Kulturelle Dimensionen von Konflikten: Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität [1. Aufl.] 9783839413678

Ob »Clash of Civilizations«, Bürgerkriege oder deutsche Feminismus-Debatten - dass Konflikte eine kulturelle Dimension h

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Kulturelle Dimensionen von Konflikten: Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität [1. Aufl.]
 9783839413678

Table of contents :
Inhalt
1. Das Kulturelle an Konfl ikten in den Blick nehmen
Zu diesem Buch
2. Wider die Verallgemeinerung
Zu diesem Kapitel
Kulturkonfl ikte – Zur theoretischen und empirischen Reichweite des »Clash of Civilizations«-Paradigmas
Von globalen zu lokalen Konfl ikten: Die Rekontextualisierung des »war on terror«-Diskurses in nationalistischen Diskursen im ehemaligen Jugoslawien
3. Geschlechterverhältnisse – Gewaltverhältnisse
Zu diesem Kapitel
»Die Frau muss Frau bleiben und darf die von der Natur gegebenen Grenzen nicht überschreiten«. Geschlecht und Nation in der Kärntner slowenischen Geschichte
The Partitioning of Women: Zwei Romane aus Indien und Pakistan
Incremental Terrorism. Kulturelle Maskulinität, Konfl ikt und Gewalt gegen Frauen
Alphamädchen, F-Klasse und germanische Emanzen – zum »Wir« der neuen deutschen Feminismen
4. Ver-Fremden
Zu diesem Kapitel
Mit der Angst kämpfen, auf Hoff nung bestehen: Strategien junger MigrantInnen beim Eintritt in das schwedische Arbeitsleben
Über queere Identitäten, Affi rmation und die Politik des Coming Out
5. »Diese Vergangenheit muss sich ihrer Gegenwart stellen«
Zu diesem Kapitel
Die peruanische Kommission für Wahrheit und Versöhnung im Andendorf Santiago de Lucanamarca
Sri Lanka – ein Land nach dem Krieg
6. Die Autorinnen und Autoren dieser Publikation

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Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovic´ (Hg.) Kulturelle Dimensionen von Konflikten

Band 2

Editorial Die Reihe »Kultur & Konflikt« dokumentiert die Ergebnisse eines Forschungsnetzwerks, das seit 2005 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt arbeitet. Vertreter/-innen der Frauen- und Geschlechterforschung, der Friedensforschung sowie der Kulturwissenschaften untersuchen – über die sozioökonomische und politische Dimension hinaus – interdisziplinär die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt. Auf diesem Wege leistet die Reihe einen Beitrag zur Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, arbeitet an der Etablierung einer interdisziplinären Geschlechterforschung mit und setzt politische Wissenschaft und Bildung in Bezug zur Geschlechterund Friedensforschung. Die Reihe wird herausgegeben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovi´c (Hg.) Kulturelle Dimensionen von Konflikten. Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität

Veröffentlicht mit Unterstützung von: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien, Dr. Manfred Gehring Privatstiftung, Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christof Subik, »In der Eulenflucht, hier«. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Künstlers Lektorat: Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovic´, Silke Schwaiger Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1367-4 ^

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Das Kulturelle an Konflikten in den Blick nehmen Zu diesem Buch .................................................................................................. 7 Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratković

2. Wider die Verallgemeinerung

Zu diesem Kapitel ............................................................................................ 13 Wilhelm Berger Kulturkonflikte – Zur theoretischen und empirischen Reichweite des »Clash of Civilizations«-Paradigmas ......................................................... 16 Fabian Virchow Von globalen zu lokalen Konflikten: Die Rekontextualisierung des »war on terror«-Diskurses in nationalistischen Diskursen im ehemaligen Jugoslawien ............................................................................... 31 Karmen Erjavec, Zala Volčič

3. Geschlechterverhältnisse – Gewaltverhältnisse Zu diesem Kapitel ............................................................................................. 47 Brigitte Hipfl »Die Frau muss Frau bleiben und darf die von der Natur gegebenen Grenzen nicht überschreiten«. Geschlecht und Nation in der Kärntner slowenischen Geschichte .................................................................................. 54 Tina Bahovec The Partitioning of Women: Zwei Romane aus Indien und Pakistan .......................................................... 72 Geetha Ramanathan

Incremental Terrorism. Kulturelle Maskulinität, Konflikt und Gewalt gegen Frauen ................................................................... 91 Christopher Kilmartin Alphamädchen, F-Klasse und germanische Emanzen − zum »Wir« der neuen deutschen Feminismen ............................................ 106 Kirstin Mertlitsch

4. Ver-Fremden

Zu diesem Kapitel ......................................................................................... 125 Kirstin Mertlitsch Mit der Angst kämpfen, auf Hoffnung bestehen: Strategien junger MigrantInnen beim Eintritt in das schwedische Arbeitsleben .................................................................... 128 Nora Räthzel Über queere Identitäten, Affirmation und die Politik des Coming Out ............................................................................. 144 Mate Ćosić

5. »Diese Vergangenheit muss sich ihrer Gegenwart stellen« Zu diesem Kapitel ............................................................................................ 165 Viktorija Ratković Die peruanische Kommission für Wahrheit und Versöhnung im Andendorf Santiago de Lucanamarca ................................ 169 Nora Ramirez Castillo Sri Lanka – ein Land nach dem Krieg ............................................................ 187 Barbara Preitler

6. Die Autorinnen und Autoren dieser Publikation ...................................... 195

1. Das Kulturelle an Konflikten in den Blick nehmen

Z U DIESEM B UCH »Ich glaube, nicht völlig anders zu sein als du, aber was ich geworden bin, bin ich auf einem anderen Weg als du geworden. Wir müssen also erkennen, dass uns eine jeweils andere Geschichte hervorgebracht hat, die diesen Austausch ermöglicht. Ich kann nicht so tun, als sei ich du. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen du gemacht hast. Ich kann mir nicht deinen Kopf zerbrechen. Unser Zusammenleben muss also auf Austausch basieren, auf Verständigung. Ich will nicht du sein. Du sollst nicht ich sein. Ich will dich nicht einverleiben. Ich will nicht darauf bestehen, dass du aufhörst, du zu sein und wie ich wirst. Also: Wie machen wir jetzt weiter?« Stuart Hall (2008)

James Donald (1999: 265) spricht von zwei zentralen Fragen, die sich in der Auseinandersetzung mit Kultur stellen. Die eine bezieht sich darauf, wie wir zusammen leben, die andere darauf, wie wir miteinander sprechen. Diese auf den ersten Blick so einfach erscheinenden Fragen beinhalten all die komplexen Prozesse und Machtverhältnisse, die für unsere gelebten Erfahrungen und damit für unser Selbstverständnis, für Gemeinschaft und Zugehörigkeit, für Ausgegrenzt-Sein und Ausgeschlossen-Sein konstitutiv sind. Konflikte sind dabei unabdingbar, da es in mehr oder weniger expliziter Weise immer darum geht, was als kulturelle Norm durchgesetzt bzw. was verworfen wird, was als nicht akzeptabel erscheint, und welche Konsequenzen sich daraus für einzelne Menschen oder Personengruppen ergeben. Fast immer sind in dem Zusammenhang tiefe Gefühle invol-

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viert, die, wie Stuart Hall (2008: 482f.) betont, kaum zu verstehen sind, wenn man sich nicht auf das Feld der Kultur begibt und zu ergründen versucht, wie »Macht produziert und um sie gerungen wird« (Grossberg 1999: 48). Kultur kann im weitesten Sinn als Bedeutungssystem aufgefasst werden, das sich je nach historisch-spezifischem Kontext über unterschiedliche Praktiken auf allen Ebenen der Lebensweise spezifischer gesellschaftlicher Gruppen ausdrückt. Kultur ist auf diese Weise untrennbar mit dem Gesellschaftlichen und Politischen verknüpft. Sich mit Kultur zu beschäftigen heißt demnach, die Wirkweise dieser Bedeutungssysteme zu untersuchen und sich damit auch der Konflikthaftigkeit von Kultur zuzuwenden. Hier setzt der vorliegende Band an, dessen Fokus auf die kulturellen Dimensionen von Konflikten gerichtet ist. Dies soll nicht als kulturalistische Lesart von Konflikten missverstanden werden, eine Lesart, die ja gegenwärtig z.B. in öffentlichen Diskussionen über Gewalt gegen Frauen in Form von Ehrenmorden Hochkonjunktur hat, wenn Ehrenmorde als Elemente einer rückständigen Kultur abgetan werden. Im Gegenteil, unsere Intention ist es gerade, solche Erklärungen und Zuschreibungen zu analysieren und zu problematisieren und sie selbst wieder als Elemente eines spezifischen Diskurses erkennbar zu machen, mit dem die Überlegenheit der westlichen Lebensweise und der damit verknüpften ökonomischen Machtverhältnisse legitimiert und gesichert werden soll. Unser Anliegen ist, Einblicke in die Funktionsweise von Kultur zu geben, da wir davon ausgehen, dass Gesellschaftsformen ohne Einbeziehung des Kulturellen nicht begriffen werden können. So kann am Beispiel der Rede über Ehrenmorde deutlich gemacht werden, dass diese mit Elementen aus früheren Erzählungen »zusammengeklebt« (vgl. De Certeau 1988: 227) ist, in denen eine übergeordnete westliche Kultur einer »anderen«, nicht-westlichen gegenübergestellt wird. Werden solche Artikulationen immer wieder vorgenommen, können diese Redeweisen eine performative Wirkmächtigkeit entwickeln, die sie als naturgegeben erscheinen lassen. Eine Erzählung ist also mehr als bloß eine Erzählung, sie ist ein »kulturell schöpferischer Akt«, der distributive Macht und performative Kraft hat – »sie macht, was sie sagt« (ebd.: 228). Erzählungen können Räume schaffen, aber auch »die Bildung, Verschiebung oder Überschreitung von Grenzen […] autorisieren« (ebd.: 228). Damit sind zwangsläufig Konflikte verbunden, und wir sind mit der Herausforderung konfrontiert, mit diesen Konflikten in menschenwürdiger und demokratischer Weise umzugehen. Mit unserer Schwerpunktsetzung auf die kulturellen Dimensionen von Konflikten wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, dass dies die einzige und alles umfassende Seite von Konflikten ist. Stuart Hall (2008: 482) hat es kurz und bündig formuliert: »Natürlich ist Kultur nicht alles, aber sie ist eine Dimension von allem.« Kultur bezieht sich auf Bedeutungen und Symbole, und darauf, wovon die Menschen träumen, welche Vorstellungen und Fantasien sie haben. Kultur als Bedeutungssystem ist von den jeweiligen historischen, sozialen, politi-

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schen und ökonomischen Kontexten bestimmt, die sie jedoch gleichzeitig konstituieren und (re)produzieren. Wie Lutz Mussner (2008: 490) betont, gilt es, »Kultur gleichermaßen als Prozess wie als Produkt aufzufassen: zum einen als dynamische Bewegung von Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsschemata, die mit einem Feld von sozialen Beziehungen, Machtverhältnissen und Positionen korrespondiert, das durch die ungleichen Verteilungen ökonomischer, sozialer und symbolischer Kapitalien strukturiert ist; zum anderen als Produkt, in dem sich historische, kollektiv tradierte Erfahrungen zu einer Denk-, Perzeptions- und Handlungsmatrix verstetigen.«

Mussner verweist hier auf das Geflecht von Relationen, das in den Blick genommen und analysiert werden muss, will man den Sinngehalt von Kultur erfassen. Er argumentiert für eine Form von Kulturanalyse, in der das Relationale und damit auch die Kontingenz, also die Tatsache, dass sich kulturelle Konfigurationen nicht aus notwendigerweise gegebenen, sondern zufälligen Verbindungen formen, ernst genommen wird: »Eine relationale Kulturanalyse wird also symbolische Prozesse und Produkte in einen sozialen Raum zurückübersetzen und deren Korrespondenzen mit Machtpositionen, sozialen Netzwerken und Abhängigkeiten aufspüren. Sie wird die Wirkungen ungleich verteilter Ressourcen, Kapitalien und sozialer Positionen in den Augenschein nehmen und die durch diese Asymmetrien produzierten kulturellen Codes von Klassen, Geschlechtern, Ethnizitäten etc. entschlüsseln.« (ebd.: 490-491)

Mit diesem Zugang wird es möglich, den Dynamiken des menschlichen Zusammenlebens auf die Spur zu kommen, problematische Verknüpfungen (vgl. Mufti/Shohat 1997: 10-11) aufzudecken und gegen sie zu intervenieren, aber auch neue Formen vorzustellen und zu entwickeln, die durch Vielfältigkeit und gegenseitige Anerkennung charakterisiert sind.

Z U DIESER P UBLIK ATION Dieser Band ist der zweite in der Reihe Kultur & Konflikt, welche von dem interdisziplinären und fakultätsübergreifenden Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt herausgegeben wird. Das Netzwerk, getragen von dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, dem Institut für Philosophie, dem Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik, der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung sowie der Fakultät für Kulturwissenschaften, veranstaltet laufend Workshops und Konferenzen, aus denen weitere Bände für die Reihe entstanden sind, die gerade bearbeitet werden.

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Der vorliegende Band ist interdisziplinär angelegt, die Beiträge stammen aus den Bereichen Gender Studies, Friedens- und Konfliktforschung, Literaturwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Psychotraumatologie. Durch Übersetzungen von englischsprachigen Texten von WissenschaftlerInnen der internationalen scientific community werden diese hier erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Dies trifft insbesondere für die Artikel von Christopher Kilmartin und Geetha Ramanathan zu, die beide als Fulbright Distinguished Chairs of Gender Studies jeweils für ein Semester an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt gelehrt haben. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass spezifische Konfliktfälle hinsichtlich der in ihnen involvierten kulturellen Dimensionen beleuchtet werden. Dabei wird jeweils auf die relevanten Relationen und Verschränkungen eingegangen, die in den einzelnen Fällen zum Tragen kommen. Die Beiträge sind nach vier Schwerpunkten gruppiert, denen Einleitungen vorangestellt sind, in denen die behandelten Themen und Fragestellungen vorgestellt und kontextualisiert werden, sowie weiterführende Perspektiven aufgezeigt werden. Im ersten Teil stehen Konflikte auf internationaler und globaler Ebene im Mittelpunkt, wobei der angebliche »Kampf der Kulturen« einer kritischen Prüfung unterzogen und am Beispiel des Diskurses »war on terror« der Frage nachgegangen wird, in welcher Weise internationale Diskurse in lokale Kontexte Eingang finden. Die Verbindungen zwischen Gemeinschaft und Geschlecht sind Thema des zweiten Teils, in dem an Beispielen aus unterschiedlichen Ländern zum einen die den Frauen zugeschriebene, oft mit Gewalt aufgezwungene, tragende Rolle für Gemeinschaften herausgearbeitet wird, zum anderen Geschlechterverhältnisse als Gewaltverhältnisse problematisiert werden. Die Beiträge des dritten Teils setzen sich damit auseinander, wie Menschen und soziale Gruppen, die als Andere positioniert werden, damit zurecht kommen. Es werden unterschiedliche Strategien vorgestellt, wobei deutlich wird, dass das Wissen um die Funktionsweise von Kultur ermächtigend wirkt und den Handlungsspielraum erweitert. Im vierten Teil des Bandes werden traumatische Erfahrungen als Folge extrem gewalttätiger Konflikte thematisiert und deutlich gemacht, dass es institutionalisierter Formen von Unterstützungsmaßnahmen bedarf, um Prozesse der Bearbeitung und Versöhnung zu ermöglichen. Gerade die zwei Beiträge dieses Teils, die sich auf den Krieg in Sri Lanka und ein Massaker in Peru beziehen, machen eindringlich klar, dass sich die Auseinandersetzung mit kulturellen Dimensionen von Konflikten nicht in der Analyse von Konflikten erschöpfen darf, sondern in der Gestaltung menschenwürdiger Formen des Umgangs mit Konflikten weiterzuführen ist. Wie bereits Marx (1854: 7) betont hat, hat Wissenschaft nicht nur die Aufgabe, die Welt zu interpretieren, sondern auch, sie zu verändern. Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratković

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L ITER ATUR De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Donald, James (1999): »Noisy Neighbours. On Urban Ethics«. In: Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg.), The Contemporary Study of Culture, Wien: Turia + Kant, S. 263-270. Grossberg, Lawrence (1999): »Was sind Cultural Studies?«. In: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 43-83. Hall, Stuart (2008): »›Jeder muss ein bisschen aussehen wie ein Amerikaner‹. Über die Bedeutung des Kulturellen fürs Verstehen der Gesellschaft«. In: Das Argument 227, S. 479-486. Marx, Karl (1854): Thesen über Feuerbach. MEW 3. Mufti, Aamir/Shohat, Ella (1997): »Introduction«. In: Ann McClintock/Aamir Mufti/Ella Shohat (Hg.), Dangerous Liaisons. Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, S. 1-12. Mussner, Lutz (2008): »Wege aus dem Elfenbeinturm. Zur gesellschaftlichen Relevanz der Kulturwissenschaften«. In: Das Argument 227, S. 487-496.

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2. Wider die Verallgemeinerung Z U DIESEM K APITEL Wenn kulturelle Dimensionen von Konflikten zum Thema werden, und das noch dazu unter dem Aspekt des Globalen, liegt es nahe, sofort vom Großen und Ganzen zu sprechen. Also ist zu allererst Vorsicht angebracht. Wir sprechen zum Beispiel über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Was tun wir, wenn wir so sprechen? Wenn ein Bulldozer der israelischen Armee ein palästinensisches Flüchtlingslager niederwalzt, wenn ein Selbstmordattentäter sich in die Luft sprengt, dann beziehen wir diese Ereignisse auf die Begriffe Israel – Palästina. Und diesen beiden Begriffen schreiben wir eine Identität zu, die das Ereignis »erklärt«: Der Bulldozer und der Selbstmordattentäter erscheinen als Spezialfälle dieser Identität. Das Geschehen ist eine bloße Darstellung einer dahinter stehenden, allgemeineren, modellhaften Realität, eines israelisch- oder palästinensisch-Seins, kurz einer kulturellen Identität, deren Existenz dem Ereignis und damit dem Konflikt vorausgesetzt sein soll. Samuel Huntington folgt diesem Muster, wenn er in seinem Buch The Clash of Civilisations eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Kulturen prognostiziert, die selbst im Zustand der globalen Durchmischung primär als Entitäten existieren, um sekundär in Konflikt zu treten. In seiner Globalität hat das Denkmuster von Huntington globale Bedeutung für die Strukturierung des öffentlichen und theoretischen Diskurses über Konflikte erlangt. Es wurde, wie Fabian Virchow im Folgenden ausführt, zum »Mantra einer Epoche«. Das Denkmuster ist vielfach kritisiert worden, jedoch oft auf einer sehr allgemeinen Ebene. Virchow dagegen nimmt sich die theoretischen und konzeptionellen Unschärfen des Werks von Huntington im Einzelnen vor und prüft die empirische Evidenz des Paradigmas. Hier kommt er zu weitgehend negativen Ergebnissen. Die Bedeutung des Beitrags von Virchow für den vorliegenden Band besteht nicht nur darin, den Kritiken an Huntington eine weitere, detailliertere hinzugefügt zu haben. Denn ein Problem bleibt: Wir sprechen ähnlich, auch wenn wir den Ansatz von Huntington kritisieren. Die Voraussetzung einer privilegierten Ursachenebene scheint so einleuchtend, dass ihr Gegenteil, die Voraussetzung

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von Prozessen der Differenzierung, die jeder »kulturellen Identität« vorgelagert sind, merkwürdig anmuten muss. Wie können wir unter diesen Voraussetzungen sprechen, wenn wir trotzdem zum Beispiel die Begriffe Israel – Palästina verwenden müssen? Die Dekonstruktion, die Virchow am Modell von Huntington leistet, legt methodisch induktive Sprechweisen nahe. Statt deduktiv von einem Kulturbegriff aus auf die Bedeutung eines Ereignisses zu schließen, muss vom jeweiligen Problem ausgegangen werden, um seine soziale und historische Konstitution zu untersuchen. Es geht dann darum, es sozial oder theoretisch schrittweise immer nur so weit zu verallgemeinern, wie es nötig ist, um zu akzeptablen Interpretationen oder vielleicht Lösungen zu gelangen. Dem steht aber die reale Kraft von kulturellen Einheiten entgegen, die zwar nicht, nach dem Modell von Huntington, je schon existieren, aber stets aufs Neue konstruiert werden. Benedict Anderson zum Beispiel hebt in seiner Studie Die Erfindung der Nation vor allem ein Paradox hervor, das mit dem Begriff der Nation verbunden ist: Der Tiefe des sozialen Faktums steht die Flachheit der jeweiligen Ausprägung gegenüber, oder mit anderen Worten: Sozial soll jemand eine Nationalität »haben«, wie man ein Geschlecht »hat«, und in der Realität sind die Nationen wenig unterschieden. Nationen bedürfen daher jeweils der Erfindung eines Gründungsakts, der strukturell dem Opfer analog ist: Die serbische Nation leitet sich aus einer verlorenen Schlacht, die deutsche Nation aus einer ganzen Reihe blutiger Ereignisse her. Und weil Menschen nicht nur in nationaler Hinsicht vergesslich sind, muss eine Nation immer wieder aufs Neue konkretisiert, das theoretische Gerüst mit Fleisch und Blut umgeben werden. Die Geschichte der Nationen beweist, dass dies im Wortsinne zu verstehen ist: Wessen Angehörige im Namen Serbiens, Kroatiens oder Bosniens, im Namen des Islams oder Amerikas ermordet worden sind, weiß nun tatsächlich, was ein Kroate oder Serbe, ein Amerikaner oder Muslim, Palästinenser oder Israeli ist. Das gilt im Prinzip auch für den Begriff Kultur: Schon in der griechischen Antike konstituiert sich der Bürger streng genommen erst in Differenz zum Barbaren und Sklaven. Barbaros bedeutet Laller, Stammler, der unverständlich Redende. Barbar ist einer, der kein Griechisch kann, und erst die Antithese dazu konkretisiert das, was unter griechischer Kultur verstanden wird. Gebildet heißt, wer nicht roh, feige, grausam, wild, gewalttätig, habgierig, treulos ist, Eigenschaften, die eben unter den Begriff Barbar subsumiert werden. Karmen Erjavec und Zala Volčič nehmen in ihrem Beitrag einen realen Konstruktionsprozess von nationalen Einheiten unter das Mikroskop einer Medienanalyse: Es geht darum, wie serbische und kroatische Medien den weltweiten Diskurs über den war on terror, wie er nach nine eleven von der BushAdministration lanciert wird, in den lokalen Kontext transformieren, um eine spezifische Differenz Serbe – Moslem bzw. Kroate – Moslem zu rekonstruieren und diesen Rekonstruktionsprozess zugleich in der allgemeineren Differenz

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westliche versus islamische Kultur zu verankern, was letztlich zur Integration von Serben und Kroaten in den so genannten westlichen Kulturkreis führt. Die genaue Analyse von Diskursstrategien, die die beiden Autorinnen vornehmen, verweist zugleich auch auf die anderen Beiträge des vorliegenden Buches: Wenn politische Strategien zur Debatte stehen, dann muss es auch der kulturwissenschaftlichen Friedensforschung um Strategien gehen, und zwar um jene Strategien und komplexen Methoden der Partizipation, der Einbeziehung, des zur Sprache Kommens von Betroffenen, von denen zum Beispiel aus Sri Lanka oder Peru berichtet werden wird. Wilhelm Berger

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K ULTURKONFLIK TE – Z UR THEORE TISCHEN UND EMPIRISCHEN R EICHWEITE DES »C L ASH OF C IVILIZ ATIONS «-PAR ADIGMAS Fabian Virchow Im Dezember 2008 verstarb der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, zu dessen Lebenswerk nicht nur militärsoziologische Arbeiten wie »The Soldier and the State« gehörten, sondern auch jene Veröffentlichungen, die sich nach dem Ende der West-Ost-Konfrontation mit der Erarbeitung eines neuen Paradigmas zum Verständnis globaler Politik und internationaler Beziehungen befassten. Wenn der Begriff vom »Kampf der Kulturen« auch nicht originär auf Huntington, sondern auf den konservativen britisch-US-amerikanischen Islamwissenschaftler Bernard Lewis zurückgeht, so hat er ihn durch seinen 1993 in der Zeitschrift »Foreign Affairs« publizierten Beitrag und ein wenige Jahre später folgendes Buch jedoch nachhaltig popularisiert (vgl. Huntington 1993a, 1996; Menzel 2000, 70ff.). Von den zahlreichen Ansätzen, die Grundlinien und Dynamiken der internationalen Ordnung nach dem Ende der West-Ost-Konfrontation zu bestimmen, ist Huntingtons Clash of Civilizations (CoC) der wohl einflussreichste geworden. Grundlegende Perspektiven und Interpretationen, Begrifflichkeiten und einzelne Versatzstücke sind in die Diskurse zentraler gesellschaftlicher und politischer Gruppen eingeflossen, erlangten einen prominenten Platz in den Medien und haben das Alltagsverständnis vieler Menschen hinsichtlich globaler Entwicklungen und aktueller Konflikte und deren Dynamiken beeinflusst (vgl. Gregg 1997; Gungwu 1997; Harris 1996; Walid 1997). Der folgende Beitrag befasst sich mit der theoretischen Konzeptionalisierung und der empirischen Evidenz des Ansatzes von Samuel P. Huntington. Zunächst werden die Grundlinien des CoC-Paradigmas skizziert; im Anschluss werden sowohl theoretische als auch empirische Einwände erhoben. Ein knappes Fazit beschließt den Beitrag.

Mantra einer Epoche Sowohl die Terroranschläge vom 11. September 2001 als auch die in ihrer Nachfolge stattfindenden Kriege in Afghanistan und im Irak schienen für viele BeobachterInnen die Plausibilität eines Paradigmas zu erweisen, demzufolge unüberwindliche Differenzen zwischen den verschiedenen »Kulturkreisen« existieren, die in zunehmendem Maße gewaltsam ausgetragen werden.1 Folgt man den Ausführungen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers, dann sei an die Stelle der klaren Bipolarität der Phase des »Kalten Krieges« ein multipolares Muster internationaler Beziehungen getreten. Diese neue Struktur bringe eine Schwächung des »Westens« und den Aufstieg vormals kolonial verwalteter Gebiete zum Ausdruck; so seien etwa China und Indien inzwischen zu eigenständigen und einflussreichen Akteuren in der globalen Arena geworden.

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Den zentralen Unterschied zur Phase des »Kalten Krieges« sieht Huntington darin, dass nicht mehr politische Ideen- und ökonomische Interessendifferenzen als wichtigste Konfliktgeneratorinnen gelten können, sondern das unterschiedliche kulturelle Profil der jeweiligen »Kulturkreise«. Deren Zusammenprall stelle im 21. Jahrhundert mithin die größte Bedrohung für den Weltfrieden dar (1996: 321). Einen wichtigen Platz im CoC-Paradigma nimmt die Aussage ein, dass die bedeutsamsten Unterschiede zwischen den Menschen nun kultureller Art seien und damit »culture and cultural identities, which at the broadest level are civilizational identities, are shaping patterns of cohesion, disintegration, and conflict in the post-Cold War world« (1996: 20). Mit der Betonung der Aggregationsebene »Kulturkreis« stellt Huntington sich in die Tradition von Spengler, Toynbee, Weber, Durkheim und Eisenstadt, wobei er in der »Kultur« bzw. in »kultureller Identität« den entscheidenden identitätsstiftenden Faktor sieht, durch den sich die verschiedenen Akteure einer Agglomeration als Teil eines gemeinsamen »Kulturkreises« verstehen. »Borrowing a concept from the ethnographer Leo Frobenius, Huntington likens this sense of civilisation to a Paideuma, that is to say a cluster of core values which inspire a collection of disparate communities and bind them into an organic cultural entity« (Bassin 2007: 355). Elemente, die Huntington zufolge »kulturelle Identität« konstituieren, sind Familie, Verwandtschaft, Abstammung (»blood«), Sprache, geteilte geistige Vorstellungen, Werte, Bräuche und Institutionen. Besondere Betonung findet die Religion, die er wiederholt als das »principal defining characteristic« von Kultur markiert (Huntington 1996: 21; 66; 253). Geographische und territoriale Faktoren als solche werden nicht als identitätsstiftende Faktoren angeführt; die Zentralität des Faktors Religion hingegen wird bereits daran deutlich, dass die von Huntington zur Bezeichnung der »Kulturkreise« gewählten Begrifflichkeiten und charakterisierenden Beschreibungen auf die Religion verweisen. Er nennt wahlweise sieben oder acht »Kulturkreise«: den sinischen, den japanischen, den hinduistischen, den islamischen, den westlichen (katholisch-protestantisch), den christlich-orthodoxen, den lateinamerikanischen und – möglicherweise – den afrikanischen. Das Judentum gilt ihm nicht als kulturkreisprägend, den Buddhismus führt er in späteren Veröffentlichungen als eigenständigen »Kulturkreis« an und für den japanischen »Kulturkreis« bleibt eine Spezifizierung (Schinto, Buddhismus, Konfuzianismus) aus. Für Huntington stellen die »Kulturkreise« primordiale und stabile Bezugssysteme dar, deren kulturelle Attribute wenig wandlungsfähig sind. Zeichnen sich die verschiedenen »Kulturkreise« durch wesenhafte Charakteristika aus, so determinieren diese deren Verhalten (vgl. Jackson 1999: 142). Tatsächlich begreift Huntington »Kulturkreise« als Akteure internationaler Politik – gleich der realistischen Theorie die Staaten. Die »Kulturkreise« ersetzen die Nationalstaaten als primäre Akteure internationaler Politik, da sich diese zunehmend als

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Teil jener verstünden und ihre Interessen entlang der jeweiligen »kulturellen Identität« artikulierten. Die von Huntington prognostizierte multipolare Ordnung entstehe als Gegenbewegung zum einstmals dominanten »westlichen Kulturkreis«. Statt einer – auch modernisierungstheoretisch gestützten – Entwicklungsgleichung Modernisierung = Verwestlichung = Säkularisierung zeichneten sich einzelne dieser »Kulturkreise« durch eine Rückbesinnung auf indigene Traditionen aus. Diese stellten die zentrale Ressource dar, aus der sich die Gegenbewegung speise; allerdings bedeute dies keineswegs den Verzicht auf die wissenschaftliche Entwicklung und Entfaltung der Produktivkräfte. Zudem finde die Gegenbewegung zwar in der Opposition zum »Westen« ihre Gemeinsamkeit, darüber hinaus hätten die anderen »Kulturkreise« jedoch wenig miteinander gemein. Die Konstruktion essentialistisch bestimmter »Kulturkreise« verknüpft Huntington mit Grundfragen menschlicher Existenz (»Wer sind wir« – »Wer ist nicht »wir«?«) und dem Gegensatz-Paar »wir« und »die«. Letzteres ist in der konservativen politischen Theorie ein verbreitetes Axiom, das im 20. Jahrhundert wirkmächtig von Carl Schmitt in Form der das eigentlich Politische ausmachenden Unterscheidung von »Freund« und »Feind« akzentuiert worden ist. Bei Huntington gerät »this juxtaposition into a ›constant‹ in human history and the existential basis for all relations between cultures and civilisational groups. Effectively, inter-civilisational hostility becomes business as usual and the normal state of affairs« (Bassin 2007: 354). Die Art der Beziehungen zwischen einzelnen »Kulturkreisen« ist variativ – sie reichen von Allianzbildung bis hin zu erbitterter Feindschaft. Der »westliche Kulturkreis« »confronts the most intense animosity and its gravest threat from what Huntington terms the ›challenger civilizations‹ of Islam and China, and these particular vectors of engagement will accordingly ›be more central to global politics than other lines of cleavage‹« (Bassin 2007: 359). Huntington unterstreicht die Relevanz, die er der Unausweichlichkeit des »Zusammenpralls der Kulturkreise« zuschreibt, nicht nur mit dem Hinweis auf die Revolution im Iran im Jahr 1979, sondern auch mit weit in die Geschichte zurückreichenden Beispielen: »Conflict along the fault line between Western and Islamic civilizations has been going on for 1,300 years« (1993a: 31). Für Huntington bedeutet der von ihm prognostizierte Bedeutungszuwachs von »kultureller Identität« auf religiöser Grundlage auch, dass die Konfliktlinien innerhalb von »Kulturkreisen« – so etwa zwischen Georgien und Russland oder zwischen China und Vietnam (Huntington 1996: 155f.) – an Bedeutung verlieren werden und dass »Kulturkreis«-überschreitende Kooperationen zwischen Nationalstaaten an Bedeutung verlieren werden. Auch wenn geographischen und territorialen Faktoren als solchen keine konstituierende Bedeutung für die »kulturelle Identität« der einzelnen »Kulturkreise« zugebilligt wird, so werden diese doch als geographisch abgrenzbare Entitäten präsentiert – nicht zuletzt in einer vielfach an den Schulunterricht

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erinnernden plakativen Visualisierung als tektonische Einheiten (= »Kulturkreise«), deren Zusammenprall immer wieder zu gewaltigen Erschütterungen führen. Die Konflikte an diesen Bruchlinien (»fault line wars«) träten periodisch auf, seien endlos und »tend to be vicious and bloody, since fundamental issues of identity are at stake« (Huntington 1996: 252). Wenn Huntington konstatiert, dass das Zusammenspiel von Macht und Kultur die Matrix von Allianzen und Antagonismen in den kommenden Jahren nachhaltig prägen wird (1999: 46), so verweist er zugleich darauf, dass sich die (meisten) »Kulturkreise« um so genannte »core states« bzw. »lead nations« organisieren, d.h. um Nationalstaaten, die in ihren jeweiligen »Kulturkreisen« aufgrund ihrer Macht und der Zentralität ihres kulturellen Profils dominieren. Diese Staaten übernähmen Orientierungs- und Ordnungsfunktionen; die übrigen Staaten des »Kulturkreises« würden sich darum versammeln (»kin-country rallying«).2 Huntington tritt mit dem Anspruch an, die veränderte weltpolitische Situation und Dynamik nach dem Ende der West-Ost-Konfrontation paradigmatisch erklären zu können. Wie der Imperativ des »Kalten Krieges« danach trachtete, alle politischen Interessenunterschiede und Konflikte einer einzigen Sichtweise unterzuordnen, so beansprucht Huntingtons »Clash of Civilizations« mit dem Faktor »cultural identity« und der sich daraus ergebenden Konfliktdynamik eine universell gültige Formel gefunden zu haben.

Theoretische und konzeptionelle Unschärfen Die Sozialwissenschaften blicken auf eine lange Tradition der Konzeptualisierung von »Zivilisation« zurück. Der Begriff »civilization« wurde erstmals in Frankreich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts verwandt und konzeptionell ausgebaut. In seiner Schrift »L’Ami des hommes: Traité de la population« (1756) benutzte Mirabeau der Ältere diesen Begriff in doppeltem Sinne: zum einen, um eine Gesellschaft zu charakterisieren, in der sich Zivilrecht gegenüber Militärrecht durchgesetzt habe; zum anderen zur Deskription von Personen, die ein gepflegtes Äußeres und gute Manieren aufzuweisen hatten. Mirabeau galt Religion als die zentrale Quelle der »Zivilisation«, da er ihr zähmende Eigenschaften zuschrieb (vgl. Starobinski 1993: 3). Die Ausbreitung des Terminus war verknüpft mit einer Pluralisierung des Verständnisses vom Kern der »Zivilisation« (vgl. Cox 2000; Arnason 2001). Verstanden einige darunter einen auf Rationalität und Vernunft beruhenden europäischen Entwicklungsweg, der zum Vorbild und Maßstab aller anderen Gesellschaften erklärt wurde, so betonten andere die Pluralität der »Zivilisationen« und der ihnen je spezifischen Rationalitäten und Ziele. Auch die Konturierung eines Konzepts von »Kultur«, welches einer als mechanisch, universalistisch und aufklärerischrationalistisch gekennzeichneten »Zivilisation« gegenübergestellt wurde (vgl.

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Vogt 1996), war Teil des sich entwickelnden Diskurses, in dem manche Interpretation von »Kultur« völkisch-biologistische Grundzüge aufwies. Diese betonten das je Spezifische von »Kultur«, ja gelegentlich die exklusive Verfügung über »Kultur«. Mit Blick auf vergangene historische Etappen sprach man von der mesopotamischen, der ägyptischen oder der aztekischen Kultur bzw. Zivilisation als Phasen der Entwicklung der Menschheit, wobei darin nicht selten »a European/ imperialist exploration and excavation of »others« in the effort to understand Europe’s own self-image« (Mazlish 2001: 295) zum Ausdruck kam. »So, despite the different emphases given to them, the two terms ›civilization‹ and ›culture‹ originally fulfilled very similar functions. They served, in Elias’s words, to characterize the specific kind of behavior through which important sections of the European upper-middle classes felt themselves different from and superior to others whom they considered simpler and more primitive« (Goudsblom 2006: 289). 2

Zwar verweigert sich Huntington der modernisierungstheoretischen Annahme des einen Entwicklungsweges, zugleich impliziert seine Konzeptualisierung freilich eine eindeutige Hierarchie, in der der »Westen« als moralisch überlegen, wenn auch als gefährdet bestimmt wird. Huntington affiziert den Kern der »westlichen Zivilisation« als europäisch und sieht diese hinreichend beschrieben durch die Elemente Erbe der Klassik, Katholizismus und Protestantismus, Sprachenvielfalt, Trennung religiöser und weltlicher Autorität, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Pluralismus, Repräsentationsorgane und Individualismus (vgl. Huntington 1996, 69). Den Wesenskern der »westlichen Zivilisation« in der Magna Charta, einem Spezifikum Englands im Mittelalter, zu verorten, verabsolutiert allerdings einen der Entwicklungswege in Europa, kann jedoch angesichts so unterschiedlicher Varianten wie das bürokratische Preußen oder das patrimoniale Frankreich nicht als prototypisch für die »westliche Zivilisation« gelten (vgl. Melleuish 2000: 117-118). Von zentraler Bedeutung ist, dass Huntingtons multikulturalistische Perspektive die verschiedenen »Kulturkreise« als abgeschlossene stabile Entitäten begreift, ohne freilich zu bestimmen, wie und warum verschiedene auf den Gesamtkomplex »Kultur« bezogene Faktoren wie Religion, Ethnizität oder Sprache zur Konstituierung eines »Kulturkreises« beitragen. Zugleich werden in den »Kulturkreisen« recht disparate Gesellschaften subsumiert. So hat etwa Senghaas skeptisch gefragt, ob es tatsächlich erklärungstüchtig sei, so unterschiedliche Varianten islamisch geprägter Gesellschaften wie die Theokratie Irans, den aufgeklärten Absolutismus des jordanischen Königshauses, das post-koloniale Regime Ägyptens oder die opportunistische Indienstnahme des Islam im Irak unter Saddam Hussein gemeinsam einem islamischen »Kulturkreis« zuzuordnen (vgl. Senghaas 1998: 74).

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Während der »islamische Kulturkreis« – wie auch der lateinamerikanische und der afrikanische – nach Huntington keinen »core state« kennt, weist der »Westen« gleich mehrere auf. Auch eine theoretisch stringente Bestimmung der Verwerfungen zwischen den »Kulturkreisen« bleibt nur vage angedeutet; warum etwa wird von einer »civilizational difference« zwischen Japan und China, nicht jedoch zwischen Vietnam und China gesprochen? Warum wird das vielfach fragmentierte sub-saharische Afrika ebenso als kulturell einheitlich betrachtet wie Japan? Warum wird die Bruchlinie zwischen der Orthodoxie und dem westlichen »Kulturkreis« veranschlagt, nicht jedoch zwischen Katholizismus und Protestantismus? Was grenzt Lateinamerika angesichts des starken europäischen Einflusses vom westlichen »Kulturkreis« ab? Hinsichtlich der Homogenitäts- bzw. Impermeabilitätsannahme Huntingtons sind zahlreiche Einwände formuliert worden. »The disadvantage of regarding a civilization as a culture in this sense is that it carries the implication that the pattern is an enduring essence; even if we speak of civilizations as rising and falling, appearing and disappearing on the historical stage, the very concept of culture as a noun, a thing-like entity, constrains our analysis« (Collins 2001: 422). Die mit einem kulturalistischen Determinismus verbundene Perspektiveneinschränkung übersieht, dass – um in der verwendeten Terminologie zu bleiben – »Kulturkreise« niemals exklusiv und undurchlässig waren. Vielmehr gab es immer Interaktions- wie Aushandlungsprozesse zwischen den und innerhalb der jeweiligen »Kulturkreise«. »The interaction of different cultures can result in the evolution and adoption of new ideas and does not necessarily have to be conflictual« (Freeman 1998: 69). Tatsächlich finden sich zahlreiche Beispiele für die wechselhaften Interaktionsprozesse zwischen den verschiedenen Weltregionen (vgl. Zolberg/Woon 1999; Akhavi 2003), wobei deren Identifizierung als identitär und territorial abgrenzbare »Kulturkreise« historisch vergleichsweise junge Konstruktionen sind. So nahm die Vorstellung eines »Europa« und von »Europäern« im politischen Diskurs erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts systematisch Gestalt an, während zuvor die Kategorie des Christentums den wirkmächtigen Marker darstellte. Dessen geographische Grenzen waren jedoch angesichts christlicher Gemeinden in Anatolien und der Kreuzzüge keineswegs auf »Europa« beschränkt (vgl. Rich 1999). Tatsächlich gibt es keine »pristine civilizations; there are invariably linkages and things in common. […] For example, European civilization has links to Orthodox civilization in the shape of Christianity, to Islamic civilization through a common religious and cultural heritage, even to Indian and Buddhist civilizations via shared linguistic, cultural and religious elements« (Melleuish 2000: 118). Während Huntington in den »Kulturkreisen« stabile Muster der Weltinterpretation ausmacht, die sich gegenüber Veränderungen und äußeren Einflüssen als resistent erweisen und etwa das Verlassen der einem »Kulturkreis« originär zugeschriebenen Religion nicht vorsehen, entspricht diese Annahme keineswegs den realhistorischen

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Prozessen: »Conversion is one of the great facts of human history; most human beings do not have the same religion their ancestors had 2000 years ago, and some regions have undergone two or more conversions« (ebd.: 113). Zu den zentralen Annahmen des CoC-Paradigmas gehört die These, dass der Bedeutungszuwachs von Kultur als Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmal zu einer Zunahme der Konflikte zwischen (Gruppen aus) den verschiedenen »Kulturkreisen« führt. Obwohl diese Schlussfolgerung für das Paradigma zentral ist, bleibt bei Huntington offen, warum es zu einem Zusammenstoß der »Kulturkreise« kommen soll; aus der schlichten Bedeutungszunahme von kulturellen bzw. religiösen Faktoren ergibt sich dies jedenfalls nicht: zum einen besteht keine Zwangsläufigkeit, dass sich ein kulturelles Revival auf der Aggregationsebene »Kulturkreis« manifestiert – statt im Kontext von Ethnie, Nation oder Tribalismus (vgl. Rajendram 2002: 229). Die schlichte Extrapolation individueller Einstellungs- oder Verhaltensmuster – etwa das Bekenntnis zu einer Religion – auf höhere Aggregationsebenen bleibt jedenfalls ein problematisches Unterfangen. Sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf anderen Aggregationsebenen kommt zudem neben der »Identitätsformation« durch Abgrenzung und ggs. Verfeindung anderen handlungsleitenden Motiven Bedeutung zu. Zum anderen ist mit einer möglichen Bedeutungszunahme kultureller bzw. religiöser Dimensionen keineswegs eine zunehmende Konflikthaftigkeit anzunehmen.4 Der in der Sozialpsychologie tief verankerte Ansatz, demzufolge der Zusammenhalt und die Geschlossenheit der In-Group durch Konflikte mit der Out-Group hergestellt wird, findet sich bei Huntington in einer Variante, die den »Zusammenprall der Kulturkreise« zur anthropologischen Konstante erklärt. Auch wenn jede Gruppe durch die Konstituierung als Gruppe Ein- und Ausschlüsse entlang bestimmter Kriterien oder Merkmale vornimmt, so muss dies jedoch nicht notwendig zur Verfeindung oder gar Gewalt führen. »Huntington rests his argument that human beings need enemies for self-definition on the contention that ›It is human to hate‹. Whilst hate is a common human emotion, Huntington fails to explain why hate must be directed against a different cultural group for the purposes of self-identification« (Rajendram 2002: 224). Die dem CoC-Paradigma Huntingtons eigenen theoretischen und konzeptionellen Unschärfen führen dazu, dass es nicht in der Lage ist, tatsächlich jene Faktoren bzw. Konstellationen zu bestimmen, bei deren Zusammentreffen kulturelle Differenzen bzw. deren Relevantsetzung als Konflikt begriffen, mit Verfeindungsprozessen verbunden und ggs. gewaltsam ausgetragen werden.

Die empirische Evidenz des CoC-Paradigmas Mit der Formulierung des CoC-Paradigmas Anfang der 1990er Jahre hatte Huntington explizit die prognostische Aussage verbunden, dass »conflict between

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groups in different civilizations will be more frequent, more sustained and more violent than conflicts between groups in the same civilization« (1993a: 48). Diese angenommene Entwicklung globaler Politik ist aufgrund des inzwischen verstrichenen Zeitraums auch einer empirischen Überprüfung zugänglich. Unterschiedlich fokussierte, meist quantitativ angelegte Untersuchungen haben dies inzwischen geleistet. Ted R. Gurr, Gründer und Direktor des »Minority at Risk Projects«, mit dessen Datensätzen Huntington gearbeitet hatte, kam in zweifacher Hinsicht zu anderen Schlussfolgerung als dieser; danach sind so genannte »ethno-politische« Konflikte zwischen Gruppen verschiedener »Kulturkreise« nicht zuerst durch kulturelle Faktoren und deren Aufwertung nach dem Ende des WestOst-Konflikts zu erklären, sondern durch politische Transformationsprozesse. Außerdem habe die Zahl solcher Konflikte nach dem Ende des »Kalten Krieges« nicht zugenommen (1994). Mit den Daten des »Minority at Risk Phase 3«-Datensatzes ist Jonathan Fox (2001) der Frage nachgegangen, ob kulturelle Merkmale und Religion maßgeblich als Generatorinnen ethnischer Konflikte gelten müssen. Während 4/5 solcher Konflikte beide Faktoren aufweisen, gilt für 1/5 der untersuchten Fälle, dass lediglich einer der beiden Faktoren von Bedeutung ist (311). Zwar stützt dieses Ergebnis die Überlegungen Huntingtons zur Zentralität der Religion als Charakteristikum von »Kulturkreisen«, allerdings sind andere Faktoren wie Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft oder das Ausmaß der Organisiertheit der ethnischen Minderheit bedeutsamer zur Erklärung der Ursachen ethnischer Konflikte. Wie ethnische Konflikte aufgrund kultureller Verschiedenheit (»civilizational conflicts«) im und nach dem »Kalten Krieg« lediglich eine Minderheit darstellen, so stellen die von Huntington als bedeutendste Konfliktkonstellation prognostizierten Konflikte zwischen dem »Westen« einerseits und dem sinischen/konfuzianistischen bzw. dem islamischen »Kulturkreis« andererseits lediglich eine kleine Minderheit dar. Die meisten Konflikte finden innerhalb der jeweiligen »Kulturkreise« statt. Schließlich zeigt die Untersuchung auch, dass von einer generellen Zunahme der Gewalt bei Konflikten zwischen Akteuren aus verschiedenen »Kulturkreisen« keine Rede sein kann (vgl. auch Fox 2002: 2005). Huntington hat gegen einige der ersten Arbeiten, die sich der empirischen Überprüfung seiner Prognose mit quantitativen Methoden gewidmet haben (vgl. Russett et al. 2000), eingewandt, dass sie aufgrund der Wahl des Untersuchungszeitraums eine empirische Überprüfung der Entwicklung der Konfliktkonstellationen und seiner Thesen für die Zeit nach dem Ende des »Kalten Krieges« gar nicht haben leisten können (vgl. Huntington 2000: 609). Errol A. Henderson (2005) hat sich daraufhin den intra-staatlichen Konflikten zugewandt; seine Auswertung zeigt zwar eine Zunahme der ethnisch bzw. religiös einzuordnenden innerstaatlichen Gewaltkonflikte. Sobald er jedoch eine Codierung der einzelnen Konfliktakteure in Orientierung an Huntingtons Zuord-

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nung zu »Kulturkreisen« vornimmt, verliert sich dieser Effekt. Auch hier zeigt sich, dass ein erheblicher Teil dieser Konflikte innerhalb dessen ausgetragen wird, was Huntington als »Kulturkreise« bestimmt hat, so etwa die Konflikte in Ruanda und Burundi, der zwischen den Krahn und den Gio in Liberia (vgl. Henderson 2005: 465). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt aus der Perspektive internationaler Konflikte auch Chiozza: »First, intercivilizational dyads are not more likely to find themselves embroiled in international conflict, not even in the post-Cold War period, when civilizational conflict dynamics should be more prominent. They are usually less conflict prone than dyads comprising countries of the same civilization« (2002: 730). Weitere empirische Studien haben sich mit der von Huntington gesetzten Unterschiedlichkeit der einzelnen »Kulturkreise« befasst. Mungiu-Pippidi & Mindruta (2002) haben hinsichtlich der Gesellschaften Rumäniens, Bulgariens und der Slowakei, die der Huntington’schen »Kulturkreis«-Logik zufolge distinkten »Kulturkreisen« angehören (»former Habsburg Catholic Slovakia […] former Ottoman and Orthodox Christian Romania and Bulgaria« [193]) – zwei Thesen geprüft: »Culture gauged by religious identity is a stronger predicator of democratic development than ideology« und »Present political cultures of Eastern Europe vary consistently across the cultural border« (195). Auf Basis im Jahr 2000 erhobener Daten zur Rolle von kulturellen und ideologischen Faktoren bei der Determinierung individueller politischer Einstellungen können sie jedoch zeigen, dass diese auf die Grundüberlegungen Huntingtons aufbauenden Thesen nicht zutreffen: In allen drei Gesellschaften ist trotz unterschiedlicher kulturell-religiöser Profile mit dem »populistischen Syndrom« eine durchaus vergleichbare Reaktionsform auf die Verwerfungen des Systemwechsels entstanden (205ff.). In einer weiteren Arbeit haben White, Oates & Miller (2003) repräsentative Individualdaten aus den postkommunistischen Ländern Ukraine und Bulgarien dahingehend untersucht, inwiefern sich die Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung zu wirtschaftlichen und politischen Ordnungsformen (z.B. »starker Führer« oder »Marktwirtschaft«) von denen der muslimischen Minderheiten unterscheiden. Denn gemäß des CoC-Paradigmas wäre zu erwarten, dass »significant differences in political attitudes between Muslims and non-Muslims [exist], differences that can be attributed to ›civilization‹ rather than age, income, residence or education. We should also expect to find that the similarities between Muslims across societies are greater than the similarities between each of these groups and other members of their own societies« (117). Dieses Ergebnis stellte sich jedoch nicht ein. In den meisten Fällen gab es keine signifikante Differenz zwischen den Gruppen, d.h. es gab beispielsweise große Gemeinsamkeiten zwischen älteren Muslimen und Nicht-Muslimen; die Vermögenden in beiden Gemeinschaften waren enthusiastischer gegenüber der Marktwirtschaft eingestellt als diejenigen mit weniger Einkommen. »Where there were differences, moreover, they were more likely to run between coun-

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tries with similar civilizations than between the civilizations within them« (124). Die hier über Sprache, Nationalität und Religion bestimmte Zugehörigkeit zu einem »Kulturkreis« hat wenig Einfluss auf die politische Bewertung gesellschaftlicher Strukturen. Der im Verlauf der 1990er Jahre stattfindende Desintegrationsprozess Jugoslawiens und die ihn begleitenden gewaltförmigen Konflikte sind ebenfalls als Bestätigung des CoC-Paradigmas interpretiert worden – zunächst als Konflikt zwischen dem katholischen Kroatien und dem orthodoxen Serbien, dann zwischen dem orthodoxen Serbien und den Menschen muslimischen Glaubens aus dem Kosovo. Gerade das Beispiel des jugoslawischen Zerfallsprozesses macht jedoch deutlich, wie in Zeiten der Krise und der Transformation Distinktionsund Verfeindungsprozesse von Agenturen der Nationalisierung, Ethnisierung und Religiösierung5 befördert werden (vgl. Kolstø 2009; Hudson 2007; Coakley 2004; Bremer, Popov/Stobbe 1998), die so in vielen Fällen die subjektive Vereindeutigung von Identitäten und die Vorstellung essentiellen Anders-Seins erst mit herbeiführen. Schließlich stellt die kriegerische Eskalation des Jugoslawien-Konfliktes einen Einwand gegen die These Huntingtons bereit, dass sich die einzelnen Staaten bevorzugt mit den anderen Staaten des als geteilt betrachteten »Kulturkreises« alliieren (»bonding«). Während noch argumentiert wurde, »der Westen« habe sich aufgrund historischer Verbindungslinien sowie kultureller und religiöser Gemeinsamkeiten zur Unterstützung Kroatiens entschlossen, widerspricht das militärische Eingreifen zugunsten der mehrheitlich muslimischen kosovo-albanischen Bevölkerungsgruppe der CoC-Prognose des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers. Würde das Huntington’sche Paradigma des Bedeutungsgewinns der »Kulturkreise« zutreffen, so wäre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine Frontenbildung entlang der von Huntington konstruierten »Kulturkreise« zu erwarten gewesen. Tatsächlich jedoch wurden die von Al Qaida verantworteten Aktionen auch von zahlreichen islamischen Staaten verurteilt und keiner von diesen eilte den Taliban zu Hilfe.

Fazit Huntington hat sich gegen die zahlreichen Einwände gegenüber der konzeptuellen Anlage und der empirischen Unterfütterung seiner zentralen Thesen mit dem Verweis auf das Argument Thomas Kuhns verteidigt, demzufolge von keinem Paradigma erwartet werden dürfe, dass es alle Fakten abdecke und erkläre (vgl. Huntington 1993b). Gleichwohl wird erwartet werden dürfen, dass die grundlegenden Aussagen durch empirische Beobachtung und Forschung gestützt werden. Menzel (2000: 86ff.) hat Huntington nicht nur Lernfähigkeit bescheinigt, da er von seinen früheren modernisierungstheoretischen Aussagen abgerückt sei, sondern auch Gespür für den Bedeutungszuwachs Asiens

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– insbesondere Chinas – in der Weltpolitik, für die aus hohem Bevölkerungswachstum bei gleichzeitig ausbleibender Modernisierung resultierenden Problemlagen sowie für den gewachsenen Stellenwert ethnonationalistischer Konflikte und der Religion in ihnen. Es war nicht Ziel dieses Beitrages, dem CoC-Paradigma Huntingtons eine eigenständige Theorie zum Stellenwert von »Kultur« in Konflikten gegenüber zu stellen, sondern kritisch auf einen Ansatz zu reflektieren, der – meist in vulgarisierter Form – breite Anerkennung erfahren hat. Einer kritischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den dabei auftretenden theoretischen und konzeptionellen Unschärfen sowie der fehlenden empirischen Evidenz soll es nicht darum gehen, die Bedeutung von Faktoren wie »Kultur«, »Religion« oder »Ethnizität« in aktuellen wie historischen Konflikten in Abrede zu stellen. Dabei ist jedoch deren soziale Konstruiertheit und historische Gewordenheit anzuerkennen sowie die tatsächliche Heterogenität als geschlossen und uniform interpretierter »Kulturkreise« wahrzunehmen – etwa hinsichtlich der islamischen Debatte um Demokratie (vgl. Tamimi 2007; Al-Jarrah/Cullingford 2007; Hofmann 2004; Bahlul 2003)6 oder des Vorhandenseins fundamentalistischer Strömungen in allen Weltreligionen. Schließlich bedarf es neben der Kritik und Überwindung eines gesellschaftlich tief eingelassenen kulturalistischen Essentialismus (vgl. Bielefeldt 2000) auch der Infragestellung in gesellschaftliche Wissensbestände sedimentierter, identitätsstiftender kultureller Praxen (vgl. Sayyad 2005).

A NMERKUNGEN 1 | Der von Huntington verwendete Begriff der »civilization« wird in diesem Text mit »Kulturkreis« wiedergegeben. 2 | Neben den »core states« identifiziert Huntington innerhalb von »Kulturkreisen« noch so genannte »cleft countries«, deren Bevölkerung zwischen zwei oder mehr »Kulturkreisen« geteilt ist (Indien, Indonesien, Ukraine), »torn countries«, deren politische Klasse das Land von einem zum anderen »Kulturkreis« zu verschieben sucht (Russland, Türkei, Mexico, Australien) sowie »lone countries«, die zu keinem »Kulturkreis« zu zählen sind (Haiti, Äthiopien, Japan). 3 | Dabashi (2001) sieht in der Renaissance des Denkens in »Kulturkreisen« bei Huntington und Fukuyama einen Abwehrmechanismus angesichts des fortschreitenden demographischen Wandels in den USA, durch den die vermutete Stabilität nationaler Kulturen und ihrer mutmaßlichen Grenzziehungen fraglich werde. 4 | »[F]or self-definition and motivation people need enemies […]. They naturally distrust and see as threats those who are different and have the capability to harm them« (Huntington 1996, 130, Hervorhebung F.V.). 5 | Während sich 1985 nur knapp 40 Prozent der kroatischen Bevölkerung als katholisch bezeichnete, 60 Prozent hingegen als nicht religiös, bot sich vier Jahre später ein

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völlig anderes Bild: knapp 90 Prozent bezeichneten sich als katholischen Glaubens, während nur noch gut 10 Prozent sich als nicht religiös bezeichneten (Kunovich/Hodson 1999: 651). 6 | Auch die Forderung nach bürgerlichen Freiheitsrechten ist kein Privileg »des Westens«, denn Menschen auf der ganzen Welt streiten für politische und soziale Rechte, die weit über das hinausgehen, was der großen Mehrheit der EuropäerInnen im 19. Jahrhundert verfügbar war (Chirot 2001 344).

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V ON GLOBALEN ZU LOK ALEN K ONFLIK TEN : D IE R EKONTE X TUALISIERUNG DES » WAR ON TERROR «-D ISKURSES IN NATIONALISTISCHEN D ISKURSEN IM EHEMALIGEN J UGOSL AWIEN Karmen Erjavec, Zala Volčič

Einleitung Die Antwort der US-Regierung auf die terroristischen Anschläge vom 11. September bestand darin, diese als Akte eines Krieges zu betrachten und darzustellen und folglich einen globalen »Krieg gegen den Terrorismus« auszurufen. Der Präsident der USA warnte Länder, die Terroristen beherbergen würden, dass man nur »entweder mit uns oder mit den Terroristen« sein könne und kündigte einen Krieg gegen diese Länder an. Damit wurde eine neue »Diskursordnung« [order of discourse, A.d.Ü.] (Fairclough 1995) hergestellt, mit der spezifische Formen der Kommunikation und Repräsentation verknüpft sind. Ganz im Gegensatz zu den Vorschlägen, ihre Politik im Mittleren Osten zu überdenken, setzte die Antwort der USA eine Neue Ordnung in Gang, in der die Welt als in politische Einheiten unterteilt vorgestellt wird: solche, die Terrorismus unterstützen und solche, die sich zu dessen Bekämpfung bereit erklären. Der dominante Antiterrorismus-Diskurs der USA trachtet danach, seine Anwendung überall auf der Welt durchzusetzen (vgl. Kellner 2005; Osuri/Banerjee 2004), einschließlich der ehemaligen jugoslawischen Länder. In diesem Sinne ruft der Diskurs selbst nach einer exklusiven Zugehörigkeit zu eben dieser Antiterrorismus-Diskursgemeinschaft. Um die Auswirkung des »Krieg gegen den Terrorismus«-Diskurses der USA auf die Herstellung von Identitäten auf dem Balkan und insbesondere auf die Rekonfiguration eines vorangegangenen jugoslawischen nationalistischen Diskurses zu verstehen, ist es erforderlich, seine Aneignung in den nationalen serbischen und kroatischen Mediendiskursen zu untersuchen1 – insbesondere wegen der Medien, die bei der Verbreitung nationalistischer Propaganda und damit auch bei der Eskalation von Kriegen im ehemaligen Jugoslawien eine zentrale Rolle gespielt haben (vgl. Ćurgus 1999; Skopljanac-Brunner 2000; Thompson 1995; Zakošek 1999) sowie auch wegen des aktuellen Nachkriegskontexts, durch den die Medien dessen patriotischen und nationalistischen Diskurs fortsetzen (vgl. Erjavec/Volčič 2007; Milošević 2008; Milivojević 2007). Wir folgen Chouliaraki/Fairclough, wenn sie schreiben: »We see CDA [Critical Discourse Analysis, A.d.Ü.] as both theory and method: as a method for analysing social practices with particular regard to their discourse moments within the linking of the theoretical and practical concerns and public spheres just alluded to, where the ways of analysing ›operationalise‹ — make practical–theoretical

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constructions of discourse in (late modern) social life […]« (Chouliaraki/Fairclough 2005: 16).

Um herauszufinden, wie die wichtigsten Tageszeitungen in zwei Ländern, die in den 1990er Jahren gegeneinander Krieg geführt haben, den globalen Terrorismusdiskurs im Jahr 2005 auf ihren lokalen Kontext anwenden, wird im Folgenden eine Analyse von Artikeln in zwei Tageszeitungen – einer kroatischen und einer serbischen – nach dem Ansatz der CDA unternommen. Das Hauptziel dieses Aufsatzes besteht darin, eine ebenso exemplarische wie spezifische Analyse vorzustellen, die erkennen lässt, wie sich Medien den dominanten globalen Antiterrorismus-Diskurs für einen lokalen Kontext aneignen, um damit eine bestimmte Ideologie (in unserem Fall Nationalismus) sowie bestimmte Praktiken (in unserem Fall die serbischen und kroatischen Militäraktionen gegen MuslimInnen in vergangenen jugoslawischen Kriegen) zu legitimieren und zu begründen und ihre Zugehörigkeit zu einer globalen Antiterrorismus-Diskursgemeinschaft zu bekräftigen.

Methoden und Datengrundlage Nach van Dijk (1988) stellen Propositionen, die typischerweise in einzelnen Sätzen oder Halbsätzen zum Ausdruck kommen, die kleinsten unabhängigen Konstrukte von Sprache und Gedanken dar. Auf der Basis von solchen kurzen Satzinhalten begründet van Dijk (1980, 1988) die Analyse einer thematischen Anordnung von Nachrichten. Diese hierarchische Struktur besteht aus (Makro-) Propositionen, die die wichtigsten oder relevantesten Elemente der Information in einem Text bestimmen. Die semantische Makrostruktur leitet sich durch Makroregeln wie beispielsweise Tilgung, Generalisierung und Konstruktion von lokalen Bedeutungen von Wörtern ab. Solche Regeln verzichten auf irrelevante Details und verknüpfen die Kernaussage auf höherer Ebene mit einer abstrakten Bedeutung oder konstruieren Bestandteile mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt als Ereignisse auf übergeordneter Ebene oder als soziale Konzepte. Mittels einer Analyse von Makropropositionen wollen wir herausfinden, wie serbische und kroatische Mainstream-Tageszeitungen Terrorismus definieren und näher bestimmen. Um die Entwicklung und die Anwendung des globalen Diskurses durch die Medien im lokalen Kontext zu identifizieren, werden wir auch analysieren, wie die Zeitungen die zentralen sozialen AkteurInnen darstellen; z.B. wen sie in den Bereich eines »wir« inkludieren und wer als »sie« positioniert wird. Wie Hodge und Kress (1993) argumentieren, hängt eine der zentralen diskursiven Strategien in ideologischen Kämpfen von der diskursiven Konstruktion von Inund Out-Gruppenidentitäten ab. Aus diesen Gründen verwenden wir Halls Begriff des »Differenzdiskurses« [discourse of difference, A.d.Ü.] (1989: 913) als

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effektivste Methode, mit der binäre Positionen durchdacht werden können. Hall versteht einen solchen Diskurs als jenen, der zwischen »wir« und »sie« unterscheidet. Jede Gruppe muss sowohl nach innen als auch nach außen von ihren Anderen unterschieden werden, um überhaupt als Gruppe identifiziert werden zu können. Jegliche Identität wird in erster Linie als Unterschied vom Anderen definiert, wie Hall weiter ausführt. Eine Sprachanalyse veranschaulicht, dass die Bedeutungen von »wir« und »sie« (was auch die Identifikation mit und die Unterscheidung von beinhaltet) nicht ontologisch vorgegeben, sondern vielmehr ideologisch konstruiert sind. Doch da diese Bedeutungen als dermaßen natürlich erscheinen, wird die Dichotomie von »wir« und »sie« kaum in Frage gestellt. Unsere Analyse umfasst 28 Zeitungsartikel, die im Jahr 2005 in der kroatischen Tageszeitung Večernji list veröffentlicht wurden, sowie 32 Artikel der serbischen Tageszeitung Večernje novosti.2 Das Sample der Untersuchung beinhaltet alle Artikel in den beiden ausgewählten Zeitungen, die sich explizit mit dem Begriff Terrorismus befassten; d.h., dass in diesen Artikeln z.B. in irgendeiner Weise die Wörter Terror, Terrorismus und Terrorist(en) vorkamen. Zur Darlegung unserer Argumentation greifen wir auf 17 konkrete Artikel zurück.2 Die Artikel wurden auf den nationalen und/oder den internationalen Seiten der ausgewählten Zeitungen veröffentlicht. Das Jahr 2005 wurde deshalb ausgewählt, weil zu diesem Zeitpunkt nach einigen Jahren relativer Ruhe und einem erzwungenen Status quo nationalistische Konflikte wieder von neuem ausbrachen. In Bosnien und Herzegowina blieben die Gespräche über eine neue Gesetzgebung unter der Kontrolle der UNO erfolglos, obwohl die AußenministerInnen der EU ihre Zustimmung für Gespräche über das Stabilisierungsund Assoziierungsabkommen gegeben hatten. Im Kosovo begannen Gespräche zwischen Kosovo-AlbanerInnen und der serbischen Regierung betreffend die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien. Für die Analyse unserer Forschung wurden gerade diese beiden Zeitungen bewusst als Hauptrepräsentanten der jeweils gängigen nationalen Stimmen des täglichen Lebens ausgewählt, zumal beide in ihren Ländern die jeweiligen offiziellen Regierungspolitiken mehr oder weniger unterstützen und im eigenen Land die jeweils größte Verbreitung unter den Zeitungen jenseits der Boulevard-Blätter haben (vgl. Ćurgus 1999).

