern auch als Kulturträgerin disqualifiziert, verblasst auch die ›Unzuverlässigkeit des Körpers‹ als stabile und eindeutige Grundlage der Geschlechterdifferenz. Mit Blick auf die eingangs formulierte These einer ›Vergeschlechtlichung‹ des mann-menschlichen Individuums zeichnen im Vergleich der Positionen Weiningers und Freuds zwei unterschiedliche Modelle ab, die wiederum in unterschiedlicher Weise auf die beiden Konstruktionsmodi ›männlicher Hegemonie‹ Bezug nehmen: Während Weininger in seiner charakterologischen Typenlehre der ›bedrohlichen‹ Sexualisierung des Männlichen mit dem Versuch der (Wieder-)Einsetzung des (idealen) Mannes als – nun allerdings explizit geschlechtlich markierten – Repräsentanten eines vom Sexuellen ›gereinigten‹ allgemein-menschlichen Individuums und einer vollständigen Sexualisierung und Ent-Individualisierung des Weiblichen begegnet, liegt das Spezifische der Freud’schen Psychoanalyse darin, dass sie die These von der ›überlegenen sexuellen Potenz‹ mit der These der ›geistig-moralischen Überlegenheit‹ des Mannes auf neuartige

12 Zur Situierung der Freud’schen Theorie der psychosexuellen Entwicklung und speziell des Kastrationskomplexes im Spannungsfeld von Antisemitismus, Homophobie und maskulinem Judentum, vgl. Geller 2008. Freuds psychologische Wendung kann vor diesem Hintergrund ebenfalls als ›Reaktion‹ auf die Stigmatisierung des ›jüdischen Körpers‹ gelesen werden (vgl. von Braun 2000: 43).

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Weise verknüpft (vgl. Bruns 2002: 121 FN 42).13 In der an das Konzept des Unbewussten gebunden Libidotheorie wird der Mann als sexuell bestimmtes Individuum entworfen, das zwar nicht mehr ›Herr im eigenen Hause‹ ist, aber seinen Anspruch auf ›Kulturträgerschaft‹ als erstes – bzw. im Horizont eines sexuellen und phallischen Monismus als einziges – Geschlecht erneuern kann. Beide Modelle überschneiden sich in der asymmetrischen Konstruktion der Geschlechterdifferenz, die darüber definiert wird, was der Mann hat und der Frau fehlt, (bei Weininger ist es das – männliche – Bewusstsein, bei Freud der Phallus), eine Konstruktion, die zugleich sicherstellt, dass die Frau nie zum Mann werden bzw. nicht Mann sein kann.

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13 Freud schließt dabei – wie Christina von Braun feststellt – an Darwins Konzept der geschlechtlichen Zuchtwahl an, insofern bei beiden die »›Überlegenheit‹ des männlichen Geistes [...] mit der ›Männlichkeit‹ des Geschlechtstriebs« (von Braun 1990: 179) erklärt wird.

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Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik W OLFGANG E SSBACH

Wie geschwind ist das gesagt: »Ich danke für die Einladung, zum Thema dieser Ausstellung einen Beitrag zu verfassen.«1 Wie aber, diese Einladung annehmend, die thematische Falle umgehen, zum ›fremden und gewöhnlichen Gast‹ etwas zu schreiben und dabei sich selbst in jenem seltsamen Zwischenraum zu halten, nicht als recht gewöhnlicher, aber auch nicht als allzuweit entfremdeter Gast zu erscheinen? Aus dieser unmöglichen Si-

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Gemeinschaft-Rassismus-Biopolitik wurde für den Katalog zur Kunstausstellung Das Fremde – Der Gast, die vom 17. September bis 24. Oktober 1993 im Offenen Kulturhaus des Landes Oberösterreich in Linz gezeigt wurde, verfasst. Hans-Dieter Bahr, der Kurator der Ausstellung hatte, unter dem Arbeitstitel »Der fremde und der gewöhnlichen Gast« zu Essays zur Ausstellung eingeladen. Der Beitrag erschien in: Hans-Dieter Bahr, Wolfgang Pircher und Offenes Kulturhaus des Landes Oberösterreich (Hg.): Das Fremde – Der Gast, Wien 1993: Turia und Kant, Band 1, S. 19-35. – Der Text entstand im Horizont der Ausbrüche von gewalttätiger Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, des beginnenden Bürgerkriegs im zerfallenden Jugoslawien und des erneuerten Streits um das Ob und Wie eines deutschen Nationalgefühls nach der Wiedervereinigung. Er erinnert an die Debatten der frühen neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen Hannelore Bublitz und diejenigen, die Michel Foucaults Überlegungen zur Biopolitik inspiriert hatte, herausgefordert waren, die Reden über die Gemeinschaft, über den Rassismus und über die politischen Seiten angewandter Humanbiologie aufzuklären. Zum 65. Geburtstag von Hannelore Bublitz erscheint der lange vergriffene Beitrag in unveränderter Fassung.

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tuation heraustreten, heißt, die Gegeneinladung formulieren: Ich lade die Leser ein, drei Kontexte aufzusuchen und die mit ihnen verbundenen Komplexe zu erinnern: Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik

1. G EMEINSCHAFT ›Gemeinschaft‹ – so ist ein kleines Stück Literatur von Franz Kafka überschrieben. Dort heißt es: »Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen. Seit dem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es. Aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unseren Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellenbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.« (Kafka 1961: 308) Gemeinschaft nennt man in der Soziologie eine bestimmte Sozialform, die so funktioniert, wie es bei Kafka erzählt ist. Genaugenommen ist Gemeinschaft das, was bei den fünfen geschieht, die einmal hintereinander aus einem Haus gekommen sind. Das Haus ist Symbol für ihr Gemeinsames, das ihnen ermöglicht, das kleine Wörtchen ›wir‹ zu sagen. Überall, wo

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›wir‹ gesagt wird, ist Gemeinschaft. ›Wir in unserer Familie‹, ›wir in unserer Stadt‹, ›wir als Angehörige unserer Nation‹, ›wir Soziologen‹, ›wir Kritiker‹, ›wir Humanisten‹, ›wir Linke‹, ›wir Rechte‹ etc. Gerecht gedacht gehören etwa 50% der Sozialformen dem Typus Gemeinschaft an. Es wären weitaus mehr, wenn nicht fortwährend die anderen da wären, die Nicht-Wir-Leute, oder der sechste bei Kafka, der sich fortwährend einmischt und der Gemeinschaft Probleme macht. Zwischen den fünfen und dem sechsten besteht kein gemeinschaftliches Sozialverhältnis, sondern etwas anderes, für das in einem begrifflich genauen Sinne der Terminus ›Gesellschaft‹ zutrifft. Es gibt nämlich zwei grundlegende Sozialformen des Menschen: Gemeinschaft und Gesellschaft. So lautet auch der Titel eines berühmten Textes aus der Gründerzeit der Soziologie von Ferdinand Tönnies.2 Gemeinschaft, das ist jene kreishaft geschlossene Sphäre der Vertrautheit, verwurzelt in imaginierten Traditionen, getragen von einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit. In der Gemeinschaft ereignen sich die Gegenseitigkeiten der Personen fraglos, zwanglos, selbstverständlich. Gemeinschaft meint möglichst vollständige Integration aller Sozialbezüge. Gesellschaft meint etwas anderes. Gesellschaft ist in der Hauptsache Ansammlung und Treffpunkt von einander Fremden, die miteinander nur bestimmte Sachen zu tun haben: funktionale Arbeitsbeziehungen oder Vertragsbeziehungen. Die gesellschaftlichen Grundmodelle sind der Markt, auf dem vereinzelte Einzelne sich einstellen oder wegbleiben, und die Diskussion, in der ein Konsens gerade nicht vorausgesetzt ist, sondern erst am Ende der Konkurrenz der Ideen steht und sich zudem als ein immer nur teilweiser Konsens erweist. In gesellschaftlichen Beziehungen streben die Einzelnen nach immer neuen Rollen, Funktionen und Masken, hinter denen die Unmittelbarkeit verschwindet. Gesellschaft meint prinzipiell unvollständige Sozialintegration. Darum ist es auch so schwer, in der Gesellschaft und mit der Gesellschaft glücklich zu werden. Gesellschaftliche Beziehungen sind strukturell oberflächliche Beziehungen. Wenn man die Terminologie so präzisiert, wird klar, dass Ausländerfeindlichkeit strukturell nicht in den Komplex der Gesellschaft, sondern in

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Die grundlegenden Beschreibungen verdanken sich Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) und Helmuth Plessner Grenzen der Gemeinschaft (1924). Das jetzige Vokabular ›System/Lebenswelt‹ meint dasselbe.

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den der Gemeinschaft fällt. Alle gängigen Erklärungen: der Verweis auf fehlendes Warenangebot, auf Arbeitslosigkeit, auf strukturschwache Regionen, auf Mängel des Bildungssystems etc. gehen in der Hauptsache daneben, sie verkennen die grundlegenden Mechanismen der Gemeinschaft. Vor allem aber verweigern sie sich der gedanklichen Anerkennung des Komplexes Gemeinschaft, sie blenden die Hälfte der sozialen Tatsachen aus oder schieben sie den anderen in die Schuhe oder dämonisieren sie, was zu keiner Aufklärung führen wird. Stattdessen gilt es, drei Dimensionen von Gemeinschaft hervorzuheben. 1. Gemeinschaften sind die produktivsten Brutstätten von Imaginationen. Gemeinschaften sind gerade im Kern imaginierte Gemeinschaften. Sie können recht harmlos vom Glück im Winkel vor sich herträumen, aber sie können auch Ideologien, Utopien, große Phantasmen entbergen. In erwachten Gemeinschaften glauben die Mitglieder an etwas Großes und Erhebendes: an die Wiederkunft Christi, an die Erweckung der Nation, an die Weltrevolution. Es gibt viele Soziologen, die diese Imaginationen, diese Einbildungen, diese Träume als Bagatellen beiseite schieben, weil es sich um Phantasmen handelt. Sie übersehen, dass die Imagination der Gemeinschaft der Hauptstoff sozialer Bindung ist, und zwar gerade deshalb, weil er sich nicht auf das sogenannte Reale bezieht. Das Reale ist in der Regel enttäuschend und wenig attraktiv, selbst dann, wenn alle erkennbare Not gelindert ist. Um den Komplex der Gemeinschaft aufzuklären, muss man sich mit den Phantasmen des Gemeinschaftsglaubens ernsthaft auseinandersetzen, ohne sie gleich als irrational zu diffamieren. 2. Die Imagination der Gemeinschaft ist verschieden strukturiert und zwar je nach dem, was als Fetisch oder als Symbol von der Gruppe verehrt wird. Prinzipiell kann jedes Ding oder Geschehen zum Fetisch oder Symbol werden, etwa, dass alle Glieder der Gemeinschaft einmal aus einem Haus oder einem anderen Gehäuse gekommen sind, dass sie von denselben Vorfahren abstammen, dass ihnen derselbe Gott erschienen ist, dass sie sich an einer Lehre ausrichten, dass sie dieselbe Sprache sprechen etc. Dieses imaginäre Eine nennt man heute so gerne Identität. Identität ist das genaue Gegenteil von Selbstbewusstsein. Selbstbewusste Individuen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, Identität aufs Spiel zu setzen.

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In der europäischen Geschichte lassen sich grob gesagt drei Identitätsmuster, drei Gemeinschaftsmythen unterscheiden: die Gemeinschaft des Geistes, die Bluts- und Abstammungsgemeinschaft und die Gemeinschaft des Bodens und der Güter. Diese drei Muster haben eine lange Geschichte, sie können konkurrieren und in verschiedenen imaginären Architekturen hierarchisiert werden. Und entsprechend sind auch die Aufnahmebedingungen recht verschieden. In die christliche Gemeinschaft kommt man durch die Taufe, in die Gemeinschaft der Gelehrten durch Prüfungen, in eine Blutsgemeinschaft kommt man durch Nachweis der Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen, Boden- und Gütergemeinschaften haften an bestimmten Umwelten. Entsprechend vielfältig ist auch die Struktur der Rechte und Verpflichtungen, werden inneres Gemeinschaftsrecht und äußere wilde Rechtlosigkeit geschieden, werden die Verpflichtungen hierarchisiert, die Sanktionen gestuft. Alle Gemeinschaftsbildungen kennen natürlich Verräter. Und der Verrat ist dort am schlimmsten, wo er den Gruppenfetisch, das Gruppensymbol verletzt. 3. Sucht man nach einem Sinn in dieser eigenartigen Welt der Gemeinschaftsbildungen, so wird man immer wieder auf eine seltsame Tautologie stoßen. Gemeinschaften genießen sich in erster Linie selbst (Žižek 1992). Genauer gesagt: Sie genießen ihren Fetisch, ihr Symbol. Gemeinschaftshandeln ist im Kern autophagisch, selbstfresserisch. Die Identität von Gemeinschaften ist das Hauptding, auf das sich die Begierde richtet. Man muss die Selbstbesoffenheit von Gemeinschaften ernstnehmen als ein Phänomen des Konsums. Im Genuss des gemeinschaftlichen Dings, oder um es alltagssprachlich zu sagen, des gemeinschaftlichen ›Dingsbums‹, mag es sich um ein ›Stammes-dingsbums‹, ein ›nationales Dingsbums‹ oder um die heilige Kommunion handeln, wird die Rivalität ein Stück weit befriedet und ins Außen geschoben, wo die Anderen sind. Die Anderen sind stets die, die anderes und anders genießen. Sie essen zum Beispiel ganz andere Sachen und sie genießen ganz anders in ihrer Erotik. Und sie tun dies einfach so, so ohne weiteres. Ich muss sie nicht lang und breit vorstellen, die ganze xenophobe Parade der Gestalten einer anderen Art zu genießen: diejenigen, die Dinge essen, die wir nie essen würden, die mit der Vielweiberei, die arbeitsscheuen Faulenzer, die, die sich nicht die Mühe machen, den Abfall ordentlich zu entsorgen, die, die es sich irgendwie leicht machen, die auf eine andere Art ihr ›Dingsbums‹ genießen. Ihre ganze Art, so

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einfach, so ohne weiteres – d. h. ohne Entschuldigung – anders zu genießen, stellt mit den Augen der Gemeinschaft gesehen im Kern einen Diebstahl dar. Hinter der Chiffre des Diebstahls steht das Erleben einer nichtlegitimen Rivalität. Alle drei Strukturmomente der Gemeinschaft: das imaginierte Gemeinschaftliche, die Grundlosigkeit der Fetische und Symbole und der autophagische Selbstgenuss haben etwas enorm Phantastisches, jedenfalls wenn man Gemeinschaften von außen betrachtet. Im Innern der Gemeinschaft ist dies Phantastische jedoch gerade das unbedingt Wahre, das ganz Reelle, das unzweifelbar Evidente. An diesem Doppelcharakter des Gemeinschaftsimaginären und Gemeinschaftsrealen scheitern einfache Erklärungen funktionaler Art, die immer nach einem handfesten Grund suchen, und sich wundern, dass Gewalt ausbrechen kann, nur weil ein Gemeinschaftsphantasma bedroht erscheint. Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft findet sich in allen modernen Sozialphänomenen, und man irrt sich, wenn man beide Sozialformen historisch hintereinander schaltet, so als ob gesellschaftliche Formen gemeinschaftliche Formen historisch ablösten, oder wenn man die Existenz von Gemeinschaftsimaginationen als Rückfall in die barbarische Vorzeit qualifiziert. So lange Menschen ›Wir‹ und ›die Anderen‹ sagen können, reproduziert sich systematisch die Antinomie von Gemeinschaft und Gesellschaft. Dies gilt es anzuerkennen.

2. R ASSISMUS Die historische Dimension kommt mit dem Begriff des Rassismus herein. Rassismus ist ein eminent historischer Begriff, d. h. er verändert sich und bedeutet immer etwas anderes. Alle Versuche, Rassismus systematisch zu bestimmen, sind vergeblich, weil der Begriff in ganz besonderer Weise historisch geladen ist. Das spürt jeder, der dies Wort in den Mund nimmt. Das Wort ist nicht nur historisch geladen, es ist ebenso politisch geladen. Alle Versuche, Rasse gegen Ethnie, Volk, Nation, Kultur abzugrenzen oder mit ihnen vollends zu identifizieren, sind Mittel im politischen Kampf. Rassismus, die Rede von der Rasse, ist historio-politischer Art, d. h. ohne Geschichte kommen wir in der Klärung nicht voran.

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Das ist nun eine lange, lange Geschichte, und erst im Traum von einem Ende der Geschichte, im Traum der Posthistoire, wird die Rede von der Rasse verschwinden. Die Geschichte fängt bekanntlich bei Adam und Eva an, wobei nicht genau geklärt ist, ob deren Haut weiß oder schwarz, gelb oder rot war. Genaueres wissen wir über die frühen menschlichen Kollektive. Für diese hat sich der Terminus Stamm eingebürgert. Unsere ferneren Vorfahren lebten in Stämmen, und sie haben irgendwann die Erfahrung gemacht, dass ihr Stamm nicht der einzige auf der Erde ist. Diese Erfahrung konnte eine gute oder eine böse Erfahrung sein. Eher gut ging der Kontakt aus, wenn die Verflechtung der Stämme organisierbar war, wenn ein Austausch begann, ein Tausch von symbolischen Gütern und ein Tausch von Frauen. Die Heirat ist eine der großen sozialen Institutionen der Stammesverbrüderung. Darüber lassen sich viele gute Geschichten erzählen. Durch Heirat verflochtene Stämme wuchsen in wenigen Generationen zu einem Stamm zusammen, dessen Mitglieder etwas anders aussahen als ihre Vorfahren. Und zwar nicht, weil, wie Willy Brandt meinte, »zusammenwächst, was zusammengehört«, sondern genau umgekehrt, weil zusammenwuchs, was nicht zusammengehörte. Die Erfahrung des Kontakts konnte aber auch eine böse Erfahrung sein. Ein Stamm konnte den anderen gewaltsam erobern und eine doppelstöckige Einheit hervorbringen aus einem siegreichen Erobererstamm und einem gedemütigten Unterworfenenstamm. In Europa, das auf den Trümmern der Antike entstand, war dies der häufigere Fall. In einer Geschichte, die so kompliziert ist, dass sie längst aus dem Gymnasialunterricht gestrichen wurde, wurden im europäischen Mittelalter aus Stämmen Völker, und zwar im Modus des Krieges und der Eroberung. Man hat sich enorme Mühe gegeben, vom Volk als einem einig Volk von Brüdern, später auch Schwestern, zu reden, und dafür gab es einsichtige Gründe. Die Völker Europas sind nämlich keine harmlosen Filiationen der Stämme, sondern Resultate gewaltsamer Unterwerfung eines oder mehrerer Stämme durch einen siegreichen Stamm. Das ist nun alles lange her und wäre längst vergessen, wenn es nicht die Erinnerung gäbe, wenn es nicht Literatur gäbe, die die Wunden der Vergangenheit offenhält. So entsteht aus der Tiefe des Mittelalters heraus ein historio-politischer Diskurs, der davon spricht, dass durch das Volk ein Riss geht; dass der Friede, der gepredigt wird, nicht wahr ist; dass es im Volk ein wahres Volk gibt, das gedemütigt ist, und dass es ein falsches Volk gibt,

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das Herrenvolk, das eigentlich aus fremden Eroberern besteht, und dass irgendwann Tag der Rache sein wird. Und komplementär dazu gibt es einen historio-politischen Diskurs, der die Rechte der Erobererstämme legitimiert: Wir sind zu Recht Sieger, wir sind das wahre Volk im Unterschied zum gemeinen Volk, das dumm, faul, ungläubig und aufrührerisch ist. In diesem doppelten historio-politischen Diskurs ist der Terminus Rasse zuerst aufgetaucht. Es ist der Diskurs vom Krieg der Rassen, der weitergeht.3 Das Wort Rasse stammt aus dem provenzalisch-spanischen Raum, jenem Raum, der randvoll ist von einer blutigen Eroberungs- und Rückeroberungsgeschichte, die irgendwo in der Völkerwanderung beginnt und 1492 mit der Eroberung Granadas endet. Diese Geschichte ist gleich untrennbar verbunden mit der ersten großen europäischen Verfolgung und Ermordung der arabischen Juden, die selbst dann keine Chance hatten, wenn sie konvertierten, d. h. ›Conversos‹ wurden. Dagegen setzten die Sieger das Gesetz der Reinheit des Blutes (limpieza del sangre). In Portugal träumten die Besiegten noch lange von dem alten König, der im Sand Afrikas verschwunden ist (wie Barbarossa im Kyffhäuser), um zum endgültigen Tag der Rache wiederzukommen. In der englischen Revolution von 1640 erinnert man sich daran, dass das geltende Recht, das Recht des englischen Königs, zurückgeht auf das Recht, das die Normannen, die von Dänemark gekommen, 1066 die Insel eroberten, gewaltsam etabliert hatten. So erinnern sich die französischen Adligen Ende des 17. Jahrhunderts daran, dass sie Abkömmlinge gewaltsam entmachteter Stämme sind, die ein altes Recht haben, gegen die Etablierung der absoluten Monarchie durch den Stamm des französischen Königs zu kämpfen. Dieser historio-politische Diskurs von einem Kampf der Rassen findet sich in den Programmschriften der Französischen Revolution. Er steht bei Augustin Thierry zu Beginn des 19. Jahrhunderts in voller Blüte. »Die oberen und die niederen Klassen, die heutzutage sich beobachten und miteinander um politische Systeme kämpfen, sind in mehreren Ländern nur die siegenden und die besiegten Völker einer früheren Periode.« (Thierry 1830: 3) Im Klartext: Der Klassenkampf zwischen Adel und Bürgertum ist die Fortsetzung des alten Kampfes der Rassen. Marx hat Thierry als »le père des Klassenkampfs« bezeichnet und Thierrys Lehre reformuliert: »Die Ge-

3

Diese Diskurse hat Michel Foucault in den Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1975/76 analysiert (vgl. Foucault 1989: 85 ff.; Foucault 1986).

