Geschlecht und Geschichte in populären Medien [1. Aufl.] 9783839423738

Wie werden Geschlecht und Geschlechterverhältnisse über populäre Präsentationen von Geschichte konstruiert? Welche Chanc

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Geschlecht und Geschichte in populären Medien [1. Aufl.]
 9783839423738

Table of contents :
Populäre Geschichte und Geschlecht: Einleitung
Geschichte für junge Frauen: Die Vermittlung historischer Bildung in Schulgeschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen
›Römische Haus-Frauen und Geschäfts-Männer?‹Gender in deutschen und türkischen Schulbuchdarstellungen zum antiken Rom
Klio in neuen Kleidern: Geschichte in Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts im deutsch-britischen Vergleich
Blick zurück nach vorn: (Frauen-)Geschichte in feministischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Deutschland
Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand: Populäre Repräsentation von Geschlecht und politischer Gewalt im 19. Jahrhundert
Ein kompromissloser Blick aus der weiblichen Perspektive? Geschlechterkonstruktionen im Geschichtscomic am Beispiel von Gift
Tschingis Khaan aus weiblicher Perspektive: Zur Re-Evaluierung etablierter Geschlechterrollen und Geschichtsbilder in populären historischen Romanen
Die Geburtsstunde der »Trümmerfrau« in den Presseerzeugnissen der deutschen Nachkriegszeit
Von der zeitgenössischen Fiktion zur Dokumentation historischer Realität? Gender in US-amerikanischen Family Sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre
Wiederholung, Fortschritt und Rekonstruktion: Repräsentationen von Geschlechterverhältnissen der 1960er Jahre in Mad Men
Napoleon, Borodino und der Vaterländische Krieg von 1812 in populären russischen Geschichtsdiskursen der Gegenwart
Film als Erinnerungsraum des Holocausts in Litauen:Jüische Frauen zwischen Erinnern und Vergessen
Vom Hobbyhandwerker zur feinen Dame: Doing Gender in spätmodernen Zeitreisen
Wikinger sucht Walküre: Zur Darstellung der Wikingerzeit im Heavy Metal
Autorinnen und Autoren

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Elisabeth Cheauré, Sylvia Paletschek, Nina Reusch (Hg.) Geschlecht und Geschichte in populären Medien

Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen History in Popular Cultures | Band 9

Editorial In der Reihe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures erscheinen Studien, die populäre Geschichtsdarstellungen interdisziplinär oder aus der Perspektive einzelner Fachrichtungen (insbesondere der Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaft sowie der Ethnologie und Soziologie) untersuchen. Im Blickpunkt stehen Inhalte, Medien, Genres und Funktionen heutiger ebenso wie vergangener Geschichtskulturen. Die Reihe wird herausgegeben von Barbara Korte und Sylvia Paletschek (geschäftsführend) sowie Hans-Joachim Gehrke, Wolfgang Hochbruck, Sven Kommer und Judith Schlehe.

Elisabeth Cheauré, Sylvia Paletschek, Nina Reusch (Hg.)

Geschlecht und Geschichte in populären Medien

Gefördert mit einem Druckkostenzuschuss durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Paul-Jacques-Aimé Baudry: L’Assassinat de Marat / Charlotte Corday (1860), Nantes, Frankreich © bpk | RMN - Grand Palais | Gérard Blot Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2373-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Populäre Geschichte und Geschlecht: Einleitung

Sylvia Paletschek und Nina Reusch | 7

Geschichte für junge Frauen: Die Vermittlung historischer Bildung in Schulgeschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen

Martin Nissen | 39

›Römische Haus-Frauen und Geschäfts-Männer?‹ Gender in deutschen und türkischen Schulbuchdarstellungen zum antiken Rom

Jasmin Meier und Anabelle Thurn | 59

Klio in neuen Kleidern: Geschichte in Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts im deutsch-britischen Vergleich

Nina Reusch und Doris Lechner | 83

Blick zurück nach vorn: (Frauen-)Geschichte in feministischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Deutschland

Barbara Korte und Sylvia Paletschek | 105

Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand: Populäre Repräsentation von Geschlecht und politischer Gewalt im 19. Jahrhundert

Sylvia Schraut | 137

Ein kompromissloser Blick aus der weiblichen Perspektive? Geschlechterkonstruktionen im Geschichtscomic am Beispiel von Gift

Sylvia Kesper-Biermann | 153

Tschingis Khaan aus weiblicher Perspektive: Zur Re-Evaluierung etablierter Geschlechterrollen und Geschichtsbilder in populären historischen Romanen

Jule Nowoitnick | 173

Die Geburtsstunde der »Trümmerfrau« in den Presseerzeugnissen der deutschen Nachkriegszeit