Der politisch-historische Kontext E x-Jugoslawiens Während der 1980er Jahre, nach dem Tod des Präsidenten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, Josip Broz Tito, im Jahr 1980, wurde der gesellschaftliche Raum von vormals unterdrückten Nationalismen eingenommen (vgl. Woodward 1995). Die beiden größten ethnischen Gruppen, SerbInnen und KroatInnen, behaupteten, Opfer einer fortgesetzten Verfolgung durch die jeweils anderen gewesen zu sein, die angeblich die ehemalige jugoslawische

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Föderation dominiert hätten. Im Jahr 1986 erstellte die serbische Akademie für Wissenschaft und Kunst ein Memorandum, das eine lange Liste serbischen Leidens an der Behandlung von SerbInnen innerhalb der Föderation darstellte. Ein großer Teil des Dokuments behandelte den »Genozid« an SerbInnen im Kosovo und artikulierte die Notwendigkeit, dass sich SerbInnen in ganz Jugoslawien kollektiv Geltung verschaffen und organisieren müssten. Milošević hat diese so genannten historischen und »wissenschaftlichen« Daten wiederholt verwendet, um die nationalistische Ideologie eines »Groß-Serbien« zu konstruieren. Dessen zentrale Vision war die Idee, dass alle ethnischen SerbInnen im selben Staat leben müssten (vgl. MacDonald 2002). 1991 begann dann ein Bürgerkrieg, der allem Anschein nach ein Krieg unter Brüdern war. Um es kurz zu fassen, begann dieser zuerst in Slowenien, als die jugoslawische Volksarmee, die unter dem direkten Kommando von Milošević zu einer serbischen Armee geworden war, versucht hat, Sloweniens Unabhängigkeit gewaltsam zu verhindern. In Kroatien zettelten irreguläre serbische Kämpfer gewalttätige Konfrontationen mit kroatischen Paramilitärs an, worauf wiederum eine Intervention der jugoslawischen Volksarmee folgte. SerbInnen und KroatInnen schöpften gleichermaßen aus ihrer jeweils eigenen Vergangenheit, um sich selbst jeweils als Opfer darzustellen. Doch die politischen Eliten in beiden Staaten kamen in der Angelegenheit Bosnien Herzegowina und insbesondere in Bezug auf die territoriale Aufteilung Bosniens überein. Es ist wichtig festzustellen, dass auf beiden Seiten Kriegsverbrechen verübt wurden, darunter »ethnische Säuberungen«, die Errichtung von Konzentrationslagern oder »Sammel-Zentren«, die Zerstörung von materiellem Eigentum (einschließlich der Zerstörung von ungefähr 1.400 Moscheen), sowie zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung (mit 250.000 Toten). In beiden Ländern stellten Mainstream-Repräsentationen bosnische MuslimInnen als wenig mehr dar denn als eine erfundene und künstliche Nation, ohne historische Rechte und Ansprüche auf bosnisches Territorium. Für KroatInnen wie für SerbInnen waren die MuslimInnen die VorbotInnen einer gefährlichen islamischen Verschwörung, die es darauf abgesehen hätten, den Balkan und Westeuropa zu erobern. Derlei gängige Repräsentationen von MuslimInnen waren weit verbreitet und setzten sich auch nach den Kriegen fort (vgl. ebd.). Nach drei Jahren blutigen Konflikts wurde der bosnische Krieg am 14. Dezember 2005 mit dem Friedensabkommen von Dayton beendet. Während das Abkommen behauptete, sein Ziel sei Versöhnung, Demokratie und ethnischer Pluralismus, schrieb es in den Augen seiner KritikerInnen die ethnische Trennung zwischen bosnischen SerbInnen, bosnischen KroatInnen und bosnischen MuslimInnen auf gesetzlicher Ebene fest. Es teilte Bosnien-Herzegowina in zwei Teile: die Föderation Bosnien-Herzegowina einerseits (mit 51 Prozent des Territoriums), in der hauptsächlich bosnische MuslimInnen und bosnische KroatInnen leben, und die Republika Srpska andererseits (mit 49 Prozent des Territoriums), die beinahe ausschließ-

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lich von bosnischen SerbInnen bewohnt wird. Darüber hinaus unterteilte das Abkommen die Föderation Bosnien-Herzegowina in zehn ethnisch unterscheidbare Bezirke mit wenigen Überschneidungen zwischen den beiden ethnischen Gruppen. Obwohl die Kämpfe 1995 eingestellt wurden, ist der Konflikt noch nicht vollständig gelöst. Ethnische Fragmentierung und »ungewisse Übergänge« [uncertain transitions, A.d.Ü.] vom Sozialismus zur Demokratie (vgl. Verdery/Burawoy 1999) haben zur gegenwärtigen Situation einer ökonomischen, sozialen und politischen Rückständigkeit des Landes beigetragen. Und heute, beinahe fünfzehn Jahre nach den letzten militärischen Auseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina, werden die militärischen Einheiten vor Ort international kontrolliert, und es ist immer noch die internationale Gemeinschaft, die den Frieden dort überwacht und ausverhandelt. Immer noch gibt es miteinander in Konflikt stehende Visionen über die Zukunft Bosnien-Herzegowinas. Eine weitere zentrale Konfliktregion im ehemaligen Jugoslawien ist nach wie vor der Kosovo, jene Provinz innerhalb der Union von Serbien und Montenegro, die heute aus vielen und unterschiedlichen Gründen hauptsächlich von albanischen MuslimInnen bewohnt wird (vgl. Judah 2000).4 Die SerbInnen haben den Mythos über den Kosovo als Wiege der serbisch-orthodoxen Zivilisation, die als zu Serbien gehörig betrachtet wird, Jahrhunderte lang kultiviert. Die Verfassung Jugoslawiens von 1974 hat den Status des Kosovo als autonome Provinz festgelegt, und nach dem Tod des jugoslawischen Präsidenten Tito haben in den 1980er Jahren die AlbanerInnen im Kosovo Druck ausgeübt, um dessen Unabhängigkeit zu erlangen. 1989 hat der Kosovo jedoch seinen Status als unabhängige Region verloren und ist zu einem Teil Serbiens geworden. AlbanerInnen haben die SerbInnen als KolonisatorInnen bezeichnet, und der Kosovo wurde allmählich als Kolonie verstanden. Serbische PolitikerInnen wiederum zeichneten ihrerseits die AlbanerInnen als »KolonisatorInnen« und »VerfolgerInnen«, indem sie auf die Tatsache verwiesen, dass es in den 1980er Jahren massive Migrationsbewegungen von SerbInnen aus dem Kosovo gegeben hatte, die sowohl eine Folge des Wandels als auch ein Grund für den Wandel in der ethnischen Struktur und in der Qualität der interethnischen Beziehungen darstellten. Serbischen Stimmen zufolge jedoch waren es die SerbInnen im Kosovo, die ein »historisches Recht« hätten, weiterhin im Kosovo zu regieren. Während der 1990er Jahre wurden die Rechte kosovo-albanischer MuslimInnen systematisch missachtet. Eine passive Widerstandsbewegung hat es in dieser Zeit nicht geschafft, die Unabhängigkeit des Kosovo zu erreichen. Mitte der 1990er Jahre hat eine albanische Untergrundbewegung, die Kosovarische Befreiungsarmee [UÇK, A.d.Ü.], ihre Angriffe auf serbische Ziele verstärkt. Diese Angriffe wiederum haben zu ihrer brutalen militärischen Niederschlagung von Seiten Serbiens geführt. Im November 1997 ereigneten sich die ersten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Kosovarischen Befreiungsarmee und dem serbischen Militär. Der Krieg eskalierte und wurde 1999 schließ-

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lich mit der Bombardierung Serbiens durch die NATO beendet. Im Jahr 2005 wurde der Kosovo immer noch von der UNO verwaltet, während er verzweifelt weiter versuchte, seine Unabhängigkeit von Serbien zu erklären. Andererseits hat der Kosovo auch heute noch eine zentrale Position in einer serbischen Vorstellung von Nation inne.

Textanalyse Die Analyse besteht aus unterschiedlichen thematischen Strängen, die wir in zwei Gruppen unterteilt haben. Jede von ihnen verfügt über spezifische Charakteristika, die wir nun zu beschreiben und zu erläutern versuchen. Terrorismus umfasst alle Akte der Gewalt, die von islamischen Extremisten auf dem Balkan gegen Kroaten/Serben verübt werden. Der Vergleich der Propositionen aller Zeitungstexte über Terrorismus aus der kroatischen und der serbischen Tageszeitung lässt uns erkennen, dass die Proposition Terrorismus umfasst alle Akte der Gewalt, die von islamischen Extremisten auf dem Balkan gegen Kroaten/Serben verübt werden in beiden Tageszeitungen zum Einsatz kommt. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Zeitungen besteht in der Definition der Räume, wo genau auf dem Balkan bestimmte terroristische Gruppen operieren und wer eigentlich die Täter sind. Die serbische Tageszeitung definiert Terrorismus als »alle Akte der Gewalt, die von islamischen Extremisten in Bosnien und im Kosovo gegenüber den Serben verübt werden« (Večernje novosti, 2. November 2005). Die kroatische definiert den so genannten Terrorismus auf dem Balkan als »Akte der Gewalt in Bosnien, die von bosnischen islamischen Extremisten gegen Kroaten verübt werden«. Ein typisches Beispiel dafür findet sich in einem Artikel mit der Überschrift »Bosnien und Terrorismus« (Večernji list, 9. November 2005): »Selbstverständlich sollte es jeden Tag Schlagzeilen von Artikeln auf den Titelseiten verschiedener internationaler Tageszeitungen geben, in denen steht, dass »ein bosnischer Bürger Anschläge auf … vorbereitet hat«. Nun, wahr ist vielmehr, dass es in den Fällen von New York, Dänemark, Australien, Washington […] Beweise und ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür gibt, dass und wie bosnische islamische Extremisten an der Ausführung beteiligt waren. […] Dies sollte international bekannt werden, da dies den einzigen Weg darstellt, um weiteren gewalttätigen Angriffen auf Kroaten in Bosnien und Herzegowina Einhalt zu gebieten. Diese Angriffe begannen Mitte der 1990er Jahre; zu ihnen zählen die Autobombe in Mostar und auch die Ermordung von kroatischen Flüchtlingen und Polizisten in Zentralbosnien« (ebd.).

Beide der oben angeführten Artikel beinhalten auch die Proposition Muslime auf dem Balkan arbeiten mit islamischen Terroristen und der al Qaida zusammen.

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Diese Proposition beschuldigt alle MuslimInnen auf dem Balkan, für »globale« islamische Terroristen und insbesondere für die al Qaida zu arbeiten. Allerdings ist auch eine bemerkenswerte räumliche Differenz [zwischen den beiden Zeitungen, A.d.Ü.] festzustellen. Während die kroatische Zeitung ausschließlich auf Bosnien als Basis des Terrorismus auf dem Balkan fokussiert, inkludiert die serbische Zeitung auch den Kosovo als sicheren Hafen für Terroristen. So publizierte Večernji list beispielsweise einen Artikel mit dem Titel »2000 islamische Extremisten erhielten die bosnische Staatsbürgerschaft« (4. Juli 2005): »Zellen der al Qaida wurden in Bosnien und Herzegowina bereits in den 1990er Jahren errichtet, und ihr Initiator ist Ayman Az Zawahiri. Bosnische Muslime folgten Zawahiris Aufrufen und begannen terroristische Lager zu organisieren, in denen die Pläne für Attacken auf westliche Länder ausgeheckt werden« (ebd.). Die serbische Zeitung inkludiert nicht nur die bosnischen Terrorzellen, sondern behauptet auch, dass es terroristische Organisationen im Kosovo gibt. So beginnt der Artikel mit der Überschrift »Al Qaida immer noch in Bosnien« (Večernje novosti, 27. April 2005) mit der Behauptung, dass »für Europa die größte terroristische Bedrohung sowohl Bosnien als auch der Kosovo darstellt, wo auch heute noch lokale islamische extremistische Organisationen gut mit der al Qaida kooperieren« (ebd.). Auf diese Weise adaptieren die analysierte kroatische bzw. serbische Zeitung den globalen Terrorismusdiskurs und wenden ihn auf den lokalen Kontext Exjugoslawiens an. Wir werden hier jedoch nicht nur ZeugInnen einer simplen Bedeutungsaneignung von einem globalen auf einen lokalen Kontext. Es geht vielmehr um eine Erweiterung und Neuausrichtung von Bedeutung. Beide Zeitungen haben eine neue Metapher von Terrorismus – als Akte der Gewalt in Bosnien (und im Kosovo), ausgeführt von Bosniens islamischen Extremisten gegen Kroaten/Serben – etabliert. Insofern haben sie die Bedeutung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien neu zusammengesetzt und ihn als Krieg gegen den Terrorismus umdefiniert. Da Serbien in einen gewaltsamen Konflikt mit kosovo-albanischen MuslimInnen im Kosovo involviert war, fügt die serbische Tageszeitung den Kosovo zu den »Plätzen, die Terroristen einen sicheren Hafen bereitstellen« (Večernje novosti, 25. Mai 2005) hinzu, und die Definition von Terrorismus beginnt, auch Gewaltakte zu inkludieren, die von muslimischen Extremisten gegenüber dem Kosovo verübt wurden. Die Repräsentation von sozialen AkteurInnen: Die Repräsentation von »Muslimen als die Anderen des Balkans« JournalistInnen beider Zeitungen verwenden die binäre Opposition zweier Gruppen: »wir« (»gute Opfer der Terroristen«) versus »sie« (»Täter«). Sie assoziieren sich selbst und ihre eigenen Nationen mit den »Opfern des Terrorismus«, das heißt mit den Opfern der Kriege des ehemaligen Jugoslawien.

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Ungeachtet dessen wird »der Andere« portraitiert als: Muslime im allgemeinen, Muslime auf dem Balkan, Muslime in Bosnien, islamische Extremisten, islamische Fundamentalisten, al Qaida und Osama bin Laden, die bosnische Regierung, die regierende muslimische Partei SDA [Partei der demokratischen Aktion, A.d.Ü.] in Bosnien, Alija Izedgebović (der frühere Präsident von Bosnien und Herzegowina und ebenfalls frühere Parteivorsitzende der dortigen Regierungspartei SDA). In der serbischen Tageszeitung ist »der Andere« auch: Muslime und islamische Extremisten im Kosovo, die kosovarische Befreiungsarmee und Adem Demaći (der Vorsitzende der Vereinigung des Verbandes kosovarischer SchrifstellerInnen). Insofern sind die Zeitungen also in die Prozesse der Herstellung der Dichotomie zwischen »wir/Opfer« und »sie/Täter« involviert. Dabei verwenden beide analysierten Zeitungen gleichermaßen die Begriffe »islamische Extremisten, islamische Fundamentalisten, islamische Terroristen and Islamisten«, wenn es um »Muslime in Bosnien-Herzegowina, die bosnische Regierung, den früheren Präsidenten Alija Izedbegović oder die regierende muslimische Partei SDA in Bosnien« geht. Um die MuslimInnen in der Region des ehemaligen Jugoslawien zu benennen, verwenden die JournalistInnen »muslimisch« »islamisch« und »islamistisch« synonym, obwohl Islamismus als politischer Diskurs verstanden werden muss, ähnlich wie Sozialismus und Liberalismus, der jedoch Islam als innerhalb der politischen Ordnung zentral setzt. Wie Sayyid erklärt, reicht die Bedeutung von Islamismus von der Bekräftigung einer muslimischen Identität bis hin zum Versuch der Neuerrichtung von Zivilgesellschaft auf islamischen Prinzipien (1997: 17). Ein Islamist/eine Islamistin ist ihm zufolge jemand, der/die seine/ihre muslimische Identität im Zentrum seiner/ihrer politischen Praxis verortet, der/die die Sprache islamischer Metaphern verwendet, um sein/ihr politisches Ziel gründlich durchzudenken, und der/die in seiner/ihrer politischen Zukunft den Islam sieht. Das soll nicht dahingehend verstanden werden, dass es keine Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Islamismus gäbe, dass dieser eine monolithische Struktur ohne interne Differenzen wäre. IslamistInnen sind in ihren Ansichten und Motiven untereinander nicht mehr5 und nicht weniger identisch als bürgerliche Liberale oder NationalistInnen dies sind. So schreibt beispielsweise ein serbischer Journalist im Artikel »Viktimisierte Serben« (Večernje novosti, 14. Juni 2005): »Während des Falls von Srebrenica waren es nicht die Serben, die den Genozid in dieser Enklave verübt haben. Um die Wahrheit zu sagen, es sind die Muslime, die Genozid an uns verübt haben. Die Interpretation der Ereignisse von Srebrenica (denen zufolge die Serben die Täter waren) wurde von der SDA und von anderen terroristischen Gruppen erfunden, die später in der al Qaida aufgingen. Die bosnischen Islamisten haben die Wahrheit durch ihre Lügen über die Situation in Bosnien und Herzegowina ersetzt« (ebd.).

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Dieses Beispiel beinhaltet nicht nur die klassische Dichotomie von wir (Serben, Opfer) gegen sie (Muslime, Terroristen) und den synonymen Gebrauch der Wörter Muslime, SDA-Partei, terroristische Gruppe, al Qaida und Bosniens Terroristen. Es legt auch eine Umdeutung von Geschichte offen, indem es folgende logische Konsequenz impliziert:6 Weil die Muslime Terroristen sind, trifft die dominante historische Version der Situation in Bosnien und Herzegowina nicht zu, der zufolge die Muslime die Opfer waren und als solche dargestellt werden. Auch die kroatische Zeitung nutzt den Terrorismusdiskurs, um die Dichotomie zwischen uns (Kroaten) und denen (Muslime, Terroristen) herzustellen. Damit wird auch versucht, die Geschichte dahingehend umzudeuten, dass wir, die Kroaten, im bosnisch-kroatischen Konflikt die Opfer von muslimischem Terrorismus gewesen seien. So wurde in der kroatischen Tageszeitung beispielsweise ein Artikel veröffentlicht, der folgenden Titel trug: »Befreiter Ex-General der bosnischen Armee kennt Izetbegovićs Abmachungen zu unterschiedlichen bosnischen Regionen« (Večernji list, 18. November 2005): »Halilović bestätigte die Charakteristika des bosnisch-kroatischen Krieges. […] Gemeinsam mit den Serben hat die muslimische Regierung die Erklärung zur Aufteilung Bosniens am 16. Juli 1993 unterzeichnet, mit der die Kroaten betrogen wurden. […] Die Kroaten wissen es bereits seit langem, dass der Terrorismus über Bosnien und Herzegowina regiert« (ebd.). Alle analysierten Texte rahmen die lokalen MuslimInnen entsprechend westlicher Mainstream-Stereotype über ebendiese (vgl. Karim 1997: 2002). Darüber hinaus jedoch wenden sie diese ihrem eigenen politisch-historischen Kontext entsprechend an. In dieser Vorstellung werden MuslimInnen als homogene Masse beschrieben, die über eine gemeinsame Subjektivität verfügt, welche im Widerspruch zum Rest der demokratischen Welt steht. Die Texte positionieren alle MuslimInnen aus den ehemaligen jugoslawischen Ländern als »Andere«. Sie werden als »balkanische Andere« definiert, als die Feinde der Serben und Kroaten repräsentiert und auf diese Weise mit islamischen Extremisten in Verbindung gebracht. Indem die Zeitungen bosnische und kosovarische MuslimInnen als islamische Extremisten, islamische Militante und islamische Terroristen bezeichnen, reduzieren sie alle MuslimInnen zu monolitischen und irrational gewalttätigen »Anderen« und betreiben eine Art Wiederaufbereitung allgemeiner westlicher Stereotype über MuslimInnen und Islam (vgl. Karim 1997, 2002; Said 1978, 1997). Insbesondere Karim argumentiert (1997), dass Gewalt, Lust und Barbarei das vorrangige westliche Bild vom »Islam« zu sein scheint, und er warnt davor, voreilige Schlüsse über das Wesen des Islam zu ziehen. Beide hier analysierten Zeitungen stellen die Religion ihrer jeweiligen Nation als friedliche dar, wohingegen der Islam als aggressiv und gewaltvoll beschrieben wird. So schreibt beispielsweise die serbische Tageszeitung im Artikel »Rekrutierungsbasis des Verbrechens« (Večernje novosti, 14. Juni 2005), dass »die serbisch-orthodoxe Religion eine defensive, der Islam hingegen eine ag-

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gressive Religion ist« (ebd.). Die kroatische Zeitung schreibt in einem Artikel »Religionen – als Feinde« (Večernji list, 29. August 2005), dass »aus Bosnien friedensliebende KatholikInnen vertrieben werden« und »Islamisten angestrengt danach trachten, in den christlichen Gemeinden muslimische Gesetze zu schaffen und gewaltsam durchzusetzen« (ebd.). Auch in der kroatischen Tageszeitung handelt ein Artikel mit dem Titel »Der Vatikan muss zerstört werden« (Večernji list, 31. Mai 2005) davon, wie die Terroristen den Vatikan, den katholischen Schrein, zerstören wollen würden: »Der Vatikan gilt als wichtigster christlicher Stützpunkt, und sie wollen ihn unbedingt zerstören, da der Islam die Welt solange nicht beherrschen kann, solange es den Vatikan gibt« (ebd.). Beide analysierten Tageszeitungen stellen MuslimInnen auf dem Balkan oder auch Bosnien-Herzegowina als solches (wie bereits angeführt, beinhaltet dies im Fall der serbischen Zeitung auch den Kosovo) als nicht-europäisch dar. Damit wird zugleich implizit ihre eigene Nation und der jeweilige Nationalstaat als zu Europa gehörend dargestellt. Ein kroatischer Journalist schreibt am Ende seines Artikels »Bosnien ist von Europa weit entfernt » (Večernji list, 25. Juni 2005): »Dort, wo islamische Terroristen rekrutiert werden, wo politisch manipulierte Prozesse geführt werden, wo nur Staatsterrorismus regiert, dort existiert kein Europa!« (ebd.). Die serbische Tageszeitung schreibt in ihrem Artikel »Angst vor dem islamischen Staat in Europa« (Večernje novosti, 8. Dezember 2005): »Die muslimische Regierung verwandelt Bosnien und Herzegowina in die erste islamische Republik Europas. Das wird nicht nur die Balkanregion destabilisieren, sondern den gesamten europäischen Kontinent, denn der Islam ist niemals Teil von Europa gewesen« (ebd.). Beide Zeitungen haben MuslimInnen in Bosnien mit kriminellen und anderen illegalen Aktivitäten im Untergrund in Verbindung gebracht (bei den serbischen wiederum kommen der Kosovo und und albanische MuslimInnen hinzu). Beispielsweise schreibt die serbische Zeitung in einem Artikel mit dem Titel »Der Balkan – Geldwäscherei der al Qaida« (Večernje novosti, 9. September 2005), dass »Bosnien und Herzegowina und Albanien Geldwaschanlagen sind, während sie zugleich terroristische Anschläge unterstützen und finanzieren« (ebd.). Darüber hinaus behauptet der Artikel »Die Flügel des Terrorismus« (Večernje novosti, 26. Dezember 2005): »Es wird muslimischer Terrorismus angewendet, um in der serbischen Bevölkerung Angst zu verbreiten. Der Terror der albanischen Regierung im Kosovo, der mit dem organisierten Verbrechen – wie Drogen, Waffen und Prostitution – in Verbindung steht, ist das einzige Regime der Angst in einem freien Europa. […] Der Kosovo ist die größte Fabrik für synthetische Drogen in Europa« (ebd.).

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Die kroatische Tageszeitung veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel »Das organisierte Verbrechen in Bosnien und Herzegowina« (Večernji list, 28. Dezember 2005): »Bosnien eröffnet den Schmugglern von Zigaretten, Drogen, Waffen und Prostituierten einen Weg. […] Man nimmt an, dass die muslimische Regierung ganz bewusst Regionen des islamischen Militarismus geschaffen hat – vor allem rund um Zenica, Tuzla, Sarajevo und Travnik« (ebd.). Die daraus resultierenden Bedeutungsgehalte folgen den weit verbreiteten Grundzügen der folgenden Geschichte: Die MuslimInnen würden, wie sie dies schon im 14. Jahrhundert getan hätten, KroatInnen wie SerbInnen drohen, diese aus ihrer historischen Heimat zu vertreiben. Muslime würden kroatische und serbische Frauen vergewaltigen und katholische Kirchen sowie orthodoxe Klöster entweihen. Wie Mertus (1999: 9, hier übersetzt aus dem Englischen) schreibt, würde jeder und jede in der Region, also SerbInnen, KroatInnen, SlowenInnen und Kosovo-AlbanerInnen gleichermaßen, »das eigene Verhalten rund um das gestalten, was sie für jeweils wahr halten […] auf der Basis ihrer eigenen, persönlichen Erfahrungen und auf der Basis der Mythen der lokalen Medien und anderer populärer GeschichtenerzählerInnen […] was zählt, ist nicht das, was tatsächlich wahr ist, sondern was die Menschen für »die Wahrheit« halten« (ebd.). Beide Zeitungen stellen Bosnien und den Kosovo als zum Balkan gehörend dar und ihre eigenen Länder als europäisch. Zum Beispiel: »Unser Land und der Rest der europäischen Länder wird von Balkanländern wie Bosnien und Kosovo bedroht. Diese Staaten sind voll von Terrorismus und von unterschiedlichen kriminellen Aktivitäten.« (»Es gibt kein einheitliches Sicherheitssystem«, Večernja novosti, 28. März 2005) »Bosnien und Herzegowina haben es an die 21. Stelle des Index gescheiterter Staaten geschafft. Auch das beweist einmal mehr, dass Bosnien noch einige Zeit brauchen wird, um den Balkan zu verlassen und endlich in Europa anzukommen« (»BiH – ein kollabiertes Land!«, Večernji list, 12. August 2005). Als Fortsetzung einer ganzen Bedeutungskette definieren beide Zeitungen »lokale« Terroristen. Diese sind nicht nur Muslime im Allgemeinen, islamische Extremisten, islamische Fundamentalisten, islamische Terroristen, al Qaida und Osama bin Laden wie in den Medien der USA (vgl. Zelizer/Allan 2002; Charmak/Bailey/Brown 2003), sondern es sind spezifische Muslime auf dem Balkan, Muslime in Bosnien und jene bosnischen Institutionen und Politiken, die im Widerspruch zu serbischen und kroatischen Politiken stehen. In der serbischen Zeitung werden wiederum die Muslime im Kosovo als »der Andere« verstanden. Alle analysierten Texte positionieren die lokalen MuslimInnen in Übereinstimmung mit den westlichen Mainstream-Stereotypen über MuslimInnen (z.B. gewalttätig, aggressiv, kriminell, nicht-europäisch), eignen sich diese jedoch entsprechend ihres eigenen politisch-historischen Kontexts an. Beide Zeitungen interpretieren die Rolle von AkteurInnen in der Vergangenheit, vor

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allem in den frühreren Kriegen Jugoslawiens, neu: Aus Kriegsverbrechern werden Muslime auf dem Balkan (positioniert als Terroristen), Kriegsopfer werden zu Kroaten und Serben (positioniert als Opfer der Terroristen). Beide Zeitungen definieren gegenwärtige nationale Identität um. Wenn MuslimInnen auf dem Balkan als zur barbarischen und unzivilisierten Welt gehörend entworfen werden, werden KroatInnen und SerbInnen als europäisch, zivilisiert und zu einer globalen Antiterrorismus-Gemeinschaft gehörend in Stellung gebracht.

Diskussion und Zusammenfassung Unsere Analyse zeigt, dass die untersuchten serbischen und kroatischen Zeitungen den Diskurs des US-dominierten »war on terror« in einem lokalen Kontext neu zusammengesetzt haben. Notwendigerweise beziehen sie sich auf bestehende Repertoires von Referenzen, die sie mit ihrer jeweiligen nationalen LeserInnenschaft teilen. Sie verweben diese aber auch in interpretative Rahmungen, wobei bestimmte Positionierungen und Bilder unterstützt, andere hingegen vermieden werden. Die Zeitungen eignen sich den globalen Diskurs neu an, indem sie Terrorismus als jegliche Gewaltakte, die von muslimischen Extremisten verübt werden, definieren und behaupten, dass SerbInnen und KroatInnen die Guten sowie »die Opfer« ihrer eigenen lokalen TäterInnen, der MuslimInnen auf dem Balkan, seien. Die Gruppe der »Anderen« bleibt weiterhin die »sie«-Gruppe, die die »nicht-europäischen/nicht-christlichen MuslimInnen« umfasst. Der wesentliche Faktor, der dazu führte, dass der von den USA dominierte Diskurs eines »Krieges gegen den Terror« akzeptiert wird, ist der veränderte politische Kontext – zumal beide Länder der EU und der NATO beitreten wollen. Die internationale Gemeinschaft verlangt deren Aussöhnung – doch beide Länder ziehen dieser gleichermaßen die Verleugnung von Kriegsverbrechen vor. Dennoch wollen zugleich beide der internationalen Gemeinschaft zeigen, dass sie sich letztendlich auf der richtigen Seite befinden. Auch hier haben die Mainstream-Medien die Rolle von zentralen ideologischen Staatsapparaten missbraucht. Die untersuchten Zeitungen haben den globalen Terrorismusdiskurs auf den lokalen Kontext angewendet, um ihren Nationalismus sowie ihre militärischen Aktionen gegen MuslimInnen in den Kriegen innerhalb des ehemaligen Jugoslawien zu legitimieren und um sich in die globale Diskursgemeinschaft des Antiterrorismus einzuschreiben. In der Aneignung eines globalen Antiterrorismus-Diskurses (re)produzieren JournalistInnen eine hegemoniale globale Ordnung dieses Diskurses. Serbische wie auch kroatische Medien haben einen westlichen Antiterrorismus-Diskurs übernommen, um damit serbische und kroatische Angriffe auf MuslimInnen in Bosnien zu rechtfertigen. Zugleich haben sie ihre »vormals offiziellen FeindInnen« (im Fall Serbiens) sowie ihre scharfen westlichen KritikerInnen aus den USA und der

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EU (im Fall Kroatiens) als die diese Diskursordnung maßgeblich Tragenden und Entscheidenden akzeptiert. Vereinfacht ausgedrückt haben die Medien den Diskurs ihrer früheren FeindInnen bzw. KritikerInnen als ihren eigenen zur Anwendung gebracht, um die Verbrechen der jeweiligen AkteurInnen zu legitimieren und sich selbst auf der internationalen Landkarte der »globalen GewinnerInnen« zu verorten. Aus dem Englischen übersetzt durch Claudia Brunner.

A NMERKUNGEN 1 | Der Ausdruck nationalistischer Diskurs bezeichnet hier generell jene Praktiken, die die Objekte erschaffen, von denen sie sprechen. Wir definieren nationalistischen Diskurs hier als all jene diskursiven Praktiken und Ausdrucksformen, die auf der ersten Ebene einer Identitätsbildung an eine Überlegenheit der Zugehörigkeit zu einer Nation appellieren. Wir verstehen nationale Identität als etwas, das sowohl das Selbstbewusstsein als Gruppe als auch die Erkenntnis des Vorhandenseins von inneren und äußeren »Anderen« mit einschließt, von denen sich die Nation unterscheiden will. Als Nationen erzeugen diese sozial konstruierten Entitäten geschlossene Identitäten, indem sie sich in ausschließenden nationalistischen Diskursen auf gemeinsame und vereinheitlichte kulturelle Codes und Erfahrungen berufen. 2 | Beide Autorinnen kommen aus der Region des ehemaligen Jugoslawien und beherrschen Kroatisch und Serbisch in Wort und Schrift. Insofern gab es keine signifikanten Schwierigkeiten mit der Übersetzung der Zeitungstexte aus dem Original ins Englische. 3 | Siehe Quellenverzeichnis. 4 | Die Geschichte des Kosovo erneut zu erzählen, stellt jeden Forscher und jede Forscherin vor eine Reihe ernsthafter Probleme. Der Kosovo scheint eine jener Erzählungen zu sein, die dabei helfen, die Gesellschaft als solche zu konstituieren und neu zu erschaffen, und sein Status beschäftigt aktuell HistorikerInnen des Konflikts, PolitikerInnen und auch die Öffentlichkeit gleichermaßen. Es muss hier betont werden, dass die Auseinandersetzungen über den Kosovo sich nicht auf die wissenschaftliche Debatte beschränken, sondern größere politische Kämpfe über die Bedeutung der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft mit sich bringen. Das Problem des Kosovo ist im Allgemeinen allzu simplen Interpretationen, Lügen und Mystifizierungen von allen involvierten Seiten unterworfen worden. 5 | Bosnische serbische Kräfte haben die Enklave Srebrenica vom 6. bis zum 8. Juli 1995 belagert. Am 11. Juli 1995 ermordeten bosnische Serben unter dem Kommando von Radko Mladi ć mehr als 8.000 MuslimInnen in Srebrenica (vgl. MacDonald 2002: 139). 6 | Van Dijk (1988: 181) hat gezeigt, dass die Wörter, Sätze und Propositionen von JournalistInnen über unterschiedliche Arten von Impliziertheit und Indirektheit verfü-

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gen; d.h. Information, die auf dem bestehenden Wissen und bestehenden Ansichten des Anwenders oder der Anwenderin einer Sprache basiert, mit der Information in Verbindung gebracht wird, die in einem medialen Text ausgedrückt wird. Wir verwenden die Analyse logischer Implikationen (vgl. Verschueren 1999; Fairclough 2003), d.h. impliziter Bedeutungen, die von den jeweiligen Besonderheiten einer Sprache logisch abgeleitet werden können — z.B. »er ist arm, aber ehrlich« impliziert, dass man von armen Menschen annehmen kann, sie seien unehrlich (vgl. Fairclough 2003: 60).

L ITER ATUR Billig, Michael (1995): Banal nationalism, London: Sage. Charmak, Steven/Bailey, Frankie Y./Brown, Michelle (Hg.) (2003): Media representations of September 11, Westport/London: Praeger. Ćurgus, Velimir K. (1999): »Oblačenje novena«. In: Nena Skopljanac-Brunner/ Alija Hodžić/Branmira Krištović (Hg.), Mediji i rat, Belgrad: Mediji, S 1732. Erjavec, Karmen/Volčič, Zala (2007): »The Kosovo battle«. In: The Harvard International Journal of Press/Politics 12(3), S. 67-86. Fairclough, Norman (1995): Media Discourse, London: Arnold. Fairclough, Norman (2003): Analysing Discourse: Textual Analysis for Social Research, London: Routledge. Hall, Stuart (1989): Ideologie, Kultur, Medien: Neue Rechte, Rassismus, Hamburg: Argument. Hodge, Robert/Kress, Gunther (1993): Language as Ideology, London: Routledge. Judah, Timothy (2000): The Serbs. History, Myth and the Destruction of Yugoslavia, New Haven: Yale University Press. Karim, Karim H. (1997): »The Historical Resilience of Primary Stereotypes. Core Images of the Muslim Other«. In: Stephen Harold Riggins (Hg.), The Language and Politics of Exclusion. Others in Discourse, Thousand Oaks/ CA: Sage Publications, S. 153-182. Karim, Karim H. (2002): »Making Sense of the »Islamic peril«. Journalism as Cultural Practice«. In: Barbie Zelizer/Stuart Allan (Hg.), Journalism after September 11, London/New York: Routledge, S. 101-116. Kellner, Douglas (2005): »Globalization, Terrorism, and Democracy: 9/11 and its Aftermath«. In: http://gseis.ucla.edu/faculty/kellner, [22. Jänner 2006]. MacDonald, David Bruce (2002): Balkan Holocausts? Serbian and Croatian Victim-centred Propaganda and the War in Yugoslavia, Manchester: Manchester University Press. Mertus, Julie A. (1999): Kosovo. How Myths and Truths Started a War, Berkeley/ CA: University of California Press.

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Q UELLEN Večernji list [ins Deutsche übersetzte Titel der Zeitungsartikel aus Kroatien] »Der Vatikan muss zerstört werden«, 31. Mai 2005, S. 7. »Bosnien ist von Europa weit entfernt«, 25. Juni 2005, S. 8. »2000 islamische Extremisten erhielten die bosnische Staatsbürgerschaft«, 4. Juli 2005, S. 5.

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»BiH – Ein kollabiertes Land!«, 12. August 2005, S. 7. »Religionen – als Feinde«, 29. August 2005, S. 8. »Bosnien und Terrorismus«, 9. November 2005, S. 6. »Befreiter Ex-General der bosnischen Armee kennt Izetbegovićs Abmachungen zu unterschiedlichen bosnischen Regionen«, 18. November 2005, S. 7. »Das organisierte Verbrechen in Bosnien und Herzegowina«, 28. Dezember 2005, S. 9. Večernje novosti [ins Deutsche übersetzte Titel der Zeitungsartikel aus Serbien] »Es gibt kein einheitliches Sicherheitssystem«, 28. März 2005, S. 6. »Al Qaida immer noch in Bosnien«, 27. April 2005, S. 6. »Sieg oder Niederlage?« 25. Mai 2005, S. 7. »Rekrutierungsbasis des Verbrechens«, 14. Juni 2005, S. 6, 8. »Viktimisierte Serben«, 14. Juni 2005, S. 7. »Der Balkan – Geldwäscherei der Al Qaida«, 9. September 2005, S. 8. »Sie spielen mit dem Tod!«, 2. November 2005, S. 7. »Angst vor dem islamischen Staat in Europa«, 8. Dezember 2005, S. 7. »Die Flügel des Terrorismus«, 26. Dezember 2005, S. 7.

3. Geschlechterverhältnisse — Gewaltverhältnisse

Z U DIESEM K APITEL Die vier Texte, die den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt des Buches bilden, haben die ineinander verflochtene Politik von Gemeinschaft und Geschlecht zum Thema. Wie die Arbeiten von Hobsbawm (2004), Anderson (2005), Balibar/Wallerstein (1992) und Billig (1995) deutlich gemacht haben, sind soziale Gemeinschaften wie Nationalstaaten nicht natürlich gegeben, sondern werden »erfunden« und performativ inszeniert, d.h. durch die kontinuierliche Verwendung historisch spezifischer, kultureller Praktiken aufrechterhalten. Für unsere Fragen von besonderer Relevanz ist, dass es sich dabei um Prozesse handelt, mit denen – häufig konfliktreich und unter Anwendung von Gewalt – kulturelle Identitäten und soziale Unterschiede hergestellt werden, die, wie Ann McClintock (1997: 89) betont, immer mit der Sanktionierung von Geschlechterunterschieden einhergehen. Am Beispiel unterschiedlicher geographischer Orte sowie unterschiedlicher historischer Zeitpunkte werden in den vier Beiträgen die spezifischen Funktionen vorgeführt, die Frauen in Gemeinschaften zugeschrieben werden. Zwei Texte sind thematisch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt – Geetha Ramanathan beleuchtet anhand eines indischen und eines pakistanischen Romans kulturelle Prozesse rund um die Entstehung der beiden neuen Staaten, Indien und Pakistan; Tina Bahovec veranschaulicht am Beispiel von Zeitungsberichten die umkämpften Diskurse zum Frausein in der ethnischen Gemeinschaft der Kärntner Slowenen und Sloweninnen. Das Geschlechterverhältnis zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird in den Beiträgen von Kirstin Mertlitsch (in Deutschland) und Christopher Kilmartin (in den USA) thematisiert. Eine zentrale Einsicht feministischer Forschung ist, dass Gemeinschaften und kollektive Identitäten immer auf spezifischen Geschlechterkonstruktionen basieren. Wie Nira Yuval-Davis (2001) am Beispiel des Nationalstaates so eindrucksvoll herausgearbeitet hat, gelten Frauen in zweifacher Hinsicht als Trägerinnen

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und Hüterinnen der Nation. Zum einen wird ihnen die Aufgabe der biologischen Reproduktion der Nation zugeteilt, die sie für die Erhaltung und Vermehrung der nationalen Gemeinschaft zuständig macht. Zum anderen repräsentieren und reproduzieren Frauen auf symbolischer Ebene die Nation, indem sie durch die Art und Weise, wie sie sich kleiden und verhalten, die Kultur der Nation verkörpern und an die Nachkommen weitergeben. Frauen wird hiermit die Funktion »symbolischer Grenzposten« zugeschrieben, und es wird erwartet, dass sie dieser Funktion insbesondere in Situationen, in denen der Bestand oder die Identität einer Gemeinschaft gefährdet erscheint, verstärkt nachkommen. Unter solchen Bedingungen sind Frauen in besonderem Maße kulturellen Regulierungspraktiken ausgesetzt, die je nach historischer Situation und Kontext unterschiedlich ausgerichtet sind. Der Beitrag von Tina Bahovec illustriert dies am Beispiel der ethnischen Minderheit der SlowenInnen in Kärnten, Österreich, die in der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts mit einer deutschnationalen, das Slowenische abwertenden Ideologie konfrontiert war und unter dem Nationalsozialismus mit der Germanisierung slowenischer Einrichtungen zurechtkommen musste. Bahovec zitiert Berichte aus der Wochenzeitung Koroški Slovenec, in denen die Frau explizit in ihrer naturalisierten und aufopfernden Rolle als Hüterin und Bewahrerin der gesunden, bäuerlichen, bodenständigen, auf dem katholischen Glauben beruhenden, slowenischen Kultur und Tradition angerufen und den zerstörerischen Verführungen des modernen Stadtlebens, modischer Kleidung oder einer selbstbestimmten, emanzipierten Lebensform gegenübergestellt wird. Die Tatsache, dass die scharfe Abgrenzung der slowenischen Minderheit gegenüber der dominanten deutschsprachigen Kultur vor der Verantwortung der Frau für Haushalt und Familie Halt macht und die deutsche Frau sogar als Vorbild für die gute Slowenin gezeichnet wird, ist ein Beispiel für die Ethnien und Nationen übergreifende, geschlechtliche Kodierung von Gemeinschaften. Um die Rolle der Frau bei der Konstruktion nationaler Einheiten geht es bei Geetha Ramanathans Ausführungen zu der 1947 vorgenommenen Teilung Indiens und Pakistans. Im Unterschied zur Positionierung der Frau als Bewahrerin der Tradition und Kultur der ethnischen Gemeinschaft der SlowenInnen gegenüber der als Bedrohung dargestellten Moderne in der Zwischenkriegszeit, geht es in dem Diskurs, in dem die Nationalstaaten als Resultat eines Befreiungskampfes aus kolonialer Herrschaft gebildet werden, um die Frage, wie die Frau in die Moderne eingeführt werden und die Moderne repräsentieren kann. Ramanathan beschreibt, wie in den literarischen Werken zur Unabhängigkeit Indiens die Frau häufig als Sinnbild und Allegorie der Nation genutzt wird. In ihrer feministischen Gegenerzählung, in der sie sich auf zwei Romane (einen indischen und einen pakistanischen) stützt, in denen der weibliche Lebenszusammenhang im Mittelpunkt steht, arbeitet Ramanathan heraus, dass die Gründung der beiden Nationalstaaten als ein gewalttätiger Prozess der Zerschlagung vielfältiger, gewachsener Lebensformen verstanden werden muss; und als eine

3. G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE — G EWALT VERHÄLTNISSE

neue Ordnung, die über die Reglementierung von Frauen eingeführt wird. In dem in Pakistan spielenden Roman wird dies an der Figur der Aya (Kindermädchen) eines muslimischen Oberschicht-Mädchens illustriert. Vor der Teilung Indiens und Pakistans bewegt sich diese Figur in einem ethnisch und religiös gemischten Freundeskreis, wobei diese Unterschiede sowie die Tatsache, dass sie selbst Hinduistin ist, bedeutungslos erscheinen. Mit der auf religiöser Basis vorgenommenen Teilung (Indien als mehrheitlich von HinduistInnen und Pakistan als mehrheitlich von MuslimInnen bevölkerter Staat) ändert sich dies dramatisch. Die Existenz der beiden Staaten bedingt und erfordert ja gerade die Einführung und rigorose praktische Umsetzung dieser Unterschiede, was im Fall der Aya zur Folge hat, dass sie nun als Hindu-Andere positioniert wird – sie wird entführt, vergewaltigt und als Prostituierte eingesetzt. In den Texten von Ramanathan und Bahovec wird ein Muster deutlich, das Ann McClintock (1997: 91f.) als »gendering of nation-time« charakterisiert. McClintock greift Tom Nairns Hinweis auf, wonach die Nation als eine janusköpfige Figur der Zeit Gestalt annimmt – ein Gesicht schaut zu den Ursprungsnebeln der Vergangenheit zurück, während das zweite Gesicht in eine unbegrenzte Zukunft blickt – und fügt dem hinzu, dass diese widersprüchliche Konfiguration der Nation, die sich zwischen Nostalgie und progressiver Abkehr von der Vergangenheit bewegt, meist in Form einer naturalisierenden Teilung der Geschlechter gelöst wird: Frauen werden als authentischer Körper der Nation repräsentiert und stehen damit für nationale Tradition und das konservative Prinzip der Kontinuität. Männer dagegen werden als progressive Akteure repräsentiert, die vorwärts blicken und auf Veränderung ausgerichtet sind. McClintock weist auch darauf hin, dass diese Konfiguration auf der Naturalisierung der geschlechterbezogenen Machtrelationen in der Familie aufbaut. Die Thematisierung einer angemessenen Kleidung für Frauen, die sowohl bei Bahovec als auch bei Ramanathan vorkommt, ist ein Beispiel für die Politik der Sichtbarkeit, die nach Mc Clintock zentraler Bestandteil der Konstruktion nationaler Gemeinschaften ist. Diese Politik der Sichtbarkeit betrifft Frauen und Männer unterschiedlich. Da gerade in nationalistischen Kontexten Frauen als sichtbares Zeichen der Homogenität der Nation gelten, wird die Art und Weise, wie sie sich kleiden – besonders unter Bedingungen, unter denen es wichtig erscheint, dass sich die Gemeinschaft als eine Einheit performativ inszeniert (in Krisen, bei Bedrohung, im Zuge der »Erfindung« einer Gemeinschaft) – strenger und oft gewalttätiger Kontrolle und Disziplinierung unterzogen. Im Fall der Kärntner Sloweninnen schlug sich dies in der Aufforderung nieder, Tracht, das heißt traditionelle Kleidung, zu tragen; im pakistanischen Roman wird geschildert, wie die Tatsache, dass Ayah Saris (also eine für Indien typische Kleidung) trägt, Unmut auslöst und ihr dann auch der Sari weggenommen wird. Eine zweite Form der für nationale Gemeinschaften konstitutiven Politik der Sichtbarkeit, wird nach McClintock (1997: 102) als öffentliche Inszenierun-

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gen von Fetisch-Objekten (wie etwa Fahnen, Uniformen, Flugzeugen) und Organisation kollektiver Fetisch-Spektakel (z.B. Teamsport-Veranstaltungen, militärische Vorführungen) eingesetzt. Mit diesen öffentlichen Inszenierungen von Uniformen und Militär, die das Gewaltmonopol des Staates symbolisieren, werden gleichzeitig geschlechtlich kodierte, »institutionalisierte Gewaltverhältnisse« (Sauer 2002) repräsentiert. Wie Sauer ausführt, gründet sich der moderne Staat nicht nur auf ein geschlechtliches Gewaltverhältnis, er begründet dieses auch im familiären Alltag: Die immer mit Gewalt verknüpfte Bildung von Staaten sowie die Aufrechterhaltung staatlicher Gewalt beruht auf Männern, die zu Kampf und zum Einsatz von Waffen bereit sind. Mit dem Gewaltmonopol des Staates wurde Macht und Gewalt von individuellen Männern abgezogen und an den Staat gebunden, gleichzeitig wurde ein Teil des Gewaltmonopols auf die männlichen Familienoberhäupter übertragen, die über die Angehörigen ihres Haushalts verfügen konnten. Diese Form struktureller Geschlechtergewalt in der Familie ist trotz rechtlicher Maßnahmen, die den Handlungsspielraum für Frauen erweitern und zur Gleichstellung mit Männern führen sollen, bis heute wirksam. Sie können sogar unter den gegenwärtigen Bedingungen einer Erodierung staatlicher Verantwortung und zunehmender Unsicherheit und Verunsicherung der Menschen als Folgen der neoliberalen Globalisierung (vgl. Bauman 2008) wieder stärker werden, da Frauen vermehrt dazu gebracht werden, in Abhängigkeitsbeziehungen zu leben. Die extremste Form von Gewalt in traditionellen Familienstrukturen, das Töten von Partnerinnen und Ex-Partnerinnen in den USA der Gegenwart, ist Thema des Beitrags von Christopher Kilmartin. Er problematisiert die verharmlosende Berichterstattung über die mörderische Gewalt weißer Männer, indem er auf die sprachlichen Konstruktionen eingeht, die den Fokus auf die Opfer (also die Frauen) richten, häufig naturalisierende Konstruktionen von grundsätzlich verschiedenen Geschlechtern verwenden und die Morde als individuelle Akte gegenüber individuellen Opfern darstellen. Auf diese Weise werden die Morde nicht als extreme Ausformung eines strukturellen Gewaltverhältnisses dargestellt, sondern als Resultat des abweichenden, pathologischen Verhaltens einzelner Individuen. Die Rede von im Individuum verorteten Ursachen für problematisches Verhalten entspricht dem aktuell vorherrschenden, durch Privatisierung und Individualisierung definierten Diskurs des Neoliberalismus und stützt diesen Diskurs. Dieses Verständnis von männlicher Gewalt gegen Frauen trifft aber nicht auf alle Gewalthandlungen zu. So ist gegenwärtig in den westlichen Gesellschaften ein Muster erkennbar, wonach für die einheimische Kultur von der Gleichwertigkeit der Geschlechter ausgegangen wird und männliche Gewalt als etwas gilt, das durch individuelle Umstände bedingt ist. Dagegen wird die Kultur vieler ImmigrantInnen als patriarchal und vormodern charakterisiert. Gewalt gegen Frauen wird in diesem Fall als normal angesehen, männliche Gewaltakte gelten somit als kulturell legitimiert (vgl. z.B. Reimers

3. G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE — G EWALT VERHÄLTNISSE

2007). Dies hat, wie Reimers ausführt, stereotype Positionierungen von ImmigrantInnen zur Folge, die je nach Geschlecht unterschiedlich ausfallen: Männer gelten als bedrohlich und als Problem; sie werden als das Andere der einheimischen Kultur konstruiert und erfüllen damit die Funktion, die geschlechtlichen Gewaltverhältnisse der einheimischen Kultur zu verdecken. Frauen werden entweder als Opfer ihrer Herkunftskultur gesehen oder als Vorzeigebeispiel für eine Person, die so leben möchte wie die Einheimischen. Sowohl Reimers als auch Kilmartin schlagen vor, die Gewaltakte aller Männer als fixen Bestandteil einer durch geschlechtsspezifische Gewaltverhältnisse charakterisierten Kultur zu verstehen und insbesondere deren Interdependenz mit Normen von Maskulinität genauer in den Blick zu nehmen. Einen Perspektivenwechsel bringt Kirstin Mertlitsch, indem sie die aktuellen öffentlichen Diskussionen zu neuen Feminismen in Deutschland einer kritischen Analyse unterzieht. Im Unterschied zu den Texten von Ramanathan, Bahovec und Kilmartin geht es hier weder um die staatliche oder ethnische Regulierung von Frauen noch um Gewalt, die ihnen gegenüber angewendet wird; vielmehr ist die Emanzipation der Frauen Thema. Was auf den ersten Blick als klares Zeichen einer Befreiung der Frau erscheinen mag, stellt sich bei genauerem Hinschauen als neue Form der Regulierung und als eine historisch spezifische Form der Verwobenheit von Nation und Geschlechterverhältnis heraus. Die Diskurse zur emanzipierten Frau in Deutschland boomen ab Mitte der 2000er Jahre, einer Zeit, in der die Effekte des durch die Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus bedingten Umbaus des Staates von einem Wohlfahrtsstaat zu einem Sicherheitsstaat bereits allgemein spürbar werden. Zur Lösung gesellschaftlich erzeugter Probleme wird nicht länger auf kollektive, vom Staat eingerichtete Schutzmechanismen zurückgegriffen, sondern diese Aufgabe wird den Einzelnen übertragen, die gefordert sind, individuelle Lösungen zu finden. Der Staat legitimiert sich nunmehr darüber, für den Schutz der persönlichen Sicherheit seiner BürgerInnen vor diversen Bedrohungen (wie z.B. durch Serienmörder, Terroristen, illegale Einwanderer) zu sorgen. An die Stelle solidarischen Handelns tritt die Flexibilität der einzelnen und der Zwang zur Selbstregierung und kontinuierlichen Selbsterfindung (vgl. z.B. Bauman 2008). Das mit dem Neoliberalismus einhergehende Versprechen, dass alles möglich sei und es an den Einzelnen liege, was sie daraus machen, gilt jedoch nicht für alle Menschen in gleicher Weise. Diejenigen, die über mehr Ressourcen verfügen, haben es leichter, ihr Leben danach auszurichten. Aber auch sie sind nicht befreit von der als Folge des Ausgeliefertseins an die Bedingungen des Marktes auftretenden Ungewissheit und Verunsicherung, die zunehmend im privaten und familiären Bereich aufgefangen wird. Janine Brodie (2004) sieht in diesen Veränderungen eine Re-Formierung des Geschlechterverhältnisses. Sie diagnostiziert einerseits eine Erodierung von Geschlecht, indem die Menschen als geschlechtsunspezifische Individuen und Marktteilnehmer angesprochen werden. Andererseits

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verweist Brodie auf eine Intensivierung von Geschlecht, da die unbezahlte Pflege- und Reproduktions-Arbeit in den privaten Bereich verschoben wird und dort nach wie vor die traditionelle, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung besteht. Mertlitschs Analyse der unterschiedlichen Positionierungen der Frau in den aktuellen Diskussionen, die sie zu drei Strängen – Antifeminismus, konservative Feminismen und Elitefeminismen – zusammenfasst, macht deutlich, dass alle drei Stränge als je spezifische Stützen der deutschen Dominanzkultur fungieren. In den antifeministischen Positionen wird der Feminismus für den jüngsten Geburtenrückgang verantwortlich gemacht und die Frau auf die Mutterrolle und auf ihren »natürlichen« Auftrag zur Reproduktion der deutschen Kultur festgeschrieben. In konservativen Feminismen kommt Mutterschaft und Familie ebenfalls eine zentrale Rolle zu, aber gleichzeitig auch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen. Dagegen stehen bei den Elitefeminismen beruflicher Erfolg und Karriere im Vordergrund; diese Frauen verkörpern das neue kulturelle Ideal des (geschlechtsunspezifischen) neoliberalen Subjekts und führen vor, wie Selbstregulierung als Übernahme und Umsetzung gesellschaftlicher Normen funktioniert. Ihr Frausein wird über ihre heterosexuellen Beziehungen performativ hergestellt. Die vier Beiträge zum Schwerpunkt Gemeinschaft und Geschlecht dekonstruieren die mit Gemeinschaft verknüpften Vorstellungen von Einheit und Gemeinsamkeit und geben einen Einblick in die Strukturen von Ungleichheit, die zu Konflikten und Gewalt führen. Sie fokussieren zum einen Praktiken der Regulierung und Ausschließung vor und verweisen zum anderen auf die Funktionsweise kultureller Normen, deren performative Herstellung ebenfalls Ungleichheit, Ausgrenzung, Konflikte und Gewalt zur Folge haben. Es stellt sich nun die Frage, ob es andere Formen von Gemeinschaft gibt, die ohne diese problematischen Aspekte auskommen. Als ein Beispiel wären temporäre und unbeständige Bündnisse anzuführen, wie sie etwa von Judith Butler (2009) beschrieben werden. Diese Bündnisse sind »lebendige Felder von Differenzen« (Butler 2009: 432), die durch Antagonismen gekennzeichnet sind. Was diese Bündnisse zusammenhält, ist »der dauernde Fokus auf die Machtformationen […] und Zwangsmittel des Staates« (ebd.: 433). Butler nimmt das Prekärsein des Lebens als Ausgangspunkt, wonach es »kein Leben ohne Bedarf an Obdach und Nahrung, kein Leben ohne Abhängigkeit von größeren Netzwerken von Gemeinschaft und Arbeit, kein Leben, das Verletzlichkeit und Sterblichkeit überschreitet (gibt). Wir könnten dann einige der kulturellen Folgen der militärischen Macht heute als Versuch analysieren, das Prekärsein für andere zu maximieren, während das Prekärsein der betreffenden Macht minimiert wird« (ebd.: 434). Im Widerstand gegen die ungleiche Verteilung der Prekarität sieht Butler die zentrale Aufgabe dieser Bündnisse. Brigitte Hipfl

3. G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE — G EWALT VERHÄLTNISSE

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T INA B AHOVEC

»D IE F R AU MUSS F R AU BLEIBEN UND DARF DIE VON DER N ATUR GEGEBENEN G RENZEN NICHT ÜBERSCHREITEN « 1 G ESCHLECHT UND N ATION IN DER K ÄRNTNER SLOWENISCHEN G ESCHICHTE Tina Bahovec

Einleitung In der slowenischen und österreichischen Forschung zur Kärntner Geschichte werden Frauen- und Geschlechterthemen nur selten behandelt, obwohl nationale Ideologien und Aktivitäten geschlechtlich konnotiert sind und Geschlechterverhältnisse im Rahmen nationaler Konflikte besondere Bedeutung gewinnen (vgl. Nagel 1998; Walby 1992; Yuval-Davis 2001). Der vorliegende Beitrag stellt einige der vielfältigen Wechselwirkungen von Geschlecht und Nation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Grundlage von ausgewählten publizistischen und archivalischen Quellen dar. Besonders ergiebig ist die Wochenzeitung Koroški Slovenec, das zentrale Periodikum der Zwischenkriegszeit (1921-1941). Es wurde vom Politično in gospodarsko društvo za Slovence na Koroškem (Politischer und wirtschaftlicher Verein für die Slowenen in Kärnten) herausgegeben, der, wie die Elite der Minderheit insgesamt, stark männlich dominiert war. Auch der Titel Koroški Slovenec – »Kärntner Slowene« – kann als Indiz für die männliche Konstruktion des Nationalen gelesen werden.2 Die slowenische nationale Ideologie in Kärnten war, ähnlich wie im slowenischen Zentralraum, seit dem 19. Jahrhundert konservativ-katholisch geprägt und basierte auf Sprache, Kultur und Religion als den vermeintlich wesentlichen und objektiven nationalen Kriterien. Definitionen und Inhalte der Kriterien waren vergeschlechtlicht. Da der slowenische Klerus eine führende Rolle in der nationalen Bewegung hatte, hatten die Geschlechterkonzeptionen der katholischen Kirche großen Einfluss. Die Publikationen und Organisationen der Kärntner SlowenInnen propagierten eine traditionell-patriarchale Geschlechterordnung, weil sie befürchteten, dass die Emanzipation der Frauen das Bestehen des slowenischen Volkes gefährden würde. Modernistische Ansätze, etwa in Bezug auf politische Aktivitäten von Frauen, waren nur ansatzweise vorhanden und klar dem dominanten konservativen Geschlechterdiskurs untergeordnet. Familiäre Konzepte wurden auf die gesellschaftliche und nationale Ebene übertragen. Das Volk wurde als Familie jener verstanden, die die gleiche Sprache sprechen und von gleichem Blut sind, und Liebe und Treue zum eigenen Volk als ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wie Liebe und Treue innerhalb der eigenen Familie. Die Familie galt als »die erste natürliche Gemeinschaft unter den Menschen«, das Volk als »die zweite, größere natürliche Gemeinschaft« (Koroški Slovenec 24.5.1939: 1). Das nationale Bewusstsein wurde definiert als »die gebotene Liebe zu den Brüdern und Schwestern, die durch die Volkssprache, die nationale Heimat und das gemeinsame Schicksal gestützt

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und gefördert wird. Deshalb ist die Familie mit Vater, Mutter, Kind und dem Familienheim erschaffen, damit uns das Gebot der Liebe leichter fällt. Deshalb ist das Volk mit […] einer gemeinsamen Sprache erschaffen, damit wir das Gebot der Liebe im Großen leichter befolgen können. […] Auch für das Volk gilt, was das göttliche Gebot für die Familie befiehlt: Der Mensch soll nicht trennen, was Gott vereint hat!« (Koroški Slovenec 18.9.1935: 2) Das Volk lebe in den Familien und jede Familie stehe »notwendigerweise im Dienst ihres Volkes«: »Eine gesunde, gute Familie – ein gesundes, gutes Volk. Eine kranke, sterbende, schlechte Familie – ein krankes, sterbendes, schlechtes Volk« (Koroški Slovenec 13.9.1939: 2-3). Vorbildliche Familien seien »der Grundpfeiler des Staates« und »die Zukunft des Volkes«. Denn mit dem »Verfall der Familie fiel auch manch ein Volk und verschwand vom Antlitz der Erde« (Muttertag 13.8.1931, Sitzungsprotokolle des Slovensko prosvetno društvo Bilka in Bilčovs/Ludmannsdorf, Slovenski znanstveni inštitut [weiterhin: Sitzungsprotokolle, SZI]). Aufgrund der Bedeutung der Familie für die Nation wuchs auch die Bedeutung der Frau, die als Hausfrau und Mutter »die wahre Verteidigerin des Heimes und die Bewahrerin des Wohlstandes, des Glaubens und des Volkes« war (Koroški Slovenec 9.5.1934: 3-4). Die Mutter galt als »die Seele des Hauses, die Seele der Familie, der Mittelpunkt des häuslichen Lebens« (Koroški Slovenec 25.4.1928: 3). Die innerfamiliäre Hierarchie und Aufgabenverteilung wurde traditionell gesehen: »Im kleinen Staat der Familie ist der Vater Ministerpräsident, die Kinder sind die Untertanen, die Mutter führt die inneren Angelegenheiten, ist aber gleichzeitig Ministerin für Religion, Recht, Bildung und Gesundheit« (Koroški Slovenec 2.11.1932: 3).

Die Rolle der Frauen Die »ideale« Frau war eine fleißige Hausfrau und aufopferungsvolle Mutter, die für zahlreichen Nachwuchs sorgte und diesem die slowenische Kultur vermittelte. Viele Aussagen entwarfen ein stereotypisiertes Frauenbild und versuchten Frauen auf ihre familiären, religiösen und nationalen Pflichten einzuschwören. Durch kategorische Forderungen, Lob und Tadel, Vorbilder aus Geschichte und Religion oder den Vergleich mit Frauen anderer Nationalität wurden die vermeintlich »richtigen« Geschlechterkonzepte propagiert. Andererseits kann das wiederkehrende Beschwören der traditionellen Muster als Indiz dafür gelesen werden, dass sie in der Lebenswirklichkeit der Menschen schon brüchig geworden waren. In einem Beitrag des Koroški Slovenec wurde die Kärntner Slowenin folgendermaßen charakterisiert: »Sie ist nirgends Sklavin des Mannes und der Familie, sondern bewahrt geistreich ihre Würde gegenüber der Welt, dem Mann und den Kindern. Dabei widert sie jene Emanzipiertheit an, wie sie z.B. den Amerikanerinnen oder Engländerinnen eigen ist. Geistig

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und seelisch ist sie unwahrscheinlich agil und kann sich mit ihrem gesunden Urteilsvermögen und dem überlegten, wenn auch ungelernten Wort mit vielen Männern messen. Im Haushalt, in der Versorgung der Angehörigen mit den alltäglichen Notwendigkeiten, in der Gestaltung eines angenehmen, heimischen Herdes kann sie sich fast mit der Deutschen messen, die für ihren modern geführten Haushalt berühmt ist. […] Ihrem Mann ist sie eine treue Frau und Lebensgefährtin, ihren Kindern eine liebende Mutter. Groß ist sie in ihrem Leiden und ihrer Geduld« (Koroški Slovenec 1.11.1939: 3).

Als »Urvorbild« für jede Mutter wurde wiederholt auf die »Gottesmutter« verwiesen. »Dem Vorbild der göttlichen Familie in Nazaret soll jede Familie nacheifern, die glücklich sein will.« Und nur eine wahrhaft gläubige Frau vermag »mütterlich, sozial gerecht und auch national« zu sein (Koroški Slovenec 2.12.1936: 1). Aufgrund der nationalen Konfliktsituation und der eingeschränkten slowenischen Bildungsmöglichkeiten war es eine besonders wichtige Aufgabe der Kärntner Sloweninnen, die nationalen »Kriterien« Sprache, Kultur und Religion zu bewahren und weiterzugeben. Aber nicht nur Kenntnisse, sondern auch Achtung der nationalen Traditionen sollten vermittelt werden, da die deutschnationale Ideologie die slowenische Kultur oft als minderwertig darstellte und die slowenische Sprache historisch als Symbol der unteren sozialen Schichten galt. Mütter mussten daher »national, slowenisch« sein und den »Kleinen und Kleinsten gute Erzieherinnen und Lehrerinnen« (Koroški Slovenec 8.5.1935: 1). Es galt als »Pflicht« der Mutter, ihre Kinder die slowenische Sprache zu lehren. »Und lehre sie auch diese Sprache zu lieben, zu ehren und ihr die Treue zu bewahren!« (Koroški Slovenec 5.5.1937: 3) Unter dem nationalsozialistischen Regime, das nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland Kindergärten, Schulen und öffentliches Leben forciert germanisierte, wuchs die Rolle der Mütter und Familien für den nationalen Erhalt. Die Familie sollte »das Königreich der slowenischen Mädchen, Frauen und Mütter« bleiben, sie sollte »die erste slowenische Schule, der erste Leseverein, die erste Konzerthalle und Bühne sein. In der Rolle der Erzieherin und Lehrerin wird die Slowenin noch bewusster und noch aufopferungsvoller als bisher die junge und jüngste Generation die heilige Achtung der Muttersprache lehren, den Brüdern und Schwesterchen die slowenischen Kulturgüter vermitteln […]. Sie wird den slowenischen Volksstamm slowenisch beten, denken, reden und singen lehren. In unserer Lage ist die bewusste nationale Familienerziehung doppelt notwendig […] und die Slowenin darf und will sich dem nicht entziehen« (Koroški Slovenec 1.5.1940: 1).