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schichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Unter der Herrschaft der Bourgeoisie geht der Kampf weiter, nicht begründet im Blut der Stämme, sondern jetzt verborgen im Medium des Geldes, dem neuen Blut der Bourgeoisie. In der longue durée des historio-politischen Diskurses vom immerwährenden Krieg, der unter der Decke des Gesetzes weitergeht, bildet Marx’ Umstellung des Kampfes der Rassen in einen Kampf der Klassen eine Faltung, die stets wieder glattgezogen werden kann, wofür es viele Beispiele aus der Schreckenszeit des bolschewistischen Terrors gibt. So etwa, wenn der sowjetische Arbeiterrat von Murzilowa 1918 einem Genossen die Vollmacht gibt, – wie es im Beschluss heißt – »für den Gebrauch [der revolutionären Armee] 60 Frauen und Mädchen der Klasse der Bourgeois und Spekulanten zu requirieren und in die Kaserne zu überführen« (zit. n. Kautsky 1919: 116). Und dies wiederholt sich heute in Bosnien. Es gibt einen Rassismus, der tief mit dem verbunden ist, was Foucault die immerwährende Schlacht genannt hat. Aber das ist nicht alles. Aus Stämmen wurden Völker, und einigen Völkern gelang die Bildung eines nationalen Staates. Das Paradebeispiel ist Frankreich: die eine und unteilbare Nation, der Territorialstaat. Im nationalen Territorialstaat hört Rassismus keineswegs auf, aber er verändert seinen Charakter. Es ist nicht mehr die Rede von den zwei Lagern, die sich gegenüberstehen, sondern es ist die Rede vom Kampf um das Leben, von der Bewahrung der Stärksten, der am besten Angepassten. Jetzt geht es um das Thema einer Gesellschaft, die einheitlich ist und ihre Einheit verteidigt. Das Babylon der Dialekte ist durch Schulen vertrieben, und die Individuen gelten als ethnisch homogen. Aber es gibt die Infiltration, das Einsickern von Fremdem, und es gibt das spontane Auftauchen von Abweichungen: moralische Abweichungen und medizinische Abweichungen. Das sind die prominenten Themen des Staatsrassismus. Die Integrität soll behütet werden durch Ausmerzung der den Gesellschaftskörper moralisch und biologisch krankmachenden Elemente. Dieser staatsrassistische Diskurs blüht in England und Frankreich im 19. Jahrhundert. Den deutschen Stämmen ist die Bildung einer Nation nie geglückt. Was man so Deutschland nennt, hat historisch unklare Grenzen. Territorialstaatliche Grenzen, Sprachgrenzen, Stammesgrenzen und nicht zu vergessen Religionsgrenzen waren nie deckungsgleich. Die Konzeptionen pendeln

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zwischen den Extremen der alldeutschen Ansprüche auf ein deutsches Reich bis zur Adria und zum Schwarzen Meer und den Träumen eines Reichs des Geistes und einer Kultur, das überhaupt keinen Boden braucht. Die deutsche Lage ist strukturell notorisch unausgeglichen, nervös. Wir wissen nicht, wie klein wir uns machen sollen, wie groß wir uns zeigen sollen. Dies ist nicht erst heute so, sondern es ist seit Jahrhunderten so. Es ist besonders seit der Zeit so, in der die Franzosen den Nationalstaat erfunden haben. In der Konkurrenz zu diesem Modell ist denn auch der deutsche Terminus ›Volk‹ in einer Weise von ›Nation‹ semantisch abgesetzt worden, die zu den abenteuerlichsten, unausgeglichensten Phantasmen geführt hat, die verschieden besetzbar waren: als Freiheit des Volkes, als Einheit des Volkes und als mal moralische, mal biologische Reinheit des Volkes. Der Nationalsozialismus hat in seiner Ideologie und Praxis diese Imaginationen verschmolzen. Wer sagt, der Nationalsozialismus war eine Perversion des Nationalismus und eine Perversion des Begriffs Volk, greift viel zu kurz. Es handelte sich um nichts weniger als um die Vollendung des deutschen Nationalismus. Darum ist auch der Spielraum gering, irgendeine Identität des Deutschen an Hitler vorbei zu entwickeln. Um die mörderische Herstellung ethnischer Identität, um die Einheit aller Räume, in denen die deutsche Sprache erklingt, und um die imperiale Vormachtstellung gegen andere Nationen, darum ging es im Zweiten Weltkrieg, den unsere Väter und Großväter geführt und verloren haben. Die heimliche Erwartung, dass irgendwann das Gras über diese deutsche Geschichte wachsen würde, musste enttäuscht werden. Denn die Macht der Geschichtszeichen, ihre symbolische Gewalt, vermindert sich keineswegs mit der zeitlichen Entfernung, sondern sie nimmt im Gegenteil zu. Jene Begebenheit war zu groß, als dass die Emotionen Stolz und Scham, Liebe und Hass durch noch so angestrengte Indifferenz aus der Welt geschafft werden könnten. Die symbolische Gewalt von Geschichtszeichen, ob sie nun menschliches Vermögen zum Guten oder zum Bösen anzeigen, geht auch in keiner noch so wünschenswerten Prinzipientreue oder Realpolitik auf. Darum ist es heute nötig, diesseits der einfältigen Parolen von der neuen Größe Deutschlands und dem ›Nie wieder Deutschland!‹, ein bewusstes Interesse an Deutschland zu entwickeln. Kein Mensch kann sich aussuchen, wo er geboren wird, und die Ausbildung des Interesses an dem Land, in dem man zufällig das Licht der Welt erblickt hat, und an den Leuten, unter

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denen man leben will, gehört zu den existentiellen Aufgaben jedes Individuums. Dies zum Spezialgebiet des nationalen Konservatismus zu erklären, ist absurd, und vor allem wird dabei ignoriert, dass es die politische Rechte in Deutschland war, die Land und Leute in zwei Weltkriege getrieben hat, und die Hitler über Jahre hinweg rein gar nichts entgegenzusetzen hatte. In Sachen ›Sorge fürs deutsche Vaterland‹ gehört die politische Rechte zu den katastrophalen Versagern im 20. Jahrhundert.

3. B IOPOLITIK Der Staatsrassismus, der den alten Kampf der Rassen in pazifizierten Territorialstaaten ablöst, hat im nationalsozialistischen Deutschland seinen bisher brutalsten Ausdruck gefunden. Aber wir müssen uns diesen Typ des Rassismus noch genauer ansehen. Sein Thema lautet: Reinigung des Volkskörpers von moralischen und biologischen Schädlingen. Dies ist aber nur die negative Seite des Programms. Der Staatsrassismus hat auch eine positive Seite. Sie lautet: Vermehrung und Steigerung der moralischen und biologischen Kräfte der Bevölkerung. Es geht um Gesundheit in einem umfassenden Sinne, um Angepasstheit, Fitness, Kraft des Willens und des Körpers. Es geht um die Aufzucht im Doppelsinn von Züchtung und Erziehung. Dieses Programm setzt irgendwo, vielleicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Es richtet sich gegen die Nicht-Entwicklungsfähigen. Das sind Leute, die sich nicht entwickeln, wie z. B. die Juden, die ihren uralten Gesetzen treu bleiben. Und es trifft die Unterentwickelten, die Primitiven, die in der frühen Völkerkunde ›monstra‹ heißen, wie überhaupt der Kolonialismus das theoretische und praktische Experimentierfeld des Staatsrassismus war. Und es trifft die Geisteskranken, die Krüppel, die irgendwie anormal Zurückgebliebenen. Was nun so entwicklungsunfähig oder pathologisch oder anormal ist, hängt stets von dem ab, was in der jeweiligen Zeit an Wissen vorhanden ist. Wer sich mit der Wissenschaftsgeschichte des rassistischen Komplexes befasst, den Rassenlehren, den Klassifikationen des Anormalen und Zurückgebliebenen oder Degenerierten, der wird den vergangenen Stand des Wissens als Kuriositätenkammer wahrnehmen. Vom Schädelumfang schloss man auf den Umfang der Intelligenz, die krumme Nase signalisierte charakterliche Bösartigkeit etc. Mit Hilfe solch aberwitziger bio-moralischer Wör-

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terbücher sollte das Erbgut der eigenen Bevölkerung prädestiniert werden. Der Staatsrassismus hat sich immer auf den Stand des jeweiligen wissenschaftlichen Wissens über den Zusammenhang von biologischen Phänomenen mit moralisch-gesellschaftlichen Disfunktionalitäten bezogen und auf dieser Basis eine Politik der Meliorisierung der Bevölkerung betrieben. Die Definitionen des ›Volksschädlings‹ veränderten sich in dem Maße, in dem das Wissen voranschritt. Diesen Komplex hat Foucault als einen Bestandteil von Biopolitik bezeichnet (Foucault 1992). Biopolitik meint jenen grundlegenden Vorgang, in dem Gesellschaften die biologische Modernitätsschwelle überschreiten. »Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfasst.« (Foucault 1977: 170) Innerhalb dieses Prozesses, in dem wir stehen und noch lange stehen werden, bindet das rassistische Modell die Lebenschancen des einen an das Sterben des anderen. Dies geschieht nicht in einer Beziehung kriegerischer Art (›um zu leben, musst du die Feinde massakrieren‹), sondern nach Art einer Beziehung biologischen Typs: ›Je mehr das Minderwertige und Anormale eliminiert wird, umso stärker, produktiver werden wir sein.‹ In der nationalsozialistischen Ideologie kehrt auf der mythischen Ebene noch einmal ein Stück vom Thema des großen Kampfes der Rassen wieder, als letzter Kampf der arischen Rasse gegen die jüdische. Aber zugleich wurde dieser Kampf als eine biologisch-medizinische Operation durchgeführt, als Heilung der Spezies von zersetzenden Elementen. Diese Doppelung spiegelt der Jubelruf ›Sieg Heil‹. Ohne das Wissen der Rassenanthropologen, ohne die Gesundheitsämter, ohne die Tausende staatlich organisierter Gehilfen der biologisch-medizinischen Intelligenz wäre Auschwitz nicht durchführbar gewesen. Die Aktion T 4, in der Hunderttausende von Kindern mit Behinderungen durch Spritzen und Gas ermordet wurden, war der organisatorische Probelauf für die Vernichtung der Juden. Heute ist Rassenlehre an den Universitäten out. Der Stand des Wissens hat sich verändert. Biopolitik kann heute auf Humangenetik und Gentechnologie sich gründen. Und warum sollten wir eigentlich nicht den asbestresistenten Arbeiter züchten? Warum nicht freiwillig abtreiben, wenn wissenschaftlich bewiesen ist, dass diese Genkombination zu Kunststoffallergien führt? Was spricht eigentlich dagegen, die plumpen mechanischen Automa-

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ten gegen Biomaschinen auszutauschen, die aus unseren Genen bestehen und die unsere Sklaven werden? Oder doch wenigstens etwas Menschliches zu züchten, was ohne Ozonschicht existieren kann? Wenn wir wissenschaftlich-technisch erst einmal das Menschenmaterial kennen, d. h. uns kennen, lässt sich politisch viel machen. Und wenn wir das freiwillig tun, brauchen wir auch keine verwissenschaftlichte Diktatur. Noch sind wir natürlich nicht so weit, aber biologisch-medizinische Diskurse sind längst der selbstverständliche Rahmen unseres Denkens. Worüber auch gestritten wird, die Argumente sind immer dann am Ende, wenn der Referenzpunkt Leben erreicht ist, wenn evident ist, dass etwas dem Leben abträglich ist. Foucault hat es so gesagt: »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann.« (Foucault 1977: 170) Rassismus im biopolitischen Horizont, das ist das Nullsummenspiel der Lebenschancen. Es handelt vom Leben-Machen und Sterben-Lassen; es handelt sich darum, die Erhöhung der Lebenschancen eines Kollektivs an die Minderung der Lebenschancen eines anderen Kollektivs zu binden. Und wer wüsste es nicht, dass die Milliarden für die ›Operation Hoffnung‹ in Somalia der Krebsforschung verlorengehen, dass die medizinische Versorgung des einen Milieus graduell an der eines anderen hängt. Im biopolitischen Horizont gibt es Lösungen nur als graduelle Umbuchungen auf den Biokonten der Gruppen, als Operationen von Belastung und Entlastung mit variablen Grenzwerten. Aber was ist schon gegen Gesundheit zu sagen? Die symbolischen Reziprozitäten vergangener Gesellschaften sind entkräftigt. Es gehört heute nicht zum ethischen Standard, das eigene Biokonto zu verkleinern und das anderer zu vergrößern, also die Minderung der eigenen Lebenschancen zu wollen, um die anderer zu erhöhen. In heutiger Familienethik gilt Selbstminderung von Lebenschancen um der eigenen Kinder willen schon als unerklärbarer Mystizismus. Die Wahrscheinlichkeit einer Renaissance asketischer Ideale ist nicht sehr groß, obwohl sie den biopolitischen Rassismus in seinem Kern träfen. In asketischen Lebensführungen bestimmt sich nämlich die Würde des

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Menschen vom Stil des eigenen Todes her. Wir haben die Würde des Menschen an das Leben und seine Steigerung gebunden. Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik, in dieser Reihe steht Rassismus in der Mitte, und er ist als ein uneindeutiges, historisch variables Phänomen verschiebbar nach beiden Seiten. Er kann sich mit der stets aktuellen Sehnsucht nach der Geborgenheit eines ›Wir‹ verschmelzen, und er kann zur anderen Seite sich mit den kühlen Grenzwert-Kalkulationen der Belastung und Entlastung von humanbiologischen Systemen verbinden. In der einen Richtung wächst die Sorge, dass in unserem mit Liebe und Ausdauer gepflegten Garten ein Roma-Lager entsteht, in der anderen Richtung taucht das Kalkül auf, dass es rational gerechnet nicht machbar ist, den jetzigen Standard der zahnmedizinischen Versorgung auf größere Zuwandererkontingente auszudehnen, ohne Abstriche am technischen Niveau des Zahnersatzes oder Einbußen im Lebensstandard an anderer Stelle. Ich denke wir tun gut daran, weder jene Sorge, noch dieses Kalkül einfach wegzufegen. Beides ist nämlich morgen wieder da. Wichtig ist etwas anderes: Der Gemeinschaftsglaube von Kollektiven steht in seiner je speziellen Reichweite nicht ewig fest. Vertrautheits- und Fremdheitshorizonte können sich verändern, so wie sich jeder Horizont beim Gehen verändert. Ebenso sind biopolitische Grenzwerte revidierbar, und zwar durch Diskussion und Entscheidung im politischen Raum. Verhältnisse lassen sich bekanntlich auch ein wenig verändern. Und zwar vorrangig an der Stelle, wo Einzelne politische Rechte haben, d. h. auf dem Flecken Erde, auf dem die politische Existenz der Einzelnen die Form der Staatsbürgerrechte hat. Ohne die Ausbildung eines Interesses an dem Gebilde, das im Pass steht, gibt es keine politischen Handlungspotentiale. Wer nicht einmal das gleiche Interesse an der Staatsbürgerschaft seines Landes aufbringt, wie die Einzelnen, die an den Staatsgrenzen abgefangen werden, hat in der jetzigen Auseinandersetzung genau so wenig Chancen, wie jemand, der die Gewalt gegen Ausländer als Mittel nimmt, seine fundamentale Aversion gegen den Staat an sich noch einmal zu steigern. Das Interesse an dem Land, in dem der Einzelne leben will, und dies durch Bleiben oder Gehen tagtäglich bekundet, ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zu einem langen Atem. Denn bis Liebe und Heirat zwischen verschiedenen Stämmen, Völkern und Nationen der statistische Normalfall werden und bis die Menschengesell-

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schaft Stile entwickelt hat, die Grenzwerte zwischen Leben und Tod ethisch angemessen zu gestalten, werden Zeiten gebraucht, die die Lebenszeiten der heutigen Generationen übersteigen. Das kann man jetzt schon wissen.

L ITERATUR Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1986): Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Hg. v. Walter Seitter. Berlin: Merve. Foucault, Michel (1989): Résumé des cours 1970-1982. Paris: Julliard, S. 85 ff. Foucault, Michel (1992): »Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus.« In: Diskus, Nr. 1, Februar 1992, S. 51-58. Franz Kafka (1961): »Gemeinschaft« [1920] in: Franz Kafka: Die Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer. Kautsky, Karl (1919): Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zu Naturgeschichte der Revolution. Berlin: Verlag Neues Vaterland. Plessner, Helmuth (1924): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn: F. Cohen. Thierry, Augustin (1830): Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen. Berlin: August Rücker. Tönnies, Ferdinand (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen. Leipzig: Reisland. Žižek, Slavoj (1992): »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – vom Begehren des ethnischen ›Dings‹.« In: Lettre international, Heft 18, S. 28-35.

»White men build cities, red men build sons« Familien, Väter und Aneignungen des Indigenen in den USA, 1890-1940 J ÜRGEN M ARTSCHUKAT

1. D IE »Y I NDIAN G UIDES «: E IN P ROGRAMM V ÄTER UND S ÖHNE – T EIL 1

FÜR

Chief Caribou von den Ojibwe-Indianern, auch Joe Friday genannt, verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er euroamerikanische Männer durch die Wälder seiner kanadischen Heimat führte. Im Jahr 1923 gehörte zu seinen Kunden auch Harold Keltner. Keltner war Leiter des YMCA in St. Louis und bis nach Ontario gereist, um die Wildnis zu spüren und sich die besten Angelplätze und Jagdgebiete zeigen zu lassen. Es heißt, eines Abends am Lagerfeuer hätten die beiden Männer über die unterschiedlichen Positionen von Vätern in ihren Kulturen philosophiert. Der Ojibwe soll dabei berichtet haben, wie der indianische Vater seinen Sohn all die Dinge lehre, die er wissen müsse, um durchs Leben zu navigieren. Moderne USamerikanische Väter hingegen, so Friday, kümmerten sich kaum um ihre Jungen und ließen sie unvorbereitet für die Gefahren des Lebens. »White men build cities, Red men build sons«, soll Friday gemahnt haben. Damit traf er den Kern einer weit verbreiteten Sorge über die Fragilität von Familien und des modernen Amerika (YMCA-Archives 1971-1; YMCAArchives o.D.-1; YMCA-Archives 1946-1).

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In Keltners Augen war Friday Jäger, Trapper, Guide, Philosoph und Christ in einer Person, und er lud ihn nach St. Louis ein, damit er zu Vätern und Söhnen sprach und sich mit Müttern kurzschloss. Schließlich sei »der Indianer«, so Keltner, in der Fantasie von Jungen fest verankert, und er schlummere zumindest in der Fantasie erwachsener Männer. Joe Friday lauschen zu dürfen, würde Väter und Söhne mit dem »Indian way of life« vertraut machen und sie einander wieder näher bringen. Dies würde die Vater-Sohn-Verbindung stärken, mit ihr die Familie und mit dieser Amerika (YMCA-Archives 1932-1; YMCA-Archives 1935-1). Wieder und wieder erzählt, gerann die Geschichte von Harold Keltner und Joe Friday zum Gründungsmythos der »Father and Son YMCA-Indian Guides«. Dies war ein Programm für Väter und ihre kleinen Söhne, die »tribes«, also Stämme, bildeten, und dabei Dinge taten, die sie für »indianisch« hielten, um in der Wildnis des vorstädtischen Gartens zueinander zu finden (Jackson 1987; Slotkin 1992: 1-26 zum Frontier-Mythos). Hoffnungsvoll wagte eine Beobachterin der ersten Stunde zu fragen: »Would such an organized group of fathers and sons furnish that missing link in the modern American home?« (YMCA-Archives o.D.-1) Friday blieb für einige Jahre in St. Louis, um den Aufbau des Programms zu begleiten. Was in der Vorstadt Richmond Heights im Oktober 1926 mit dem ersten »tribe« begann, etablierte sich Schritt für Schritt in den gesamten USA und wurde letztlich zum erfolgreichsten YMCA-Programm aller Zeiten (YMCAArchives 1979-1). Um die »Indian Guides« in dem folgenden Beitrag genauer zu erfassen, sollen sie zunächst aus größerer Distanz aus drei historischen Verschiebungen heraus erläutert werden, die sämtlich mit modernen Verunsicherungen und Verschiebungen der Geschlechterordnung korrespondierten. Erstens soll die Verklärung und Aneignung des Indigenen skizziert werden, die im ausgehenden 19. Jahrhundert keinesfalls ein gänzlich neues Phänomen war, aber seitdem doch noch einmal an Konjunktur gewonnen hatte (Dippie 1982; Deloria 1998); seit dem Moment also, als alle Native Americans getötet oder in Reservaten eingeschlossen waren. Zweitens sind neue Erziehungsparadigmen in den Blick zu nehmen, die ein Zurück zur Natur und zur »Primitivität« forderten, um auf diesem Wege eine individuelle wie kollektive Regeneration anzustreben (Bederman 1995: 77-120; Slotkin 1973 zum Konzept der Regeneration durch Gewalt). Drittens gilt es eine Väterbewegung in die Betrachtungen einzubeziehen, die im frühen 20.

»W HITE MEN

BUILD CITIES , RED MEN BUILD SONS «

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Jahrhundert aufkam (LaRossa 1997). Vor diesem Hintergrund werde ich dann zu den Indian Guides zurückkehren, um das Programm und auch die Handlungsmöglichkeiten des Akteurs Chief Caribou aka Joe Friday genauer anzuschauen. Meine Ausführungen stehen im Kontext einer Geschichte von Familienformen und Lebensentwürfen in den USA. Dabei verstehe ich »Familie« als Kraftfeld, das Kultur und Gesellschaft organisiert. So war in der US-Geschichte von der ersten Stunde an immer wieder zu hören, Familien seien der Sockel der liberalen Republik (Martschukat 2007). Gemeint waren damit in aller Regel Kernfamilien mit spezifischer Geschlechteraufteilung, also »homemaking mom« und »breadwinning dad«, und mit Kindern, die in diesen Familien zu guten Bürgerinnen und Bürgern werden sollten. Dieses soziokulturelle Organisationsmodell ist mit zahlreichen Zuweisungen, Ausschlüssen und Einschränkungen verbunden, das heißt es reguliert wesentlich, wie unterschiedliche Menschen an Gesellschaft teilhaben können, wie sie also etwa an Bildung, Arbeit, Sozialprogrammen und vielem mehr partizipieren. Wem zugebilligt wird, ein solches Kernfamilienmodell zu leben, und wer welche familiären Funktionen ausfüllen soll, orientiert sich an Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung, sozialer Klasse und anderem mehr. Die Kategorien bilden eine Art Geflecht, in dem sie sich wechselseitig beeinflussen und aus der Verschränkung heraus wirken (Crenshaw 1991; Martschukat 2008). Geschlechtervorstellungen und -positionen zum Beispiel werden in einem Feld austariert, das auch von rassischen Entwürfen und Zuweisungen bestimmt wird, um hier nur zwei von vielen Kategorien aufeinander zu beziehen. Die folgenden Ausführungen werden das Verhältnis weißen, bürgerlichen Vaterseins zu Projektionen indigenen Mannseins erörtern. Der Fall der »Y-Indian Guides« wird zeigen, wie sich weiße Männer und auch Frauen im frühen 20. Jahrhundert des Indigenen bedienten und einen bestimmten Typus »Indianer« konturierten, um Kernfamilien zu stabilisieren und so einer gefühlten Unwucht in der Familien-, Geschlechter- und Gesellschaftsordnung zu begegnen.

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2. E RSTE V ERSCHIEBUNG : D IE ANEIGNUNG »AMERICAN I NDIAN «

DES

Es mutet schon erstaunlich an, dass das YMCA ausgerechnet den indigenen Mann bemühte, um ein Vorbild für US-amerikanische Väter zu schaffen. Im zurückliegenden 19. Jahrhundert hatten indigene Männer jedenfalls kaum als starke Familienväter gegolten. Wenn sie nicht als barbarische Wilde skizziert wurden, hatten sie vielmehr als Kinder firmiert, die der Führung, der Hilfe und des Schutzes einer weißen Vaterfigur bedurften. In orientalistischer Manier war ein Bild ihrer Existenzweise gezeichnet worden, das dann als zivilisatorisch rückständig, eben kindlich beschrieben wurde und gleichermaßen ihre Führung wie Unterwerfung legitimierte. Missionare und US-Politiker reklamierten väterliche Positionen für sich, aber von starken indigenen Vätern war bis dahin nie die Rede gewesen (Perry 1977; Dippie 1982: 56-78; Black 2005). Auch taugten indigene Familienformen kaum als Vorbild für US-amerikanische Kernfamilien (Stremlau 2005). Von den Cherokee im Südosten bis zu den Yakima im Nordwesten, und auch bei den Ojibwe im USamerikanisch-kanadischen Grenzraum dominierten Polygamie, matrilineare oder großfamiliäre Strukturen, und es gab kaum Kernfamilien mit bürgerlich anmutenden Vater- und Mutterfunktionen (Hoxie 1991; Shoemaker 1991; Reed 2010). Im späten 19. Jahrhundert hatten die USA zudem ihre Politik der Zwangsassimilation begonnen. Landzuweisungen und Schulprogramme sollten die letzten verbleibenden Indigenen zu Farmerfamilien und nach US-amerikanischem Gusto formen (Adams 1995; Child 1998; Stremlau 2005). Weiße Reformer formulierten ausdrücklich das Ziel, indigene Männer verantwortliche Vaterschaft und damit republikanische Werte und »citizenship« zu lehren. Anders formuliert: Als Harold Keltner und Joe Friday über vorbildliche indianische Väter fabulierten und kleine US-amerikanische Jungen lernten, kurze Texte und Redwendungen in indigenen Sprachen zu memorieren, war es üblich, indigene Kinder systematisch ihren Familien zu entreißen, um sie nach US-amerikanischem Muster zu modellieren. In Joe Fridays kanadischer Heimat funktionierten die Internatsprogramme ähnlich, nur dass sie stärker missionarisch geprägt waren (YMCA-Archives 1934-1; Ellis 1987: 261).