Leonie Treber | 189

Von der zeitgenössischen Fiktion zur Dokumentation historischer Realität? Gender in US-amerikanischen Family Sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre

Andre Dechert | 209

Wiederholung, Fortschritt und Rekonstruktion: Repräsentationen von Geschlechterverhältnissen der 1960er Jahre in Mad Men

Renée Winter | 233

Napoleon, Borodino und der Vaterländische Krieg von 1812 in populären russischen Geschichtsdiskursen der Gegenwart

Regine Nohejl | 247

Film als Erinnerungsraum des Holocausts in Litauen: Jüdische Frauen zwischen Erinnern und Vergessen

Gintare Malinauskaite | 269

Vom Hobbyhandwerker zur feinen Dame: Doing Gender in spätmodernen Zeitreisen

Michaela Fenske | 283

Wikinger sucht Walküre: Zur Darstellung der Wikingerzeit im Heavy Metal

Imke von Helden | 299

Autorinnen und Autoren | 311

Populäre Geschichte und Geschlecht: Einleitung S YLVIA P ALETSCHEK UND N INA REUSCH

G ESCHLECHT – G ESCHICHTE – H ISTORIOGRAPHIE Erinnerung und Geschichtsschreibung, egal ob populär oder akademisch, sind immer geschlechtlich kodiert.1 Die Kategorie Geschlecht ist sowohl für die Subjekte als auch für die Objekte der Geschichte konstitutiv – wirkt sich also einerseits darauf aus, wer erinnert oder Geschichte schreibt, andererseits darauf, wer und was zum Gegenstand von Geschichtsdarstellungen erhoben wird. Geschlechterdifferenzen strukturieren auch die Institutionen, innerhalb derer Geschichte betrieben wird, die Art historiographischen Arbeitens sowie die Rezeption von Geschichte. Geschlecht ist somit eine Kategorie, die das gesamte Feld der Geschichtsschreibung und -darstellung durchdringt. Ein gendersensibler Blick auf Geschichtspräsentationen fokussiert nicht allein auf das Geschlecht(erverhältnis) der ProduzentInnen und RezipientInnen, sondern auch auf geschlechtliche Zuschreibungen sowie Ausschlüsse durch Themenwahl und Perspektive, Medien, Institutionen und Praxen. Intersektional verschränkt mit anderen Ungleichheitskategorien wie z.B. Klasse, Rasse, ethnische und regionale Herkunft, Religion, Alter, körperliche Verfassung etc. bestimmt die Kategorie Geschlecht, wer oder was als geschichtswürdig gilt. Sie konstituiert und durchdringt Wissensräume und Wissensformen. Einen methodischen Ansatz zur geschlechtersensiblen Untersuchung von Wissen schlägt Monika Mommertz mit dem Konzept vor, Geschlecht als »Markierung, Ressource und Tracer« zu erfassen (Mommertz 2010). Die Kategorie 1

Für die redaktionelle Unterstützung und das Layout dieses Bands danken wir ganz herzlich Josefine Polz.

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Geschlecht gibt in dieser Konzeption nicht nur über konkrete Geschlechterverhältnisse Auskunft, sondern auch über diverse gesellschaftliche Bereiche. So lässt sich mithilfe des Konzepts der ›Markierung‹ die Vergeschlechtlichung von (Wissens-)Kulturen analysieren. Dabei können nicht nur Personen geschlechtlich markiert sein, sondern auch Praktiken, Diskurse oder Institutionen. Geschlecht als ›Ressource‹ fragt danach, was die Geschlechterdifferenz beziehungsweise die Zwei- (oder womöglich auch Mehr-)Geschlechtlichkeit für Wissenskulturen und die Produktion von Wissen leistet. Das Konzept des ›Tracers‹ schließlich nutzt die Kategorie Geschlecht als Erkenntnismittel zur Erforschung verschiedener historischer Kontexte. So sind z.B. über die Untersuchung geschlechtsspezifischer Markierungen in der Zuschreibung von wissenschaftlicher Exzellenz und Innovation grundlegende Erkenntnisse über Wissen(schaft)sentwicklungen und Wissensordnungen ›im Allgemeinen‹ möglich.