Auch auf Veranstaltungen wurden Sloweninnen auf ihre verstärkten nationalen Pflichten unter der NS-Herrschaft eingeschworen. So wurde am »Tag der slo-

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wenischen Frau« im Herbst 1938 verlangt, »den slowenischen Geist und sein kostbares Gefäß: die slowenische Muttersprache«, zu verteidigen. »Wenn es für sie keinen Platz mehr gibt in der Öffentlichkeit und auch nicht im Volksschulwesen, so möge ihr Platz in der Familie und im Volk umso ehrenvoller sein. In diesem großen Streben hat die slowenische Frau eine besondere Aufgabe. Durch Opfer gestählt, ganz national und mütterlich muss sie von nun an der aufwachsenden Jugend in noch größerem Maß das heilige Erbe der slowenischen Sprache vermitteln!« (Koroški Slovenec 9.11.1938: 2)

1940 wurden Müttern und Vertreterinnen der Frauenschaft bei einem Kurs der Slovenska prosvetna zveza (Slowenischer Kulturverband) folgende Anregungen für die Erziehung des Kindes gegeben: »Mutter, leg du ihm die Worte in den Mund: Ich bin ein Slowene! Eine slowenische Mutter hat mich geboren! Slowenische Menschen umgeben mich. Slowenisch ist die Welt, in der ich lebe! Slowenisch ist die Bitte, mit der ich zum Allmächtigen bete! Slowenisch ist das Lied, das so angenehm an mein Ohr klingt! Slowenisch ist die Sprache, die ich verwende! Slowenisch ist das Volk, dem ich meine Kraft und Stärke widmen will!« (Koroški Slovenec 15.1.1941: 2-3)

Die Kärntner slowenische Nationalbewegung befürchtete schreckliche Folgen, wenn sich Frauen ihrer »gottgewollten« Mutterrolle widersetzen. Denn eine Veränderung der Familienstrukturen würde nicht nur die weibliche »Natur« und die bestehende gesellschaftliche Ordnung gefährden, sondern auch und insbesondere den Bestand des Volkes. Bevölkerungspolitische Untergangsszenarien samt strikter Ablehnung von Verhütungsmitteln und Abtreibungen vermischten sich mit der Kritik an verderblichen modernen Einflüssen, die angeblich aus den – historisch deutsch konnotierten – Städten aufs (slowenische) Land vordrangen. »Stärker als dem Mann hat die moderne Zeit mit ihren falschen Ansichten und Verirrungen der Frau geschadet: die Frau unserer Zeit verliert immer mehr ihre natürliche, von Gott gegebene Gestalt. Das Mädchen und die Frau unserer Zeit haben keinen Sinn mehr für ihre natürlichste und heiligste Pflicht: die Mutterschaft. Ein schönes Familienleben scheint überflüssig zu werden. Die Frau drängt aus der Familie hinaus und will die Männer gerne in Auftreten, Beruf, Umgang, Denken und Wollen nachahmen. Das Mädchen wird immer mehr zum Burschen, daher schwinden ihr Liebreiz, ihre Feinfühligkeit und Zartheit, ihre Verborgenheit und Gläubigkeit.« (Koroški Slovenec 28.10.1936: 3-4)

An der Seite der »verstümmelten und verdorbenen« Frau leide der Mann, die Familie, die Gesellschaft und am meisten die Frau selbst. Folgen der Kinder-

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losigkeit seien nämlich »Nervenleiden, Reizbarkeit, Migräne und noch andere Krankheiten moderner Damen« (Koroški Slovenec 4.12.1935: 2-3). Es gebe zwar viele Frauen, die aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Krise »auf ihren heiligsten Beruf verzichten müssen. Aber noch mehr gibt es Frauen, die unter dem einfachen Vorwand der wirtschaftlichen Krise in das Geheimnis des Lebens eingreifen und es abtöten.« Besonders in »sogenannten besseren Kreisen« wolle man keine Kinder, »weil sich die Mutter in ihrer Kommodität nicht stören lässt. Das ist die moderne Wunde, der Krebs der Frauenwelt vor allem in den Städten, aber auch schon in den größeren Dörfern am Land« (Koroški Slovenec 16.8.1933: 4). Der »weiße Tod« verbreite sich aufs Land, Familien mit zahlreichen Kindern seien selten geworden, die Beschränkung von Geburten sei »die schlimmste Wunde« der Gegenwart. Das Kind werde »nur als Bürde« angesehen und »an allen Ecken und Enden werden mit aufdringlicher Werbung verschiedene Mittel angeboten, die das Kind verhindern.« Verhinderung von Geburten und Zerstörung des gerade entstandenen Lebens seien ein »widernatürliches Verbrechen«. Hunderte Ausreden werden in »modernen Ehen« als Rechtfertigung für das »Verbrechen am Leben« vorgebracht. »Die weiße Pest weitet sich aus, die Völker sterben in ihrer Unsittlichkeit« (Koroški Slovenec 4.12.1935: 2-3). Im nationalen Existenzkampf der Minderheit galten diese Phänomene des »weißen Todes« als besonders gefährlich. Unter allen SlowenInnen hätten die Kärntner SlowenInnen den stärksten Geburtenrückgang – eine »gefährliche Krankheit, die das Volk in seinen Wurzeln aufzehrt«. Mit dem sogenannten Zweikindsystem »muss jedes Volk nach einigen Jahrhunderten bedingungslos aussterben und Platz machen für ein gesünderes und widerstandsfähigeres Volk« (Koroški Slovenec 5.5.1937: 1). Da die Kärntner SlowenInnen »an der Grenze zum deutschen Land« leben, bedürfe es »der doppelten Aufmerksamkeit«, damit sich »in unseren Familien nicht der Bazillus des weißen Todes einbürgert. Allzu gerne hören wir die Worte Gemütlichkeit und Genießen, allzu stark ist der Einfluss des städtischen Lebens. Möge uns dieser Einfluss immer widerstandsfähig und gesund finden!« (Koroški Slovenec 18.4.1934: 2) Neben darwinistischen Warnungen wurden auch lebensnahe Beispiele angeführt: Bei einem Begräbnis lobte der Pfarrer die Verstorbene im Vergleich zur »jetzigen verweichlichten Zeit« als »heldenhafte Mutter, die in schlimmen Zeiten und Armut 13 Kinder geboren und erzogen hat. Die modernen Damen mit kurzen Röcken trauen sich aber nicht mehr zu gebären…! Und alle Kinder hat sie in glühendem nationalem Geist erzogen. Welche ›moderne‹ [Frau] ist heute noch so heldenhaft?« (Koroški Slovenec 27.7.1927: 3). Zum Schutz vor den Gefahren der Moderne und der »deutschen« Stadt sollte der Kärntner slowenische Bauernstand gestärkt werden, wobei Frauen und dem »weibliche Prinzip« wiederum ein besonderer Stellenwert zukam, der auch die Verschränkungen von Geschlecht, Nation und Stand bzw. Klasse illustriert. Die

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heimatliche Scholle wurde als »Mutter« bezeichnet und mit »mütterlichen« Attributen wie Ernährung, Schutz, Fürsorge bedacht: »Wir sind ein Volk in der Umarmung der Mutter-Erde, die grandiose Mutterschaft der lebendigen Natur schützt uns. […] In allen Sprachen der Welt ist die Erde weiblichen Geschlechts. Sie ist die wahre Mutter der Nationen und Völker. Sie empfängt Leben und ernährt […], sie gibt allen mit geradezu mütterlicher Liebe Platz und Sonne, Kleidung und Brot […]. […] In unserem Volk sind wir in der Mehrzahl Bauern. Unsere Arbeiter […] tragen noch Spuren der Erde unserer Felder. Der slowenische Intellektuelle riecht noch nach Erde. Die Erde spricht aus dem Charakter unseres Volkes« (Koroški Slovenec 30.11.1938: 1).

Die Kärntner Slowenin sollte gerne Bäuerin sein. Sie durfte nicht mit dem »schöneren Leben« und dem besseren Verdienst in der Stadt oder in der Fremde liebäugeln, da dies den Bauernstand als Kern des Slowenentums schwächen würde. Gleichzeitig waren die Anforderungen an die Frau als Bäuerin, Hausfrau und Mutter eines landwirtschaftlichen Heimes mannigfaltig. »Die Frau arbeitet am Feld, im Stall, in der Küche, geht auf den Markt verkaufen und kaufen und wenn der Mann bequem seine Pfeife raucht, hat sie noch immer alle Hände voll Arbeit« (Koroški Slovenec 13.1.1926: 3). Die bäuerliche Bevölkerung soll zu Hause bleiben und ihr tägliches Brot nicht in der Stadt suchen, deshalb muss auch die Frau mithelfen, dass die bäuerliche Wirtschaft mehr abwirft. Man könne mit Hühnern und Eiern verdienen und auch mit der Schweinezucht. Aber die Mädchen »gehen natürlich nicht gerne in den unsauberen Schweinestall. Die Bauerntochter darf sich nicht vor dem Misthaufen fürchten, wie es auch ein Arzt nicht darf. Jetzt bist du bei der Arbeit und für die Arbeitskleidung muss sich niemand schämen. An Sonntagen wirst du dich wieder festlich kleiden.« Die »erste weibliche Sorge« ist »natürlich die Ernährung der Menschen. Wenn das Essen gut ist, werden auch die Menschen gesund und willig sein.« Die Bäuerin und die Bauerntochter sollen gut kochen können, aber auch sparsam mit Lebensmitteln umgehen. Wenn jemand erkrankt, sollen sie wissen, wie man hilft, denn der Arzt kann nicht immer gerufen werden oder ist zu teuer. Neben Kräuterkunde sollen sie sich auch mit Tierheilkunde auskennen. Die Mutter muss für die Kinder nähen und schneidern können, auch die Pflege Kranker ist ihre Aufgabe. Natürlich muss die Mutter »beten und für Ordnung im Haus sorgen«, die Burschen »bändigen«, die Mädchen »leiten« und die Heimatliebe fördern. »Wenn wir recht viele vorbildliche Mütter und Bauernmädchen hätten, glaubt ihr nicht, dass das Leben am Land bald ganz anders wäre? Die Menschen wären zu Hause glücklich und würden nicht mehr in die zweifelhafte Fremde wollen« (Koroški Slovenec 14.10.1925: 3-4). Wiederholt wurde die weibliche Schuld an der Krise des Bauernstandes betont und damit den Frauen große – wenn auch negative – Macht zugeschrieben: Die Krise

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der bäuerlichen Wirtschaft sei »in großem Maß eine Krise unserer bäuerlichen Frauen.« Wenn die Frau die Scholle verlässt, wird ihr der Mann folgen. »Der Bauernbursche wird Feld und Scholle verlassen und dem Mädchen in die Stadt folgen. Wenn man in den Städten den hektischen Bau neuer Wohnungen sieht, steht letztendlich nicht der Wille der Frau dahinter? Und wenn man sieht, wie die Bauernhöfe zugrunde gehen […], ist es nicht der Wille der Frau, vor dem das Wollen des Mannes sich erfahrungsgemäß regelmäßig als machtlos erweist?« Die Mädchen wollen Ehefrauen von Gendarmen, Eisenbahnern, Fabrikarbeitern und Bergleuten sein, nicht aber von Bauern. Der Bauernbursche finde immer schwerer ein Mädchen, das sich mit Liebe dem bäuerlichen Leben widmen würde (Koroški Slovenec 25.9.1929: 3). Als Zeichen des bäuerlich-traditionellen Lebens und der Zugehörigkeit zum Slowenentum, als Symbol und gleichzeitig Schutz für Anstand und Moral spielte das weibliche Aussehen und Verhalten eine wichtige Rolle. Das Gewand der Kärntner Slowenin sei »einfach, bescheiden«, »schamhaft« verberge sie ihre Schönheit und habe ein »völlig ungezwungenes, weibliches Verhalten«. Am liebsten »bedeckt sie sich mit dem altehrbaren Kopftuch, wählt keine grellen Farben für ihre Röcke« (Koroški Slovenec 1.11.1939: 3). Moralischer Niedergang zeige sich »insbesondere in einer leichtsinnigen, oft dreisten Kleidung. Auch die Männer müssen helfen, damit sich die Tracht verändert! Sie sollen leichtsinnig gekleidete Mädchen ablehnen, sie nicht zur Ehe nehmen! Vor allem verheiratete Frauen müssen sich anständig kleiden, dürfen sich nicht ungehemmt der Mode hingeben. Die heutige leichtsinnige weibliche Kleidung ist der Beweis, dass die Unmoral schon weit fortgeschritten ist« (Koroški Slovenec 23.9.1925: 4). Slowenische Bauernmädchen »achten zu sehr auf die Mode und denken zu wenig an die Landwirtschaft und den Haushalt. Es gibt sehr viele solche Mädchen. Ein kurzer Rock ist ein schlechtes Zeichen für das slowenische bäuerliche Mädchen« (Koroški Slovenec 13.1.1926: 3). Die Volkstracht sei hingegen das »schönste Zeichen der Liebe zur Heimat« (Koroški Slovenec 29.5.1929: 3). Mädchen wurden aufgefordert, die Volkstracht zu achten und zu tragen, und auch Burschen würden ihnen dann »lieber nachblicken, als wenn sie in Stadtfetzen stecken« (Koroški Slovenec 30.11.1921: 4).

Die Rolle der Männer Das Handeln und Sein der Kärntner slowenischen Burschen und Männer war natürlich ebenfalls Normen und ideal(isiert)en Vorstellungen unterworfen. Grundforderungen der nationalen Ideologie, die den Bestand des Volkes sichern sollten, galten für beide Geschlechter, hatten aber geschlechtsspezifische Ausprägungen. Mit dem Kunstgriff der »verkehrten Welt« sollte Burschen das Wesen eines »richtigen« Burschen nahegebracht werden:

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»Wisst ihr, dass es in den Städten an Burschen und Männern mangelt, deshalb tragen die Mädchen dort einen Bubikopf und echte Hosen, die Mütter […] debattieren über Politik und Kino. Wenn an jeder Ecke ein paar Gasthäuser sind, der Hang zum bequemen Leben immer größer ist und jede Unterhaltung ›fragwürdig‹, ist es ja kein Wunder. Deshalb gibt es in den Städten keine Pfundskerle von kräftiger Statur und mit braungebrannten Wangen, sondern blasse Gesichter und zwergwüchsige Gestalten!«

Liegt wahres Burschentum »in betrunkenen Gesichtern und heiseren Liedern«, in üblen Schimpfwörtern und Raufereien? Nein, wahres Burschentum zeige sich darin, dass man jedem »jederzeit offen ins Auge blicken kann« und am eigenen Maß festhält, nicht am Maß des Gastwirtes. Burschentum ist »Entschlossenheit und Selbständigkeit«, »Mäßigung, Offenheit«. Das slowenische Volk in Kärnten wird sterben, wenn »das Gasthaus uns lieber ist als der Verein, das betrunkene Wort angenehmer als das nüchterne Gespräch, die Kirche unsere allerletzte Sorge. Burschen, Achtung! Das liegt in unserer Hand!« (Koroški Slovenec 3.4.1929: 3) Weitere körperliche und charakterliche Eigenschaften, die Burschen zugeschrieben wurden: Sie seien »stolz, mutig und rühmen sich gerne, dass sie keine Angst haben und Nichts fürchten« (Koroški Slovenec 21.2.1940: 4). Der Bauernbursche zeige mit Stolz die »Kühnheit, Kraft und Geschicklichkeit seines Körpers«. In den Dörfern werde Leicht- und Schwerathletik ausgeübt, zum Beispiel der Ringkampf, »ein schöner Sport, in dem Mann mit Mann ringt, wer stärker und geschickter ist« (Koroški Slovenec 25.9.1935: 3). Schließlich sollten sich die Kärntner slowenischen Burschen im Dienst der Nation auch an religiösen Vorbildern orientieren. Den Festtag der Apostel Petrus und Paulus erklärte der Koroški Slovenec zum »Fest des starken Burschentums. Burschentum ist Aposteltum. Ein Apostel zu sein bedeutet aber: auf sich zu vergessen, nur für die Idee zu leben. […] Ein richtiger […] Bursche wirkt und begeistert sich nur für seine Sendung: die Gesinnung unserer Jugend zu heben, dem Verein Leben zu geben […] und im Volk die gottesvolle, kulturell-tätige Rastlosigkeit zu bewahren. […] Noch fehlt uns vieles, damit wir Apostel werden, die in jugendlichem Idealismus, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit der großen nationalen Idee dienen« (Koroški Slovenec 28.6.1933: 3). Männer waren als Väter verpflichtet, für die nationale Erziehung der Kinder zu sorgen. 1940 erklärte ein Vater im Koroški Slovenec: »Das schönste Geschenk mache ich meinem Volk, wenn ich meinen Sohn zu einem bewussten Slowenen und meine Tochter zu einer bewussten Slowenin erziehe. […] Am meisten liebe ich mein Volk, wenn ich meine Kinder für das Volk erziehe. Bis zum letzten Tag will ich meinem Volk dienen. Ich diene ihm am besten, wenn ich ihm mit meinen Kindern lebendige Mitglieder seiner Familie und fleißige Arbeiter seines Heimes schenke« (Koroški Slovenec 18.9.1940: 3).

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Vätern wurde eine spezifische Erziehungsweise zugeschrieben, die den Vorstellungen einer »harten«, verstandesorientierten Männlichkeit entsprach und diese beim Sohn reproduzieren sollte: Vater und Sohn »sind untereinander wortkarg, lieben keine Gefühlsausbrüche« und »zeigen sich ungern sichtbar ihre Liebe«. Bei der Mutter haben es Söhne leicht, ihre Hand »führt sanft«, mit ihr kann man fröhlich und traurig sein, Glaube und Gebet teilen. Der Vater ist »von anderem Schlag.« »Ungern spricht er zu den Seinen«, kann sich weder von Herzen freuen noch trauern. Die Mutter nimmt das Leben wie es ist und vermittelt es »mit weichem, ergebenen Herzen« an die Ihren. Der Vater ist »ein Mensch des Verstandes. Er will das Leben mit Urteilskraft meistern.« Selten spricht der Vater vom Volk und vom nationalen Kampf, aber er zeigt mit seinen Taten und seinem Leben, dass er den Kampf nicht nur für die Existenz der Familie, sondern auch für die kulturellen Rechte des Volkes aufgenommen hat. Selbst seine größte Weisheit wird der Vater nicht in Worte kleiden, sondern in ehrbarem Schweigen offenbaren: »Sohn, bleib mir treu, bewahre die Treue zu meinen Leitbildern!« (Koroški Slovenec 10.7.1940: 3) Aus dem Blickwinkel eines jungen Mannes zeichnete der Zeitungsartikel »Wenn ich eine Braut suchen werde!« das Bild der idealen Kärntner Slowenin – eines nationalbewussten, gläubigen, bäuerlichen Mädchens. Veröffentlich in der Frauenrubrik des Koroški Slovenec sollte er Mädchen ermuntern, diesem Idealbild nachzueifern, um damit ihre Chancen am »Heiratsmarkt« zu erhöhen. Das Angebot bzw. die Verweigerung der Eheschließung wird zum Mittel männlicher Kontrolle über das erwünschte Verhalten von Frauen. Gleichzeitig illustriert der Artikel mit seiner Forderung nach Eheschließungen innerhalb der eigenen sprachlich-nationalen Gemeinschaft die Rolle von privaten Beziehungen für den Erhalt nationaler Grenzen. »Es wird die Zeit kommen, da ich und meine Freunde Bräute suchen werden. Und ich möchte unseren Mädchen sagen, wo wir fragen und was wir nehmen werden.« Wir werden »wählerisch sein«. Wir werden die Braut nicht »in der Fremde, unter den Deutschen oder noch weiter weg« suchen, sondern in unseren Tälern. Die Bräute werden Sloweninnen sein, ihre Sprache wird die »heimische« sein, ohne »deutsche Schimpfwörter und Grußwörter«, »deutsche Anhängsel und Phrasen«. Wir wollen keine Mädchen, »die sich in fremden Städten herumtrieben. Auch wenn sie in der Fremde Brot suchten: wir wollen sie nicht. Auch zu Hause gab es Brot und Milch, warum musstet ihr in der Welt nach Kuchen suchen?« Die Bräute werden gläubig sein, ihr Gott »der Gott der alten slowenischen Familien«. »Am wenigsten wollen wir Mädchen, die auf unseren Steilhängen in weichen Schuhchen, Seidenstrümpfen, engen Röcken herumgehen«. Hundertmal lieber werden uns Mädchen »in Holzzockeln, groben Jäckchen, weißen Ärmelchen« sein. Wir brauchen keine Bräute, »die schwere Millionen mitbringen«, dann aber »auf dem Sofa sitzen und Kaffe trinken, den wir gekocht haben. Wir werden zuerst brave Mädchen auswählen, die feste Hausfrauen und gute Mütter sein werden. Verlangen wir viel von euch, Mädchen?« (Koroški Slovenec 14.10.1925: 4)

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Vereinsleben Neben dem Ehe- und Familienleben spiegelte und formte vor allem das für den nationalen Erhalt wesentliche Vereinswesen die Geschlechterverhältnisse. Die Sozialisation in den Vereinen verlief im Rahmen der vorherrschenden katholisch-konservativen patriarchalen Ausrichtung und trug zur Festigung traditioneller Rollenbilder bei. Dem weiblichen und männlichen Geschlecht wurden separate Wirkungsbereiche und Organisationsformen zugewiesen. Vereine wurden in Burschen-, Mädchen- und Frauensektionen bzw. Verbände mit geschlechtsspezifischen Tätigkeiten unterteilt.3 Da Geschlechtsunterschiede zwischen Burschen und Mädchen postuliert wurden – der Bursche will auf der Bühnen auftreten, freut sich auf das schallende Lied im Chor, laut ist seine Aussage und voller Mut seine Geste (Koroški Slovenec 22.11.1939: 3-4), während das Mädchen sich ungern im Wettkampf misst, auf der Bühne schüchterner ist und kein Interesse an lärmende Veranstaltungen hat (Koroški Slovenec 11.3.1936: 3) – bekamen Mädchen besondere Bereiche zugewiesen: »Still und im Geheimen will das Mädchen auch die Bildungsarbeit durchführen. Kleine Mädchenzirkel, mit Gesang und Reden, die der Mädchenwelt angepasst sind, das verborgene Wachstum mit Hilfe des guten Buchs, das innere Wachstum aus der ständischen Mädchenorganisation heraus – hier liegt ein großer Teil ihrer Welt. Dem Mädchen und der Frau ist die Bildungsarbeit im Detail vorbehalten. Die Verbreitung von guter Lektüre, die Sorge um die Kleinen und Kleinsten, die Bildung in den Familien, das und noch vieles mehr sind die Bereiche der in der Bildungsarbeit tätigen Mädchen« (Koroški Slovenec 11.3.1936: 3).

Während Burschen hauptsächlich bäuerliche Bildungskurse und Gruppenführerschulungen angeboten wurden, sollten Mädchen Haushaltungs- und Kochkurse absolvieren. Neben der praktischen und theoretischen Fachausbildung dienten die Kurse auch sprachlich-nationalen Zwecken: »Die Mädchen lernen slowenisch lesen und schreiben, sie lernen Deklamationen und eine schöne Ausdrucksweise in schriftslowenischer Sprache; aus ihren Reihen kommen unsere besten Schauspielerinnen auf ländlichen Bühnen und vor allem unsere bewussten Hausfrauen« (Seja S.K.S.Z. za Koroško 3. novembra 1932, Arhiv Inštituta za narodnostna vprašanja [weiterhin: AINV], 18, manjšinski institut, fasc. 146 Slovenska Koroška). Wegen ihrer nationalen Bedeutung wurden die Kurse und ihre Leiterinnen vom Staat überwacht und es kam öfter zu lokalen Konflikten. Milka Hartman, Leiterin des Kärntner slowenischen Mädchenverbandes und zahlreicher Kochkurse, war laut dem Bundespolizeikommissariat Klagenfurt »als fanatische Anhängerin Südslaviens bekannt«. Sie halte in verschiedenen Gegenden Kärntens Kochkurse ab, »mit Vorliebe dort, wo die Bevölkerung

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jugoslavisch gesinnt oder doch slovenisch« sei. Bei solchen Kursen dürften die Teilnehmerinnen »kein Wort deutsch sprechen« und zu den abschließenden Festessen seien »die serbophilen Geistlichen und andere Slovenenführer« eingeladen. (Bundespolizeikommisariat Villach an Amt der Kärntner Landesregierung, 14.7.1932, streng vertraulich, Kärntner Landesarchiv [weiterhin: KLA], Präs., K. 555, 2-4/24/1926/1932). Die deutschnationalen Zeitungen Koroška Domovina (herausgegeben von der zentralen antislowenischen Organisation Kärntner Heimatbund) und Freie Stimmen empörten sich über einen slowenischen Kochkurs in St. Kanzian/ Škocjan im Winter 1930/1931: Um das Zustandekommen des Kurses habe sich hauptsächlich Pfarrer Poljanec verdient gemacht, der schon Wochen vorher von Haus zu Haus gegangen sei um mit allen möglichen Mitteln zu erreichen, dass die Mädchen den slowenischen Kochkurs besuchen. Die Lehrerinnen deutscher Kurse trachteten danach, die Schülerinnen auf wirtschaftlichem Gebiet zu bilden, »während bei den slowenischen Kochkursen wohl in der Hauptsache Wert auf politische Ausbildung gelegt wird, und zwar in einer Art, die wir als politische Verhetzung betrachten müssen« (Koroška Domovina 13.2.1931: 3). »Eine ganz unglaubliche Herausforderung war die Darstellung eines lebenden Bildes: ›Das Mädchen und die Heimat‹. Tief verschleiert in Trauerkleidung kniet die Heimat am Boden. Im Trauerkleide, die Nelke als slowenische Nationalblume auf der Brust, nähert sich ihr das Mädchen. Hinter der Bühne ertönt Trauergesang. Man vernimmt ein ergreifendes Zwiegespräch zwischen den beiden Gestalten. Man hört das Leid der Heimat und fühlt die Sehnsucht der Erlösung. Stolz und freudig klingt die Erzählung, daß die Slowenen auf den Karawanken standen, und schmerzlich war dann die Enttäuschung. Und nun wartet die unerlöste Heimat auf ihren Retter« (Freie Stimmen 17.2.1931: 7).

Die deutschnationale Kärntner Presse unterstellte also dem slowenischen Kurs den irredentistischen Wunsch nach einer Grenzrevision zugunsten Jugoslawiens. In der Angelegenheit wurden sogar vertrauliche Gendarmerieerhebungen durchgeführt, die die Darstellung der Zeitungen als wahr bekräftigten (Bezirkshauptmannschaft Völkermarkt an Präsidium der Kärntner Landesregierung, 27.2.1931, KLA, Präs., K. 555, 2-4/24/1926/1932). Gegen slowenische Kochskurse und ihre Teilnehmerinnen gab es auch handfeste Gegnerschaft, wie der Gendarmerieposten Ruden 1932 berichtete: Bei der Vorbereitung der abschließenden Ausstellung von Kochprodukten waren die Schülerinnen des Kurses die ganze Nacht mit der Ausschmückung der Räume und der Herstellung von Speisen beschäftigt. Unbekannte Täter schalteten »aus Bosheit« das elektrische Licht aus und verriegelten beide Haustüren. Außerdem rissen sie vier vor dem Haus eingesetzte Fichtenstämme sowie den Triumphbogenkranz über der Haustüre ab. Schließlich warfen sie ein faustdickes Mörtelstück in den Saal, wobei die Fensterscheibe zerbrach, aber nie-

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mand körperlich gefährdet wurde, da der Saal fast leer war und vor dem Fenster eine Bühne stand. Die Nachforschungen nach den Tätern, »welche die Tat aus Parteihass begangen haben dürften«, war erfolglos (Gendarmeriepostenkommando Ruden an Bezirkshauptmannschaft Völkermarkt, 3.2.1930, KLA, Präs., K. 555, 2-4/24/1926/1932). Wie diese Beispiele zeigen, gewannen »weibliche« Tätigkeitsfelder, die »unpolitisch« schienen, im Rahmen des nationalen Konfliktes zwischen Mehrheit und Minderheit eminent an Bedeutung. Daher verwundert es auch nicht, dass das NS-Regime nach dem »Anschluss« Österreichs slowenische Kochkurse behinderte und schließlich vollständig verbot. Im Sommer 1938, beim sogenannten »Slowenischen Tag« in Sigmontitsch/ Zmotiče, der der nationalen Affirmation unter dem NS-Regime dienen sollte, führte die bereits erwähnte Leiterin des Mädchenbundes mit einer Mädchengruppe einen Einakter auf, der dem Publikum gleichsam eine Synthese der National- und Geschlechterideologie präsentierte: »Der Sinn des Einakters war die Darstellung einer Dorflinde, welche als slow. Symbol verherrlicht wurde. Die Handlung war folgendermassen: Eine slow. Bäurin (Rolle Hartmann) mit 3 Mägden, letztere beklagten sich über die viele Arbeit und Mühe sowie Härte der Zeit. Nur die Bäurin war zufrieden und lobte die Schönheit des Landlebens, wie sie auch von einer immer grünen Linde und der täglich neu aufgehenden Sonne erzählte. Sodann erschienen zwei Mädchen, die in der Stadt, die eine als Stubenmädchen und die andere als Friseurgehilfin beschäftigt sind und erzählten über die schwere Arbeit, der schlechten Behandlung und Launen der sie ausgesetzt seien. Sie sagten, wenn die Eltern nur ein kleines Häuschen am Lande hätten, würden sie niemals in die Stadt gehen. Daraufhin erschien ein altes Mütterchen, derselben klagten die Mägde, dass es heute nicht mehr schön sei auf der Welt. Das Mütterchen erwiderte: ›In meiner Jugendzeit war es sehr lustig. Der schönste Tag meines Lebens war der Hochzeitstag und wie ich Mutter geworden bin; als mein Mann die kleinen Kinder lockte, wir uns gegenseitig liebten, die Scholle bearbeiteten, beteten und auf Gott vertrauten.‹ Die Mägde meinten, heute bekomme man keinen anständigen Mann, worauf sie das Mütterchen tröstete, sie sollen nur auf Gott vertrauen, dann wird es wieder anders, es werden auch anständige Freier kommen, nur sollen sie sich nicht verführen lassen. Die Mägde beschlossen nun nicht in die Stadt zu gehen, sondern zuhause zu bleiben und als slow. Mädchen der slow. Scholle die Treue zu halten. Unmittelbar darauf erklang hinter der Bühne ein Lied (Ständchen), wobei Hartmann die übrigen Mädchen darauf aufmerksam machte, dass die Burschen unter der Linde singen. Damit schloss der Einakter« (Gendarmeriepostenkommando Fürnitz, Bezirk Villach, Kärnten, An die Bezirkshauptmannschaft in Villach, Fürnitz, 27.6.1938, streng vertraulich, AINV, Oddelek za mejna vprašanja, Koroška, K. 12).

Die Protokolle des Slovensko prosvetno društvo (Slowenischer Kulturverein) Bilka in Bilčovs/Ludmannsdorf bieten Einblick in die Aktivitäten seiner Frauen-

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sektion, die »spezifisch weibliche Angelegenheiten behandelt, Dinge, die vornehmlich Frauen interessieren. Hierher gehören insbesondere verschiedene Haushaltssachen« (Ausschusssitzung 25.3.1920, Sitzungsprotokolle, SZI). Der Tätigkeitsbericht für das Jahr 1924 führte unter anderem an, dass die Sektion sechs Sitzungen abhielt, bei denen diskutiert wurde »über die Notwendigkeit und die Aufgabe von Frauenvereinen, über Erziehung, Haushalt, religiöse und geistige Bildung, der Hauptzweck aber ist es, das Volk im Geiste des Glaubens zu erneuern. Die heutige Welt ist nicht mehr wie sie vor 30 oder 50 Jahren war, sie verlangt Fortschrittlichkeit, die jetzige Zeit verlangt, dass auch die Frau etwas über die Welt weiß« (Vollversammlung 5.4.1925, Sitzungsprotokolle, SZI). Die Sektion organisierte vor allem wohltätige Veranstaltungen, Kochkurse und Muttertagsfeiern. Denn 1926 beschloss die Slovenska krščansko-socialna zveza za Koroško (Slowenischer christlich-sozialer Verband für Kärnten) als Dachverband der Bildungsvereine, dass »wie andernorts in ganz Slowenien«, so auch die Kärntner Vereine »zur Feier und zur Förderung der ehelichen Mutterschaft einen sogenannten Muttertag« veranstalten sollen (Koroški Slovenec 14.4.1926: 3). Der Muttertag »ermahnt uns, den Beruf und die Würde der Mutter zu achten, für die Mütter aber soll es ein Tag der Freude sein, der ihnen neuen Mut gibt, ihren großen, oft märtyrerhaften Beruf auszuüben« (Muttertag 13.8.1931, Sitzungsprotokolle, SZI). Die slowenische Muttertagsfeier in Bilčovs/Ludmannsdorf 1928 illustriert nicht nur die religiös geprägten Inhalte, sondern erneut auch das nationale Konfliktpotential in Kärnten: »Der zahlreiche Empfang der Sakramente bei der kirchlichen Feier am Vormittag zeugte davon, dass in den Herzen unserer Mütter noch jener Glaube lebt, der einst die ersten Märtyrerinnen begeistert hatte. Zwei kirchliche Reden […] rührten uns zu Tränen, als wir mit dem Prediger im Geiste die Mütter auf ihrem dornenvollen Weg begleiteten. Nachmittags gab es eine außerkirchliche Feier zu Ehren der Mütter mit einer Rede […] einem Theaterstück und Deklamationen. Es war aber nicht möglich, das gesamte nachmittägliche Programm durchzuführen, denn es fanden sich Leute, die […] randalierten und unsere Muttertagsfeier verunmöglichten. […] Es ist nicht notwendig, mehr über diese Leute zu schreiben, denn die Tatsache, dass sie die Heiligkeit und Erhabenheit des mütterlichen Berufes nicht kennen und nicht achten, spricht für sich.«

Die Feier wurde schlussendlich an einem neuen Termin unter Gendarmerieassistenz durchgeführt (Muttertag 20.5.1928, Sitzungsprotokolle, SZI).

Das Private und das Öffentliche Die vermeintliche Grenze zwischen den Geschlechtern, die das Familiäre, Private als weiblich und das Öffentliche, insbesondere das Politische, als männlich definierte, wurde immer wieder unterstrichen. Der Frau war angeblich nicht

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»angeboren, dass sie nach Außen auftritt und sich in den Gemeindeversammlungen bespricht, dass sie die dörfliche und pfarrliche Nachbarschaft leitet und an vorderster Front den Kampf für das Recht des Volkes und der Volkssprache führt« (Koroški Slovenec 19.7.1939: 3-4). Dem Mann war »das Schaffen vorbehalten. In Wirtschaft und Bildung, in Religion und im gesamten geselligen Leben befiehlt und führt der Mann. Und die Frau, das Mädchen? Sie möge dem Mann nicht nur in der Familie, sondern auch im größeren, nationalen Leben eine Helferin sein« (Koroški Slovenec 11.3.1936: 3). Andererseits wurde Frauen eine wichtige Rolle zugestanden, als sie nach dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht bekamen. Der Abgeordnete Vinko Poljanec erklärte 1922 auf einer Versammlung des Politischen und wirtschaftlichen Vereins für die Slowenen in Kärnten, dass Frauen ein »wichtiger Faktor« geworden sind, »seit es in Österreich das Frauenwahlrecht gibt.« Auch sie würden nun »in der Politik mitentscheiden« (Koroški Slovenec 22.11.1922: 1-2). Im selben Jahr befasste sich die Artikelserie einer »Slowenin aus dem Rosental« mit dem Stellenwert der nationalen Tätigkeit auf öffentlicher und privater Ebene – ein seltenes Beispiel dafür, dass eine (wenn auch namentlich nicht genannte) Frau über diese kontrovers diskutierten Themen schrieb: Eine Betätigung von Frauen außerhalb des Heimes stoße auf Widerstand. »Häufig hört man im Volk Stimmen, die ihren Unmut kundtun, wenn jemand sagt, dass auch die Frau dazu berufen ist, bei der Hebung des nationalen Bewusstseins, der Moral usw. mitzuwirken. Sie sollen zu Hause arbeiten und für den Haushalt sorgen, alles andere geht sie gar nichts an und warum sollen sie sich noch diese Sorgen aufbürden, wo sie doch zu Hause Sorgen genug haben.« Doch die Autorin meint, es schade Frauen, wenn sie sich nur um das Haus kümmern und ihr geistiger Horizont auf die nähere Umgebung beschränkt ist. Frauen müssten »in gleicher Reihe mit den Männern« zum kulturellen Forschritt voranschreiten. Die Autorin beruft sich auf die neuen politischen Rechte der Frauen, betont allerdings mütterliche Funktionen und sieht öffentliches Wirken ausschließlich unter dem Aspekt der nationalen Bedürfnisse: Die Zeiten, in denen die Frau in der Familie wenig galt und auch vom Staat nicht berücksichtigt wurde, seien vorbei. Ihre Situation habe sich deutlich gebessert. »Nun sind wir nicht mehr Sklavinnen der Männer, sondern stehen mit ihnen in gleicher Reihe, wir haben das aktive und passive Wahlrecht, das Recht auf öffentliche Berufe, auf Mitwirkung und Mitentscheidung in der staatlichen Verwaltung. Aber das ist noch nicht alles. Der Frau – der Mutter – ist eine noch wichtigere Aufgabe anvertraut« – nämlich Mutterschaft und Kindererziehung. Eine »gute, ehrliche, gläubige und nationalbewusste Mutter wird ihre Kinder gut erziehen und je mehr solche Mütter wir haben, umso charakterfester wird das Volk sein« (Koroški Slovenec 19.7.1922: 1-2). »Der Spruch, dass die Frau nur für Heim und Familie ist, gilt nicht mehr, sie gehört auch in das öffentliche Leben, auch in ihren Händen liegt in hohem Maße die bessere Zukunft unseres versklavten und unterdrückten

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Teiles des großen jugoslawischen Volkes.« Da Frauen nun »völlig gleichberechtigt« mit den Männern seien, erlegen ihnen ihre Rechte auch Pflichten auf: Frauen »schulden ihrem Volk: es zu leiten, dafür zu arbeiten, es zu erwecken und auch so manches dafür zu opfern« (Koroški Slovenec 22.11.1922: 3-4). Die Koroška slovenska stranka (Kärntner slowenische Partei) wandte sich an Frauen, um sie als Unterstützerinnen und Wählerinnen zu gewinnen. Dabei wurden Themen, die Frauen vermeintlich näherstanden – insbesondere Familie und Religion – in den Vordergrund gestellt. Nur die Kärntner slowenische Partei »wird sich an die alte Ordnung halten und für den Frieden in der Familie, die Heiligkeit der Ehe und die Sprache unserer Urgroßväter sorgen!« (Koroški Slovenec 20.4.1927: 3) Die slowenischen Frauen wurden aufgefordert, »mit allem Eifer zu agitieren«, damit bei der Wahl »wirklich christliche Vertreter« gewählt werden, die sich »für unsere religiösen Rechte einsetzen werden« (Koroški Slovenec 26.9.1923: 1). Vor den Gemeindewahlen 1921 rief der Koroški Slovenec Frauen und Mädchen zu den Wahlurnen, denn »wenn wir keine Männer und Frauen haben, die uns und unsere Interessen vertreten, sind wir auf Gedeih und Verderb jenen ausgeliefert, deren einziges Ziel es ist, das slowenische Element in Kärnten möglichst bald auszurotten« (Koroški Slovenec 27.4.1921: 2). Obwohl hier Frauen als Interessensvertreterinnen mitgedacht werden, ist festzuhalten, dass in der Zwischenkriegszeit nur Männer als gewählte politische Vertreter der Minderheit tätig waren. Andererseits folgte das Wahlverhalten der Kärntner Sloweninnen dem allgemeinen Trend, wonach Frauen häufiger für klerikale Parteien stimmen, und so erhielt die Kärntner slowenische Partei mehr Stimmen der weiblichen Wahlberechtigten als der männlichen (Hänisch/Wilscher 2005: 121-122). Wahlaufrufe wandten sich mit unterschiedlichen Argumenten an die Geschlechter. Frauen und Mädchen wurden ermahnt: »Wisst ihr, wie pünktlich ihr seid und wie eilig ihr es habt, wenn der Kaffee auf euch wartet! Seid auch am 19. Juni pünktlich und vergesst nicht, die Stimmzettel für die ›Kärntner slowenische Partei‹ abzugeben« (Koroški Slovenec 8.6.1921: 3). Der Aufruf an die männliche Wählerschaft lautete hingegen: »Männer und Burschen! Erinnert ihr euch noch, wie pünktlich ihr alle an eurem Platz wart, als man Euch 1914 in die Armee rief? Seid auch am 19. Juni so pünktlich, denn eure ›Kärntner slowenische Partei‹ ruft Euch ins Wahllokal« (Koroški Slovenec 15.6.1921: 4). Vor den Wahlen 1927 wurde ein besonderer weiblicher Einfluss auf die männliche Wählerschaft postuliert und das politische Interesse und Agieren von Frauen und Männern verglichen: »Mädchen! Gewiss seid ihr euch eures Einflusses auf das Männerherz bewusst. Wenn ihr sonntags den Hut aufsetzt oder das bunte Tuch auf den Kopf bindet, denkt ihr schon an denjenigen, den ihr mit einem schönen Blick verzaubern werdet. Dies freut euch und recht ist es so. Besondere Aufmerksamkeit aber richtet darauf, dass ihr am Wahltag eure Schatzis alle zu den Wahlen bringt und lächelt sie dann besonders süß an. Ihr wart

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in den Vereinen und habt dort viele aufmunternde Worte für unsere slowenische Sache gehört, während die Männer in Gasthäusern saßen und dort vielleicht in schlechter Gesellschaft ihr [slowenisches] Bewusstsein verloren haben. Vielleicht haben sie sich schon den lockenden Worten fremder Parteien ergeben und wurden gleichgültig […], euer Wort muss sie aufrütteln und zum Wahllokal bringen. Das ist eure heilige Pflicht am 24. April, damit ihr so eure Ehre rettet, weil ihr nicht in besonders großer Zahl an den abgehaltenen politischen Versammlungen teilnehmen konntet. Frauen! Ihr seid zu Hause geblieben und habt auch an Sonntagen für die Wirtschaft und den Haushalt gesorgt, damit aber seid ihr auch in euren Ansichten beim Alten geblieben und habt euch nicht von neuen Agitatoren fremder Parteien verführen lassen, die sich uns aufdrängen. Der alte Brauch ist jedoch slowenisch, euer Gebet ist slowenisch und euer Gespräch ist slowenisch. Deshalb müsst ihr euch nur für die slowenische Partei entscheiden, die standhaft für unsere ererbten Rechte eintritt! Deshalb werdet ihr auch euren Männern gut zureden, dass sie für diese Partei stimmen, ihr werdet sie in alter Liebe an der Hand nehmen und zum Wahllokal führen, wo ihr alle die Stimmen für die Kärntner slowenische Partei abgeben werdet« (Koroški Slovenec 20.4.1927: 3).

Wenn die Kärntner slowenische Partei ihre weltanschauliche und politische Konkurrenz kritisierte, bezog sie sich dabei auch auf deren Haltung in familiären, religiösen und Geschlechterfragen. Wenn die Frauen wollten, »dass die Männer gute Hausherren, treusorgende Väter und brave Arbeiter sind«, wenn sie »gut erzogene Söhne« wollten, sollten sie dafür sorgen, dass ihre Familien nicht den Landbund wählen (Koroški Slovenec 29.10.1930: 2). Der Kommunismus wurde als Lehre bezeichnet, »dass alles, landwirtschaftliche und industrielle Produkte, ja, sogar Frauen und Kinder gemeinsames Staatseigentum sind« (Koroški Slovenec 15.3.1922: 2). Die im kommunistischen Geist erzogene Jugend in Russland kenne keine Familie mehr, keine Mutter, keinen Vater (Koroški Slovenec 8.5.1935: 1). Wenn die Kommunisten an die Macht kämen, würden sie »unseren Bauern ihren Besitz und ihr Land wegnehmen, die Familien zerschlagen, den Frauen und Mädchen Unehre bringen, die Kirchen wegnehmen, die Geistlichen niedermetzeln, die Arbeiter ins Elend stürzen, aus den Kindern Vagabunden und Räuber machen« (Koroški Slovenec 29.10.1930: 2). Die Sozialdemokratie »verlangt die Ehescheidung. Der Sozialist Bebel verkündet in seinem Buch ›Die Frau‹ sogar die freie Liebe, d.h. Unkeuschheit und Ehebruch als Tugend« (Koroški Slovenec 17.10.1923: 1). Die Sozialdemokratie galt als schlimmer Feind des katholischen Glaubens und damit Feind der religiösen Frauen und Familien: Die Frau sei stärker als der Mann an das Heim gebunden und daher schütze das Heim sie auch besser als den Mann, der hinaus in die Welt muss, um zu arbeiten. Man könnte annehmen, dass die Frau »stärker daran festhält, was das Heim sie lehrte: Glaube, Moral, Volksbräuche. Aber unsere Großstädte haben die Heime zerstört und alle Türen geöffnet, durch die die Frau nicht dürfte.« Die Verhältnisse seien heutzutage schon kritisch, die Glaubenslosigkeit werde »ge-

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fährlich, wenn sie in die Familie eindringt, und sie dringt in die Familie durch die Mutter, die Frau.« Als Beweis für die »Gefahr« wurden weibliche Mitgliedszahlen und Wählerinnenanteile der sozialdemokratischen Partei sowie deren an Frauen gerichtete Aktivitäten (Versammlungen usw.) angeführt. Man müsse sich ernsthaft fragen, ob alles Notwendige geschehen ist, damit »unsere Frauen und Mädchen vor dieser Flut geschützt werden?« (Koroški Slovenec 15.7.1925: 4)

Resümee Diese Frage aufgreifend kann abschließend festgestellt werden, dass Publizistik, Politik und Vereine alles taten, um die Kärntner slowenischen Frauen und Mädchen vor der »Flut« der Moderne zu schützen und sie zum »fraulichen« Wirken für Familie, Volk und Gott zu ermuntern. Die männlich dominierten Eliten der Kärntner slowenischen Nationalbewegung schienen überzeugt, dass nur die traditionelle Ordnung mit ihren patriarchalen und hierarchischen Geschlechterstrukturen der nationalen Existenzsicherung dient. Frauen sollten zum Erhalt des slowenischen Volkes beitragen, dabei aber primär in ihren »natürlichen« Rollen und Räumen verbleiben. Die stärkere weibliche Bindung an Haus und Familie galt aus dem nationalen Blickwinkel als positiv, da Frauen dadurch »fremden« und entnationalisierenden Einflüssen weniger ausgesetzt waren. Gleichzeitig galt der »weibliche« Raum des Hauses und der Familie in einer »deutsch« geprägten Umwelt als Bollwerk des Slowenentums. Somit wurden Frauen in ihren traditionellen Rollen als Mütter, Erzieherinnen und Hausfrauen als wichtige und machtvolle Bewahrerinnen des Slowenentums gesehen. Das wiederum war der Grund für Angriffe der nationalen Gegenseite, was sich in zahlreichen alltäglichen Konflikten auf lokaler Ebene äußerte. Die Kärntner slowenischen Geschlechterbilder sind in ihrer Einbettung in das konservativ-katholische Nationalmodell verständlich. Sie erscheinen als wesentliches Element der traditionalistischen Kärntner slowenischen Nationalideologie, die sich seit dem 19. Jahrhundert im starken Gegensatz zur liberal und fortschrittlich positionierten deutschen Nationalideologie in Kärnten ausbildete (deren Geschlechterkonzeptionen noch ein Forschungsdesiderat sind). Die Geschlechterbilder haben jedenfalls zur Konstruktion der nationalen Differenz beigetragen und diese verstärkt.

A NMERKUNGEN 1 | Koroški Slovenec 23.8.1939, 3. 2 | Slowenische Texte wurden von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt. 3 | Zu den im Beitrag nicht behandelten Frauenvereinen der Volksabstimmungszeit siehe u.a. Bahovec (2003).

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L ITER ATUR Bahovec, Tina (2003): »Zur Rolle der slovenischen Frauen in der Ära der Nationalisierung«. In: Tina Bahovec (Hg.), Eliten und Nationwerdung. Die Rolle der Eliten bei der Nationalisierung der Kärntner Slovenen/Elite in narodovanje. Vloga elit pri narodovanju koroških Slovencev, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj: Verlag Hermagoras/Mohorjeva založba, S. 345-385. Hänisch, Dirk/Wilscher, Heidi (2005): »Das Wahlverhalten der Volksgruppen in Kärnten 1907-1954«. In: Werner Drobesch/Augustin Malle (Hg.), Nationale Frage und Öffentlichkeit, Klagenfurt: Verlag Hermagoras/Mohorjeva založba, Verlag Johannes Heyn, S. 91-147. Nagel, Joane (1998): »Masculinity and nationalism. Gender and sexuality in the making of nations.« In: Ethnic and racial studies 21 Nr. 2, S. 242-269. Yuval-Davis, Nira (2001): Geschlecht und Nation, Emmendingen: Verlag Die Brotsuppe. Walby, Silvia (1992): »Woman and nation«. In: Anthony D. Smith (Hg.), Ethnicity and nationalism, Leiden – New York – Köln: Brill, S. 81-100.

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THE PARTITIONING OF W OMEN 1: Z WEI R OMANE AUS I NDIEN UND PAKISTAN Geetha Ramanathan

Die Teilung Indiens Der Kampf Indiens und Pakistans um die Unabhängigkeit wurde weithin als »gewaltlos« wahrgenommen – hauptsächlich wegen der alles beherrschenden Präsenz von Mahatma Gandhi auf der Weltbühne, zum Teil aber auch, weil aufgrund der Tatsache, dass es im Unterschied zu den Dekolonisierungsbewegungen in Afrika zu keinen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den Briten gekommen war, der Eindruck einer friedlichen, nationalistischen Lösung entstand. Die Wirklichkeit war anders. Indien erlangte am 15. August 1947 die Freiheit, Pakistan am 14. August 1947. Doch der glorreiche Ruf, sich der Freiheit gewahr zu werden, verdeckte eine andere, traumatische Geschichte. Beinahe eine Million InderInnen starben im Nordwesten und im Nordosten Indiens. Im Geschichtsunterricht im indischen Schulsystem wurde der Unabhängigkeitskampf über drei Jahre hinweg behandelt, wobei der Moment der Unabhängigkeit als der Höhepunkt des nationalen Kampfes geheiligt wurde.2 Der Schwerpunkt lag auf den großen Helden der Unabhängigkeit, wie Dadhabhoy Naoroji, Jawaharlal Nehru, Sardar Vallabhai Patel und natürlich Mohandas Karamchand Gandhi. Diese verständlicherweise nationalistische Darstellung beruft sich wiederholt auf den Begriff »Partition«/»Teilung«, jedoch der Tod von einer Million (und vielleicht noch mehr) Menschen wird als die unvermeidbare Konsequenz des Verhaltens eines Volkes dargestellt, das sich während des Kampfes nicht beherrschen konnte. Gandhi allein geht als »der Vater« hervor, während die Bevölkerung in vielen kritischen Momenten des Kampfes implizit als noch nicht reif für die große Aufgabe der unabhängigen Herrschaft galt.

Konflikte während der Teilung Für HistorikerInnen der Subaltern Studies ist dieses Schweigen symptomatisch für die Verleugnung der unglaublichen Gewalt, die sich entlud; sie schließen daraus, dass wir bisher nicht in der Lage waren, diesen Teil der Geschichte anzuerkennen (Guha/Spivak 1988, siehe insbesondere Spivak, 3-35). Einige Darstellungen dieser gewaltvollen Vergangenheit suggerieren, dass wir als Gesellschaft zwar nicht zu Gewalt neigen, dass diese jedoch zu Zeiten großer Veränderungen ausbrechen kann. Für Gyanendra Pandey sind diese Darstellungen nicht zufrieden stellend, und zwar wegen ihrer bruchstückhaften Betrachtungsweise der Geschichte, und weil sie, anstelle einer detaillierten

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Analyse, nahe legen, dass Gewalt unvermeidbar sei. Gleichzeitig werden die involvierten HauptakteurInnen, also die verschiedenen ethnischen Gruppen, stereotypisiert, und die Möglichkeit einer Veränderung wird ausgeschlossen. In der Tat haben in Indien örtliche Ausschreitungen 19923 sowie 20004 wieder stattgefunden. Pandey (2003) argumentiert, dass die Gewalt ein Bestandteil des Freiheitskampfes und somit strukturell bedingt war. Die Gewalt kann als »epistemisch« gesehen werden, da gesellschaftliche Veränderungen und die Bildung des neuen postkolonialen Staates untrennbar mit ihr verbunden waren. Der Konflikt schien zwischen MuslimInnen und HinduistInnen zu bestehen, als die an der Teilung beteiligten Vermittler unter Mountbatten die Teilung von Punjab, Sind und Bengal auf der Basis der in diesen Staaten lebenden Völker anstrebten. Erst im Juni 1947 erfuhren die Menschen, dass die Teilung der Gebiete unmittelbar bevor stand. Ein Jahr zuvor, als das Land seine Unabhängigkeit anstrebte, wussten die Menschen nicht viel mehr, als dass die zwei größten Parteien, die Indische Kongresspartei und die Muslimliga, die federführenden Verhandlungspartner sein würden.5 Die Radcliffe Kommission entschied unter Governor General Mountbatten über die Grenzfragen innerhalb eines Zeitraums von weniger als zweieinhalb Monaten. Die Bevölkerung erfuhr erst am 14. bzw. 15. August, auf welcher Seite der Grenze ihre Dörfer und Städte liegen würden. Eine Erforschung des Hintergrundes dieser Geschichte anhand von literarischen Texten kann möglicherweise unser Verständnis von Konflikt, wie auch des Prozesses, durch den kulturelle Beziehungen zu »Konflikten« werden, vertiefen.

Identitätsformationen von HinduistInnen und MuslimInnen während der Teilung Jüngste historiographische Arbeiten zur Partition legen nahe, dass die Kategorien »Hindu« und »Muslim« während der Partition entstanden sind. Darüber hinaus will ich zeigen, dass diese Begriffe ihre Bedeutung aus der Art und Weise, wie Frauen zwischen 1946 und 1950 behandelt wurden, erlangten. Die neuen Nationen und ihre Identitäten wurden innerhalb dieses Rahmens gestaltet. Diese Geschichte, welche für die Nationen ausschlaggebend ist, ist auch von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Rolle, die dem Konzept »Frau« bei der Entstehung von Konflikten zukommt. HistorikerInnen haben inzwischen erkannt, dass Geschichte selbst äußerst fragmentiert ist und nicht die Autorität einer großen Erzählung hat. Zunehmend haben sie sich, ebenso wie KulturkritikerInnen, der Literatur, Volksliteratur und mündlichen Literatur zugewandt und diesen Diskursen eine zentrale Rolle bei der Hinterfragung der paradigmatischen Geschichte der Moderne in diesen Nationalstaaten zugeschrieben (Hassan 2000: 26-44).

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Die Rolle von Frauen bei der Formierung nationaler Identität In der Widerstandsbewegung wies die nationalistische Rhetorik und Geisteshaltung den Frauen einen besonderen Platz im Kampf um die Nation zu – Frauen wurden zum Zeichen der künftigen Modernität der Nation. Feministische WissenschafterInnen problematisieren diese Zuweisung und argumentieren, dass Frauen vielmehr als Symbole des Nationalismus kennzeichnenden Widerspruchs zwischen Vorstellungen von Modernität und ethnischen/religiösen Standpunkten fungierten. Muslime, Hindus, Sikhs und Frauen aus diesen Gemeinschaften wurden im Zuge der Partition aus ihren Häusern vertrieben, getötet, gefoltert, lebendig verbrannt, enthauptet und verstümmelt. Züge, die im neu definierten Indien und Pakistan ankamen, waren voller Leichen. Zwischen 29.000 und 50.000 muslimische Frauen und zwischen 15.000 und 35.000 Hindu- und Sikh-6Frauen wurden vergewaltigt, entführt und dazu gezwungen, ihrer Religion abzuschwören (Butalia 2000). Viele wurden gezwungen, zu konvertieren und ihre Entführer zu heiraten und dabei ihre Familie, Religion und Gemeinschaft zu opfern. Umgehend nach der Bildung der neuen Nationen wurden Versuche unternommen (welche von Seiten der indischen Regierung energischer waren als von Seiten der pakistanischen), die »entführten Frauen« zu »retten«. Feministische WissenschafterInnen haben auf die Problematik dieses Projektes hingewiesen, das hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der entführten Frauen uneinheitlich angelegt war. Die Versuche der Wiederansiedelung seitens der Regierungen waren nur vordergründig erfolgreich. In vielen Fällen (nicht allen, aber doch in einigen) weigerten sich insbesondere die indischen Familien, die Frauen aufgrund ihrer Unreinheit wieder anzunehmen (Menon/Bhasin 2000: 208-235).7 Wenn die Frauen schwanger waren, wurde das Kind als zukünftiger Bürger/zukünftige Bürgerin des Staates gesehen, womit der Körper der Frau als Besitz des Staates kodiert wurde. Frauen wurden entweder zur Abtreibung gezwungen, so dass der andere Staat das Kind nicht beanspruchen konnte, oder dazu gezwungen, das Kind beim Entführer/Vater zu lassen. Zwischen den Frauen, die die Rückholungsversuche leiteten, traten Meinungsverschiedenheiten auf. Einige waren der Ansicht, dass die betroffenen Frauen selbst entscheiden sollten, wo sie leben wollten, während andere fanden, dass der Nationalstaat eine gewisse Verantwortung betreffend der Wiedervereinigung der Frauen mit ihren Familien hätte. Muslimische Frauen, die Sikh-Männer geheiratet hatten, wollten nicht ins neu entstandene Pakistan ziehen. Pakistan stellte ein fremdes, weit von der Heimat und den Gebräuchen ihrer eigenen Gemeinschaften entferntes Territorium dar. Diese Frauen waren zum Beispiel dazu verpflichtet, einen Schleier zu tragen, wenn sie die Grenze überquerten, wie auch dazu, ihnen unbekannte Sitten anzunehmen. Obwohl ihre Sikh-Ehemänner sich weigerten, sie aufzugeben und ihnen bis zum WagahGrenzübergang zu Pakistan folgten, wurden diese Frauen dazu getrieben, in die

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pakistanische Gesellschaft einzutreten. Das Konzept der modernen Frau ist hier in seiner Funktion als Symbol der Moderne »überdeterminiert«, wird aber als untergeordnet behandelt (Althusser 1971: 127-186). Die Ehre des Staates hing von der »geretteten« (»recovered«)8, »zurückgegebenen« (»returned«) Frau ab. Auf der anderen Seite der Grenze wollten viele Hindu-Frauen, die in pakistanischen Familien integriert waren, nicht nach Indien reisen, wurden aber wiederum gezwungen, die Reise in das ihnen fremde Territorium anzutreten. Muslimische Frauen, die entführt worden waren, wurden rechtlich als Pakistani gesehen und Hindu-Frauen – trotz des erklärten Säkularismus des indischen Staates – als Inderinnen. Diese Frauen hatten nicht allzu viele Wahlmöglichkeiten und waren das Supplement9 zur Bildung des Nationalstaates, sozusagen ihr Nebenprodukt (Butalia 2000: 184), wobei die Wertigkeit der entführten Frauen deutlich von der Rhetorik der Modernität, die mit der »universalen« Frau verknüpft war, abwich.

Der Widerstand der Frauen gegen die neuen Staaten Feministische KritikerInnen widersetzen sich dieser Sichtweise und argumentieren, dass Subjektivität und Handlungsfähigkeit der Frauen in dieser Erzählung ausgelöscht würden. Diese Art der Darstellung ist jedoch wichtig, um die Einschränkungen, denen die Frauen während des Freiheitskampfes und danach unterworfen waren, aufzuzeigen; nicht, um ihre Subjektivität und Handlungsfähigkeit zu leugnen. Die Ablehnung des Nationalismus seitens der entführten Frauen, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Grenze zwischen Indien und Pakistan, ihre Nichtanerkennung der neu gebildeten Staaten und vor allem die Aufmerksamkeit, die sie der Pflege des Selbst widmeten, sprechen sehr wohl für ihre Subjektivität und Handlungsfähigkeit.

Literatur zur Partition Neben Zeugenaussagen von entführten Frauen gibt es eine Menge an Literatur über die Partition, die aufgrund der Feinfühligkeit, Menschlichkeit und der Bandbreite und Komplexität der Erfahrungen, die sie porträtiert, immer mehr geschätzt wird. Viele Texte befassen sich mit den Problemen der acht bis zehn Millionen Menschen, die von Vertreibungen betroffenen waren, mit dem Tod einer Million Menschen und mit der Gewalt gegen Frauen (Pandey 2003: 68). 75.000 Frauen wurden entweder entführt, vergewaltigt, oder in die Ehe gezwungen (Khan 2007: 134).

Feministische Texte zur Partition Die Frage nach der Rolle der Frauen ist ein in der Literatur immer wiederkehrendes Thema. Die Texte sind in vielen Sprachen Indiens verfasst, hauptsäch-

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lich jedoch in den Sprachen der Regionen, die am meisten betroffen waren: Urdu, Hindi, Panjabi und Bengalisch, einige in Malayalam (Bhalla 1999). Den Arbeiten von Attia Hossain und Bapsi Sidhwa, die auf Englisch verfasst wurden, ist sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die beiden hier diskutierten Texte Sunlight on a Broken Column (1961) und Cracking India (1991, 1988) sind realistische Darstellungen und weisen wenig Ähnlichkeit mit nationalistischen, epischen Schriften auf. Die Romane konfrontieren uns mit konkurrierenden Diskursen zu Klasse und Geschlecht im Bachtin’schen Sinne des »Karnevalesken« (Bachtin 1901), wobei die Autorität der offiziellen Diskurse über die Partition in Frage gestellt wird. Anders als die epische Form, die die Vergangenheit aufwertet, ringen diese Romane mit der Gegenwart, um den unteren Klassen und den Frauen eine Stimme zu geben, und enthüllen auf diese Weise eine Modernität, die nicht mit der nationalistischen Modernität verwandt ist. Wenn es um das Verstehen von Konflikten geht, zeigt uns die sorgfältige Untersuchung der Entwicklung von Konflikten innerhalb von Gemeinschaften, dass »Konflikte« selbst überdeterminiert sind durch stabile Ideologien in Bezug auf Frauen, inklusive der Auffassung, dass Frauen Güter und, noch extremer, entbehrlich seien. Diese Ideologien mögen manchmal, insoweit sie unsichtbar sind, als gesunder Menschenverstand wahrgenommen werden; doch in diesem speziellen Konflikt überschreitet die Unterordnung der Frauen, ihr Tausch- und Gebrauchswert, diese Grenze und macht sie sichtbar. In erster Linie beruht der Konflikt zwischen MuslimInnen und HinduistInnen während der Partition auf den – imaginären10 und tatsächlich vorhandenen – Beziehungen zwischen Männern und Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft und der Rolle der Frauen in einer patriarchalen Kultur. Ich biete diese Sichtweise nicht als soziologische Wahrheit an, sondern als einen epistemologischen Standpunkt, der aus der Art und Weise der Thematisierung von Frauen und Konflikten in diesen Romanen entsteht. Dieser Standpunkt steht im Zentrum meiner Analyse, da neuere Forschungen gezeigt haben, dass während der Partition Hindu-Männer auch Hindu-Frauen entführten, vergewaltigten und töteten, und muslimische Männer ebenfalls muslimische Frauen entführten, vergewaltigten und töteten.

Die moderne Frau Die Romane von Bapsi Sidhwa und Attia Hossain verorten die Frage der Modernität von Frauen in diesem turbulenten Kontext. Innerhalb der Genres von Romanen über die indische Unabhängigkeit wählen beide sehr unterschiedliche narrative Strategien um sich mit der schwierigen Frage der Subjektivität und Handlungsfähigkeit von Frauen während des Freiheitskampfes und der Partition von Indien auseinander zu setzen. Es ist hier aufschlussreich, diese beiden Schriftstellerinnen in den Kontext bedeutender anderer Texte über die Unabhängigkeitsbewegung zu stellen.

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Zwischen 1900 und 1910 wurde die Rolle der modernen Frau im Unabhängigkeitskampf in der bengalischen Literatur erschaffen. Das Werk The Home and the World (1916) von Nobelpreisträger Rabindranath Tagore gibt die wesentlichen Themen vor. Der über eine englische Ausbildung verfügende Held strebt danach, seine Frau Bimala in die moderne Welt zu führen, indem er ihr westliche Bildung zugute kommen lässt und daran glaubt, dass diese ihre Subjektivität und Handlungsfähigkeit hervor bringen würde. Bimala gehört dem »bhadralok«, der bengalischen Oberschicht, an und ist vom radikalen Verhalten ihres Mannes sehr verunsichert. Ihr Mann ermutigt sie, an nationalistischen Versammlungen teilzunehmen, wo sie einen Mann kennen lernt, der ein noch extremerer Nationalist als ihr Mann ist. An dieser Stelle läuft das Projekt, Frauen in die Moderne zu bringen, aus dem Ruder. Beide Männer verknüpfen ihre Träume von der neuen Nation mit Bimala. Bimala, die sich gemäß den Wünschen der beiden Männer entwickelt, verliert schließlich am Ende des Romans ihr im traditionellen Sinn definiertes Selbst. Obwohl Tagore zu Beginn gezielt das Moderne zu gestalten versucht, deutet er am Ende an, dass Bimala ihre Essenz, ihr Frausein verloren habe. Der radikal-nationalistische Held beginnt bald damit, sie seine »Königin« zu nennen und behauptet, sie sei das Symbol von »Shakti«11 und gar die Kraft von Mutter Indien. Bimala ist voller Selbstvertrauen, wenn sie sich in diese durch den nationalistischen Kampf geprägte Rolle einlebt und kann sich ihrer Gemeinschaft als modern und kühn präsentieren; sobald sie jedoch gegen die impliziten Wünsche ihres Mannes handelt, entdeckt sie, dass diese Modernität ihr nichts zu bieten hat, da ein Verhängnis dem anderen folgt. Obwohl das Thema der kritischen Erforschung der Moderne nicht ein Hauptmerkmal des männlichen nationalistischen Romans ist, ist das Thema der Frau als Allegorie der Nation, anstatt als Akteurin in der Geschichte, allgegenwärtig. Tagores narrative Technik ist modern, aber realistisch; andererseits überschreibt das Motiv der weiblichen Kraft in Gestalt von Durga, der geliebten bengalischen Muttergöttin, die Bewegung der Frau/des Weiblichen hin zur Moderne. Weitere moderne Romane schreiben Frauen ähnliche Rollen zu. Salman Rushdies Midnight’s Children (1981) stellt Brass Monkey, die Schwester des Helden, als die Singstimme Pakistans, den Geist Pakistans dar. Das Schicksal des Helden ist mit dem Schicksal des Staates verbunden; er steigt mit ihm auf und fällt mit ihm, aber er übt beträchtliche Macht aus, da er sowohl als Autor als auch als Erzähler fungiert. Als Erzählstil wird magischer Realismus verwendet, der an sich den Eintritt der Frauen in die Moderne nicht behindert, ihren Zugang jedoch auch nicht erleichtert. Frauen werden entweder im Reich der Mythologie oder der Fantasie platziert. Saleem Sinai jedoch ist Künstler und hat magische Eigenschaften. Der Unterschied zwischen männlich und weiblich ist hier, dass es sich um eine für das Männliche neue Rolle handelt, die diesem Stärke, Freiheit und Kreativität verleiht. Für Frauen funktioniert Magie allerdings anders. Eine europäische Frau, die mit der Magie der Sinais in Zusammenhang steht, ertrinkt auf mysteriöse Weise; die Sinai-Matriarchin wird anti-modern, die Si-

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nai-Tochter wird in die Unterwelt des Kellers gebracht und die Schwester wird zu einer falschen Allegorie des Staates. Sowohl Attia Hossain als auch Bapsi Sidhwa verwenden Ich-Erzählerinnen, die beide zu Beginn der Romane Kinder sind. Die Entstehung des Staates wird in Sunlight hinter der Purdah12 und in Cracking India aus der Sichtweise eines weiblichen Kindes entfaltet. Der Roman Hossains spielt in Lucknow, Indien, und der Roman Sidhwas in Lahore, Pakistan. Mit ihrer Wahl des Realismus als Erzählstil lehnen es beide ab, die Frau als Nation zu versinnbildlichen. Der Realismus erlaubt ihnen, eine völlig andere Geschichte der Partition und der Nation zu erzählen. Schlussendlich ermöglicht ihr Erzählstil das Eintreten von Frauen als Subjekte in die Moderne.