»W HITE MEN

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Auch ignorierte das »Indian Guide«-Programm des YMCA die Vielfalt indigener Lebensformen und ihrer Geschichte in Nordamerika. Vielmehr griff man den stereotypen Entwurf eines Anderen auf, der sich scheinbar durch regionale, kulturelle und historische Gleichförmigkeit auszeichnete. Mit Edward Said (1981: 113) lässt sich von der Bildung einer »ethnischen Typologie« sprechen, »die zum Rassismus [fortschreitet]«. Diese Typologie behauptete auch eine uneingeschränkte Naturverbundenheit der Indianer, die von der Forschung mittlerweile als Produkt westlicher Projektion demaskiert ist (Krech III 1999; Hames 2007). Die Zeitgenossen sahen sie jedoch als wichtiges Korrektiv ihrer eigenen Überzivilisierung. Joe Friday bediente die Sehnsucht nach einer Existenzweise, die als »authentisch« und ahistorisch projiziert wurde: als ein Moment des Stillstands, der der zunehmend als rasant empfundenen Moderne entzogen war (Deloria 1998). Mit einem Ojibwe bei einer Jagd- und Angelreise durch die Wälder zu ziehen, versprach Harold Keltner eine Erfahrung, die er als indianisch und männlich rein wahrnahm, und das Jahrzehnte nachdem das Ende der »Frontier« und der Existenz unbesiedelten Landes verkündet worden war. Dass indianisches Leben, so wie Keltner es verehrte, nicht existierte und wohl niemals existiert hatte, kümmerte ihn kaum. Auch die im Laufe der Geschichte erzwungenen oder angeeigneten Veränderungen indianischer Lebensweisen ignorierte er auf seiner Suche nach ahistorischer Reinheit (Kegg 1991; Kugel 1998; Pejsa 2003). Eine solche vermeintliche Authentizität hofften um 1900 immer mehr US-amerikanische Männer bei Ausflügen nach »Westen« zu finden: Diese Bewegung kann als Reaktion auf die verbreitete Furcht verstanden werden, die urban-moderne Gesellschaft bringe eine Überzivilisierung mit sich, eine Verweich- und Verweiblichung, die in Neurasthenie hineinführen könne (Lutz 1993). Es hieß, mit dem Zusammenfallen der Westgrenze und der Pazifikküste hätten Männer ein wesentliches Erprobungsfeld ihrer Männlichkeit verloren. Die immer stärkere Präsenz von Frauen in der progressiven Reform- und Sozialpolitik tat ihr Übriges, um viele Männer weiter zu verunsichern, und als bestes Antidot wurde der vorübergehende Gang in die Wildnis gepriesen. Damit einher ging ein zunehmend ausgeprägtes Bestreben, sich Versatzstücke indianischer Kultur anzueignen. Ein »going native« bedeutete in den USA keinen kontaminierenden Abstieg in das »Herz der Finsternis«, wie ihn Charles Marlow im Kongo erlebte (Conrad 1976 [1899]; Bischoff 2011: 153). Während man sich auch in den US-amerikan-

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ischen Kolonien in Asien von Krankheiten wie der »Philippinitis« bedroht sah, galt der Kontakt und Austausch mit den American Indians in der USGeschichte vielmehr als wichtiger Teil einer produktiven Grenz- und Wildniserfahrung und war als eine Art Urquelle US-amerikanischer, vor allem männlich gedachter Potenz verklärt. Dabei konnte die Wildnis um 1900 auch vor der eigenen Haustür liegen. Zahlreiche »National Parks« boten eingehegte Räume der »Naturerfahrung«, die erst dann als perfekt galt, wenn man sich dabei von einem »American Indian« führen ließ. Tourismus wurde zu einer der indigenen Einnahmequellen (Cronon 1995: 69-90; Spence 1999; Clark 2001). Wer nicht selber »rausgehen« konnte oder wollte, holte sich den Westen und die Wildnis nach Hause. Hier muss auf im Stenogramm-Stil auf anthropologische und naturkundliche Studien, populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, Groschenromane und Wild-West-Abenteuerhefte verwiesen werden, die Fantasien des Indigenen schufen und diesen zum Bestandteil der eigenen Geschichte verklärten. Immer mehr Bilder und Artefakte waren in Ausstellungen und Museen zu sehen, die indianische Kultur als »Fremdes« wie »Eigenes« zugleich präsentierten. Die Exponate dienten als Vorlagen für die Amulette, Bötchen und anderen Dinge, die die YMCATribes bastelten, oder für die Riten, die Söhne und Väter einübten und aufführten. Auf den populären Wild West-Shows konnte man sogar Indigene aus Fleisch und Blut bestaunen (Gidley 1998; Smith 2000; Huhndorf 2001; Herman 2001; Martínez 2008). Auf vielerlei Art und Weise wurden »das Wilde«, »die Natur« und »der Indigene« zu einem Teil vor allem des amerikanisch-männlichen Subjekts und seiner Geschichte verklärt. In dem Moment, als die Auslöschung des Indigenen in der Assimilation vollendet werden sollte, avancierte er mehr denn je zur Kraftquelle einer modernen Ordnung, die sich von der eigenen Überzivilisierung bedroht sah. Auf breiter Ebene strebte man durch die Aneignung von »Naturkräften« eine rassisch und genuin amerikanisch gedachte Vervollkommnung an, die zudem männlich konzipiert war und von niemandem so sehr verkörpert wurden, wie von Theodore »Teddy« Roosevelt. Donna Haraway (1989: 26-58) spricht deshalb von der »Teddy Bear Patriarchy«.

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3. Z WEITE V ERSCHIEBUNG : »T HE CHILD IS IN THE PRIMITIVE AGE « – D IE E RZIEHUNG VON J UNGEN UND M ÄDCHEN AN DER N ATUR Wollten die USA diesen Fallschlingen der Moderne entkommen, so durfte nicht erst bei den Erwachsenen angesetzt werden. Vorbeugung wurde nun als Mittel der Wahl gepredigt. In vorderster Linie bei der Entwicklung entsprechender Erziehungskonzepte stand der Psychologe und Pädagoge G. Stanley Hall, der kritisierte, vor allem die viktorianische Pflicht zu männlicher Selbstbeherrschung mache krank. Jungen müssten ihrer angeblich natürlichen Wildheit Raum zur Entfaltung lassen können und in der Natur Körper, Geist und Nerven stärken können. Ein kontrolliertes »going native« von Jungs, die sich noch im Stadium menschlicher Primitivität befänden (Hall 1899, nach Bederman 1995: 99), galt als erstrebenswert. Wie eine Impfung sollte es gegen die schwächenden Effekte effeminierender Überzivilisierung im Erwachsenenalter wirken. Halls Theorie fügte sich in den Chor der Stimmen ein, die ein Zurück zur »Natur« forderten und die Aneignung des Indigenen predigten. Praktisches Äquivalent seiner Theorie war die Camping-Bewegung. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde Camping als Zeitreise gepriesen, als kräftigende Erfahrung einfachen idealen Lebens in der Natur vor allem für Jungen. Indem sie die Wildnis eroberten, könnten sie individuelle Stärke ebenso erlernen wie Verantwortlichkeit fürs Kollektiv. Dabei waren die Camps oft indianisch organisiert, oder präziser formuliert so, dass sie der folkloristischen Imagination des Indianischen entsprachen. Dabei fungierten American Indians bisweilen als Berater für die Camps und bürgten in den Augen ihrer Kunden für deren Authentizität (Deloria 1998: 95-111; van Slyck 2006: 169-213; Cupers 2008). Als Väter und Söhne in der Mitte der 1920er Jahre mit den »Y Indian Guides« zu deren ersten Zeltlagern aufbrachen, war die Camp-Kultur bereits eine amerikanische Institution. Auffallend ist, dass die »Guides« in ihren Camping-Elogen fast vollständig ignorierten, dass auch Mädchen seit Jahren in Scharen in die Wälder zogen. Wie die Historikerin Susan Miller (2007) gezeigt hat, waren Vereinigungen wie die »Campfire Girls« allerdings auch eher ein Komplementär als eine Konkurrenz für die Jungen. Denn sie verfolgten das Ziel, den vermeintlichen Irrwegen von Mädchen in der Moderne ein Gegengewicht zu setzen. In der Natur sollten auch sie

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sich, ähnlich wie die Jungs, auf eine angebliche Ursprünglichkeit des Lebens besinnen können. Allerdings meinte man, die Ursprünglichkeit weiblichen Lebens sei eben beim »campfire« zu finden, das stellvertretend für den heimischen Herd stand. Als Komplementäre übten girls- und boyscamps also die bürgerliche Geschlechterordnung ein, die sie in den Wäldern als natürlich und somit der Geschichte entzogen markierten.

4. D RITTE V ERSCHIEBUNG : »P ALS F OREVER « – S ÖHNE UND V ÄTER AUF EWIG IN E INIGKEIT VERBUNDEN Ein beliebter Weg, ein »Y Indian Guide«-Treffen zu eröffnen, war gemeinsam »Pals Forever« zu singen. Mit dieser Hymne beschworen Väter und Söhne ihre Freundschaft im Zeichen des Indianischen, und dies würde »boys stronger«, »dads younger« und Mütter glücklicher machen (YMCAArchives 1951-1; YMCA-Archives 1961-1: 42). Die Hymne reagierte somit auf Klagen, die schon seit geraumer Zeit immer lauter zu vernehmen gewesen waren und besagten, Väter seien zu abwesend und schadeten somit ihren Familien. »Get involved« hieß es in Ratgebern, Studien oder Zeitschriften wie dem »Parents Magazine«, das bald auch eine Kolumne eigens für Väter hatte. »Getting involved« bedeutete allerdings kaum, den Haushalt zu schmeißen, denn wer als Mann damit anfing, wurde als verweiblicht belächelt. Vielmehr sollten Väter als Spielkamerad für ihre Kinder da sein, und der Vater als »pal« sollte den »father« als »Versorger« und »Erzieher« ergänzen (LaRossa 1997: 94-95, 104). Anfang der 1920er Jahre entfaltete sich sogar eine veritable Väterbewegung. Auch bildeten sich erste »Männergruppen«, in denen sich Väter über ihre Kinder austauschten. Die zunehmende Konjunktur Freud’schen Denkens verlieh der Forderung nach mehr männlicher Präsenz in der Familie zusätzlichen Nachdruck. Immer häufiger hieß es nun, ein aktiver Vater sei für eine »normale« Persönlichkeitsbildung der Kinder und vor allem seines Sohnes unabdingbar (Hale 1995 zur Rezeption Freuds in den USA). Die Väterbewegung verdeutlicht noch einmal, wie sehr die hier skizzierten Verschiebungen von der gewachsenen öffentlichen und politischen Präsenz von Frauen geprägt waren. Die »new woman« war ein vorwiegend urbanes Phänomen. Sie nahm sich mit Nachdruck ihren Raum, und die

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insbesondere männliche Rückbesinnung auf die Wildnis, den Westen und die Indigenen ist als eine Art Reaktion in diesem sozialen, politischen und kulturellen Feld zu verstehen. Die »Indian Guides« nun koppelten das männliche Kraft spendende »going native« und die Aneignung des Indigenen mit der Forderung nach mehr Raum für Männer im familiären Geschehen. Wie genuin politisch diese Koppelung war, wurde dadurch deutlich, dass immer wieder die Relevanz von Familien und Vätern für die Stabilität der soziokulturellen Ordnung insgesamt betont wurde: Mahnend hieß es, ein Mann, der das Verhältnis zu seinen Kindern nicht pflegte, gefährde die Existenz Amerikas. Frauen sollten im Rahmen dieser Gesamtkonstellation in eine unterstützende Position verwiesen werden (u.a. YMCA-Archives 1946-1).

5. D IE »Y I NDIAN G UIDES «: E IN P ROGRAMM V ÄTER UND S ÖHNE – T EIL 2

FÜR

Harold Keltner sah den Ojibwe Joe Friday als Chance, Väter und Söhne wieder fester aneinander zu binden, so urban-moderne Familien zu stärken und damit wiederum die USA als Ganzes zu kräftigen (YMCA-Archives 1946-1). Fortan tauchte Friday überall auf Flugblättern, in Bastelheftchen und Verbandszeitschriften auf. Oft erzählte er Geschichten von seinem eigenen Vater, der ihn gelehrt habe, auch die schwierigsten Fahrwasser des Lebens zu nehmen. So sollte er den Guides indianische Authentizität verleihen. Er tourte über Jahre hinweg immer wieder durch den Mittelwesten, hielt Reden und arbeitete mit Kirchen, Schulen, Sozialverbünden und Müttern zusammen, um Väter zum Mitmachen zu bewegen. Die Indian Guides wuchsen und wuchsen: Ende der 1920er Jahre gab es in den Vorstädten von St. Louis zehn so genannte »Tribes« (YMCA-Archives 19321), 1940 waren es 97 »Tribes« in zwölf Staaten, 1960 6000 in 43 Staaten und Mitte der 1970er Jahre 26.000 in den ganzen USA (YMCA-Archives 1960-1; YMCA-Archives 1979-1). Aufgrund ihres Erfolges nahm das YMCA die »Indian Guides« 1936 in die Gruppe der nationalen Programme auf, und damit erhielten sie eine Verwaltung nach allen Regeln der Kunst: Mit regionalen Einteilungen, »Executive Committees«, »Meetings«, Protokollen, Verbandszeitschrift, Programmheften und Jahrestreffen, die »Longhouse« genannt wurden und

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somit an die Gemeinschaftsgebäude der Irokesen erinnerten. Auch wurden wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben, um die »Indian Guides« zu optimieren (YMCA-Archives 1961-1). Die Treffen der »Tribes« selber waren hochgradig ritualisiert (YMCAArchives o.D.-1; YMCA-Archives 1932-1; YMCA-Archives 1946-1; YMCA-Archives 1947-1). Alle 14 Tage lud ein anderes Vater-Sohn-Paar den »Tribe« zu sich nach Hause ein, denn schließlich konnte man dort am besten auf die Hilfe der Mütter zählen: Nicht nur Kuchen und Snacks, auch Ideen und Motivation und die aufwendigen Einladungen, die zum Beispiel auf einer Tierhaut übersendet wurden, waren oft das Werk der Mütter. Die Führungsriege des YMCA strebte an, Mütter in scheinbar marginalen Positionen in das Programm einzubinden. So sollten sie den »Indian Guides« Struktur geben und dem Vater-Sohn-Team dabei aber trotzdem das gute Gefühl lassen, den Erfolg des Projektes für sich verbuchen zu können (YMCA-Archives 1950-1; YMCA-Archives 1961-1). Wenn Vater und Sohn bei den Treffen gut als Team funktionierten, konnten sie Anstecknadeln und andere Insignien gewinnen (YMCA-Archives 1940-1; YMCA-Archives 1947-2). Für alles gab es hilfreiche Anleitungen, damit der Bürovater nicht daran scheiterte etwa Feuer ohne Zündhölzer zu machen. Im Sommer traf man sich im Garten am Lagerfeuer, und jeden zweiten Monat kam der »tribe« draußen gemeinsam mit Müttern und Schwestern zu einem großen »Pow-Wow« zusammen. Sie sorgten vor allem für das leibliche Wohl, »thus imitating a real Indian situation«, wie sich ein Zeitzeuge meinte (YMCA-Archives 1932-1). Im Winter erzählte man sich dann Geschichten oder schaute einen Indianerfilm wie »Broken Arrow« (ab 1950) (YMCA-Archives 1950-1). Bald schon konzedierten auch anfängliche Skeptiker, die »Indian Guides« seien wohl doch mehr als »a game of playing ›Indian‹«: Für die Söhne böten sie eine Orientierungshilfe auf dem Weg zum Mann und Staatsbürger, und für die Väter seien sie »a school in leadership« (YMCA-Archives 1939-1). Einmal im Jahr zog der »Tribe« auch zu einem mehrtägigen Camp in die Natur hinaus. Dies waren Schlüsselmomente, wie ein »Indian Guide«Vater der ersten Stunde betonte: »In all my years of camping in the open there are no occasions which thrill me more than on those nights when fathers and sons together sit around the same fire and dis-

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cuss the same problems and joys together as primitive man has done from time immemorable.« (YMCA-Archives 1932-1)

Die »Indian Guides« verbanden das Vater-Sohn-Verhältnis mit der Imagination des Indianischen und markierten es so als zeitlos und als Urgrund allen Seins. Dabei war der American Indian das wesentliche Scharnier (YMCA-Archives 1946-1). Entsprechend wurde der Mythos von Joe Friday immer weitergesponnen, der als »one of the last real Americans« von der Frontier angepriesen wurde, wenn er auf Redetour ging. Man nährte den Mythos des Ojibwe, der ab und an auf Meetings auftauchte, um Geschichten zu erzählen, ansonsten aber auf der sagenumwobenen Bear Island lebte, lautlos mit dem Birkenkanu über den Temagamisee glitt und riesige Fische fing (Keltner 1935; YMCA-Archives 1946-1; YMCA-Archives 1947-3). Als Joe Friday 1955 starb, verkündete das Y, er werde in den vielen »Stämmen« der »Indian Guides« weiterleben, »until our country again learns that a father’s job is to teach his sons how to become men.« (YMCA-Archives 1955-1; YMCA-Archives 1956-1; YMCA-Archives 1956-2) 1898, also fast 60 Jahre vor Joe Fridays Tod, hatte ausgerechnet auf seiner Heimatinsel »Bear Island« einer der letzten bewaffneten Widerstände von Native Americans stattgefunden (Martínez 2009: 77-78). Dies ist wohl nicht mehr als ein Zufall, der aber gleichwohl noch einmal den Blick auf Joe Friday als Akteur lenkt (Stoler 1995; Kraft 2010: 11). In den Akten des YMCA finden sich in Briefen und auf Notizzetteln Spuren seiner Begeisterung für die »Indian Guides«. Er sah sie auch als Chance, Elemente seiner eigenen Kultur zu tradieren, von der auch er selbst ein zumindest partiell panindianisches Konzept hatte. Aus der YMCA-Zentrale war ab Mitte der 30er Jahre zu hören, man müsse seine Eigeninitiative und sein Engagement für die indianische Sache bremsen. Außerdem wolle er das Programm zu sehr nach seinem Gusto gestalten (YMCA-Archives 1940-23-4; YMCA-Archives 1944-1). Andere Native Americans wie der Sioux Charles Eastman oder der Crow Alexander Upshaw nutzten ebenfalls die wachsende US-Begeisterung für Indigene (Zamir 2007; Cooper 2009), um für sich selber Räume zu eröffnen, in denen sie sprechen konnten und auch ein wenig Gehör fanden (Spivak 1994). Auch boten diese Räume Verdienstmöglichkeiten, und Friday nutzte die »Indian Guides«, um seinen Lebensunterhalt aufzubessern. Er verhandelte hart über Spesen, Kost und Logis, wenn er auf Tour ging, und versuchte dabei so viel wie möglich

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rauszuschlagen. Dies brachte ihm im YMCA den Ruf ein, gierig und teuer zu sein (YMCA-Archives 1940-3-4; YMCA Archives 1944-1).

6. S CHLUSS Mit Blick auf meine Eingangsbemerkungen zu Geschlechter-, Familien und Sozialordnungen zeigt die skizzierte Geschichte, wie sich Männer im Verhältnis zu anderen Männern definierten und konturierten – und dies waren in diesem Fall Männer, die als rassisch anders galten. Dabei hatte das gezeichnete Bild des Indianers mit der Realität indigener Existenzweisen wenig zu tun. Vielmehr schuf man eine als ahistorisch und natürlich gedachte Typologie, die es ermöglichte, Kernfamilien und die Vater-SohnBeziehung im Zentrum menschlicher Lebensordnung und des Sozialen zu verankern. Dies geschah nicht nur über Texte, sondern wurde auch in zahlreichen Praktiken vollzogen. Als historischer Akteur zeigt Joe Friday außerdem, wie Indigene an diesem Verfahren Teil hatten. Auch war zu sehen, wie sich amerikanisches Mannsein in vielerlei Form in Relation zu Frauen und Weiblichkeiten konturierte. Als männlicher Akt sollte die Rückbesinnung auf die Wildnis den verweich- und verweiblichenden Effekten modernen Lebens entgegenwirken, und dieses Bestreben war nicht zuletzt durch die Präsenz von Frauen in der sozialen und politischen Ordnung dieser Jahre angeschoben worden. Zugleich haben sich die Verhältnisse von Männern und Frauen, Männlichkeiten und Weiblichkeiten als uneindeutig gezeigt: Wenn etwa Mütter den »Indian Guides« Struktur gaben, dann stärkten sie einerseits männliche Positionen, hielten zugleich aber auch die Fäden in der Hand. Wenn die »Campfire Girls« wie die Jungs in die Wälder zogen, übten sie dabei zugleich spezifische Vorstellungen bürgerlich-häuslicher Weiblichkeit ein und banden diese an Natürlichkeit zurück. 1966 beschrieb der Historiker Robert Wiebe in seiner klassischen Studie die Dekaden um die Jahrhundertwende als Suche nach Ordnung. Die Rückbesinnung auf das Indianische versprach Stabilität in die gefühlte Unordnung dieser Zeit zu bringen. Gleiches gilt für die Rückbesinnung auf eine als natürlich konzipierte Geschlechter- und Familienordnung. Wie sich beide Elemente wirkmächtig ineinander verschränkten, hat der genaue Blick auf die »YMCA Indian Guides« gezeigt.

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YMCA-Archives 1944-1: Memo vom 28. Januar 1944. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 6: Program Records: Boys Work, Folder: Y Indian Guide Papers 1940s. YMCA-Archives 1946-1: H.S. Keltner, July 1946: Origin and History of the Indian Guides Father and Son Movement of the Y.M.C.A. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 56: Boys Work, Folder: History of the Indian Guides, H.S. Keltner, 1946. YMCA-Archives 1947-1: Some Educators Look at the Y Indian Guides Movement. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 6: Program Records: Boys Work, Folder: Papers, 1947-1963A. YMCA-Archives 1947-2: Franklin Bends: How to conduct a Y Indian Guide meeting, Birmingham Federation. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 6: Program Records: Boys Work, Folder: Papers, 19471963B. YMCA-Archives 1947-3: The Beavers Visit Joe Friday. In: The Long House News 11,5 (März-April 1947). YMCA-Archives 1950-1: Minutes des Treffens am 11./12. Februar 1950. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 50: Program Records: Boys Work, Folder: National Executive Committee: Y Indian Guides, Feb. 1950. YMCA-Archives 1951-1: Y Indian Guides Minutes, 10./11. Feb. 1951. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 50: Program Records: Boys Work, Folder: National Executive Committee of Y Indian Guides Minutes, Feb. 1951. YMCA-Archives 1955-1: Minutes vom 18. Feb. 1955. In: YMCA Kautz Family Archives, Box 50: Program Records: Boys Work, Folder: National Executive Committee of Y Indian Guides. YMCA-Archives 1956-1: Bulletin vom April 1956. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 66: Biographical Records, Foster to Friend, Folder: Friday, Joe. YMCA-Archives 1956-2: Minutes vom 17. Feb. 1956. In: YMCA Kautz Family Archives, Box 50: Program Records: Boys Work, Folder: National Executive Committee of Y Indian Guides. YMCA-Archives 1960-1: Minutes des Meetings am 19. Feb. 1960 in Washington D.C. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 50: Program Records: Boys Work, Folder: National Executive Committee Father and Son Y Indian Guides, Feb. 1960.

234 | M ARTSCHUKAT

YMCA-Archives 1961-1: Robert D. Hess, The Y Indian Guide Program of the Young Men’s Christian Association. A Research Study Prepared for the National Council of the YMCAs, 1961. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 56, Boys Work. YMCA-Archives 1971-1: Proklamation aus dem Büro des Bürgermeisters von St. Louis anlässlich der »Y Indian Guide Week«, 19.-25. September 1971. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 51: Boys Work, Folder: National Y Indian Guide Week Kit 1971. YMCA-Archives 1979-1: Donald Leak: Report: National Board YMCA – Urban Action and Program Division: Task Force on Y-Parent-Child Programs, Dallas, TX, Oct. 31, 1979. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 6: Program Records: Boys Work, Folder: Y Indian Guide Papers, 1970s, 1980-A. YMCA-Archives o.D.-1: Matilda Rose McLaren, Washington Park Gardens, Springfield, Illinois: The Indian Way of Life, maschinengeschriebenes Manuskript. In: Kautz Family YMCA Archives, Box 66: Biographical Records, Foster to Friend, Folder: Friday, Joe. Zamir, Shamoon (2007): »Native Agency and the Making of ›The North American Indian‹«. In: American Indian Quarterly, Nr. 4, S. 613-653.