G ESCHLECHT UND AKADEMISCHE H ISTORIOGRAPHIE : E RBE DES 19. J AHRHUNDERTS Die Art, wie akademische und populäre Geschichte auch heute noch betrieben und vergeschlechtlicht wird, hat ihre Ursprünge in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (Paletschek/Schraut 2008b: 10, 23). Mit der beginnenden Akademisierung und Professionalisierung der Historiographie seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts weitete sich die Kluft zwischen populärer und akademischer Geschichtsschreibung. Dieses Auseinandertreten und die Verwissenschaftlichung von Geschichte gingen gleichzeitig einher mit einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Themenwahl im Bereich der Wissensproduktion (Epple/Schaser 2009: 7-26; Smith 2001). Die moderne bürgerliche Gesellschaft verwies Frauen idealtypisch auf einen privaten Wirkungsbereich und schloss sie nicht nur aus der politischen Gemeinschaft der Staatsbürger, sondern weitgehend auch aus der wissenschaftlichen Wissensproduktion aus. Das Resultat war erstens eine Marginalisierung geschichtsschreibender Frauen, die in einer professionalisierten Historikerzunft bis Ende des 19. Jahrhunderts weder eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten noch akademische Titel erwerben konnten.2 Frauen wurden ab den 1860er Jahren allmählich an einzel-

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Als erste deutsche Historikerin erwarb Ricarda Huch 1892 in Zürich mit einer Dissertation über »Die Neutralität der Eidgenossenschaft während des Spanischen Erbfolgekrieges« den Doktorgrad (zu Huch siehe Schaser 2012). 1897 promovierte in Heidelberg die erste Historikerin an einer deutschen Universität im Gasthörerinnenstatus.

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nen europäischen Universitäten insbesondere der Schweiz, Frankreichs, Schwedens und Großbritanniens, häufig zunächst nur an Frauencolleges oder beschränkt auf bestimmte Fachgebiete oder Fachkurse wie z.B. Medizin an der Petersburger Universität, zum Studium zugelassen. Die Zulassung ging nicht immer mit dem Recht einher, auch einen Abschluss zu machen. Seit den 1880er Jahren öffneten sich sukzessive die Universitäten einzelner Staaten für das Frauenstudium, so in Frankreich, Norwegen, Schweden, Belgien oder Italien. Um die Jahrhundertwende folgten die Habsburger Monarchie, Russland und schließlich auch die deutschen Universitäten (Schneider 2006: 4-5). Erstmals konnten Frauen 1900 an badischen Universitäten als ordentliche Studentinnen zugelassen werden; bis 1909 öffneten schließlich alle deutschen Einzelstaaten ihre Universitäten für Frauen. Seit den 1890er Jahren kam es zu ersten geschichtswissenschaftlichen Promotionen von Frauen, vor allem von amerikanischen und englischen, aber auch deutschen Historikerinnen. Doch nicht nur der Zugang zu universitärer Ausbildung und Abschlüssen, sondern auch zu den historischen Wissensbeständen in Universitätsbibliotheken und Archiven war für Frauen lange noch beschränkt; ihnen blieben also die meisten infrastrukturellen und institutionellen Voraussetzungen der akademisch-historiographischen Forschung verwehrt (Epple 2011: 27; Grever 1997: 116). Am Beispiel des Frauenstudiums lässt sich das Konzept von Geschlecht als Marker, Ressource und Tracer gut darstellen: Die Nichtzulassung von Frauen an deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert – der formale Grund war das fehlende Abitur – markierte Studium und Universität als männlichen Raum. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stellte eine wichtige Ressource für die akademische Wissensproduktion dar, entlastete sie doch den Wissenschaftler von Reproduktionsaufgaben und erlaubte es ihm, sich ganz seiner Arbeit zu widmen. Der Blick auf die geschlechtsspezifische Dimension wissenschaftlicher Produktion und die Suche nach dem Beitrag von Frauen zur Wissenschaft macht – und hier fungiert Geschlecht als Tracer – die doppelte ›Schattenarbeit‹ im Hintergrund der oft als geniale Einzelleistung des männlichen Wissenschaftlers dargestellten wissenschaftlichen Arbeit deutlich: Nicht nur war die Freistellung von häuslichen und familiären Arbeiten eine Voraussetzung dafür, sondern ebenso wissenschaftliche Zuarbeiten in Form von Recherchieren, Redigieren, Übersetzen, Messen, Verzeichnen etc. Diese – keineswegs immer nur von Frauen übernommenen – Tätigkeiten werden bei der ›Suche‹ nach Frauen in der Wissen-

Seit 1920 konnten sich Frauen an deutschen Universitäten habilitieren – eine im 20. Jahrhundert fast ausnahmslose Bedingung für eine Berufung auf eine Professur (Paletschek 2007: 119).