Attia Hossains Sunlight on a Broken Column Hossains Text handelt vom Untergang der Talukdari, der landbesitzenden Stände in Uttar Pradesh. Sie beschreibt die Auswirkungen, die diese traditionelle Kultur auf die Spaltung der Familie hat und legt nahe, dass selbst wenn politische Unruhen die Familie erschüttern, ihr Moralverständnis keine unbedeutende Rolle für das Debakel während und nach der Partition spielt. Die Geschichte wird hauptsächlich von einem jungen Mädchen erzählt, das in seiner Großfamilie aufwächst. Die verwaiste Laila wird in einem traditionellen muslimischen Oberschicht-Haushalt in Indien vor der Unabhängigkeit erzogen. Hossains Erzählerin Laila glaubt – wie viele VertreterInnen der Moderne – an das Individuum und nicht an die Gruppe. Lailas gesellschaftliche Stellung verlangt, dass sie die Anordnungen der Familie und der Gemeinschaft in jeder Situation befolgt. Ihre Tante Abida, zu der sie eine sehr enge Beziehung hat, glaubt an Bildung für Frauen – wie es auch Lailas moderner Vater tat – und kämpft trotz des Widerstandes der Familie für das Recht ihrer Nichte. Als Laila zum Mündel des jüngeren Bruders ihres Vaters wird, kommt sie in den Genuss größerer Freiheit und entkommt der Purdah. Dies ist größtenteils wegen der fortschrittlichen Einstellung ihres Onkels gegenüber Frauen der Fall. Diese liberale Erziehung gerät allerdings in Bedrängnis, als Laila einen armen muslimischen Mann heiraten möchte, der mit den Talukdari zwar verwandt ist, aber weder das Land, noch die Macht dieser Schicht besitzt. Die Familie ist gegen diese Verbindung, einschließlich Lailas geliebter Tante Abida, die sie zu Gehorsam gegenüber dem Talukdari-Verhaltenskodex ermahnt. Laila verliert den Glauben an die Modernität, die von ihrer Familie forciert wird, und ist schließlich mit dem gesamten Klan zerstritten. Sowohl der Glaube ihrer Tante Abida an Aufklärung durch Bildung als auch die Rhetorik ihres aus England widergekehrten Onkels hinsichtlich der Emanzipation der Frau scheinen hohl zu sein. Im dritten Abschnitt des Romans beschreibt Hossain sehr genau das Nachspiel dieser Erzählung über die Talukdari in Verbindung mit den politischen Er-

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eignissen dieser Zeit. Sie spricht die Wirkungen an, die die Konflikte zwischen HinduIstinnen und MuslimInnen sowie zwischen der Familie und dem Individuum im Alltag haben. Lailas Mann, der über die Zurückweisung seitens der wohlhabenden Familie verbittert ist und sich in ihrem Milieu beweisen möchte, rückt – obwohl dies seinem Verständnis von nationalistischer Ideologie widerspricht – in den zweiten Weltkrieg ein, da er nicht auf Lailas finanzielle Mittel zurückgreifen will. Lailas Cousin Salim wandert nach Pakistan aus; seine Frau träumt davon, dort eine muslimische Utopie vorzufinden. Ihr Onkel wird in einem Kuhhandel um Sitze im Parlament davon ausgeschlossen, Muslime zu repräsentieren; er kann nur mehr die Talukdari repräsentieren, die knapp davor sind, ihre erblichen Privilegien im Parlament unter britischer Herrschaft zu verlieren. Und wie überschneidet sich die Rolle der Frau mit diesen politischen und familiären Angelegenheiten? Lailas Onkel möchte trotz seiner politischen Erklärungen, dass Laila die Ehre der Familie aufrecht erhält. Dies fällt Laila als ein problematischer Widerspruch auf, da er doch vor seinen traditionellen Aufgaben floh, um sich »Englischsein«13 anzueignen (Macaulay 1958: 601). Ihr anderer Cousin Kamal hat sich in die Hindu-Frau Sita verliebt. Der Widerstand der Familie wird jedoch so stark, dass keine/r der beiden ihre/seine Liebe erklärt. Kamal, Laila und die Familie entscheiden sich, in Indien zu leben. Hossain stellt den Mythos, dass alle Muslime sich nach Pakistan sehnten und dorthin auswandern wollten, in Frage. Als Salim das Haus der Familie besucht, nachdem er nach Pakistan ausgewandert ist, erklärt Laila, dass sie und Kamal sich dafür entschieden haben, in Lucknow, der Stadt ihrer Vorfahren und der Heimat traditioneller Mughal-Kunst und Kultur, zu bleiben. Das sei ihr Zuhause, sagt sie in leidenschaftlichem Ton. Sie glauben, wie viele andere Muslime, an einen säkularen Staat. Wer, fragt Laila schließlich, soll die mehr als zwanzig Millionen MuslimInnen in Indien repräsentieren, wenn die Oberschicht nach Pakistan flieht. Sie will darauf hinaus, dass die Option, nach Pakistan zu gehen, nur für wenige Menschen besteht, da viele weder über die Mittel noch über die Möglichkeit verfügen, nach Pakistan zu reisen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Das Gespräch betont das Verhalten von Individuen, nicht von Gruppen. Individualismus wird als etwas Humanes gepriesen, das die neuen Kategorien von Muslim/Hindu, die während des Freiheitskampfes entstanden waren, nicht gutheißt. Laila spricht mit einer Cousine, die in Pakistan lebt, und unterstellt, dass diejenigen in ihrer Familie, die nach Pakistan geflohen waren, ihren Verpflichtungen sowohl gegenüber ihrem Land als auch gegenüber ihrer Gemeinschaft nicht nachgekommen seien (Hossain 1961: 304): »Wo warst du, Zahra, als ich die Nächte durchwachte und zusah, wie ein Dorf nach dem anderen in Brand gesteckt wurde, jeden Tag ein bisschen näher? Schliefst du in einem schönen Haus, bewacht von Polizisten und Wachen? Weißt du, wer mich und mein Kind gerettet hat? Sita14, die uns in ihrem Haus aufnahm, obwohl sie damit ihr eigenes Le-

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ben zusammen mit unserem in Gefahr brachte. Und Ranjit, der von seinem Dorf zu uns kam, weil er gehört hatte, was am Fuße der Hügel geschah und Angst um uns hatte. Er brachte uns zurück, indem er vorgab, wir wären seine Familie, und riskierte, entdeckt und getötet zu werden. Was hast du während dessen getan? Du bekamst dein Bild in die Zeitungen, verteiltest Süßigkeiten an Waisenkinder, deren Väter getötet und Mütter vergewaltigt worden waren.« »Weißt du, wer all die anderen rettete, die keine Sitas und Ranjits hatten? Wo waren all ihre Anführer? In Sicherheit jenseits der Grenze. Die einzigen, die noch da waren, um sie zu retten, waren genau jene Hindus, gegen welche sie protestiert hatten. Weißt du, was ›Verantwortung‹ und ›Pflicht‹ bedeuteten? Die mörderische Menge um jeden Preis zu stoppen, sogar wenn sie Leute ihrer eigenen Religion erschießen mussten.«

Religiöse Unterschiede hatten männliche Aggression und Feindseligkeit überdeckt und hinterließen Scheinheiligkeit. Nationale Identität hatte die Rechtfertigung für Gewalt geliefert. Der einzige Weg, diese Gewalt zu umgehen, war, sich an säkulare Überzeugungen zu halten, die eine gewisse Menschlichkeit garantierten. Eine individualistische Identität war zu dieser Zeit sowohl moderner, als auch menschlicher. Hossain legt nahe, dass keine monolithische Vorstellung von HinduistInnen oder MuslimInnen, wie sie während der Partition entstanden war, Glaubwürdigkeit erlangen könnte. Sie deutet an, dass die Weltanschauung der Talukdari bereits Spaltungen in der Familie entstehen ließ, bevor die Auswirkungen der Partition noch zu spüren waren. Die widersprüchlichen Forderungen von Lailas Onkel und der Widerstand der Familie gegen ihre Ehe mit dem Intellektuellen Ameer markierten den Moment des Beginns der Partition. Obwohl der Freiheitskampf viele moderne Gedanken mit sich brachte und traditionelle Familienbeziehungen veränderte, blieben viele Vorstellungen – besonders Frauen betreffend – traditionell. Laila leidet unter diesen Einschränkungen und den Folgen der Partition. Die Distanz zu ihrer Tante auf Grund des Codes der Talukdari fungiert als Vorbote ihrer späteren Trennung von ihrer Familie aufgrund der Partition. Der Verlust des Hauses wegen der Partition vereint alle Stränge von Lailas Verlust, was ihre Kindheit anbelangt. Die Spaltung des Hauses dient als Symbol der Teilung der Nation. Und doch hält die Sehnsucht nach vergangener Einheit Laila, als sie das Haus das letzte Mal besucht, nicht gefangen und sie verlässt ihr Zuhause. Laila selbst ist nicht gespalten. Und sie versinnbildlicht nicht die Nation. Sie verlässt das Haus der Familie und entscheidet sich für eine Moderne mit einer säkularen Begleitung. Und sie schreitet in die Geschichte als eine Akteurin, die bereit ist, deren Verlauf zu ändern.

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Cracking India Bapsi Sidhwa Die Art und Weise, wie Frauen während der Zeit der Nationsbildung behandelt wurden, verdeutlicht den Prozess, durch den die Bedeutungen, die mit »HinduistInnen« und »MuslimInnen« verbunden waren, verändert wurden. Bapsi Sidhwas Cracking India zeichnet diese Entwicklung sehr detailliert nach. Indem Sidhwa Realismus als ästhetisches Mittel einsetzt, zeigt sie, wie diese neueren Bedeutungen den Konflikt zwischen den Gemeinschaften schufen und verschärften. Damit wird in keiner Weise das Ausmaß und die Wahrhaftigkeit des Konflikts geschmälert, und auch nicht nahegelegt, dass wir aufgrund der Tatsache, dass wir einige seiner Wurzeln ermittelt haben, den Konflikt vergessen sollten. Verdeutlicht wird vielmehr, dass spezielle Bedeutungen, die während dieser Zeit am Konflikt hafteten, seither einen Nachklang erworben haben, der wenig oder überhaupt nichts damit zu tun hat, wie der Konflikt während der Partition ausgetragen wurde. Nachfolgende Generationen haben ihn größtenteils als Konflikt verstanden, bei dem es um Religion oder Land ging. Urvashi Butalia schreibt über ihre Familiengeschichte (Butalia 1998: 5): »Partition war nicht einmal innerhalb meiner Familie ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte – so dass ihre simple, brutale politische Geographie uns immer noch durchdrang und teilte. Die Teilungen waren Bestandteil des täglichen Lebens, wie auch ihre Widersprüche: wie viele Male habe ich meine Eltern oder meine Großmutter gehört, wie sie voll Zuneigung und Sehnsucht von ihren muslimischen Freunden in Lahore sprachen; und wie viele Male voll von irrationalem Vorurteil über ›diese Muslime‹; wie viele Male hatte ich meine Mutter mit einem Gefühl von Verrat von ihrem Bruder sprechen gehört, der eine Muslimin geheiratet hat«

Trotz dieser widersprüchlichen Gefühle müssen wir akzeptieren, dass sowohl Inder, als auch Pakistanis Grausamkeiten verübt haben, und dass wir Frauen misshandelt haben. Wir können nicht das Andere allein dafür verantwortlich machen. Cracking India beginnt mit einer sehr realistischen Darstellung der neutralen Gemeinschaft der Parsen.15 Der Roman hat einen komischen Unterton, der seinen Realismus verstärkt, wenn Sidhwa sich zum Beispiel über die Parsen und deren Entschiedenheit, sich an die jeweils machthabende Regierung anzuhängen, lustig macht. Für Sidhwa, mehr als für Hossain, trugen die Begriffe »Hindu« und »Muslim« vor der Partition substantiell andere Bedeutungen als sie es danach taten. Obwohl es idealisiert erscheinen mag, kreiert Sidhwa ein Bild von freundlicher und behaglicher Intimität innerhalb des Freundeskreises um Lennys hinduistische Ayah (Kindermädchen A.d.Ü.) mit dem Namen Shanta. Lenny spricht nie den religiösen oder ethnischen Hintergrund der Cha-

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raktere an, was das Gefühl von gemeinschaflicher Einheit weiter verstärkt. Es scheint, als hätten Religion und Ethnizität vor der Partition keine bedeutende Rolle in Lahore gespielt. Lediglich jene LeserInnen, die mit dieser Region vertraut sind, können anhand der Namen und dem Tonfall der Konversationen die Charaktere einer bestimmten Ethnie/Religion zuordnen; ansonsten muss man/ frau sehr genau lesen, um die Charaktere ihren ethnischen/religiösen Gruppen zuordnen zu können. Ayahs Freundeskreis setzt sich aus allen Gruppen zusammen, abgesehen von BritInnen und Parsen. Ayah hat viele Verehrer, dazu zählt Masseur, ein Muslim; Ice-Candy Man,16 ebenfalls Muslim; ein Pathane und ein paar Sikhs. Sowohl Masseur als auch Ice-Candy Man sind in Ayah verliebt. Während der Partition wird Masseur enthauptet und Ayah entführt. Der Roman beschreibt zwei Fälle von Verrat. Nachdem ein Zug mit muslimischen Leichen aus Indien ankommt, ist Ayahs Leben in Gefahr. Lennys Familie und ihr Personal beschützen Ayah. Als ein muslimischer Mob kommt, um nach Hindus zu suchen und Vergeltung zu üben, schwört der muslimische Koch Imam Din auf den Koran, dass die hinduistische Ayah nach Amritsar geflohen sei. Die Menge scheint sich daraufhin zu beruhigen. Danach tritt Ice-Candy Man aus der Menge hervor und verspricht, Ayah zu beschützen. Beinahe hypnotisiert verrät Lenny die Wahrheit. Ayah wird davon gezerrt, ihres Sari beraubt, gedemütigt und von den Männern vergewaltigt. Ice-Candy Man setzt sie als Prostituierte ein und heiratet sie anschließend. Shanta weigert sich, bei ihm zu bleiben und als sich die Möglichkeit bietet, macht sie sich mit Hilfe von Lennys Familie auf den Weg nach Indien. Lenny erholt sich nie davon, ihre geliebte Ayah verraten zu haben. Sidhwa beschreibt eine Gruppe von Frauen, die die kindliche Protagonistin Lenny vor und während der Partition umgibt. Die Subjekte sind die Frauen, nicht der Staat als triebhaftes männliches »Imaginäres«. Die Erzähltechnik unterscheidet sich sowohl von der von Hossain verwendeten als auch von der von Rushdie in Midnight’s Children, dem Epos über die indische Unabhängigkeit. Hossains Erzählerin erlangt im dritten Abschnitt etwas Autorität, während Rushdies Erzähler allwissend ist, obwohl das narrative Design seine Autorität beschränkt. Obwohl Lenny an dem Tag, als Pakistan gebildet wird, ihren achten Geburtstag feiert, hat sie keine magische oder anderweitige Verbindung mit dem Staat. Ihr sehr begrenztes Verständnis von politischen Ereignissen ist eine bewusst eingesetzte Strategie, um ihre Autorität als Erzählerin einzuschränken. Ihre Distanz zum Staat dient einem dreifachen Zweck: Erstens steht sie in Übereinstimmung mit der Naivität der Menschen während der Partition, zweitens verleiht sie Ayah mehr Autorität, und schließlich ermöglicht sie es Sidhwa, die verschiedenen Gruppen im Roman ausgeglichen zu präsentieren. Ein weibliches Hindu-Kind ist ebenfalls Teil von Lennys Haushalt. Die Situation, in der sich Pappoo befindet, schafft Klarheit über den Missbrauch von Frauen. Sie wird von ihren Eltern missbraucht, unter Drogen gesetzt und an

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einen sehr alten Mann verheiratet. Mit dieser Nebenhandlung zeigt Sidhwa, dass die Gewalt gegen Frauen strukturelle Gewalt ist. Die Kritikerinnen Ambreen Hai und Jill Didur anerkennen Sidhwas Bemühungen von »Grenzarbeit« in ihrer Darstellung von Ayah, die als Figur subaltern ist, indem sie eine Hinduistin im neuen Pakistan ist; eine Frau aus der Unterschicht, die im Lauf der Erzählung entführt wird und sich dazu entscheidet, die Grenze zu überqueren und ins neue Terrain Indien zu gehen. Hai weist jedoch darauf hin, dass vieles an dieser figuralen Symbolik von der Tatsache untergraben wird, dass wir nie wirklich von der entführten Frau, von Ayah, hören, und dass ihre Geschichte von Lenny, einem Parsen-Mädchen der Oberschicht erzählt wird. Hai meint, dass Ayahs sexualisierte Darstellung ihre Entführung problematisiert und so Klasse und sexuelles Verhalten zusammenlegt, während den Parsen-Frauen der Oberschicht die Rolle der Heldinnen zugeschrieben wird. Natürlich ist so eine Darstellung aus feministischer Sicht extrem heikel (Hai 2000). Ayahs Rolle als eine einer Minderheit angehörenden Frau der Unterschicht, die weder die Erzählerin ist, noch in den von der Erzählerin Lenny wiedergegebenen Dialogen in einer Geschichte, die im Wesentlichen von ihr handelt, spricht, könnte darauf hin deuten, dass ihre Stimme unterdrückt wird. Und doch fungiert Ayah als sekundäre Erzählerin, ohne diese Rolle je offiziell zu übernehmen. Mieke Bals Konzept der Fokalisierung (Bal 1996) verdeutlicht dieses erzählerische Mittel. Bal merkt an, dass eine Geschichte zwar von einer Person erzählt werden mag, aber die Perspektive, aus der heraus sie erzählt wird, vielleicht doch jene einer anderen Person sein kann. Demnach könnte die fokalisierende Person, in diesem Fall Ayah, mehr Autorität als die Erzählerin Lenny selbst haben. Obwohl Lenny aufgrund ihres Status als Kind der Parsen-Oberschicht zwar über mehr Autorität in der Gesellschaft verfügt, folgt daraus nicht, dass sie in der Handlung über mehr Autorität als die erwachsene Frau verfügt. Ayah hat sowohl über Lenny als auch über die Erzählung Macht. Ferner enthüllt die Erzählung, dass Lennys schreckliche Naivität sie dazu bringt, Ayah zu verraten, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Somit prägt die fokalisierende Person, also die sekundäre Erzählerin mit der Autorität einer Erzählerin, aufgrund ihrer Erfahrungen die Bedeutungen der Erzählung. Ayah ist keine Allegorie; sie ist nicht die Trägerin von Bedeutung, sie ist die Schöpferin von Bedeutung. Die Frage der Ungleichheit zwischen Frauen der Arbeiterklasse und der Oberschicht scheint unbeantwortet. So wurden viele Frauen der Oberschicht entführt (siehe Chandra 2007 und Butalia 1998), doch indem Sidhwa die Figur der Ayah einsetzt, wendet sie die Schmach von den Oberschicht/Parsen-Frauen nicht ab. So verliert Lenny einen Teil von sich selbst, wenn sie Ayah verrät. Ihr Weltbild wird unwiderruflich verändert. Die Parsen fungieren sowohl als RetterInnen als auch als VerräterInnen. Ambreen Hai gibt jedoch zu bedenken, dass das unbewusste Einsetzen von Ayah die »Grenzarbeit«, die dem Text zugeschrieben wird, einschränkt. Hai meint, dass es für Pakistanis leichter sei, die

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Gewalt gegen Frauen zu vergessen und sich damit abzufinden, weil Ayah das Hindu-Andere darstellt (Hai 2000). Obwohl ihre Behauptung ein Stück Wahrheit beinhalten mag, muss Ayahs Entführung im Kontext eines gewollten Vergessens der Partition und ihrer gewaltsamen Nachwirkungen gesehen werden. Wäre Ayah als Muslimin dargestellt worden, wäre es noch leichter für Pakistanis gewesen, ihre Gewalt gegen Hindu-Frauen zu rechtfertigen und sie mit dem Argument abzutun, dass ihre Gewalt gegen Hindu-Frauen vom barbarischen Verhalten der Hindus gegenüber muslimischen Frauen entfesselt worden war. Ich halte es für sehr mutig, dass Sidwha, die in Pakistan lebt und keine Muslimin ist, die Gewalt von pakistanischen Männern gegen Frauen beschreibt. Didurs Kritik am Roman bezieht sich auf seine narrative Gestaltung. Sie räumt ein, dass Shantas Wahl, nach Indien zu migrieren, einen gewissen Widerstand gegen den patriarchalen Staat erkennen lässt. Indem sie Shanta die Grenze nach Indien überqueren lässt, gelingt es Sidhwa, eine wahrlich marginalisierte Figur darzustellen; marginalisiert als eine Hindu-Frau in Pakistan, und in Indien als eine »zurückgegebene (»returned«) Frau«. Sie entdeckt jedoch, dass das Gesetz des Staates durch ihre Rückkehr aufrechterhalten wird; außerdem werden durch die Figur Lenny und deren Verrat patriarchale Normen aufrechterhalten (Didur 2006). Ayahs Reise nach Indien, weit weg von einem ihr vertrauten Zuhause, dem Gesetz des Staates folgend, erfüllt die emotionalen Erwartungen des Romans, indem Ayah ein einfaches Entkommen geboten wird. Die Auflösung schränkt daher den Feminismus des Romans gravierend ein. Sowohl die Einwände von Hai als auch jene von Didur sind scharfsinnig und geben Zeugnis von ihrem Engagement in Fragen der Subjektivität und Handlungsfähigkeit der Frau. Die Frage der Subjektivität und Handlungsfähigkeit der entführten und zurückgegebenen Frauen ist, wie Pandey meint, schwierig zu beantworten, da wir wissen, dass beide Regierungen den Frauen sehr spezifische und eingeschränkte Rollen zugewiesen hatten. Didur tritt für eine Handlungsfähigkeit ein, die auf der Fähigkeit der Frauen aufbaut, ihre Situationen wohl durchdacht und selbstbewusst zu interpretieren. Die Vorstellung des Selbstbewusstseins oder der Fähigkeit, die eigene Situation zu interpretieren, ist alles andere als überzeugend, wenn man sich die Geschichte von vierzig Sikh-Frauen, die in einen Brunnen sprangen, oder vom Raja17 getötet wurden, um ihre »Sikhi« oder Reinheit zu bewahren, vor Augen führt. Diese Frauen wurden später als »Sati«18 gefeiert. Der Nutzen, den das Konzept der selbst-bewussten Interpretation bringt, gerät durch solche historische Ereignisse massiv unter Druck (Butalia 1998). Es wäre von größerem Nutzen, wenn wir akzeptieren würden, dass man/ frau sowohl Opfer sein als auch Handlungsfähigkeit haben kann (ebd.: 186). Die Thematik der Handlungsfähigkeit von Frauen zu dieser Zeit ist untrennbar mit der Modernität des Staates und der Rolle der Frau im neuen Staat verbunden. Wenn der Staat traditionelle Normen instrumentalisiert, scheint die

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Handlungsmacht der Frauen massiv eingeschränkt zu werden. Für den Bereich der Repräsentation ist daher entscheidend, dass für Frauen ein moderner Platz geschaffen wird. Wenn der Erzählstil dem Eintritt der Frau in die Moderne gewachsen ist, können Möglichkeiten entstehen, sich eine Moderne für Frauen vorzustellen, die ihnen Handlungsfähigkeit und Subjektivität verleiht. In Cracking India entscheidet sich Ayah gegen den Rat von Lennys Familie für Indien. Ice-Candy Man heiratet sie, nachdem er sie sexuell ausgebeutet hat. Zutiefst von der Mogul-Vergangenheit gefesselt, lässt sich Ice-Candy Man zu dem Glauben verleiten, dass ihm Pakistan die Würde der Mogulkönige wiedergegeben habe, wobei Ayah die Rolle der königlichen Kurtisane und danach die einer Königin des Rotlichtbezirks zugeschrieben wurde. Angesichts der ungewissen Zukunft, die sich in Indien einer Frau, die entführt worden war, bot, ihrer Mittellosigkeit sowie Ice-Candy Mans »romantischer Umwerbung«, hätte Ayah ihren Widerstand sehr leicht aufgeben können. Und doch bewahrt sie sich ihr Selbstwertgefühl, das sie vor der Partition in die Lage versetzt hat, mit vielen Verehrern zu flirten und sie doch auf Distanz zu halten, indem sie darauf bestand, sowohl Männer als auch eine prä-moderne Vorstellung von Weiblichkeit abzulehnen. Im Kontext des Romans muss ihre Ablehnung von beidem als Zeichen einer gewissen modernen Handlungsfähigkeit verstanden werden. Ayah werden, als sie sich zum Verlassen ihrer Heimat entscheidet, einige heroische Elemente von Subjektivität zugestanden; und doch scheint ihr Verschwinden nach Indien auch auf ihre Auslöschung und ihre Marginalität hin zu deuten. Ice-Candy Man verschwindet ebenfalls, auf noch ominösere Art und Weise (Bapsi Sidhwa in Alok Bhalla, ebd.).19 Der Prozess, durch den die Partition zur Realität im Leben der Menschen wird, entspricht der allmählichen Verminderung von Ayahs Autorität. Vor der Partition hatte Ayah Macht über die Männer und kontrollierte sie sehr erfolgreich. Für Sidhwa ist dies ein wichtiger Punkt in der Handlung der Geschichte: »Da gibt es Dinge, die gerne unter Ayahs Sari kriechen. Marienkäfer, Glühwürmchen, Ice-Candy Man’s Zehen. Sie schüttelt sie mit teilnahmsloser Nonchalance ab … Wenn die Geschichte wirklich gut ist, und die vorsichtig vorantastenden Zehen artig, toleriert sie Ayah.« (Sidhwa 1991: 28-29) Als die Männer später Kontrolle über die sich dramatisch verändernden Umstände anstreben, streben sie vor allem nach Kontrolle über die Frauen. Zu Beginn sind sie alle galant. Sidhwa bringt die Komplexität des Moments an den Tag, indem sie Ice-Candy Man als jemanden beschreibt, der seinen Stolz aus seiner ethnischen und kulturellen Identität zu schöpfen versucht, im Gegensatz zur nationalen oder religiösen Identität. Ice-Candy Man zitiert den einzigen nationalistischen Inder, der gegen Indiens Unterstützung der Briten während des Zweiten Weltkriegs war (ebd.: 38): »Bose sagt, die Japaner werden uns dabei helfen, Indien von den Angrez20 zu befreien. Wenn wir Indien zurück haben wollen, müssen wir auf unsere Bräuche, Gewänder und Sprachen stolz sein… und nicht das got-pit sot-pit21 der Engländer nachplappern!«

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Ayah trägt Saris. Ice-Candy Man ärgert der Gedanke, dass sie nicht auf ihre Punjabi-Identität stolz ist und einen Salwar Kameez22 trägt. Zu diesem Zeitpunkt – bevor die geplante Partition öffentlich gemacht wird – zitiert Ice-Candy Man Bose, Gandhi, Nehru und Jinnah. Als Muslim fühlt er weder gegenüber der Vorstellung von Pakistan als einem getrennten muslimischen Staat noch gegenüber muslimischen Führern wie Jinnah besondere Loyalität. Die Struktur des Romans entfaltet die Veränderungen, die von Gewalt, Einschüchterung und Angst geformt werden. In der zweiten Hälfte des Romans beobachtet Lenny, dass Ayahs treue Gruppe nicht mehr erscheint und der Park weitgehend leer ist. Gerüchte und Geschwätz hatten den Park erfolgreich geleert; Ayahs Gruppe hatte sich dort am längsten gehalten. Die Unterhaltung zwischen Freunden wird gehässig. Sogar Masseur, der gelassenste von allen, zeigt sich misstrauisch (ebd.: 99): »Ghandi, Nehru, Patel… sie haben viel Einfluss, sogar in London«, sagt der Gärtner orakelhaft, als ob er die willkürliche und boshafte Natur der antiken Götter anerkennen würde. »Ihnen gefiel der Sieg der Muslimliga bei den Punjab-Wahlen nicht.« »Die Bastarde« sagt Masseur mit pathetischem Zorn, der echte Bitterkeit verbirgt. »Also feuern sie Wavell Sahib, einen anständigen Mann! Und rufen nach einem neuen Lat Sahib, der die Hindus bevorzugen wird!«

Kurz danach hört Lenny von der Partition (ebd.: 101): »Indien wird zerbrochen werden. Kann man ein Land zerbrechen? … Und mir werden religiöse Unterschiede bewusst. Es geschieht plötzlich. Zuerst sind alle sie selbst – und von einem Tag auf den anderen sind sie Hindus, Muslime, Sikhs, Christen. Menschen schrumpfen und verkommen zu Symbolen. Ayah ist nicht länger nur meine alles umfassende Ayah – sie ist auch ein Symbol. Eine Hindu.«

Lenny sieht diese neue religiöse Identität als grundsätzlich entfremdend. Sidhwa beschreibt den Prozess, durch den Nachbarn und Freunde von einander entfremdet werden. Lenny unternimmt mit Imam Din, dem muslimischen Koch, zwei Reisen zu seinem Geburtsort. Beim ersten Besuch wird deutlich, dass die Sikhs des Dorfes die muslimische Minderheit beschützen werden. Sie glauben daran, dass dieser Wahnsinn keinen von ihnen betreffen wird (ebd.: 64-65): »Barey mian23«, sagt der Chaudhry24 , während er Imam Din den gebührenden Respekt als Ältestem erweist. »Es ist mir nicht entgangen, was geschieht … Ich habe ein Radio. Aber unsere Beziehungen mit den Hindus beruhen auf starken Banden. Die Stadtleute können es sich leisten, zu kämpfen … wir können es nicht. Wir sind auf einander angewiesen: verbunden durch unsere Schufterei zu MandiPreisen25, festgesetzt von den Baniya26 – sie sind unsere gemeinsamen Feinde

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– diese Stadthindus. Was kümmert es uns Dorfbewohner, ob ein Bauer ein Hindu, ein Muslim oder ein Sikh ist?« Der zweite Besuch offenbart das Gegenteil. Der gleiche Dorfälteste der Sikh rät Imam Din beschämt, das Dorf nicht noch einmal zu besuchen; er fürchtet die militanten Sikhs aus den Städten (ebd.: 116): »Man kann heutzutage nicht wissen, wer sich hier aufhält… und nicht alle von ihnen sind deine Freunde.« Die Ungeheuerlichkeit und das Ausmaß der Gewalt nehmen zu. Gewalt gegen Frauen war sexualisiert. Ihre Genitalien wurden beschnitten, ihre Brüste verstümmelt und ihre Körper entweder mit »Pakistan Zindabad«27 oder »Jai Hind«28 tätowiert. Bapsi Sidhwa benutzt das Hilfsmittel der Erfahrungen eines Freundes von Lenny, des muslimischen Jungen Rana aus Pir Pindoo, um einige dieser Ereignisse in den Roman einzubauen. Dadurch gelingt es ihr, Lennys Naivität zu bewahren, und den LeserInnen gleichzeitig aber zu ermöglichen, die Gewalt gegen Ayah im nationalen Kontext zu verorten. Für Lenny wie auch für die LeserInnen ist der Verrat, der von Ice-Candy Man begangen wird, am schockierendsten. Der wohl beeindruckendste Moment des Romans ist, als wir von Lenny hören, dass Shanta sich geweigert hat, bei Ice-Candy Man zu leben. In dieser Verweigerung verortet Sidhwa sowohl die Subjektivität als auch die Handlungsfähigkeit der entführten Frau. Zuletzt ist Shanta vielleicht deswegen nicht die Erzählerin des Romans, weil so aufgezeigt werden kann, wie schwierig es für die entführten Frauen ist, sprechen zu wollen, sprechen zu können und sprechen zu dürfen.

Konklusion Ich habe argumentiert, dass Frauen in die Entstehung und Austragung von Konflikten verflochten sind und dass Kategorien wie »Hindu«, »Muslim« und »Sikh« mittels der Figur der Frau geformt worden sind. Sunlight on a Broken Column und Cracking India sind insofern feministische Texte, als sie die entführten Frauen in die Moderne einführen, und ihnen eine beschränkte, vom Staat unabhängige Subjektivität und Handlungsfähigkeit anbieten. Glossar der Figuren in Sunlight on a Broken Column von Attia Hossain: Laila: Erzählerin des Romans, muslimisches Mädchen Abida: ihre Tante, die für ihre Bildung sorgt Onkel: zurück aus dem Ausland, glaubt an die Emanzipation der Frauen Salim: Sohn des Onkels, der nach Pakistan auswandert Kamal: Sohn des Onkels, der nach der Partition in Indien leben möchte Ameer: Mann von Laila, der Muslim ist, aber der Unterschicht angehört Sita: eine Hindu-Frau, die Kamal liebt, wie er auch sie Ranjit: ein Hindu-Freund Zahra: Cousine von Laila, die nach Pakistan ausgewandert ist

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Glossar der Figuren in Cracking India: Lenny: Erzählerin, ein Parsen-Kind Ayah: Shanta, Lennys Kindermädchen Imam Din: der muslimische Koch im Haushalt Ice-Candy Man: der muslimische Verehrer von Shanta, der sie später entführt Masseur: der muslimische Verehrer von Shanta, der erstochen aufgefunden wird

Aus dem Englischen übersetzt durch Ursula Posratschnig und Brigitte Hipfl.

A NMERKUNGEN 1 | Aufgrund der Mehrdeutigkeit von »partitioning of women«, die sowohl als Aufteilung der Frauen sowie als Trennung unter Frauen verstanden werden kann, haben wir den englischen Titel beibehalten (A.d.Ü.). 2 | Dieser Beitrag ist aufgrund meiner indischen Nationalität unvermeidlich parteiisch, wie auch meine Argumentation. 3 | Als die Moschee Babri Masjid abgerissen wurde, um für Ramajhanmaboomi Platz zu schaffen, basierend auf dem nationalistischen hinduistischen Glauben, dass Ayodhya und der Standort des Tempels der Geburtsort von Ram wären. 4 | Nachdem die nationalistischen Hindu-Parteien im Staat Gujerat an die Macht kamen. 5 | Die Indische Kongresspartei wurde 1885 gegründet, und die Muslimliga 1906 aufgrund der Befürchtungen der muslimischen Bevölkerung, unzureichend repräsentiert zu werden. Die Indische Kongresspartei erfreute sich dennoch weiterhin vieler muslimischer AnhängerInnen. 6 | Sikhs glauben an Granth Sahib und Guru Gobind Singh. Sie bildeten in wichtigen Teilen des Westpunjab die Mehrheit, waren aber gezwungen, die Hindu zu unterstützen (siehe Brass 2003). 7 | Gandhi und die indische Regierung appellierten an die Bevölkerung, die Frauen anzunehmen, und bedienten sich dabei einer Rhetorik, die auf antike indische Mythen zurück griff, und so die »moderne« Rhetorik über Frauen drastisch einschränkte. 8 | Ich bevorzuge den Begriff »zurückgegebene« (»returned«) weil es die Mechanismen des Tausches betont und neutraler ist als »gerettet« (»recovered«). 9 | Ich verwende diesen Begriff im Sinne psychoanalytischer und politischer Theorie. 10 | Ich beziehe mich hier auf den Unterschied, den Althusser zwischen imaginären Beziehungen, die Ideologie gestalten, und realen Beziehungen, welche ich als deren Umsetzung in die soziale Praxis verstehe, macht. 11 | Shakti steht im Hinduismus für die weibliche Urkraft des Universums (A.d.Ü.). 12 | Das System (der Verschleierung A.d.Ü.), mit dem junge Mädchen und Frauen daran gehindert werden, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen. Reisen können sie nur in Begleitung der Familie oder anderer naher Verwandter.

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13 | Macaulay argumentierte für eine Bildung für den Inder, die ihn zu einem Engländer machen würde, der aber nie authentisch oder vollständig englisch sein würde. 14 | Sita ist, wie auch Ranjit, Hindu. 15 | Ursprünglich aus dem Iran eingewandert, wurde diese Minderheit als neutral hinsichtlich ihrer Beziehung zum Hindu-Muslimischen Konflikt betrachtet, wobei von ihr erwartet wurde, mit den jeweils machthabenden Parteien zu kooperieren. 16 | Der Britische Titel des Romans war Ice Candy Man. 17 | Raja ist die Bezeichnung für indische Herrscher (A.d.Ü.). 18 | Sati ist die Bezeichnung für eine Frau, die den richtigen, mutigen Weg gewählt hat (A.d.Ü.). 19 | Sie scheint es als ein Anzeichen von Transzendenz gemeint zu haben. 20 | Engländer. 21 | Der Sprecher macht sich über die englische Sprache lustig (A.d.Ü.). 22 | Salwar Kameez ist eine traditionelle Kleidung, die u.a. in Pakistan getragen wird (A.d.Ü.). 23 | »Barey Mian« ist ein ehrerbietiger Gruß gegenüber dem Ältesten. 24 | Chaudhry ist der Ehrentitel, der dem leitenden Beamten eines Bezirkes gegeben wird (A.d.Ü.). 25 | Mandi-Preise sind standardisierte Preise (A.d.Ü.). 26 | Banyia bezeichnet die Schicht der Geschäftsleute in Indien (A.d.Ü.). 27 | Pakistan Zindabad bedeutet »Lang lebe Pakistan« (A.d.Ü.). 28 | Jai Hind bedeutet »Lang lebe Indien« (A.d.Ü.).

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I NCREMENTAL TERRORISM . K ULTURELLE M ASKULINITÄT, K ONFLIK T UND G E WALT GEGEN F R AUEN Christopher Kilmartin

Unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener Arten von Gewalt Der denkwürdigste Tag in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ist der 11. September 2001, als 2973 Menschen, fast ausschließlich amerikanische StaatsbürgerInnen, durch Terrorattacken den Tod fanden. Ziele der Angriffe waren das World Trade Center in New York City, das Pentagon in Arlington, Virginia, und das US-Kapitol in Washington, D.C. (das jedoch nicht erreicht wurde, weil das Flugzeug vorher in Pennsylvania abstürzte). Die Weltöffentlichkeit reagierte auf diese Vorfälle mit Anteilnahme und Entrüstung. Die Vereinigten Staaten wurden von einer patriotischen Welle erfasst, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte. Auf amerikanischem Boden hatte seit mehr als hundert Jahren keine vergleichbare Attacke stattgefunden. So war als kollektive Reaktion absehbar, dass die Gemeinsamkeiten unter AmerikanerInnen hervorgestrichen und gleichzeitig die Differenzen zu allen/m Fremden zu betont wurden. Die Zustimmungsquote für Präsident George W. Bush erhöhte sich (buchstäblich) über Nacht um beinahe 40 Prozentpunkte (zwischen 12. September 2001 und Mai 2008 fiel diese Quote um zirka 60 Prozentpunkte1). Die US-Regierung begann, Milliarden für neue Sicherheitsmaßnahmen auszugeben, und Präsident Bush und andere konservative politische Führungskräfte zogen die Terror-Attacken dazu heran, Bombenangriffe in Afghanistan sowie den andauernden Krieg im Irak zu rechtfertigen. In diesen Kriegseinsätzen mussten bisher Zehntausende ihr Leben lassen, einschließlich einer Anzahl amerikanischer SoldatInnen, die größer als die Opferzahl des 11. September ist. Eine weitere Folge der Terroranschläge war die Bereitschaft vieler US-BürgerInnen, der Bundesregierung eine drastische Einschränkung bürgerlicher Freiheiten zu gestatten, in der Hoffnung, dass solche gesetzlich erlaubten Eingriffe in das Privatleben unbescholtener BürgerInnen ein Höchstmaß an Sicherheit und Schutz vor Gewalt gewährleisten könnten. Vor nicht allzu langer Zeit, am 16. April 2007, ermordete der Student SeungHui Cho am Campus der Virginia Tech University 32 Menschen, verwundete viele weitere und beging schließlich Selbstmord. Wieder folgte der Gewalttat eine Welle von Mitgefühl und Entrüstung, sowohl innerhalb der Vereinigten Staaten als auch im Ausland. Forderungen nach verbesserten Sicherheitsvorkehrungen und Frühwarnsystemen auf Universitätsgeländen wurden laut. Viele Angehörige der Opfer verlangten auch nach verschärften Waffengesetzen, aber die meisten GesetzgeberInnen in dieser politisch konservativ eingestellten Region der USA verweigerten dazu ihre Unterstützung, was darauf zurückzuführen ist, dass das Recht auf Schusswaffenbesitz ein Kernstück des politischen Konservatismus der

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USA bildet. Präsident Bush besuchte den Campus der Virginia Tech und hielt dort eine Ansprache, in der er den Hinterbliebenen der Opfer Mitgefühl und Beileid ausdrückte. Das rief die Familien von im Irakkrieg gefallenen US-SoldatInnen auf den Plan, die sich darüber empörten, dass sich der Präsident ihnen gegenüber nie zu einer vergleichbaren rhetorischen Geste aufraffen hatte können. Die Regierung hatte es im Gegenteil sogar verboten, die Ankunft gefallener SoldatInnen in ihren Särgen filmisch oder photographisch festzuhalten, was der Errichtung einer psychologischen Distanz zu den Kriegsopfern gleichkommt. Diese Vorgabe steht in starkem Kontrast zur medialen Berichterstattung während des Vietnamkrieges der 1960er und 70er Jahre – ein Krieg, der ja auch deshalb als »Wohnzimmerkrieg« bezeichnet wurde, weil die Bevölkerung von den Medien täglich Bilder der Kriegsgräuel ins Haus geliefert bekam, was indirekt auch zur Formierung einer breiten Oppositionsbewegung führte. Im Schatten der gerade beispielhaft erwähnten Ereignisse bleibt eine andere Art des Tötens weitgehend unsichtbar, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Vereinigten Staaten. Es handelt sich dabei um die von Ehemännern, Ex-Ehemännern, Lebensgefährten und Ex-Lebensgefährten begangenen Morde an ihren Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen. Diese Gewalttäter verüben in den USA jährlich zwischen 1000 und 1200 häusliche Morde, woraus sich ergibt, dass seit den Attacken des 11. Septembers 2001 auf US-amerikanischem Boden ca. 9.000 Frauen durch solche Gewaltakte gestorben sind. Diese Zahl ist nicht nur mehr als doppelt so hoch wie die Opferzahl des 11. Septembers; sie übertrifft auch die Zahl der bis Ende 2007 im Irakkrieg gefallenen US-SoldatInnen um mehr als das Zweifache (FBI Uniform Crime Reports o.J.). Männliche Partner und Ex-Partner ermorden weltweit ständig Frauen, wobei Todesfälle nur die extremsten Instanzen häuslicher Gewalt markieren. Männliche Gewalttäter fügen zahllosen Frauen auch allerorts schwere Körperverletzungen sowie psychologische Traumata zu. Somit kann bei Gewaltakten von Männern gegen Frauen von »inkrementellem Terrorismus« gesprochen werden, ein Begriff, mit dem hier eine Kategorie von gewalttätigen Übergriffen gemeint ist, die allesamt auf eine spezifische Gruppe zielen. Die Täter betreiben hierbei keine sorgfältige Planung bzw. Organisation ihrer Gewaltakte, wie es etwa die suizidalen Flugzeugentführer des 11. September oder der Virginia-Tech-Massenmörder getan hatten, erreichen dessen ungeachtet aber ein noch größeres Ausmaß an Zerstörung. An der Zahl der Todesopfer gemessen, entsprechen die häuslichen Gewaltakte von Männern gegen Frauen in den Vereinigten Staaten einem alle elf Tage erneut stattfindenden Virginia-Tech-Massaker, sowie einem sich alle 1000 Tage wiederholenden 9/11-Terroranschlag. In den Medien werden Gewaltakte im häuslichen Bereich oft euphemistisch als »Zwischenfälle« bezeichnet, was den Horror von Mord und Totschlag in unzulässiger Weise verniedlicht.

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Sprachgebrauch und mediale Beschreibungen von Gewalt Formulierungen wie »In den USA werden jährlich 1000 Frauen von ihren Partnern und Ex-Partnern ermordet«, oder »Tausende Frauen erleiden durch häusliche Gewalt schwere Körperverletzungen und psychologische Traumata« mögen uns als nicht weiter auffällig erscheinen. Ich bin dagegen zu der Überzeugung gelangt, dass durch solche häufig verwendeten linguistischen Passiv-Konstruktionen das Opfer ins Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben wird – bei gleichzeitiger (impliziter) Charakterisierung männlicher Gewaltakte als konstant und unveränderbar. So entsteht als Folge dieser linguistischen Konstruktionen oft die Auffassung, dass die Prävention männlicher Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft weniger als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen sei, sondern dass es in Wahrheit an den Frauen selbst liege, sich von gewalttätigen Männern fernzuhalten. Dass Männern im Rahmen der gesellschaftlichen Anstrengungen rund um Gewaltvermeidung eine entscheidende Verantwortung zukommt, geht bei diesen Formulierungen völlig unter. Viele Männer halten häusliche Gewalt darüber hinaus für eine »Frauenangelegenheit«; andere sind der Ansicht, der Sache schon dadurch dienlich zu sein, dass sie selbst solche Gewalt nicht ausübten. Die im Zuge der Anschläge des 11. Septembers und des Virginia-Tech-Massakers verübten Morde werden gemeinhin als gegen »uns alle« gerichtete Verbrechen gesehen, während Morde im häuslichen Bereich nur als verbrecherische Akte gegen individuelle Opfer gelten. Es folgt eine Auflistung weiterer sogenannter »Zwischenfälle« aus den Vereinigten Staaten, die sich alle innerhalb von zwei Wochen im September und Oktober 2006 ereignet haben: eine Schießerei an einer Schule in Colorado, die schrecklichen Morde von Charles Roberts an fünf amischen Schülerinnen in der Nähe von Lancaster, Pennsylvania, die Ermordung eines Schuldirektors durch einen Schüler in Wisconsin, und der Sexskandal, der sich rund um den ehemaligen Kongressabgeordneten Mark Foley und einige minderjährige Kongresspagen entwickelt hat und angeblich von Foleys einflussreichen republikanischen Parteikollegen vertuscht hätte werden sollen (aber trotz dieser dubiosen Umstände bald aus den Medien verschwand). Ungefähr zur gleichen Zeit erschien ein denkwürdiger Artikel im Kurzberichterstattungsteil der Washington Post (2006: A3). Der gesamte Artikel lautet: »North Charleston, SC-Behörden zufolge wurde ein Mann beschuldigt, im Zuge eines Disputs im gemeinsamen Heim seine Ehefrau und ihre vier Kinder, im Alter von 6 bis 16 Jahren, ermordet zu haben. Michael Simmons (41) ist des fünffachen Mordes angeklagt und befindet sich in Polizeigewahrsam. Er war über ein Jahr lang mit Detra Rainey (39) verheiratet, so ein Polizeisprecher aus North Charleston.«

Dieser mörderische »Zwischenfall« kostete also fünf Menschenleben, womit die Opferzahl genau jener der Lancaster-Morde entspricht (abgesehen von dem

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Selbstmord des Täters, Charles Roberts). Wird jedoch der Umfang der medialen Berichterstattung zu den beiden Verbrechen verglichen, zeigt sich ein bemerkenswerter Kontrast. Außerhalb der Region, in der Simmons seine Frau und Kinder ermordete, erreichte die Nachricht von diesem Gewaltverbrechen kaum FernsehzuseherInnen und ZeitungsleserInnen. Im Gegensatz dazu erhielten die Roberts-Morde an den amischen Mädchen ein Höchstmaß an medialer Aufmerksamkeit. Ich werde weiter unten noch zu einer Diskussion dieses Ungleichgewichtes zurückkehren, weil ich glaube, dass uns dieses Phänomen einen sehr wichtigen Aspekt der US-amerikanischen Mainstream-Kultur – und vielleicht sogar eine großteils unartikulierte Auffassung der meisten Menschen weltweit – erschließen kann. Die oben erwähnten Berichte beschreiben vier Ereignisse extremer physischer Gewalt und einen Fall, in dem psychologische Gewalt (sexuelle Belästigung Minderjähriger) eine Schlüsselrolle spielt. Selbstverständlich könnten noch viele andere Ereignisse angeführt werden, aber ich möchte anhand dieser Beispiele die folgende Fragestellung aufwerfen. Angenommen, in all diesen sogenannten »Zwischenfällen« wären junge Latinas die Gewalttäterinnen: Gäbe es in diesem Fall nicht sofort eine bundesweite Debatte über die Missstände in der Kultur der Latinas, die offensichtlich dazu führen, dass junge Frauen mit Latina-Hintergrund all diese schrecklichen Gewaltverbrechen verüben? Natürlich ist allen der erwähnten »Zwischenfälle« gemein, dass die Gewalt von weißen Männern ausging, und deshalb tendieren wir dazu, deren Verhalten individuellen Pathologien zuzuschreiben, anstatt es als das Resultat einer Wechselwirkung zwischen diesen Pathologien und den toxischen Aspekten der Kultur zu sehen, an der wir alle teilnehmen – im besonderen jene unter uns, die der Majorität angehören. Wir müssen uns dieser Kultur bewusst werden und lernen, uns ihren toxischen Elementen zu widersetzen. Die Anschläge des 11. Septembers, verübt von Männern aus dem Nahen und Mittleren Osten, riefen großes Misstrauen (und in manchen Fällen auch Gewalt) gegenüber Menschen dieser ethnischen Gruppe hervor. Zu den Virginia-Tech-Morden, für die ein asiatisch-amerikanischer Mann verantwortlich war, gab es einige Berichte, in denen dessen ethnischer Hintergrund erwähnt wurde. Der Umstand, dass in all diesen Fällen die Gewalt ausschließlich von Männern ausging, wurde aber praktisch nirgends vermerkt. Weiters halte ich es für aufschlussreich, dass in den Medienberichten zu den Simmons-Morden durchwegs zu lesen war, dass sich die Gewalttaten im Kontext eines »häuslichen Disputs« zugetragen hatten. Niemand würde jedoch einen Raubüberfall als »finanziellen Disput« oder einen Finanzbetrug als »Genauigkeitsdisput« bezeichnen. Im Begriff »Disput« scheint immer schon die Annahme mitzuschwingen, dass beide betroffene Parteien an der sich entfaltenden Problematik teilhaben, anstatt dass eine Person eine andere willkürlich schikaniert bzw. ihr Gewalt antut. Eine akkuratere Version des Kurzberichts zu

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den Simmons-Morden könnte so lauten: »Behörden zufolge wurde ein Mann beschuldigt, seine Ehefrau und ihre vier Kinder, im Alter von 6 bis 16 Jahren, im gemeinsamen Heim auf gewalttätige, entsetzliche Weise attackiert und ermordet zu haben«. Der Mangel an medialer Aufmerksamkeit für dieses mörderische Gewaltverbrechen führte dazu, dass Detra Rainey und ihre Kinder, sowie andere Menschen in ähnlichen Umständen, zu stummen Opfern wurden – in scharfem Gegensatz zu den Opfern des 11. Septembers und des Virginia-TechMassakers, für die Denkmäler errichtet wurden und denen an den Jahrestagen ihres Todes im Rahmen von Trauerritualen öffentlich gedacht wird. Neben Passiv-Formulierungen und der Verwendung von Euphemismen wie »Zwischenfall« oder »Disput« zur Beschreibung von Gewaltverbrechen kommen oft noch weitere linguistische Konventionen zum Einsatz, um die emotionalen Schäden sowie andere ernsthafte Implikationen von Gewalt von Männern gegen Frauen zu bagatellisieren. Im anglophonen Sprachraum werden die Begriffe »opposite sex« (wörtlich: entgegengesetztes Geschlecht) und »battle of the sexes« (wörtlich: Schlacht der Geschlechter) häufig verwendet. Implizit in diesen linguistischen Konstrukten ist die Annahme, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden, ja sogar das »Gegenteil« voneinander seien, und dass die daraus entstehenden Konflikte zu durchaus kriegsähnlichen Zuständen führen können. Solange wir nicht zusammenarbeiten und unsere Gemeinsamkeiten anstatt unsere Differenzen hervorheben, werden wir das Problem der Gewalt von Männern gegen Frauen nicht lösen. Lehrende an unseren Schulen veranstalten häufig Wettbewerbe, in denen »die Mädchen gegen die Buben« antreten. Aus Funk und Fernsehen sind uns Veranstaltungen der Marke »Kampf der Geschlechter« wohlbekannt. Einen interessanten Kontrast bieten hierbei die Problemkomplexe Rassismus und Klassenunterdrückung. Niemanden würde es einfallen, einen »Kampf der Rassen« oder einen »Kampf der Reichen gegen die Armen« abzuhalten. Bei akademischen Abschlussfeiern in den Vereinigten Staaten ist es üblich, dass die AbsolventInnen einen Umhang tragen. Manche High Schools sehen dabei vor, dass weibliche und männliche AbsolventInnen in farblich verschiedenen Umhängen erscheinen. (Solche Vorgehensweisen sind bei Universitäten und Hochschulen viel seltener anzutreffen.) Niemand würde sich dafür aussprechen, dass Angehörige verschiedener ethnischer oder sozio-ökonomischer Gruppen, verschiedener Altersgruppen oder verschiedener Gruppen körperlicher Befähigung bei akademischen Feiern – wo die zu zelebrierenden Leistungen aller AbsolventInnen identisch sind – farblich codierte Umhänge tragen sollten. Unter allen gesellschaftlichen Vorurteilen scheint Sexismus das akzeptabelste zu sein. Die Kultur der Vereinigten Staaten perpetuiert den Glauben, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden seien, etwa betreffend Vorlieben für Farben, Getränke und Aktivitäten, oder im Hinblick auf Angewohnheiten,

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Emotionen, der Einstellung zu Arbeit und Beziehungen, und viele andere Lebensaspekte. Diese Annahmen bilden die Grundlage für die unterschiedliche Behandlung von Buben und Mädchen, Männern und Frauen, wobei oft die männlich codierte Erfahrung und Machtform den Vorzug erhält. Die PsychologInnen Peter Glick und Susan Fiske haben in ihrer Studie zu interkulturellen Genderstereotypen gezeigt, dass Frauen häufig als moralisch, sympathisch und lobenswert angesehen werden, aber gleichzeitig auch als inkompetent (Glick 2005). Rassismus und Sexismus bilden interessante Kontraste. Im April 2007 bezeichnete der populäre Radiomoderator Don Imus das Frauen-Basketballteam der Rutgers University als »nappy headed hos« (krausköpfige Huren). Damit gelang es ihm, unter Verwendung von nur drei kurzen Wörtern eine sowohl rassistische als auch sexistische Beleidigung auszusprechen. Diese Aussage wurde in der Öffentlichkeit weitgehend verurteilt und führte letztendlich dazu, dass Imus seine TV-Show aufgeben musste. (Seine Sponsoren zogen ihre finanzielle Unterstützung für das Programm zurück, weil sie um ihren öffentlichen Ruf und ihre Umsätze fürchteten. Imus ist mittlerweile als Radiomoderator zurückgekehrt, nachdem sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf andere Angelegenheiten verlagert hatte. Der Fall Imus ist in dieser Hinsicht mit den Vorwürfen sexueller Belästigung an Profi-Basketballer Kobe Bryant und Sportmoderator Marv Albert zu vergleichen, die für die Beschuldigten auch nur zu kurzfristigen Unannehmlichkeiten und geringen finanziellen Verlusten führten.) Ich habe zwar keine formelle Studie zu den Reaktionen auf das Imus-Statement durchgeführt, aber es hatte damals den Anschein, dass mehr als 80 Prozent der Empörung den rassistischen, und nicht den sexistischen Aspekt der Aussage betraf. Am bemerkenswertesten waren die Reaktionen afroamerikanischer Rapper, die den Rassismus des Don Imus verurteilten. Dieselben Künstler verwenden oft misogynistische Texte, einschließlich des Wortes »ho«. Der kulturelle Mainstream in den Vereinigten Staaten ist sich dessen bewusst, dass Rassismus falsch ist, und dass niemand sich rassistisch verhalten soll. Obwohl Rassismus immer noch sehr stark in dieser Kultur verankert ist, manifestiert er sich eher in strukturellen Zusammenhängen, die zu ungleichen Resultaten führen, als in direkten, hasserfüllten (Sprech-)Akten. Sexismus wird jedoch oft als »natürlich« oder »normal« angesehen. Als die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton bei einer ihrer Kundgebungen mit einem Schild konfrontiert wurde, auf dem »Bügle mein Hemd!« stand, war dies den Nachrichtenmedien nur eine kurze Erwähnung wert. Eine ungleich drastischere Reaktion hätte stattgefunden, wenn bei einer Veranstaltung des afroamerikanischen Kandidaten Barack Obama ein Schild mit der Aufschrift »Pflück meine Baumwolle« zu sehen gewesen wäre. Dass Sexismus im Vergleich zu Rassismus eher akzeptabel ist, resultiert vielleicht daraus, dass rassistische Weiße jegliche Beziehungen mit Nichtweißen vermeiden können, und dadurch ihnen gegenüber eine unambivalente negative Einstellung haben können. Die Mehrzahl al-

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ler sexistischen Männer sind jedoch heterosexuell und verheiratet, und haben weibliche Arbeitskolleginnen, Nachbarn und Bekannte. Sollten sie sich offen zu ihrem Sexismus bekennen, müssten sie Wege finden, Frauen gleichzeitig zu lieben und zu hassen. Oft kommt dabei die Strategie zum Einsatz, die Existenz von Sexismus abzustreiten, zu behaupten, dass Sexismus berechtigt sei, wenn er sich gegen »schlechte« Frauen richtet, oder zu argumentieren, dass Sexismus ein isoliertes bzw. kein ernsthaftes Problem sei. Viele Frauen schließen sich dieser Haltung von sexistischen Männern an, weil es ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Sie schlüpfen damit in die Rolle eines bestimmten Frauentyps, der die dominante Position der Männer nicht infrage stellt und deshalb keine direkten Misshandlungen von Männern erleiden muss. Wir sollten es jedoch generell vermeiden, in einen »Wettbewerb der Unterdrückungen« einzutreten, wo wir uns darüber streiten, ob Sexismus oder Rassismus schlimmer sei. Eine solche Diskussion wäre meiner Ansicht nach nutzlos, da durch beide Unterdrückungssysteme in großem Ausmaß körperliche und psychologische Gewalt gegen große gesellschaftliche Gruppen ausgeübt wird. Ich verweise deshalb im Zuge meiner Sexismuskritik auf Beispiele von Rassismus und die Verbindungen zwischen den beiden Unterdrückungsformen, weil sich die meisten Menschen zumindest bewusst zu sein scheinen, dass sie sich nicht rassistisch verhalten sollen. Gleichzeitig haben sie unter Umständen größere Schwierigkeiten dabei, Sexismus zu erkennen, da diese Unterdrückungsform in Familie und Kultur nicht nur fest verankert ist, sondern sich auch durch diese Institutionen permanent reproduziert. Wenn ich Leuten erzähle, dass ich ein Psychologe bin, der sich auf die Erforschung geschlechtsspezifischer Gewalt spezialisiert, dann höre ich oft die folgende Frage: »Wenn ein Mann seine Ehefrau schlägt, warum bleibt sie dann bei ihm?« Das ist eine legitime und wichtige Frage, aber sie sollte meiner Ansicht nach von sekundärem Interesse im Vergleich zu einer anderen Frage sein, die leider selten gestellt wird: »Warum schlägt ein Mann seine Ehefrau?« Der Umstand, dass sich die letztere Frage den meisten Menschen nicht aufdrängt, resultiert wahrscheinlich aus dem Glauben, dass die Ausübung von Gewalt bei Männern eine unverrückbare Konstante sei, während die Reaktionen, die Frauen auf solche Gewalt zeigen, auf freien Entscheidungen beruhen. Auf subtile Weise werden Frauen so für die Fortführung von Gewalt verantwortlich gemacht – die Schuld liegt also bei den Opfern. »Sie war schuld, denn sie blieb bei einem gewalttätigen Mann, der seine Aggressionen nicht kontrollieren konnte«. Oder: Frauen könnten sich sicherer fühlen, wenn sie die Männer, mit denen sie sich einlassen, sorgfältig auswählen. Im Bereich der sexuellen Gewalt erweisen sich bestimmte linguistische Konstruktionen als noch problematischer. Wie die Anwältin und Aktivistin Wendy Murphy (2008) gezeigt hat, enthalten Berichte über sexuelle Gewalt an Kindern oft die Formulierung, der Täter habe das Kind »belästigt« [to molest]. Die

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Bedeutung dieses Begriffs liegt näher an »ärgern« als an »terrorisieren« oder »zum Opfer machen«. Murphy kritisiert auch, dass die offizielle Bezeichnung für genitale Penetration eines minderjährigen Kindes in den USA »gesetzliche Vergewaltigung« [statutory rape] lautet. Das Wort »statutory« insinuiert, dass der Täter lediglich ein technisches Detail (ein Statut), und nicht ein menschliches Wesen verletzt habe. Ein weiterer verharmlosender Begriff ist »date rape« (Vergewaltigung während einer Verabredung), da er eine Differenz zu »real« rape (»echter« Vergewaltigung) andeutet. Dieser Terminus legitimiert auch die falsche Auffassung, dass eine sexuelle Attacke durch einen Bekannten lediglich eine Unannehmlichkeit sei, ein Streit unter Liebenden, oder das Ergebnis einer Fehlkommunikation. Die Realität sieht anders aus: von Bekannten verübte sexuelle Gewaltakte führen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu posttraumatischen psychologischen Symptomen als bewaffneter Kampfeinsatz bei Militärpersonal. Mancherorts hat sich sogar die Formulierung »gray rape« (»graue« Vergewaltigung) durchgesetzt, und zwar bei Fällen, in denen es sehr wohl zu Penetration kommt, die aber weder konsensuell noch nicht konsensuell erfolgt (als ob das möglich wäre!). Ein Teil des Problems liegt an der geläufigen Definition von Vergewaltigung als das Ignorieren des »Nein« anstatt die fehlende Erlangung des »Ja«, was Männern jede Verantwortung für die Erlangung der Zustimmung zum Geschlechtsverkehr abnimmt, und Frauen die Verantwortung für die Artikulation der Ablehnung aufbürdet. Im Jahr 2003 war in den Medien von einer skandalösen Serie sexueller Nötigung in der United States Air Force Academy zu lesen. Mehrere männliche Offiziersschüler hatten sexuelle Übergriffe an weiblichen Kolleginnen vollzogen, und die männlichen Offiziere der Akademieleitung hatten die Opfer daraufhin eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, um ihr Schweigen zu diesen Vorgängen zu erzwingen. Den Opfern wurde z.B. damit gedroht, ihnen Regelverstöße wie Alkoholmissbrauch oder Sex in den Schlafstätten der Akademie anzulasten. Beide dieser Vergehen können schwerwiegende Sanktionen nach sich ziehen –einschließlich Entlassung von der Akademie –, und daher wurden die weiblichen Offiziersschülerinnen dazu gezwungen, sich zwischen Stillschweigen und der Gefährdung ihrer Militärkarrieren zu entscheiden. Die Zeitungsberichte zu diesen Vorfällen sprachen von mehr als 50 Vergewaltigungen, die »zwischen« männlichen und weiblichen OffiziersschülerInnen stattgefunden haben sollen. Vergewaltigungen ereignen sich aber nicht zwischen Menschen, genausowenig wie sich ein Banküberfall zwischen Räubern und Bankangestellten abspielt, oder Vandalismus zwischen einer Person mit Sprühfarbe und dem Eigentum einer anderen Person. Wie schon im Falle der Verwendung des Begriffs »Disput« zur Beschreibung eines gewalttätigen Aktes, führt der Gebrauch des Wortes »zwischen« im Kontext der Beschreibung sexueller Nötigung ebenfalls dazu, dass den Opfern ein Teil der Verantwortung für die jeweiligen Attacken zugeschrieben wird.

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In seiner Reaktion auf den Skandal an der Air Force Academy gab deren Stabschef an, das Problem liege darin, dass Männer und Frauen in der gleichen Unterkunft wohnen müssten, und dass Männer daher Frauen oft in ihren Bademänteln den Gang entlang gehen sehen könnten. Eine mögliche Lösung bestehe demnach in einer Trennung der Unterkünfte der Männer und der Frauen. Mit anderen Worten, das Problem ist, dass Männer Frauen vergewaltigen, und die Lösung ist, die Frauen loszuwerden. Dieses Statement impliziert auch, dass männliche Sexualität unkontrollierbar sei, ja vielleicht sogar von Natur aus raubtierhaft. In manchen Medien war von einem »Sexskandal« an der Air Force Academy die Rede. Dazu würde ich anmerken, dass die Opfer sicher nicht Sex hatten, und ich halte es darüberhinaus für legitim zu bezweifeln, dass dieser Begriff mit Bezug auf die Täter verwendet werden kann. Die Formulierung »erzwungener Sex« kombiniert Nötigung mit Genuss. Wie Wendy Murphy gezeigt hat, führt die nutzlose Erotisierung der Traumatisierung von Menschen Gewalt in Softpornographie über. Vergleichen sie die Beschreibung des »Sexskandals« mit der folgenden Variante einer Reportage: »Schwerverbrecher rammten ihre Penisse in die Vaginas von Frauen gegen deren Willen, fügten ihnen dabei extreme emotionale Traumatisierungen und körperliche Schmerzen zu, einschließlich des fallweisen Einreißens des sensiblen Genitalgewebes, und brachten diese Frauen darüberhinaus in Gefahr, Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften davonzutragen.« Vergewaltigungen sind genausowenig »sexuell« wie der Akt, jemandem mit einer Bratpfanne auf den Kopf zu schlagen, »kulinarisch« ist. Wohlmeinende Leute und Organisationen, die Selbstverteidigungskurse für Frauen veranstalten, bewerben diese Lehrgänge oft als »Vergewaltigungsprävention«, als ob es an Frauen liege, Vergewaltigungen zu verhindern. Natürlich sollten wir Frauen nicht davon abhalten, Selbstverteidigungstechniken zu erlernen, aber wir sollten diese Techniken als das bezeichnen, was sie wirklich sind: Risikoverringerung. Das Verhindern von Vergewaltigungen ist Männerverantwortung.