Der Afghanistankrieg als diskursives Kampffeld M ARGARETE J ÄGER , S IEGFRIED J ÄGER

Dass Medien individuelles und gesellschaftliches Wissen herstellen, formieren und regulieren, ist in den Kulturwissenschaften mittlerweile nahezu unbestritten (vgl. z. B. Hartmann 1999). Dass darüber auch die Subjekte in der Gesellschaft geformt werden, auch das wird von den damit befassten Wissenschaften zur Kenntnis genommen (dazu Bublitz 2010). Nicht selten werden die Medien deshalb auch als Herrschaftsinstrument der jeweils herrschenden Klassen angesehen. Sie haben die Macht dazu, demokratisches oder alternatives Wissen zu blockieren, indem sie andere Möglichkeiten der Wissensvermittlung marginalisieren.1 Das soll die Rolle, die alternative Medien in diesem Konzert spielen, nicht geringschätzen. Dennoch ist zu beobachten, dass, auch wenn diese unter günstigen Bedingungen dominante Diskurse durchaus erodieren lassen können, ein Prozess einsetzt, mit dem dieses alternative Wissen in das Machtgefüge integriert wird.2 Medien zu analysieren, das in und von ihnen transportierte Wissen in seinem Aussagegehalt und seinen Subjektivierungseffekten zu erfassen, stellt somit ein wichtiges Instrument dar, mit dem gesellschaftliche Entwicklungen kritisiert und damit auf den Prüfstand gestellt werden können.

1

Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft bei Michel Foucault vgl. Gasch

2

Vgl. dazu die Beobachtungen von Senf (2011), wo er konstatiert, welchen Bei-

2010. trag oppositionelle Medien dabei spielten, die Medienmacht Berlusconis zu brechen.

236 | J ÄGER , J ÄGER

Allerdings stellt sich auch die Frage: Wie weit reicht die Medienmacht? Durch welche Prozesse wird ihre Macht eingegrenzt? In welchem Verhältnis steht Medienmacht zur der Macht, die den Diskursen als solchen innewohnt? Auf diese Fragen sind wir in einer Reihe von Medienanalysen und nicht zuletzt durch Analysen des deutschen Mediendiskurses zum Krieg in Afghanistan gestoßen, bei denen wir ausgewählte Printmedien diskursanalytisch untersucht haben.3 Bereits der Ausgangspunkt unserer Analysen verwies uns auf eine Kluft zwischen Medien- und Alltagsdiskursen: Gab es zu Beginn des Afghanistankrieges eine starke Minderheit von 31% der Bevölkerung, die den Einsatz der Bundeswehr ablehnte, so ist mittlerweile die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dafür, dass die Bundeswehr schnellstmöglich aus Afghanistan abgezogen wird.4 Im medio-politischen Diskurs wird der Krieg dagegen anders bewertet. Die Zustimmung ist hier zwar nicht ungebrochen, aber mehrheitlich vorhanden. Diese Diskrepanz zwischen Medien- und Alltagsdiskurs in dieser Frage zeigt, dass die Macht der Medien (und Politik) also durchaus ihre Grenzen hat und keineswegs absolut ist. Allerdings lässt sich auch feststellen, dass der Afghanistankrieg in Deutschland keine erregten Debatten mehr erzeugt. Demonstrationen gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sind eher selten geworden. Der Krieg wird vor allem nur noch dann zum Thema, wenn deutsche Soldaten angegriffen, verletzt oder getötet werden. Auch als die damalige EKD-

3

Die Ergebnisse dieser Analysen sind in Jäger/Jäger 2010 und 2011 veröffentlicht.

4

Auf die Frage »Soll die Bundeswehr in Afghanistan bleiben oder möglichst schnell zurückgezogen werden?« befürworteten im September 2009 57% der Befragten den schnellstmöglichen Abzug. Im April 2010 waren dann sogar 70% für den Abzug. Im September 2011 waren es immer noch 66% (Quelle: www. infratest-dimap.de). Eine solch skeptische Haltung gilt aber nicht nur für den Afghanistan-Krieg. Auch der erste militärische Einsatz der Bundeswehr während des NATO-Kriegs in Jugoslawien 1999 wurde von einer starken Minderheit der bundesdeutschen Bevölkerung abgelehnt. Nach einer Emnid-Umfrage vom 26.3.99 sprachen sich damals 30% der Westdeutschen und 58% der Ostdeutschen gegen eine deutsche Beteiligung an dem Krieg aus (DER SPIEGEL 13 vom 29.3.1999).

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Ratsvorsitzende Margot Käßmann 2009 in ihrer Weihnachtsansprache darauf hinwies, dass nichts gut ist in Afghanistan, flammte in den Medien nur kurz eine Debatte auf, bei der der Einsatz der Bundeswehr zur Disposition gestellt wurde. Doch trotz solcher medialer Aufregungen ist auch mit Blick auf die Dauer des Krieges zu konstatieren, dass er mittlerweile zur politischen Normalität in Deutschland gehört bzw. als eine solche wahrgenommen wird. Dass gleichzeitig mehrheitlich die Bevölkerung seit Jahren gegen diesen Krieg eingestellt ist und einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan befürwortet, wirft deshalb die Frage danach auf, wie dieser Krieg politisch und medial kommuniziert wird. Offenbar ist die politische und mediale Begleitung dieses Krieges nicht dazu geeignet, aus der Abneigung gegen den Krieg Widerstand erwachsen zu lassen. Es fällt auf, dass der Mediendiskurs in dieser Frage selbst heterogen ist. Innerhalb dieses Diskurses existiert ein breites Sagbarkeitsfeld zum Afghanistan-Krieg. D. h. in die Berichterstattung gehen unterschiedliche Diskurspositionen der jeweiligen Organe, aber auch der Journalistinnen ein. Hinzu kommt, dass in dieser Berichterstattung immer auch die Diskurspositionen der politischen Klasse eingehen. Das liegt an der Funktion der Medien, politische Prozesse zu begleiten und gleichzeitig zu kanalisieren. Sie stellen insofern ein Debattenfeld zur Verfügung, weshalb sich der Mediendiskurs auch als medio-politischer Diskurs fassen lässt. Eine PrintMedien-Analyse zum Afghanistankrieg steht deshalb auch vor der Herausforderung, die medialen und politischen Einsätze der Berichterstattung analytisch voneinander zu trennen. Schließlich ist der historische Kontext zu beachten, in den die Auseinandersetzung um den Afghanistankrieg eingebettet ist. Spätestens seit der deutschen Vereinigung und dem Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers geht es um eine Neudefinition der politischen und militärischen Rolle Deutschlands. Seit dieser Zeit hat sich ein neues außenpolitisches Dispositiv gebildet, in dem Deutschland als Großmacht installiert wird. Bereits seit den frühen 1990er Jahren wird davon ausgegangen, dass mit dem Kollaps der UdSSR und ihres militärischen Blocks die weltweit zunehmenden Konflikte und neuartigen Formen der militärischen Auseinandersetzungen durch den Einsatz von Kampftruppen, so genannter »schneller Eingreiftruppen«, im Interesse der führenden Industrienationen

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(G 7) zu bewältigen seien (z. B. Disselnkötter 1994).5 Entsprechend haben diese Staaten seit dieser Zeit ihre Armeen umstrukturiert und setzen auf kleine, kampfstarke und technologisch hochgerüstete Eingreiftruppen (vgl. S. Jäger 2011). Die Bewertung des Afghanistan-Kriegs und der Rolle der Bundeswehr muss deshalb auch in diesen Kontext gestellt werden.6 Wir haben es hier mit einem machtvollen Dispositiv zu tun, das seine Wirkungen in Wissenschaft, Politik, Medien und in der Bevölkerung entfaltet und dort seine »Logiken« einbrennt. In dieser Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit die Medien sich der Umsetzung dieser militärisch-politischer Strategien beugen und zur Durchsetzung dieses Großmachtdispositivs beitragen. Dabei steht außer Frage, dass eine solche Instrumentalisierung über den Afghanistan-Krieg weit hinausgeht. Der Afghanistankrieg erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch als ein wichtiges diskursives Kampffeld, auf dem heterogene Diskurse aufeinandertreffen und um Deutungsmacht ringen. Zu fragen ist deshalb: Welche Macht üben die (hegemonialen) Medien (oder auch einzelne Interessengruppen und »diskursmächtige« Personen) angesichts ihrer ungeheuren Präsens und Dominanz auf den Alltagsdiskurs aus? Wo und wodurch trifft diese Macht auf ihre Grenzen? Wie lässt sich die Passivität der Bevölkerung gegenüber dieser Medienmacht erklären? Gibt es neben den Strategien der Herrschenden davon abweichende Strategien der Diskurse selbst, die nur schwer durch strategische Einwirkungsversuche auf die Diskurse zu konterkarieren ist? Welche Konsequenzen lassen sich hieraus für die Etablierung von Gegendiskursen ziehen? Wir wollen diese Frage vor dem Hintergrund der Ergebnisse unserer Analyse zum Afghanistan-Krieg zu beantworten versuchen.7 Wie sieht das Sagbarkeitsfeld zum Afghanistan-Krieg in den Print-Medien aus? Wie kor-

5

Vgl. dazu auch Artikel von Jürgen Link in KULTURREVOLUTION, Nr. 58/2010.

6

Das gilt in gleicher Weise für den ersten Krieg mit deutscher Beteiligung im

7

Dazu haben wir eine Analyse der FAZ und TAZ für die Zeit vom 28. Dezember

Kosovo 1999. Vgl. dazu etwa unsere Analysen in Jäger/Jäger 2002. 2009 bis 30. September 2010 und der SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 1. März bis 30. September 2010 angefertigt. Die Ergebnisse der Analyse von FAZ und TAZ für den Analysezeitraum vom 28. Dezember 2009 bis 24. Februar 2010 sind veröffentlicht in Jäger/Jäger 2010. Die Ergebnisse der gesamten Analyse sind veröffentlicht in Jäger/Jäger 2011.

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respondiert es mit dem Alltagsdiskurs? Fügt es sich ein außenpolitisches Großmachtdispositiv ein?8

D ER P RINT -M EDIEN -D ISKURS KRIEG VON 2010

ZUM

AFGHANISTAN -

Die Position der SZ9 Die SZ entwickelt keine eindeutige Position für oder gegen den Afghanistan-Krieg. Kritik am Krieg und seinen Agenten wird zwar geäußert, doch dadurch, dass sie zumeist in Frageform vorgetragen und gegen vermeintliche Sachzwänge und Faktizitäten abgewogen wird, findet gleichzeitig eine starke Relativierung statt. Ein Beispiel: Nachdem der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg anlässlich des Todes von Bundeswehrsoldaten am Karfreitag 2010 von Krieg »aber nicht im Sinne des Völkerrechts« gesprochen hat, kommentiert die SZ unter der Überschrift: »Was heißt hier Krieg?« Die Frageperspektive der Überschrift wird im Text nachdrücklich fortgesetzt: »Was sind die Konsequenzen?« Auch diese werden wiederum vorwiegend in Frageform gekleidet. »Wo und wie« kommt man zu einem »neuen, mehrheitlichen Konsens darüber, was es wirklich bedeutet, in Afghanistan Krieg zu führen?« Es wird auf eine Reihe von Widersprüchen hingewiesen, wie den, »dass die Bundeswehr, die in einer einst als nahezu stabil geltenden Region nun in immer heftigere Gefechte verwickelt wird, im nächsten Jahr mit dem Abzug beginnen kann.« Es seien viele Fragen völlig offen: Man dürfe in dieser Situation nicht von Abzug sprechen, sondern müsse darüber reden, »wie sich die Bundeswehr bis dahin verhalten darf. [K]ann sie zum Angriff übergehen? Wie viele Opfer sind wir bereit zu akzeptieren unter den

8

Es geht uns an dieser Stelle also nicht um eine Kritik dieser Berichterstattung. Es geht darum, die sich in den Ergebnissen zeigenden diskurstheoretischen und diskursanalytischen Probleme zu diskutieren und einer Lösung zuzuführen.

9

Für die Analyse der Berichterstattung in der SZ wurden 360 Artikel gesichtet. Um die Diskursposition der SZ zu ermitteln wurden besonders die Kommentare und kommentierenden Berichte analysiert.

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deutschen Soldaten, den afghanischen und notfalls unter den Zivilisten?« Gibt es »im Bundestag und in der Öffentlichkeit für den Krieg unter diesen Umständen keine Mehrheit mehr?«10 Fragen über Fragen, die in der SZ gestellt werden. Die Beantwortung überlässt sie ihren Leserinnen, wobei sie durch die von ihr aufgeworfenen Fragen den Afghanistankrieg durchaus problematisiert. Dabei beklagt sie zwar die mangelnde Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg und macht mehrere Faktoren dafür verantwortlich: So habe die »rechtswidrige« Zustimmung zu gezielten Tötungen die Zweifel der Bevölkerung am Krieg in Afghanistan erhöht.11 Aber auch die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr führe dazu, dass sie ihrem Auftrag nicht gerecht werden könne.12 Der Umbau der Bundeswehr wird von der SZ nicht nur in Verbindung mit dem Afghanistan-Krieg behandelt. Dabei wird das Ziel, eine kampffähige Truppe für den Einsatz an möglichen Brennpunkten der Welt aufzubauen, nur zurückhaltend angedeutet, indem sie etwa politische Stimmen zitiert, diese aber nicht kritisiert. Damit trägt sie indirekt zur Akzeptanzbeschaffung von zukünftigen Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr bei.

Die Positionen der

TAZ

13

Die inhaltliche Bandbreite der Aussagen zum Afghanistan-Krieg in der TAZ reicht von der Auffassung, dass es zur militärischen Aufstockung der Anzahl der Soldaten in Afghanistan keine Alternative gebe, bis zu der Feststellung, dass der Einsatz in Afghanistan gescheitert sei und es einen baldigen Abzug der Bundeswehr geben sollte. Allerdings ist festzustellen, dass sich in der TAZ seit 2010 die Gewichte innerhalb dieser Bandbreite verschoben haben. Es überwiegt mittlerweile die Kritik am Krieg und die Forderung nach einem schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr.

10 »Was heißt hier Krieg?«, SZ vom 6.4.2010. 11 »Töten auf Kommando«, SZ vom 11.8.2010. 12 Vgl. »Klares Versagen«, SZ vom 17.3.2010. 13 Für die Analyse der Berichterstattung in der TAZ wurden 284 Artikel gesichtet. Um die Diskursposition der TAZ zu ermitteln, wurden besonders die Kommentare und kommentierenden Berichte analysiert.

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Zunehmend wird die Legitimation des Einsatzes thematisiert und in Frage gestellt. Dreh- und Angelpunkt für eine solch kritische Sicht ist der Luftangriff in Kundus vom September 2009. Dieser habe zu einem massiven Vertrauensverlust zwischen Gesellschaft und Bundeswehr geführt.14 Nachdem im April 2010 drei Bundeswehrsoldaten getötet, und weitere schwer verletzt wurden, werden die Kommentare und Berichte in der TAZ nochmals kritischer. Die vermeintliche Alternativlosigkeit des Einsatzes wird in Frage gestellt und dem Argument, dass nach einem Abzug der Nato-Truppe in Afghanistan ein Bürgerkrieg drohe, wird entgegengehalten: »Bürgerkriege gab es (in Afghanistan) nicht aufgrund ethnischer Spaltungen, sondern immer dann, wenn sich starke Netzwerke wie etwa die ›Nordallianz‹ von Warlords unterschiedlicher Ethnien auf Bündnisse mit auswärtigen Staaten einließen, durch den sich andere Netzwerke geschwächt oder bedroht fühlten.«15 Auch wird die Handlungslogik des Krieges in Frage gestellt. »Es geht um viel, aber nicht um die Bevölkerung« – so lautet etwa der Titel eines Kommentars vom 22.4.2010. Es werden sogar die Konsequenzen eines Abzugs für Deutschland und die deutsche Bevölkerung angerissen und damit ein neuer Horizont in der Abzugsdebatte aufgerufen: »Wer rausgeht, muss aufnehmen« »Echte Verantwortung aus westlicher Sicht – aus deutscher Sicht! – würde bedeuteten, bei einem Abzug auf Afghanistan den vielen gefährdeten zivilen Kräften ein Angebot zu machen. Das müsste konsequenterweise lauten, sie in die westlichen Gesellschaften aufzunehmen, deren Einsatz sie mitgetragen haben.«16 Insgesamt formuliert der TAZ-Diskurs also deutliche Kritik an der Kriegsbeteiligung durch Deutschland. Der Krieg wird als Ausdruck einer Denormalisierung deutscher Politik angesehen. Wie auf diese Denormalisierung zu reagieren ist, das beantwortet die TAZ nicht bzw. nicht eindeutig: Allerdings werden die Stimmen derjenigen leiser, die glauben, mit einer Akzeptanz des Krieges könne eine neue Normalität in Deutschland geschaffen werden. Lauter werden hingegen diejenigen, die einen sofortigen oder baldigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan befürworten, also zur alten Normalität zurückkehren wollen. Die Alternativlosigkeit des

14 »Maximaler Vertrauensverlust«, TAZ vom 20./21.3.2010. 15 »Die Freiheit der Afghanen«, TAZ vom 12.4.2010. 16 »Wer rausgeht, muss aufnehmen«, TAZ vom 29.7.2010.

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Einsatzes wird in Frage gestellt, es werden die diskursiven Mittel, mit denen die Bundeswehr und die Politik den Einsatz in der Bevölkerung durchzupeitschen versuchen (etwa Begräbnisrituale) zum Thema gemacht und in Zweifel gezogen. Kriegspropaganda der Medien wird gleichfalls angesprochen.17 Auch wird ein zunehmender politischer Druck antizipiert, der auf die Kriegskritikerinnen ausgeübt wird, bis hin dazu, dass Parallelen zur Dolchstoßlegende gezogen werden.18 Damit werden die Kritikerinnen des Krieges und Befürworterinnen eines baldigen Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan indirekt unterstützt. Gleichzeitig kann die Thematisierung des politischen Drucks, der auf den Kritikerinnen lastet, auch als Hinweis auf die Wirkmächtigkeit der diskursiven Konstellation und des Großmachtdispositivs gewertet werden. Wie dem auch sei: Ein alternatives Handlungskonzept wird in der TAZ nicht thematisiert. Insofern bleibt es beim vagen Lamentieren, das allerdings den Möglichkeitsraum für Alternativen offenhält.

Die Position der FAZ 19 Im Unterschied zur TAZ ist die politische Ausrichtung der Berichterstattung und Kommentierung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr in der FAZ ziemlich einstimmig. Die politischen Entscheidungsträger in Deutschland werden massiv dazu aufgefordert, den militärischen Einsatz zu einem positiven Ende zu bringen – koste es was es wolle. Das Land müsse stabilisiert werden, um »unsere« Sicherheit zu garantieren. Die Vertreter von Regierung und Opposition werden kritisiert, sobald sie nur den Eindruck erwecken, dass sie diese strategische Linie verlassen. Damit verbunden ist der ständige Hinweis, dass man mit Blick auf die damit verbundenen Opfer

17 »Das Mädchen ohne Nase«, TAZ vom 7./8.8.2010. 18 »Unser Vietnam«, TAZ vom 27.5.2010. 19 Die Analyse fußt auf die Sichtung von insgesamt 402 Artikeln, die in der FAZ in der Zeit vom 28.12.2009 bis 15.9.2010 zum Thema Bundeswehr und Afghanistan veröffentlicht wurden. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die 50 Kommentare gelegt, die in dieser Zeit das Geschehen politisch zu bewerten suchten.

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auch der Bevölkerung »reinen Wein« einschenken müsse. Dazu will die FAZ offenbar auch beitragen, indem sie an der »Heimatfront«20 dafür sorgt, dass die Akzeptanz für diesen Krieg in der Bevölkerung wächst, denn darüber ist man sich auch in der FAZ im Klaren: »Ein demokratischer Staat kann nicht auf Dauer gegen den Willen des Volkes einen Krieg führen«.21 Entsprechend müsse die Bundesregierung für einen »Rückhalt« in der Bevölkerung sorgen. Das bedeutet, im FAZ-Diskurs wird zum einen die dem Einsatz innewohnende Eskalationslogik ausgebreitet und verteidigt und gleichzeitig wird der Krieg als unerbittliche Normalität inszeniert, die der Bevölkerung auch als solche zu vermitteln sei. Die Dramatik und Gefährlichkeit des Militäreinsatzes werden eindringlich offengelegt und gleichfalls mit einer Kritik an der politischen Klasse verbunden, die der Bevölkerung nicht die Wahrheit sagen will: »›Am Hindukusch verteidigen‹ hieß von Anfang an auch schießen, töten – mit der Gefahr verwundet, verstümmelt, getötet zu werden.«22 Entsprechend wird den »Gefallenen« pathetisch »Dank und Ehrung«23 dargebracht. Wenn es der Bundesregierung nicht gelinge, den Militäreinsatz besser zu begründen, »geht der Kampf um Afghanistan schon an der Heimatfront verloren.«24 Dass Deutschland in Afghanistan nicht zurückstehen könne und Forderungen nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr für die FAZ völlig abwegig seien, wird auch mit der Solidarität und Bündnistreue gegenüber der Nato begründet. Diese gelte auch dann, wenn weitere militärische und zivile Opfer zu erwarten seien. »Es wird mehr Tote auf beiden Seiten und unter der Zivilbevölkerung geben…« Und sie appelliert: »Das alles ist eine Herausforderung an die Solidarität, ohne die ein Bündnis auf Dauer nicht zusammenhält.«25

20 »Aufklärung«, FAZ vom 19.3.2010; »Förmliche Prüfung«, FAZ vom 20.3.2010; »Kriegsrecht«, FAZ vom 20.4.2010. 21 »Das Mindeste«, FAZ vom 23.4.2010. 22 »Gefallen«, FAZ vom 3.4.2010. 23 »Soldatentod«, FAZ vom 10.4.2010. 24 »Auf Seiten der Sieger«, FAZ vom 15.4.2010. Der Begriff der Heimatfront wird in der FAZ mehrfach verwendet. Auch ist dort zu lesen, dass die Soldaten in einen »Feldzug« verwickelt seien (»Der deutsche Weg«, FAZ vom 27.1.2010). 25 »Herausfordernd«, FAZ vom 6.2.2010 – Nahezu immer wird der Politik unterstellt, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen wolle. »Deutschland hat im

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Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr erscheint in der FAZ deshalb auch als ein Lackmustest für die Rolle Deutschlands in künftigen Auseinandersetzungen. So habe der »nun schon Jahre dauernde Kriegseinsatz« gezeigt, dass die Bundeswehr »am Ende ihrer Kräfte und Möglichkeiten angelangt« sei. Dabei zwinge die »Weltlage« zu grundsätzlichen Strukturveränderungen, die aber nur mit einer »Freiwilligenarmee« zu machen seien: »Die auf absehbare Zeit größte Bedrohung der Sicherheit Deutschlands stellt der islamistische Terrorismus in Verbindung mit instabilen Staaten dar. Die Bundeswehr muss fähig sein, Auslandseinsätze ohne große Vorlauf-, aber mit erheblichen Standzeiten zu bewältigen.«26 Und der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, bemerkt in seinem Gastkommentar zur Bundeswehrreform, dass das neue strategische Konzept der Nato »von allen die Bereitschaft und die Fähigkeit (fordert), solidarisch Beistand zu leisten.« Dies gelte für Risiken, »die von Terrorismus, der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen und Raketen, von grenzüberschreitender Kriminalität und zerfallenen Staaten ausgehen«. Dazu brauche man »Streitkräfte, die über das gesamte Spektrum von intensiven Kampfhandlungen bis hin zur Stabilisierungseinsätzen und Katastrophenhilfe verwendet werden können, die rasch verfügbar und schnell verlegbar sind und die mit den Streitkräften der Verbündeten uneingeschränkt kooperieren können.«27 Bedeutsam ist, dass hier ein Zukunftsszenario entworfen wird, bei dem Auslandseinsätze als eine prinzipielle politische Option gelten. Da dies mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist, wundert es nicht, dass die FAZ eine bereits Ende 2009 geäußerte Anregung des verteidigungspolitischen Sprechers der Unionsfraktion Ernst-Reinhard Beck aufnimmt, der für eine Veränderung des Grundgesetzes plädierte, mit denen auf veränderte »Reali-

Norden des Landes einen Auftrag übernommen und den sollte es … erfüllen.« (»Deutschlands Auftrag«, FAZ vom 7.1.2010) »Die Nato und ihre Partner müssen diese Sache durchstehen.« Und alle Partner müssten »ihre Zusagen einhalten.« (»Jahr der Bewährung«, FAZ vom 8.2.2010) Durch diese Appelle werden die politisch Verantwortlichen gleichsam zu Getriebenen der FAZ. 26 »Zwischen zwei Armeen«, FAZ vom 25.8.2010. 27 »Die Bundeswehr nicht noch mehr schwächen«, FAZ vom 23.8.2010.