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schaft plötzlich sichtbar und lassen so die komplexen, für die Produktion wissenschaftlichen Wissens notwendigen Bedingungen aufscheinen. Frauen waren daher als Privatassistentinnen, als Ehefrauen, Schwestern oder Töchter von akademischen Historikern auch vor ihrer offiziellen Zulassung zum Universitätsstudium und zur Promotion durchaus am Prozess der akademischen historischen Wissensgenerierung beteiligt (Paletschek 2007: 109-111). Formal jedoch aus dem akademischen Wissensraum ausgeschlossen, blieben geschichtsschreibende Frauen verstärkt auf den Bereich der ›populären‹ Geschichte verwiesen (Grever 1997: 2009). Doch war auch dieses historische Feld gegendert: zwar finden wir im 19. Jahrhundert erfolgreiche historische ›Sachbuchautorinnen‹ wie etwa Fanny Arndt, doch war ihr Anteil unter den Autoren populärer Geschichtsschreibung marginal (Nissen 2009: 74-77). Auch wählten sie, ähnlich wie ihre männlichen Kollegen, hauptsächlich Themen der Politikgeschichte oder die Biographien ›großer Männer‹ als Gegenstand. Dagegen waren Autorinnen im Bereich des historischen Romans, d.h. der fiktionalen Geschichtsschreibung, stärker vertreten. Dies hatte vermutlich sowohl ökonomische Gründe – vom Verkauf historischer Romane ließ sich eher leben als von Sachbüchern – als auch strukturelle Ursachen. Der faktuale Wissenserwerb war für Frauen aufgrund der Rollenvorgaben, des Bildungssystems und der rechtlichen Beschränkungen schwieriger; und ihnen wurde die Deutungshoheit in Sachfragen der historischen Wirklichkeit nicht im selben Maße wie Männern zugesprochen und zugetraut. Zum zweiten wandte sich die akademische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts primär bürgerlich-männlichen Lebensräumen und damit verbundenen Themen wie Staat, Kirche, Nation oder Krieg zu. Zwar finden wir zum Teil in der Aufklärungshistorie des späten 18. Jahrhunderts noch etablierte Historiker, die sich mit Frauengeschichte beschäftigten (Meiners 1788-1800; StollbergRilinger 1996), im Verlaufe des 19. Jahrhunderts waren es aber vornehmlich Außenseiter der Zunft, wie etwa der Kulturhistoriker Johannes Scherr, die sich der Geschichte von Frauen widmeten (Scherr 1860). Der mainstream der akademischen Historiker behandelte vornehmlich Themen und Institutionen der politischen Geschichte sowie die Ideen, die Werke und das Handeln ›großer Männer‹. Diese Sujets wurden als geschichtswürdig begriffen und ihre geschlechtliche Markierung – die Themen der Historiographie drehten sich allesamt um männliche Handlungsräume – wurde verdeckt bzw. als allgemeinhistorisch gesetzt (Epple/Schaser 2009; Paletschek/Schraut 2008c: 268). Gleichzeitig sah man mit der Konzentration auf Politik- und Ideengeschichte historische Themen, die weiblich konnotiert oder mit weiblichen Lebensbereichen verbunden waren – so kultur- und sozialgeschichtliche Themen wie z.B. Ernährung, Körper, Geburt

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und Tod, Familie, Alltagsleben etc. – als weniger bedeutsam an, oder sie waren gar kein Gegenstand der wissenschaftlichen, männlich kodierten Geschichtsschreibung. Weibliche Lebenswelten wurden nicht nur in der akademischen Geschichtsschreibung, sondern auch in der historischen Erinnerungskultur marginalisiert, indem sie im Bereich anthropologischer Konstanten verortet und damit enthistorisiert wurden. Frauen erinnerte man in ihrer Funktion als Mütter; weibliche Symbole standen für überzeitlich gedachte Werte, so etwa die Nation. Mit Geburt und Lebenskreislauf, mit Emotionen und der Natur assoziiert, repräsentierten Frauen bzw. weibliche Symbole ein zyklisches Zeitmodell, das als ahistorisch, d.h. unveränderlich erschien. Die Geschichte hingegen, verstanden als permanente historische Veränderung und als (teleologisches) Fortschreiten, wurde männlich gedacht (Paletschek/Schraut 2008b: 26). Die Marginalisierung von Frauen war also eine doppelte – sowohl als Subjekte, d.h. als Geschichtsschreiberinnen, als auch als Objekte, d.h. potentielle Akteurinnen der Geschichte (Smith 1984; Smith 2001: 103-156). Populäre Formen der Geschichte bargen jedoch schon im 19. Jahrhundert die Möglichkeit, die männliche Markierung von Geschichte zumindest teilweise aufzubrechen. Wie Bonnie Smith und Angelika Epple (Smith 2001: 37-69; Epple 2003) gezeigt haben, gab es in den Jahrzehnten um 1800 auf dem Buchmarkt erfolgreiche Historikerinnen wie z.B. Catherine Macauly, die Strickland Schwestern, Therese Huber oder Johanna Schopenhauer, die allerdings in der Folgezeit von der auf die akademische Geschichtsschreibung konzentrierten Historiographiegeschichte vergessen wurden. Im literarischen Genre des Romans bearbeiteten zahlreiche Autorinnen historische Stoffe. Historische Romane und andere, nicht an den akademischen Kanon gebundene Formen der Geschichte erlaubten es zudem, Themen zu setzen, die Frauen als historische Akteurinnen ins Licht rückten. Vor allem Kultur- und Alltagsgeschichte sowie biographische Zugänge hatten das Potential, den auf Staat, Politik, Kirche und große Ideen ausgerichteten Kanon aufzubrechen, und Frauen, aber auch nicht der bürgerliche oder adeligen Elite zugehörige Männer in ihren historischen Lebensweisen und Wirkungsbereichen darzustellen. Gleichzeitig war die Fiktionalisierung historischer Stoffe ein Weg, Frauen sowie untere soziale Schichten auch dann in der Geschichte sichtbar zu machen, wenn keine oder nur wenig Quellen verfügbar waren. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte musste und muss sich häufig dem Problem stellen, dass der Alltag von Frauen gerade unterer sozialer Schichten nur selten dokumentiert und überliefert wurde, dass Frauen selbst aufgrund mangelnder Schreibfähigkeit keine schriftlichen Quellen hinterließen oder dass Quellen, die Auskunft über Leben und Alltag von Frauen geben könnten, nicht in dem Maße