»Opfer wie wir; Opfer wie sie« Ich möchte zum oben besprochenen Kontrast zurückkehren, der sich auftut mit Bezug auf die Medienberichterstattung zu den Morden von Michael Simmons an seiner Frau und ihren vier Kindern, und zu den von Charles Roberts verübten Morden an den amischen Schülerinnen. Obwohl beide Attacken dieselbe Anzahl an Opfern zur Folge hatten, schaffte es nur der Roberts-Fall auf die Titelseiten und verankerte sich wochenlang im öffentlichen Bewusstsein. Hunderte Reporter strömten in das abgelegene Heimatdorf der Opfer auf der Suche nach Details und Hintergrundinformationen, und schreckten auch nicht davor zurück, entgegen den Wünschen der Hinterbliebenen Videomaterial der

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Begräbnisse auszustrahlen. Ganz im Gegensatz dazu die mediale Berichterstattung zu den Simmons-Morden: mit Ausnahme der Lokalmedien war dieser Fall keinem Medium viel mehr als eine Fußnote wert. Wie sollen wir die unterschiedliche Gewichtung dieser zwei Tragödien interpretieren? Es fällt uns leicht, Mitgefühl und Anteilnahme mit den amischen Schülerinnen, ihren Familien und ihrem Umkreis zu entwickeln, weil wir sie grundsätzlich als »Menschen wie wir« betrachten. Wir identifizieren uns mit ihnen, weil wir wissen, dass ein bewaffneter Gewalttäter jederzeit in ein Restaurant, ein Geschäft oder eine Schule eindringen und uns ermorden könnte. Einer solchen Attacke wären wir wehrlos ausgeliefert, genauso wie im Falle eines von Terroristen gesteuerten Passagierflugzeuges, das in ein Gebäude geflogen wird, in dem wir uns gerade aufhalten. Wir finden hingegen nur sehr wenige Gründe, uns mit den Opfern der Simmons-Morde zu identifizieren, weil wir Opfer häuslicher Gewalt generell als »Menschen wie sie« ansehen, d.h. als gesellschaftliche AkteurInnen, die an den Vorgängen und Prozessen, die sie zum Opfer werden lassen, irgendwie selbst beteiligt sind. Wir können uns selbst nicht an deren Stelle sehen, da wir davon überzeugt sind, eine höhere Intelligenz und eine bessere Urteilsfähigkeit als sie zu besitzen. Oft mutmaßen wir auch, dass der gegebene Gewaltausbruch keinesfalls der erste gewesen sein kann, und fragen uns »Warum bleibt diese Frau immer noch bei diesem gewalttätigen und ausfälligen Mann?«, anstatt das wirkliche Problem zu benennen: »Wie konnte dieser Mann nur seine Frau und ihre Kinder ermorden?« Im Gegensatz dazu liegt es uns im vorher besprochenen Fall nahe zu fragen, »Was konnte dieses Individuum (nicht: diesen Mann) dazu bringen, diese amischen Schülerinnen zu ermorden?« »Wie konnten diese Terroristen (nicht: diese männlichen Terroristen) nur diese Passagierflugzeuge in Hochhäuser steuern und dabei Tausende Menschen töten?« Wir beschäftigen uns mit dem Bewusstsein der Mörder in Fällen von Gewalt gegen Fremde, und mit dem Bewusstsein der Opfer in Fällen von häuslicher Gewalt. Ein Lösungsansatz zu diesem Problem wäre, darauf zu bestehen, dass alle Opfer »Menschen wie wir« sind. Nach dem Simmons-Mordfall war in den Medien kaum von den getöteten Kindern zu lesen bzw. zu hören, was vielleicht auch darauf zurückzuführen ist, dass sie aufgrund ihrer Assoziation mit der Mutter auch einen Teil ihrer »Schuld« mitzutragen hatten. In den USA werden häusliche Gewaltakte nur unter gewissen Bedingungen für berichtenswert befunden: wenn das Opfer attraktiv, berühmt und/oder schwanger ist; und/oder wenn ein häuslicher Mord ungeklärt bleibt; und/oder wenn der Täter berühmt ist; und/oder wenn der Täter auf der Flucht ist. Von Vergewaltigungen durch Fremde wird dagegen regelmäßig auf den Titelseiten der Zeitungen berichtet. Opfer von Vergewaltigungen durch Fremde werden also gemeinhin als »Opfer wie wir« erkannt. Vergewaltigungen durch Bekannte werden generell nicht in Zeitungsberichten publik ge-

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macht, es sei denn das Opfer oder der Täter sind berühmt, oder es wird Anklage erhoben – was aber nur in sehr wenigen Fällen passiert. Sogar US-SoldatInnen, die im Irakkrieg sterben, werden mehr und mehr zu »Opfern wie sie«, denen nur selten mediale Aufmerksamkeit oder Mitgefühl zuteil wird. Viele dieser Opfer sind sozial schwache AmerikanerInnen, die dem Militär beitreten, weil sie nur wenige andere berufliche Optionen vorfinden. Der Umstand, dass die Regierung die Berichterstattung über Kriegstote limitiert, erlaubt es den politischen EntscheidungsträgerInnen, ihre Verantwortung für diese Todesfälle herunterzuspielen. Über die zigtausenden irakischen Kriegsopfer wird natürlich noch weniger berichtet, womit diese zur Extremform der »Opfer wie sie« werden. Vielleicht besteht eine Parallele zwischen Kriegstoten und Opfern häuslicher Gewalt darin, dass beide, trotz sehr hoher Gesamtopferzahlen, generell nur vereinzelt den Tod finden, was viele Menschen insofern beruhigen mag, als die Manifestationen tödlicher Gewalt so als isolierte Ereignisse erscheinen, anstatt als Teil eines systemischen Problems. Die signifikante Leerstelle in fast allen medialen Berichten zu Akten der Gewalt ist das Geschlecht der Täter – die in allen bisher erwähnten Fällen männlich waren. In den Attacken des 11. Septembers 2001 gab es 19 Flugzeugentführer. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle davon nur aus Zufall männlichen Geschlechts gewesen sein könnten, liegt hier bei 1 zu 262.144. In den Vereinigten Staaten begehen Männer beinahe 90 Prozent aller Gewaltverbrechen; ähnliche Verhältnisse herrschen in den meisten anderen Ländern weltweit. Unter fiktiven Verhältnissen, in denen Männer nicht gewalttätiger als Frauen wären, käme es in den USA über Nacht zu einer 75 %igen Reduktion der Gewaltverbrechen. Im Jahr 2005 – dem letzten Jahr, für das zur Zeit diesbezügliche statistische Daten erhältlich sind – fanden in den Vereinigten Staaten 11,5 Millionen Gewaltverbrechen statt, davon 16.692 Morde. Eine Verringerung dieser Zahlen um 75 Prozent würde bedeuten, dass es ca. 8 Millionen weniger Gewaltverbrechen gäbe, also 22.000 weniger pro Tag. Die Anzahl der Morde würde sich demnach jährlich um 11.000 reduzieren – das entspricht mehr als 30 pro Tag. Wird die Verringerung von Gewalt im selben Ausmaß auf den Rest der Weltbevölkerung übertragen, würde das zu einem so friedlichen Planeten führen, dass wir Mühe hätten, ihn als den unseren zu erkennen.

»Täter wie sie; Täter wie wir« Wir erliegen oft der Versuchung, biologische Faktoren wie Testosteron dafür verantwortlich zu machen, dass Männer so viel gewalttätiger als Frauen sind. Wissenschaftliche Studien zu den biologischen Korrelaten von Gewalt haben bisher aber nur dürftige Belege für diese Hypothese geliefert, die letztlich auch durch den bloßen Umstand widerlegt werden kann, dass die überwiegende Mehrheit aller Männer nicht gewalttätig ist. Forschungsprojekte zu psycholo-

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gischen Faktoren haben sich in diesem Fall als viel erfolgreicher erwiesen. Fast alle gewalttätigen Männer halten an toxischen Definitionen von Maskulinität fest, die auch von ihren männlichen Freunden und Bekannten, sowie von der Mehrheitskultur vertreten werden. In Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt – Vergewaltigung, häusliche Gewalt etc. – beinhalten diese Maskulinitätsdefinitionen eine besonders hohe Dosis an Dominanz und Frauenhass. Diese Haltungen lassen sich nicht auf irgendwelche hormonelle oder neurologische Gründe zurückführen. Diese Haltungen wurden erlernt, und das heißt, dass sie erstens wieder »verlernt« werden können, und dass wir zweitens den zukünftigen Generationen von Buben und Männern eine gesündere Version von Maskulinität näherbringen können. Wir können ihnen zeigen, wie sie die Anzeichen von toxischer Maskulinität erkennen und bekämpfen können, und wie diese Maskulinität ihre Lebensziele gefährden und/oder ihnen selbst oder anderen Menschen Schaden zufügen kann. Eine Konversation, die noch schwieriger zu führen ist als jene über »Opfer wie wir; Opfer wie sie« – also die Identifikation mit dem Opfer –, betrifft das Thema »Täter wie sie; Täter wie wir«. In hochgradig individualisierten Gesellschaften wie jenen Amerikas und Westeuropas gelten alle GewaltverbrecherInnen grundsätzlich als »Täter wie sie«. Jede Manifestation der Gewalt wird ausschließlich als Produkt einer individuellen Pathologie angesehen, anstatt sie immer auch als Produkt einer Kultur zu erkennen, an der wir alle teilnehmen. Die Kultur der Vereinigten Staaten akzeptiert Gewalt in Sport und Medien, sowie Hypermaskulinität und gewisse Formen der Drangsalierung bzw. des Mobbings. Letztere Praktiken finden sich heute vor allem in »Reality TV«Sendungen, wo untalentierte BewerberInnen oft von JurorInnen beschämt und verspottet werden, oder wo BewerberInnen gezwungen werden, im Namen eines »Spiels« erniedrigende oder widerliche Dinge zu tun, wie z.B. Würmer zu essen. Der ideologische Konsens, der mittels dieser kulturellen Formen produziert wird, suggeriert, dass es durchaus zulässig ist, andere Menschen zu dehumanisieren und ihnen Schmerzen zuzufügen. In beliebten gewalttägigen Videospielen wie Grand Theft Auto ist die Gewalt partizipativ anstatt nachempfunden. Anzumerken hierbei ist, dass dieses Spiel auch durch eine sehr stark sexistische Bildsprache gekennzeichnet ist. Gleich häufig sind mediale Darstellungen von berechtigter oder legitimer Gewalt, wobei die »guten« Charaktere (z.B. die Polizei) durch Gewaltanwendung Kriminelle fassen oder an »bösen« Charakteren Rache üben. Solche Narrative suggerieren, dass Gewalt eine akzeptable und erfolgreiche Strategie zur Lösung diverser Probleme sein kann, und sind somit vielleicht sogar noch schädlicher als »Schurkengewalt«, da sie zur Identifikation mit dem Aggressor einladen. Aber »der Schurke ist der Held seiner eigenen Geschichte«. Nur sehr wenige GewalttäterInnen betrachten ihre Taten als unmoralisch und ungerechtfertigt, und Menschen, die sich häufig gewalttätige Polizeidramen ansehen, wenden

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statistisch gesehen öfter als andere Menschen Gewalt gegen ihre PartnerInnen an. Männer, die ihnen bekannte Frauen vergewaltigen, rechtfertigen ihre Gewaltakte oft dadurch, dass sie sich emotional von den Erfahrungen ihrer Opfer distanzieren, oder dass sie ihre Akte überhaupt als nicht gewalttätig definieren, sondern als Verführung und Sex. Nachdem Männer bei weitem die Mehrzahl aller Gewaltakte begehen, müssen wir lernen, gewalttätige Kriminelle als »Täter wie wir« zu betrachten, d.h. als Individuen, die an einer hypermaskulinen Kultur teilnehmen, aber immer auch die Wahl haben, nicht an dieser Kultur teilzunehmen. Gewaltverbrecher sind also nicht als kulturelle Rebellen zu verstehen, sondern als Überkonformisten innerhalb einer Kultur der Hypermaskulinität.

Lösungen Lösungsansätze zu geschlechtsspezifischen Gewaltproblemen, vor allem dem Problem der Gewalt gegen Frauen, betreffen viele Prozesse auf rechtlichen, erzieherischen, politischen, ökonomischen, aktivistischen und strafrechtlichen Feldern. Jeder dieser Prozesse muss sich aus dem Bewusstsein heraus entfalten, dass es sich um ein Männerproblem handelt, und dass es Männern obliegt, Abhilfe zu schaffen und vorzubeugen. Warum waren »gute« Männer, d.h. die überwiegende Mehrzahl der Männer, die ja nicht gewalttätig sind, bisher so zögerlich dabei, ihren Beitrag zu diversen Anstrengungen zur geschlechtsspezifischen Gewaltvermeidung zu leisten? Warum haben Männer in Machtpositionen – Politiker, Manager, Medienleute und reiche Männer – zu diesem Thema so wenig zu sagen, und warum weigern sie sich, ihren gesellschaftlichen Einfluss dazu zu nutzen, geschlechtsspezifische Gewalt öffentlich zu thematisieren? Die meisten Männer wollen nicht, dass andere Männer Frauen Gewalt antun, und daher muss sie ein gewisser Konflikt davon abhalten, an globalen Lösungen mitzuwirken, d.h. sich nicht nur damit zufriedenzugeben, dass sie selbst nicht solche Gewaltakte begehen. Ich bin der Ansicht, dass dieser Konflikt darin besteht, dass wir uns immer erst unsere eigene privilegierte Position, unseren eigenen Sexismus bewusst machen müssen, bevor wir überhaupt einen nachhaltigen Beitrag zur Lösung des Problems leisten können. Wir müssen uns als Männer vor Augen halten, dass wir von einem System profitieren, das Frauen benachteiligt. Die Dominanz von Männern-als-Gruppe über Frauen-als-Gruppe wird dadurch bestätigt und verstärkt, dass manche Männer Frauen Gewalt antun während andere Männer solche Gewaltakte nur auf individualistische, nicht-geschlechtsspezifische Faktoren zurückführen, oder sogar bestreiten, dass dieses Gewaltproblem existiert. Vor einigen Jahren ereignete sich eine Serie von Vergewaltigungen durch Fremde in einer großen US-amerikanischen Universitätsstadt. Als Reaktion darauf begannen die Mitglieder einer männlichen Studentenverbindung, die

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betroffene Umgebung zu patrouillieren, mit dem Ziel, den Vergewaltiger (einen »Täter wie sie«) zu fassen. Sie zeigten jedoch keine Bereitschaft dazu, sich über das massive Problem der Vergewaltigung durch Bekannte auf amerikanischen Universitätsgeländen zu informieren, wobei Mitglieder von Studentenverbindungen (»Täter wie wir«) viel häufiger als Gewalttäter in Erscheinung treten als Männer aus anderen Bevölkerungsschichten. Das soll nun nicht heißen, dass die meisten Studenten, die einer solchen Verbindung angehören, Frauen sexuell belästigen – die überwiegende Mehrheit unter ihnen tut dies nicht. Andererseits tragen viele von ihnen z.B. in Gesprächen mit anderen Männern zur Herabwürdigung von Frauen bei; sie billigen oder dulden es stillschweigend, wenn jemand behauptet, es sei zulässig, sich Frauen mittels Alkohol gefügig zu machen; oder sie verabsäumen es, sexistische oder sexuelle Gewalt verharmlosende Männer zur Rede zu stellen. Sobald wir uns eines gesellschaftlichen Problems bewusst sind, tragen wir Verantwortung dafür, es in unserem täglichen Leben zu bekämpfen. Wenn wir Männer erkennen, dass wir Teil des Problems sind, wenn wir den Erfahrungen von Frauen keine Beachtung schenken, oder wenn wir aus Angst vor Repressalien den Sexismus anderer Männer nicht aufzeigen bzw. wenn wir diesem Sexismus sogar Vorschub leisten, dann zeugt das von einem moralischen Dilemma, das aber vermeidbar ist, wenn wir unser Verhalten nicht bewusst in einen moralischen, sondern einen sozialen Geltungsbereich stellen. Die Nichtzulassung eines solchen kritischen Bewusstseins ist eine häufig verwendete Strategie, die der Flucht vor der Verantwortung dient. Dies geschieht jedes Mal, wenn Männer z.B. geschlechtsspezifische Gewalt als »Frauenangelegenheit« betrachten, oder wenn sie nicht in der Lage sind, solche Gewalt im Kontext eines hypermaskulinen und sexistischen Systems zu verorten, das Männer-als-Gruppe mit einem großen Maß an Macht ausstattet. Wenn individuelle Charakterschwächen als Ursache von Gewalt angesehen werden, dann erscheinen Haftstrafen als die einzige Lösung. Wenn das Problem als ein moralisches erscheint, dann wäre moralische Erziehung ein Ausweg. Ich spreche mich natürlich für beide Ansätze aus, aber wenn Gender, Machtungleichheiten und Respektlosigkeit das Problem bilden, dann liegt die Lösung darin, die Formierung von Geschlechterbewusstsein, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Kultivierung einer respektvollen Grundhaltung gegenüber allen Menschen anzustreben. Vielen Männern erscheint die Gleichberechtigung der Geschlechter zwangsläufig als Bedrohung ihrer/unserer Macht. Doch Macht ist kein Nullsummenspiel. Wenn Frauen gewinnen, müssen Männer nicht unbedingt verlieren. Im Gegenteil: eine gesündere Vision von Maskulinität würde uns allen ein längeres und erfüllteres Leben ermöglichen. Genauso wie Weiße eine Sonderrolle in der Bekämpfung von Rassismus spielen müssen, Heterosexuelle eine Sonderrolle in der Bekämpfung von Homophobie, und Reiche in der Bekämpfung von Armut, müssen Männer an

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vorderster Front gegen Sexismus auftreten, sowie gegen dessen destruktivstes Nebenprodukt: Gewalt gegen Frauen. Aus dem Englischen übersetzt durch Gerwin Gallob.

A NMERKUNGEN 1 | Das Ausmaß dieser Verschiebung schwankt von Umfrage zu Umfrage (Pollingreport. com, o.J.).

L ITER ATUR FBI Uniform Crime Reports, 2001 bis 2007 (o.J.): www.fbi.gov/ucr/ucr.htm, abgefragt am 5. Jänner 2009. Glick, Peter (2005): »Ambivalent gender ideologies and perceptions of the legitimacy and stability of gender hierarchy«. Vortrag gehalten auf dem Symposium »New weave sexism research – Tangled webs of feminism, romance, and inequality« (S. T. Fiske, Vorsitzende). Annual Convention of the American Psychological Association, Washington, D.C. Murphy, Wendy (2008): »By Any Other Name, It’s Still Rape: Calling Sex Crimes ›Statutory Rape‹ or ›Molesting‹ Diminishes the Severity of the Crime«. In: Patriot Ledger online, 23. Februar 2008, www.patriotledger.com/opinions/ x2134288245, abgefragt am 6. Jänner 2009. »Nation in Brief«. In: The Washington Post, 2. Oktober 2006, A3. Pollingreport.com (o.J.): »President Bush: Job Ratings«. www.pollingreport. com/BushJob1.htm, abgefragt am 5. Jänner 2009.

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A LPHAMÄDCHEN , F-K L ASSE UND GERMANISCHE E MANZEN 1 − ZUM »W IR « DER NEUEN DEUTSCHEN F EMINISMEN Kirstin Mertlitsch

Einleitung Seit etwa Mitte dieses Jahrzehnts werden auf einer medialen Ebene, im deutschsprachigen Raum, neue Feminismen bzw. feministische »Wir’s« performativ konstituiert. Das erstaunt umso mehr, weil »der« Feminismus einerseits immer wieder totgesagt wurde (Hark/Kerner 2007) und andererseits, weil das »F-Wort«2 im Mediendiskurs bislang als Schimpfwort galt. Im Folgenden soll exemplarisch an Hand von sieben Sachbüchern und rund einem Dutzend Zeitschriftenartikel untersucht werden, welche feministischen »Wir’s« in der neuen »Frauenemanzipationswelle« der deutschen Medien konstituiert werden. Auffallend ist, dass die neuen Feminismen gerade in der Zeit in Erscheinung treten, in der kulturelle Konflikte bzw. Unterschiede vermehrt über Geschlechterverhältnisse bzw. die Frage der Frauen-Emanzipation (z.B. Kopftuchdebatte) ausgetragen werden. Was bedeuten die neuen Feminismen? Und in welchem Zusammenhang stehen sie mit kulturellen Dimensionen von Konflikten? Einleitend werden die neuen Feminismen im Überblick vorgestellt und dann, entlang der Frage nach deren feministischen Selbstverständnis analysiert. Dabei wird die Idee einer »vorgestellten Gemeinschaft« (imagined community) unter der Perspektive der Intersektionalitäten, also der Verflechtung verschiedener sozialer Kategorien (gender, race, class etc.), ein leitendes Motiv sein. Die jeweiligen Feminismen lassen sich als Bewegung oder Theorien allein als ein Gebilde von mehreren Personen denken, die gemeinsame Ziele und Wertevorstellungen teilen. Die verschiedenen (emanzipatorischen) Beweggründe lassen auf die Bedeutungen und Codes, die die neuen Feminismen innerhalb der medialen Debatte um kulturelle Konflikte einnehmen, schließen.

Neue (mediale) Feminismen – ein Überblick »Wir brauchen einen neuen Feminismus« (2006), spätestens seit dieser performativen Überschrift eines Artikels der Wochenzeitschrift »Die Zeit«, zu der ein Dutzend in der Öffentlichkeit stehenden Frauen sich äußersten, kann von einer heftigen Auseinandersetzung über neue Feminismen3 in den deutschsprachigen Medien gesprochen werden. Dabei wird die mediale Diskussion von Sachbüchern wie »Wir Alphamädchen« (2008), »Die neue F-Klasse« (2007), »Schwestern« (2007), »Neue deutsche Mädchen« (2008) etc. unterstützt, die oft ebenso von Journalistinnen verfasst wurden. Mit dem Phänomen eines neuen Feminismus setzten sich zunehmend auch WissenschafterInnen auseinander, zuletzt

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widmeten die Feministische Studien (26. Jahrgang, 2008) eine ganze Ausgabe diesem Thema. Die Wissenschafterinnen Frigga Haug und Elisabeth Klaus haben jeweils sehr detaillierte Überblicke und Interpretationen zu den medialen Debatten gegeben (vgl. Haug 2008 und Klaus, 2008), die ich hier heranziehe, um Einblicke in die Diskussionen zu geben. Die medialen Auseinandersetzungen um einen neuen Feminismus werden erstens begleitet von einem totgesagten Feminismus, so Haug, der in seiner Dialektik wiederum erst dessen Lebendigkeit bezeugt und zweitens von Aussagen von AntifeministInnen, die befürchten, dass nun mehr Frauen Spitzenpositionen einnehmen und Männer ihre Macht verlieren. In den medial geführten Diskussionen machen die beiden Wissenschafterinnen drei Formen von neuen Feminismen aus: den Elitefeminismus, die mütterzentrierte Debatte und einen konservativen Feminismus4 . Haug spricht von einem Elitefeminismus, der vor allem geprägt ist durch Thea Dorns Buch »Die neue F-Klasse«. Das Wortspiel F-Klasse impliziert in seiner Vieldeutigkeit (Feminismus und Frauen) v.a., dass es sich hier um »Klasse-Frauen« handelt, die einer Elite und Oberschicht angehören: »Dorn wählt den Namen, den die Elite der Mercedeswagen trägt, um zugleich den Anspruch auf Oberklasse zu markieren und zeitgeistig im Slang zu sein, die verschiedenen smockigen Generationsnamen (Golf, Berlin oder Ally) noch einmal zu überbieten. ›Solange sich die Jungs der Generation Golf bei ihrem Lebensmodell an einem Wagen der unteren Mittelklasse orientieren, sollten die Frauen nach anderen Sternen greifen.‹ (2006: 37f.) Nun eben nach dem Mercedes-Stern. Ruchlos spielt sie mit der Mehrdeutigkeit der Worte: An die Stelle von sozialistischen Klassenkampf und Feminismus setzt sie den ›Klassenkampf‹, an die Stelle des Kollektivs, Einzelne, Frauen der ›Extraklasse‹, eben ›Klasse-Frauen‹« (Haug 2008: 14).

»Mütterzentrierung« gilt als weiterer Aspekt der neuen Feminismen. Zwar wurde Mutterschaft von Anbeginn im Feminismus thematisiert (beispielsweise in der Kinderladenbewegung5), jedoch wird dieses Thema nun vom konservativen bis zum rechtsextremen Spektrum auf den Feminismus bezogen6. Ausgelöst wurde diese Debatte nicht zuletzt durch die Fernsehmoderatorin Eva Herman, die den Feminismus als Übel und tieferen Grund für das ausbleibende Bevölkerungswachstum in Deutschland sieht (vgl. Herman 2006).7 Die Bezeichnung konservativer Feminismus wird mit der deutschen Familienministerin von der Leyen in Verbindung gebracht. Die Grenzen zwischen den mütterzentrierten (rechten) und konservativen Haltungen, sowie zwischen den konservativen und den elitären Haltungen sind fließend. Jedoch vertritt der konservative Feminismus eine Gleichheitsposition und tritt v.a. für die Vereinbarkeitsthematik von Familie und Beruf ein. Frauen, meist aus der Mittelschicht, soll durch mehr Kinderbetreuungsplätze weiterhin die Berufstätigkeit ermöglicht werden.

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Die vorgestellten feministischen Gemeinschaften Das Konzept der »vorgestellten Gemeinschaft« (imagined community) des Politikwissenschafters Benedict Anderson kann Aufschluss darüber geben, welche Gemeinsamkeiten die jeweiligen neuen Feminismen miteinander verbinden, welche Emanzipationsmotive sie verfolgen und gegen wen sich das feministische »Wir« abgrenzt. Der Prozess der Vergemeinschaftung macht Zugehörigkeiten sichtbar und lässt implizit erkennen, wer als »die Anderen«, auch im Sinne des »Othering«, ausgeschlossen wird. Unter »Othering« wird eine »Wir«-»Ihr« Konstruktion verstanden, wobei das »Ihr« für ein vermeintlich Anderes steht, das »im Gegensatz zum »Wir« als weniger emanzipiert, aufgeklärt und tolerant, demokratisch, gebildet etc. gedacht wird« (vgl. Czollek/Weinbach 2008: 64). Anderson wendet die Idee der »vorgestellten Gemeinschaft« auf das Phänomen der Nation an. Er schreibt, dass, obwohl die Mitglieder einer Nation einander niemals kennen lernen werden, bei den einzelnen BürgerInnen die Vorstellung einer Gemeinschaft besteht. So bezeichnet er alle Gemeinschaften, die größer sind als dörfliche, als »imagined communities« (vgl. Anderson 2005: 16-17). Nationalismus bedeutet nicht »das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein«, sondern »man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab«. (Anderson 2005: 16 zitiert Gellner 1964: 169). Bei der Nationsbildung werden identitätsstiftende Faktoren wie Sprache, Literatur oder Herkunft wirksam. Anderson argumentiert: »Schließlich wird die Nation als Gemeinschaft vorgestellt, weil sie unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als »kameradschaftlicher« Verbund von Gleichen verstanden wird. Es war diese Brüderlichkeit, die es in den letzten zwei Jahrhunderten möglich gemacht hat, dass Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind« (Anderson 2005: 17).

Wendet man das Konzept der »imagined community« auf ein feministisches »Wir« an, so hat in der zweiten Frauenbewegung und in den feministischen Theorien längere Zeit die feministische Vergemeinschaftung in den Begriffen Schwesternschaft, Solidarität oder eines gemeinsamen Opferbegriffs Ausdruck gefunden. Zwar hat es seit Anbeginn der zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren verschiedene feministische Strömungen innerhalb der Frauenpolitik gegeben (marxistische, liberale etc.), jedoch schien es für die einzelnen feministischen Positionen selbstverständlich zu sein, für alle Frauen zu sprechen. Die Vorstellung, dass Frauen weltweit gleichermaßen Opfer von patriarchalen Verhältnissen sind, hat dazu beigetragen, an ein imaginiertes weibliches Kollektiv zu appellieren. Die »Women of Color« haben diese Annahme als ethno- und eurozentrischen Feminismus kritisiert, weil Frauen weltweit je nach

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Kontext von unterschiedlichen (geschlechtlichen) Diskriminierungen betroffen sind, die miteinander nicht in eins zu setzen sind. Trotz aller Kritik am feministischen »Wir« besteht für Gudrun-Axeli Knapp nach wie vor eine »vorgestellte Gemeinschaft« (im Sinne von Anderson) von Feministinnen, die aber durch Widerstand gegen mangelnde Anerkennung, Marginalisierung, Ungleichheit und sexistische Gewalt miteinander verbunden sind (Knapp 2003: 243). Dazu schreibt Knapp: »Meine These ist, dass dieses vergemeinschaftende ›Wir‹ den Horizont einer politisierten Zuwendung zum eigenen Geschlecht formuliert, die sich aus Widerstand speist. Es wirkt in der Weise einer regulativen Idee und basiert auf Formen der Eigenliebe, die sich bildet und artikuliert im Aufbegehren gegen mangelnde kulturelle Wertschätzung, versagte Anerkennung, Marginalisierung, Ungleichheit und sexistische Gewalt« (Knapp 2003: 243).

Auffallend ist, dass die neuen Feminismen für sich jeweils wieder ein »Wir« beanspruchen (»Wir-Alphamädchen«, »Schwestern« etc.), jedoch nicht für alle Frauen sprechen. Der so genannte »Spartenfeminismus« (Hark 2007), der sich für spezifische Frauengruppen einsetzt, markiert vermutlich einen gravierenden Unterschied zwischen »neuen« und »alten«8 Feminismen. Mit dem Konzept der »vorgestellten Gemeinschaft« lässt sich im Folgenden zeigen, dass die neuen Feminismen (konservativer, mütterzentrierter und elitärer Feminismus) sich an spezifische Frauengruppen wenden, die sich durch ihre geteilten Interessen und Ziele als »Wir« erfahren. Die Spaltung in »Wir« (z.B. Wir-Alphamädchen etc.) und »die Anderen« produziert Ein- und Ausschlüsse, und letztlich Hierarchien zwischen den Frauen. Mittels der Perspektive der Intersektionalität, die die Verschränkung verschiedener sozialer Ungleichheitsfaktoren, beispielsweise Geschlecht und Herkunft, in den Blick nimmt, kann deutlich gemacht werden welche Machtverhältnisse auch innerhalb von Frauengruppen bestehen. Ich werde versuchen, entlang der Achsen der Differenz 1. Herkunft/Nation/Staatsbürgerschaft 2. sexueller Orientierung/Lebensformen 3. Klasse/Schicht deutlich zu machen, wie Über- und Unterordnungen zwischen Frauen hergestellt werden, die letztlich als Argumente zur Stärkung der eigenen kulturellen Dominanz dienen.

»Familie macht glücklich«: Anti- und konser vative Feminismen Der Bestseller »Das Eva Prinzip« (2007) der Fernsehmoderatorin Eva Herman hat die medialen Debatten zu neuen Feminismen ausgelöst. Herman ist eine Vertreterin von Antifeministischen Positionen10, die hier mitthematisiert werden, weil diese sich oft vom konservativen Feminismus kaum unterscheiden. In ihrer Argumentation macht sie den Feminismus für den Geburtenrückgang in Deutschland verantwortlich. Sie schreibt, dass deutsche Frauen kaum noch Kin-

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der bekommen: »Nicht vorstellbar, aber wahr – in wenigen Jahrzehnten wird unsere Gesellschaft auf erschreckende Weise überaltert sein, junge Menschen werden lange suchen müssen, um ihresgleichen zwischen all den Greisen zu finden« (Cicero 5/2006). Das Fazit von Herman ist, dass »wir aussterben«, und daran ist hauptsächlich der Feminismus schuld; »die Politik kann sich bereits jetzt herzlich bei den Frauenrechtlerinnen bedanken.« Herman teilt ihre Meinung mit der rechten Politikerin Barbara Rosenkranz, die die Frauenbeauftragten, das Gender Mainstreaming und die EU für den Geburtenrückgang in Österreich verantwortlich macht. Rosenkranz kritisiert die Frauenbeauftragten, die im Sinne der EU die Erhöhung der Beschäftigungspolitik (Barcelona Ziel) auch von Frauen vorantreiben wollen: »Ihr höchstes Interesse gilt der Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen, »ob die Frauen Kinder haben oder nicht, spielt hierbei eine eher untergeordnete Rolle.« Begründet wird diese Haltung, die ganz im Gegensatz zu den Wünschen der Betroffenen steht, mit der Unabhängigkeit, der finanziellen Absicherung und der Chance auf soziale Kontakte, die Frauen ihrer Meinung nach nur durch Beschäftigung erreichen können« (Rosenkranz 2008: 19). AntifeministInnen wie Barbara Rosenkranz und Eva Herman setzen Frauenpolitik mit Themen der Familie und Mutterschaft gleich. Zentral in ihrer Argumentation ist, dass durch die irreführenden Geschlechterpolitiken des Feminismus und Gender Mainstreamings die einheimische Bevölkerung zunehmend im Schwinden begriffen ist. Die Autonomie und Selbstverwirklichung von emanzipierten Frauen stellen Werte wie »Familie« ins Hintertreffen und Frauen würden allein auf den eigenen Vorteil bedacht sein. Der Egoismus emanzipierter Frauen führe, nach Herman, zur »fehlenden Bemutterung«, zu »geschiedenen Ehen« und nicht zuletzt zu »verhaltensauffälligen Benehmen« von Kindern. Kritisiert wird v.a. die Berufstätigkeit von Frauen, die zur Konsequenz hat, dass Kinder zunehmend in Kinderbetreuungseinrichtungen in so genannter »Fremdbetreuung« aufwachsen. Die Ansätze einer emanzipierten Geschlechterpolitik werden von AntifeministInnen als widernatürlich ausgelegt: »Seit einigen Jahrzehnten verstoßen wir Frauen zunehmend gegen jene Gesetze, die das Überleben unserer menschlichen Spezies einst gesichert haben. Wir missachten sie, weil wir glauben, uns selbst verwirklichen zu müssen und mindestens genauso gut zu sein wie Männer« (Cicero 5/2006). AntifeministInnen argumentieren also, dass Feminismus und Gender Mainstreaming sich gegen die natürliche Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau wenden (auch gegen den Schöpfungsauftrag) und bezeichnen die Geschlechterpolitiken als »politische Geschlechtsumwandlung« (Zastrow 2006), oder als »Weg zum geschlechtslosen Menschen« (Rosenkranz 2008). Die Kritik richtet sich implizit auch an gut-bürgerliche Frauen der Mittelschicht, die Beruf und Familie vereinbaren wollen, und die entscheiden können, ob sie berufstätig sind (unterpriveligierte Frauen haben aus ökonomischen Gründen oft keine Wahl-

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möglichkeit). Ihr Wir-Begriff ist dabei nicht einheitlich, sondern versteht sich einmal als »Wir« der Deutschen, dass mit dem »Wir« der menschlichen Spezies gleichgesetzt wird, und als »Wir« deutscher Frauen, die ihren Schöpfungsauftrag nicht erfüllen wollen. Der Übergang vom Anti- zum konservativen Feminismus ist oft fließend. Beide Positionen verstehen unter Frauenpolitik die Konzentration auf Mutterschaft und Familie. Ihre Wertehaltungen divergieren jedoch in einigen Punkten. Einer der entscheidensten Unterschiede dürfte darin liegen, welche Ziele und Wertehaltungen die gemeinsame Frauenpolitik implizit verfolgt. Die CDUPolitikerin von der Leyen versteht unter konservativem Feminismus Werte in einer modernen Welt zu erhalten: »…die Werte der Verantwortungsübernahme für andere, der Verlässlichkeit untereinander. Aber bitte auf Augenhöhe! Das heißt, dass die Kindererziehung, die Verantwortung für das Einkommen, aber auch die Pflege der alten Eltern eine gemeinsame Aufgabe ist« (FAZ.NET 2007). Unter konservativem Feminismus fasst von der Leyen gleich mehrere Aspekte: Zum einen ist ihre Position geprägt von einer christlichen Wertehaltung (Familie, Ehe, Heterosexualität etc.), zum anderen möchte sie Beruf und Familie für Frauen vereinbaren. Hier widerspricht sich von der Leyen, weil sie einerseits von Frauen und Männern gleichermaßen die Betreuung und Pflege von Verwandten fordert, zum anderen jedoch die Vereinbarkeitsfrage alleine mit Frauenförderung in Verbindung bringt. Damit wird deutlich, dass die eigentliche Verantwortung für die Kinderbetreuung bei den Frauen liegt. Silvana Koch-Mehrin, FDP Politikerin und EU-Abgeordnete, teilt mit von der Leyen die Forderung nach mehr Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Vereinbarkeitsfrage trennt die Haltungen der AntifeministInnen von den konservativen Frauenpolitikerinnen. Sie unterscheiden sich auch in ihrer klassensspezifischen Herkunft. Der konservative Feminismus repräsentiert vorwiegend die bürgerlichen Frauen, die nun mehr auch berufstätig sein wollen, jedoch konservative Werte beibehalten. Sie kritisieren die Haltung der Antifeministinnen ihr »FrauSein« alleine auf die Rolle der Mutter zu reduzieren: »Genau dies befürchte ich zurzeit: die Begrenzung der Freiheit für Frauen. Darum will ich mich streiten, darum dieses Buch« (Koch-Mehrin 2007: 15). Im Ideal der konservativen Feministinnen sind Beruf und Familie miteinander vereinbar, wobei unter Beruf oft »Karriere« verstanden wird. Der konservative Feminismus überschneidet sich wiederum in seinen neoliberalen und zum Teil bürgerlichen Haltungen mit einem elitären Feminismus.

Vater, Mutter, Kind – »bearers of the collective« 11 Die Demographiedebatte ist zentraler Ausgangspunkt in der Familien- und Frauenpolitik der Anti-FeministInnen. Dass deutsche Frauen bedingt durch den Feminismus in den Gebärstreik getreten sind, ist den AntifeministInnen

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zufolge fatal, weil sie damit die deutsche Nation und Kultur gefährdet sehen. Sie treten nicht nur für eine verstärkte Mutterschaft ein, sondern vertreten (Lebens-)Konzepte wie Familie, Religion und Heterosexualität, und sie verbinden damit nationale Ziele. Das Volk bzw. die »fiktive Ethnizität« (Balibar 1992), bilden die vorgestellte Gemeinschaft für Anti-FeministInnen. Sie identifizieren sich nur mit jenen Frauen, die sich zur (potentiellen) Mutterschaft im Dienst der Nationserhaltung bestimmt sehen. Vergleicht man die Argumentation von heutigen nationalen Anti-FeministInnen mit der von bürgerlichen Frauen der ersten Frauenbewegung und deren nationalen Flügel, so bestehen erstaunliche Parallelen. Zum einen ging es den nationalen Frauen um die Jahrhundertwende nicht ausschließlich um die Gleichstellung der Geschlechter, sondern v.a. um die Partizipation an nationalen Anliegen.12 Dabei spielen die nationale Erziehung der Kinder zu guten Staatsbürgern sowie die Traditionspflege eine wichtige Rolle. Auch die heutigen nationalen Antifeministinnen vertreten die Auffassung, dass Kinderbetreuung alleinige Aufgabe der Mütter sein muss und nicht von Kinderbetreuungseinrichtungen oder Vätern übernommen werden dürfe. Seit der Jahrhundertwende, so schreibt Ute Planert, wurde die Mutterschaft ein zentrales Motiv der Frauenpolitik im Nationalismus. Die Steigerung der Geburtenrate war nach Planert ein entscheidender Faktor des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes der jeweiligen Nation. Weil das Bevölkerungswachstum ein wichtiger wirtschaftspolitischer Aspekt von Nationen wurde, sind die Regulierung der Demographie und damit auch die Mutterschaft Teil der Politik geworden. Den Geburtenrückgang verstand man beispielsweise als »nationale Gefahr«, und Mutterschaft wurde zur nationalen Pflicht des weiblichen Geschlechts erklärt (vgl. Planert 2004: 33). Die Aussagen von Anti-Feministinnen wie Eva Herman und Co. »wir sterben aus« etc. sind hier frappierend ähnlich. Welchen »Zweck« die Gebährfähigkeit von Frauen in der nationalen Weltanschauung verfolg/ten, beschreibt Ute Planert folgendermaßen: »In der völkischen Weltanschauung, die seit dem wilhelminischen Zeitalter die nationalistische Diskursproduktion zu dominieren begann, kam der Gebärfähigkeit und -bereitschaft der Frauen eine zentrale Bedeutung zu. Ihren Keimzellen entspross in dieser Vorstellungswelt das ›Volk‹, das als Gemeinschaft der Rasse und des Blutes gedacht wurde. Zusammen mit dem Staat als männlicher Domäne bildet ›Volk‹, die deutsche Nation, die zunehmend weniger als Gemeinsamkeit von Kultur und Sprache, denn als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wurde. Frauen saßen so quasi an der Wurzel von ›Rasse‹, ›Staat‹ und ›Nation‹« (Planert 2004: 33).

Der Erhalt der Nation liegt in der Verantwortung von Frauen – auch heute – behaupten die NationalistInnen. Die Gemeinschaft der Anti-FeministInnen wird hier als Nation vorgestellt. Etienne Balibars Ausführungen zu Nation, Volk und

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»Rasse« können den eingeführten Gemeinschaftsbegriff der Anti-feministInnen erhellen: Die »fiktive Ethnizität« ist die durch den Nationalstaat geschaffene Gemeinschaft, die stets »natürlich« erscheint, weil sie durch die Faktoren Sprache und »Rasse« produziert wird. Die Sprachgemeinschaft wird v.a. in Schulen, aber auch in Familien und staatlichen Organen konstituiert. Insgesamt sind Sprachgemeinschaften, im Gegensatz zu rassistischen Gemeinschaften offener, weil sie von allen erlernt werden können. Die »rassische Einheit«, so Balibar, gilt als Ursprung und als historische Kontinuität des Volkes. Der symbolische Kern der »rassischen« Gemeinschaft ist die Genealogie: »Der symbolische Kern der Idee der Rasse (und ihrer demographischen Äquivalente) ist das Schema der Genealogie, d.h. ganz einfach die Idee, dass die Verkettung der Individuen dazu führt, dass jede Generation der anderen eine biologische und geistige Substanz übermittelt und sie gleichzeitig in eine zeitliche Gemeinschaft stellt, die man ›Verwandtschaft‹ nennt. Sobald also die nationale Ideologie die These aufstellt, dass die Individuen, die ein Volk bilden, untereinander verwandt sind (oder einen erweiterten Verwandtschaftskreis bilden sollten), haben wir es mit dem zweiten Modus der Ethnisierung zu tun« (Balibar 1992: 123).

Der konservative Feminismus bietet hingegen nochmals andere Bilder einer vorgestellten Gemeinschaft. Frauen identifizieren sich hier mit Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren und Karriere machen. An die Mutterschaft gekoppelt sind Ehe, Familie und eine gleichberechtigte, partnerschaftliche Beziehung. In dieser vorgestellten Gemeinschaft verschränkt sich ein »fortschrittliches« mit einem »traditionellen« Frauenbild. Der Mythos der Kleinfamilie, wie ihn Dieter Hoffmeister beschreibt, bleibt die hegemoniale gesellschaftliche Lebensweise, trotz zunehmender Pluralisierung von Familienformen: »Der kulturelle Begriff von Familie, verstanden als Sehnsucht, möchte ›unbeweglich halten‹, das heißt die Zeugungseinheit und Gemeinschaft von Mutter, Vater, Kind schützen und erhalten. Der Familie als innerer Repräsentanz der Sehnsucht nach Geborgenheit entspricht die äußere Repräsentanz der Familie, die Einheit von Leib und Dach und Namen als spezifische Gemeinsamkeit, wie sie in die kulturelle Definition der Kernfamilie eingangen ist« (Ley/Borer, 1992: 181, zitiert nach Hoffmeister).

Obwohl konservative Feministinnen sich als »fortschrittliche« Frauen imaginieren, entsprechen ihre Vorstellungen weitestgehend den ihr zugrunde liegenden Normierungen, die Judith Butler als »heterosexuelle Matrix« bezeichnet. Heterosexuelle Matrix bzw. Heteronormativität bedeutet nach Wagenknecht, dass Geschlecht, Sexualität und Begehren zweigeschlechtlich geordnet sind,

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und dass Subjektivität, Lebenspraxis, symbolische Ordnung sowie Gesellschaft durch heterosexuelle Geschlechterverhältnisse strukturiert sind (vgl. Wagenknecht 2007: 17). Die Kleinfamilie als hegemoniale Lebensform, und die Ehe als die dazugehörige Beziehungsform werden durch ein heteronormatives Diktat bestimmt. Die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit teilt den Geschlechtern bestimmte Rollen zu. Frauen, die Mütter sind, sehen es trotz Gleichberechtigung als ihre natürliche Bestimmung an, die Hauptverantwortung für die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tragen. Dies deutet auf die Verinnerlichung von heteronormativen Werten. Das Frauenbild eines konservativen Feminismus entspricht den ökonomischen Rahmenbedingungen in einer postfordistischen Gesellschaft. Das Allein-Ernährermodell, indem Männer eine Familie erhalten, unterstützt und reproduziert durch die Ehe- und Hausfrauen, wird im Neoliberalismus zum Auslaufmodell. Gabriele Winker spricht von einem Zwei-Ernährer-Modell bzw. von Doppelversorgern (Winker 2007: 37). Die ökonomischen Umstände, die oft erfordern, dass beide Elternteile in einer Familie erwerbstätig sind, werden von konservativen Feministinnen als Chancen- und Wahlfreiheit ausgelegt. Der Umstand, dass gegenwärtig oft beide Elternteile berufstätig sein müssen, um eine Familie zu ernähren, kann hier nicht unbedingt auf geschlechterdemokratische Ideale zurückgeführt werden, sondern wurzelt in sozioökonomischen Zwängen. Indem suggeriert wird, dass Frauen zwischen Familie und Berufsleben wählen können oder beide Sphären miteinander vereinbar wären, sprechen »konservative Feministinnen« allein die Frauen der Oberschicht an. (Ministerin von der Leyen, die den Begriff des konservativen Feminismus geprägt hat, versinnbildlicht in ihrer Person selbst die erfolgreiche Karrierefrau und Mutter der upper class.) Die vorgestellte Gemeinschaft der Feministinnen am Beginn der zweiten Frauenbewegung und jene der konservativen Feministinnen heute unterscheiden sich durch die Pluralisierung von Lebensweisen eklatant. Das Alleinernähermodell im Fordismus, das Kleinfamilien- und Ehemodelle voraussetzte, indem beispielsweise Ehefrauen nur mit Zustimmung ihres Ehemannes erwerbstätig sein durften, wurde auch durch rechtliche Rahmenbedingungen die dominante Lebensform. Die dadurch geteilten Erfahrungen von (Ehe-)Frauen bildeten vermutlich eine Basis zur Solidarisierung und Vergemeinschaftung von westlichen Frauen als Feministinnen, um gegen Diskriminierung auch im privaten Bereich anzukämpfen. Die konservativen Feministinnen heute identifizieren sich nur mit einer bestimmten Frauengruppe, deren vorgestellte Gemeinschaft im Ideal der Kleinfamilie liegt, zu deren Erhalt sie nun auch finanziell beitragen können bzw. müssen, und erst sekundär mit Inhalten des Feminismus, die sich mit der Vereinbarkeitsfrage auseinandersetzen.

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Reich und Schön: Elitäre Feminismen Alice Schwarzer gilt als gemeinsame »Gegnerin« der neuen Generation von Alpha-Feministinnen. Sie selbst bezeichnen sich als Mädchen (»Alphamädchen«, »neue deutsche Mädchen«), obwohl sie berufstätige, dreißigjährige Frauen sind. Für den elitären Feminismus steht Beruf und Karriere, die oft gleichgesetzt werden, an zentraler Stelle. Die elitären Feministinnen verbinden die gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen in männerdominierten Berufsfeldern. Das Buch »F-Klasse« der Journalistin und Kriminalautorin Thea Dorn stellt elf erfolgreiche Frauen, deren Berufsspektrum von Rechtsanwältin, TV-Köchin bis zur Weltmeisterin für Eisklettern reichen, vor. Dorn macht in der Einleitung ihres Buches klar, an welche LeserInnen sich ihr Buch richtet bzw. mit welchen sie sich identifiziert. Dezidiert grenzt sie sich vom Feminismus ab, dessen Ruf sie als »schlechter als den der deutschen Bahn« bewertet. Dorn identifiziert sich mit einer jungen, erfolgreichen Generation von Frauen, die sie als »Klasse-Frauen« bezeichnet. Und begründet ihre Haltung: »Denn schließlich diskutiere ich in diesem Buch mit Frauen, die ich für Avantgarde halte. Frauen, die vor dreißig Jahren noch absolute Ausnahmeerscheinungen gewesen wären, jetzt aber – obwohl sie noch immer in der Minderheit sind – anfangen, eine eigene Klasse darzustellen. Warum nicht zugeben, dass es in diesem Buch nicht um Frauensolidarität um jeden Preis geht, sondern um eine bestimmte Klasse von Frauen, die sich allerdings nicht durch priveligierte Herkunft definiert, sondern einzig und allein durch das individuell von ihr Erreichte und Gelebte?« (Dorn 2007: 37)

Das Buch »Neue deutsche Mädchen«, ebenfalls von zwei Journalistinnen als Erfahrungsbericht bzw. autobiographische Schrift verfasst, thematisiert Karrieren und Beziehungen. Jana Hensel und Elisabeth Räther kann man auch zu der so genannten »F-Klasse« zählen, die sich vom »alten« Feminismus einerseits abgrenzen, andererseits auch ihre Benachteiligung als Frauen in einer männlich dominierten Berufswelt kritisieren. Über die Erfahrung der Diskriminierung schreiben sie: »Ich erinnere mich nicht, ob ich an jenem Montagmorgen, als ich dieser Gast sein durfte, weil ein anderer, prominenterer abgesagt hatte, ob ich an jenem Montagmorgen schon wusste, dass auf keinem der übrigen Stühle am schwarzen Tisch je eine Frau gesessen hatte. In der langen Geschichte des Hauses, die beinahe so viele Jahre wie die Bundesrepublik zählte, hatte es keine einzige Frau bis in die Leitungsebene geschafft. Man hielt hier Frauen offensichtlich für dümmer« (Hensel/Räther 2008: 183). Die Reaktionen von Hensel und Räther auf Diskriminierungen im Berufsleben können als feministisch interpretiert werden. Die weiteren Ausführungen zu ihren Lebensstil sind jedoch von feministisch-emanzipatorischen Haltungen weit entfernt. Neben Beruf und Karriere machen Beziehungen und Affären –

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selbstverständlich heterosexuelle – einen großen Teil ihres Lebens aus. Sexualität gilt als wesentlicher Teil ihrer weiblichen Identität und Emanzipation. Dabei fungiert die Serie »Sex and the City«, wie eine Schablone für Hensels und Räthers Lebenskonzept. Die Protagonistinnen der Serie charakterisieren sich durch upper class und Sexaffären. Dass die Serie »Sex and the City« eine starke Identifikation für Frauen darstellt, beschreiben Hensel und Räther folgendermaßen: »Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass es eigentlich gut lief. Das Kabinett der Bundesregierung hat soviel weibliche Mitglieder wie nie zuvor. Sabine Christiansen begann 1998 ihre eigene Talkshow, die eine der erfolgreichsten Fernsehgeschichten werden sollte. Christiane zu Salm wurde Geschäftsführerin von MTV, […] Frauen so schien es konnten alles schaffen, was Männer schaffen, wenn sie es nur wollten. Sie liebten ihre Jobs, wie bisher nur Männer ihre Jobs geliebt haben. In »Sex and the City« hieß es, konnte man nun etwas über das Privatleben dieser überaus erfolgreichen Frauen erfahren. Die Emanzipationsbewegung die in den siebziger Jahren losgezogen war, die gesetzliche und ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen, war angekommen. Zumindest schien es so« (Hensel/Räther 2008: 65).

Hingegen kann das Buch »Wir Alphamädchen« meines Erachtens als ernsthaftes Plädoyer für einen neuen Feminismus gelesen werden. Diese Publikation, ebenfalls von Journalistinnen geschrieben, nimmt starken Bezug auf die zweite Frauenbewegung und ihre Forderungen: Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gleiche Löhne für gleiche Arbeit und Partizipation von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Der Einbezug von Männern und ein partnerschaftliches Miteinander ist eine erstaunlich neue Facette dieses Feminismus. Obwohl die Alphamädchen sich inhaltlich mit feministischen Forderungen und Theorien auseinandergesetzt haben und durchaus herrschaftskritisch sind, zählen sie sich zu den Alpha-»weibchen«. Auch sie fühlen sich jenen Frauen zugehörig, die an der Spitze einer Gesellschaft stehen13 und grenzen sich explizit von unterpriviligierten, weiblichen Minderheiten ab: »Manche werden vielleicht die spezifischen Perspektiven lesbischer Frauen oder etwa Migrantinnen vermissen – weil die ja zum Thema Frauen und Gesellschaft gehören. Doch dieses Buch hat nicht den Anspruch, sämtliche Sichtweisen zu vereinen. Wir wissen, dass nicht alle junge Frauen in Deutschland gleich leben; dass einige in ihrem Privatleben gern auf Männer verzichten können, dass viele aus finanziellen Gründen gar keine Wahl zwischen Kindern und Beruf haben und das Wort »Karriere« dabei eine untergeordnete Rolle spielt. Uns ist auch bewusst, dass Einwanderinnen in diesem Land noch andere Probleme haben, von allein erziehenden Müttern ganz zu schweigen. Wir konzentrieren uns hier allerdings erst einmal auf Themen, die einen Großteil der jungen Frauen, die heute in Deutschland leben, betreffen« (Haaf et al. 2008: 8).

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Upper class und Unternehmerinnen ihrer selbst Die Alphamädchen und F-Klasse-Frauen verbinden die Vorstellung der Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse bzw. Elite. Solidarität zwischen Frauen wird nicht nur nicht praktiziert, sondern dezidiert abgelehnt (vgl. Dorn 2007: 37). Diese upper class Frauen werden als Individualistinnen, die Teil der celebrities (Prominenz) oder »Unternehmerinnen ihrer Selbst« sind, dargestellt. Beide Figuren werde ich näher erläutern. Indem sich die F-Klasse-Frauen einer Elite zugehörig fühlen, trennt sie ihr Klassendenken von anderen Frauen, die zum »Durchschnitt« bzw. zur »breiten Masse« gezählt werden. Der Gemeinschaftsbegriff des elitären Feminismus definiert sich über Klassen- und nicht über Geschlechtszughörigkeit (im Sinne des politischen Subjekts »Frau«). Die Eliteforschung, so Beate Krais, unterscheidet zwischen Leistungs- und Machteliten bzw. politischen Eliten (vgl. Krais 2001: 10). Zu letzteren werden Personen gezählt, die im politischen Raum Führungspositionen besetzen. Leistungseliten, so Beate Krais, charakterisieren sich durch gesellschaftlich definierten Erfolg, den sie sich durch persönliche »Leistung« erworben haben – unabhängig von ihrer Herkunft. (Dabei suggeriert der Begriff der Leistungselite, dass für alle Menschen Chancengleichheit besteht, unabhängig von ihren sozioökonomischen und –kulturellen Umständen.) Die von Thea Dorn porträtierten Frauen sind Teil der Leistungselite, ein Status, den sie sich durch beruflichen Erfolg erarbeitet haben. Nach Beate Krais besteht eine Vielfalt von Spitzeneliten: »Die Spitze der Gesellschaft ist dann nicht eine Spitze, wie etwa bei dem zur Veranschaulichung der Sozialstruktur gerne verwendeten Bild der sozialen Pyramide, es handelt sich vielmehr um eine Vielzahl von Spitzen, um eine bunte Vielfalt von Eliten unterschiedlicher Provenienz. So haben in diesem sozialen Gebirgspanorama viele Platz: Topmodels, Spitzen-Köche, Mitglieder der Regierung, erfolgreiche Manager ebenso wie Mafiosi, Spitzensportlerinnen, herausragende Wissenschaftler, Künstlerinnen, Bischöfe und viele andere mehr« (Krais 2001: 21).

Der Soziologe Hans Peter Dreitzel nennt diese Personen auch FreizeitheldInnen bzw. celebrities. Sie repräsentieren, welche Leistungen gesellschaftlich anerkannt sind und transportieren gleichzeitig die damit verbundenen Werte, Vorstellungen und Ideale mit. Sowohl die Stars aus Film und Fernsehen (z.B. Sex and the City), als auch die in dem Buch F-Klasse porträtierten Frauen verkörpern einerseits Freizeitheldinnen und andererseits die Figur der »Unternehmerin ihrer Selbst«. Der Ausdruck »UnternehmerIn ihrer selbst« wurde von Günther Voß und Hans G. Pongratz geschaffen, und meint, dass der Arbeitskraftunternehmer im Fordismus sich, zum/r Unternehmer/in seiner/ihrer selbst im Postfordismus

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weiterentwickelt haben. Das »Unternehmerische Selbst« wird aus den foucaultschen Gouvermentalitätsstudien abgeleitet, so Bröckling (Bröckling 2002). Im Neoliberalismus regiert und verwaltet das Subjekt sich im Sinne der Disziplinierung selbst. Bisher wurden Menschen nach Foucault durch staatliche Institutionen wie beispielsweise der Schule oder der Kaserne gemaßregelt und diszipliniert. Diese Formen von Disziplinierung sind Regierungstechniken, die sich in die Körper und Psychen von Menschen einschreiben. Im Zeitalter des Neoliberalismus bedarf es keiner äußeren »Disziplinierungsapparate« mehr. Lemke et al. interpretieren die von Foucault analysierte Entwicklung der Disziplinierung von außen, durch staatliche Institutionen, hin zur Verinnerlichung dieser Disziplinierung, folgendermaßen: »Im Rahmen der Gouvermentalitätsanalyse unterscheidet Foucault zwischen Herrschafts- und Selbsttechnologien. Während Herrschaftstechniken auf die Bestimmung des Verhaltens von Individuen zu ihrer Unterwerfung unter Herrschaftszwecke zielen, definieren sich ›Technologien des Selbst‹ darüber, dass sie es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen« (Lemke et al. 2000: 29).

Das Primat der Ökonomie, das vom Staat und seinen Regierungstechniken forciert wird, wird durch neoliberale Subjekte als Selbsttechnologie internalisiert. Das bedeutet, Subjekte wenden betriebswirtschaftliche Normen und Aspekte der Unternehmensführung auf sich selbst an. Die vormals durch die Ökonomie geleiteten Maßstäbe, die von Außen in die Menschen eingewirkt haben, strukturieren nun den psychischen Apparat, wie Lemke et al. beschreiben: »Warum sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsspielräume einzuschränken, wenn sich politische Ziele wesentlich »ökonomischer« mittels individueller Selbstverwirklichung realisieren lassen? Entscheidend ist die Durchsetzung einer autonomen Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkritierien und unternehmerischen Kalkülen besteht« (Lemke et al. 2000: 30).

Sowohl die F-Klasse-Frauen als auch die neuen deutschen Mädchen symbolisieren die »Unternehmerin ihrer selbst« und zum Teil auch die Freizeitheldinnen in ihren Streben, erfolgreich zu sein. Zwar kritisieren sie die männerdominierte Berufswelt v.a. in den Spitzenpositionen, gehen aber letztlich davon aus, dass diese Benachteiligung kein gesellschaftliches, sondern ein individuelles Problem ist. So kann jede Frau heute alles erreichen, wenn sie nur möchte, sofern sie diszipliniert und willens genug ist. Das »Wir« der F-Klasse-Frauen ist also kein

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feministisches, sondern speist sich aus der Identifizierung mit einer elitären Gemeinschaft der herrschenden Klasse.

Resümee Antifeminismen treten im Gegensatz zu den neuen Feminismen offensiv an, um zur eine eigene Dominanzkultur zu etablieren. Doch auch die neuen Feminismen, die v.a. durch die deutschsprachigen Medien performiert werden, werden im Kontext medialer Diskussionen (z.B. Migrationsdebatten) latent zur Etablierung der deutschen Dominanzkultur herangezogen. In diesen Debatten dienen Geschlechterthemen, Feminismus und Emanzipation, so mein Schluss, zunehmend zur Vorherrschaft der eigenen Kultur. Unter Dominanzkultur versteht Birgit Rommelspacher ein Geflecht aus verschiedenen Machtdimensionen und Wechselwirkungen. Sie unterscheidet die Begriffe Macht und Dominanz. Erstere wird durch Gebote und Verbote wirksam, hingegen drückt sich Dominanz implizit durch Strukturen aus und kann nicht eindeutig festgelegt bzw. personifiziert werden. JedeR ist gleichzeitig Subjekt und Objekt von Dominanz, kann also auf der einen Seite diskriminiert werden und auf der anderen Seite selbst diskriminieren: »Das bedeutet, dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind. Eben das ist mit dem Begriff Dominanzkultur gemeint. Wobei hier Kultur in einem umfassenden Sinn verstanden wird, und zwar als Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, insbesondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen, und ihre Geschichte zum Ausdruck kommen« (Rommelspacher 1998: 22).

Indem Antifeminismen ebenso wie die neuen Feminismen auf ihre jeweilige »imagined communities« zurückgeführt werden können, kann gezeigt werden, wie Über- und Unterordnungen, (feministisches) »Wir« und »die Anderen«, zwischen Frauen wirksam werden. Die jeweils identitätsstiftenden Aspekte der Antifeminismen und neuen Feminismen entlang der Achsen der Differenz (1. Herkunft/Nation/Staatsbürgerschaft, 2. sexuelle Orientierung/Lebensweise, 3. Klasse/Schicht), auf denen ihre kollektiven Identitäten basieren, sind gleichzeitig Ausschließungsmechanismen. Sie unterscheiden sich jedoch in der Art und Weise, wie sie Dominanzkulturen und auch Rassismen zum Ausdruck bringen. In den Anti-Feminismen wird die Überlegenheit der eigenen Kultur über die Demographiefrage, d.h. über den Erhalt der eigenen Nation vermittelt, indem unmissverständlich klar wird, dass alleine »Bio-Deutsche« zum Bevölkerungswachstum beitragen können. In ihnen kommt der Rassismus offen durch die Überlegenheit der eigenen Kultur

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und »Rasse« zum Tragen, indem »Frauenanliegen« in den Dienst der nationalen Ziele gestellt werden. Bei den neuen Feminismen hingegen kann von »Meta-Rassismus« (Balibar 1992) gesprochen werden. Darunter wird ein »Rassismus ohne Rassen« verstanden, ein Anspruch auf kulturelle Vorherrschaft, die ihre Autorität damit rechtfertigt, dass sie auf aufklärerischen Werten wie Emanzipation, Toleranz und Demokratie basiert. In den neuen Feminismen gilt Emanzipation nur für bestimmte Frauengruppen, die entweder der deutschsprachigen Kultur bzw. Nation angehören, ihr Ideal in der Kleinfamilie und deren Werten (z.B. Geschlechtersegregation und Heterosexualität) sehen oder als Teil der Oberschicht gelten. Nach Rommelspacher muss daher genau darauf geachtet werden »wo Diskriminierung und Dominanzen gleichzeitig wirksam sind und inwiefern Emanzipation sich immer nur in Bezug auf bestimmte Gruppen in bestimmter Hinsicht realisieren lässt und damit immer auf Kosten von anderen geht« (vgl. Rommelspacher 1998: 37). Ich interpretiere die Debatten um die Konstruktion von neue Feminismen, die gleichzeitig mit der zunehmenden Frage nach der (Un-)Vereinbarkeit von unterschiedlichen Kulturen (z.B. der christlich-abendländischen und muslimischen) auftreten, als implizite Abgrenzung und Abwertung von nicht-westlichen Gesellschaften, im Sinne des Eingangs erwähnten »Othering«, in denen gerade die Frauen-Emanzipation als Maßstab für Demokratie instrumentalisiert wird. Dazu schreibt Birgit Rommelspacher: »Weiterhin gehört es inzwischen zum Selbstverständnis der westlichen Frauen, ein Bewusstsein eigener Freiheit und Emanzipation zu haben, insbesondere im Vergleich zu anderen Kulturen. Dann verstehen sich plötzlich auch Frauen- und Männer – als feministisch, die sonst von Frauenbewegung nichts wissen wollen. Dabei werden auch andere Gesellschaften und Kulturen ausschließlich danach beurteilt, wie sehr sie die Frauen unterdrücken. Damit wird dann auch die Abschottung ihnen gegenüber begründet. So genügt vielen etwa ein Hinweis auf das Kopftuch islamischer Frauen als Begründung dafür, sich generell nicht mehr mit islamischen Angelegenheiten zu befassen. Die Einteilung von Kulturen entsprechend ihrer angeblichen Frauenfeindlichkeit ist zu einer Standardstrategie westlicher Dominanz geworden« (Rommelspacher 1998: 98).

Feminismus und Emanzipation werden hier als Chiffre für westliche Werte verwendet, um nicht-westliche Kulturen (gegenwärtig v.a. muslimische) als unzivilisiert und undemokratisch darzustellen. Das Neue an den neuen Feminismen ist das Bedürfnis sich gegenüber alten Feminismen abzugrenzen, die rückblickend v.a. als Fundamentalkritik an der eigenen Kultur und deren Werte charakterisiert werden. Die neuen Feminismen hingegen verstehen sich demgegenüber als »Verteidigungsstrategie« im Dienste der eigenen Kultur. Im elitären Feminismus kann Frauen-Emanzipation auch als Ausdruck von Dominanzkultur gegenüber unterpriviligierten Frauen verstanden werden. Fe-

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minismus und Emanzipation werden vermehrt mit beruflichen und sozialen Aufstieg von Frauen gleichgesetzt. Der Machtzuwachs von Frauen hat aber, wie Rommelspacher argumentiert, nicht zur Umverteilung von Geschlechterverhältnissen geführt, indem beispielsweise Männer nun vermehrt die (Haus-) Arbeit von Frauen übernehmen, sondern findet auf Kosten von Frauen der unteren Klasse bzw. von Frauen mit anderen ethnischer Herkunft statt. Dazu Birgit Rommelspacher: »Die Frage ist nun, können wir von einer Emanzipation bei den deutschen Frauen sprechen, wenn sie ihren beruflichen Aufstieg vor allem dieser ethnischen Unterschichtung verdanken? Ebenso fragt sich, welche Bedeutung dieser Emanzipationsbegriff hat, wenn er gleichzeitig dazu dient, die ›anderen‹ Frauen an ihrem beruflichen Aufstieg zu hindern. Und schließlich fragt sich, ob und inwiefern ein Zusammenhang zwischen der Tatsache der neuen Hierarchien und der Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen besteht« (Rommelspacher 1998: 172).

Darüber hinaus dürften die Antifeminismen und neuen Feminismen auch eine Antwort auf die Gender- und Queer Debatten sein, die die eindeutigen Geschlechtsidentitäten zunehmend in Frage stellen. War der Feminismusbegriff jahrelang entwertet bis tabuisiert, so verstehe ich die positive Umwertung bzw. die Antifeminismen auch als Abwehr gegen die Pluralisierung von Geschlechteridentitäten, -verhältnissen und -beziehungen und die Infragestellungen von Geschlechternormen. Gerade die Aufrechterhaltung von »Normalität«, die beispielsweise in der Lebensform der »Kleinfamilie« ausgedrückt wird, trotz Vervielfältigung von Lebensweisen, kann als kulturelle Dominanz interpretiert werden. Damit spielen neben den sozialen Kategorien class und race auch die Kategorien sex und gender zentrale Rollen bei der Erhaltung und Stabilisierung von Dominanzkulturen.

A NMERKUNGEN 1 | Vgl. Wutscher 2009: 16-19. 2 | Vgl. Stöcker 2007. 3 | Auf den Unterschied des neuen Feminismus im medialen, deutschen Diskurs und den angloamerikanischen Third Wave Feminisms, kann hier nicht näher eingegangen werden. 4 | M. E. zählen zu den neuen Feminismen auch der so genannte »Popfeminismus« und der »nationale Feminismus«. Bekannt wurde der Popfeminismus v.a. in dieser Debatte durch den Roman und Bestseller »Feuchtgebiete« (2008) von Charlotte Roche. Auch das Buch »Hot Topic« (2007) von Sonja Eismann thematisiert den Popfeminismus. Zu »Nationalen Feminismen« siehe: Wutscher, Irmi (2009): Faschofeminismus.