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täten des 21. Jahrhunderts« reagiert werde.28 Dies wird in der FAZ aufgegriffen, wenn argumentiert wird, dass die Bundeswehr heute »erst am Anfang der Geschichte ihrer Auslandseinsätze« stehe und es deshalb zu prüfen sei, »ob das Grundgesetz zu ergänzen ist, um eine von den Landes- und Bündnisgrenzen so weit nach vorne gelegte ›Verteidigung‹ in allen rechtlichen Bezügen abzusichern.« Schließlich müssten sich Auslandseinsätze auf den »Konsens der Demokraten, sprich: des Volkes« berufen können.29 Damit ist dann auch die Achillesferse der zukünftigen deutschen Außenpolitik in Sachen Kriegsführung wieder angesprochen: die mangelnde Unterstützung von Kriegen, speziell des Afghanistan-Einsatzes, seitens der deutschen Bevölkerung. Die FAZ warnt die deutschen Politiker eindringlich, nicht »der gegen den Afghanistan-Einsatz gerichteten öffentlichen Meinung nachzugeben.« Die öffentliche »Meinung ist für die Bundesregierung nicht weniger Herausforderung als die militärische Lage am Hindukusch. Ein demokratischer Staat kann nicht auf Dauer gegen den Willen des Volkes einen Krieg führen«. Die Bundesregierung müsse deshalb alles tun, um den »Rückhalt« der Armee zu stärken und einen Meinungsumschwung in der Bevölkerung zu erzielen. Der in der FAZ geführte Diskurs kann und soll offenbar dazu beitragen. *** Die Medien – das hat unsere Analyse von SZ, TAZ und FAZ gezeigt – spielen im Konzert der Afghanistan-Berichterstattung somit auf unter-

28 »Auf veränderte Realitäten des 21. Jahrhunderts sollten wir mit entsprechender Rechtsetzung reagieren«, sagte Ernst-Reinhard Beck (CDU), verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, SPIEGEL-ONLINE. Es stelle sich die Frage, »ob nicht der Gesetzgeber verpflichtet ist, die sicherheitspolitisch relevanten Artikel des Grundgesetzes auf den Prüfstand zu stellen«. – Die asymmetrische Bedrohung komme in der deutschen Verfassung bisher nicht vor. »Das ist ein blinder Fleck, der für den Gesetzgeber zumindest eine Betrachtung wert wäre«, sagte Beck (SPIEGEL-ONLINE vom 18.12.2009, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,667807,00.html, Abruf 25.10.2010). 29 »Was zu klären wäre«, FAZ vom 21.4.2010.

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schiedlichen Instrumenten.30 Während die SZ durch mehr oder weniger intelligente Fragen ihre Kritik am Krieg immer wieder relativiert, fordert die FAZ eindeutig einen Rückhalt für die Armee an der »Heimatfront« und warnt davor, der ablehnenden Haltung in der Bevölkerung nachzugeben. Davon kann in den TAZ-Berichten nicht die Rede sein. Hier kommen zwar auch Vertreterinnen zu Worte, die den Afghanistan-Einsatz bedingungslos unterstützen, doch wird die vorgebliche Alternativlosigkeit des Einsatzes in Afghanistan auch in Frage gestellt und damit ein Denkraum für ein alternatives Vorgehen geschaffen. Allerdings werden auch dort entsprechende vorliegende Handlungskonzepte zivilgesellschaftlicher Organisationen oder gar der Linkspartei nicht thematisiert oder aufgegriffen. Schlussendlich fügt sich deshalb das mediale Orchester dann doch zu einem einheitlichen Klang zusammen. Es produziert die von der Politik gepredigte Alternativlosigkeit zum Vorgehen in Afghanistan. Der Afghanistankrieg wird unverdrossen in den politischen Alltag von Deutschland als ein zwar unangenehmes, aber nicht hintergehbares Faktum integriert und so in den gesellschaftlichen Gesamtdiskurs eingespeist. Die Wirkung der hegemonialen Printmedien ist deshalb insgesamt darauf angelegt, Deutschland als eine kriegsführende Nation zu normalisieren und Großmachtambitionen zu stärken.

Z UM V ERHÄLTNIS

VON

M EDIEN -

UND

P OLITIKDISKURS

Doch es geht nicht nur um das Zusammenwirken von Medien- und Alltagsdiskurs in dieser Frage. Im mediopolitischen Diskurs zeigt sich auch ein Kampf zwischen Medien und Politik. Die Bedeutung des sich vollziehenden Normalisierungsprozesses lässt sich ermessen, wenn wir uns z. B. an ein SPIEGEL-Interview von Volker Rühe aus dem Jahr 1992 erinnern. Volker Rühe war damals Verteidigungsminister in der Kohl-Regierung. In diesem SPIEGEL-Interview formulierte

30 Wir betrachten dabei die von uns untersuchten Zeitungen als Leitmedien des Mediendiskurses und sind uns darüber im Klaren, dass wir mit ihnen nicht alle Facetten des medialen Sagbarkeitsfeldes zum Krieg erfasst haben. Dennoch gehen wir davon aus, dass die ausgewählten Zeitungen die wichtigsten Diskurspositionen repräsentieren.

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er damals folgende Strategie der Bundesregierung, wobei das Zusammenspiel von Medium und Politik unsere Aufmerksamkeit verdient: Rühe: »Ich hoffe nicht, dass unter meiner Verantwortung deutsche Soldaten an Kampfhandlungen teilnehmen müssen. Aber auf die deutschen Soldaten kommt neue Verantwortung zu.« Auf den Einwand, dass weder die Bürgerinnen noch die Bundeswehr auf solche militärischen Ausflüge vorbereitet seien, antwortete er: »Das ist ja meine These. Deshalb müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten. Bei Blauhelm-Einsätzen ist das schon gelungen: Zwei Drittel der Bevölkerung stimmen zu. … Ich verstehe es völlig, dass es für Kampfeinsätze noch Vorbehalte gibt.« SPIEGEL: »Die Bürger sollen sich eines Tages mit Kampfeinsätzen abfinden?« Rühe: »Ich glaube, dass man in die Verantwortung hineinwachsen muss. Übrigens strebt niemand Kampfeinsätze an. Aber die jetzige Situation zeigt doch, wie schwierig es für Deutschland – im Vergleich zu anderen normalen europäischen Nationen wie Frankreich, die Niederlande, Griechenland oder Italien – ist, sich zu entscheiden.« SPIEGEL: »Sind die Deutschen nicht normal, Herr Rühe?« Rühe: »Wir wollen so reagieren können, wie es unsere demokratischen europäischen Nachbarn auch tun. Es ist ja nicht so, als ob wir Deutschen ihnen unsere Normalität aufdrücken wollten. Die Nachbarn sagen vielmehr: Werdet jetzt endlich normal. …. Wenn die Nachbarn, die unter den Deutschen gelitten haben, sagen: Wir brauchen euch an unserer Seite,… dann ist es ziemlich unglaubwürdig, wenn wir nicht auf sie hören. … Wir würden Deutschland … in eine Sonderrolle bringen, wenn wir uns verweigern würden. Wir müssen zusammen mit anderen bereit sein, internationales Recht wiederherzustellen.«31

Dass die Verwandlung Deutschlands in diesem Sinne mittlerweile ein ganzes Stück weit durchgesetzt werden konnte, ist sicher nicht zuletzt auch den Medien zuzuschreiben, indem sie sich vor den politischen Karren solcher

31 Siehe DER SPIEGEL 30/1992, S. 34.

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Strategieoptionen haben spannen lassen.32 Dass dies aber noch nicht vollständig gelungen ist, zeigt sich darin, dass über die Hälfte der Bevölkerung gegen den Kriegseinsatz in Afghanistan ist. Doch natürlich ist auch der Politikerdiskurs nicht homogen. Die Position, die Volker Rühe 1992 vortrug, war und ist innerhalb der politischen Klasse keineswegs unumstritten. Sie muss jedoch als Ausdruck einer Strategie begriffen werden, mit der seit Jahrzehnten ein verändertes militärisches Agieren von Deutschland im Rahmen seiner Bündnisverpflichtungen legitimiert wird. Zwischenfazit: Was lässt sich also zum derzeitigen Stand auf diesem diskursiven Kampffeld festhalten? – Vor dem Hintergrund einer mehrheitlichen Ablehnung des Afghanistankrieges durch die deutsche Bevölkerung schickt sich der Mediendiskurs an, diese Ablehnung aufzuweichen. Dies geschieht zum einen durch eine Kritik an der politischen Klasse, die für die mangelnde Akzeptanz verantwortlich gemacht wird – womit gleichzeitig diese Leserschaft zum Umdenken in dieser Frage angehalten wird. Zum anderen geschieht dies aber auch dadurch, dass der Mediendiskurs darüber, dass er auch Kritik am Krieg formuliert, eine Debatte über die Sinnhaftigkeit des Krieges initiiert, in der sich das Großmachtdispositiv vermittelt über Sach- und Bündniszwänge mehr und mehr zur Geltung bringen kann. Gleichzeitig können wir feststellen, dass diese »Medien-Strategie« (noch) nicht erfolgreich ist. Eine breite Zustimmung zu diesem Krieg ist auch 2012 nicht in Sicht. Allerdings gilt dies auch für den Widerstand gegen diesen Krieg. In gewisser Weise haben wir es also mit einem diskursiven Patt zu tun, das die Frage nach der Macht der jeweiligen Diskurse aufwirft. Denn es ist zwar unbestritten, dass Kriege auf die Dauer nicht gegen den Willen der Bevölkerung geführt werden können, doch was ist, wenn dieser Wille nicht mit Macht ausgestattet ist, die in eine konkrete Gegenwehr umschlagen kann? In diesem Falle würde die derzeitige diskursive Konstellation doch auf einen »Etappensieg« im Sinne des Großmachtdispositivs hinauslaufen.

32 Andreas Disselnkötter hat bereits 1993 in der Zeitschrift KULTURREVOLUTION eine Chronik zusammengestellt, die den »langen Marsch der Bundeswehr in die dritte Welt« zum Inhalt hat.

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D ISKURSTHEORETISCHE S CHLUSSFOLGERUNGEN Hier stellt sich also die Frage nach dem Unterschied der Macht über Diskurse und die Macht der Diskurse ganz konkret. Denn wir haben zu unterscheiden zwischen Strategien, die auf einen laufenden Diskurs als Fluss von Wissen durch Zeit und Raum einzuwirken versuchen, also strategische Bemühungen der Medien, der Politik(erinnen) und den Strategien, die den Diskursen selbst inhärent sind. Hier zirkulieren offenbar im Alltagsdiskurs und im mediopolitischen Diskurs unterschiedliche Aussagensysteme, die das diskursive Patt erklären können. Selbstverständlich haben Medien und die in ihnen agierenden AkteurInnen/Subjekte die Macht, Diskurse zu beeinflussen und zu kanalisieren mitsamt den entsprechenden subjektformierenden Effekten. Und natürlich können solche Versuche – sofern sie über einen längeren Zeitraum und mit der entsprechenden Dauerberieselung geschehen – auch erfolgreich sein. Doch insofern diese Akteurinnen gleichzeitig durch Diskurse selbst als Subjekte konstituiert werden, produzieren und reproduzieren sie mit ihrer Macht immer auch die Logiken und Aussagen und »Wahrheiten« dieser Diskurse. Das gilt es zu beachten. Denn Diskurse üben ja als Diskurse Machtwirkungen aus, die sich gleichfalls in Strategien umsetzen. Insofern können Diskurse aus sich selbst heraus strategische Effekte entfalten, je nachdem welche Kraft ihnen im gesamten diskursiven Gewimmel zukommt. Ein Beispiel für eine erfolgreiche strategische Beeinflussung eines sogar grundgesetzlich verankerten Diskurses durch Politik und Medien war die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993. Dieser »Erfolg« hatte jedoch einen überaus langen Vorlauf. Die ersten Bemühungen, das Grundrecht auf Asyl einzuschränken, gab es bereits Anfang der 1980er Jahre in der alten Bundesrepublik. Mit der sogenannten geistig-moralischen Wende, die ihren Ausdruck in der Regierungsübernahme von Helmut Kohl fand und die sich als »konservative Wende« entpuppte, wurden nach und nach elementare Lehren aus dem Faschismus und der Shoah umgedeutet. Dazu gehörte auch das Recht auf Asyl, das vor dem Hintergrund dieser jüngsten deutschen Geschichte nach 1945 sehr bewusst als Grundrecht in das Grundgesetz Eingang gefunden hatte. Mit der deutschen Vereinigung gewannen dann die bereits in der alten Bundesrepublik vorgetragenen Vorbehalte gegenüber diesem Grundrecht an argumentativer Kraft. Schließlich

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sorgte eine politisch von der CDU angefachte rassistische Kampagne gegen Flüchtlinge und damit gegen den Asylparagraphen dafür, dass sich in Teilen der Bevölkerung eine Stimmung gegenüber Flüchtlingen aufbauen konnte, die zu Tausenden von Brandanschlägen gegen Flüchtlinge und der Unterkünfte führte. In diese Kampagne hat sich damals der Mediendiskurs massiv einbinden lassen. In dieser mediopolitisch angeheizten Situation stimmte dann auch die SPD für die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und sorgte damit für die dazu erforderliche 2/3-Mehrheit im Bundestag. Soweit die strategische Einflussnahme als Ausdruck einer Macht über Diskurse. Trotzdem war dies nur möglich, weil sich zuvor der Asyldiskurs in seinen grundlegenden Aussagen verändert hatte. Eine Erklärung für diese Veränderung liegt sicher auch im Zusammenbruch des sozialistischen Lagers. Bis dahin waren Flüchtlinge aus dem Ostblock ideologisch willkommen. Nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers sah sich die deutsche Gesellschaft veranlasst, sich gegenüber Armutsflüchtlingen abzuschotten, aus Angst davor, dass ihr Wohlstand gefährdet sein könnte. Die Legitimation des Asyls aus der deutschen Geschichte war folglich nicht mehr angesagt und konnte fallengelassen werden. Dieses Beispiel verweist auch darauf, dass Diskurse ziemlich komplex verlaufen, selten gradlinig auf ein Ziel gerichtet sind, sondern immer im Rahmen eines diffusen diskursiven Gewimmels zu verorten sind, in dem sie sich mit weiteren Diskursen verschränken, was zu nicht zu erwartenden diskursiven Effekten führen kann. Auch können sich diskursive Ereignisse einstellen, die den weiteren Verlauf einzelner Diskursen grundsätzlich verändern (können). Deshalb kann man auch – schaut man sich einzelne Diskurse an und erfasst ihren Aussagegehalt – nur von einer gewissen »prophetischen Kraft« von Diskursanalysen sprechen. Für den von uns untersuchten Kriegsdiskurs bedeutet dies: Eine noch so mächtige und wirkungsvoll vorgetragene Befürwortung von kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr durch Medien und Politik war bislang nicht in der Lage, den vorherrschenden (Alltags-)Diskurs umzukehren. Jedoch ist erwartbar, dass er dennoch langfristig zu seiner Erosion beiträgt, weil er in der Bevölkerung Ohnmachtsgefühle und Passivität erzeugt. Daraus sind einige diskurstheoretische und auch diskursanalytische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Analyse von Mediendiskursen ist darauf angewiesen, alle Strategien und Machtwirkungen, die in ihrer Gesamtheit den gesellschaftlichen Diskurs, hier zum Thema Krieg und Frieden, kon-

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stituieren, exakt herauszuarbeiten.33 Dies wiederum bedeutet, dass Diskursanalysen zu kurz greifen, wenn sie nicht von vornherein als Teil von Dispositivanalysen verstanden werden und angelegt sind. Sie müssen darauf abzielen, den ›Notstand‹ zu erfassen, dem im Feld der diskursiven Kämpfe Einhalt geboten werden soll. Es gilt sozusagen auch das Flussbett zu beschreiben, in dem sich der Diskurs bzw. die Diskurse bewegen. Auf dieser Grundlage lässt sich dann beschreiben und erklären, wer, weshalb und mit welchen diskursiven Strategien die Fließrichtung des gesellschaftlichen Diskurses umzulenken und/oder zu stabilisieren sucht, um einen ›Notstand‹ für sich selbst abzuwehren. In eine solche theoretische Konzeption von Diskursanalysen geht ein bestimmtes Dispositiv-Verständnis ein, das Dispositive als komplexe und historisch jeweils spezifische interdiskursive Konfigurationen begreift, in denen sich selektiv sprachlich-diskursive und nicht-sprachlich diskursive Elemente bündeln und die durch diese Bündelung konkrete hegemoniale Kräfteverhältnisse stabilisieren. Dispositive reagieren auf eine Problemkonstellation innerhalb der Gesellschaft und haben deshalb »eine vorwiegend strategische Funktion« (Foucault 1978: 120). Im Anschluss an die Foucault’sche Definition des Dispositivs lassen sich aus unserer Sicht drei Elemente unterscheiden, die in ihrer Gesamtheit ein Dispositiv konstituieren: (sprachliche) Diskurse, (nicht sprachlich fundierte) Handlungen und Sichtbarkeiten. Diese drei Elemente enthalten bzw. verweisen auf Aussagen als prinzipielle Wissenselemente bzw. Atomen des Diskurses, die in ihrem Zusammenspiel ein Dispositiv ausmachen. Wenn Analysen sprachlich verfasster Diskurse als Teil von Dispositivanalysen verstanden werden, zielen sie zwar darauf ab, bereits die in den Dispositivelementen enthaltenen Aussagen zu fassen und zu einem Aussagesystem zu verdichten, das für die strategische Funktion des Dispositivs entscheidend ist; sie lassen jedoch eine Form von Wissen zu sehr außer Acht, das nicht sprachlich fundiert und artikuliert ist. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise die nicht sprachlich performierten Dispositivelemente in die Analyse einbezogen werden kön-

33 Das gelingt aber nur dann, wenn die historische Genese dieses gesellschaftlichen Diskurses mitsamt seiner ihm innewohnenden Festigkeit als Kontext begriffen wird. Alle Versuche, auf Diskurse einzuwirken (also alle damit verbundenen Strategien) arbeiten sich an diesem Kontext ab.

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nen. Im Rahmen der von uns entwickelten Kritischen Diskursanalyse lässt sich dies am ehesten bei der Analyse des diskursiven Kontexts bewerkstelligen.34 Eine solche Sicht auf Diskursanalysen kann auch Auswirkungen auf die Versuche haben, Gegendiskurse zu etablieren. Sie zielen dann nämlich nicht allein auf eine Kritik und Unterminierung der Diskursstrategien von Medien, Politik und weiteren Diskursebenen ab, sondern beziehen sich auf die strategischen Eigenschaften der Diskurse selbst. Denn dann, wenn die Strategien der Diskurse als solche (mit) in den Blick genommen werden, lassen sich oppositionelle Verfahren gegen die durchaus gegebene »Mächtigkeit einiger Mächtiger« entwickeln!35 Für den Diskurs über den Afghanistan-Krieg würde dies bedeuten: Er muss als Ganzer ermittelt werden, also in seiner unmittelbaren und mittelbaren diskursiven Formation und als Bestandteil dieser Formation. Auf die Notwendigkeit dieses Zugangs verweisen unsere eigenen Diskursanalysen zum Afghanistan-Krieg: In einer Dispositivanalyse lassen sich die Fluchtlinien aufzeigen, auf die sich die in einem Diskurs Agierenden beziehen

34 Wir sind uns durchaus darüber im Klaren, dass auch wir bei unseren bisherigen Medienanalysen diesen Gesichtspunkt bisher nicht ausreichend beachtet haben – auch nicht bei der angesprochenen Analyse zur Berichterstattung zum Krieg in Afghanistan. Wir haben zwar immer auch die Macht der Diskurse in den Mittelpunkt gestellt, auch wenn wir eine den Alltagsdiskurs absolut determinierende Rolle des Mediendiskurses abgelehnt haben. Auch haben wir mit der Analyse des diskursiven Kontextes implizit die Elemente des Dispositivs, in das der zu untersuchende Diskurs eingebunden ist, berücksichtigt. Inwiefern unsere hier vorgetragenen Überlegungen zu einer Modifizierung dieses Analyseschritts im Rahmen der Kritischen Diskursanalyse führen sollte, und wie diese aussehen kann, wird noch zu diskutieren sein. 35 Ansätze dazu liegen bereits vor, vgl. z. B. die Initiative Intelligente Deeskalations-Strategie (IIDS), die in Jäger/Jäger/Link/Schulte-Holtey1999, S. 38-40 veröffentlicht wurde. Vgl. auch http://www.konkretion.de/krr_152/index.php? Option=com_content&task=view&id=43&Itemid=37 (Abruf 22.2.2012) Diese Initiative zielt nicht allein darauf ab, Diskurse zu verändern, sondern enthält konkrete Vorschläge darüber, wie mit kurz- und langfristigen Maßnahmen eine Deeskalationsstrategie umgesetzt werden könnte.

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und in deren Horizont sie – ob bewusst oder nicht – der Entfaltung des Großmachtdispositivs zuarbeiten. So verteidigt der medio-politische Diskurs den Krieg in Afghanistan – wenn auch teilweise zähneknirschend – und stützt damit das Dispositiv, das Deutschland zur Weltmacht Nr. 2 machen soll. Diese inhaltliche Ausrichtung ist aber im Alltagsdiskurs noch nicht angekommen. Hier waltet noch ein Dispositiv, das sich nach zwei von Deutschland ausgegangenen Weltkriegen gebildet hat und in dem der Notstand darin bestand, die militärische Macht der Bundesrepublik zu begrenzen und sich wieder als »normales Volk« in die »Völkerfamilie« einzugliedern. Mit Blick auf die weltweiten machtpolitischen Konstellationen lässt sich aber vermuten, dass dieses Dispositiv im Absterben begriffen ist. Die Diskrepanz, die wir zwischen Alltags- und mediopolitischem Diskurs zum Afghanistan-Krieg feststellen, verweist somit einerseits darauf, dass sich das Dispositiv des Krieges, das sich in Verbindung mit der Sicherung von Rohstoffen und der Vormachtstellungen des Westens bildet, noch nicht wirklich durchgesetzt hat. Das in den Jahrzehnten zuvor in der Bevölkerung produzierte Wissen, dass Deutschland sich aufgrund seiner kriegerischen Vergangenheit, die Europa ins Chaos gestürzt hat und deshalb auf keinen Fall im Ausland militärisch intervenieren sollte, ist noch nicht im Sinne dieses Dispositivs abgelöst worden. Und es ist genau dieser Erosionsprozess, der nicht zuletzt durch die Berichterstattung der Medien vorangetrieben wird. Die Analyse zeigt, dass sich die Medien darin einspannen lassen, entweder indem sie die Alternativlosigkeit des Vorgehens predigen und darauf setzen, dass sich diese Sichtweise in der Bevölkerung irgendwann durchsetzen wird. Aber auch dadurch, dass sie durch ihre Kritik am Krieg die politische Klasse dazu auffordern, ihre Argumente im Sinne des Kriegs- und Interventionsdispositiv zu schärfen und die Gegenargumente zu entschärfen. Auch in Verbindung mit der stattfindenden Bundeswehrreform findet ein solcher Umdeutungsprozess statt: Der Umbau der Bundeswehr zu einer schlagkräftigen Truppe, die weltweit einsetzbar ist, wird der Bevölkerung als ein Umbau zu einer »Friedenstruppe« verkauft. Die Wehrpflicht wird ausgesetzt. Krieg wird zukünftig nur noch von Profis betrieben. Da lässt es sich besser wegschauen, wenn »unsere« Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird! Unmut regt sich allenfalls wegen der ökonomischen Folgen einer Reduzierung von Militärstandorten.