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archiviert werden wie Quellen, die Auskunft über männlich markierte Personen und Themen geben. Eine Wendung in fiktionale Genres wie den historischen Roman ermöglicht hier, den Mangel an Quellen zu kompensieren und auch auf lückenhafter Quellenbasis Frauen- und Alltagsgeschichte zu schreiben.

F RAUENBEWEGUNGEN

UND

G ESCHICHTSSCHREIBUNG

Frauengeschichte wurde im 19. Jahrhundert aber nicht allein in der populären Geschichtsschreibung und von Außenseitern der Zunft, sondern auch von Autorinnen aufgegriffen, die in der Frauenbewegung aktiv waren. Für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstehenden, in den Jahrzehnten um 1900 zu öffentlichkeitswirksamen Massenbewegungen herangewachsenen europäischen Frauenbewegungen war die Beschäftigung mit Geschichte ein wichtiges Moment der Identitätsstiftung und der Legitimation ihrer Forderungen – und zwar auf mehreren Ebenen (Grever 1997; Paletschek/Pietrow-Ennker 2004: 301-307). Erstens dienten ›große Frauen‹ der Vergangenheit oder der Mythologie zur Legitimation der Emanzipationsforderungen der jeweiligen Gegenwart: so konstruierte etwa die englische Frauenrechtlerin Charlotte Carmichael eine Traditionslinie weiblichen Widerstandsgeistes vom Kampf der Königin Boadicea gegen die Römer bis zu den Frauenrechtsforderungen ihrer Gegenwart (Rendall 2004: 33). Für die frühe tschechische Frauenbewegung waren historische und mythologische Figuren wie die Prinzessin Libuse, die tschechischen Amazonen, die Heilige Ludmila oder die weiblichen Hussiten ein wichtiger Teil ihrer Argumentationsstrategien (Maleþkova 2004: 167). Gerade für Frauenbewegungen, die eng mit nationalen Unabhängigkeitsbewegungen verbunden waren, hatte das Einschreiben von Freiheitskämpferinnen oder auch weiblichen Heiligen in die Geschichte der Frauenbewegung wie in die Nationalgeschichte bzw. nationale Mythologie eine wichtige Funktion. Zweitens waren Aktivistinnen der ›alten‹ Frauenbewegung meist die ersten, die im frühen 20. Jahrhundert eine Geschichte ihrer Bewegung schrieben oder die Initiative ergriffen, Quellen zu ihrer Bewegung zu sammeln. So verfassten Helene Lange und Getrud Bäumer 1901 einen ersten Überblick zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Johanna Naber unternahm dies für die Niederlande 1908, zur englischen Frauenbewegung erschien 1928 ein großes Werk von Ray Strachey. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden von den feministischen Aktivistinnen und Aktivisten Archive angelegt. So begannen die holländische Ärztin und Feministin Aletta Jacobs und ihr Mann C.V. Gerritsen, Bücher,