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Germanische Emanzen fordern einen »Nationalen Feminismus«. In: Anschläge 03/2009, Wien, S. 16-19. 5 | Die Kinderladenbewegung entstand parallel zur zweiten Frauenbewegung und wurde in Berlin beispielsweise vom »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« organisiert. Kinderläden sind selbst verwaltete, alternative, Kindergärten. 6 | Das Verhältnis von so genannten rechten Frauen zum Feminismus umfasst ein Spektrum von antifeministischen, bis zu jenen Positionen, die einen nationalen Feminismus fordern (vgl. Wutscher 2009). 7 | Herman wurde schließlich entlassen, weil sie in einer Talkshow Mütterehrung und Autobahnbau im Faschismus lobte. 8 | Aus den Debatten um die »neuen« Feminismen geht nicht hervor, was unter »alten« Feminismus verstanden wird. Die Sprachwissenschafterin Luise F. Pusch unterscheidet zwischen den Begriffen Frauenbewegung und Feminismus. Für sie wird der Begriff Feminismus v.a. ab der zweiten Frauenbewegung verwendet (vgl. Pusch 1983: 13). 9 | Vgl. Spiegel 31/2007. 10 | Unter antifeministische Positionen könnten auch jene Forderungen von Nationalistinnen und rechts(extremen) Frauen gezählt werden, die einen nationalen Feminismus fordern (vgl. Wutscher 2009). 11 | Den Ausdruck »bearers of the collectives« übernimmt Michiko Mae in ihren Beitrag »Nation, Kultur und Gender« von Kubena Mercer, um die Aufgabe von Frauen in nationalen Gemeinschaften zu verdeutlichen: »Da die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung und der Zugehörigkeit zu einer Nation durch »Hineingeboren-Werden« für nationenbezogene Diskurse von zentraler Bedeutung ist, bekommen die reproduktiven Rollen und Funktionen von Frauen darin einen sehr hohen Stellenwert« (Mae 2004: 623). 12 | Dazu schreibt Ute Planert: »Indem sich die weitaus meisten bürgerlichen Frauen zur Legitimierung ihres Handelns nicht auf die Menschenrechtstradition, sondern auf das Nationalprinzip beriefen, schreiben sie nicht nur das dualistische Geschlechterprinzip fest, sondern trugen auch die dem Nationalismus inhärenten exklusiven und aggressiven Elemente mit, seine nicht notwendig immer sichtbare, aber doch immanente Nähe zu Antisemitismus, nationalen Chauvinismus, Rassismus und Imperialismus« (Planert 2004: 50). 13 | Der Begriff der Alphamädchen wurde erstmals 2007 in einer Reportage der Zeitschrift Spiegel eingeführt, indem erfolgreiche junge Frauen porträtiert wurden. Daher dürfte es kein Zufall sein, dass dieser Buchtitel gewählt wurde, um sich von einer breiten Masse von Frauen abzugrenzen.

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4. Ver-Fremden Z U DIESEM K APITEL Bei der Frage nach den »Kulturellen Dimensionen von Konflikten« im Spannungsfeld von Gender-Race-Class – und v.a. in den nachfolgenden Beiträgen von Nora Räthzel und Mate Ćosić – bilden die Kategorien Das Andere und Das Fremde Knotenpunkte der intersektionalen Friedens- und Geschlechterforschung. Beide Begriffe können als produktive Spannungsfelder gelesen werden. Erst ihre negativen Ausformungen und Konstruktionen führen zu Rassismen, Sexismen, Antisemitismen, Homophobie, Antiziganismen etc., ja, sogar zu Kriegen. Die Begriffe das Andere und das Fremde werden häufig gleichgesetzt. Das Fremde bedeutet jedoch das Unbekannte, das, was wir nicht wissen und uns vorstellen können. Hingegen wird das Andere als etwas verstanden, das nicht gleich ist, das also unterschieden wird. Es besteht damit eine vermeintliche Kenntnis vom Anderen. Daraus folgt, dass beispielsweise das Wort »Fremdenfeindlichkeit« oft zu Unrecht verwendet wird, weil das Fremde als »Unbekanntes« keine Zu- und Beschreibungen erhalten kann, sondern nur das, was man zu kennen glaubt, nämlich das Andere. Das Andere, als Ausgeschlossenes und Ausgegrenztes, hat in der abendländischen Geschichte eine traurige Tradition. So wurden Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu Anderen gemacht, man erinnere sich beispielsweise an Freuds Charakterisierung der Frauen als »dunkler Kontinent«. Homosexuelle wurden als »unnatural monster or freak […], a moral failure […], and a sexual pervert« konstruiert (Mate Ćosić zitiert Halperlin 1995: 46). Und wie Edward Said in seinem Buch »Orientalism« schreibt, haben dominante Kulturen die anderen Kulturen wie den Orient erst durch eine bestimmte Form der Repräsentation erschaffen. Die Konstruktion von Menschengruppen oder Kulturen zu Anderen und die damit einhergehende Unterscheidung in ein Wir-Ihr, die mit einer Hierarchisierung und Abwertung des Anderen verbunden ist, wird v.a. in den postkolonialen Theorien als »Othering« bezeichnet:

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»This term was coined by Gayatri Spivak for the process by which imperial discourse creates its ›others‹. Whereas the Other corresponds to the focus of desire or power (the M-Other or Father – or Empire) in relation to which the subject is produced, the other is the excluded or ›mastered‹ subject created by the discourses of power. Othering describes the various ways in which colonial discourse produces its subjects. In Spivak’s explanation, othering is a dialectical process because the colonizing Other is established at the same time as its colonized others are produced as subjects« (Ashroft/Griffiths/ Tiffin 2002: 171).

»Othering« bleibt als Prozess jedoch nicht allein auf postkoloniale Diskurse beschränkt, sondern kann auch auf weitere Diskriminierungsformen auf Grund des Geschlechts, der Sexualität, der Behinderung, des Alters etc. übertragen werden. Aus psychoanalytischer Sicht wird »Othering« zumeist als Abspaltung der eigenen, negativen besetzten Anteile aus dem Seelenleben erklärt, die anschließend beispielsweise auf »Ausländer, Schwule oder Behinderte« projiziert werden, wo sie als Eigenschaften der Anderen wieder erkannt und in ihnen bekämpft werden. In den Texten von Nora Räthzel und Mate Ćosić werden Strategien beschrieben, wie sich Menschen zu »Othering-Prozessen« auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit bzw. Sexualität verhalten und wie sie darauf re-agieren. Nora Räthzels Beitrag gibt Einblicke in eine 2002 bis 2005 in Schweden durchgeführte Studie, in der Jugendliche – v.a. mit migrantischem Hintergrund – bei ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt, befragt wurden. Sie zeigt welchen Diskriminierungen und gesellschaftlichen Benachteiligungen migrantische Jugendliche ausgesetzt sind und welche Taktiken sie entwickeln, um an der Arbeitswelt teilzuhaben: »sie distanzieren sich von der Kategorie der Einwanderer, bemühen sich mehr als andere eine Arbeit zu finden, versuchen, ihre Individualität in den Vordergrund zu stellen und damit Ethnisierungsprozesse zu unterlaufen, oder sie entwickeln Strategien politischen Widerstands« (Räthzel). Mate Ćosić beschreibt in seinem Beitrag beeindruckend die Situation von Homosexuellen in Kroatien – laut den von ihm zitierten Studien haben sich 80,6 Prozent der Homosexuellen nicht geoutet. Er problematisiert, ob und wie Homosexuelle in Kroatien Konzepte westlicher queerer Theorien und Praxen anwenden: das Versteck (»closet«), das »Coming out« und die Affirmation. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Teile dieser Konzepte sich aus geschichtlichen und diskursiven Gründen vom Westen unterscheiden. Beiden Beiträgen ist gemein, dass sie ein eher negatives bis resignierendes Szenario beschreiben, wie auf »Othering-Prozesse« re-agiert wird. Das closet/das Geheimnis im homosexuellen bzw. das Passing, als jemand durchgehen im migrantischen Kontext sind Formen, mit Diskriminierungen, physischer und struktureller Gewalt umzugehen, und sie zeigen gleichzeitig, wie stark nach wie vor Ausgrenzungsprozesse in unterschiedlichen Teilen Europas (Schweden und Kroatien) wirken.

4. V ER - FREMDEN

Beim Lesen der Artikel von Nora Räthzel und Mate Ćosić ist man geneigt, vorschnell die beschriebenen Diskriminierungsproblematiken miteinander zu vergleichen, sie in eins zu setzen und v.a. die emanzipatorischen queeren Konzepte auf die Situation von migrantischen Jugendlichen in Schweden zu übertragen. Dieser Kurzschluss ist aber nicht allein wegen den unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten unzulässig. Das Ringen um die gesellschaftliche Anerkennung kann unterschiedliche Richtungen verfolgen. So kann Anerkennung durch Gleichheit im Sinne des Gleichseins angestrebt werden, oder es geht um Anerkennung des Unterschieds, also darum, als Differente gleich zu sein. Die Bemühungen um Anerkennung (des Anderen) können letztlich jedoch nicht von den schon ohnehin benachteiligten und diskriminierten Gruppen der Gesellschaft ausgehen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie Judith Butler es in ihrem Buch »Die Macht der Geschlechternormen« (2009) – in Bezug auf sexuelle Diskriminierte formuliert, was es für Dominanzkulturen bedeuten könnte, mit der Beunruhigung und Herausforderung leben zu lernen, wenn sich die eigene Wahrnehmung und Erkenntnis verschiebt. Und wie mit der Verunsicherung umgehen, »dem Menschlichen zuzubilligen, etwas anderes zu werden als das, für was man es traditionellerweise hält.« Und weiters schreibt Butler: »Im Namen der Gewaltlosigkeit müssen wir für die Wandlung des Menschlichen offen sein. Wie Adriana Cavarero, Arendt paraphrasierend, deutlich macht, lautet die Frage, die wir dem Anderen stellen, schlicht und unbeantwortbar: Wer bist Du?« (Butler 2009: 63) Ohne den Preis dieser Beunruhigung wird es nicht gelingen können, dem vertraut gewordenen Anderen unvoreingenommen – als Fremden zu begegnen. Der Frage nach dem »Wer bist Du?« geht schließlich das Eingeständnis voraus, den Anderen nicht zu verstehen und genau darin liegt die eigentliche Form der Anerkennung. Kirstin Mertlitsch

L ITER ATUR Ashroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (2002). Post-Colonial Studies. The Key Concepts, Routledge. London und New York. Butler, Judith (2009). Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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M IT DER A NGST K ÄMPFEN , AUF H OFFNUNG BESTEHEN : S TR ATEGIEN JUNGER M IGR ANT I NNEN BEIM E INTRIT T IN DAS SCHWEDISCHE A RBEITSLEBEN Nora Räthzel

Einleitung Die Arbeitsmarktsituation im heutigen Schweden sieht für Jugendliche nicht rosig aus. Unter ihnen sind es vor allem die Jugendlichen mit Migrationshintergrund1, welche die geringste Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben (siehe Anhang 1). Die Zahlen sind bekannt, deshalb ist es hier nicht notwendig, die benachteiligte Situation von Jugendlichen im Allgemeinen und von eingewanderten Jugendlichen (und Erwachsenen) im Speziellen weiter darzulegen (siehe dazu auch Schröder 2000/2003; Vilhelmsson 2000). Umstritten sind dagegen die möglichen Ursachen dieser Situation. Die Theorien, welche die höhere Arbeitslosenrate unter MigrantInnen erklären, sind vielfältig. Manche betonen die vermeintlichen Charakteristika von MigrantInnen wie geringere Qualifikationen oder »schwächere Signale« wenn es um ihre Eignung für Jobs geht. Es wird argumentiert, dass die technologischen Entwicklungen erhöhte Kompetenzen und bessere Qualifikationen erfordern, wohingegen Jobs die geringe Qualifikationen erfordern, also der Großteil von »Migranten-Jobs«, verschwinden (Brommé et al. 2001). Dieses Argument würde jedoch implizieren, dass hochqualifizierte MigrantInnen am Arbeitsmarkt nicht benachteiligt sind, was aber nicht der Fall ist (siehe Behtoui 2004). Einige AutorInnen vertreten die Ansicht, dass strukturelle und institutionelle Diskriminierung die MigrantInnen vom Zutritt zum Arbeitsmarkt abhalten (Höglund 1998; Behtoui 2004). Ökonomische Theorien sprechen von »statistischer Diskriminierung«, und beziehen sich damit auf das mangelnde Wissen der ArbeitgeberInnen hinsichtlich der Qualifikationen von MigrantInnen (Arai et al. 2000/2001). In diesem Beitrag möchte ich nicht diese möglichen Ursachen für die Situation von jungen MigrantInnen am Arbeitsmarkt erörtern. Stattdessen werde ich einige Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt präsentieren, das zwischen 2002 und 2005 in drei schwedischen Städten durchgeführt wurde. Ziel war es, herauszufinden, wie Jugendliche ihren Eintritt in den Arbeitsmarkt erleben2. In diesem Forschungsprojekt wurden über 50 Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund von mir und zwei KollegInnen, Paula Mählck und Hassan Sharif, bei denen ich mich für ihre ausgezeichneten Interviews bedanken will, interviewt3. Da der Fokus dieses Beitrags auf den Erfahrungen mit Rassismus liegt, und der verfügbare Platz beschränkt ist, präsentiere ich hier nur Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass sie die einzigen sind, die vor Schwierigkeiten stehen, wenn sie in den schwedischen Arbeitsmarkt eintreten. Jugendliche haben es insgesamt schwer, einen Job auf

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dem schwedischen Arbeitsmarkt zu finden. Jedoch sind die Bedingungen für eingewanderte Jugendliche aufgrund des existierenden Rassismus andere.

Strategien, mit denen Jugendliche dem Rassismus und den Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt entgegentreten Wie beurteilen eingewanderte Jugendliche ihre Chancen am Arbeitsmarkt? Die erste Antwort auf diese Frage lautet: Sehr unterschiedlich, was aufgrund der Unterschiedlichkeit der Personen, die mit diesem Etikett versehen werden, nicht überraschen sollte. Sie oder ihre Eltern kommen aus über 150 verschiedenen Ländern, sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben und aus verschiedenen Gründen nach Schweden immigriert (oder hier geboren) und kommen aus allen erdenklichen sozialen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturellen und politischen Kontexten. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie und/oder ihre Eltern (oder zumindest ein Elternteil) nicht in Schweden geboren wurden. Sie werden aufgrund dieser Kleinigkeit, eines Geburtsortes, oder eines Geburtsortes der Eltern, in eine homogenisierende Kategorie gepresst. Behouti (2004) zeigt, dass obwohl Leute, die aus Nordwest-europäischen Ländern und Nordamerika kommen, bessere Aussichten auf Arbeit haben als jene, die aus nicht-europäischen Ländern kommen, erstere nicht die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt haben wie Jugendliche, die in Schweden von schwedischen Eltern geboren wurden. Die Verschiedenheit jener Individuen hervorzuheben, die wir mit der Kategorie »Migrationshintergrund« versehen, bietet eine Möglichkeit, der Falle der Homogenisierung zu entgehen, die mit der Benutzung dieser Kategorie einhergehen kann. Was nun folgt, ist ein Versuch, genau das zu tun, indem ich unterschiedliche Strategien diskutiere, die Jugendliche anwenden, um einen Job zu bekommen. Strategien in dem Sinn, wie ich den Begriff hier verwende, sind komplexe Handlungen: Sie sind sowohl das Resultat bewusster Überlegungen und Gefühle, als auch das Resultat unbewusster Gefühle und bewusst und unbewusst wirkender Wertesysteme. Diese Wertesysteme sind Bestandteil des Alltagsverstandes, der sich aus den dominanten, nicht weiter hinterfragten Überzeugungen in einer Gesellschaft, wie aus widerständigen, über sie hinausweisenden Einsichten zusammensetzt. Zum Beispiel handeln Individuen in unserer Gesellschaft auf eine Art und Weise, die es ihnen erlaubt, sich selbst als autonome Subjekte zu sehen, denn das autonome, frei handelnde Subjekt ist eine zentrale Figur westlicher Ideologien. Die Summe individueller Handlungen verknüpft sich zu Strategien, anders gesagt, zu Formen des Umgangs mit einer sozialen Situation, die sich verstehen lassen als je individuelle, gesellschaftlich geformte Lösungsformen eines Problems. Die Lösungsform ist häufig imaginär: Das heißt, sie hilft dem Einzelnen mit einer Situation so umzugehen, dass er/sie handlungsfähig bleibt, ohne dass das Problem selbst gelöst wird. Im Fall von Alltagsras-

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sismus beispielsweise kann das Problem nicht durch individuelle Handlungen gelöst werden. Was Individuen aber tun können, ist eine Form des Umgangs mit Problemen zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht, sich selbst als Subjekte der Situation zu erfahren, anstatt von ihr beherrscht zu werden. Im Verlauf des Artikels wird mein Gebrauch des Begriffs Strategie hoffentlich klarer werden. 1. »Passing« oder: Sind Namen Schall und Rauch? Rafik: Wäre mein Name Björn und nicht Rafik, hätte ich vielleicht einen Job bekommen. Ich habe einen Sommer lang Dinge übers Telefon verkauft und fast jedes Mal wenn ich meinen Namen nannte, legten die auf. Wenn ich aber sagte mein Name wäre Björn oder Daniel hörten sie zu. Ich arbeitete zusammen mit ein paar Immigrantinnen und die verwendeten immer schwedische Namen wie Linda oder Sofia. Einmal rief ich jemanden an und sagte, mein Name ist Rafik und er sagte, was ist das für ein blöder Name, und legte sofort auf. Anna: Also, ich habe schon über eine Namensänderung nachgedacht. Ich habe den griechischen Familiennamen meines Vaters und in letzter Zeit habe ich darüber nachgedacht, ihn zu ändern. Leider gucken die auf deinen Namen, wenn du einen Job suchst, und das ist der Grund, warum ich darüber nachgedacht habe, ihn zu ändern.

Dass Namen ausschlaggebend dafür sind, ob man eine Stelle bekommt, ist mittlerweile in Schweden allgemein bekannt. Als wir die Angestellten in Arbeitsämtern und BeraterInnen in Schulen fragten, ob sie glaubten, dass es eine Gruppe Jugendlicher gäbe, die besondere Schwierigkeiten hätte, eine Stelle zu finden, wurden meistens »andere Namen« als Problem genannt, mit dem junge MigrantInnen zu kämpfen haben. Einfach seinen Namen zu ändern oder sich gleich selbst persönlich vorzustellen, wie ein Berater in einer Schule vorschlug, trägt nicht unbedingt dazu bei, das Rassismusproblem verschwinden zu lassen, wie Ahmed, einer meiner Interviewpartner, erfahren musste. Nachdem er auf zahlreiche Bewerbungen für einen Sommerjob keine Antwort bekommen hatte, beschloss er, es einmal unter einem schwedischen Namen zu versuchen. Er wurde zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen4. Als er sich vorstellte, wurde er als erstes gefragt, warum er einen falschen Namen benutzt hatte. Er erzählte seine Geschichte, aber anstatt Verständnis für sein Handeln zu zeigen, oder seinen Einfallsreichtum und seine Entschlossenheit, einen Job zu finden, zu würdigen, wurde ihm vom Arbeitgeber gesagt, dass er keine »Lügner« in der Firma haben möchte. Solange Rafik und seine Freunde als VerkäuferInnen in einem Callcenter arbeiten, gelingt es ihnen, ihre »wahre« Abstammung zu verbergen, aber es kommt der Tag, an dem sie sich persönlich vorstellen müssen und dann kann es andere Merkmale geben, die enthüllen »wer sie wirklich sind«, das heißt,

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was andere mit ihrem Aussehen assoziieren. Aber selbst wenn sie in der glücklichen Lage sind, keine »sichtbaren« Merkmale zu besitzen, die sie als »anders« hervorheben, ist die Änderung des Namens, wie es die junge Frau mit griechischem Hintergrund in Erwägung zieht, nicht unbedingt eine einfache Lösung. Ein Name, vor allem der Vorname, ist nicht einfach eine oberflächliche Bezeichnung. Er ist Bestandteil der Individualisierung, ist verknüpft mit den ersten sozialen Beziehungen, mit der Art und Weise, wie Familie und Freunde einen sehen und damit mit der Art und Weise, wie man gelernt hat, sich selbst zu sehen. Kurz: Der Name ist Bestandteil der Identität. Es kann auch Bedingungen geben, unter denen jemand all diese Konnotationen loswerden und sich selbst neu erfinden möchte. In diesem Fall kann das Annehmen eines neuen Namens ein Befreiungsakt sein, um das zu erreichen. Aber seinen Namen deshalb zu ändern, weil der dominante Diskurs der Gesellschaft, in der man lebt, ihn mit erniedrigenden Vorstellungen verknüpft, ist eine andere Sache. Das impliziert, dass man sich von Teilen seiner Identität trennen muss, um in einer Gesellschaft akzeptiert zu werden, die ablehnt, wer man ist. Seinen Namen zu ändern, um als schwedisch »durchzugehen« erinnert an die Tradition des »Passing« (Dt.: als etwas/jemand »durchgehen«), die vorwiegend aus dem US-amerikanischen Literaturkontext bekannt ist. Dieser Begriff wurde für Menschen benutzt, die ihre hellere Hautfarbe dazu nutzten wie Weiße zu leben. Damit eng verknüpft sind Vorstellungen von Betrug und Täuschung (siehe dazu z.B. O`Toole 2002; Fabi 2001). Das ist eine typische Anschuldigung innerhalb des rassistischen Diskurses: MigrantInnen passen sich entweder nicht an die Gesellschaft an, dann gelten sie als SeparatistInnen und können nicht akzeptiert werden. Wenn sie sich jedoch anpassen, verbergen sie ihre »wahren« Gedanken und Zugehörigkeiten und integrieren sich nur, um einen Vorteil aus den Privilegien zu ziehen, die den Mitgliedern dieser Gesellschaft angeboten werden. Im 15. Jahrhundert wurden Juden, die von den spanischen »Katholischen Königen« gezwungen worden waren, zum Katholizismus zu konvertieren, als »Marranos« (Portugiesisch für Schwein) bezeichnet, weil sie des geheimen Weiterpraktizierens ihrer Religion bezichtigt wurden. Die Namensänderung lässt sich als Bestandteil einer Strategie verstehen, rassistische Diskriminierung zu vermeiden, ohne den rassistischen Diskurs selbst in Frage zu stellen. 2. Individuelles Heldentum oder widerständige Unterwerfung Djamila: Jugendliche, die hier hergezogen sind als sie noch klein waren, die hier zur Schule gegangen sind und jetzt einen Job suchen, beschweren sich, dass sie keinen Job bekommen weil sie Immigranten sind. Da ist auch was Wahres dran. Es ist schon ein bisschen so, es ist schwieriger einen Job zu finden, wenn man Immigrant ist, als wenn man Schwede ist. Und das liegt an der schwedischen Mentalität oder an der schwedischen Kultur. Ich denke, die haben Angst davor, andere Menschen zu treffen. Und man hört oder sieht etwas über Immigranten und man schmeißt sie alle in einen Topf.

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Aber gleichzeitig denke ich auch, dass Jugendliche nicht genug kämpfen. Sie suchen einen Job und wenn sie dann keinen bekommen denken sie: Ich bekomme keinen Job weil ich Einwanderer bin. Es ist nicht wirklich so. Du musst kämpfen und zeigen, wer du bist. Nicht einfach nur jemand mit einer ethnischen Abstammung, sondern du bist eine Person und du hast, du hast andere Dinge, für die du stehst. Du bist nicht einfach ein Name, sondern viel mehr als das. Ich denke, dass es schwierig ist, Einwanderer zu sein, aber gleichzeitig hängt es auch von jedem Einzelnen ab, wie er in Schweden zurechtkommt.

Man kann dies als eine Gegenstrategie zur Namensänderung begreifen: Statt sich an die gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, versucht Djamila zu zeigen, dass sie mehr und etwas anderes ist als das, was mit ihrem Namen und ihrer ethnischen Herkunft und somit auch mehr als das, was mit beidem durch Konnotationen und diskriminierende Diskurse assoziiert wird. Djamila betont, dass eine Person ihre individuelle Existenz auch dadurch überschreiten kann, indem sie »Dinge repräsentiert«, nicht nur sich selbst. In diesen Aussagen liegt viel Weisheit, und vor allem zeigt Djamila eine feste Entschlossenheit, jene Hürden zu meistern, auf die sie ihrer Meinung nach stoßen wird. Jedoch wird diese Entschlossenheit für einen individualistischen Kampf mobilisiert, der für westliche kapitalistische Gesellschaften typisch ist und sich in dem Sprichwort spiegelt: »jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«. Djamila schafft sich die Ressourcen für diesen heroischen Kampf dadurch, dass sie sich von anderen MigrantInnen distanziert, von denen sie meint, sie würden sich zu leicht in ihr Schicksal fügen. Diese Distanzierung erscheint ihr notwendig, um zu vermeiden, dass sie Opfer einer paralysierenden Situation wird. Es ist aber genau diese Distanzierung, die sie verwundbar macht. Wenn sie in ihrem Kampf scheitert, kann sie nur sich selbst die Schuld daran geben. Obgleich Djamila Widerstand gegen ihre Positionierung in der dominanten Gesellschaftsstruktur praktiziert, entspricht ihre Strategie der Selbst-Individualisierung der Auffassung, welche die BeraterInnen der Arbeitsämter in unserer Untersuchung einnahmen. Um jungen Menschen Ratschläge für ihre Zukunft im Arbeitsleben zu geben ist es wichtig zu wissen, was am Arbeitsmarkt erforderlich ist. Eine Frage, die ich in Arbeitsämtern und Schulen stellte, war aus diesem Grund folgende: Was sind die notwendigen Voraussetzungen, um einen Job zu bekommen? Anders: Also, du musst ständig deine Möglichkeiten abfragen, laufend, und ich würde sagen, aktiv zu bleiben ist wichtig. Denn die Arbeitgeber werden sich ansehen, ob du aktiv warst oder nicht. Wir sagen auch immer, dass eine berufstätige Person immer größere Chancen auf einen Job hat als eine arbeitslose Person. I: Selbst wenn er/sie bei McDonalds ist und eigentlich in einer Bank arbeiten will?

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Anders: Ja, das würde ich sagen, zumindest ist das meine Einstellung, es muss aber nicht stimmen, ich kann das mit keiner Statistik belegen, aber ich würde sagen, das hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Eigeninitiative zu demonstrieren. Zu zeigen, dass du immer die Entscheidung treffen wirst, die dir die beste Möglichkeit verschafft, Geld zu verdienen oder was auch immer, oder von nichts anderem abhängig zu sein, das ist die bessere Entscheidung. Aber ich würde sagen, dass es nicht gut ist, dass viele Menschen oft befristete Stellen annehmen müssen, was wir auch im Gesundheitsbereich und in vielen anderen Bereichen sehen, wo Menschen keine festen Stellen bekommen.

Diese Forderung, Eigeninitiative zu demonstrieren, unabhängig vom Inhalt und Ziel der Initiative, erinnert mich an Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. In diesem Roman beschreibt Musil die Hauptfigur als eine Person, die sich an jede Situation anpassen und sie in eine Möglichkeit umwandeln kann, ihre Fähigkeiten auszuüben. Als wir in den siebziger und achtziger Jahren den Einfluss der Automatisierung von Produktionsprozessen auf die Qualifikation von Arbeitenden untersuchten, fanden wir, dass solche »grundlegenden Tugenden« von Managern als Anforderungen an die Arbeitenden im Bereich computerkontrollierter Prozesse gestellt wurden. Die lange Liste der erwünschten Charakterzüge reichten von »Selbstbewusstsein«, über »Ehrlichkeit, Sauberkeit, Kommunikationsfähigkeit und Fähigkeit zur Kooperation« bis hin zu einer noch längeren Liste von Eigenschaften die mit »Gefühl« zu tun hatten: ein Gefühl für das Material, für die Empfindlichkeit der Geräte, für das, was passiert, wenn ein Knopf gedrückt wird, für eine menschliche Haltung gegenüber den Maschinen und den technischen Prozessen etc. (Projekt Automation und Qualifikation 1981: 390ff.). Im Allgemeinen entsprechen diese erwünschten Eigenschaften den Anforderungen der Hightechproduktion: Da der/die ArbeiterIn nicht mehr unmittelbarer Bestandteil des Produktionsprozesses ist, sondern die Aufgabe darin besteht, den Produktionsprozess zu kontrollieren und so schnell und korrekt wie möglich einzugreifen, wenn ein Problem auftritt, wird von den ArbeiterInnen eine große Vielfalt an Fähigkeiten erwartet. Trotz des Voranschreitens der Hightechproduktion in den letzten zwanzig Jahren erfordern aber nicht alle Tätigkeiten solche Fähigkeiten. Dennoch scheint es, als ob diese Anforderungen nun in allen Sektoren der Wirtschaft formuliert würden und so abstrakte Dinge wie »Eigeninitiative«, »Flexibilität« in allen Berufsbildern im Vordergrund stünden. Eigentlich sollten junge MigrantInnen von solchen Anforderungen profitieren. Schließlich besitzen sie, selbst wenn sie in dem Land geboren wurden, in das ihre Eltern auswanderten, das Wissen über zumindest zwei Kulturen und zwei Sprachen und sind somit flexibler als ihre monokulturellen Peers. Wie wir wissen, werden eigewanderte Jugendliche jedoch als Problem betrachtet, anstatt dass ihnen spezielle Fähigkeiten zugesprochen würden. Während Jugendliche ohne Migrationshintergrund von Arbeitgebern meist als ein unbeschriebenes

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Blatt wahrgenommen werden, trifft das Gleiche nicht auf junge EinwanderInnen zu. Ein nicht-schwedischer Name beschwört eine ganze Reihe von Vorstellungen über Eigenschaften und Charakterzügen herauf, die als Nachteil im Hinblick auf die zu vergebenden Stellen gesehen werden – das geschieht meist noch bevor die Person überhaupt die Chance hat, sich persönlich vorzustellen, wie wir im Folgenden sehen werden. Der zweite Grund, warum die Nachfrage nach abstrakten Tugenden jugendliche MigrantInnen benachteiligt, ist, dass ihre Erfahrungen von Diskriminierung gegen sie arbeiten. Wenn sie keine Praxiserfahrung vorweisen können, wird das als Beweis für das gesehen, was man ohnehin schon über sie »gewusst« hat, nämlich dass sie in ihren Bemühungen, Arbeit zu finden, nicht flexibel, initiativ oder engagiert genug sind. Im besten Fall werden ihre mangelnden Erfahrungen mit mangelnden Kenntnissen der schwedischen Sprache erklärt, im schlimmsten mit negativen Eigenschaften, die ihrer Kultur zugeschrieben werden. Ähnlich wie Djamila teilten viele der Jugendlichen in unserer Untersuchung die Ansicht, dass sie die Barrieren, die die Gesellschaft ihnen entgegensetzt, überschreiten könnten, wenn sie sich nur wirklich anstrengten und von ihrem Migrationshintergrund distanzierten. Natürlich wird es Jugendliche geben, die mit dieser Strategie Erfolg haben werden. Aber egal ob von Erfolg gekrönt oder nicht, so eine Strategie ist ein zweischneidiges Schwert: Während sie auf der einen Seite einigen Jugendlichen vielleicht den Zugang zur dominanten Gesellschaft ermöglicht, kann sie diese auch von jenen entfremden, deren Solidarität sie unter Umständen brauchen (siehe unten). Andererseits ist ihre Distanzierung auch für die »Einwanderercommunity« ein Verlust: Gerade Jugendliche (oder Erwachsene), die den Willen haben, die dominanten Bilder in Frage zu stellen, sind für die Überwindung gesellschaftlicher Diskriminierungsstrukturen und -praxen zentral. Individuelles Heldentum kann demnach sowohl für die Individuen wie für das Gemeinwesen in die Sackgasse führen. 3. Subjektpositionen politisieren Viele Jugendliche in unserer Untersuchung befürchteten, aufgrund ihrer Herkunft keine Arbeit zu finden. Wir trafen jedoch auch Jugendliche, die diese Angst nicht teilten – oder die zumindest in den Interviews nicht darüber sprachen. Interessanterweise stammten die meisten von ihnen entweder aus mittelständischen Familien (obwohl ihre Eltern nicht zwangsläufig auch in Schweden mittelständische Berufe ausübten), oder aus ethnischen Minderheiten, die, trotz ihrer Verfolgung im Heimatland, die Auffassung vertraten, der Mehrheitsbevölkerung dort kulturell überlegen zu sein. Im Folgenden möchte ich stellvertretend für diese Jugendlichen ein Beispiel anführen. Martin nimmt die Position eines »Immigranten« an, aber auf eine spezifische, politische Art. Er ist der Sohn einer Einwanderin und eines Schweden, der eine gute Position im IT Sektor hat. Martin lebte in einer vorwiegend schwe-

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dischen, mittelständischen Nachbarschaft und war deshalb in der Schule der einzige Schüler mit Migrationshintergrund. Er empfand das als negativ und berichtete über eine Reihe von Diskriminierungen, denen er und seine Mutter ausgesetzt waren. Als er auf das Gymnasium überwechseln sollte, entschied er sich deshalb für eine Schule mit einem höheren Anteil an EinwanderInnen: Martin: Es ist – Leute beschimpfen mich hier nicht weil ich Einwanderer bin, denn hier gibt es ca. 50 Prozent andere Einwanderer und wenn jemand – wie in meiner alten Schule, dort konnten die Leute rassistische Musik hören und konnten herumgehen und Dinge anstellen. Und wenn jemand so etwas hier machen würde – niemand traut sich das. Vielleicht akzeptieren sie Einwanderer auch nicht mehr als dort, aber sie zeigen es nicht offen.

Martins Geschichte lässt einige Zweifel an dem Argument aufkommen, dass das Zusammenleben mit SchwedInnen Eingewanderten bessere Möglichkeiten eröffnen und den Zugang zur schwedischen Gesellschaft erleichtern würde. Martin mangelt es sicherlich nicht an kulturellen Ressourcen: Beide Eltern üben qualifizierte Tätigkeiten aus, sein Vater ist Schwede, und sie leben in einer »guten Nachbarschaft«, umgeben von mittelständischen SchwedInnen. Das alles hat ihn aber nicht davor bewahrt, Rassismus zu erfahren. Ich habe ähnliche Geschichten immer und immer wieder von meinen InterviewpartnerInnen gehört, von Jugendlichen wie auch von Erwachsenen. Martins Erfahrungen und die der anderen legen nahe, dass Eingewanderte nicht deshalb die Nähe anderer EinwanderInnen suchen, weil sie »sich abgrenzen« oder »unter sich« sein wollen, sondern deshalb, weil sie sich nicht dem alltäglichen Rassismus aussetzen wollen. In dieser Hinsicht war Martin keine Ausnahme in unserer Untersuchung. Aber er war eine Ausnahme unter den mittelständischen, eingewanderten Jugendlichen, da die Mehrheit von ihnen sich von ihrer Herkunft zu distanzieren suchte. Martin identifizierte sich mit der sozialen Position des »Einwanderers«, ohne sich dadurch minderwertig zu fühlen. Das gelang ihm, weil er fähig war, seine Erfahrungen zu entindividualisieren und politisch zu analysieren. Das wurde in vielen Überlegungen deutlich, die er während der Interviews anstellte, der folgende Auszug ist dafür nur ein Beispiel: N: Und was ist mit den Lehrern? Wie waren die Lehrer in der Grundschule und wie sind sie hier? Martin: Ich denke, hier ist es etwas merkwürdig, weil es viele Einwanderer gibt, aber keiner der Lehrer ist ein Einwanderer, ich habe keine gesehen. Mein Schwedischlehrer ist aus Estland oder Lettland, aber keiner ist aus einem außereuropäischen Land. Keine Lehrer, aber sehr wohl die Putzkräfte und die Kantinenangestellten, die sind fast ausschließlich, etwa zu 60 oder 70 Prozent Einwanderer. Ist dir das aufgefallen?

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Die drei mit Martin geführten Interviews sind voll von Analysen der Machverhältnisse innerhalb der schwedischen Gesellschaft und der Nord-Süd-Differenzen. Er sprach nie lange über seine persönlichen Erfahrungen, ohne sie in einen breiteren Kontext von politischen Ungerechtigkeiten und Machtverhältnissen einzubauen. Martin: Wenn du dir die politischen Diskussionen über die Probleme von Einwanderern in Schweden anhörst, dann wird über den Schwedischtest diskutiert, den sie als Bedingung für die schwedische Staatsangehörigkeit einführen wollen, oder über Arbeitsimmigration. Sie sprechen nicht über Diskriminierung und Armut. Und wenn sie darüber sprechen, dass es so viele Verbrechen in den Vororten gibt, hört es sich so an, als wäre die Lösung dafür einfach, mehr Polizei hinzuschicken. Aber in jedem Viertel in dem es viel Armut gibt, gibt es auch eine hohe Kriminalitätsrate. Wenn es eine bessere Integration geben würde, gäbe es nicht so viel Kriminalität.

Martin zielt darauf ab, die Mechanismen zu verstehen, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert und aus denen spezifische Folgen resultieren. Auf der Grundlage seines politischen Verständnisses ist es Martin möglich, sich selbst als »Immigrant« zu sehen, ohne sich dabei den herabwürdigenden Konnotationen dieses Begriffs unterzuordnen, da er analysiert, wie diese Bilder und Vorstellungen in der Gesellschaft entstehen. Martin: … die Medien zeigen kein faires Bild der Situation von Einwanderern. Und sie [die schwedischen StudentInnen] verlassen sich auf das Bild in den Medien und sie verlassen sich auf das, was einer erzählt, dessen Freund von Einwanderern ausgeraubt wurde und sie finden, diese Einwanderer sprechen alle so komisch. Und was den Islam angeht, sie denken, dass Moslems böse sind und komisch. Und dann sehen sie eben nur das.

Klaus Holzkamp, einer der Begründer der Kritischen Psychologie, unterscheidet zwei Formen von Handlungsfähigkeit: »restriktive Handlungsfähigkeit« und »verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« (Holzkamp 1983: 374ff.). In beiden Fällen zielen Individuen darauf ab, sich selbst als Subjekte ihres Schicksals zu konstituieren. Restriktive Handlungsfähigkeit bleibt dabei innerhalb der gesellschaftlich vorgegebenen Bedingungen, ohne diese zu reflektieren oder in Frage zu stellen. In den westlichen Industriegesellschaften beinhaltet das die Teilnahme am Konkurrenzkampf um materielle und immaterielle Ressourcen. Das heißt, Ressourcen und Macht werden auf Kosten anderer erlangt. Anders gesagt, in dem Maße, in dem die eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, werden die der anderen verringert. Im Gegensatz dazu beinhaltet verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, dass man seine Position als in umfassendere, gesamtgesellschaftliche Machtbeziehungen eingebettet sieht und begreift, dass die eigenen Handlungsmöglichkeiten langfristig nur gemeinsam mit an-

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deren erweitert werden können, indem die gesellschaftlichen Macht- und Verteilungsstrukturen selbst zum Gegenstand des Handelns werden. Gesellschaftliche Handlungsfähigkeit erweitert die Fähigkeiten der Individuen über den unmittelbaren Aktionsradius des Einzelnen hinaus. Martins und die Handlungsweisen der anderen eingewanderten Jugendlichen können gut anhand dieser zwei Konzepte verstanden werden. Diejenigen, die sich von den sozialen Gruppen distanzieren, mit denen sie die Bezeichnung »ImmigrantInnen« und die damit verbundenen Erfahrungen gemeinsam haben, können sich dadurch möglicherweise Handlungsräume eröffnen, die ihnen sonst verschlossen wären (laut Statistik). Gleichzeitig sind diese individualisierten Strategien aber die Ursachen für zahlreiche Konflikte: zum Beispiel, der Zweifel daran, wohin man eigentlich gehört, der Verlust an Solidarität5. Indem Martin individualisierende Praktiken vermeidet und sich stattdessen dafür interessiert, wie gesellschaftliche Positionen konstituiert werden, versetzt er sich in die Lage, einen Raum für sich und andere zu definieren, der nicht von den dominanten gesellschaftlichen Strukturen determiniert ist. Er nutzt seine Ressourcen, um seine gesellschaftlichen Handlungsbedingungen zu verstehen und in sie einzugreifen. Während er noch zur Schule ging, führte er zum Beispiel ein Projekt durch, in dem er seine SchulkameradInnen zum Thema Rassismus interviewte und die Antidiskriminierungsstrategien in anderen Ländern untersuchte, um daraus Vorschläge für neue Möglichkeiten des Umgangs mit Diskriminierung in Schweden zu entwickeln. Anstatt sich von seiner Zugehörigkeit zur Kategorie »Einwanderer« zu distanzieren, nutzt er diese Position ebenso wie seine Herkunft aus der Mittelschicht als Ressource, um die Bedingungen in Frage zu stellen unter denen »Einwanderer« zu einer untergeordneten Kategorie gemacht wird. Widerstand gegen Marginalisierung erfordert, wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, sowohl die Aneignung als auch die Transformation der marginalisierten Positionen. Arbeitende konnten ihre Lage nur verändern, indem sie sich zusammenschlossen und Stolz und Selbstbewusstsein als ArbeiterInnen entwickelten, Frauen entwickelten Stolz als Frauen und veränderten dabei gleichzeitig die Konnotationen dieses Begriffs ebenso wie Schwarze dies zum Beispiel mit dem Slogan »Black is beautiful« taten. Die historische Erfahrung zeigt allerdings auch, dass es keine Garantien gibt: So wie Marginalisierung nur bekämpft werden kann durch Zusammenschluss und die Entwicklung von Zugehörigkeit, so kann die gleiche Zugehörigkeit auch zur Abschottung und Selbstmarginalisierung führen (vgl. Gilroy 2000).

Schlussgedanken Weltanschauungen verschmelzen, Grenzen überschreiten Wie Knocke/Hertzberg (2000), Hertzberg (2003) und zahlreiche Studien in anderen europäischen Ländern zeigen, werden Jugendliche mit Migrationshin-

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tergrund als Problem definiert. Es wird angenommen, dass ihnen die notwendigen Qualifikationen für den Eintritt in den Arbeitsmarkt fehlen, allen voran eine ausreichende Beherrschung der jeweiligen Landessprache. Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, sind sich die Jugendlichen, die auf diese Weise stigmatisiert werden, dieser Konstruktionen bewusst und versuchen, sie zu vermeiden, indem sie ihre Namen ändern oder sich selbst als fähige einzigartige Individuen präsentieren, um zu verhindern, dass sie als VertreterInnen einer als minderwertig bewerteten Gruppe gesehen werden. Viele geben sich besondere Mühe, gute Noten zu bekommen, wenden eine schier unendliche Energie für die Jobsuche und dafür auf, sich von dem Konzept »ImmigrantIn« zu distanzieren. Alle diese Strategien haben eine gemeinsame Kehrseite: Während sie versuchen, die dominanten Vorstellungen über »EinwanderInnen« zu durchbrechen, bekräftigen und stabilisieren sie die gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen, dass Erfolg auf dem Arbeitsmarkt zuallererst von den individuellen Leistungen abhängt. Paradoxerweise geht diese Annahme mit ihrem genauen Gegenteil einher, nämlich dass junge EinwanderInnen deshalb keine Arbeit bekommen, weil es ihnen aufgrund ihrer Herkunft an den notwendigen Qualifikationen mangelt – eine Erklärung, die den Jugendlichen ihre Individualität verweigert. Junge MigrantInnen sind daher einem widersprüchlichen Diskurs ausgesetzt: Während sie als Einzelne in der Schule und auf Arbeitsämtern aufgefordert werden, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, wird gleichzeitig erklärt, dass ihnen bestimmte Fähigkeiten aufgrund ihrer Herkunft fehlen: so heißt es z.B., sie hätten nicht das gleiche (und in Schweden notwendige) »kulturelle Kapital« wie eingeborene schwedische Jugendliche. Da die dominierende Figur in modernen, kapitalistischen Gesellschaften jene des unabhängigen Individuums ist, frei von jeglichen gesellschaftlichen Zwängen, überrascht es nicht, dass die Mehrheit der Jugendlichen in unserer Untersuchung diesem Ideal nacheiferte und versuchte, den »Makel« ihrer Herkunft zu überwinden. Wenn dann das Erfolgsversprechen dieser individuellen Anstrengung sich nicht erfüllte, hatten die von uns befragten LehrerInnen und MitarbeiterInnen in den Arbeitsämtern sogleich eine entgegengesetzte Erklärung bereit, die auf strukturelle Faktoren verwies: die Wirtschaftslage, die allgemeinen Entwicklungen am Arbeitsmarkt, die spezifische Struktur des Arbeitsmarktes in einer bestimmten Stadt, oder die Globalisierung. In allen unseren Gesprächen mit VermittlerInnen wurde einer oder mehrere dieser Umstände als Ursache für Jugendarbeitslosigkeit genannt (für einige Beispiele siehe Räthzel 2006a und b). Sie alle wurden als quasi-natürliche Fakten das heißt, als außerhalb des menschlichen Einflussbereichs liegend, dargestellt. Die Schwierigkeit, solche Argumente zu widerlegen, liegt darin, dass in jedem von ihnen ein Körnchen Wahrheit steckt: Wenn wir den Arbeitsmarkt anhand von Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu fassen versuchen, liegen die Chancen, einen befriedigenden Arbeitsplatz zu finden, höher, je höher die

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Qualifikationen sind (obwohl Statistiken zeigen, dass für 30 Prozent der offenen Stellen keine besonderen Qualifikationen erforderlich sind − siehe Åberg 2003). Dies stützt das Argument, dass individuelle Bemühungen den Weg zum Erfolg ebnen. Auf der anderen Seite spricht einiges dafür, strukturelle Bedingungen als gegeben hinzunehmen: Vom Standpunkt des Einzelnen können sie nicht beeinflusst werden. Das Problem liegt in der Trennung von individualistischen und strukturalistischen Argumenten: Es sind immer entweder die Einzelleistungen des Individuums oder die unveränderlichen Strukturen, die abwechselnd als Wurzeln des Problems gesehen werden. Die Grenze, die zwischen dem Individuum und den Strukturen, innerhalb derer es lebt, gezogen wird, reproduziert die ausweglose Situation, in der die Individuen gefangen sind. Diese Grenze niederzureißen würde bedeuten, herauszufinden, wie die kollektiven Handlungen der Einzelnen die strukturellen Ungerechtigkeiten verändern können, in denen ihre Machtlosigkeit reproduziert wird. Einige meiner GesprächspartnerInnen haben sich auf diesen Weg begeben und haben begonnen, sich zu fragen, wie das Handeln der Einzelnen die gesellschaftlichen Strukturen hervorbringt. Martin ist ein Beispiel dafür. Die Grenzziehung zwischen Strukturen und Individuen dient dazu, Rassismus als einen Teil des gesellschaftlichen Gefüges unsichtbar zu machen. Wenn nämlich Individuen erfolgreich sein können solange sie sich nur genug Mühe geben, kann es nicht Rassismus sein, der sie hindert, eine Arbeit zu bekommen, sondern nur ihre eigene Unzulänglichkeit. Genauso wenig kann es Rassismus sein, der ihnen den Weg in die Gesellschaft versperrt, wenn die wirtschaftlichen Strukturen für die Jugendarbeitslosigkeit verantwortlich sind. Wieder steckt in jedem dieser Argumente ein wahrer Kern, aber nur wenn sie zusammengeführt werden, können sie ihre eingeschränkte Erklärungskraft überschreiten: Dann wird erkennbar, dass Rassismen ebenso ein fester Bestandteil unserer wirtschaftlichen Strukturen sind, die sich in den Handlungen der einzelnen manifestieren: Die Stärke der westlichen Wirtschaft basiert zu einem nicht geringen Teil auf der Möglichkeit, nicht-westliche Arbeitskraft auszubeuten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen der westlichen Länder (siehe Schierup et al. 2006). Dieser strukturelle Rassismus wird durch ein Repertoire von Vorstellungen der Unterlegenheit untermauert, die in der Öffentlichkeit zirkulieren und sich im Alltag durch Zurückweisungen, Erniedrigungen, Beleidigungen, aber auch durch Paternalismus und hilflose Gesten aus guten Absichten manifestieren. Wie in dieser Studie gezeigt wurde, bekämpfen eingewanderte Jugendliche diese Reproduktionen kontinuierlich, oft jedoch indem sie die »Werkzeuge ihrer Herren« benutzen, mit denen das Herrscherhaus jedoch nicht demontiert werden kann, wie Audre Lord einst festhielt. Diese Verwicklung in die herrschenden Diskurse zeigt zugleich, wie sehr junge EinwanderInnen fester Bestandteil des gesellschaftlichen »mainstream« sind und sich keinesfalls »am Rande der

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Gesellschaft« befinden, wie oft behauptet wird. Ihre Marginalisierung ist vielmehr Resultat von Ausgrenzungsprozessen, nicht ein Produkt ihres »Andersseins«. Was ist zu tun, wie können Konstruktionen des »Anderen« überschritten werden? Arbeitsmarktinitiativen und speziell für junge EinwanderInnen entwickelte Projekte können ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Hier können Schweden und andere europäische Länder immer noch einiges von der Gesetzgebung und den Regelungen gegen Rassismus in Großbritannien und den USA lernen (obwohl unterschiedlich, sind diese Gesellschaften doch vergleichbar), sowohl aus deren Fehlschlägen wie auch aus deren Erfolgen. An dieser Stelle ist leider kein Platz, spezifische Programme zu beschreiben. Wichtig ist aber, dass solche Initiativen ihren Fokus ausweiten: Jugendlichen beim Eintritt in den Arbeitsmarkt zu helfen kann nicht nur darauf beschränkt werden, ihnen lediglich zu mehr Ausbildung zu verhelfen – obwohl das natürlich eine wichtige Maßnahme bleibt. Wenn ich nach ihren Erfahrungen mit Arbeitsämtern und KarriereberaterInnen fragte, berichtete die Mehrheit der befragten EinwanderInnen von ihrer großen Unzufriedenheit mit diesen Institutionen. Meist wurden sie an das Internet verwiesen, wo sie eigentlich Kommunikation und informative Gespräche gebraucht hätten. Für eingewanderte Jugendliche ist es essentiell, dass ihre Erfahrungen mit Rassismus ernst genommen werden. Hier fängt eine ganz andere Aufgabe an, die dringend angegangen werden muss: Die Arbeit mit öffentlichen Angestellten in jeder Institution, die mit jungen Menschen (oder auch Erwachsenen) mit Migrationshintergrund zu tun hat. Die Angestellten müssen darin geschult werden, die rassistischen und ausgrenzenden Strukturen des Arbeitsmarktes, auf den sie ihre KlientInnen vorbereiten, zu verstehen. Um ihnen helfen zu können, müssen sie ihre Welt verstehen – nicht ihre jeweilige Kultur (obwohl auch das oft helfen könnte, wenn es sich nicht um eine stereotypisierte Vorstellung einer als statisch begriffenen Kultur handelt), sondern die Tatsache, dass diese Jugendlichen (und Erwachsenen) Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung machen müssen. Letztlich ist neben der Aufklärung der ArbeitgeberInnen über die Vorteile von »multikulturellen« Arbeitskräften (Hieronymus 2004), auch ein Anti-Diskriminierungsgesetz notwendig, welches eine gleichberechtigte Behandlung durchsetzen kann. Auch hier können die britischen Erfahrungen als Ausgangspunkt dienen (Wrench 2001). Ein Sozialstaat, der nur denen dient, die als legitime BürgerInnen anerkannt werden (Balibar 1992) und jene ausschließt, die als nicht zugehörig definiert werden, verdient den Namen Sozialstaat nicht. Aus dem Englischen übersetzt durch Jasmin Kulterer.

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Anhang 1 TABEL L 1. PERCENTAGE OF OPEN UNEMPLOYED YOUNG PEOPLE BETWEEN 20-24 BORN INSIDE AND OUTSIDE SWEDEN, ACCORDING TO YEAR AND GENDER 20- 24 år

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Men Women Total

Men Women Total

Men

Women

Born outside, having lived 5 or more years in Sweden

8.73

5.95

7.34

9.48

6.22

5.92

12.18

8.40

10.32

Born in Sweden with parents born outside Sweden

7.60

5.53

6.59

7.59

5.39

5.22

9.90

7.39

8.68

5.98

3.95

5.00

6.41

4.20

5.57

8.94

5.94

7.48

6.26

4.17

5.24

6.72

4.42

7.86

9.20

6.15

7.70

Born inside with parents

born inside Sweden Total per year

2003 Total

Abbildung 1: Jugendarbeitslosigkeit in Schweden6

A NMERKUNGEN 1 | Ein kurzes Wort zur Begriffswahl: Ich verwende im Text alternierend die Begriffe MigrantInnen und EinwanderInnen oder Jugendliche mit Migrationshintergrund. Der letzte ist sicherlich der korrekteste Begriff, da er offen lässt, ob die so Bezeichneten selbst eingewandert sind oder Kinder von EinwanderInnen sind. Allerdings ist er zu lang und umständlich und der Text würde schier unleserlich werden, wenn ich den Begriff durchgehend verwenden würde. So spreche ich von MigrantInnen, wenn ich über andere Forschung berichte, wo dieser Begriff benutzt wird oder wo die Jugendlichen in der Studie ihn benutzen. Ich spreche von EinwanderInnen, wenn ich selbst die Jugendlichen beschreibe. In Schweden wird fast immer der Begriff »Immigranten« verwendet. 2 | Ich bin FAS (Forskningsrådet för Arbetsliv och socialvetenskap – dem schwedischen Forschungsrat für Arbeitsleben und Sozialforschung) zu Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung des Forschungsprojekts »Diskriminierung in Schweden: Wie geschieht sie?« verpflichtet. 3 | Ich möchte mich bei den MitarbeiterInnen von Mixgården in Göteborg dafür bedanken, dass sie uns dabei geholfen haben, mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen, ebenso danke ich den Angestellten in Arbeitsämtern in Umeå und Stockholm, vor allem auch Linda Nova in Tensta, so wie den LehrerInnen in Schulen in Stockholm und Umeå, die so freundlich waren uns ihre Zeit zur Verfügung zu stellen um über ihre Arbeit zu sprechen und uns geholfen haben, Jugendliche zu kontaktieren. Ein großes Dankeschön geht auch an all die jungen Menschen, die an unserer Studie teilgenommen haben. Es ist schade, dass es mir hier nicht möglich ist, alle ihre Geschichten zu erzählen, aber selbst jene, die hier nicht aufscheinen, haben sehr viel zu meinem Verständnis der schwedischen Gesellschaft beigetragen und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich hoffe sehr,

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dass sie alle die Anstellungen finden werden, die sie sich wünschen und dass sie ein gutes Leben führen können — allen Schwierigkeiten zum Trotz. 4 | Was nicht bedeuten soll, dass Jugendliche ohne Migrationshintergrund immer Antworten bekommen. 5 | Zugehörigkeit ist natürlich keineswegs ein Garant für Solidarität. Sie kann auch soziale Kontrolle und Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten bedeuten. 6 | Anteil offen erwerbsloser Jugendlicher zwischen 20 und 24, aufgeteilt nach Geburt in Schweden und außerhalb Schwedens, Jahr und Geschlecht.

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Ü BER QUEERE I DENTITÄTEN , A FFIRMATION UND DIE P OLITIK DES C OMING OUT Mate Ćosić

In diesem Artikel möchte ich zwei Realitäten (eine theoretische und eine praktische) aus zwei (extrem) unterschiedlichen Kontexten (US-amerikanischer und kroatischer Kontext) miteinander in Beziehung setzen. Hierzu verwende ich Theorien, die aus der Realität und Praxis des westlichen queeren Aktivismus, der queeren Lebensweisen im Westen hervorgegangen sind, und wende diese als Werkzeug zur Beschreibung queeren Lebens und Aktivismus in Kroatien an. Ich beabsichtige hier nicht, ganze Theoriekomplexe verschiedener AutorInnen zu verwenden, somit muss ich auch klarstellen, dass ich auf viele problematische und sich ausschließende theoretische Forderungen zwischen solchen Theorien nicht eingehen kann. Vielmehr möchte ich diesen Theoriekomplexen einige Konzepte, wie das »Versteck« (»closet«), Coming Out oder Affirmation, entnehmen und diese auf den kroatischen Kontext anwenden, um die queere Realität in Kroatien zu beschreiben und zu reflektieren. Hierbei wird sich zeigen, dass sich Teile dieser Konzepte historisch und diskursiv vom Westen unterscheiden. Die zuvor genannten Konzepte ziehe ich heran, weil ich in ihnen machtvolle Narrative und politische Werkzeuge für einen sozialen Wandel sehe, der queeren Personen zugute kommen könnte. Daher möchte ich sie auch im Hinblick auf sozialen Wandel, oder anders ausgedrückt, im Hinblick auf (affirmative) Identitäten, auf Widerstandskultur und politische Subjekte diskutieren. Obwohl ich zum Ende dieses Artikels eine Kritik am zeitgenössischen queeren Aktivismus in Kroatien anbringen werde, ist es nicht mein Ziel, die politische Effektivität dieses Aktivismus im Kontext eines immer noch sehr rigiden Patriarchats, das in diesem Land vorherrscht, infrage zu stellen. Vielmehr besteht meine Intention darin, die Praktiken des queeren Aktivismus in Kroatien kritisch zu reflektieren und dazu anzuregen, diese Praktiken neu zu durchdenken.

Sexualität als soziale Gegebenheit Mein Zugang zu Sexualität, und genauer gesagt zu Homosexualität, ist inspiriert durch den sozialen Konstruktivismus. Ich sehe in der Sexualität etwas, das sozial vermittelt wird und nicht als rein biologische Tatsache angesehen werden kann. So mag die Sexualität zwar aus biologischen Bedürfnissen hervorkommen und diese Bedürfnisse mögen der Grund unseres Handelns sein, aber die Menschen handeln nicht nur, sie geben ihrem Handeln auch eine Bedeutung. Die Bedeutungen unseres Handelns werden nicht von unserem Körper und dessen Bedürfnissen vorgegeben, vielmehr lernen wir sie; sie sind sozial, durch

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unsere Kultur vermittelt. Es entstand ein Wissen über diese Handlungen, das im kollektiven Gedächtnis1, in einer Art sozialem Archiv, gesammelt wurde. Und wir, jeder/jede von uns für sich selbst, nimmt dieses Wissen in seine(r)/ ihre(r) Sozialisation auf und an, es ist wie ein Skript. Dies gilt für alle Handlungen, also auch im Fall der Sexualität. So kann man Sexualität als ein soziales Archiv betrachten, das Wissen über verschiedene sexuelle Handlungen beinhaltet. John Gagnon, einer der ersten Soziologen, die sich mit dem Skript-Ansatz an die Sexualität annäherten, meint: »In any given society, at any given moment in history, people become sexual in the same way they become everything else. Without much reflection, they pick up directions from their social environment. They acquire and assemble meanings, skills and values from the people around them. Their critical choises are often made by going along and drifting […] Sexual conduct is learned in the same ways and through same processes; it is acquired and assembled in human interaction, judged and performed in specific cultural and historical worlds« (Kimmel/Plante 2004: xi).

Wir sozialisieren diese Bedeutungen auf unterschiedliche Art und Weise und durch verschiedene Zeiten und Orte. So sind wir uns darüber im Klaren, dass unser Umgang mit Sexualität heute wohl nicht genau mit dem unserer Großeltern oder sogar Eltern übereinstimmt. Heute, so scheint es, verfügen wir über ein »höheres« Wissen von Sexualität als in vergangenen Zeiten, wir genießen mehr Freiheiten, und die Menschen setzen sich mehr mit dem Thema Sexualität auseinander. Vielleicht wissen wir auch weniger, aber verschiedene anthropologische Forschungen2 zeigen, dass sich Bedeutung und Funktion von Sexualität in westlichen Kulturen manchmal von anderen Kulturen unterscheiden kann. So hatten homosexuelle Handlungen im antiken Griechenland (wo sie als rein sexueller Akt angesehen wurden) eine andere Bedeutung als heute (wo sie meist in Verbindung mit der Identität einer Person gebracht werden, beispielsweise »schwul«). Homosexuelle Handlungen brachten in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedliche Sanktionen, von Akzeptanz bis hin zur Gefängnishaft, hervor. Wie es die Anthropologin Gayle Rubin (1993) ausdrückt, kann man die Beziehung zwischen Natur und Kultur der Sexualität mit der Beziehung zwischen Nahrung und Küche vergleichen: Das Bedürfnis nach Nahrung sagt nur wenig über die Komplexität der Kochkunst, die sich im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kontexten änderte. Jeffrey Weeks meint daher, dass man in der Diskussion über Sexualität immer über Sexualitäten sprechen muss und in der Diskussion über die Geschichte der Sexualität immer von einer Geschichte sprechen soll, die kein exaktes Subjekt bzw. viele Subjekte hat (vgl. Weeks 2003: 13). Sexualität verändert sich auch, weil die Menschen nicht einfach das reproduzieren, was sie lernen. Sie überdenken alte Bedeutungen und produzieren neue.

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Allerdings beteiligen sich aufgrund von unterschiedlichen Machtverhältnissen nicht alle Menschen gleichwertig an diesem Prozess, noch ist es ihnen erlaubt, frei nach ihren bevorzugten Praktiken zu handeln. Dieser Umstand ist nicht nur auf soziale Kräfte zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, dass Sexualität stark politisch geprägt ist. Sexualität erfährt in allen Gesellschaften eine Regulierung. So schreibt gewöhnlich jede Gesellschaft gewisse Normen vor, die die »guten« sexuellen Handlungen definieren und auch Auskunft darüber geben, wie, wann und zu welchem Zweck diese Handlungen ausgeführt werden sollen. Alle Handlungen, die nicht diesen Normen entsprechen, werden oft als abweichend bzw. abartig angesehen und sind meist Ziel von gesellschaftlichen Sanktionen und Ausschlüssen. Sobald sich davon betroffene Menschen versammeln und sich gegen Sanktionierung und Ausschluss aufzulehnen beginnen, kann dies als Versuch angesehen werden, die etablierte Ordnung – oder im Hinblick auf Sexualität das etablierte Wissen über Sexualität – zu ändern. Daraus kann man schließen, dass Sexualität »[…] is a result of diverse social practices that give meaning to human activities, of social definitions and self-definitions, of struggles between those who have power to define and regulate, and those who resist. Sexuality is not a given, it is a product of negotiation, struggle, and human action« (Weeks 2003: 19).

Homosexualität und der Homosexuelle Historisch gesehen galten homosexuelle Akte, oder genauer gesagt gleichgeschlechtliche Akte, außer im »goldenen Griechenland«, als deviant in allen westlichen Gesellschaften. So wurden gleichgeschlechtliche Handlungen oft als anstößig angesehen und verfolgt, der Homosexuelle als Person existierte aber nicht immer (vgl. Weeks 2003; Halperin 1995; Foucault 1994). Es scheint, als stünde der ausschlaggebende Moment für das Aufkommen von Homosexualität im 18. und 19. Jahrhundert in Verbindung mit einer anderen Erscheinung – mit der Erfindung und Konstruktion der Sexualität als neues Interessensgebiet am menschlichen Dasein (z.B. in den Wissenschaften wie der Medizin, Sexologie, …), der Sexualität, wie wir sie heute kennen. In dieser Zeit änderten sich viele Bedeutungen im Bereich des sexuellen Handelns. Die Erfindung der Sexualität war gekennzeichnet durch »increasing definitions of sexual normality in terms of relations with opposite sex, and consequent categorization of other forms as deviant« (Laqueur 1990, zitiert nach Weeks 2003: 29). Sexualität war ein neues Produkt der Säkularisierung »and secular regulation embodied in emergence of new medical, psychological and educational norms« (ebd.: 29f.). Von einer Praxis, die der Vervollkommnung des Selbst diente (wie im antiken Griechenland), über etwas, das sündig war (wie in der Zeit der dominanten katholischen Kirche) wurde der Sex nun zu etwas, dass verwaltet werden muss, er wurde zur politischen Frage (Foucault 1994).

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Während SittlichkeitsverbrecherInnen zuvor entsprechend ihrer Handlung bestraft wurden (in den meisten Fällen eine Strafe aufgrund von Sodomie, zu der beispielsweise auch Analverkehr zählte, die also nicht auf gleichgeschlechtliche Akte beschränkt war) und jeglicher Sex, der nicht der Reproduktion diente, sündig war, verschob sich der Fokus von der getätigten Handlung auf die Person, die die Handlung tätigte. Diese neue Typologie der Degeneriertheit und Perversion konstruierte »neue sexuelle Identitäten« (Weeks 2003: 30) – allen voran den »Heterosexuellen« und den »Homosexuellen«, so der Historiker Jonathan Katz. Der Homosexuelle und der Heterosexuelle wurden neue Identitäten; sie bekamen neue »Kleider« bzw. ein neues Skript aufgrund ihrer sexuellen Handlungen. Die Bedeutung wurde von der Handlung auf die Person ausgeweitet (Katz 2004: 44/45).3 Während der Sodomist als Person angesehen wurde, die immer wieder der Sünde verfällt, war er »still defined by the nature of his act rather than the character of his personality« (Weeks 2003: 30). Der Homosexuelle wurde zu einem neuen Typ Mensch, zu einer neuen Spezies (Foucault 1994). Eine Konsequenz der Gleichstellung von sexueller Handlung mit einem bestimmten Typ von Mensch war die Schaffung eines Diskurses der strikten Grenze zwischen dem Heterosexuellen und dem Homosexuellen, zwischen moralischen/normalen und unmoralischen/unnatürlichen Identitäten. Diese Trennung erzeugte zwei abgegrenzte Orte der Identifikation bzw. der Subjektkonstitution und »in return people were beginning to define themselves as different and their difference was constituted around their sexuality« (Weeks 2004: 31). Diese Orte wurden aber weder auf dieselbe Art und Weise konstruiert, noch kann man ihre Konstruktionen unabhängig voneinander bzw. unabhängig von weit reichenderen sozialen Normen sehen.4 Ein dekonstruktivistischer Ansatz kann uns, wie Halperin meint, verstehen helfen, wie diese Diskurse konstituiert wurden, wie sie funktionieren und ihre Subjekte und Objekte konstruieren (vgl. Halperin 1993: 43). Binarität als am häufigsten auftretender Typ »sexueller Hierarchie« (Rubin 1993) und diskursiver Kategorisierung hat weniger die Funktion, reale Personen, die sich hinter solchen Identitäten verstecken, zu beschreiben, sondern funktioniert vielmehr als eine Strategie zur Naturalisierung der Heterosexualität. Wie Halperin weiter ausführt, ist Heterosexualität in dieser Binarität »unmarked and unproblematized – it designates the category to which everyone is assumed to belong (unless someone is specifically marked as different) […] [Homosexuality is placed as] marked and problematized: it designates a category of persons whom something differentiates from normal, unmarked persons. The marked (or queer) term ultimately functions not as a means of denominating a real or determinate class of persons but as a means of delimiting and defining – by negation and opposition – the unmarked term. […] [In this way] heterosexuality defines itself without problematizing itself, it elevates itself as a privileged and unmarked term, by abjecting and problematizing homosexuality« (Halperin 1993: 44).