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All dies zeigt, dass es einer kritischen Diskursforschung darum gehen sollte, mit Analysen die diskursive Gestalt dieses konkreten Umbaus zu erfassen und den Zusammenhang z. B. von Bundeswehrreform und Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor dem Hintergrund der angezielten Großmachtposition von Deutschland herzustellen. Damit erweitern wir das diskursive Feld, in dem sich der Diskurs zum Afghanistan-Krieg aufhält, und es lassen sich alternative Maßnahmen entwickeln und unterstützen, mit denen sozusagen ein neues Dispositiv in Anschlag gebracht werden kann, das auf den Notstand reagiert, militärische Eskalationen in der Welt zu verhindern.36 Damit seien zumindest einige Perspektiven und Möglichkeiten der Erweiterung der Diskursanalyse zur diskursiven Dispositivanalyse angedeutet.37

L ITERATUR Bublitz, Hannelore (2010): Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis. Bielefeld: transcript. Disselnkötter, Andreas (1993): »Daten um langen Marsch der Bundeswehr in die dritte Welt.« In: kultuRRevolution, Nr. 28, S. 28-34. Disselnkötter, Andreas (1994): Wüstenstürme. Der Krieg des Nordens gegen den Süden? Duisburg: DISS.

36 Etwa könnte man das zitierte Interview von Volker Rühe in diesen Rahmen deuten: Als damaliger Spitzenpolitiker der Regierung und Mitglied der CDU sowie als ehrgeiziger Mann hat er früh für die Etablierung eines neuen militärischen »Konsenses« gestritten, der sich mittlerweile ein ganzes Stück, aber noch nicht vollends durchgesetzt hat. 37 In unseren Analysen in Jäger/Jäger 2002 konnten wir nicht erklären, weshalb es keinen wirklichen Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg gibt. Wir konnten aber auch nicht erklären, weshalb es der medio-politischen Klasse seit über 20 Jahren nicht gelingt, die Bevölkerung zu einer Zustimmung militärischer Einsätze zu bewegen. Wir erwarten jedoch, dass eine Erweiterung unseres bisherigen Verfahrens der Diskursanalyse dazu führen kann, die damit verbundenen Fragen zu beantworten.

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Gasch, André (2010): »Macht und Herrschaft.« In: Siegfried Jäger, Jens Zimmermann: Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste. edition DISS Band 26. Münster: Unrast, S. 79-80. Hartmann, Frank (1999): »Botschaften der Macht. Rezension des FoucaultReaders zu Diskurs und Macht.« In: Telepolis, http://.www.telepolis.de/ deutsch/inhalt/buch/3385/1.html. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst (Hg.) (1999): Im Auge des Tornados. Gemeinsames Sonderheft des DISSJournals und der kultuRRevolution. Essen: Klartext. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried (Hg.) (2002): Medien im Krieg. Der Anteil der Printmedien an der Erzeugung von Ohnmachts- und Zerrissenheitsgefühlen. Duisburg: DISS. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried (2010): »Durchwursteln und Durchhalten. Taz und FAZ Anfang 2010 zum Krieg in Afghanistan.« In: kultuRRevolution, Nr. 58, S. 20-25. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried (2011): »Kriege ohne Ende – Afghanistan und die Medien.« In: Rolf van Raden, Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte. Münster: Unrast, S. 76-94. Jäger, Siegfried (2011): »Militärische Gewalt. Ihre Normalisierung als Produkt multipler Denormalisierung.« In: Wissenschaft und Frieden, Heft 3, S. 6-8. Schwab-Trapp, Michael (2000): »Der deutsche Diskurs über den Jugoslawienkrieg. Skizze eines moralischen Dilemmas.« In: Adi Grewenig, Margret Jäger (Hg.): Medien in Konflikten. Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg: DISS, S. 97-110 Senf, Jörg (2011): »Ende der Berlusconi-Ära. Deutungskämpfe und Sagbarkeitsfelder in den italienischen Medien.« In: Rolf van Raden, Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte. Münster: Unrast, S. 201-222.

Entgrenzung der Gewalt Diskursbedingungen der Dissoziationsmentalität im Kontext des »totalen Krieges«1 D IERK S PREEN

F RAGESTELLUNG Angst, Leid, Qual, Grausamkeit und Terror sind in der Kulturgeschichte des Krieges nicht selten, weshalb es nahe liegen könnte, im Krieg eine Institution der Grausamkeit zu sehen. Aber ganz so einfach stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Krieg und Grausamkeit bei näherer Betrachtung nicht dar. Denn gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung mit entgrenzter Gewalt sind auch die zivilisatorischen Limitierungen des Krieges zu verstehen, die im Recht im Kriege und in der Einschränkung des Rechts zum Kriege ihren Ausdruck finden. Auch die Rede vom ›gerechten Krieg‹ zielt auf eine solche Limitierung. Die moralische und rechtliche Normierung des Krieges reicht schließlich bis zur normativen Diskriminierung des Angriffskrieges und des Krieges als politischem Mittel im Völkerrecht des 20. Jahrhunderts. Schon Mitte der 1930er Jahre befand sich die Welt auf einem Pfad, der der klassischen Lehre des ius ad bellum den Boden entzog und der Gewalt des Krieges rechtliche Regeln aufzwang. Im

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Bei dem Beitrag handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines zuerst in dem von Trutz von Trotha und Jakob Rösel herausgegebenen Band »On Cruelty« (Köln 2011, Verlag Rüdiger Köppe) in englischer Sprache erschienenen Aufsatzes.

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Kontrast zu dieser Entwicklung steht allerdings die Faktizität einer entfesselten Gewalt des Krieges im 20. Jahrhundert. Im ›totalen Krieg‹ fällt die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Dieser Krieg richtet sich gegen ganze Bevölkerungen und ihre Lebensgrundlagen und nimmt den Charakter von Vernichtungsfeldzügen an. Im Zusammenhang mit dieser Totalisierung der kriegerischen Gewaltverhältnisse bleiben auch Grausamkeiten und Kriegsverbrechen nicht lediglich vereinzelte Ausnahmeerscheinungen. So war zum Beispiel der Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Russland mit strukturellen Grausamkeiten verbunden, d. h. Grausamkeit war hier in Kriegführung und Besatzungsherrschaft eingelassen (Mommsen 2000: 65). Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Normierung des Krieges in der Moderne erscheinen strukturelle Entgrenzungen der Gewalt gewissermaßen als ›Ausnahmen im Ausnahmezustand‹ und sind daher spezifisch erklärungsbedürftig. Das Argument, die Entgrenzung der Gewalt liege in der ›Natur‹ des Krieges begründet, überzeugt dagegen schon deshalb nicht, weil dabei der Krieg als unhistorische, außerkulturelle und nichtsoziale Erscheinung begriffen wird. Wie konnte es in der Moderne zu einem solchen Kontrast zwischen Norm und Wirklichkeit kommen? – Dieser Frage nähern sich die folgenden Überlegungen, indem sie wesentliche Elemente der Diskursbedingungen der »Dissoziationsmentalität« (Bernd Hüppauf) rekonstruieren, d. h. einer kollektiv geteilten Weltsicht und Lebensanschauung, die »die Bindungen an die universellen Ideen der politischen und ästhetischen Traditionen« löste (Hüppauf 1996: 90). Diese Fragestellung geht davon aus, dass Diskurse über den Krieg, das heißt geregelte Wissensstrukturen aus Texten, Mythen, Bildern und Kollektivsymbolen, die sich mit dem Krieg und der Gewalterfahrungen des Krieges auseinandersetzen, erheblichen Einfluss auf Sichtweisen, Mentalitäten, moralische Orientierungen und das Handeln von Menschen haben. Dabei beschränkt sich die Untersuchung auf einen bestimmten Diskurs, der sich im Deutschland der Zwischenkriegszeit entfaltet hat. Die zentrale These lautet, dass der kriegsgesellschaftliche Diskurs zu den institutionellen Voraussetzungen der Entgrenzung der Gewalt im Zweiten Weltkrieg gezählt werden muss, weil er die Bindungen an zivilisatorische Normen systematisch zu lösen trachtete. Dieser Diskurs beinhaltete eine fundamentale Kritik zivilisatorisch erworbener Gewaltschranken, die sich insbesondere in einer Kritik der politischen Romantik und der west-

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lichen Zivilisation niederschlägt. Er zielte auf eine heroische Individualisierung, auf die Modernisierung gesellschaftlicher Strukturen nach militärischen Mustern und auf die totale Mobilmachung. Und er mündete in der Apologie der Gewalt. Im Folgenden soll nach einigen methodologischen Bemerkungen zunächst das Moment der legitimatorischen Freisetzung zur Gewalt am Beispiel der Kritik der politischen Romantik dargelegt werden. Anschließend wird das militante und heroisch-sachliche Subjektivierungs- und Individualisierungskonzept dieses Diskurses konturiert, da dieses für die Entstehung einer Dissoziationsmentalität von großer Bedeutung ist, weil es sich an die vergesellschafteten Einzelnen wendet. Die Entwicklung eines solchen Konzepts setzt jedoch voraus, dass zivilisatorische Gewaltbegrenzungen als hinderlich und illegitim erscheinen. Abschließend soll das Gesellschaftsmodell verdeutlicht werden (›totaler Staat‹). Dieses zeichnet sich durch den Wegfall von Gewaltkontrollen (wie zum Beispiel der Gewaltenteilung, des Parlamentarismus und Pluralismus) und ein radikales Identitätskonzept aus, das dem Fremden und Abweichenden die Anerkennung verweigert, Pluralismus verachtet und eine substanzielle Gesellschaftsvorstellung konstruiert. Diese drei Elemente stellen nicht nur wesentliche Bestandteile des kriegsgesellschaftlichen Diskurses dar (Spreen 2008: 160-225), sondern bilden eine öffentlich-diskursive Grundlage für die Dissoziationsmentalität. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass folgende Überlegungen vor allem darauf aufmerksam machen möchten, dass die Entgrenzung der Gewalt und die Entstehung einer Dissoziationsmentalität, die der Entgrenzung der Gewalt zuarbeitet, vorkriegerische Bedingungen haben. Eine dieser Bedingungen sind Diskurse, die darauf zielen, die normativen und zivilisatorischen Fesseln, die der Kriegführung angelegt worden sind, wieder abzustreifen. Es geht also lediglich darum, einige politisch-philosophische Voraussetzungen der Dissoziationsmentalität zu rekonstruieren.

M ETHODISCHE V ORBEMERKUNGEN Diskurse sind geregelte Aussagesysteme, die Sinnangebote machen und dadurch Handlungen beeinflussen und Machtwirkungen erzielen. Sie organisieren Wissensfelder und sind in jeder sozialen Anordnung funktionsrelevant. Mit Foucault lassen sich Diskurse daher auch als institutionelle

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Systeme beschreiben (Foucault 199: 7-49). Diskurse, die über Gesellschaft

sprechen, wirken zugleich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedingungen ein. Insbesondere Hannelore Bublitz hat das eher kulturwissenschaftliche Diskurskonzept Foucaults für die Soziologie anschlussfähig gemacht (Bublitz 1999). Sie weist darauf hin, dass Diskurse die Reichweite von Macht festlegen, die Grenzen der sozialen Einheit ›Gesellschaft‹ bestimmen, Funktionsgefüge thematisieren, normieren und subjektivieren und wichtig für die soziale Integration sind (Bublitz 2003: 79-86). Im Anschluss an Bublitz lässt sich argumentieren, dass Diskurse außerdem kollektive, d. h. im symbolischen Raum einer sozialen Einheit geteilte Deutungen für Erfahrungen und Handlungen bereitstellen und dadurch menschliches Handeln beeinflussen. Sie operieren und wirken nicht nur in makrosozialen Kontexten, d. h. auf der ›gesamtgesellschaftlichen‹ Ebene, sondern auch in mikrosozialen Kontexten, also auf der Ebene der Handlungen, Praktiken, Deutungen, Weltsichten und Lebensanschauungen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die konstruktivistische Perspektive, die viele Diskursanalysen einnehmen, phänomenologisch zu erweitern: Diskurse »konstruieren« nicht nur Interpretationsraster, sondern sie berücksichtigen Erfahrungen, die ihnen in gewisser Hinsicht ›voraus gehen‹: Menschen machen Erfahrungen, die sie im Rückgriff auf diskursive Sinnangebote deuten. Erfahrungen haben dabei aber die Macht, Diskurse und Interpretationsmuster aufzubrechen und so zur Innovation der Sinnangebote aufzufordern. Gerade auch körperbezogene Erfahrungen sperren sich immer wieder gegen vorgegebene Deutungen (vgl. Bublitz 2009; Mersch 2002). Für Gewalterfahrungen gilt das in erhöhtem Maße: In Texten, die über die Gewalt im hochtechnisierten Krieg sprechen, finden sich immer wieder Zeugnisse von ›Erfahrungsschocks‹, an denen vorliegende diskursive Deutungsangebote ›scheitern‹ (Spreen 2008: 43-50). Zugleich sind solche Texte wiederum als Diskursverschiebungen zu betrachten, die der Gewalterfahrung einen kollektiven Sinn geben sollen. Insofern der totalisierte High-Tech-Krieg ganze Gesellschaften involviert, ist in seinem Gravitationsfeld mit einer die Gesellschaft durchdringenden Multiplikation problematischer Erfahrungen zu rechnen, die nach einer Neuinterpretation des Krieges verlangen (ebd: 54-75). Durch einen diskurs- und erfahrungsorientierten Zugang wird also der Blick auf den Zusammenhang zwischen individueller Erfahrung, diskursiven Deutungsangeboten und der Konstitution von Gesellschaft gelenkt

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(Spreen 2010: 49-86). Moderne Kriegsdiskurse können somit als Modelle oder Muster verstanden werden, die das Verhältnis zwischen den Einzelnen, der Gesellschaft, ihrem Funktionsgefüge und dem Krieg bestimmen und bewerten. Dies lässt sich exemplarisch an dem kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit zeigen. Es handelt sich dabei um einen Innovationsund Modernisierungsdiskurs, der die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg vor dem Hintergrund des Interesses an der Revanche thematisiert. Als neues, zugleich aber zentrales Merkmal des Weltkrieges und damit auch aller zukünftigen Kriege wird die Bedeutung der Technik bzw. ›des Materials‹ bestimmt. Innovateure wie George Soldan, Ernst Jünger oder Kurt Hesse2 diskutieren das Verhältnis von Mensch und Technik im modernen Krieg und stellen fest, dass Moral und Begeisterung nichts gegen die Wirkung des Materials vermögen. Der Kerngedanke ist, dass die fatalen Folgen des Stellungskrieges nicht eine notwendige Folge der Industrialisierung des Krieges darstellen, sondern durch falsche operative, taktische, strategische und gesellschaftspolitische Konzepte verursacht wurden. Ausgehend von dieser Kritik werden einerseits Vorschläge gemacht, die auf die Flexibilisierung von Kommunikation und Handlung, auf Professionalisierung und auf die Modernisierung der Führungsstrukturen hinauslaufen. »Kriegsgesellschaftlich« kann dieser Diskurs genannt werden, weil er andererseits nicht im Bereich des militärischen Teilsystems verbleibt, sondern ein alternatives und umfassendes Modell der modernen Gesellschaft

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George Soldan (1878-1945) kämpfte im Ersten Weltkrieg und wurde mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet. Nach dem Krieg wurde er Direktor des Reichsarchivs. Er war ein einflussreicher Autor, der aufschlussreiche Bücher über den Ersten Weltkrieg schrieb und für drei Dokumentarfilme zum Ersten Weltkrieg am Drehbuch mitarbeitete. Kurt Hesse (1894-1976) kämpfte ebenfalls im Ersten Weltkrieg. 1928 als Major aus gesundheitlichen Gründen verabschiedet, kehrte er schon 1930 in die Reichswehr zurück. Auch er war ein produktiver Militärschriftsteller. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er ein hochrangiges Mitglied im OKW/Abteilung Wehrmachtspropaganda. Nach dem Krieg wurde er Präsident der Akademie für Welthandel in Frankfurt am Main und später Honorarprofessor für Ökonomie an der Universität Marburg.

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entwirft, das ganz auf die Kapazität zur Kriegführung ausgerichtet ist.3 Dabei werden ein heroisches Subjektivierungskonzept, eine entsprechende Vorstellung von Führung und ein funktionales und zugleich militantes Gesellschaftsmodell entwickelt. Legitimatorisch fußen die Innovationskonzepte auf einer fundamentalen Kulturkritik – nämlich der Kritik der politischen Romantik und der Ideenbestände der westlichen Zivilisation. Dieser Diskurs formuliert Erwartungen, Leitbilder, Rollenvorstellungen, politische Ideen, Werte usw. Und nicht zuletzt um das Handeln geht es, wenn man Grausamkeit untersucht, da es hierbei um eine spezifische Weise von Gewalt geht, die Menschen anderen Menschen antun (Brieskorn 2005: 72). Weil dieser Diskurs auf die Dissoziation von universellen Wertkontexten und auf die Lösung zivilisatorischer Fesseln der Gewalt abzielt, muss er im Kontext der Frage nach den historischen und institutionellen Bedingungen von Grausamkeit im Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden.

V ON DER G EWALT ZUR › STRUKTURELLEN G RAUSAMKEIT ‹ Unter Grausamkeit versteht Michel Wieviorka Formen der Schädigung, Verletzung oder Tötung, »in der die Gewalt etwas Übermäßiges oder Beliebiges an sich hat« (Wieviorka 2006: 153). Dieser Begriff ist nicht unproblematisch, denn er beinhaltet eine wertende Sichtweise auf diese Form der Gewalt. Für diese Wertung gibt es aber gute Gründe: Denn im Gegensatz zum instrumentellen Einsatz von Gewaltmitteln ist es nicht möglich, Grausamkeit im Rahmen allgemeiner Wertekontexte zu rechtfertigen. Gelänge eine solche Rechtfertigung, dann würde sie Gräueltaten, Quälerei, Sadismus, Schikane, Menschenversuche oder Folter notwendig in institutionelle Grausamkeit verwandeln, denn sie wäre als Strukturmerkmal in den Rahmen (scheinbar) ›vernünftiger‹ Gesellschaftsorganisation eingelassen. Unter bestimmten Bedingungen erschiene grausame Gewalt dann als generell legitimes Mittel der Strafe, Informationsgewinnung oder der Vertei-

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Eine soziologische Annäherung an den Begriff der Kriegsgesellschaft im Unterschied zu dem der Zivilgesellschaft hat kürzlich Volker Kruse (2009, 2010) unternommen.

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digung. Zum Begriff grausamer Gewalt gehört aber, dass sie auf die Zerstörung der Subjektivität ihrer Opfer zielt (Wieviorka 2006: 160; Scarry 1985: 38-45). Grausamkeit ist entgrenzte Gewalt (Trotha 2011). Damit negiert sie auf der konkreten Ebene des sozialen Handelns die grundsätzliche Voraussetzung verallgemeinerungsfähiger praktischer Vernunft, nämlich die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung aller Handlungsbeteiligten als menschliche Personen, denen das Recht auf Selbstbestimmung zukommt (Hausmanninger 2002). Eine ›praktische Vernunft der Grausamkeit‹ kann es nicht geben. Allerdings darf diese wertende Perspektive nicht so verstanden werden, dass damit die Frage nach der Funktionalität von Grausamkeit für Herrschafts- und Machtstrukturen ausgeschlossen wird. Diese Funktionalität herauszuarbeiten und zu verstehen, impliziert zugleich ein disqualifizierendes Urteil über die Legitimität jener Institutionen oder Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer die Funktonalität und Rationalität der Grausamkeit konstatiert werden muss. Hier wird vorgeschlagen, in solchen Fällen von ›struktureller Grausamkeit‹ zu sprechen. Das grausame Antun findet dann nicht als vereinzeltes statt, sondern wird im Rahmen der institutionellen Strukturen gebilligt, gefördert oder gefordert. Aber eben weil es im Rahmen bestimmter sozialer Machtstrukturen eine funktionale Grausamkeit gibt, muss sich der sozialwissenschaftliche Zugang vor Generalisierungen hüten, die – wie es ebenfalls Wieviorka vorschlägt – in der Grausamkeit den Definitionskern der Gewalt überhaupt erblicken (Wieviorka 2006: 148). Da ohne Bezug zur Möglichkeit der Gewalt die Geltung von Normen letztlich nicht gesichert werden kann (Luhmann 1988: 60-69), führt eine solche hochnormative Anschauung in einen performativen Selbstwiderspruch. Denn konsequent zu Ende gedacht, muss sie die Legitimität der »gewaltbewältigenden Gewalt« bestreiten (Popitz 1992: 62-66). Damit stellt sie die faktische Geltung jenes ›zivilen‹ Normenkontextes in Frage, auf die sie sich beruft. Strukturelle Grausamkeit soll also als spezifisches Kennzeichen solcher Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse betrachtet werden, in denen das grausame Antun von physischer Gewalt sowohl funktional, als auch legitimiert erscheint. Solche Grausamkeit geht nicht einfach im allgemeinen Begriff ›der Gewalt‹ auf, obwohl sie eine Erscheinungsweise von Gewalt darstellt. Sie ist besonders erklärungsbedürftig, denn selbst wenn es zu Gewalt kommt, muss dies – aller Gewaltlogiken, -dynamiken oder -spiralen zum

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Trotz – nicht auf Grausamkeit hinauslaufen. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert die folgende Analyse die diskursiven Bedingungen einer spezifischen Mentalität, die für die Entgrenzung der Gewalt ›offen‹ war. Diese Mentalität gründete nicht zuletzt im Diskurs einer modernen Kriegsgesellschaft, der ausgehend von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges im Krieg das Telos kollektiver Vergesellschaftung erblickte und in dem Normen und Subjektivierungskonzepte allein an den Erfordernissen der Gewaltausübung im Krieg ausgerichtet wurden.