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Pamphlete und vor allem Zeitschriften zur feministischen Bewegung in Europa und Übersee zu sammeln;3 gleiches geschah in Frankreich, wobei die von Eliska Vincent seit den 1890er Jahren angelegte Sammlung verloren ging und überhaupt viele dieser Initiativen, so auch das 1935 in Amsterdam gegründete International Archive for the Women’s Movement durch den Zweiten Weltkrieg, die deutsche Besatzungszeit und die NS-Verfolgungen zum Stillstand kamen oder vernichtet wurden (Offen 2000: 3-17). Drittens: Frauenrechtlerinnen der ersten Stunden beschäftigten sich nicht nur mit der engeren ›eigene Geschichte‹ ihrer politischen Bewegung, sondern verfassten allgemeinere Werke zur Geschichte der Frauen oder einzelner herausragender Frauen, so etwa die deutsche Anna Blos zu den Frauen der Revolution von 1848/49 (Blos 1928; Riepl-Schmidt 1998: 134-156) oder die Russin Anna Engel’gardt mit ihrer breit angelegten historischen Arbeit über »Frauen in der Gesellschaft und der Familie« (Pietrow-Ennker 1999: 258). Die Beispiele zeigen, dass es hier eine vornehmlich von Aktivistinnen verfasste Frauengeschichte schon vor der in den 1970er Jahren aufkommenden akademischen Frauen- und Geschlechtergeschichte gab. Die Beschäftigung mit Frauengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert war – wenn auch nicht ausschließlich – insgesamt jedoch sehr eng mit der Entstehung feministischer Bewegungen verknüpft und scheint ohne diese kaum möglich gewesen zu sein. Wie schon die Feministinnen des 19. Jahrhunderts arbeiteten auch die Aktivistinnen der Zweiten Welle der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren daran, die Lebenswelten von Frauen in der Geschichte zu erforschen und sie in den historischen Kanon einzuschreiben. Die Frauengeschichte der 1970er und 1980er Jahre erhielt ihren Anstoß aus der sich formierenden zeitgenössischen Frauenbewegung und nicht aus den Universitäten heraus, selbst wenn es häufig feministische Studentinnen und Doktorandinnen bzw. promovierte Historikerinnen waren, die gemeinsam mit anderen Feministinnen in Frauengruppen und Geschichtswerkstätten die Geschichte von Frauen systematisch zu erforschen begannen (zu Frauenarchiven und -bibliotheken vgl. Schatzberg 1985). Mit der zunehmenden Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Frauengeschichte, d.h. der Weiterentwicklung zur Geschlechtergeschichte und der theoretischen Reflexion der historischen Kategorie Geschlecht seit den 1980er Jahren (Bock 1988; Scott 2003), vollzog sich ein methodischtheoretischer ebenso wie personell-institutioneller Abgrenzungsprozess der aka-

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Heute ist diese Bibliothek bzw. dieses Archiv online zugänglich und stellt einen wichtigen Quellenfundus für die Geschichte der europäischen Frauenbewegungen dar (http://gerritsen.chadwyck.com/home.do).

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demischen Frauen- und Geschlechtergeschichte von einer außeruniversitären, identitär und frauenpolitisch fokussierten ›Bewegungsgeschichtsschreibung‹ (Frevert 1988: 240-262; zu feministischer Identitätspolitik vgl. Maurer 1996; Hunt 1998). Die akademische Anerkennung der Frauen- und Geschlechtergeschichte, ebenso wie der Einstieg der zu diesem Themenfeld arbeitenden Historikerinnen (und sehr wenigen männlichen Historiker) in Universitätskarrieren ging mit einer Distanzierung von den politischen Frauenbewegungen einher (Scott 2004: 10-29; Bennett 2006; Paletschek 2009: 172). Der neuen Geschlechtergeschichte wurde deshalb der Vorwurf gemacht, politisch sytemstabilisierend und quietistisch zu wirken und das subversive politische Potential der Frauengeschichte auszuhebeln (Hunt 1998: 57-98). Wie Krista Cowman am britischen Beispiel zeigen konnte, wurde die von Laien-Historikerinnen und feministischen Aktivistinnen geschriebene Frauengeschichte von der neuen, universitären Frauen- und Geschlechterhistoriographie marginalisiert oder ausgeblendet; damit wurde auch, bei aller nachvollziehbaren Kritik an dieser oft intentional, auf politische Legitimation hin angelegten ›populären‹ feministischen Geschichtsschreibung, deren partiell vorhandenes innovatives Potential negiert bzw. übersehen (Cowman 2009). Sowohl die akademische Frauen- und Geschlechterhistoriographie als auch ihr ›populärer‹ feministischer Gegenpart hatten, wie das Beispiel zeigt, blinde Flecken. Sie konzentrierten sich auf Themen, die für den jeweiligen Rezeptionskontext und seine Denkstile bedeutsam waren, und nahmen sich gegenseitig nur mehr partiell wahr.

F RAUEN - UND G ESCHLECHTERGESCHICHTE , W ISSENSCHAFTSBETRIEB UND HISTORISCHER K ANON Die wissenschaftliche Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte – wie der Genderforschung insgesamt – hat einerseits während der letzten drei Jahrzehnte beachtliche Erfolge zu verzeichnen: eine Vielzahl von Forschungsarbeiten entstand, Professuren mit einer Denomination bzw. Teildenomination für Frauen- und Geschlechtergeschichte wurden errichtet, Fachzeitschriften4 sowie wissenschaftliche Fachorganisationen wie der »Arbeitskreis für Frauen- und Geschlechtergeschichte (AKHFG)« (2007) bzw. international die »International Federation of Research in Women’s History (IFRWH)« (1987) gegründet. Ande-

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Feministische Studien (1982); Ariadne: Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (1985); Journal of Women‘s History (1989); L’homme: Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft (1990); Gender & History (2004).