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So wurde die homosexuelle Identität als eine abartige Differenz, als das deviante Andere, das sich vom Normalen unterscheidet, konstruiert. Sie wurde als »an unnatural monster or freak […], a moral failure […], and a sexual pervert« (Halperin 1993: 46) konstruiert. Personen, die gleichgeschlechtliche Akte ausüben (wollen) und in einer Kultur sozialisiert werden, in der solch ein Diskurs vorherrscht, werden als moralisch fragwürdig und sexuell pervertiert angesehen. Da die eigene Selbstidentität auch über den Blick der Anderen auf uns vermittelt wird, beginnt man auch damit, die Welt durch die Augen der Anderen zu sehen, durch das verallgemeinerte Andere, wie Mead sagen würde. Ihre Augen sehen uns als so unterschiedlich, und vielleicht sind wir es auch. Vielleicht ist ja unsere sexuelle Aktivität unser Schicksal und unsere Essenz, und wir sind deviant. Und vielleicht verdienen wir es in letzter Konsequenz auch nicht, das Leben zu führen, das sie von uns verlangen. Durch die Identifikation mit diesem Diskurs wird er zur Realität und die Menschen beginnen damit, danach zu leben (vgl. Halperin 1995: 45). All dies wirkt sich auf unser Leben aus, auf das, wie wir uns selber als Homosexuelle sehen, wie uns die anderen sehen und was sie über uns als Homosexuelle denken und wie sie mit uns umgehen. Die Ironie dieser Binarität liegt darin, dass strikte Heterosexualität strikte Homosexualität erzeugt und dass sich beides gegenseitig bedingt. Deshalb braucht Heterosexualität Homosexualität (als schmutziges und sündiges Objekt der Verdammung), sie braucht ihr »Anderes«, das Abnormale, um das Normale, die Norm, herzustellen. Wenn man weiß, was Homosexuelle »machen«, weiß man, was man selbst nicht machen kann. So verkörpern sich unsere Identitäten – für einige von uns zu etwas »Reinem«, für andere zu etwas »Schmutzigem«.

Das Versteck Dies weist der Homosexualität eine untergeordnete Position nicht nur im Diskurs zu, sondern auch in der praktischen und sozialen Sphäre. Das beste Beispiel hierfür ist die Realität des Verstecks (»reality of the closet«). Metaphorisch ausgedrückt haben heterosexuelle Menschen die ganze Welt in der Hand (und besitzen jede Rechtfertigung für ihre Existenz, was sich am deutlichsten daran zeigen lässt, dass Heterosexualität immer vorausgesetzt wird), während der einzige soziale Ort, der Homosexuellen zumindest in der ersten Zeit des »homosexuell Werdens« überbleibt, das Versteck ist. Halperin schreibt über das Versteck: »The closet is nothing, first of all, if not the product of complex relationships of power. The only reason to be in the closet is to protect oneself from the many and virulent sorts of social disqualification that one would suffer where the discreditable fact of one’s sexual orientation more widely known. To »closet« one’s homosexuality is also to submit oneself to the social imperative imposed on gay people by non-gay identified people

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[…] The experience of the closet, then, is hardly an experience of freedom« (Halperin 1995: 29).

Das Versteck ist ein Ort des Machtwiderspruchs: Einerseits ist es ein sozial vorgeschriebener Ort (ein Gettho, ein Gefängnis), aber gleichzeitig ist es auch der einzig sichere Ort für Homosexualität und ihre Konstruktion. Das Versteck ist ein Ort des Geheimnises und der Stille (Seidman et al. 2004), eine Hinterbühne, auf der die Menschen ihre Homosexualität frei ausdrücken und sich damit identifizieren können. Aber es ist auch ein Produkt der Unterdrückung, denn ein Leben im Versteck ist nicht einfach, da immer ein Teil der Identität verborgen werden muss. Die Identität ist aufgespalten auf den Ort innerhalb und außerhalb des Verstecks, auf den Ort, an dem man sich frei ausdrücken kann und auf den Ort, an dem man, wie Goffman sagen würde, mit seinem Stigma umgehen muss und der vorausgesetzten Heterosexualität entsprechen muss. In Anlehnung an Foucault, der im Versteck eine Stärkung der homosexuellen Identität sieht, meint Seidman, dass »[…] the self-management practices imposed by normative heterosexuality to suppress homosexuality ironically incite a heightened self-consciousness about such a desire […] prohibition against homosexuality makes it into a preoccupation« (Seidman et al. 2004: 188). Dies ist oft eine bedrückende Situation. Einerseits kann diese Identität begehrenswert sein (beispielsweise wenn es um Sex oder Lifestyle geht), andererseits darf man diese Identität nicht zeigen, denn das kann zu Ausschließung und Gewalt führen, z.B. könnte man von der Familie und den Freunden und Freundinnen abgewiesen werden.5 Aus diesem Grund muss Homosexualität versteckt bleiben, und wir müssen mit diesem Geheimnis umgehen (vgl. Seidman et al. 2004: 187). Wir müssen ein Doppelleben führen, das »patterns of concealment and sexual self-management« beinhaltet. Dieses Leben ist systematisch geformt durch den Zwang, Homosexualität zu verstecken und zu »managen« (Seidman et al. 2004: 187). Offensichtlich ist hier, dass die Situation im Versteck kaum affirmativ gegenüber Homosexualität ist, aber auch selbst wenn man die eigene Homosexualität akzeptiert, ist sie nicht etwas, für das es wert zu sein scheint, zu kämpfen. Im Versteck ist man einfach ein Homosexuelle(r), aber man lebt nicht als Homosexuelle(r).

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Kultureller und politischer Widerstand des Homosexuellen Aber die Geschichte der Sexualität ist, wie Weeks einmahnt, nicht einfach nur eine Geschichte der sozialen Regulierung: »[…] it is also a history of opposition and resistance to moral codes. Forms of moral regulation give rise to transgressions, subversions and cultures of resistance« (Weeks 2003: 27). Menschen, die als deviant abgestempelt werden, können damit beginnen, ihrer Homosexualität und sozialen Identität eine andere, affirmativere Bedeutung zu geben. Sie können damit beginnen, einen Gegendiskurs über ihre Homosexualität herzustellen und ihre Unterdrückung nicht nur als schwierig und verletzend anzusehen, sondern auch als ungerecht. Sie können sich miteinander verbünden, Netzwerke und Communitys aufbauen und damit beginnen, ihre Homosexualität zu leben und zu bejahen. Dadurch werden sie zur sozialen Kraft und bekommen politische Handlungsfähigkeit, die es ihnen ermöglicht, ihren untergeordneten Status zu verändern. Und so geschah es auch. Aus dem Versteck und gemeinsamen Erfahrungen der Menschen im Versteck entstanden die ersten homosexuellen Communitys und Möglichkeiten für politisches Engagement. Die Geschichte der Sexualität zeigt auch, dass Subkulturen und Netzwerke rund um Homosexualität in der Geschichte westlicher Gesellschaften existierten und entscheidend für die Ausbildung der modernen homosexuellen (affirmativen) Identität waren (vgl. Weeks 2003: 27). Auch in der Vergangenheit gab es homosexuelle Kulturen, die den Individuen die Möglichkeit sexueller und sozialer Interaktion gaben (z.B. Schwulenbars), allerdings hatten sie meist einen nicht-affirmativen Zugang zu Homosexualität. Homosexuelle Orientierung und kulturelle Differenz waren möglicherweise (individuell) akzeptiert, wurden aber nicht gefeiert. So hielt die frühe Homophilen-Bewegung in den USA die sexuelle Differenz für etwas grundlegend Unwichtiges (vgl. Marotta, zitiert nach Engel 2002: 385; Seidman 2004: 111). Ohne Affirmation und mit dem Negieren der Differenz reduzierten sich die Homosexuellen auf das Ghetto, auf ein etwas größeres Versteck. Mit der Behauptung, Homosexualität sei von keiner Bedeutung, stand die Homophilen-Bewegung auch der Affirmation von Homosexualität entgegen und zerstörte damit jegliche Möglichkeit zur Massenmobilisierung, denn »it devastated the potential for any collective formation« (Marrota, zitiert nach Engel 2002: 385). Homosexualität wurde ironischerweise als absolut unpolitisch dargestellt oder auf eine Politik der Assimilation mit der (heterosexuellen) Gesellschaft reduziert. Durch das Eintreten für eine Politik, für die keine Differenz existiert (there is no difference6) oder vielleicht auch weil schon die Vorstellung von Affirmation unvorstellbar war, bemerkte die Homophilen-Bewegung nicht, dass die Gründe für die Unterdrückung von Homosexuellen in der kulturellen Repräsentation,

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in stigmatisierenden kulturellen Diskursen und besonders in den Humanwissenschaften, die eine Schlüsselrolle dabei spielten, wie wir über Körper, SelbstIdentität, soziale Normen und letzten Endes Homosexualität denken, liegen (Seidman 2004: 109). Die Affirmation der Homosexualität und der Widerstand gegen hegemoniale kulturelle Repräsentationen wurden zum Hauptinteresse des Gay Liberation Movements in den späten 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre und waren signifikant für einen kulturellen Wendepunkt im Kampf gegen Unterdrückung (vgl. Engel 2002: 388). Mit der Einsicht, dass kulturelle Differenz existiert und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen, kamen neue bedeutsame Bewegungen auf. Zunächst sollte die Stille der Homosexuellen im Versteck gebrochen werden und, was noch wichtiger war, dem homosexuellen Leben eine affirmative Bedeutung gegeben werden. Die Aufgabe bestand darin, den Monolog der Heterosexualität über Homosexualität zu unterbrechen und die Devianz zu feiern. Das Projekt, der Homosexualität affirmative Bedeutung zu geben, ist äußerst wichtig für den Prozess, den Foucault »homosexuell werden« nannte. Der Homosexualität Bedeutung zu geben, hieß das Undenkbare zu denken, damit aufzuhören, in der Homosexualität nur ihre Unmöglichkeit zu sehen (Halperin 1995: 46) und damit anzufangen, sich das Leben und dessen mögliche Materialisation vor Augen zu halten. Da hegemoniale Repräsentationen Homosexualität nur als Differenz zum Normalen denken, müssen sich deviante Menschen, die sich für ein deviantes Leben entschieden haben, dieses Leben konstruieren. Hegemoniale Repräsentation definiert uns zwar und benutzt uns als Marker, sagt uns aber nicht, wie die von uns, die sich zum Feiern der Devianz entschieden haben, eigentlich leben. »Homosexuell werden« ist somit eine Frage der Konstruktion kultureller Formen, denn, wie Halperin meint, existieren keine verfügbaren Formeln zum Vermitteln und Ausverhandeln solcher Differenzen (vgl. ebd.: 80-81). So könnten sich deviante Menschen mit Foucault fragen: »How is it possible for men to be together? To live together, to share their times, their meals, their room, their leisure, their sorrows […]? What exactly is this thing – to be among men, ›stripped down‹, outside institutionalized relationships, family, profession, obligatory forms of association?« Und weiter: »they are face to face with one another, without armor, without conventional phrases, without anything to stabilize the meaning of the movement which takes them one towards the other. They have to invent from A to Z a relationship without forms […]« (Halperin 1995: 81). Halperin reflektiert Foucaults Gedanken und kommt zu folgendem Schluss: »Self-invention is not a luxury or a pastime for lesbians and gay men: it is a necessity« (ebd.: 81). Homosexuell zu werden bedeutet also, seinem Leben als Homosexueller eine affirmative Bedeutung zu geben, sich dieses zu erschaffen.

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Coming out Eines der machtvollsten narrativen Konzepte für die Affirmation der homosexuellen Identität (ab diesem Zeitpunkt auch als schwulesbische Identität bezeichnet) und für den Beginn des Prozesses des homosexuell Werdens ist sicherlich das »coming out [of the closet]« (Seidman et al. 2004: 184; Engel 2002: 338). Die narrative Macht dieses Konzepts wirkte sich auf die homosexuelle Existenz in fast allen Bereichen aus. Als grundlegender und individueller Akt kann das Coming out als Prozess betrachtet werden, in dem es um das Bewusstsein und die Akzeptanz von Homosexualität und das öffentliche Outing eines Individuums als homosexuelle Person geht (vgl. Žegura 2007: 9). Das bedeutet, seine eigene Homosexualität zu akzeptieren und in die individuelle Biographie aufnehmen zu wollen. Aber das Coming out ist – zumindest geschichtlich gesehen – auch eine politische Handlung. Es war eine der ersten politischen Handlungen in der Affirmation der homosexuellen Identität und des Widerstands. Das Coming out bedeutete daher »cognitive liberation which leads to collective formation of (affirmative homosexual) identity […]« (Engel 2002: 378). D’Emilio and Freedman (1988) zeigen dies in folgendem Kontext auf: »Coming out symbolized a total rejection of negative definitions that society inflicted on the homosexual and substituted both acceptance and pride of one’s gayness. Coming out was ultimate means to conflate the personal and political. Coming out was no longer perceived as a simple one-time act, but as the adoption of an affirmative identity« (D’Emilio/Freedman 1988, zitiert nach Engel 2002: 388).

Dadurch verwandelte sich die Homosexualität von einem Stigma, das versteckt werden muss, zur Quelle des Stolzes und Feierns (vgl. Engel 2002: 388; Bourdieu 1997), was aber nicht bedeutet, dass das Coming out zum letzten Akt der Befreiung wurde, wie uns Halperin warnt: »If to come out is to release oneself from a state of unfreedom, that is not because coming out constitutes an escape from the reach of power to a place outside of power; rather, coming out puts into play a different set of power relations and alters the dynamic of personal and political struggle. Coming out is an act of freedom, then, not in the sense of liberation but in the sense of resistance« (Halperin 1995: 30).

Einmal geoutet, riskiert ein Mensch, mit jenen Praktiken konfrontiert zu werden, vor denen er sich eigentlich gefürchtet hat, und muss lernen, wie man damit umgeht. Historisch gesehen bedeutete dieser Widerstand auch, zu versuchen, sich seine eigene kulturelle (sexuelle, soziale, theoretische und politische) Commu-

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nity aufzubauen, das Wesen der heterosexistischen Gesellschaft und ihre unterdrückenden Maßnahmen zu hinterfragen und für Rechte zu kämpfen. Das Konzept des Coming out war also ein multidimensionales Konzept. Seine narrative und politische Macht stellte eine kulturelle Kritik an verschiedenen Quellen der Unterdrückung sicher, regte die Homosexuellen überall im Westen dazu an, sich ihre eigenen Communitys und potentiell unterschiedliche Existenzformen aufzubauen. Verschiedene »Kriege« über Bedeutung und Identität innerhalb der Community (wie beispielsweise zwischen Schwulen und Lesben, zwischen Schwulen, Lesben und Bisexuellen, Farbigen und queeren Menschen) wirkten sich auf die Multiplizität der Identitäten und Communitys aus (vgl. Seidman 2004: 129), Durch Coming out und Affirmation begann letzten Endes die »Normalisierung (subjektive Akzeptanz)« und »Routinisierung (soziale Integration)« der Homosexualität und der Beginn des homosexuellen Lebens »beyond the closet« kündigte sich an (vgl. Seidman et al. 2004b).

Turbulenzen in Kroatien Und was passierte in der Zwischenzeit im Osten, oder – etwas näher zum Westen gelegen – im Südosten Europas? Was geschah/geschieht dort/hier im Bezug auf all diese Konzepte der Redefinition, Affirmation, Agency und möglicherweise des Widerstands? Man könnte ganz einfach sagen: wenig – oder nichts! Der autoritäre Sozialismus in Titos Jugoslawien, die Bürgerkriege und der Aufstieg der neuen autoritären Nationalregimes ließen der »homosexuellen Frage« nur wenig Platz. Der Mainstream in der Politik hatte andere Sorgen, wie z.B. den Aufbau eines Nationalstaates nach einem Krieg, der die rigiden Geschlechterrollen und die Zwangsheterosexualität (vgl. Pavlović 1999) stärkte, während die Homosexuellen entweder zu viel Angst davor hatten oder zu schwach waren, sich zu organisieren7. Von der Dekriminalisierung der Homosexualität in Jugoslawien8 und dem Übergang vom Titoismus zu den kapitalistischen Nationalstaaten bis zum Bestehen einer stabilen und sichtbaren schwullesbischen Bewegung wird es mehr als zwei Jahrzehnte dauern9. Das erste wichtige und sichtbare Auftreten der schwullesbischen Community war die erste »Gay Pride« in Zagreb im Jahr 2002. Zu dieser Zeit startete die lesbische Gruppe »Lori« ihre Kampagne für die Rechte von homosexuellen Menschen. Auch das »Team for legal changes«, ein Projekt der lesbischen Gruppe »Kontra« und der schwulen Gruppe »Iskorak«, wurde gegründet. Alle diese Aktivitäten erhöhten die Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen und ab diesem Zeitpunkt formierten sich weitere Initiativen. Fast alle diese Organisationen, oder zumindest die, die mehr sichtbar sind, beschäftigen sich größtenteils mit den Rechten von Schwulen und Lesben (wie dem Kampf für die Anerkennung von Anti-Diskriminierungsgesetzen, der Anerkennung von Gewalt gegen Schwule und Lesben als Hass-Delikt oder Lobbying für die Homo-Ehe).

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Während diese Organisationen anfangs Marker für die sexuelle Orientierung verwendeten (»schwul«, »lesbisch«, »bisexuell«), zogen sie später »LGBT« oder sogar »LGBTIQ« als Marker für die Repräsentation von »sexuellen Minderheiten« und »Gender-Minderheiten« heran.10 Diese AktivistInnen führten auch erste Studien über queere Existenzen durch, Forschungen zu Themen, die entweder zu diesem Zeitpunkt in der akademischen Welt nicht vertreten waren oder an denen gerade erst zu forschen begonnen wurde, meist im Rahmen von größeren Forschungsprojekten zur Sexualität.

Der Status von »Versteck« und »Coming out« in Kroatien Während im Westen viele SozialtheoretikerInnen damit begannen, über das Leben von Homosexuellen jenseits des Verstecks (»beyond the closet«) (vgl. Seidman et al. 2004b) zu sprechen und einige von ihnen sogar so weit gingen und das Verwinden des/der Homosexuellen behaupteten (vgl. Bech 1999), ist es sehr problematisch, diese Vorstellungen auf den Kontext Kroatiens umzulegen. Hier, so scheint es, ist der Homosexuelle noch nicht einmal aufgetaucht.11 Gemäß einer Studie der lesbischen Organisation »Lori« (vgl. Juretić et al. 2007), die die bis heute ausführlichste Forschung auf diesem Gebiet darstellt, ist das Versteck für viele queere Menschen (von denen sich fast zwei Drittel als zweifellos schwul und lesbisch definieren) noch immer Realität. So gibt ein sehr hoher Prozentsatz der Befragten an, dass ihre Umgebung (Familie, KollegInnen, …) nicht über die sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtsidentität Bescheid weiß (eine Ausnahme bildet hier die Gruppe der engeren FreundInnen). Die Frage nach einem Outing in der Öffentlichkeit, d.h. ob die sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtsidentität überhaupt nicht geheim gehalten wird, beantworteten nur 19,4 Prozent der Befragten mit »Ja« (Juretić et al. 2007: 14). Die Umfrage zeigt auch, dass die Bereitschaft, die eigene sexuelle Orientierung oder Identität offenzulegen, in Verwandschaftsverhältnissen sinkt; eine Ausnahme bilden hier die Brüder und Schwestern der betroffenen Personen. Mütter wissen in 59,2 Prozent aller Fälle nicht über die sexuelle Orientierung oder Identität ihrer Kinder Bescheid, bei Vätern sind es sogar 65 Prozent, bei Brüdern und Schwester 48,9 Prozent und im größeren Familienkreis wissen 84,6 Prozent der Verwandten nicht Bescheid. Weiters wurde festgestellt, dass der Kreis der ArbeitskollegInnen in 55,3 Prozent aller Fälle nicht »eingeweiht« ist, während bei 80,7 Prozent der Befragten der Freundeskreis sehr wohl Bescheid weiß (Juretić et al. 2007: 14). Wendet man Seidmans et al. Theorie an, dass das Level der Routinisierung von Homosexualität an der interpersonellen Integration von Homosexualität in der konventionellen Welt gemessen werden soll (Seidmans Schlüsselindikatoren »would be whether individuals disclose information about their homosexuality to family, close friends, and coworkers, or whether individuals date, form

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relationships, and make their intimacies public«) (Seidman et al. 2004b: 190), lässt sich für Kroatien feststellen (und das ist fast eine optimistische Feststellung), dass mindestens die Hälfte der queeren Population ihre Homosexualität nicht routinisiert hat12. Dies zeigt, dass das Versteck in Kroatien Realität ist, besonders wenn man weiters in Betracht zieht, dass, nach der Studie von Juretić et al. (2007) ein hoher Prozentsatz der Befragten (61,6 Prozent) glaubt, ein Leben mit versteckter Identität führen zu müssen. Nur 28,5 Prozent glauben, dass sie sich in der Öffentlichkeit frei verhalten können (Juretić et al. 2007: 16). Die nicht vorhandene Routinisierung wird noch offensichtlicher, wenn man einen Blick auf Outings gegenüber Institutionen wirft. So geben 83,9 Prozent der Befragten an, ihre sexuelle Orientierung oder Identität vor ihren ÄrztInnen zu verheimlichen. 42,7 Prozent von ihnen glaubt, dass es keinen Grund für ein Outing beim Arzt bzw. bei der Ärztin gibt, während der Rest angibt, Angst davor zu haben, dass es nicht vertraulich behandelt wird. Andere geben an, dass sie sich wegen der Vorurteile gegenüber queeren Menschen bzw. aus Angst vor Diskriminierung oder aufgrund der vorausgesetzten Heterosexualität der ÄrztInnen nicht outen wollen (vgl. Juretić et al. 2007: 19)13. Diese Ergebnisse zeigen, dass das Versteck quälende Realität für queere Personen in Kroatien ist. Wenn man bedenkt, dass das Outing-Level niedriger wird, je näher man dem Bereich der Familie kommt, Verwandtschaft aber eine soziale Beziehung ist, die man tagtäglich erfährt, in der man lebt und an die man immer noch (meist irrational) gebunden ist, sind verschiedene Ängste zu erwarten, und es ist schwer vorstellbar, dass queere Menschen ihre sexuelle Orientierung oder Identität routinisieren.14 In Verbindung damit und als weiterer Beleg erscheint es interessant, danach zu fragen, welche Rolle das Outing als affirmative Strategie und als eine Handlung, die von den queeren Menschen selbst getätigt wird, in ihrem Leben spielt. Von jener Minderheit an Personen, die angeben, dass sie in ihrer Umgebung geoutet sind, sagen viele, dass sie ihre sexuelle Orientierung oder Identität nicht selbst offengelegt haben. Nur 26 Prozent outeten sich bei ihren Müttern, nur 12 Prozent bei den Vätern und 25 Prozent bei den Geschwistern. Anderseits ist die Outing-Rate bei ArbeitskollegInnen höher (wobei man hier bedenken muss, dass der Großteil der ArbeitskollegInnen nicht in die sexuelle Orientierung oder Identität eingeweiht ist). Der enge Freundeskreis stellt die soziale Gruppe mit der höchsten Outing-Rate (76,4 Prozent) dar (vgl. Juretić et al. 2007: 14). Wenn der Coming out-Diskurs nach Engel eines der Schlüsselelemente einer zumindest kognitiven Befreiung und des Aufbaus einer Community ist, scheint es, dass sich diese Strategie in Kroatien auf einem sehr niedrigen Niveau befindet. Die bereits erwähnte Zahl von 80,6 Prozent ungeouteter Personen zeigt das eindeutig. Eine andere Statistik von »SOS lines« hebt dies erneut hervor. So geht es nur bei 4 Prozent der Anrufe oder E-Mails schwuler Männer um das Coming out, wohingegen die meisten Fragen in Verbindung mit den Gefahren von HIV, anderen Gesundheitsthemen und verschiedenen sexuellen

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Problemen stehen (vgl. Stanić 2007: 15). Die Gründe dafür liegen im hohen Risiko und in der hohen Belastung eines Outings sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Sphäre. Gewalt ist hier in vielen Fällen sicherlich materielle Realität.15 So zeigten Studien im Bereich Gewalt gegen queere Personen (Pikić und Jugović 2007), dass jede zweite Person eine Art von Gewalt erfahren hat. In mehr als der Hälfte aller Fälle geschah dies in der Öffentlichkeit (68 Prozent) und bei drei Viertel handelte es sich um physische Gewalt (vgl. Pikić und Jugović 2007: 23). Vor diesem Hintergrund kann behauptet werden, dass die Öffentlichkeit ein extrem heterosexistischer Ort ist, an dem offene Homosexualität immer noch zur politischen Handlung werden kann, und zwar von Seiten der AngreiferInnen wie auch von Seiten der Angegriffenen. Allerdings scheint es, als gäbe es in der queeren Community nicht viel Willen zum politischen Handeln. Im Versteck und voller Angst vor Konfrontation scheinen nur die Wünsche groß zu sein. Es scheint, als ob viele sich wünschen, »homosexuell zu werden«, aber zu viel Angst davor haben, es wirklich zu tun oder es zumindest zu leben. So ist ein hoher Prozentsatz der Meinung, dass Gewalt nur ungenügend verurteilt wird, dass das Thema Homosexualität in den Lehrplänen zu wenig repräsentiert wird, dass die Kirche öffentlich kritisiert werden muss. Traurige 76,3 Prozent der Befragten gaben an, dass es für sie eine große Bedeutung hätte, wenn sie in der Öffentlichkeit die Hand des/der PartnerIn halten könnten (vgl. Juretić et al. 2007: 19). Der Wunsch, »homosexuell zu werden«, existiert sicherlich, aber selbst aktiv werden nur wenige, denn nur 5,4 Prozent kontaktierten bestehende Queer-Organisationen mit dem primären Ziel, sich bei ihnen zu engagieren (vgl. Juretić et al. 2007: 25).

Politische und diskursive Charakteristika des momentanen Aktivismus Mit diesem Befund, so scheint es, spielen Organisationen auf zumindest zwei Ebenen eine große Rolle für queere Menschen. Einerseits werden sie in Zeiten der Instrumentalisierung und Verdinglichung der Politik als »politische Dienstleistungen«, die für die Rechte der Community kämpfen soll, angesehen. Andererseits prägen die Organisationen heute die Vorstellung davon, was es bedeutet, homosexuell zu sein oder wie man homosexuell »wird«. Fast die Hälfte der Befragten gaben an, dass die bestehende queere Sichtbarkeit ihnen hilft, sich nicht alleine zu fühlen, aber auch dabei, ihr Selbstwertgefühl und psychologisches Wohlbefinden aufzubauen oder Autohomo-/-bi-/-transphobie abzubauen.16 Die Frage lautet also: In welchem Diskurs arbeiten existierende Queer-Organisationen in einer Zeit, in der viele immer noch nicht geoutet sind und Angst vor der Konfrontation mit den Menschen haben, die sie unterdrücken? Und

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weiter: Wie behandelt dieser Diskurs Homosexualität und welche Bedeutung schreibt er ihr zu? Der gängige Diskurs bestehender Organisationen argumentiert meist mit Menschenrechten17, wenn es um das Thema Homosexualität geht. In der Praxis bedeutet dies, dass sich die AktivistInnen vorwiegend an legislativen Veränderungen orientieren, wie beispielsweise Antidiskriminierung oder Menschenrechte. Anderseits kann man in letzter Zeit feststellen, dass Aktivitäten rund um die psychologische Hilfe und Beratung queerer Personen zunehmen. Jedenfalls ist es für all diese Herangehensweisen bezeichnend, dass sie das Leben von Homosexuellen als Leben von Opfern darstellen (was auch sicherlich nicht unwahr ist, daran zweifle ich nicht!), als ein Leben des Versteckens, der Ängste und der erfahrenen Gewalt. Aber dieser Diskurs der Viktimisierung wirkt kaum affirmativ auf queere Menschen und limitiert und konstruiert auf die eine oder andere Weise die queere Existenz eindimensional – als Dimension des Opfers. Nur selten repräsentieren diese Gruppen das queere Leben jenseits der Viktimisierung, nämlich als kulturelle Produktion, als ein multidimensionales Leben, ein Leben mit vielen Möglichkeiten. Auf diese Weise, durch die Konstruktion des Homosexuellen als ein Opfer, wird impliziert, dass queer sein bedeutet, machtlos zu sein. Für mich persönlich wirkt so ein Diskurs nicht unbedingt motivierend dafür, homosexuell zu werden, ein homosexuelles Leben zu führen; und er nimmt jedem und jeder Homosexuellen die individuelle politische Verantwortung. Letzten Endes wird durch den fehlenden Widerstand die heterosexistische Gesellschaft reproduziert. Dies wird offensichtlich, wenn man beobachtet, wie queere Gruppen auf Diskriminierung und Unterdrückung von Homosexuellen reagieren. Ich möchte an dieser Stelle (auf eine andere Art und Weise) Vaid (1995) wiedergeben, um dies darzustellen: Der Ort der Befreiung (welch fremdartiges Wort heutzutage) wurde von den queeren Organisationen durch Nicht-Diskriminierung ersetzt; anstatt eine Bewegung aufzubauen, begannen diese Organisationen mit dem Aufbau von Serviceeinrichtungen und Bürokratien; anstatt ihren politischen Glauben im Training und in der Organisation einzubringen und so eine queere Bewegung aufzubauen, schenkten sie ihr Vertrauen den gesetzgebenden politischen Verbündeten (vgl. Engel 2002: 393). Diese Orientierung am Staat und an den Gesetzen ist hier von signifikanter Wichtigkeit. Während alle Analysen zeigen, dass die Quelle von Unterdrückung in der Gesellschaft und ihren sozialen Institutionen liegt, führen die meisten Gruppen ihre Arbeit rund um rechtliche Fragen fort. Nur selten wird daran gearbeitet, das Coming out als Affirmation der homosexuellen Identität, und vielmehr als persönliche und in diesem Kontext auch politische Handlung, zu fördern und zu stärken. Das Coming out ist heute und in diesem Kontext nicht mehr eine Frage des Rebellierens und politischen Handelns, es ist nicht mehr ein Feiern der Differenz, sondern es wurde nur eine »persönliche Angelegenheit«. Diese Tendenzen im Aktivismus sind eigentlich widersprüchlich, denn Stu-

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dien zeigen, dass Personen, die selbst zumindest einen queeren Menschen kennen, weniger oft homophob sind; der Homophobie vor allem im Bereich des Sozialen, im Alltagsleben entgegengetreten werden muss und nicht so sehr im juristischen Bereich. Weiters kann man sich fragen, wer wohl diese Rechte nutzen wird, wenn jede zweite Person nicht geoutet ist und Angst vorm Outing hat. Wer wird sie beanspruchen, wenn das Coming out immer noch nicht als die wichtigste (individuelle und kollektive) Strategie angesehen wird? Einige Ergebnisse der Studie von Juretić et al. (2007) zeigen diesen Widerspruch auf. Während jede zweite Person nicht geoutet ist, gibt fast der gleiche Prozentsatz der Befragten (66,7 Prozent) den Wunsch nach dem Recht auf Ehe an (vgl. Juretić et al. 2007: 17). Ironisch gesehen könnte man fragen – wer wird dieser Hochzeit wohl beiwohnen, speziell aus dem Kreis der Familie? Neben der Beendigung der Diskriminierung scheint das Recht auf Ehe im Grunde der einzige Teil von Foucaults Prozess des »homosexuell Werdens« zu sein. Queer, als Prozess der Ausbildung (neuer) kultureller Formen und als Ausgangspunkt für die Neudefinition eines Ortes für queere Menschen und Beziehungen in der Gesellschaft, die möglicherweise zur Überwindung der Vorstellung des/der Homosexuellen als mehr oder weniger strikte Identität führen kann, erscheint hier bedeutungslos. Vielmehr scheint eine homosexuelle Kopie der heterosexuellen Monogamie als Element von Butlers »lexicology of state« (Butler 2005) die einzig mögliche Vorstellung zu sein. Diese reduzierte Vorstellung herrscht auch teilweise in radikaleren queeren Gruppen, denn sie tragen beispielsweise die Botschaft in die queere Welt hinaus, dass das Recht auf ein Streben nach und das Erreichen von Glück in der Ehe zwischen zwei Personen, egal welchen Geschlechts, und das Recht auf Familie grundsätzliche Menschenrechte sind.18

Schlussfolgerung Die affirmative homosexuelle Identität steht nicht nur in Verbindung mit den Umständen, die den Kontext für ihr Aufkommen hervorbrachten (z.B. die Veränderungen in der kapitalistischen Struktur und ihre Auswirkungen auf Familienstruktur, Geschlechterrollen, Urbanisierung und individuelles Leben), sondern auch mit dem Diskurs, der ihrem Aufkommen narrative Macht gab. Dieser Moment war ausschlaggebend für die Verlagerung der Bedeutung von dem, was es heißt, homosexuell zu sein: von Homosexualität als stigmatisierter Identität zu Homosexualität als Identität, die es nicht nur verdient, gelebt zur werden, sondern es auch verdient, gefeiert zu werden. In diesem Sinne hatten das Versteck und das Coming out enorme kognitive, individuelle, kulturelle und politische Macht. Auch wenn Homosexualität keine essentielle Identität ist, kann sie strategisch verwendet werden – als Werkzeug, um die heterosexistische Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen anzusprechen. Deshalb, meint Halperin (1997), soll sie permanent affirmiert werden; an Orten, an denen Homosexuali-

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tät immer noch als Schande, pathologisch oder deviant angesehen wird (Familie, Verwandtschaft, öffentlicher Raum), sogar noch verstärkt. Es scheint allerdings, als verliere diese Affirmation in der zeitgenössischen queeren Politik immer mehr an Bedeutung, und während die Interessen der AktivistInnen mehr und mehr darin liegen, der Gesellschaft zu zeigen, dass sie normal, anständig und ehrbar sind und ihre Politik mehr und mehr mit »praktischen« Ansprüchen instrumentalisieren, sind solch starke Konzepte wie das Coming out nicht mehr in ihren Aktivitäten repräsentiert. Dieser Trend verlagert auch ihre Politik vom sozialen ins juristische Feld, der Staat wird als Regulator von Sexualität akzeptiert und von ihm wird gefordert, mehr »inklusiv« gegenüber Homosexuellen zu sein. Dieser Trend ist auch im queeren Aktivismus in Kroatien erkennbar und zwar in seiner gesamten bisherigen Politik und Geschichte. Aber während der Diskurs der Affirmation im »Westen« materielle queere Realitäten hervorbrachte (z.B. im Aufbau von Communitys usw.) und, in Zeiten der Konservierung queerer Politik, zumindest seine Spuren hinterließ (z.B. im Aufkommen von radikaler queerer Politik), war/ist dies für Kroatien nicht der Fall. Durch den Fokus auf die juridische Ebene rückt der Fakt in den Hintergrund der Aufmerksamkeit, dass die Quelle der Unterdrückung in der Kultur und der Gesellschaft liegt und nicht so sehr in den Gesetzen. Das heißt, dass wir alle »Oper« der heterosexistischen Gesellschaft sind und wir alle unsere eigene Heteronormativität überdenken müssen. Es bedeutet auch, dass wir alle unsere Homosexualität im Alltag ausleben und affirmieren sollen – innerhalb unserer Familie, in unseren Beziehungen zu anderen Menschen und – natürlich – auch innerhalb formeller Strukturen, die nur eine Art des sexuellen Ausdrucks privilegieren, denn dies kann nicht nur die Aufgabe von Organisationen und Gruppen sein. Ich denke, dass queere AktivistInnen ihre Praxis reflektieren und überdenken sollten. Das bedeutet auch, dass sie ihre Aktivitäten darauf ausweiten sollten, der Identität Bedeutung und Affirmativität zu geben und das Subjekt zu »erschaffen«, für das sie eigentlich kämpfen. Sonst riskieren sie möglicherweise, nur formelle und politisch korrekte Veränderungen zu erreichen, ohne ein Subjekt zu haben, das sie nützen wird. Längerfristig und auf einer radikaleren Ebene könnte der Prozess, der Homosexualität Bedeutung zuzuschreiben, auch als Möglichkeit gesehen werden, die Konstruktion von Sexualität und auch die zeitgenössische Politik zu überdenken. Es könnte sogar die utopistische Möglichkeit bestehen, nicht nur über das »Versteck« (»closet«) hinaus zu gehen, sondern auch über die Ehe als einzig »konkrete« Lösung hinaus. Vielleicht ist es auch die Möglichkeit zu einem Leben queerer Multiplizität. Aus dem Englischen übersetzt durch Johannes Dollinger.

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A NMERKUNGEN 1 | Emile Durkheim erarbeitete diesen bekannten Terminus in verschiedenen Büchern zur klassischen Soziologie (»Die Regeln der soziologischen Methode«, »Die elementaren Formen des religiösen Lebens«). 2 | Siehe Haviland, William (2004). 3 | Katz datiert das erste Aufkommen der Begriffe »homosexuell« und »heterosexuell« auf das Jahr 1892 (im Medizin-Journal »American publication«). Der »Heterosexuelle« wurde in diesem Kontext aber immer noch als Person beschrieben, die sexuelle Handlungen mit anderen Personen beiden Geschlechts und andere abnorme sexuelle Handlungen vollzieht. Diese Definition kommt unserer heutigen Definition von Bisexualität nahe. Auch ist eine Hybridität im Gebrauch von wissenschaftlichen Termini erkennbar, so wurde mit der Verwendung des Begriffs Identität begonnen, aber der sexuelle Akt als Norm war immer noch stark. Katz zeigte auch, dass erst in den 1920er-Jahren damit begonnen wurde, diese Begriffe in ihrer heutigen Bedeutung zu verwenden (Katz 2004: 43/44). 4 | Zur Verbindung zwischen Sexualität und Hetero-Homo-Binarität siehe: Fischer, N. L. (2007): »Purity and pollution; sex as moral discourse«. In: Seidman, Steven et al. (Hg.), Introducing the New Sexuality Studies. London and New York: Routledge. 5 | Ob solche Ausschlüsse und Abweisungen tatsächlich geschehen, ist hier nicht von so großer Bedeutung wie die reine Vorstellung davon, dass sie geschehen und Auswirkungen haben könnten. Die Logik der klassischen sozialen Interaktionisten ist hier ideal anwendbar, denn wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, so sind auch ihre Folgen wirklich, wie es das berühmte Thomas-Theorem behauptet. 6 | Diese Art von Politik und die Frage nach den Belangen erinnert mich stark an »First Wave Feminism« oder besser gesagt an die Erste Frauenbewegung. Diese Art von Diskurs ist momentan auch in der Politik der LGBTIQ-Community (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual and Queer Community) in Kroatien und in allen anderen Staaten Ex-Jugoslawiens vorherrschend. 7 | Für einen kurzen geschichtlichen Überblick der Schwulen- und Lesbenbewegung in Jugoslawien siehe Vuletić 2003. Für einen sehr gründlichen feministischen Text zur Faschisierung des Alltags vor und während der Kriege in Jugoslawien siehe Papić 2001. Über den »Einsatz« von Homosexualität (in diesem Kontext gleichgestellt mit MannMann-Vergewaltigungen) als strategische Waffe zur Abwertung und Erniedrigung des Gegners (der »anderen« Ethnizität) schreibt Žarkov 2002. Für den Umgang mit Homosexualität im Kontext Kroatiens nach dem Krieg siehe Pavlović 1999. 8 | Homosexuelle Akte zwischen zwei erwachsenen Männern wurden 1977 entkriminalisiert. Lesben wurden nie aufgrund dieses Gesetzes verfolgt, was zeigt, dass ihre Sexualität, und die weibliche Sexualität im Allgemeinen, negiert und ignoriert wurden. 9 | Einige Initiativen wie die lesbische »Lila initiative« (1989), noch in der Zeit Jugoslawien gegründet, und die schwullesbische »Ligma« (1992) waren Unternehmungen, die

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nur von kurzer Dauer waren, wohingegen die erste lesbische Gruppe »Kontra«, die 1997 gegründet wurde, noch immer aktiv ist (Pikić and Jugović 2006: 79). 10 | Während LGBTIQ (lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual and queer) heutzutage der am öftesten verwendete Überbegriff in Kroatien ist, gebrauchten ihn viele der Gruppen nicht mit seiner übergreifenden Bedeutung, sondern als Überbegriff für Identitäten, die in den Studien repräsentiert werden, also für schwule, lesbische und bisexuelle Identitäten. Um Irritationen zu vermeiden und weil sich die Studien mit Schwulen, Lesben und Bisexuellen auseinandersetzen, werde ich im weiteren Verlauf dieses Textes den Begriff »queer« verwenden, um mich auf diese Identitäten zu beziehen. 11 | Diese Theorien gehen Hand in Hand mit einigen zeitgenössischen soziologischen Theorien über den Wandel der Sexualität in einer postmodernen, spätmodernen oder flüchtigen modernen Welt. Zeitgenössische SoziologInnen, die sich mit diesem Wandel auf verschiedene Weise auseinandergesetzt haben, sind Anthony Giddens (1992), Jeffrey Weeks (2003; 2007) und Zygmunt Bauman (2004), um nur einige zu nennen. 12 | Das Problem mit Seidmans et al. (2004b) Indikatoren ist, dass sie eigentlich höchst unterschiedlich sind. Denn wenn man beispielsweise das Öffentlichmachen homosexueller Intimität auf dieselbe Ebene bringt mit der Offenlegung von Homosexualität gegenüber Freunden wird man zwei deutlich unterschiedliche Resultate, im Endeffekt zwei unterschiedliche Geschichten, erhalten. Weiters lässt das Entweder-Oder viel Platz für die Wahl bevorzugter Resultate offen. Jedenfalls sollten solche Indikatoren genauer definiert werden. 13 | Während diese Resultate auf Vermutungen gegenüber den ÄrztInnen basieren, zeigt eine andere Studie derselben lesbischen Gruppe, dass nur 34 Prozent der PsychologInnen glauben, dass Homo-/Bi-/Transphobie existiert, während der Rest nicht daran glaubt (Balenović/Almesberger 2007: 36). 14 | Die Unmöglichkeit einer Routinisierung der sexuellen Orientierung oder Identität wird im Bereich der Familie noch offensichtlicher, wenn man bedenkt, dass 78,3 Prozent der Befragten angeben, dass ihnen Akzeptanz in der Familie sehr viel bedeutet (Juretić et al. 2007: 16). 15 | Kroatien startete mit zwei neuen Fällen von Gewalt in das Jahr 2009. Der erste Fall handelt von einer 21-Jährigen, die mit 16 in die Psychiatrie eingewiesen und dort fünf Jahre festgehalten wurde, weil ihre Eltern erfahren haben, dass sie lesbisch ist (www.zamirzine.net/spip.php?article7259, 30.1.2009). Der zweite Fall ist der Fall eines 23-Jährigen, der von einer Gruppe von Jugendlichen zusammengeschlagen wurde, die mit ihm ein Treffen auf einer schwulen Datingseite im Internet vereinbart hatten. Er kam zum vereinbarten Treffpunkt und sie schlugen ihn zusammen (www.zamirzine. net/spip.php?article7269, 30.1.2009). Bei der »Gay Pride« 2009 erlaubte die Polizei in Zagreb eine Gegendemonstration von faschistischen Gruppierungen unter dem Motto »Gay Pride – Die Schande meiner Stadt«. Unter den teilnehmenden Organisationen befanden sich beispielsweise die »Kroatischen Nationalisten« (»Hrvatski nacionalisti«), die auf ihrer Homepage mit Hakenkreuz und Ustaša-Symbolik auftreten, und die »Kroatische reine Partei des Rechts« (»Hrvatska ćista stranka prava«). Die

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kroatische Flagge schwingend, schrieen sie den TeilnehmerInnen der Pride ihre Parolen entgegen: »Schwuchteln in die Lager« und »Tod den Schwuchteln« (www.h-alter. org/vijesti/ljudska-prava/reakcija-organizatora-zagreb-pridea, www.hrvatski-nacio nalisti.com/modules.php?name=Top, www.javno.com/en-croatia/gay-associationsseek-ban-of-anti-gay-pride_262941, 21.6.2009). 16 | Es scheint, dass viele von ihnen ihre Homosexualität noch nicht normalisiert (subjektiv akzeptiert) haben (Seidman et al. 2004b: 190) und dass Organisationen im Prozess der Normalisierung eine wichtige Rolle spielen. 17 | Dies scheint sehr interessant, wenn man – wie in letzter Zeit – beobachten kann, dass der »Menschenrechte« wohl doch nicht ein so feststehender und unproblematischer Begriff ist, wie angenommen. So wurden die »Menschenrechte« mehr und mehr von rechten PolitikerInnen und der Kirche dazu benutzt, »traditionelle Werte« wieder zu stärken, Werte, die Homosexualität nicht erlauben. Zumindest in Kroatien kann man in letzter Zeit häufig von den Menschenrechten Heterosexueller hören, die ihr Recht durch Homosexuelle verletzt sehen. Dies belegt auch die These von Halperin (1995), die besagt, dass Homophobie nicht eine Reihe von Wahrheiten ist, die durch die Konfrontation mit rationalen Wahrheiten bezwungen werden kann, sondern dass Homophobie eher als Strategie verstanden werden soll, die in vielen Kontexten und auf verschiedenen Wegen benutzt werden kann. 18 | Zagreb Pride (2007) Poruka LGBTIQ osobama povodm obilježavanja 60. obljetnice deklaracije UN-a o ljudskim pravima. www.zagreb-pride.net/j/ (besucht am 30.1.2009).

L ITER ATUR Balenović, Arina/Almesberger Danijela (2007): »Iskustva s korisnicima/cama programa za psihološku podršku s osvrtom na Istraživanje među LGBTIQ populacijom o njihovom iskustvu s psiholozima/ginjama te Procjena potreba sexualnih i rodnih manjina u Hrvatskoj«. In: Okrugli stol »Briga za LGBT zajednicu: SOS telefoni psihoterapija«, Zagreb: Lezbijska grupa Kontra. Bech, Henning (1999): »Commentaries on Seidman, Meeks and Traschen«. In: Sexualities, 1999, vol. 2. Bourdieu, Pierre (1997): Neka pitanja o gej i lezbijskom pitanju [Some questions about the gay and lesbian question]. www.gay-serbia.com/teorija/2003/0316-09-pierre-bourdieu/index.jsp?aid=904 (visited: 26.1.2008). Butler, Judith (2005): Raščinjavanje roda [Undoing gender], Sarajevo: Šahinpašić. Engel, Stephen (2002): »Making a Minority: Understanding the Formation of Gay and Lesbian movement in United States«. In: Stephen Seidman et al. (Hg.), Handbook of Lesbian and Gay Studies, Sage Publications Ltd.

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Fischer, Nancy L. (2007): »Purity and pollution: sex as moral discourse«. In: Stephen Seidman, et al. (Hg.), lntroducing the New Sexuality Studies, London and New York: Routledge. Foucault, Michel (1994): Znanje i moć [Knowledge and Power], Zagreb: Globus. Halperin, David (1995): Saint Foucault: Towards a Gay Hagiography, New York: Oxford Univeristy Press. Halperin, David (1997): Gej identitet prema Foucaultu [Gay identity according to Foucault]. www.gay-serbia.com/teorija/2003/03-10-09-gej-identitet-premafoucaultu/index.jsp?aid=946 (besucht am 29.1.2009). Haviland, William (2004): Kulturalna antropolgija [Cultural Anthropology], Jastrebarsko: Naklada Slap. Juretić, Jasminka et al. (2007): Procjene potreba seksualnih i rodnih manjina u Hrvatskoj [Evaluation of the needs of the sexual and gender minorities in Croatia], Rijeka: Lezbijska organizacija Lori. Katz, Jonathan N. (2004): »Homosexual« and »Heterosexual«: Questioning the Terms. In: Michael S. Kimmel/Rebecca F. Plante (Hg.), Sexualities: Identities, Behaviors and Society, New York: Oxford University Press. Kimmel, Michael S./Plante, Rebecca F. (2004): »Introduction«. In: Michael S. Kimmel/Rebecca F. Plante (Hg.), Sexualities: Identities, Behaviors and Society, New York: Oxford University Press. Papić, Žarana (2001): »Europa nakon 1989: etnički ratovi, fašizacija društvenog života i politika tijela u Srbiji [Europe after 1989: ethnics wars, fascization of everday life and politics of body in Serbia]«, In: Treća, no.1-2, vol.3. Pavlović, Tatjana (1999): »Women in Croatia: Feminists, nationalists, and homosexuals«. In: Sabrina P. Ramet (Hg.), Gender politics in the Western Balkans Pennsylvania: The Pennsylvania State University Press. Pikić, Aleksandra/Jugović, Ivana (2006): Violence against lesbians, gays and bisexuals in Croatia: Reserach report, Zagreb: Lesbian group Kontra. Rubin, Gayle (1993): »Thinking Sex: Notes for Radical Theory of the Politics of Sexuality«. In: David Halperin, et al. (Hg.), The Lesbian and Gay Studies Reader, New York and London: Routledge. Seidman, Steven (2004) »Identity and Politics in a ›Postmodern‹ Gay Culture: Some Historical and Conceptual Notes«. In: Michael Warner (Hg.), Fear of a queer planet: queer politics and social theory, Minneapolis: University of Minnesota Press. Seidman, Steven et al. (2004b) »Beyond the Closet? The Changing Social Meaning of Homosexuality in the United States«. In: Michael S. Kimmel/Rebecca F. Plante (Hg.), Sexualities: Identities, Behaviors and Society, New York: Oxford University Press. Stanić, D. (2007): »Iskustva u radu s gej i biseksualnim muškarcima na SOS telefonu [Experiences in working with gay and bisexual men trough SOS

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5. »Diese Vergangenheit muss sich ihrer Gegenwart stellen« 1

Z U DIESEM K APITEL »Intellektuelle, Schriftsteller, Wissenschaftler, Arbeiter, Politiker – sie alle bewegen sich auf den Punkt zu, an dem sie einsehen müssen, daß [sic!] eine soziale Gegebenheit nicht länger wie eine Bakterienkultur auf einem Objektträger unter einem Mikroskop betrachtet werden kann, noch daß [sic!] man sie zum Gegenstand ästhetischer Variationen für Buchseiten, Leinwand oder Bühne machen darf.« Wole Soyinka (1988)

Detaillierte Berichte über zwei konkrete Konflikte bilden den Schwerpunkt des letzten Teils dieses Bandes: Barbara Preitler skizziert den Verlauf des Krieges in Sri Lanka; Nora Ramirez Castillo beschreibt die Arbeit der peruanischen Kommission für Wahrheit und Versöhnung in dem Andendorf Santiago de Lucanamarca. Beide Autorinnen befassen sich hier mit Konflikten, die in einem Maße eskaliert sind, dass es schwer fällt, von Produktivität zu sprechen, die Konflikten an sich inhärent sein kann. Obwohl sie auf verschiedenen Kontinenten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Gründen ausbrach, hat direkte Gewalt (vgl. Galtungs Gewaltdreieck, 1998: 343ff.) sowohl in Sri Lanka als auch in Peru Tausende Todesopfer gefordert. Während allerdings der Konflikt in Sri Lanka wohl den meisten ein Begriff ist, sind die Vorkommnisse, die von Ramirez Castillo beschrieben werden, in Europa eher unbekannt. Nahezu 70.000 Menschen haben in Peru zwischen 1980 und 2000 ihr Leben verloren, die meisten davon waren Angehörige der indigenen, bäuerlichen und stark von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppe. Dass hier aber dennoch nicht leichtfertig von einem ethnischen Konflikt gesprochen werden kann, zeigt die Autorin eindrücklich auf, indem sie etwa ausführt, wie schwierig die Festlegung fixer

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TäterInnen- und Opferrollen fällt und wie komplex ein Konflikt selbst in einem Dorf mit nur 3.000 EinwohnerInnen sein kann.

Die Folgen des Konflikts: Trauma Vor allem die psychologischen Folgen bewaffneter Auseinandersetzungen werden hier beleuchtet, d.h. die Traumatisierung der betroffenen Bevölkerung. Peru dient dabei als warnendes Beispiel: Obwohl das Massaker an 69 DorfbewohnerInnen Jahrzehnte zurück liegt, sind dessen Folgen für die Bevölkerung noch immer spürbar und teils verheerend. Dass also ein Konflikt noch lange nicht zu Ende ist, wenn die Waffen nicht mehr zum Einsatz kommen, macht dieses Kapitel deutlich. Neben der Arbeit mit den Betroffenen von Gewalt, die den Fokus von Preitlers Arbeit bildet, zeigt Ramirez Castillo eine weitere, wichtige Komponente auf: das öffentlich-Machen der Ereignisse, wie es in Peru im Rahmen der Kommission für Wahrheit und Versöhnung geschah. Wie wichtig es ist, die Geschehnisse, wenn schon nicht öffentlich zu machen, dann wenigstens nicht zu verschweigen, zeigen Forschungen zu Überlebenden der Shoah und ihren Nachfahren, etwa jene von Gabriele Rosenthal (1999: 30): »Die Verheimlichung belastender Erlebnisse und Erinnerungen verstärkt zum einen die psychischen Folgen der Verfolgung für die Überlebenden selbst, zum anderen aber wirken sich die verheimlichten Bestandteile der Verfolgungsvergangenheit auf die Kinder und EnkelInnen weit nachhaltiger aus als die erzählten Bestandteile.« Und weiter: »Die bedrohliche Vergangenheit kann nur dann etwas von ihrer Gegenwärtigkeit verlieren, wenn sie in der Gegenwart bearbeitet wird. Für eine solche Bearbeitung ist es hilfreich, wenn die Nachkommen nicht nur auf Vermutungen und Phantasien über die Vergangenheit angewiesen sind […]« (Rosenthal 1999: 26).

Nach dem Konflikt: Versöhnung? Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung kommen in den letzten Jahrzehnten zunehmend zum Einsatz, die bekanntesten wurden wohl in Südafrika nach dem Ende des Apartheidregimes durchgeführt (als »Commission for Truth and Reconciliation«). Diese werden durchaus kritisiert, etwa weil »only particular kinds of suffering are recognized« (Humphrey 2002: 123). Humphrey führt aus: »First, memory as truth is problematic. It is partial, it can be obscured by trauma and it may be culturally censored and unable to be spoken. Second, witnessing is an asymmetrical position which can oscillate between empathy and blame. […] However, most problematic is the need to produce a stored collected memory as a report, an archive of atrocities as a defence against them« (ebd.).

5. »D IESE V ERGANGENHEIT MUSS SICH IHRER G EGENWART STELLEN «

Die größte Stärke dieser Kommissionen ist es aber wohl, dass sie in Gesellschaften, in denen zum Teil verheerende Gewaltausbrüche statt gefunden haben, einen Dialogprozess in Gang setzen und einen Beitrag leisten können, den Opfern das Gefühl zu vermitteln, dass ihr Leid wahrgenommen und anerkannt wird. Wole Soyinka schließt sich in seinem Buch »The Burden of Memory, the Muse of Forgiveness« der bestehenden Kritik zum Teil an, betont aber vor allem die Notwendigkeit, neben Wahrheit und Versöhnung auch für entsprechende Entschädigung (»restitution«) der Opfer zu sorgen. Insgesamt argumentiert Soyinka für den Einsatz von Kommissionen für Wahrheit, Entschädigung und Versöhnung, auch wenn er meint: »Nothing, in reality, is new. The difference is that knowledge is being shared, collectively, and entered formally into the archives of that nation« (Soyinka 1999: 33). Und: »Beyond Truth, the very process of it’s exposition becomes part of the necessity, and, depending on the nature of the past that it addresses, the impact it has made on the lives of the citizens and the toll it has taken on their sense of belonging, it may be regarded as being capable of guaranteeing or foundering the future of a nation« (Soyinka 1999:12). Auch wenn der Krieg in Sri Lanka erst seit Kurzem als beendet gilt, könnten auch dort die beschriebenen Kommissionen einen Weg darstellen, die verfeindeten Bevölkerungsgruppen einander näher zu bringen und den Prozess der Versöhnung einzuleiten.

Die Rolle von WissenschafterInnen Eine besondere Qualität zeichnet beide Artikel dieses Kapitels aus: Sie stehen für ein Eingreifen in Konflikte, das Interesse der Wissenschafterinnen erschöpft sich nicht in der Analyse und dem bloßen Berichten über stattgefundene Gewalt, vielmehr wird hier der Anspruch deutlich, den betroffenen Menschen konkrete Hilfe zu bieten. Beide Autorinnen laufen nicht Gefahr, bei der Beschäftigung mit den Konflikten deren Opfer/Betroffene aus den Augen zu verlieren, wie es Starn in der Beschäftigung von WissenschafterInnen mit Gewalt in Peru festgestellt hat: »[…] a sense of human suffering caused by the war too often disappears in this work. The terror becomes simply another field for schoraly debate« (Starn 2004: 396). Vor allem die Ausbildung der Trauma Counselors in Sri Lanka, für deren Weiterbestehen sich Barbara Preitler einsetzt, ist als positives Beispiel dafür hervorzuheben, wie Wissenschaft konkrete Hilfestellung für Betroffene leisten kann. Es muss WissenschafterInnen darum gehen, »to check the impulse to sanitize, and instead to clarify the chains of causality that link structural, political, and symbolic violence in the production of an everyday violence that buttresses unequal power relations and distorts efforts at resistance« (Bourgois 2004: 433). Viktorija Ratković

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A NMERKUNG 1 | Titel der Nobelpreis-Rede von Wole Soyinka, gehalten am 8. Dezember 1986 in Stockholm.

L ITER ATUR Bourgois, Philippe (2004): »The Continuum of Violence in War and Peace: PostCold War Lessons from El Salvador«. In: Nancy Scheper-Hughes/Philippe Bourgois (Hg.), Violence in War and Peace. An Anthology, Malden/Oxford/ Victoria: Blackwell Publishing, S. 425-434. Galtung, Johan (1998): Mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen: Agenda Verlag. Humphrey, Michael (2002): The Politics of Atrocity and Reconciliation. From terror to trauma, London/New York: Routledge. Rosenthal, Gabriele (1999): »Sexuelle Gewalt in Kriegs- und Verfolgungszeiten: Biographische und transgenerationale Spätfolgen bei Überlebenden der Shoah, ihren Kindern und EnkelInnen«. In: Medica modiale e.V./Marlies W. Fröse/Ina Volpp-Teuscher (Hg.), Krieg, Geschlecht und Traumatisierung. Erfahrungen und Reflexionen in der Arbeit mit traumatisierten Frauen in Kriegs- und Krisengebieten, Frankfurt: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, S. 25-55. Soyinka, Wole (1988): Diese Vergangenheit muss sich ihrer Gegenwart stellen. Eine Rede Nelson Mandela gewidmet, Zürich: Ammann Verlag. Soyinka, Wole (1999): The Burden of Memory, the Muse of Forgiveness, New York/Oxford: Oxford University Press. Starn, Orin (2004): »Missing the Revolution: Anthropologists and the War in Peru«. In: Nancy Scheper-Hughes/Philippe Bourgois (Hg.), Violence in War and Peace. An Anthology, Malden/Oxford/Victoria: Blackwell Publishing, S. 395-401.

D IE PERUANISCHE K OMMISSION FÜR W AHRHEIT UND V ERSÖHNUNG

D IE PERUANISCHE K OMMISSION FÜR W AHRHEIT UND V ERSÖHNUNG IM A NDENDORF S ANTIAGO DE L UCANAMARCA Nora Ramirez Castillo

Einleitung Der vorliegende Text basiert auf der Feldforschung, welche ich 2006 in dem peruanischen Andendorf Santiago de Lucanamarca durchgeführt habe. Lucanamarca war insbesondere in den frühen 1980er Jahren stark von der politischen Gewalt in Peru betroffen. Der Ort hat ca. 3.000 EinwohnerInnen und liegt auf 3.489 m Seehöhe. Der Großteil der Bevölkerung lebt von der Vieh- und Landwirtschaft. Bekannt wurde Lucanamarca durch das Massaker vom 3. April 1983: Eine Gruppe von ca. 80 Senderistas1 drang in das Dorf ein und tötete 69 Menschen – unter ihnen Frauen und Kinder. Die Ereignisse während der Zeit des bewaffneten Konflikts haben bei den Menschen und im sozialen Gefüge der Dorfgemeinschaft tiefe Spuren hinterlassen, welche auch heute noch sichtbar sind. Im Jahr 2001 setzte die peruanische Übergangsregierung eine Kommission für Wahrheit und Versöhnung (spanisch: Comisión de la Verdad y Reconciliación, im Text fortan CVR) ein, welche die Ereignisse zwischen 1980 und 2000 untersuchen und zu einer nationalen Versöhnung beitragen sollte. MitarbeiterInnen der Kommission gelangten 2002 nach Lucanamarca, um die Testimonios (Zeugenaussagen) der Bevölkerung anzuhören und die sterblichen Überreste der Opfer des 3. April zu exhumieren. Die Arbeit der Wahrheitskommission ließ in den Menschen schmerzhafte Erinnerungen wieder wach werden, aber sie bedeutete auch eine Chance, die Vergangenheit neu zu bewerten und das Geschehene zu integrieren.

Historischer Kontext Am 17. Mai 1980 fanden in Peru erstmals nach einer 12 Jahre dauernden Diktatur2 wieder demokratische Wahlen statt. Diesen Zeitpunkt wählte die maoistisch orientierte Untergrundbewegung Sendero Luminoso, um den bewaffneten Kampf gegen den »alten Staat« – mit dem Ziel, diesen zu zerstören und den Kommunismus in Peru einzuführen – aufzunehmen. Während der folgenden zwei Jahrzehnte erlebte Peru den blutigsten und längsten Konflikt seiner Geschichte als Republik. Abimael Guzmán, der Anführer Sendero Luminosos und ehemaliger Philosophieprofessor an der Universität von Ayacucho, verbreitete seine Ideologie mit Hilfe von Lehrenden und Studierenden in den bäuerlichen Dorfgemeinschaften Ayacuchos. Das departamento3 Ayacucho liegt in den peruanischen Anden und zählt zu den ärmsten Regionen Perus. Die Diskriminierung und

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Marginalisierung der indigenen Bevölkerung in Peru reichen bis zur Eroberung durch die spanische Kolonialmacht zurück. Sendero Luminoso versprach dieser Bevölkerungsgruppe eine neue Gesellschaft: eine Gesellschaft ohne Exklusion, mit neuen Chancen für sie. Aber die Realität war eine andere: Eine Spirale der Gewalt und Zerstörung, deren Auswirkungen auch heute noch präsent sind, wurde in Gang gesetzt (vgl. CVR 2003; Tylor 1996). Bereits Ende der 70er Jahre erreichten die Ideen und Vorstellungen Sendero Luminosos die Region um Lucanamarca. Besonders bei einigen jungen DorfbewohnerInnen lösten sie großen Enthusiasmus aus, und sie schlossen sich der Bewegung an. Der Kamerad »Omar« und die Kameradin »Carla« kamen 1982 in das Dorf und ernannten die ortsansässigen Brüder Olegario, Nicanor und Gilber Curitomay zu den lokalen Anführern Sendero Luminosos. Aber die Enteignungen,4 die Handelsverbote mit der Küste und die selektiven Morde an Mitgliedern der Dorfgemeinschaft führten dazu, dass sich im Dorf ein Selbstverteidigungskomitee zum Widerstand gegen Sendero Luminoso formierte. Im März 1983 fasste das Selbstverteidigungskomitee den damals bereits flüchtigen Olegario Curitomy. Sie brachten ihn auf den Hauptplatz des Dorfes, wo sie ihn umbrachten und seinen Leichnam verbrannten. Die DorfbewohnerInnen fürchteten ob ihrer Tat einen Racheakt von Seiten Sendero Luminosos und schickten um Hilfe durch die peruanische Armee5. Als das Militär am 5. April 1983 eintraf, hatte das blutige Massaker schon stattgefunden: Am Sonntag, dem 3. April, erreichte eine Truppe von ca. 80 Senderistas Lucanamarca und tötete mit Macheten, Äxten und Schusswaffen auf grausame Art und Weise 69 Personen, unter ihnen Frauen und Kinder (CVR 2003). Das Massaker von Lucanamarca wurde von der Führungsebene Sendero Luminosos geplant, um ein Exempel zu statuieren. Guzmán selbst sagte im so genannten »Interview des Jahrhunderts« (spanisch La Entrevista del Siglo): »Auf Grund […] der reaktionären Handlungen des Militärs antworteten wir durchschlagend mit einer Aktion: Lucanamarca, weder sie noch wir werden sie [die Aktion] vergessen, natürlich, denn dort sahen sie eine Antwort, die sie sich nicht erwartet hatten; dort wurden mehr als 80 Menschen zermalmt, das ist die Realität […] ein überzeugender Schlag, um sie zu zügeln, um ihnen zu zeigen, dass es nicht so leicht war; […] dort war die Hauptsache, dafür zu sorgen, dass sie verstehen, […] dass wir zu allem bereit waren, zu allem […]« (Guzmán im Interview für die Zeitung El Diario 1988, zitiert nach CVR 2003, Band V: 45, Übers. d. Verf.).

Aber die Gewalt war mit diesem schrecklichen Ereignis nicht vorüber: Am Tag nach dem Massaker brachte die Bevölkerung Lucanamarcas aus Rache über das Geschehene die Eltern von Curitomay um. Auf Grund der Vorfälle wurde die Errichtung einer Polizeistation in Lucanamarca beschlossen. Aber die Polizeistation wurde zu einer weiteren Bedrohung für die Menschen: »Die Bewohner

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glaubten, dass ihre Albträume nun ein Ende fänden, aber der Missbrauch ihnen gegenüber setzte sich fort. Nach dem Massaker durch Sendero Luminoso waren es die sinchis6, die raubten, Frauen vergewaltigten und viele Personen umbrachten.«7 Als die Polizeistation 1996 wieder aufgelöst wurde, geschah dies auf das Ansuchen der DorfbewohnerInnen hin und war für diese eine große Erleichterung. Diese kurze Zusammenfassung der Geschichte Lucanamarcas zeigt, dass es während der Zeit des bewaffneten Konflikts mehrere Aggressoren gab: Zum Einen die Senderistas, welche die Bevölkerung spalteten, ihr Verbote auferlegten, Güter enteigneten, Häuser verbrannten und die in nur einem Tag das Leben von 69 Menschen auslöschten. Auf der anderen Seite die Polizei, welche als staatliches Exekutivorgan die Bevölkerung nicht beschützte, sondern eine weitere Bedrohung darstellte. Neben diesen Aggressoren von Außen wurden auch Mitglieder der Dorfgemeinschaft zu Tätern und Täterinnen: Die lokalen AnhängerInnen und SympathisantInnen Senderos waren bereit, für die neuen Ideale die eigenen Nachbarn zu ermorden. Teile der Bevölkerung bildeten ein Selbstverteidigungskomitee, welches ebenfalls nicht vor Morden zurückschreckte, um sich gegen Sendero aufzulehnen. Diese Dynamik der Gewalt, welche sich innerhalb der Bevölkerung entwickelte, gab es nicht nur in Lucanamarca, sondern auch in anderen Zonen des Konflikts. Dadurch kam es zur Bildung äußerst komplexer Opfer- und TäterInnenrollen: »Unbeteiligt und frei von Schuld konnten unter diesen Umständen nicht viele bleiben. So entstand ein höchst komplexes Gemenge von Schuld und Verdiensten inmitten einer über Jahre anhaltenden Situation. […] Vor allem in den zahlreichen Dörfern, die mehrmals von verschiedenen feindlichen Parteien angegriffen und niedergebrannt wurden, wo viele Gemeindeangehörige von der Hand aller Parteien starben oder vertrieben wurden, zerflossen auch die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. In vielen Familien, und bisweilen in einer Person, gab es beides« (Huhle 2004: 140).