K RITIK DER R OMANTIK UND D EKONSTRUKTIONDER G EFÜHLE Durch die Kritik an der Politischen Romantik löst sich dieser kriegsgesellschaftliche Diskurs von einem wichtigen – in Deutschland traditionalen und autochthonen – normativen und ästhetischen Ideenkomplex und den mit ihm verbundenen Versöhnungs- und Friedensvorstellungen. Denn durch die Kritik an der politischen Romantik verschafft sich eine ›praktische Philosophie‹ und politische Lehre Raum und Legitimität, welche gesellschaftliche Normen allein durch politische Macht und Gewalt konstituiert sieht und die Legitimität von Normen in Bezug auf ihre Funktionalität für die Macht bewertet. Diese Kritik bezieht sich auf Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Auf den Schlachtfeldern der Westfront zerfällt das ästhetisch-normative Modell des Zusammenhangs kollektiver Identität, gesellschaftlicher Werte und subjektivem Heros, das die politische Romantik zur Zeit der Befreiungskriege (mit)begründete. Die politische Romantik ist bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Geistesströmung in Deutschland – Karl Mannheim bezeichnet sie als »geschichtliches Apriori gewordene Denkform« (Mannheim 1984: 174) –, die politisch vor allem mit konservativen Ideen in Zusammenhang gebracht wird. Ihre Wirkung und Bedeutung reicht aber über solche verengende Interpretationen weit hinaus (Koehler 1980; Spreen 1998: 41-56, 144-160). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts formulierte die politische Romantik ein spezifisches Friedensbild. Aber das ideale Friedensmodell der Romantik ist die Versöhnung. Das romantische Denken ist ein ›vermittelndes‹ Systemdenken, d. h. alle gesellschaftlichen Phänomene werden als Ausdruck eines dynamischen Spiels von Gegensätzen gedacht, deren Widerspruch nicht zu

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einer Selektion und dem Ausscheiden einer Möglichkeit führt, sondern letztlich zu einer gegenseitigen Ergänzung. Für das Modell der Versöhnung treten verschiedene Metaphern ein, etwa die Einheit mit der Natur in den Bildern Caspar David Friedrichs oder in der Naturphilosophie Schellings. Natürlich ist die Liebe für die Romantik eine ganz zentrale Metapher. Allgemein gesehen ideal wäre daher die Realisation aller Möglichkeiten der Beziehung, von der man sich eine gegenseitige Verstärkung der subjektiven Selbstidentität erhofft (Spreen 2006). Zugleich allerdings hat die Romantik ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Gewalt. Sie muss auch im Kontext der Napoleonischen Kriege gesehen werden. Entsprechend der politisch-strategischen Lage zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das (nationale) Kollektivbewusstsein zugleich auch als Waffe gesehen. Den intrinsisch motivierten Massen der Napoleonischen Armeen sollten eben solche – ›moralisch‹ geleiteten – Massen entgegen gehalten werden. Der aus den Befreiungskriegen stammende Mobilisationsdiskurs der politischen Romantik sieht daher im Krieg einen Anlass für die Erweckung ›der Gesellschaft‹. Der Diskurs zielt damit letztlich auf einen begeisterten Bürger-Soldaten, der sich nicht bei erster Gelegenheit sogleich verdrückt. Noch zu Beginn des Ersten Weltkriegs manifestiert sich diese emphatische Haltung im so genannten ›August-Erlebnis‹. Erneut wird die Entstehung einer neuen kollektiven Wertidee beschworen. Man erhofft sich einen »innere[n] Erfolg des Krieges« (Simmel 1917: 25) und die »Erneuerung unserer inneren Existenz« (Simmel 1917: 28). Die allgemeine Mobilmachung für den Krieg wird erneut zum Anlass für die Konstitution eines gemeinschaftlichen Gefühls und eines kollektiven Bewusstseins. In Anlehnung an den romantischen Mobilisierungsdiskurs werden daher während des Ersten Weltkrieges Begeisterung für die nationale Sache und ›die Moral‹ für entscheidend gehalten. Dies zeigt sich etwa im so genannten ›Langemarck-Mythos‹.4 ›Langemarck‹ wird zu einem »herausragenden Symbol nationaler Einigkeit: das Opfer des Lebens, der Nation von ihrer Jugend unter Gesang dargebracht, wurde als ein metaphysisches Band interpretiert, dessen Macht alle politischen, sozialen und militärischen Kräfte übertraf« (Hüppauf 1996: 58). Die Gewalterfahrungen im Krieg zeigen aber, dass die Begeisterung gegen die nackte Materialwirkung gar nichts vermag. Die Moral zeigt sich

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Schlacht bei Ypern, Oktober/November 1914.

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dem Material unterlegen. Daher wird das sozialmoralische Modell der Romantik zum Ziel eines realistisch-sachlichen Diskurses (Hüppauf 2004: 185). Man dürfe nicht, so heißt es etwa bei dem Kriegstheoretiker George Soldan, auf dem Niveau »der alten Kriegsliteratur« stehen bleiben. Diese zeichne »gern das Erhebende und Mitreißende«, gehe aber »über das Versagen einer Truppe unauffällig hinweg«. Sie biete lediglich Schlachtendarstellungen, die »nur von heldenhaftem Vorwärtsstürmen« erzählen und »für jedes Versagen Entschuldigungen« finden (Soldan 1925: 19). Aber in Wirklichkeit habe der »Heldenansturm an sich« nicht genügt, »die Wendung einer Schlacht [...] herbeizuführen«. Nicht nur, dass es kein Beispiel gebe für das Niederringen eines materialstarken Gegners allein durch die Wirkung der Moral, vielmehr fänden sich umgekehrt »Beispiele in endloser Zahl«, in denen »die todesmutigste Infanterie unter der Wirkung des Materials« zusammenbreche (Soldan 1925: 31). Der »heißeste und der edelste Wille erstickt unter einseitiger, häufig unter nur wenig überlegener Wirkung des Materials« (Soldan 1925: 96 f.). Vor diesem Hintergrund wird gefordert, mit den »Augen der Wirklichkeit« (Soldan 1925: 20) auf den Krieg zu blicken. Dieser Realismus steht dabei allerdings nicht im Dienste einer pazifistischen Abschreckungsästhetik5, sondern zielt auf die Vorbereitung des nächsten Waffengangs, von dessen Notwendigkeit der kriegsgesellschaftliche Diskurs – und mit ihm der Innovationsdiskurs in der Reichswehr – weitgehend unhinterfragt ausgeht (Wehler 2003: 420). Vor dem Hintergrund eines als sicher angenommenen kommenden Krieges muss das Geschehen des Weltkriegs sachlich und leidenschaftslos analysiert, das heißt – so Soldan – »erfahrungswissenschaftlich« aufgearbeitet werden. Eine »billige Schönfärbung« des Krieges, so auch Ernst Jünger in einem von ihm herausgegebenen Sammelband mit »Realismus« beanspruchenden Fotographien aus dem Krieg, sei zu vermeiden (Jünger 1930: 11). Die Kritik der Politischen Romantik ist damit eine Voraussetzung für die zugleich apologetische und erfahrungsorientierte Wahrnehmung des Weltkriegsgeschehens. Daher geißelt Carl Schmitt sie 1919 als »verantwortungslosen Subjektivismus« (Schmitt 1919: 114). Ähnlich äußert sich Oswald Spengler: »Nationale Politik« in Deutschland sei »seit dem Kriege als eine Art Rausch verstanden worden«

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Wie sie etwa in dem pazifistischen Klassiker Krieg dem Kriege von Ernst Friedrich zum Ausdruck kam (Friedrich 1924).

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(Spengler 1924: 21). Ernst Jüngers In Stahlgewittern ist ein Lehrstück, das zeigen soll, worauf es ankam und worauf es ankommen wird: »Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. [...] Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompanien« (Jünger 1922: III).

Unter der Hand eskamotiert dieser ›harte‹ Realismus den Bezug auf die normativen Gehalte des romantischen Gesellschaftsdiskurses. Um Frieden geht es nicht mehr, sondern um den »Zukunftskrieg« (Jünger). Parlamentarismus und Pluralismus werden abgelehnt, stattdessen kultivieren Intellektuelle wie Schmitt, Spengler, Jünger eine antirepublikanische und antizivilisatorische Haltung. Ein ähnliches Bild zeichnet der innovative Expertendiskurs in der Reichswehr (Pöhlmann 2002). Die Antiromantik bezweckt, die »chaotische Leere« des technisierten Schlachtfeldes herauszustellen (Pöhlmann 2002: 20). Zugleich sucht sie, diese Sinnleere ins Positive zu wenden und aus ihr Resultate zu gewinnen. Eine dieser Lehren ist die Konstruktion eines neuen Heroismus, dessen Ethos nicht in kollektiver romantische Begeisterung, sondern in Kompetenz, Härte und Lust an der Gefahr besteht. Sowohl die die Gewalt hemmende normative als auch die Begeisterung stimulierende emotionale Dimension der politischen Romantik erscheinen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs nur hinderlich. Vielmehr implizieren sachlicher Heroismus und kalter Funktionalismus auch die Delegitimation von Mitgefühl und der Idee der Versöhnung.

H EROISCHE I NDIVIDUALISIERUNG Für den klassischen, lorbeerumkränzten Helden ist die Möglichkeit eines ›schönen Todes‹ konstitutiv. Das setzt Konfliktsituationen voraus, die in der Struktur von Zweikämpfen aufgefasst werden können, in der die Kämpfer individuell erkennbar und ihre Taten und ihr Mut ihnen zurechenbar sind. Der »heroische Kampf hat die Struktur eines Zweikampfes, in dem der eigene Tod symbolische Unsterblichkeit garantiert, die Tötung des Gegners die symbolische Inbesitznahme des gegnerischen Namens ermöglicht«

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(Müller 1986: 225). Genau diese Möglichkeit ist in der Materialschlacht nicht gegeben. Das namenlose Töten und Sterben zerstört die romantische Vorstellung des Kampfes Mann gegen Mann. Das Töten und das GetötetWerden wird ein anonymer, technisch vermittelter Vorgang. Aber so genau der kriegsgesellschaftliche Diskurs die Sinnentleerung des Soldatentodes zu benennen vermag, so sicher sucht er, diese Sinnleere ins Positive zu wenden und aus ihr moralische Resultate zu gewinnen. Eine dieser Lehren ist die Konstruktion eines neuen Heroismus, dessen Ethos darin besteht, teilzuhaben, aus- und standzuhalten und die Möglichkeit des Todes gleichgültig hinzunehmen. »Amoralisch, kalt, funktional, erfahren, hart sollten die Männer sein, die keine Ideale, mit denen sie sich identifizieren konnten, und keinen Enthusiasmus, um ihren Kampfgeist in Bewegung zu setzen, mehr nötig hatten« (Hüppauf 1996: 73). Gefragt ist der erfahrene Kriegshandwerker mit »Nerven wie Stahl« (Soldan 1925: 38), der genau weiß, was möglich ist. Was diesen Helden führt, ist nicht kollektive romantische Begeisterung, sondern Kompetenz, Härte und Bindung an die Funktion: »Du musst alle Kraft zum Aushalten aus dir allein schöpfen. Du kannst nicht einmal aufstehen und dir mit blasiertem Lächeln eine Zigarette anzünden, dich an den bewundernden Blicken deiner Kameraden aufrichten. [...] Du weißt, wenn es dich trifft, wird kein Hahn danach kräht. Ja, warum springst Du nicht auf und stürzt in die Nacht hinein, bis du in einem sicheren Gebüsch wie ein erschöpftes Tier zusammenbrichst? Warum hältst Du noch immer aus, du und deine Braven? Kein Vorgesetzter sieht dich. Und doch beobachtet dich jemand. Dir selbst vielleicht unbewusst, wirkt der moralische Mensch in dir und bannt dich durch zwei mächtige Faktoren am Platze: die Pflicht und die Ehre. Du weißt, du bist zu diesem Kampfe an diesen Ort gestellt und ein ganzes Volk vertraut darauf, dass du deine Sache machst. Du fühlst, wenn ich jetzt meinen Platz verlasse, bin ich ein Feigling vor mir selbst, ein Lump, der später bei jedem Worte des Lobes erröten muss. Du beißt die Zähne zusammen und bleibst. An diesem Abend hielten alle aus, die dort an der dunklen flanderischen Chaussee lagen. Man sah, dass Führer und Mannschaft in einem heroischen Geiste erzogen waren« (Jünger 1922: 137).

Die geschilderte Szene ist ein eindrückliches Beispiel für jene von Emile Durkheim als soziale Dinge apostrophierten moralischen »Gussformen, in

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die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1984: 126). Der soziologische Funktionalismus Durkheims stellt den Einzelnen an seinen gesellschaftlichen Ort und heroisiert bereits rhetorisch das Erfüllen des moralischen Zwangs: »Er fühlt, dass er zu etwas dient« (Durkheim 1992: 442). Und weiter: »Bereite Dich vor, eine bestimmte Funktion nützlich auszufüllen« (Durkheim 1992: 87). Ganz ähnlich geht es bei Jünger um den Heroismus, der aus dem Bewusstsein resultiert, »an entscheidender Stelle zu stehen« (Jünger 1981: 68). Die Helden der Materialschlacht gelten als »Männer, die ihrer Stunde gewachsen waren, unbekannte, verwegene Kämpfer« (Jünger 1922: 182). Als Held6 erweist sich, wer – wie Jünger selbst – in schwerer Stunde durch »Verantwortlichkeitsgefühl« geleitet seinem »Amt« gerecht wird (Jünger 1922: 191). Diese Idee, den Typus des Helden da zu sehen, wo die Funktion erfüllt, wo aus-, durch- und standgehalten wird, bezeichnet Hans-Harald Müller als »sachlichen Heroismus« (Müller 1986: 224). Der sachliche Heros erscheint im kriegsgesellschaftlichen Diskurs nicht nur im Kontext der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wie bei Durkheim, sondern auch im Zusammenhang mit dem technischen Raum des modernen Krieges. Er kreiert ein militantes Arbeitsethos, das sich an das Individuum wendet. Vom Einzelnen wird verlangt, dass er seine Aufgabe unter höchstem Einsatz – eben heroisch – erfüllt. Dabei kann von einer militanten Form der Individualisierung gesprochen werden. Individualisierung bedeutet nach Durkheim, die Potentiale jedes Einzelnen optimal zu nutzen, indem man seinen Platz im arbeitsteiligen und funktionalen Zusammenhang von seinen individuellen Fähigkeiten abhängig macht. Weiter gedacht geht es in der individualisierten Gesellschaft nicht um starre und kollektive Gehorsamsstrukturen, sondern um Identifikation mit der Aufgabe, Selbstmotivation, Kreativität, Teamarbeit, Eigeninitiative und Entscheidungskompetenz. Die Freisetzung der individuellen Kräfte erhöht dabei – erfolgt sie nur normativ selbstkontrolliert und durch Informationssysteme reguliert am richtigen Ort im Funktionszusammenhang – die Produktivität.

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Den geschlechterpolitischen Zusammenhang zwischen heroischer Opferbereitschaft, Krieg und Bürgerrechten hat eindrücklich Ute Frevert (2001: 344-356) rekonstruiert. Auch Robert W. Connell (2006, 234 f.) weist in seiner Analyse hegemonialer Männlichkeit darauf hin, dass kein Bereich in der westlichen Kultur für die Definition von Männlichkeit wichtiger war als das Militär.

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Analog wird im kriegsgesellschaftlichen Diskurs festgestellt, dass der disziplinarische Drill keine zeitgemäße Vorbereitung auf den modernen Krieg mehr leisten kann. Auch hier sind Spezialisierung, Eigeninitiative und individuelles Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gefragt. Der Kämpfer der Zukunft soll keine Drillmaschine mehr sein, sondern selbstständig und verantwortungsbewusst handeln können. Daher geht es in Zukunft noch mehr als im Weltkrieg um die Erziehung zur Selbständigkeit. So fordert beispielsweise Jünger: »Je mehr der Mann allein fechten muss, zu desto größerer Selbständigkeit muss er erzogen werden. Je verfeinerter die Waffen, desto mehr verlangen sie Fassungsgabe und technisches Verständnis« (Jünger 1921: 290).

In diesem Diskurs manifestiert sich somit ein soziales Subjektivierungskonzept. Ähnlich wie bei Durkheim geht es darum, dass der Einzelne einerseits möglichst umfassend in die ›organische‹ Arbeitsteilung integriert wird, seine Funktion aber gleichzeitig selbstverantwortlich und eigeninitiativ mit maximaler ›Produktivität‹ erfüllt. Zweck ist die produktive Vermittlung von Funktion und Individualität, von Notwendigkeit und Freiheit. Dementsprechend propagiert Jünger das gedankliche Einstimmen subjektiver Handlungsmotive auf die Notwendigkeiten des funktionalen Gefüges. Es geht ihm darum, dass »der Einzelne sich der Arbeitswelt zugehörig fühlt«. Seine »heroische Auffassung der Wirklichkeit« äußert sich darin, dass »er sich in der Gestalt des Arbeiters begreift«. Insofern fallen »Freiheit« und »Notwendigkeit« zusammen (Jünger 1981: 67). Legt man das Konzept »sozialer Subjektivität« zu Grunde, das Heinrich Popitz entworfen hat (Popitz 1992: 138-151), dann handelt es sich um einen Mix verschiedener Subjektivitätstypen, nämlich Zugehörigkeit (Mitglied zu einer substanzialisierten sozialen Einheit7), zugeschriebene Rolle (Pflicht und Gehorsam), erworbene Rolle (individuelle Fähigkeiten, z. B. technisches Verständnis), öffentliche Rolle (Heros) und eigene Individualität (Eigeninitiative, Haltung, Selbstbeobachtung). Aber anders als in einer zivilen Gesellschaft, die strukturell die Anerkennung des Fremden, des Anders-Seins und der Abweichung einschließt, darf im heroischen Individualisierungskonzept die eigene Individualität den

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Ausführlich dazu unten.

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Rahmen militärischer und arbeitsteiliger Funktionalität nicht überschreiten. Fremdheit wird als Feindschaft konzipiert, Körper und Selbst werden in ein »Stahlkleid« gesteckt (Theweleit 1980: 189). Die im sachlichen Heroismus angelegt Apologie der Funktion verwandelt sich damit in eine Apologie der Gewalt, denn die technische Schlacht stellt die Wirklichkeit dar, innerhalb derer man seinen Platz einnimmt (Jünger 1981: 185 f.). Angestrebt wird somit letztlich eine »jederzeit einsatzfähige Kampfmaschine« (Hüppauf 1996: 73). Damit avanciert der Krieger, der in der Materialschlacht ernst und mit stählernen Nerven seiner Arbeit nachgeht, zum übergreifenden Leitbild der sozialen Mobilisierung. Der kalte, funktionale und heroische Individualismus des kriegsgesellschaftlichen Diskurses hält keinen Ort für Emotionen bereit, die das technisch verstärkte Verletzen, Zerstören und Töten einschränken könnten. Er fordert zudem, von Gefühlen, die das Ausfüllen der Funktion behindern könnten, Abstand zu nehmen. Der entsprechende Diskurs empfiehlt Selbsttechniken, die darauf zielen, kollektiven Enthusiasmus, Begeisterung und ›Herz‹ auszuschalten und muss daher als eine wietere Bedingung für die Entstehung und Verbreitung der Dissoziationsmentalität gesehen werden.

T OTALE M OBILMACHUNG

UND

K RIEGSGESELLSCHAFT

Der kriegsgesellschaftliche Diskurs nimmt die moderne Gesellschaft in einer technisch-kriegerischen Form wahr. Dabei wird dieses militante Modell von Modernität zugleich hypostasiert. Zeigen lässt sich dies anhand der als Gesellschaftsanalyse verkleideten Aufforderung zur ›totalen Mobilmachung‹ für den zukünftigen ›totalen Krieg‹. Die Aufforderung zur totalen Mobilmachung geht einher mit einer militanten Sozialsemantik und einem ›starken‹ politischen Regulationsmodell. Dieser Gesellschaftsdiskurs zielt ebenfalls auf die Loslösung von gewaltbeschränkenden Ideen und Strukturen. Die Vorstellung der totalen Mobilmachung meint so ziemlich das Gleiche wie der von Durkheim entwickelte Begriff der organischen Solidarität. Das arbeitsteilige Funktionsgefüge stellt sich Durkheim idealerweise wie ein aufeinander abgestimmtes System verschiedener Organe vor. In diesem System erfüllt der Einzelne seine Aufgabe und erweist sich dabei als von

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der gesamten Gesellschaft abhängig. Und weil die Gesellschaftsmitglieder im System der Arbeitsteilung voneinander abhängig sind, lernen sie, »sich als Teil eines Ganzen zu betrachten, als Organ eines Organismus« (Durkheim 1992: 285). Die Gesellschaft gewinnt so »ein tiefes Gefühl ihrer selbst und ihrer Einheit« (Durkheim 1992: 228). Durkheim verbindet diese Beschreibung mit der Prognose eines zunehmenden Individualismus, der aus der funktionalen Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Arbeit resultiert. Das erzeugt den Effekt, dass die Stärke dieses moralischen sozialen Bandes von der Entfaltung des Individuums abhängt (Durkheim 1992: 286). Wie die Durkheimsche Modernisierungsperspektive, erstrebt auch die Idee der totalen Mobilmachung die Einbindung der individuellen Arbeit in einen möglichst reibungslosen Funktionsprozess. Nichts soll der »vollen Entfesselung des Lebens [...] in seiner unbarmherzigen Disziplin, mit seinem rauchenden und glühenden Revieren, mit der Physik und Metaphysik seines Verkehrs, seinen Motoren und Millionenstädten« entkommen. In »diesem rasenden Prozesse« darf es nichts geben, »das nicht Arbeit ist« (Jünger 1934: 131). Dabei wird festgestellt, dass dieser Prozess auf der sozialen Egalisierung der Chancen beruht. Wenn es gilt, die Fähigkeiten eines jeden optimal zu nutzen und seinen Einsatz zu motivieren, dann kann auf traditionelle Anciennitätsprinzipien keine Rücksicht mehr genommen werden. Zugleich wird die mit der funktionalen Ausdifferenzierung verbundene Individualisierung erkannt. Denn die Entscheidung, auf dem Posten zu bleiben, stellt eine subjektiv motivierte Entscheidung dar. In der subjektiven Anerkennung der »Notwendigkeit« der Funktion verbirgt sich also zugleich die Anerkennung des Ganzen und ein Bekenntnis zur total mobilisierten Gesellschaft. Aus der Perspektive des Innovationsdiskurses wird auch das Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft thematisiert. Vorgeschlagen wird eine Gliederung der Armee in Front-, Etappen-, und Heimatheer. Dies soll im Ernstfall ein schnelles Einbinden der ausdifferenzierten und spezialisierten gesellschaftlichen Funktionen in die Notwendigkeiten der Kriegführung ermöglichen: »Wer Volkswirtschaftler ist, wird für die Ernährungsfragen des Landes gebraucht, wer Eisendreher ist, in den Munitionsfabriken usw.. […] Der überraschend gekommene Materialkrieg fordert auch in der Heimat ein seinen Forderungen angepasstes Berufsheer« (Soldan 1925: 85).