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rerseits ist das Einschreiben der Analysekategorie Geschlecht in den historischen Kanon bis heute nicht vollständig gelungen (Hagemann/Quataert 2008: 27-47). Ergebnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte werden auch heute meist nur additiv der großen (faktisch noch immer um männliche Lebensräume zentrierten) historischen Erzählung beigefügt. Eine symmetrische Geschichtsschreibung mit einer gendersensible Perspektive als integralem Bestandteil (vgl. zu den Forderungen Scott 2003; Bock 1988; Medick/Trepp 1998; Hausen 1998) ist weiterhin Desiderat, insbesondere was übergreifende synthetische Geschichtsdarstellungen in Überblickswerken oder Handbüchern zu National- oder neuerdings Globalgeschichte angeht (Smith 2009: 33-41). Eine Möglichkeit, männliche Kodierungen von Geschichte zu dekonstruieren, wird z.B. darin gesehen, multiple Geschichten in vielfältigen räumlichen Bezügen auch außerhalb der nationalen Kanons in die historiographische Forschung einzubeziehen (Epple 2009; Grever 2009: 53-54). Die trotz der zu konstatierenden Erfolge der Frauen- und Geschlechtergeschichte oftmals fehlende Sensibilität für die Differenzkategorie Geschlecht ist auf die große Beharrungskraft wissenschaftlicher Traditionen und Relevanzzuschreibungen, auf die noch deutlich optimierbare institutionelle Verankerung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an den Universitäten, ebenso wie auf die institutionelle Geschlechterungleichheit an den Universitäten5 sowie in gesellschaftlichen Führungspositionen zurückzuführen. Warum es so schwierig ist, einen geschlechtersensiblen Perspektivwechsel im historischen Kanon und Geschichtsverständnis zu verankern, hat auch damit zu tun, wie Geschichtsschreibung organisiert ist und welche Rolle Geschlecht in der Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur spielt. Untersuchungen der Historiographiegeschichte und der Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur unter geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen können hier ein wichtiges tool sein, um nicht nur vergangene, sondern auch gegenwärtig noch wirksame und tradierte Einund Ausschlussmechanismen zu verstehen und dadurch ein Stück weit auszuhebeln. Bonnie Smith hat in ihren bahnbrechenden Arbeiten über »The Gender of History« (Smith 2001; Smith 1984) die männliche Imprägnierung und Imaginierung der im 19. Jahrhundert sich entwickelnden wissenschaftlichen Geschichts-

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Frauen stellen heute zwar über die Hälfte der Geschichtsstudierenden, ihr Anteil nimmt jedoch mit jeder weiteren universitären Karrierestufe ab. Der Anteil von Geschichtsprofessorinnen lag 2002 bei ca. 12% (Paletschek 2007: 124); wie auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist auch in der Geschichte seit den 2000er Jahren ein deutlicher Anstieg des Professorinnenanteils zu verzeichnen; allerdings sind die prestigereichen, gut ausgestatteten Professuren überproportional häufig mit Männern besetzt.

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schreibung herausgearbeitet und mit als erste den Blick nicht nur auf die universitäre, sondern auch auf die außeruniversitäre und populäre Geschichtsschreibung von Frauen gelenkt. Ebenfalls früh hat auch Maria Grever darauf hingewiesen, dass die Untersuchung von Historikerinnen außerhalb der Akademien nötig sei, um die »relative Geschichtslosigkeit der Frauen« einerseits als Resultat und Teil der Ausschlussmechanismen des wissenschaftlichen Betriebs zu erfassen, andererseits aber auch die Grenzen von populärer, literarischer und akademischer Geschichtsschreibung, die im Zuge der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft entstanden, als Genre- wie Geschlechtergrenzen zu verstehen (Grever 1997; vgl. auch Howsam 2004; Maitzen 1998). In den letzten 15 Jahren entstanden im Anschluss an diese Forschungen Untersuchungen, die sich mit der Metaebene der Historiographiegeschichte unter Genderperspektive beschäftigten – also z.B. mit der Geschichte von Historikerinnen oder der Verhandlung von männlichen Geschlechtsindentitäten in der Geschichtschreibung.6 Geschichte schreibende Frauen, das zeigen diese Studien, verrichteten ihre Arbeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich im Spannungsfeld von populärer und wissenschaftlicher Historiographie. So war es auch ein Verdienst der Geschlechtergeschichte – gewissermaßen als Tracer – populären Geschichtspräsentationen wie auch ihren Interaktionen mit der akademischen Historiographie mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und aufzuzeigen, dass es vielfältige Verflechtungen zwischen akademischer und außerakademischer Historiographie gab und gibt. Die akademische Geschichtsschreibung ist, ebenso wie die populäre, nicht getrennt von der in einer Zeit vorherrschenden Geschichtskultur zu begreifen; beide sind in je spezifischer Weise von dieser beeinflusst. Keineswegs kann die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, wie noch von Maurice Halbwachs so gesehen, als säuberlich getrennt von der vorherrschenden Erinnerungskultur betrachtet werden (Halbwachs 1985). Sie geht zwar nicht in dieser auf – aufgrund der geforderten wissenschaftlichen Selbstreflexion und des historistischen Codes, jede Zeit aus sich heraus zu verstehen und methodisch kontrolliertes historischen Wissen zu produzieren, ist sie weniger intentional und funktional ausgerichtet als das kollektive Gedächtnis. Doch zeigen gerade die Forschungen zur Nationalgeschichtsschreibung (Berger 2008), aber auch zur männlichbürgerlichen Imprägnierung der modernen Historiographie, dass diese keines-