Die Folgen der Gewalt: Das psychosoziale Trauma Die Erfahrungen von Gewalt und Terror haben bei tausenden Personen schwere Schäden in der Psyche hinterlassen. Die Gewalt hatte aber nicht nur Folgen für die Menschen als Individuen, sondern auch für ihre Umwelt, mit der sie in einer Wechselbeziehung stehen, weshalb eine psychosoziale Betrachtungsweise gewählt wird. Die Therapeuten des Centro de Atención Psicosocial, einer Einrichtung, welche bereits seit den 90er Jahren mit den Opfern der politischen Gewalt in Peru arbeitet, konnten bei ihren Patientinnen und Patienten vor allem Depressionen und Angststörungen beobachten. Aber das Leiden der Betroffe-

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nen lässt sich durch diagnostische Kriterien nur unzureichend ausdrücken – sie sprechen auch über Misstrauen, Aggression, familiäre Probleme und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Sehschwächen (vgl. Raffo 2005). Die heute dominante Diagnose, um über die Folgen von Gewalt und Terror zu sprechen, ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): »Das Hauptmerkmal der Posttraumatischen Belastungsstörung ist die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat, oder die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem Tod, der Verletzung oder der Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit einer andern Person zu tun hat, oder das Miterleben eines unerwarteten oder gewaltsamen Todes, schweren Leids, oder Androhung des Todes oder der Verletzung eines Familienmitglieds oder einer nahe stehenden Person« (DSM IV 1994: 487).

Der Symptomkatalog des DSM IV umfasst eindringliche, belastende Erinnerungen, Träume und Flashbacks sowie das Vermeiden von Reizen, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind (Gedanken, Gefühle, Aktivitäten, Orte etc.). Hinzu kommen überdauernde Symptome einer Aktivitätssteigerung (Arousal), wie z.B. Schlafstörungen, Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Unterschieden wird, je nach Zeitpunkt des Auftretens der Symptome und ihrer Dauer, zwischen einer akuten und einer chronischen Form, sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit verzögertem Beginn (DSM IV 1994). In den vergangenen zehn Jahren gab es eine kritische Diskussion über das Konzept der PTBS. Ein zentraler Gedanke dieser Kritik ist, dass die Situation und der Kontext, aus welchem das Leid einer Person entsteht, durch die Diagnose verloren gehen. David Becker (1997; 2006) kritisiert, dass die Ursache, das auslösende Ereignis völlig aus dem Blickfeld verschwindet. Die PTBS unterscheidet nicht, ob es sich bei dem auslösenden Ereignis um einen Unfall, eine Naturkatastrophe oder ein so genanntes »man-madedisaster« handelt. Im Kontext von Krieg und politischer Repression ist diese Gleichstellung der Ereignisse besonders kritisch: Das Opfer wird durch die Diagnose pathologisiert, die politische Dimension des Geschehens und die Täterschaft verschleiert. Oder, wie Kimberly Theidon es ausdrückt: »In einer Nachkriegsgesellschaft verschwindet durch den Fokus auf die individuelle Psychopathologie die soziale Zerstörung, welche Produkt der politischen Gewalt ist, aus dem Blickfeld. Wir können den Individuen nicht helfen, wenn wir nicht das soziale Um-

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feld, in welchem sie leben, reparieren. Wenn zum Beispiel eine Frau weiterhin Tür an Tür mit ihrem Vergewaltiger lebt, oder ein Vater den Mörder seines Sohnes jede Woche am Markt sieht: Wo befindet sich dann die Störung? Handelt es sich dabei um eine psychische Störung oder eine Störung in den sozialen Beziehungen, welche ein Produkt von Ungerechtigkeit und Straffreiheit ist?« (Theidon 2004: 42, Übers. d. Verf.)

Durch die Konzentration auf das Individuum bleibt die soziale Komponente von Trauma, die Beziehungsebene, unsichtbar. Derek Summerfield (2000) weist darauf hin, dass gerade die Auswirkungen von Krieg »keine privaten Verletzungen« sind, sondern eine kollektive Erfahrung, die sich in der Zerstörung der sozialen Welt widerspiegelt. Der Sozialwissenschaftler Ignacio Martín-Baró hat, basierend auf seinen Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in El Salvador, den Begriff des »psychosozialen Traumas« eingeführt, »um die traditionelle Einengung des Traumabegriffs zwischen psychologistischen und soziologistischen Modellen zu überwinden« (Merk 2001: 17). Martín-Baró (1988: 75) weist darauf hin, dass Traumata gesellschaftlich produziert werden, »d.h. ihre Wurzeln sind nicht im Individuum, sondern in der Gesellschaft zu finden.« (Übers. d. Verf.) Außerdem nährt und erhält sich das Trauma durch das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, oftmals vermittelt durch Institutionen, Gruppen oder sogar Individuen. Laut Martín-Baró werden also vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigt, mit anderen Worten, »traumatisiert«: »Das psychosoziale Trauma, welches die Menschen erfahren, hat die Entfremdung der sozialen Beziehungen zur Folge« (Martín-Baró 1988: 78, Übers. d. Verf.). Die politische Gewalt in Peru hat die Menschen nicht nur als Individuen beeinträchtigt, sondern ganze Dorfgemeinschaften und auf einer übergeordneten Ebene die peruanische Gesellschaft. Sie hat physische, psychische und soziale Wunden hinterlassen. Wenn es also darum gehen soll, diese Vergangenheit zu bewältigen, so muss dies von einem psychosozialen Standpunkt heraus geschehen, der die Menschen sowohl als Individuen als auch als soziale Wesen mit komplexen sozialen Beziehungen erfasst.

Schwierige Beziehungen Die politische Gewalt beeinträchtigte die Beziehungsgeflechte der Menschen auf verschiedenen Ebenen: Es wurden die sozialen Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaften geschädigt, aber auch die Beziehung der indigenen Bevölkerung zum Staat und seinen Organen und Institutionen.

Die Beziehung zum Staat und seinen Institutionen Die schwierige Beziehung der indigenen Bevölkerung zum Staat und seinen Institutionen verschlechterte sich durch die politische Gewalt. Seit der Eroberung

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durch Spanien ist die indigene Bevölkerung ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden. Obgleich sich ihr legaler Status im 20. Jahrhundert stark verändert hat – zum Beispiel durch die Anerkennung des Quechua als Landessprache – sind die Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppe nach wie vor in ihrem Zugang zu Bildung, individuellen und kollektiven Rechten8 eingeschränkt und weitaus häufiger von Armut betroffen (vgl. Oliart 2002: CVR 2003). Der immer noch tief verwurzelte Rassismus in Peru verschlechterte die Situation für die indigenen Dorfgemeinschaften, welche am stärksten von der politischen Gewalt betroffen waren: »Wie bei den verschiedenen Studien, welche die CVR realisiert hat, hervorgeht, war es weniger problematisch, Personen, die als anders und vor allem auch als niedriger stehend betrachtet wurden, zu foltern, verschwinden zu lassen, zu töten oder verschiedene Formen der Gewalt und extremen Grausamkeit auf sie auszuüben. Daher wurden vor allem die Quechua-sprachigen Bauern aus den entlegenen und armen Dorfgemeinden die Hauptopfer der Menschenrechtsverletzungen, die Sendero Luminoso im Zuge seines bewaffneten Kampfes oder die Armee in der Verteidigung des Rechtsstaates ausübte. Dadurch, dass man sie auf eine niedrigere Stufe des Menschseins stellte und als bloße Hochland-Indios und Chutos 9 betrachtete, wurden sie einfach als völlig wertlos angesehen« (CVR 2003, Band VIII, Kapitel 2: 14).

Während der Jahre der politischen Gewalt gab es durch die Streitkräfte und die Polizeistation eine neue staatliche Präsenz in Lucanamarca. Aber die Armee und die Polizei erfüllten die Rolle des Beschützers nicht, sondern wurden – im Falle der Polizisten – zu einer weiteren Bedrohung für das Dorf. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Beziehung der Menschen in Lucanamarca zum Staat schwierig und von Misstrauen geprägt ist. Auf der anderen Seite erhoffen sich die BewohnerInnen Lucanamarcas Unterstützung von Seiten des Staates für die Entwicklung ihres Dorfes.

Zwischenmenschliche Beziehungen Das Überleben der indigenen Dorfgemeinschaften im andinen Hochland war stets abhängig von einem kohärenten Sozialgefüge und stabilen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft. Vergessen und marginalisiert mussten die Bewohnerinnen und Bewohner vieler Dörfer sich selbst um das Schicksal ihrer kleinen Gemeinschaft kümmern. Vom Dorf gewählte Autoritäten organisierten die Arbeiten für das Gemeinwohl und trafen die wichtigen Entscheidungen für die Gemeinschaft. Diese sozialen Strukturen, die über hunderte von Jahren funktioniert hatten, wurden von der politischen Gewalt schwer geschädigt. Es war Teil von Sendero Luminosos Strategie, die lokalen Dorfoberhäupter zu bedrohen, zu ersetzen oder zu ermorden, um die Bevölkerung gefügig zu machen. Mitglieder Senderos vermischten sich mit der Bevölkerung oder stammten selbst aus dem

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jeweiligen Ort. Dadurch entstand ein Klima der Angst, in welchem die BewohnerInnen nicht wussten, wem man vertrauen konnte und wem nicht. Nachbarn wurden zu GegnerInnen, die sich bekämpften, die sich Vieh und Land streitig machten, die sich gegenseitig umbrachten. Bis heute ist die Vergangenheit auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen in Lucanamarca präsent. Um die Auswirkungen der Ereignisse, welche vor über zwanzig Jahren in Lucanamarca stattfanden, sichtbar zu machen, möchte ich ein Beispiel schildern:

»Er hat meinen Bruder getötet« Honorio Curitomay10 ist ein Mann Mitte vierzig; er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er hält sich und seine Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und lebt in bescheidenen Verhältnissen. Sein Blick ist traurig, wenn er spricht, ist er so leise, dass man ihn kaum versteht. Als sein Bruder Olegario zum lokalen Senderoführer ernannt wurde, arbeitete Honorio in Lima. Wäre er in Lucanamarca gewesen, so meint er, hätte er sich wahrscheinlich auch Sendero angeschlossen – verführt von den Versprechen einer besseren Zukunft. Obwohl Honorio nicht in Lucanamarca war, als sein Bruder getötet wurde, lebt er mit den inneren Bildern von dessen Ende: Er erzählt, wie sie seinen Bruder mit Steinen beworfen haben, wie sie ihn mit Kerosin übergossen und angezündet haben. Und, da er immer noch am Leben war, wie ihn der Lehrer T., ein Mitglied des Selbstverteidigungskomitees, schlussendlich erschossen hat. Nachdem das Massaker vom 3. April geschehen war, haben die Mitglieder des Selbstverteidigungskomitees auch noch seine Eltern – die laut Honorio nichts mit Sendero zu tun hatten – umgebracht. Das Land und das Vieh seiner Familie wurde ihnen weggenommen. Diese schrecklichen Ereignisse geschahen vor 25 Jahren, aber für Honorio sind sie immer präsent. Der Lehrer T. ist für ihn die Personifizierung seines Elends, die lebendige Erinnerung seines Schmerzes: »Jeden Tag treffe ich ihn [T.], aber mein Gott was mache ich? Jedes Mal Trauma, Trauma, ich mache mich einfach klein. […] Es schmerzt mich, weil er meine Brüder und Eltern umgebracht hat und mir meinen Besitz genommen hat.11« Aber mit dem Lehrer T. im selben Ort zu wohnen hat außer dem persönlichen Schmerz, den es für Honorio bedeutet, auch direkte Auswirkungen auf seine Familie: »Mein Sohn kam dieses Jahr in die Klasse von T., mein Kleiner ist sieben Jahre alt, dritte Klasse. Er [T.] traumatisiert ihn, er schreit ihn an, er schadet ihm. Deshalb hab ich ihn rausgenommen; mein Sohn geht jetzt nicht zur Schule. Es ist, ohne noch mal hinzuschauen, die Rache.« Honorios Sohn erhält keine Schulbildung auf Grund von Ereignissen, die vor vielen Jahren im Dorf vorgefallen sind. Honorio und seine Familie fühlen, dass viele Menschen im Dorf gegen sie Groll hegen: »Meine Frau weint: Warum, Gott, hast du mir diesen Mann gegeben, der so viele Feinde hat? Und mein Sohn: Welche Schuld trifft ihn?« Aus der Sicht des Lehrers T. ist aber er selbst zum Opfer Senderos geworden. Er und andere verantwortungsbewusste Menschen haben sich zusam-

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mengefunden, um das Dorf gegen die Unterdrückung durch Sendero zu verteidigen. Die Familien der ehemaligen Senderistas sind für ihn Lügner, die den Fortschritt des Dorfes behindern: »Sie informieren nicht richtig, sie lügen – vor allem die Familien der Subversiven. Es gibt sie überall im Dorf. Hier selbst gibt es sie, sie informieren gegen das Dorf und gegen die Autoritäten.« Der Konflikt zwischen Honorio und T. beschreibt nicht nur eine schwierige Beziehung und ihre Auswirkungen auf das soziale Umfeld, sondern zeigt auch die Komplexität der Opfer- bzw. Täterrolle – die sich je nach Blickwinkel ins Gegenteil verkehrt.

Die peruanische Kommission für Wahrheit und Versöhnung Nach der Flucht des Ex-Präsidenten Alberto Fujimori im Jahr 2000 beschloss die Übergangsregierung unter Valentín Paniagua die Einsetzung einer Wahrheitskommission12 (später in Kommission für Wahrheit und Versöhnung umbenannt), welche die Geschehnisse in den Jahren von 1980 bis 2000 aufklären sollte. Die Ziele der Kommission wurden folgendermaßen definiert: • Es sollte eine Analyse der politischen, sozialen und kulturellen Umstände, die zur Gewalt geführt hatten, durchgeführt werden. • Die Kommission sollte einen Beitrag zur Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen leisten. Obwohl sie nicht über strafrechtliche Gewalt verfügte, sollte sie doch, wo es möglich war, Schuldige benennen und die Information an den Justizapparat weiterleiten. • Die Opfer des bewaffneten Konflikts sollten identifiziert und ihre Situation dargestellt werden. Es sollten Empfehlungen für symbolische und materielle Reparationen formuliert werden. • Die Kommission sollte des Weiteren Reformen vorschlagen, die eine Wiederholung der Gewalt verhindern und die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission sicherstellen sollten13. Die CVR nahm ca. 17.000 Testimonios von Betroffenen der politischen Gewalt entgegen. Dabei versuchte die Kommission auch entlegene Dörfer im andinen Hochland und in der Dschungelregion zu erreichen, um einen möglichst umfangreichen Überblick über die Ereignisse zu erlangen. Nach 22 Monaten beendete die CVR ihre Arbeit mit der Übergabe eines Abschlussberichtes14 an den damaligen Präsidenten der Republik, Alejandro Toledo. Bis zur Veröffentlichung des Abschlussberichts der CVR ging man in Peru von ca. 25.000 Todesopfern des bewaffneten Konflikts aus. Die statistischen Berechnungen der CVR ergaben eine mehr als doppelt so hohe Zahl: Die Zeit der politischen Gewalt hatte 69.280 Menschenleben gefordert (CVR 2003). Wie aber können zehntausende Personen ums Leben kommen, ohne dass dies von der Öffent-

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lichkeit bemerkt wird? Eine Antwort liefern die demografischen Daten der Opfer:15 • Armut: 85 Prozent der Opfer stammten aus den fünf ärmsten departamentos16 des Landes; alleine 40 Prozent stammten aus Ayachucho. • Muttersprache: Quechua oder eine andere indigene Sprache war die Muttersprache von 75 Prozent der Todesopfer und der Verschwundenen, obwohl diese Sprachen laut einer nationalen Erhebung 1993 nur von 16 Prozent der Bevölkerung gesprochen wurden. • Bildung: 68 Prozent der Opfer verfügten über keine Schulbildung oder hatten höchstens die Volksschule (primaria) abgeschlossen. • Beruf: 56 Prozent der Opfer waren Bauern oder Viehzüchter (CVR 2004: 434). Die hier aufgezählten Merkmale – indigene Muttersprache, Bewohner des ländlichen, andinen Gebietes oder der Dschungelregion, unzureichende Bildung, Armut – sind seit Jahrhunderten Hauptmerkmale für die soziale Exklusion und Diskriminierung ganzer Bevölkerungsschichten in Peru. Mehr als 40.000 Opfer wurden vom Gros der Gesellschaft aus schlichtem Desinteresse nicht registriert. Trotz dieser Zahlen kommt die CVR zu dem Schluss, dass es sich bei der politischen Gewalt um keinen ethnischen Konflikt gehandelt habe, da sich im Kampf nicht zwei oder mehrere Gruppen gegenüberstanden, welche sich auf Grund von Rasse, Religion, Hautfarbe oder Sprache voneinander unterschieden oder abgrenzten. Die CVR hält aber sehr wohl fest, dass der Konflikt eine starke ethnische und rassische Komponente beinhaltet habe, da die indigene Bevölkerung unproportional stärker von der Gewalt betroffen war (CVR 2003). Es gibt aber auch andere Stimmen, die diese Meinung nicht teilen. Der Soziologe Gonzalo Portocarrero (2003: 140) beispielsweise spricht von einer »genozidalen Politik« der Streitkräfte gegenüber den Andenbewohnern. Wie es schon der Name der CVR sagt, war es ein Ziel der Kommission, zu einer nationalen Versöhnung beizutragen. Die CVR definierte die Versöhnung folgendermaßen: »Die CVR versteht unter Versöhnung einen Prozess der Wiederherstellung der fundamentalen Bande zwischen den Peruanern; Bande, die durch den Konflikt der letzten beiden Jahrzehnte zerstört und verletzt wurden. Diese Versöhnung hat drei Dimensionen: 1. eine politische Dimension, das heißt eine Versöhnung zwischen Staat, Gesellschaft und den politischen Parteien; 2. eine soziale Dimension, also eine Versöhnung der öffentlichen Institutionen und Räume der Zivilbevölkerung mit der Gesamtgesellschaft, insbesondere mit den marginalisierten ethnischen Gruppen; und 3. eine zwischenmenschliche Dimension — der Mitglieder der Gemeinden oder Institutionen, die sich gegenüber standen. Es handelt sich dabei also um die Wiederherstellung des sozialpolitischen Paktes« (CVR 2004: 411, Übers. d. Verf.).

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Die CVR hat für ihre Arbeit einen sehr breiten Versöhnungsbegriff gewählt, der nicht nur die »volle Bürgerschaft« (ciudadanía plena), die Integration und Einbeziehung aller PeruanerInnen fordert, sondern auch die Versöhnung auf der zwischenmenschlichen Ebene anstrebt. Die CVR ist sich dabei bewusst, dass viele Probleme nicht erst durch den bewaffneten Konflikt aufgetreten sind, sondern schon lange Zeit vorher existiert haben. Die Versöhnung in Peru muss aber gerade mit den Gruppen von Personen stattfinden, die historisch betrachtet seit Jahrhunderten ausgeschlossen, marginalisiert und diskriminiert werden. Daher ist für die CVR die Gerechtigkeit sowohl Vorrausetzung als auch Ergebnis des Versöhnungsprozesses (vgl. Ames 2005). Die Gerechtigkeit soll durch Wahrheit und Aufklärung, durch bestrafende Gerechtigkeit, durch Entschädigungen sowie durch soziale und politische Gerechtigkeit hergestellt werden. Jetzt, mehr als fünf Jahre nach der Beendigung der Arbeit der CVR, registriert das Institut für Demokratie und Menschenrechte der Universität Católica in Peru »einige signifikante Erfolge, aber auch eine Verschärfung von Ungerechtigkeiten und der Exklusion innerhalb der Gesellschaft, die ein permanentes Risiko für die Regierbarkeit und die Entwicklung des Landes darstellen.17« Zu den Erfolgen zählt das Institut die Prozesse, die gegen hochrangige Militärs wegen Menschrechtsverbrechen eröffnet wurden und die Schaffung des Reparationsrates. Auf der anderen Seite wurde die Reform des Justizapparates nicht erfolgreich abgeschlossen, das Verteidigungsministerium weigert sich weiterhin, wichtige Informationen preiszugeben und der Reparationsrat verfügt über ein sehr geringes Budget.

Die Wahrheitskommission in Lucanamarca Um ihrem Bericht mehr Tiefe zu verleihen, untersuchte die CVR spezifische Fälle von Menschenrechtsverletzungen genauer. Unter diesen Fällen war auch das Massaker von Lucanamarca. MitarbeiterInnen der CVR nahmen hier nicht nur die Testimonios der Bevölkerung entgegen, wie dies in anderen Dörfern geschehen war, sondern exhumierten auch die Opfer des 3. April. Dies sollte zum einen dazu dienen, die Informationen der Bevölkerung zu verifizieren, zum anderen sollte die Notwendigkeit weiterer Exhumierungen aufgezeigt werden. Mit der Ankunft der CVR im Dorf stellten sich erstmals die Bedingungen ein, offen über das Geschehene zu sprechen; zum ersten Mal spürte die Bevölkerung, dass ein staatliches Organ wirklich an ihrer Geschichte interessiert war. Aber auf Grund ihrer Erfahrungen mit den Vertretern des Staates waren viele Menschen von Angst und Misstrauen erfüllt. Nicht alle nutzten die Gelegenheit, ihr Testimonio zu geben, oder sie trauten sich nicht, die ganze Wahrheit zu erzählen: »Während vieler Jahre war das Misstrauen gegenüber fremden

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Personen ein Mechanismus des Selbstschutzes – das führte dazu, dass einige sehr vorsichtig damit waren, was sie erzählten und was nicht« (Goedeking 2008: 78, Übers. d. Verf.). Viele DorfbewohnerInnen hatten das Gefühl, dass sich die Kommission nur für die Opfer des 3. April interessiere – auch dadurch, dass nur die Opfer des Massakers exhumiert wurden. Die sterblichen Überreste der Opfer wurden nach Lima gebracht, um dort identifiziert zu werden. In der Hauptstadt wurde eine Messe für die Opfer des Massakers gehalten und danach wurden die sterblichen Überreste wieder nach Lucanamarca gebracht. Der damalige Präsident der Nation, Alejandro Toledo, stattete dem Ort einen Besuch ab, um den Bewohnerinnen und Bewohnern sein Beileid auszusprechen und den Verstorbenen eine öffentliche Anerkennung zu Teil werden zu lassen. Mit der Unterstützung des Deutschen Entwicklungsdienstes wurde ein neuer Friedhof mit Grabstätten für die Opfer des 3. April errichtet. Die Arbeit der CVR und der Besuch des Präsidenten bedeuteten für Lucanamarca eine neue Form der Präsenz des Staates. Aber was empfanden die Betroffenen der politischen Gewalt, als sie ihr Testimonio gaben? Wie wurde die Arbeit der CVR von der Bevölkerung aufgenommen? Brachte sie die erhoffte Veränderung oder Versöhnung?

Testimonio geben Ein wichtiges Motiv, ihr Testimonio zu geben, war für die befragten Betroffenen in Lucanamarca die Aussicht auf Reparationen. Sie erhofften sich, Reparationszahlungen zu erhalten und dass es eine Verbesserung in den Bereichen Bildung, Zugang zu medizinischer Versorgung und Mobilität geben würde. Ein weiterer Grund, Testimonio abzulegen, war der Wunsch, die persönliche Sicht auf das Geschehene darzustellen. Andere wiederum erzählten ihre Geschichte, weil sie Gerechtigkeit finden wollten. Sie wollten den Tod oder das Verschwinden eines geliebten Menschen anzeigen. Ihr Testimonio zu geben, war für viele Personen ein sehr schmerzhaftes Ereignis. Durch das Erzählen ihrer persönlichen Geschichte erinnerten sie sich an traurige Geschehnisse, an ihre Verluste und an die Angst, die sie durchlitten hatten: »Wieder dich erinnern,… ach, was für eine Farbe, ach, mit dieser Kleidung, die Farbe des Pullovers […] sogar die Muttermale, wie sie sich frisiert hat […]. Wenn sie dich das alles fragen, dann ist das … schmerzhaft. Sie sollten uns nicht mehr fragen, nicht? oder uns daran erinnern.« »[Nach dem Testimonio] habe ich mich für eine Weile erleichtert gefühlt, für Momente, aber dann kommt irgendein Gefühl, und von Neuem erinnere ich mich an all diese Gefühle, von Neuem geht es mir so. Ich weiß nicht, ich kann das nicht vergessen.«

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Es gab auch einige, die erzählten, dass es ihnen, nachdem sie ihr Testimonio gegeben hatten, schlechter gegangen wäre. Eine Frau, die den Großteil ihrer Familie bei dem Massaker verloren hatte, erzählt: »Ich hatte schon ein bisschen vergessen [was passiert war], aber als ich mich wieder erinnerte, wurde ich krank, wurde ich krank.« Bei der Therapie mit Menschen die an einer PTBS leiden, ist insbesondere das Sprechen über das traumatische Ereignis ein Aspekt, der sehr sensibel behandelt wird, da ein intensives Erinnern auch zu einer Retraumatisierung führen kann. Die Erfahrungen der oben erwähnten Frau deuten darauf hin, dass es auch im Rahmen des Zeugnisablegens vor einer Wahrheitskommission zu einer Retraumatisierung kommen kann.18 Aber trotz des Schmerzes, den die meisten interviewten Personen beim Geben ihres Testimonios empfanden, wurde die Ankunft der CVR doch meist als ein positives Ereignis gewertet, aus dem neue Hoffnung geschöpft wurde. Sie fühlten, dass sie interessiert angehört wurden und dass man ihnen glaubte. »Alle waren sie gut wie Freunde, ruhig [die Mitarbeiter der CVR]. […] in Quechua haben sie mit uns gesprochen und haben uns alles erklärt. Dafür sind wir dankbar, immer haben sie zu uns in unserer Sprache gesprochen.«

E xhumierungen Die Exhumierung der Opfer des 3. April war ein widersprüchliches Ereignis für die Bevölkerung. Einige empfanden sie als sinnlose Aktion: »Sie haben Erinnerungen wach gerufen, die schon vergessen waren. Wegen dem, was im Jahr 83 geschehen ist, gab es ein großes Problem hier, an das sich aber keiner mehr erinnert hat. Bis 2003, Erinnerungen aufwühlen und die Kadaver ausgraben und wieder auf den Friedhof bringen… Es scheint so, als hätte das keinen Sinn, oder? Tot ist tot, oder?« Für andere wiederum waren die Exhumierungen der wichtigste Bestandteil der Arbeit der CVR in Lucanamarca. R., eine Frau, die 14 Jahre alt war, als ihre Eltern und Geschwister getötet wurden, erinnert sich an die Exhumierungen: »Als sie mit den Exhumierungen begonnen haben, da bin ich sehr, sehr traurig geworden – so wie damals, als ich meine Familie verloren habe. Genauso habe ich mich gefühlt.« Trotz dieses Schmerzes war aber die Exhumierung für sie ein sehr positives Ereignis: »In meinen Träumen sagte mir meine Mutter: Mir ist kalt, der Regen macht mich nass. Das sagte sie mir, als sie noch auf der Hochebene [begraben] war. Jetzt sagt sie das nicht mehr. […] Das macht mich froh.« Während der Exhumierungen wurden nicht nur Grabstätten geöffnet, sondern auch Erinnerungen wieder wachgerufen. Dies bot aber auch die Chance, sich würdig von den geliebten Menschen zu verabschieden, ihnen ein angemessenes Begräbnis zu Teil werden zu lassen und somit vielleicht auch einen Trau-

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erprozess zu Ende zu bringen. Trauer stellt eine natürliche Reaktion auf Verlust dar, sie ist »eine schmerzhafte, aber letztlich effektive Methode, unsere früheren Bindungen loszulassen, uns innerlich der Abwesenheit von verloren gegangenen Menschen oder Dingen anzupassen und unser eigenes Leben fortzusetzen« (Volkan 1999: 53). Volkan beschreibt den Trauerprozess in zwei Phasen: Unmittelbar auf den Verlust folgt die Trauerkrise, die durch Schock, Verleugnung, Schmerz und Trauer geprägt ist. Auf die Trauerkrise folgt die Trauerarbeit; während dieser lernt der Trauernde, sich an die gewandelte Wirklichkeit anzupassen. Weitaus schwieriger gestalten sich die Trauerprozesse, wenn der Verlust unter gewaltsamen Umständen stattgefunden hat. Becker und Weyermann (2006) schreiben dazu: »Violent losses are always traumatic and are followed by complicated mourning processes« (92). Damit sich der Trauerprozess aber trotzdem realisieren kann, sind Informationen über die genauen Todesumstände sowie ein angemessenes Begräbnis wichtige Vorraussetzungen. Obwohl viele Jahre vergehen, bleibt der Schmerz wie erstarrt oder eingefroren. Eine Exhumierung bietet, wie es auch der oben beschriebene Fall zeigt, die Möglichkeit, den Trauerprozess wieder aufzunehmen und den Verlust zu integrieren.

Versöhnung Die CVR wählte in ihrer Definition einen sehr umfassenden Versöhnungsbegriff, der auf drei Ebenen angesiedelt ist: Eine Versöhnung zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern, eine Versöhnung zwischen den Institutionen des Staates und der Bevölkerung sowie eine Versöhnung auf der zwischenmenschlichen Ebene. Für die Menschen in Lucanamarca wurde die Frage nach einer Versöhnung meist auf die zwischenmenschliche Ebene bezogen. Dies ist auch verständlich, da diese Ebene das alltägliche Zusammenleben im Dorf am unmittelbarsten beeinflusst. Familien, die sich während des Konfliktes als Feinde gegenüberstanden, beschuldigen sich auch heute noch, dass ihnen die Gegenseite Güter oder Land weggenommen habe oder im schlimmsten Fall steht der Tod eines Angehörigen im Mittelpunkt des Konflikts. Eine Bewohnerin meint auf die Frage nach einer Versöhnung in Lucanamarca: »Man müsste Lucanamarca verschwinden und dann wieder auferstehen lassen. Glaubst du, dass dieser Groll vergessen wird?« Einige der befragten Personen äußerten auch Unmut darüber, dass sie sich ungerecht behandelt fühlten. Der Neid und die Missgunst spiegeln die schwierigen Beziehungen wider. Señora E. meint dazu: »Wenn es irgendeine Unterstützung [für eine Person aus dem Dorf] gibt, gibt es immer Neid. In der comunidad [Dorfgemeinschaft] gibt es Neid. Für einige kommt Unterstützung, für andere nicht.« Die politische Dimension von Versöhnung wurde nur selten angesprochen. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Bevölkerung den Staat bereits vor dem bewaffneten Konflikt als abwesend erlebt hat. Während des Konfliktes gab es

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durch die Polizei und die Streitkräfte eine sehr ambivalente staatliche Präsenz im Dorf: Man rief das Militär zu Hilfe, aber es kam zu spät, um das Massaker zu verhindern. Die Polizei hingegen wurde zu einer Bedrohung für die Bevölkerung. Die Ankunft der CVR im Dorf weckte Hoffnungen in den Menschen auf eine neue Form von staatlicher Zuwendung. Sie wünschten sich einen verbesserten Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen sowie weitere Maßnahmen für den Fortschritt und die Entwicklung ihrer Dorfgemeinschaft. Für die meisten der befragten Personen war durch die Arbeit der CVR mehr öffentliche Anerkennung fühlbar. Sie spürten, dass sie vom Staat, aber auch von anderen Sektoren der Bevölkerung,19 nunmehr als Betroffene des Konflikts und nicht mehr als TäterInnen wahrgenommen wurden. Diese neue Anerkennung steht aber in einer engen Verbindung mit einem Viktimisierungsprozess: Als Opfer erhalten sie Aufmerksamkeit und Unterstützung, die ihnen bisher versagt geblieben war. Dies kann aber auch zu einer Festschreibung auf die Opferrolle führen. Trotz dieser Gefahr ist die Anerkennung der Bevölkerung Lucanamarcas als Opfer des Konfliktes ein wichtiger Schritt. Die Vergangenheit beeinflusst die sozialen Beziehungen der Menschen zueinander – gerade deshalb ist es wichtig, die Vergangenheit, die solange verschwiegen und verleugnet wurde, zu integrieren. Die Verantwortung des Staates liegt darin, sich dieser Prozesse bewusst zu sein und allen Peruanerinnen und Peruanern den Zugang zu ihren Rechten als Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen (vgl. Goedeking 2008). Die Schaffung einer Wahrheitskommission geschah auch auf die langjährige Forderung der Angehörigenverbände und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) in Peru hin. Die Einsetzung der CVR gab ihnen neuen Aufschwung. Auch in Lucanamarca formierten sich Betroffene in einem Verband, um mit vereinter Stimme ihre Interessen vertreten zu können. 2006 realisierte die NRO Comisión de Derechos Humanos in Kooperation mit dem Deutschen Entwicklungsdienst und dem Angehörigenverband das Projekt »Hacia la justicia, la paz y la reconciliación: Reconstrucción de la memoria histórica en el distrito de Santiago de Lucanamarca« (In Richtung Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung: Rekonstruktion der historischen Erinnerung im Distrikt Santiago de Lucanamarca). Ziel des Projektes war es, die lokalen Erinnerungen systematisch aufzuzeichnen und durch das Finden der gemeinsamen Geschichte das soziale Netz innerhalb des Dorfes wieder zu stärken. Das Projekt führte dazu, dass 2007 zwei Gedenkstätten errichtet wurden. Es gab zuerst eine Diskussion darüber, welche Opfer mit ihrem Namen auf dem Monument aufscheinen sollten. Man entschied sich schlussendlich, zwei Gedenkstätten zu errichten: Eine für alle Opfer des bewaffneten Konfliktes (ungeachtet dessen, auf welcher Seite sie standen) und eine für die Opfer des 3. April 1983 (vgl. Goedeking 2008). Die Errichtung eines Monuments, in welchem die Namen aller Opfer aufscheinen, ungeachtet ihrer Rolle während des Konflikts, deutet darauf hin, dass auch viele Jahre später erstarrte Prozesse wieder in Gang gebracht und Risse im sozialen Gefüge geschlossen werden können.

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Resümee Am Fall von Santiago de Lucanamarca wird sichtbar, wie komplex die Auswirkungen der Gewalt auf der Beziehungsebene für die Bevölkerung sind. Die Einsetzung der CVR im Jahr 2001 stellte eine Möglichkeit dar, die gewaltsame Vergangenheit neu zu bewerten und ein Stück weit mehr zu integrieren. Gleichzeitig wurde der Öffentlichkeit das Leid der indigenen Bevölkerung bekannt; dies brachte die Möglichkeit mit sich, Vorurteile zu überdenken. Beispiele wie jenes der Frau, die nach den Exhumierungen keine Alpträume mehr wegen ihrer toten Mutter hat oder die Errichtung der Gedenkstätte in Lucanamarca, welche alle Opfer anerkennt, sind ein Zeichen dafür, dass es auch viele Jahre später noch möglich ist, persönliche, aber auch gemeinsame Wunden zumindest ein Stück weit zu heilen. Wenn wir von Versöhnung sprechen, so sprechen wir nicht von einem Zustand, sondern von einem langen, schwierigen und stets unfertigen Prozess. Ein Prozess, in dem es Fortschritte aber auch Rückschläge gibt und der nicht von allen gewünscht und mitgetragen wird. Die Schaffung einer Wahrheitskommission erweckt immer auch Hoffnungen, die nicht erfüllt werden können und bringt Taten und Ereignisse ans Licht, die einige gerne in der Dunkelheit belassen hätten. Letztlich ist es auch abhängig vom gesellschaftlichen und politischen Willen, der in einem Land vorherrscht, ob und welche Empfehlungen einer Wahrheitskommission umgesetzt werden. Trotz all der Schwierigkeiten und auch des Widerstandes, den die Kommission in Peru erfuhr, ermöglichte sie doch vielen Menschen, ihr Schweigen zu brechen und sich erstmals Gehör zu verschaffen.

A NMERKUNGEN 1 | Anhänger der Untergrundbewegung »Der leuchtende Pfad« (spanisch: Sendero Luminoso). 2 | Das Militärregime wurde durch einen Putsch unter der Führung von General Juan Velasco Alvarado herbeigeführt. Die diktatorische Regierung setzte sich für eine Änderung der sozialen Verhältnisse ein und wollte einen »weder kapitalistischen, noch kommunistischen« Weg beschreiten. Ende der 7oer Jahre wurde der Druck auf die Militärjunta nicht zuletzt durch eine Wirtschaftkrise zu groß und 1978 wurde die schrittweise Rückkehr zur Demokratie beschlossen (Taylor, 1996) 3 | Peru ist politisch in 24 so genannte »departamentos« unterteilt. 4 | Reichere Bauern wurden aufgefordert, ihren Besitz Sendero zur Umverteilung zu überlassen. Eine Weigerung kam meist einem Todesurteil gleich.

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5 | Zu jener Zeit gab es in Lucanamarca weder ein Telefon noch ein Fahrzeug. Das Militär zu informieren, bedeutete daher ein beschwerliches und nicht ungefährliches Unterfangen. 6 | Antiterroristische Spezialeinheit der Polizei. 7 | COMISEDH 2002, www.cverdad.org.pe/apublicas/exhumaciones/info_lucanamarca01.php, Übers. d. Verf. 8 | Nach wie vor gibt es viele entlegene Dörfer, die über keine Schule oder lediglich eine Volksschule verfügen. Ebenso gibt es viele Menschen, die keine Dokumente besitzen, d.h. sie sind nicht als peruanische Staatsbürger registriert. 9 | Herabwürdigende Bezeichnung für die Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppe. 10 | Die Verwendung des richtigen Namens wurde von H. Curitomay gestattet. 11 | Alle wörtlichen Zitate von Betroffenen stammen, sofern nicht anders vermerkt, aus den in Lucanamarca vorgenommen Interviews und wurden von der Verfasserin übersetzt. 12 | »Wahrheitskommissionen sind Untersuchungsgremien, die Gesellschaften, welche Situationen schwerer politischer Gewalt oder interne Kriege hinter sich haben, dabei unterstützen, sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, die von der Gewalt verursachten tiefen Krisen und Traumata zu bewältigen, und um zu verhindern, dass solche Geschehnisse sich in der näheren Zukunft wiederholen. Mit Hilfe der Wahrheitskommissionen versucht man, die Ursachen der Gewalt zu untersuchen, die Elemente des Konfliktes zu identifizieren, die schwersten Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und die entsprechenden juristischen Verantwortungen zu begründen.« (Cuya, www.derechos.org/koaga/iii/1/cuya.html, Übers. d. Verf.). 13 | www.cverdad.org.pe/lacomision/nlabor/objetivos.php 14 | Der vollständige Bericht ist auch online einsehbar: www.cverdad.org.pe/ifinal/ index.php 15 | Achtzig Prozent der Opfer waren männlich. Mehr als 55 Prozent davon waren zwischen 20 und 49 Jahren alt. 75 Prozent aller Opfer waren verheiratet oder lebten in einer Lebensgemeinschaft. Der Verlust so vieler junger Väter und Ehemänner, die für den Erhalt ihrer Familie und die Bestellung des Landes zuständig gewesen waren, war für den ländlichen Raum verhängnisvoll. 16 | Die fünf ärmsten departamentos sind Ayachucho, Junín, Huancavelica, Apurímac und San Martín (CVR 2003). 17 | www.pucp.edu.pe/idehpucp/images/docs/balance%20de%20la%20cvr. pdf, Übers. d. Verf. 18 | Priscilla Hayner (2003), die Wahrheitskommission in der ganzen Welt untersucht hat, spricht ebenfalls von einer möglichen Retraumatisierung im Rahmen des Zeugnisablegens. 19 | Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppe wurden während des bewaffneten Konflikts — insbesondere von der weißen Küstenbevölkerung — häufig beschuldigt, mit Sendero zu sympathisieren oder selbst »Terroristen« zu sein.

D IE PERUANISCHE K OMMISSION FÜR W AHRHEIT UND V ERSÖHNUNG

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S RI L ANK A — EIN L AND NACH DEM K RIEG Barbara Preitler

Im Trainingszentrum im Hochland Sri Lankas gibt es keine Internetverbindung, telefonisch sind wir nur über Mobiltelefon erreichbar. Da das Training sehr intensiv ist, bleibt auch wenig Zeit, in die nahegelegene Stadt Kandy zu fahren, um dort ein Internetcafe zu besuchen. Wir wissen in diesen Tagen recht wenig, was sich in der Welt um uns herum tut, da nur spärlich Nachrichten zu uns durchdringen. Dieses Paradox überrascht immer wieder: In Sri Lanka bin ich meist über die aktuellen politischen Geschehnisse im Land viel schlechter informiert als zurück im fernen Österreich, wo mich täglich Internetnachrichten erreichen. Es ist aber sicher auch eine Art Selbstschutz – in der konkreten psychosozialen Arbeit vor Ort ist kein Platz und keine Zeit für schlechte Nachrichten. Gerüchte erreichen uns trotzdem. Während des Trainingsprogramms im Februar 2007 erhielten gleich mehrere der StudentInnen Anrufe von zu Hause, in denen von einem Bombenattentat auf einen Bus im Heimatdorf berichtet wurde. Von ca. 10 getöteten Personen war die Rede. Es herrschte Unruhe in der Gruppe – alle waren in Sorge, ob vielleicht jemand, der ihnen nahe steht, im Bus gewesen war. Wir begannen diesen Trainingstag mit einer Schweigeminute und einem Gebet, dass einer unserer Studenten gestaltete. Später am Vormittag kam, wieder mittels Telefon, die entlastende Nachricht, dass es nur einige Leichtverletzte bei diesem Attentat gegeben hatte, niemand war getötet worden. Dieses Beispiel erscheint mir typisch für das Leben in Sri Lanka. Ständig muss mit schlechten Nachrichten gerechnet werden. Durch die Verunsicherung und durch viele traumatische Vorerfahrungen wird zuerst einmal mit dem Schlimmsten gerechnet.

Kurzer geschichtlicher Abriss des Konfliktes in Sri Lanka Der Inselstaat Ceylon (ab 1972 Sri Lanka) erlangte 1948 die Unabhängigkeit. Die Macht zwischen der Bevölkerungsmehrheit der SinghalesInnen (ca. 70 Prozent) und der Minderheit der TamilInnen (ca. 18 Prozent) war zu dieser Zeit sehr ungleich verteilt. Im Sinne des Machterhalts wurden während der britischen Kolonialzeit vor allem Angehörige der Minderheiten in Schlüsselpositionen eingesetzt. Der Unmut der SinghalesInnen nahm mit jeder fehlgeschlagenen politischen Intervention für mehr Mitspracherecht zu und wurde zunehmend aggressiv. 1956 gewann Solomon W.R.D. Bandnaraikes Sri Lanka Freedom Party (SLFP) die Wahlen mit dem Slogan »Sinhala only« und »Buddhism only«. (Otto 2000) Damit wurde Singhalesisch zur einzigen Staatssprache und auch der von seiner Grundlehre her tolerante Buddhismus, dem die Mehrheit der Singhale-

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sInnen angehören, wurde instrumentalisiert. Die mehrheitlich hinduistischen TamilInnen wurden in ihrer Sprache und in ihrer Religiosität diskriminiert; ebenso die moslemische Minderheit, wie auch TamilInnen und SinghalesInnen, die sich zum Christentum bekennen. Auf dieser Basis entstanden erste militante tamilische Gruppen und die Idee eines separaten Tamilenstaates im Norden und Osten der Insel. Die zunehmende Gewalt fand 1983 mit Pogromen gegen die tamilische Bevölkerung ihren Höhepunkt. Ab diesem Zeitpunkt wurde meist vom offenen Bürgerkrieg im Inselstaat gesprochen, der vor allem zwischen den singhalesisch dominierten Streitkräften und der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam), die für einen eigenen tamilischen Staat »Eelam« kämpften, ausgetragen wurde – und viele ZivilistInnen, die zwischen diese beiden Fronten gerieten, zu Opfern machte.

Tsunami als vereinendes Element Es gab in den letzten Jahren ein Ereignis, das die ethnischen Grenzen und Konflikte in Sri Lanka vergessen ließ. Nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2004, bei dem in Sri Lanka mehr als 30.000 Menschen getötet und ca. eine Million Menschen obdachlos wurden, war die Hilfe in den ersten Stunden und Tagen allgegenwärtig – ohne nach ethnischer Zugehörigkeit, politischer Überzeugung, Religion der Opfer oder HelferInnen zu fragen. Nach einigen Tagen setzte aber wieder die in 20 Jahren Bürgerkrieg aufgebaute Differenzierung ein. Vielfach kam es auch zu einer Art Wettbewerb, wer hilfsbedürftiger sei und wer denn die bessere bzw. schlechtere Katastrophenhilfe leiste. Die Gewalt zwischen TamilInnen und SinghalesInnen war in den ersten Tagen und Wochen nach der unvorstellbaren Katastrophe zum Stillstand gekommen. Diese Pause dauerte sechs Wochen: Anfang Februar 2005 wurde der tamilische Führer E. Kaushalyan der LTTE gemeinsam mit einigen Personen unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet (Peiris/Ratnayake 2005). Die »Waffenstillstandverletzungen« von beiden Konfliktparteien waren wieder an der Tagesordnung. »Although the tsunami delayed the return to full scale conflict between the LTTE and the GoSL,1 the initial hopes that it could act as a catalyst for peace proved to be short lived« heißt es dazu in einer Studie des Feinstein International Center (2007: 13).

Menschen hinter den Berichten und Bildern Wenn über die Dimension des Bürgerkriegs gesprochen wird, gibt es fast immer nur sehr vage Opferzahlen. Von ca. 60.000 Toten (vgl. bbc-online 2007),

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manchmal auch 65.000 oder 70.000 (Feinstein International Center 2007), die der Bürgerkrieg in Sri Lanka gekostet hat, ist die Rede. Gezählt bzw. geschätzt wird in 5.000er Schritten. Bradman Weerakoon (2002: 33) ist einer der Wenigen, die, mit Berufung auf die nicht näher benannten Quellen von Polizei, Militär und LTTE, die Opfer des Bürgerkriegs von April 1983 bis zum Waffenstillstandsabkommen im Februar 2002 benennen: So seien in der Armee 21.464 Opfer zu beklagen, die LTTE habe 20.335 Mitglieder verloren und 26 382 im Bürgerkrieg getötete ZivilistInnen werden gezählt: Nach diesen Angaben waren es also bis zum Waffenstillstandsabkommen vom Februar 2002 exakt 68.181 Menschen, die unmittelbar durch den Krieg ihr Leben verloren haben. Widersprüchlich ist dazu die Angabe der LTTE. Im November 2007 wird eine Liste veröffentlicht, in der von »nur« 19.887 getöteten Mitgliedern von 1982 bis 2007 berichtet wird (Palakidnar 2007). Über Opferzahlen in der darauffolgenden letzten 1 ½jährigen Kriegsphase gibt es so gut wie keine seriösen Angaben. Schlagzeilen von getöteten Rebellen, Terroristen oder Soldaten gehörten seit Mitte 2006 wieder zu den alltäglichen Nachrichten aus Sri Lanka. »Getötete Terroristen« ließen ein Bild von gut ausgebildeten Männern in Kampfanzügen vor dem inneren Auge entstehen. Tamilische Freunde erzählten, dass in den von der LTTE kontrollierten Gebieten 17jährige Burschen und Mädchen zwangsrekrutiert werden; BBC berichtete bereits 2006 (vgl. bbc-online 2006a) von Waffentrainings für die Frauen in diesen Gebieten, unterlegt von Bildern, wo Frauen mit Holzprügeln Schießübungen machten. Allan Rock, UN-Sonderberichterstatter für Kinder in bewaffneten Konflikten, schreibt nach seinem Besuch in Sri Lanka im November 2006, dass vor allem im Osten des Inselstaates Kindersoldaten in Sri Lanka rekrutiert werden. »Mr Rock spoke of 13 and 14-year-old children being kidnapped from villages, and no arrests or investigation being carried out by the security forces« (bbc-online 2006b). Im direkten Zusammenhang damit stand eine beunruhigende Zunahme an Kinderheiraten. Um ihre Kinder vor der Zwangsrekrutierung zu schützen, und ihnen damit das Leben zu retten, entschlossen sich Eltern, ihre Kinder bereits im frühen Teenageralter zu verheiraten. Im bewaffneten Konflikt werden immer wieder Beschuldigungen laut, dass sowohl die Regierungstruppen wie auch die LTTE ZivilistInnen als Schutzschilder missbrauchen. So beschreibt zum Beispiel der deutsche Journalist F. Kröger Kampfhandlungen im Mai 2007: »Durch diese strategische Position wird die LT TE daran gehindert, das Feuer zu erwidern: Es würde Zivilisten treffen. […] Drei Tage später verbreitete die Armee die Nachricht, dass die LT TE – ähnlich wie bei der Eroberung von Vakarai – ihre Camps in unmittelbarer Nähe des Karadiyanaru-Hospitals an der Nationalstraße A5 westlich von

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Batticaloa aufgeschlagen habe, um es als Schutzschild zu benutzen. In der Folge sei es besetzt worden, um nur LT TE-Kämpfer dort versorgen zu können, was gemäß dieser Argumentation im Vorhinein eine etwaige Bombardierung eines Krankenhauses rechtfertigen könnte.« (Kröger 2007)

Sind Kinder und Frauen auch »getötete TerroristInnen« oder zivile Opfer, von denen aber meist sehr wenig in den Medien zu erfahren ist? »We are still alive« ist die Überschrift über das einzige e-mail, das ich zwischen August und November 2006 aus dem Norden Sri Lankas bekommen habe. Das gesamte Mobilfunknetz wurde aus kriegstaktischen Gründen für den normalen Gebrauch gesperrt, Festnetz war nur dann bedingt erreichbar wenn auch die Stromversorgung funktionierte und das war sehr selten. Die Situation der Menschen hat sich in den folgenden Jahren bis zum Kriegsende massiv verschlechtert. Die Armee flog Bombenangriffe, im Osten war eine Offensive gegen die LTTE in den ersten Wochen des Jahres 2007 militärisch erfolgreich – humanitär aber wohl eine entsetzliche Katastrophe. Bereits Ende August 2006 – 15 Tage nachdem die nördlichen Regionen weitgehend abgeriegelt worden sind – warnten Vertreter des UN World Food Program (WFP) vor einer Hungerkatastrophe. Sie berichteten damals von 350.000 betroffenen Menschen. Im November 2006 wird erstmals von Todesfällen durch Hunger in den umkämpften Gebieten im Norden berichtet: Aber auch in den östlichen Krisengebieten waren zahlreiche DorfbewohnerInnen wochenlang ohne Versorgung, ganz zu schweigen von notwendiger medizinischer Versorgung (vgl. Preitler 2007). Zum Teil waren die gleichen Menschen, die erst vor zwei Jahren mit den Folgen des Tsunamis zurechtkommen mussten, Opfer dieser militärischen Auseinandersetzung geworden.

Das Ende des Krieges Im Mai 2009 wurden die KämpferInnen der LTTE von den Regierungstruppen vollständig besiegt. Der Krieg war zu Ende. Die letzten Monate zuvor waren von massiven Kämpfen gekennzeichnet gewesen. Bis zu 300.000 ZivilistInnen waren in dieser Zeit zwischen den Fronten gefangen. Die Überlebenden wurden in großen, von der Armee kontrollierte Camps im Norden des Inselstaates untergebracht. Nur sehr langsam gelingt die Rücksiedelung in die ursprünglichen Dörfer.

… und trotzdem »It must be remembered that the Sinhalese and the Tamils will continue to live on the island. It could be in two separate states living as neighbours, or in a federal union, or even under a unitary Government; but they will continue to live in that island. For them

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to live in harmony it is the paramount that the mindsets change« (Srikandarajah 2006: 307).

Es gab und gibt Gruppen in Sri Lanka, die für den Frieden und die Freiheit kämpfen, aber dabei sowohl das Leben anderer wie auch ihr eigenes respektieren und fördern. Ein Beispiel dafür ist das Wholistic Centre in Jaffna, wo das Programm für junge psychologische BeraterInnen weitergeht. Unter der Leitung von erfahrenen PsychologInnen und psychologischen BeraterInnen unterstützen die jungen Counsellor Menschen, die angesichts der anhaltenden Gewalt im Norden Sri Lankas immer wieder Traumatisches erleben und dringend psychologische und soziale Unterstützung brauchen. Dreimal waren wir in den Jahren des Waffenstillstands zu Weiterbildungsprogrammen für dieses Team eingeladen. Seit es wieder fast unmöglich ist, in den Norden Sri Lankas zu reisen, konnte diese Kooperation in dieser Form nicht mehr fortgesetzt werden. Der Kontakt ist aber nach wie vor aufrecht und die Hoffnung, bald wieder das Team besuchen zu können, besteht. Im Osten der Insel wurde das erste dreijährige Ausbildungsprogramm von CPC (Centre for Psychosocial Care) im März 2008 abgeschlossen. Auch hier wurden psychologische Counsellor, mit fachlicher Unterstützung der Universität Klagenfurt, ausgebildet. Das Besondere an dieser Gruppe ist sicher ihre ethnische Zusammensetzung. Die Teammitglieder sind SinghalesInnen, TamilInnen und Moslems – aus allen drei Gruppen sind Männer und Frauen im Team. In diesen drei Jahren haben die Counsellor Grundwissen über Psychologie und psychologische Beratung und Therapie erhalten. Auf spezielleres Wissen im Bereich Trauma und Trauer wurde von Anfang an besonderes Augenmerk gelegt, da dies angesichts der Situation zu Beginn des Kurses – einige Wochen nach dem Tsunami – vordringlich war. Die praktische Erfahrung begann in dieser Situation bereits vor der theoretischen Ausbildung. Alle Mitglieder von CPC waren unter den HelferInnen, die unmittelbar nach der Naturkatastrophe die betroffenen Menschen unterstützt haben. Aus dieser Nachbarschaftshilfe wurde im Laufe der Zeit eine immer professionellere Unterstützung. Zugleich hat die praktische Erfahrung geholfen, theoretische Inhalte sofort in den eigenen Arbeitskontext umsetzen zu können. Westliche Konzepte wurden so auch in die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen des multiethnischen Osten Sri Lankas übertragen und modifiziert. Zwischendurch erschien die Weiterführung des Kurses immer wieder in Frage gestellt. Es gab Wochen, in denen es dem Team nicht möglich war, die Flüchtlingslager zu erreichen, da dies viel zu gefährlich gewesen wäre. Manchmal konnten nur Teammitglieder der ethnischen Gruppe, der auch die Betreuten angehörten, in die Dörfer und Lager fahren. Die Anfeindungen kamen dabei nicht von den Menschen, die von CPC unterstützt wurden, aber das Risiko am Weg zu und von den Camps angehalten zu werden, war zu groß. Immer

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wieder musste mit einem »Hartal« gerechnet werden. Damit sind unangekündigte Streiks und Proteste gemeint, die sich innerhalb kurzer Zeit aufbauen können und die für alle, die von den Protestierenden als zur feindlichen Gruppe gehörig definiert werden, sehr gefährlich werden können. Das wohl schlimmste Ereignis erlebte einer der singhalesischen Counsellor – neben ihm wurde sein Klient erschossen. Obwohl er noch versucht hatte, zu vermitteln, konnte er den Mann nicht schützen, seinen Tod nicht verhindern. Dank der Unterstützung des Teams und des Direktors und erfahrenen Psychologen von CPC wurde der betroffene Counsellor unmittelbar nach diesem traumatischen Geschehen und auch in den darauf folgenden Wochen gut betreut. Die Trainingsprogramme bzw. Lehrveranstaltungen stellten angesichts der schwierigen Lage im Land fast eine Erholung für das Team dar. Ursprünglich geplant und budgetiert waren drei der insgesamt sechs Programme mit internationalen TrainerInnen außerhalb von Ampara. Aufgrund der Situation waren wir aber viermal in Trainingszentren, in denen unsere StudentInnen ihren schweren Alltag für einige Zeit hinter sich lassen konnten. Obwohl die Unterbringung sehr einfach war, genossen sie es sichtlich, einmal außerhalb der ständigen Gefahrenzone einige Tage verbringen zu können. Vor allem die beiden Teammitglieder, die in einem der so genannten »border villages« (Dörfer, die an die jeweils andere ethnische Region angrenzen und daher im Bürgerkrieg am verwundbarsten waren) lebten, erholten sich während dieser Tage zunehmend. Endlich konnten sie einfach schlafen, ohne befürchten zu müssen, jederzeit geweckt zu werden und in den Dschungel fliehen zu müssen. Erstaunlich waren angesichts dieser Situation der große Lernfortschritt und die persönliche Entwicklung der jungen Counsellor. Die Tage in Ampara, in denen sie aufgrund der Kriegssituation und der Hartals nicht mit den Menschen arbeiten konnten, nutzten sie für ihre Studien und Referatsvorbereitungen. Es wurde viel gelesen, im Internet recherchiert und diskutiert. Die Zeit wurde auch dazu verwendet, um sich die Referate gegenseitig vorzutragen und sich bei der grafischen Gestaltung der einzelnen Themen gegenseitig zu helfen. Im März 2008 haben die jungen Counsellor im südöstlichen Distrikt Ampara ihre Diplome erhalten. Erstmals verfügt dieser Bezirk damit über ein ausgebildetes Team, das sich kompetent der psychischen Probleme der Menschen, die so schwer an den Folgen von Krieg und Tsunami leiden, annehmen kann. Leider ist es nicht gelungen, die Finanzierung für eine zweite Projektphase zu bekommen – die Gelder nach der Naturkatastrophe waren aufgebraucht und für Kriegsopfer gab es keine vergleichbaren Finanzierungsmöglichkeiten. Wir stießen überall auf viel Lob für das Projekt – aber leider ohne konkrete Hilfe. Im Dezember 2010 steht das Projekt vor einer absurden Situation: viele Menschen und Institutionen wollen die Hilfe des Teams in Anspruch nehmen. Aber es gibt von keiner Seite Geld. Daher ist zu befürchten, dass es zur Schließung von CPC kommt.

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6. Die Autorinnen und Autoren dieser Publikation

Tina Bahovec, Assistenzprofessorin an der Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas des Instituts für Geschichte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Nationalitäten- und Geschlechterforschung, Geschichte Südosteuropas und des Alpen-Adria-Raumes (Schwerpunkt neuere Geschichte und Zeitgeschichte). Buchveröffentlichungen: »Eliten und Nationwerdung. Die Rolle der Eliten bei der Nationalisierung der Kärntner Slowenen/Elite in narodovanje. Vloga elit pri narodovanju koroških Slovencev (Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2003); »Das österreichisch-italienisch-slovenische Dreiländereck. Ursachen und Folgen der nationalstaatlichen Dreiteilung einer Region« (Hg. mit T. Domej, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2005), »frauen.männer« (Klagenfurt/ Celovec 2007). Wilhelm Berger ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, Prodekan der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (Klagenfurt – Graz – Wien) (IFF) und dort ao.Univ.Prof. am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung. Er leitet eine Reihe von Forschungsprojekten wie zum Beispiel »Genetic Testing«, hat zahlreiche Beiträge in Zeitschriften, Sammelbänden und Lexika verfasst. Buchveröffentlichungen u.a.: Die Organisation der Philosophen (gemeinsam mit Peter Heintel), Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1998; Unten durch. Ein Reisebuch (gemeinsam mit Gerhard Pilgram und Gerhard Maurer), Klagenfurt (Drava-Verlag) 1998, dritte Auflage 2000, Unmögliches Werden. Denkfiguren, Portraits, Gespräche über das Fremde (gemeinsam mit Klaus Ratschiller und Esther Schmidt), Wien (Turia+Kant) 2003, Philosophie der technologischen Zivilisation, München (Wilhelm Fink Verlag) 2006, Das Weite suchen (gemeinsam mit Gerhard Pilgram und Gerhard Maurer), Klagenfurt (Carinthia) 2006; Prenatal Testing: Individual Decision or Distributed Action? (gemeinsam mit Bernhard Wieser, Sandra Karner) München/Wien (Profil) 2006, Macht, Wien (Facultas UTB) 2009.

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K ULTURELLE D IMENSIONEN VON K ONFLIK TEN

Mate Ćosić received his MA in Sociology and Russian Language and Literature at University of Zadar, Croatia in 2008. After a year of working as a freelancer sociologist focusing on gender, migrant, sexuality and working class themes, he started his second MA in Sociology of Everyday Life at University of Ljubljana, Slovenia in 2010. Besides his academic interests Mate Ćosić is involved in various political-activist groups working on promotion of anti-capitalistic, direct-democratic and autonomous practices, concerning feminist politics and the freedom of sexual expression. Karmen Erjavec, PhD, University of Ljubljana, is Associate Professor at the Faculty of Social Sciences, Slovenia. She lectures in Journalism History; Media, Culture and Society; Journalistic Discourse, and Media Education. She has published articles in Discourse & Society; Journal of Ethnic and Migration Studies; European Journal of Communication; Journalism Practice; Journalism Studies, and Journalism. Brigitte Hipfl ist Ao. Univ. Professorin für Medienwissenschaft am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Medien- und Rezeptionsforschung, Cultural Studies, Gender Studies, theoretische und forschungspraktische Fragen zu Identitätsformationen, postkoloniales Europa und Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: »Bewegte Identitäten. Medien in transkulturellen Kontexten« (hg. mit B. Busch und K. Robins, Klagenfurt 2001), »Identitätsräume« (hg. gemeinsam mit E. Klaus und U. Scheer, Bielefeld 2004), »Media Communities« (hg. mit T. Hug, Münster 2006) und »Teaching with the Third Wave« (hg. mit D. Gronold und L. Lund Pedersen, Utrecht 2009). Christopher Kilmartin, Ph.D., is an educator, author, actor, playwrighter, consultant and psychotherapist. A Professor of Psychology at The University of Mary Washington in Fredericksburg, VA USA, he was the Fulbright Distinguished Chair in Gender Studies at the University of Klagenfurt, Austria in 2007. His scholarly works include The Masculine Self, Men’s Violence Against Women, The Pain behind the Mask, and Sexual Assault in Context. Dr. Kilmartin is an internationally-recognized expert on gender and violence prevention. Kirstin Mertlitsch, Mag.a, studierte Philosophie und Gender Studies in Wien und Klagenfurt. Sie ist Geschäftsführerin und Universitätslektorin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien an der Universität Klagenfurt. Zuletzt Mitherausgeberin des Buches: Über Geschlechterdemokratie hinaus (2009). Barbara Preitler, geb. 1964 in Graz, Studium der Psychologie in Wien und Klagenfurt, Psychotherapieausbildung beim ÖAGG und ÖAPS (Österr. Arbeitsge-

6. D IE A UTORINNEN UND A UTOREN DIESER P UBLIKATION

meinschaft für Psychoanalyse und Sozialtherapie) in Wien. 1994 Mitbegründung von HEMAYAT – Verein zur Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden in Wien, seit der Gründung Psychotherapeutin bei HEMAYAT. Von 2000 bis 2004 Projektreferentin für Südasien bei der Dreikönigsaktion, ca. 25 Reisen nach Südasien. 2004 bis 2008 Univ.Ass. an der Abt.f. Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie an der Universität Klagenfurt; Inhaltliche Leitung des Universitätslehrgangs »Academic Trauma Counselling«. Publikationen und Vortragstätigkeit zu folgenden Themen (Auszug): Psychologie der Folter, Traumatisierung nach ›man-made-disaster‹, Therapie mit Folterüberlebenden, Frauenpolitik in Südasien, Flüchtlingsproblematik, Kinderarbeit, Frauenempowerment in Indien, Psychologie und Menschenrechte. Geetha Ramanathan is Professor of Comparative Literature and Women’s Studies at the West Chester University of Pennsylvania where she has also served as Director of both programs. Her main fields of research include feminist film, and modernisms across cultures. She is most recently the author of »Feminist Auteurs: Reading Women’s Films« (Wallflower/Columbia University Press, 2006), and the co-editor of »Neo-Modernities and the Third World« (CLC Web: Purdue University Press, 2010). She is currently working on a manuscript entitled »(Dis)-locating Modernisms: Questions of Gender and Form.« Nora Ramirez Castillo, geb. 1981 in Klagenfurt, ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung und hat in den letzten Jahren insgesamt 16 Monate in Form von Studien- und Feldforschungsaufenthalten in Peru verbracht. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Thema der psychosozialen Langzeitfolgen der peruanischen Kommission für Wahrheit und Versöhnung für die Opfer der politischen Gewalt in Peru. Das Dissertationsprojekt wird durch ein Stipendium der Emil-Boral-Stiftung finanziert. Forschungsschwerpunkte: Psychotraumatologie, insbesondere Trauma nach Krieg und politischer Repression, ethnische Konflikte, psychologische Aspekte von Versöhnungsprozessen, Fragestellungen der Kulturpsychologie. Nora Räthzel, Professorin für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Umea, Schweden. Forschungsschwerpunkte: Klassen-Geschlechter- und ethnische Verhältnisse im urbanen Alltag; transnationale Unternehmen, Gewerkschaften und Umweltpolitik im Kontext des Nord- Südkonflikts. Veröff. u.a.: 2008: Finding the Way Home. Young Peoples’ stories of gender ethnicity, class and place in Hamburg and London. (mit: P. Cohen, L. Back, M. Keith, A. Hieronymus). Göttingen: V+R Unipress. 2009: Changing Relations in Global Environmental Change. In: Global Environmental Change 19 (mit D. Uzzell); 2009: Räthzel, N., et.al.: Unvollendete Transformationen: Widerstreitende Zugehörigkeiten, aufbrechende Geschlechterverhältnisse, Stadt-Land-Beziehun-

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K ULTURELLE D IMENSIONEN VON K ONFLIK TEN

gen. Arbeitsalltag in einem europäischen transnationalen Unternehmen in Mexiko. In: Forum Kritische Psychologie,52. Berlin. Argument Verlag. Viktorija Ratković, Mag.a, hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Anglistik und Amerikanistik sowie Feministische Wissenschaften/Gender Studies an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt studiert; ist organisatorische Leiterin des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Mitherausgeberin des ersten Bandes der Reihe Kultur & Konflikt (»Spielregeln der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Kulturwissenschaften«, zusammen mit Utta Isop und Werner Wintersteiner). Derzeit: Vorbereitung der Dissertation zum Themengebiet Medien und Migrant_innen. Fabian Virchow, Professor für Theorien der Gesellschaft und politischen Handelns am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Mediensoziologie, Soziale/Politische Bewegungen. Buchveröffentlichungen u.a. »Gegen den Zivilismus« (Wiesbaden 2006), »88 Fragen und Antworten zur NPD« (hg. mit C. Dornbusch, Schwalbach/Ts. 2008) und »War Isn’t Hell, It’s Entertainment: War in Modern Culture and Visual Media« (hg. mit R. Schubart, T. Thomas und D. White-Stanley, Jefferson 2009). Zala Volčič, PhD, University of Colorado at Boulder, is a Senior Lecturer at the School of Journalism and Communication and a Postdoctoral Fellow at the Centre for Critical and Cultural Studies, University of Queensland, Australia. She is interested in the cultural consequences of nationalism, capitalism, and globalization, with a particular emphasis on international communication, media and cultural identities. Her research seeks to connect media with work in journalism, media studies, cultural geography and nationalism studies. Her book Serbian Spaces of Identity will be published by Hampton Press in 2010. She has published widely in different international journals, such as Canadian Journal of Communication, Critical Studies of Media Communication, International Communication Journal, Gazette and Social Semiotics. Her recent articles appeared in Journal of Children and Media, Popular Communication, Journal of Global Mass Communication, and Global Media Journal.