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Es geht hierbei nicht um eine allgemeine Mobilmachung und Aufstellung eines »Millionenheeres«, sondern um die rasche und effiziente Einbindung der gesellschaftlichen Arbeit in den Kriegsprozess. Diese soll nicht einem reinen Wirtschaftskrieg dienen, sondern die militärische Entscheidung unterstützen. Die Modernisierungsüberlegungen zielen daher gerade nicht auf die Einbindung der Armee in eine demokratische Zivilgesellschaft. Genau umgekehrt wird diskutiert, wie die Gesellschaft und der Produktionsprozess möglichst optimal in die Kriegführung integriert werden kann. Erklärtes Ziel der Innovateure ist die Revanche – diesem politischen Ziel wird alles andere untergeordnet. Der Krieg wird dabei zur Norm des Politischen erhoben. Der Effekt dieser Politisierung der militärischen Modernisierung ist, dass der Normen- und Wertekontext von Zivilgesellschaft, Republik und Demokratie außen vor bleibt. Mehr noch – er erscheint als Hindernis für die Kriegführung. Wie es geling, das Konzept der gesellschaftlichen Mobilisierung aus dem zivilgesellschaftlichen Kontext herauszutrennen, lässt sich exemplarisch an Ernst Jünger zeigen. Jünger rechtfertigt diese Heraustrennung durch den Rückgriff auf ein spezifisches »Wesen« der deutschen Gesellschaft. In seiner Analyse der totalen Mobilmachung während des Weltkrieges in Deutschland argumentiert Jünger zunächst, dass die Mobilmachung nur halbherzig vollzogen worden sei, weil die Liberalen, die Arbeiter, überhaupt alle Anhänger des westlichen Zivilisationsmodells durch einen »inneren Zwiespalt« (Jünger 1934: 145) am totalen Einsatz gehindert worden seien. Schließlich hätten sie gegen ihre eigenen Ideale, die in den westlichen Nationen Frankreich, England und USA verkörpert sind, antreten müssen. Dass die Sozialdemokratie überhaupt bereit war, sich »in den Rahmen des Aufmarsches einzuordnen«, erklärt Jünger dadurch, dass sie »ihrer internationalen Dogmatik zum Trotz dennoch aus deutschen Arbeitern, also aus einem Stoffe bestand, der Beziehung zum Elementaren besaß und daher auch heroisch bewegt werden konnte« (Jünger 1934: 143 f.). Aufgrund dieses »inneren Zwiespalts« der Liberalen und Sozialdemokraten habe die Mobilmachung, sich nur »die technischen Fähigkeiten eines Menschen unterstellt, ohne jedoch in den Kern seines Glaubens eindringen zu können« (Jünger 1934: 145). Fortschritt und Zivilisation gelten in dieser Argumentation als rein oberflächliche Modi gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die »innerste Urkraft des Volkes« (Jünger 1934: 140) bleibt demnach von Zivilisation und

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dem Fortschritt unberührt. Diese sprechen gegenüber dem Volk eine »fremde Sprache«. Dagegen »gehört die deutsche Sprache den Ursprachen an, und als Ursprache flößt sie der zivilisatorischen Sphäre, der Welt der Gesittung, ein unüberwindliches Misstrauen ein« (Jünger 1934: 147). Als Beleg für dieses Elementare und für diese Ursprache verweist Jünger auf die skeptische Haltung der ehemaligen Feinde gegenüber der Weimarer Republik: Denn »unsere zivilisatorischen Beteuerungen« würden nur als »eine oberflächliche Maske der Bosheit, als Maske der Barbarei« erachtet. Dies sei der Grund »aus dem man dem Lande, das nach einer solchen Niederlage den merkwürdigen Ruhm für sich in Anspruch nahm, die ›freieste Verfassung der Welt‹ zu besitzen, jenes Maß an Gleichberechtigung versagte, das für jeden Kongoneger selbstverständlich war. – Und, Brüder, wenn wir diese Welt und das, was sie bewegt, im Grunde erkennen, sollten wir nicht stolz darauf sein, von ihr als eine ihrer höchsten Gefahren gewittert zu sein« (Jünger 1934: 148)? Zwar brachte der Versailler Vertrag tatsächlich »keinen einheitlichen Plan für eine neue europäische Ordnung hervor« und in den westlichen Demokratien lehnte die öffentliche Meinung aufgrund kriegsbedingter Ressentiments »Deutschland als gleichberechtigten Partner bei Friedensverhandlungen ab«, aber als Jünger diese Diagnose niederschreibt, ist längst eine deutliche Tendenz zur Integration der Weimarer Republik in die Völkergemeinschaft sichtbar geworden (Howard 2001: 68 f.). Durch einen Diskurs der nationalen Selbststilisierung als allgemeiner Feind der westlichen Zivilisation sucht Jünger die Vergemeinschaftung der deutschen Gesellschaft voranzutreiben. Die Bestimmung Deutschlands als totaler Feind der Zivilisation im Weltkrieg wird zum Grund der eigenen kollektiven Identität erklärt. Die Feindbestimmung deute auf »die Schranke, die uns von Europa trennt« (Jünger 1934: 152); sie zeige ein »geheimes Deutschland« (Jünger 1934: 151), welches den oberflächlichen Mächten von Zivilisation und Fortschritt nicht erlegen sei. Der Krieg führte daher zum »Gewinn eines tieferen Deutschlands« (Jünger 1934: 152), denn der »deutsche Mensch« begegnete darin »einer stärkeren Macht: er begegnete sich selbst. So war dieser Krieg ihm zugleich und vor allem das Mittel, sich selbst zu verwirklichen. Und daher muss die neue Rüstung, in der wir bereits seit langem begriffen sind, eine Mobilmachung des Deutschen sein, – und nichts außerdem« (Jünger 1934: 153).

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Der Krieg wird hier als Konstituens eines sozial-moralischen Lebensgefühls und Selbstverständnisses begriffen, das nicht auf Kollektivismus hinausläuft, sondern mit Selbstbegegnung und Selbstverwirklichung – also Kategorien der Individualisierung – in Verbindung gebracht wird. Dieses Selbst verweise jedoch ontologisch auf eine tiefere deutsche ›Substanz‹, die im Krieg erkennbar und erfahrbar werde. Wenn man diese Substanz aber funktionalistisch betrachtet, so ist sie nichts als der bloße Reflex der totalen Feindstellung. Totale Feindschaft heißt eben auch totale Fremdheit. Die Interpretation des Krieges, der Versuch, einen Sinn am Grunde des Trichters zu finden, mündet in die diskursive Konstruktion einer spezifischen Substanz des Deutschen, in der die Feindschaft zwischen Deutschland und den institutionellen und normativen Errungenschaften der westlichen Zivilisation begründet sei. Es handelt sich damit um eine deutende Rückprojektion, die in der totalen Feindschaft einen tieferen Sinn sehen möchte, der sie unvermeidlich macht. Der Rückgriff auf diese Deutung erlaubt es jedenfalls, die gesellschaftspolitische Aufgabe zur Modernisierung und Mobilisierung der Gesellschaft im Kontext einer fundamentalen Feindstellung und des totalen Krieges zu formulieren. Es handelt sich also um eine militante Semantik des Sozialen und um eine kriegerische Modernisierung. In diesen Modernisierungsdiskurs und dem ihm entsprechenden Selbstbild der Gesellschaft sind Rüstungspolitik, totaler Krieg und Feindstellung zur Zivilisation eingeschrieben. Dieser militanten Sozialsemantik korrespondiert außerdem eine Militarisierung der Gesellschaftsorganisation. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die Apotheose des »totalen Staates« und des Führerprinzips. So stellt nach dem Ersten Weltkrieg auch Carl Schmitt fest: »Das Ob des totalen Krieges steht heute außer Frage« (Schmitt 1937: 237). Zwar lassen sich aus dieser Diagnose noch keine genauen Urteile über die Art des totalen Krieges ableiten, aber für Schmitt scheint auf jeden Fall klar, dass es bereits im Frieden zu einer umfassenden Ausrichtung der Gesellschaft auf den potenziellen Krieg kommen muss. Diese vorgreifende Einbindung der Gesellschaft in die Möglichkeit des totalen Krieges erfasst Schmitt mithilfe des Begriffs des totalen Staates. Der totale Staat ist dadurch gekennzeichnet, dass er mit dem Gesellschaftlichen zusammenfällt, das heißt dass er zur »Selbstorganisation der Gesellschaft« geworden ist:

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»Organisiert sich die Gesellschaft selbst zum Staat, sollen Staat und Gesellschaft grundsätzlich identisch sein, so werden alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche Probleme und man kann nicht mehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sachgebieten unterscheiden. [...] Die zum Staat gewordene Gesellschaft wird ein Wirtschaftsstaat, Kulturstaat, Fürsorgestaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat; der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordene, demnach von ihr in der Sache nicht mehr zu trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, das heißt alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht« (Schmitt 1931: 151 f.).

Das gesellschaftstheoretische Potenzial der Überlegungen Jüngers genau erkennend, greift Schmitt auf den Begriff der totalen Mobilmachung zurück, um »diesen erstaunlichen Vorgang« zu charakterisieren (Schmitt 1931: 152). Allerdings entfaltet sich in diesem totalen Staat das Problem der Einheit. Denn die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte werden nun unmittelbar politische Kräfte. Damit aber verwandelt sich die ursprüngliche Entscheidungsidentität des über oder neben der Gesellschaft stehenden Staates in eine Entscheidungspluralität, deren Ort das Parlament ist. »Der Staat ist jetzt [...] Selbstorganisation der Gesellschaft, aber es fragt sich, wie die sich selbst organisierende Gesellschaft zur Einheit gelangt und ob die Einheit wirklich als Resultat der ›Selbstorganisation‹ eintritt« (Schmitt 1931: 155).

Schmitts Analyse zufolge steht nicht zu erwarten, dass Pluralismus, Polykratie und Parlamentarismus aus sich heraus eine Einheit herstellen können. Die Herstellung einer solchen entscheidungsfähigen Einheit ist aber notwendig, weil sonst nicht die Unterscheidung zwischen Freund und Feind getroffen werden kann, weder im Innern noch im Äußeren. Erst recht unter den Bedingungen der permanenten Möglichkeit des totalen Krieges erscheint es notwendig, eine die Gesellschaft umfassend bindende und mobilisierende einheitliche Entscheidungsinstanz einzurichten. Pluralismus wird als hemmender Faktor in der gesellschaftlichen Mobilisierung betrachtet. Eine einheitliche Souveränität sei nur durch einen Formwandel des totalen Staates zu erreichen. Dieser muss zu einem starken Staat werden, das heißt die pluralistische Verteilung der Entscheidungsgewalt auf die verschiedenen, einander widersprechenden institutionalisierten Mediatoren des gesellschaftlichen Willens muss zugunsten einer zentralen

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souveränen Entscheidungsinstanz aufgehoben werden. Schmitt entwickelt im Rückgriff auf den faschistischen Staat in Italien folgendes Bild eines solchen Staates: »Ein solcher Staat lässt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden. In diesem Sinne ist […] jeder echte Staat ein totaler Staat« (Schmitt 1933: 186).

Die Konsequenz dieser Argumentation liegt auf der Hand: Unter der Bedingung der Möglichkeit des totalen Krieges und der im Ersten Weltkrieg seitens der Westmächte scheinbar deutlich gewordenen »totalen Feindschaft« gegenüber Deutschland (Schmitt 1937: 238; Jünger 1934: 147 f.) muss der Staat qualitativ in einen starken totalen Staat umgeformt werden, der in der Lage ist, die totale Mobilmachung der Gesellschaft im Kontext des Krieges zu organisieren. Dieses Modell hat aus Schmitts Sicht den Vorzug, dass mit dieser Transformation des totalen Staates ohnehin nur zu Tage tritt, was am Grunde des Politischen liegt: die reale Möglichkeit des Krieges, die Konstitution der Gesellschaft durch die Unterscheidung von Freund und Feind bzw. wesenhaft Fremdem und Eigenem, die Norm der sozialen Homogenität und die Identität zwischen Souverän und Volk. In diesen allgemeinen Begriffen entwickelt Schmitt das Bild einer Kriegsgesellschaft. Diese erscheint ihm als das Wesen des Sozialen. In diese militante Sozialsemantik ist die Erwartung der Ablösung des pluralistischen und parlamentarischen Systems durch einen »Führer« eingeschrieben. Ein Führer garantiert durch seine personale Einheit und durch seine herausgehobene Position die Möglichkeit der souveränen Entscheidung. Nur durch eine zentrale und in sich identische Regierung kann »die Verteidigung der Gesellschaft« (Schmitt 1934: Sp. 948) geleistet werden. Weiterhin ist der Führer für Schmitt das Kennzeichen wahrer Demokratie, denn im »Führerstaat« (Schmitt) kommt die Identität von Volk und Souverän zum Ausdruck. Er schützt die »Lebenskraft« des Volkes; und er weiß es im Sinne seines eigentlichen Wesens und Willens zu lenken und zu beherrschen. Dass Schmitt das Idealbild der Souveränität an die Integration von

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Gerichtsbarkeit, Rechtsetzung und Staatsführung bindet, ist daher wenig überraschend. In vorauseilender Begeisterung wird der kommende Führer bereits zu Beginn der zwanziger Jahre charakterisiert: »Und so wird er sich denn einmal ankündigen, er, auf den wir alle voller Sehnsucht warten, die Deutschlands Not heute tief im Innern empfinden: das tausend- und abertausend Hirne ihn malen, Millionen Stimmen nach ihm rufen, eine einzige deutsche Seele ihn sucht. Woher er kommt, niemand vermag es zu sagen. Aus einem Fürstenpalaste vielleicht oder einer Tagelöhnerhütte. Doch jeder weiß: Er ist der Führer; ihm jubelt jeder zu; ihm gehorcht auch ein jeder. Und warum? Weil er eine eigentümliche Gewalt ausübt: Er ist ein Herrscher der Seelen. Und darum nennt man ihn auch den Feldherrn Psychologos« (Hesse 1922: 206).

Die soziale Herkunft des Führers spielt wie im neuen leistungsorientierten militärischen Führungsmodell keine Rolle. Aufgabe der Führung ist vielmehr die totale Mobilisierung, nicht das Ersticken der Gesellschaft in mechanischen Gehorsamsverhältnissen. Diese Mobilisierung beruht aber auf der motivierenden Aktivierung der individuellen Kräfte und Fähigkeiten im gesellschaftlichen Maßstab. Wichtig ist, dass er gleichzeitig Ausdruck der »deutschen Seele« wie »Herrscher der Seelen« ist. Im Führer – dem »Feldherrn Psychologos« – fallen Allgemeines (die »deutsche Seele«) und Besonderes (die vielen »Seelen«) zusammen. Daher kommt es in ihm zur Identität von Regierung und Gesellschaft, Souverän und Volk. Anhand der Gesellschaftsvorstellung wird somit ebenfalls deutlich, wie sich der kriegsgesellschaftliche Diskurs von der Idee einer allgemein teilbaren normativen Verbindlichkeit verabschiedet. Er spricht ausschließlich im Namen des Eigenen und der Identität. Die Brücke zur modernen Zivilgesellschaft wird durch die Fundamentalkritik an der westlichen Zivilisation, an Liberalismus und Sozialdemokratie und an den Institutionen der parlamentarischen Demokratie abgebrochen. Entworfen wird vielmehr das Modell einer alternativen, ganz auf Krieg und imperiale Herrschaft gerichteten Moderne. Damit werden systematisch universelle normative Bestände delegitimiert, die auf Gewalteinschränkung zielen. So wurde Raum für eine Dissoziationsmentalität geschaffen, in der der Übergang von kriegerischer

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Gewaltausübung zu systematischen und grausamen Verbrechen fließend wurde.

S CHLUSS Wenn kollektive Einheit in der Möglichkeit des Krieges und in der ständigen Bereitschaft zur bewaffneten Verteidigung gründet, wie Carl Schmitt meint, dann heißt es immer nur »Wir oder die Anderen«. Dazu muss man sich zivilisatorischer Bestände entledigen, die die Gewalt hemmen und dem entfesselten totalen Krieg entgegenstehen. Einen solchen Bestand stellte die politische Philosophie der Romantik dar, noch dazu einen, der aus der nationalen Tradition stammt. Um sich der in diesen Bestand eingeschriebenen Gewalthemmungen und Herrschaftskontrollen zu entledigen wird auf die Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg verwiesen. Dabei wird argumentiert, dass Begeisterung und moralisches Gefühl dem modernen Krieg nicht mehr angemessen seien. Derart gelingt es, aus den Gewalterfahrungen des ersten Weltkrieges ein Argument für die Apologie des totalen Krieges zu formen. Diese Apologie ist ein Beispiel für das, was Popitz das »Syndrom totaler Gewalt« nennt. Kennzeichnend dafür ist nicht nur der »Lobpreis der Gewalt« und ihre Technisierung, sondern auch die Indifferenz gegen das Leiden. Diese Gleichgültigkeit bildet – so Popitz – eine »Schmerzhaut«, »die uns Hemmungen und vor allem ein Bedenken dessen, was passiert, vom Leibe hält« (Popitz 1992: 68). Der Apologie der Gewalt setzen die weiteren Elemente des kriegsgesellschaftlichen Diskurses nichts entgegen. Mehr noch: Sie unterstützen sie, indem sie den Krieg zur Norm des Politischen erheben, die Gesellschaft in eine Kriegsgesellschaft zu transformieren trachten und ein der Gewalterfahrung des totalen Krieges konformes Subjektivierungskonzept entwerfen. Vor diesem Hintergrund müssen die Kritik der politischen Romantik, der westlichen Zivilisation, des Liberalismus und der Sozialdemokratie gemeinsam mit anderen zentralen Elementen des kriegsgesellschaftlichen Diskurses zu den Bedingungen einer Dissoziationsmentalität gezählt werden, die die Bindung an universalistische Normen und Werte systematisch löste. Eine solche Lösung ist eine der Voraussetzungen für strukturelle Grausamkeit. Insofern Diskurse als geregelte Aussagensysteme kulturelle

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Institutionen darstellen und der kriegsgesellschaftliche Diskurs, angesiedelt zwischen Modernisierern in der Reichswehr, Konservativer Revolution und Nationalsozialismus, ein sehr einflussreicher Modernisierungsdiskurs in der Zwischenkriegszeit war, kann er als eine Institution der strukturellen Grausamkeit angesehen werden. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Erzeugung sowohl subjektiver, wie gesellschaftlicher, als auch politischer und philosophischer Kälte durch den kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit ohne Rekurs auf den Antisemitismus und ohne Bezug zur Idee des Rassenkrieges auskommt. Beide Ideologien können zwar ohne größere Probleme in diese Diskursstruktur eingefügt werden, weil sie jeweils der Konstruktion des »absoluten Feindes« (Carl Schmitt) entsprechen, aber sie sind keine notwendigen ideologischen Korrelate dieses Diskurses. Dieser stellt schon für sich allein eine Quelle jener Dissoziationsmentalität dar, die die systematischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit ermöglichte, die im Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite begangen wurden.

L ITERATUR Brieskorn, Norbert (2005): »Grausamkeit – Gewalt – Macht.« In: Johannes Müller, Mattias Kiefer (Hg): Globalisierung der Gewalt. Weltweite Solidarität angesichts neuer Fronten globaler (Un-)Sicherheit. Stuttgart: Kohlhammer, S. 71-98. Bublitz, Hannelore (1999): Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main: Campus. Bublitz, Hannelore (2003): Diskurs. Bielefeld: transcript. Bublitz, Hannelore (2009): »Das Maß aller Dinge: Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers.« In: Ästhetik & Kommunikation, Heft 144/145, S. 151-160. Connell, Robert W. (2006): Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeiten. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Campus. Durkheim, Emile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Durkheim, Emile (1992) Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (1992): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer. Frevert, Ute (2001): Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München: Beck. Friedrich, Ernst (1924): Krieg dem Kriege! Berlin: Freie Jugend. Hausmanninger, Thomas (2002): »Voraussetzungen: Was in diesem Buch unter Ethik und unter Gewalt verstanden wird«. In: Thomas Hausmanninger, Thomas Bohrmann (Hg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink, S. 11-32. Hesse, Kurt (1922): Der Feldherr Psychologos. Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft. Berlin: Mittler & Sohn. Howard, Michael (2001): Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt. Lüneburg: Zu Klampen. Hüppauf, Bernd (1996): »Schlachtenmythen und die Konstruktion der ›Neuen Menschen‹.« In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...« Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Frankfurt am Main: Fischer, S. 53-103. Hüppauf, Bernd (2004): »Kriegsliteratur.« In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2. Auflage. Paderborn: Schöningh, S. 177-191. Jünger, Ernst (1921): »Die Technik in der Zukunftsschlacht.« In: MilitärWochenblatt, Nr. 14 vom 01.10.1921, S. 289 f. Jünger, Ernst (1922): In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. 3. Auflage. Berlin: Mittler & Sohn. Jünger, Ernst (1930): »Krieg und Lichtbild.« In: Ernst Jünger (Hg.): Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Berlin: Neufeld & Henius, S. 9-11. Jünger, Ernst (1934): »Die totale Mobilmachung.« In: Ernst Jünger: Blätter und Steine. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, S. 122-153. Jünger, Ernst (1981): Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart: KlettCotta. Koehler, Benedikt (1980): Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Autorinnen und Autoren

Becker-Schmidt, Regina (Prof. em. Dr. phil.) hat am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover gelehrt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Subjekttheorie, Kritische Theorie, psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie und Geschlechterforschung. Bublitz, Hannelore (Prof. Dr. phil.) lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Selbststeuerungs- und Normalisierungsdynamiken in modernen Gesellschaften; Verschränkung sozialer Technologien und Ökonomien in der Massenkultur; Technologien des Körpers, des Geschlechts und des Selbst. Eßbach, Wolfgang (Prof. em. Dr.) hat Kultursoziologie an der AlbertLudwigs-Universität in Freiburg i. Br. gelehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie und Anthropologie, Soziologie der Artefakte (Kunst und Technik), Soziologie der Religion, Ideengeschichte, Intellektuelle. Gruhlich, Julia (M.A.) ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Allgemeinen Soziologie an der Universität Paderborn tätig. Ihre Forschungsgebiete sind Frauen- und Geschlechterforschung, Arbeits- und Organisationssoziologie, qualitative Sozialforschung, Theorien sozialer Ungleichheit und Macht, Gender Mainstreaming und Diversity Management.

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Jäger, Margarete (Dr. phil.) ist Sprachwissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Ihr Forschungsgebiet ist die kritische Diskursanalyse. Jäger, Siegfried (Prof. em. Dr.) ist Literaturwissenschaftler und Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Sein Forschungsgebiet ist die kritische Diskursanalyse. Link, Jürgen (Prof. em. Dr.) ist Literaturwissenschaftler und arbeitet mit dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) zusammen. Forschungsgebiete: Interdiskurs, Kollektivsymbolik, Normalismus. Makropoulos, Michael (PD Dr. disc. pol.), Kultur- und Sozialwissenschaftler, lebt in Berlin. Arbeiten zur Theorie der Moderne in Korrelation von Ästhetik, Kulturgeschichte, Gesellschaftsanalyse und Sozialphilosophie. Martschukat, Jürgen (Prof. Dr.) lehrt Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Seine Forschungsgebiete sind Nordamerikanische Kulturgeschichte, Geschichte der Gewalt, Geschichte der Familie, Geschlechtergeschichte, Geschichtstheorie. Mehlmann, Sabine (Dr. phil.) ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet derzeit als Programmkoordinatorin des Gleichstellungkonzepts im Büro der Frauenbeauftragten der Justus-Liebig-Universität-Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Biopolitik, Männlichkeitsforschung, Bildung und Geschlecht. Riegraf, Birgit (Prof. Dr. phil.) lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsgebiete sind Theorien und Methodologie der Frauen- und Geschlechterforschung, Organisations-, Arbeitsund Industriesoziologie, Gerechtigkeits- und Staatsforschung. Runte, Annette (Prof. apl. Dr.) ist Literaturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität Siegen. Mitarbeit beim Folgeprojekt »Identités problématiques (individuelles et collectives)« im Rahmen des CR2A an der Universität Rouen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diskurstheorie, Narratolo-

AUTORINNEN UND AUTOREN | 287

gie, Gattungspoetik und Rhetorik unter methodologischen sowie epistemologischen Aspekten, Autobiographie-Forschung und Gender Studies. Schrage, Dominik (Dr. phil. habil.) ist Privatdozent für Soziologie an der Technischen Universität Dresden und vertritt derzeit die Professur für Kultursoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Soziologie der Medien und des Konsums, historische und theoretische Soziologie, Diskursanalyse. Seier, Andrea (Dr. phil.) lehrt Medienwissenschaft an der Universität Wien, Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mikropolitik der Medien, Gouvernementalität, Gender und Medien. Spreen, Dierk (PD Dr. phil.) lehrt Allgemeine Soziologie als Akademischer Oberrat auf Zeit an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie des Krieges und der Gewalt, Sicherheitsdispositive, Funktionen der Massenkultur, mediale Gewalt, Cyborgisierung, Kultur und Weltraumfahrt, Diskursanalyse. Weber, Lena (Dipl. Soz.) ist an der Universität Paderborn in der Allgemeinen Soziologie als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Ihre Forschungsgebiete sind Soziologische Theorie, Organisations- und Wissenschaftssoziologie, Geschlechterforschung und qualitative Sozialforschung. Winkler, Hartmut (Prof. Dr.) lehrt Medienwissenschaft, Medientheorie und Medienkultur an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medientheorie, Kulturtheorie, Semiotik. Webpage: www.unipaderborn.de/~winkler.

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus August 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung August 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Michael Heinlein, Katharina Sessler (Hg.) Die vergnügte Gesellschaft Ernsthafte Perspektiven auf modernes Amüsement November 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2101-3

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Sozialtheorie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

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Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung Januar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Oktober 2012, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme Mai 2012, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven August 2012, ca. 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart August 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte August 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper September 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft September 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0

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