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Siehe u.a. Melman (1993); Stollberg-Rillinger (1996); Grever (1997); Maitzen (1998); Medick/Trepp (1998); Burstein (1999); Epple (2003; 2011); O’Dowd (2004); Paletschek (2006; 2007a); Felber (2007); Berger (2008); Hagemann/Quataert (2008); Epple/Schaser (2009); Schaser (2012).

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wegs unabhängig von den erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Bedürfnissen ihrer Gegenwart operiert. Ihre Verschränktheit mit Erinnerungskulturen, die wiederum von den jeweiligen Gesellschafts- und Geschlechterverhältnissen geprägt sind, verstärkte z.B. im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert die Ausrichtung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung auf männliche Handlungsräume.

E RINNERUNGSKULTUR , G ESCHICHTSKULTUR , POPULÄRE G ESCHICHTE UND G ESCHLECHT Mittlerweile kursieren eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten, die sich im weitesten Sinne auf den Umgang einer Gesellschaft mit der Vergangenheit und auf deren Präsentation und Funktion beziehen: kollektives Gedächtnis (Halbwachs), kulturelles und kommunikatives Gedächtnis (J. und A. Assmann), Erinnerungsorte (Nora), Erinnerungskultur (J. und A. Assmann, Gießener SFB, Fran ˔ois/Schulze), Geschichtskultur (Rüsen, Schönemann), Geschichtspolitik (Wolfrum), Erinnerungsgeschichte (Langewiesche), Public History oder populäre Geschichte bzw. Geschichte in populären Medien und Genres (Korte/Paletschek). Einflussreich war hier zunächst die Theorie des kollektiven Gedächtnisses, die Maurice Halbwachs bereits in den 1920er Jahren formulierte (Halbwachs 1985) und die darauf abhob, dass Erinnerung immer rückgebunden ist an ein Kollektiv, dass nur in einem sozialen Rahmen erinnert werden kann und Erinnerung für die Identität einer Gruppe funktionalisiert wird. Seit Ende der 1980er Jahre wurde diese Theorie von Aleida und Jan Assmann aufgenommen und zum Modell des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses bzw. des Speicherund Funktionsgedächtnisses ausgearbeitet (Assmann 1992; Assmann/Assmann 1994). Kulturelles Gedächtnis fasst den in »jeder Gesellschaft oder jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.« (Assmann 1988: 15)

Erinnerungskultur wird verstanden als »Gedächtnis, das Gemeinschaft« (Assmann 1992: 30) stiftet und hebt besonders auf den funktionalen Gebrauch für

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gegenwärtige (politische) Zwecke und historisch begründete Identitäten ab (Cornelißen 2003: 555).7 Nicht nur die Kulturwissenschaften, auch die Geschichtsdidaktik hat sich fast zeitgleich der Frage nach dem Umgang mit Geschichte und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft angenommen und das Konzept der Geschichtskultur entwickelt (Rüsen 1994; Schönemann 2002). Geschichtskultur umfasst alle in einer Gesellschaft wirkenden oder aufzufindenden Formen des Geschichts- oder Vergangenheitsbewusstseins.8 Geschichtskultur-Forschung untersucht die vielfältigen Arten, wie sich eine Gesellschaft in Beziehung zu ihrer Vergangenheit setzt und berücksichtigt dabei, dass Geschichte nicht nur kognitiv in bewussten Erinnerungsakten, sondern auch ästhetisch und emotional rezipiert wird, dass sie vielfältige Funktionen – der Belehrung wie der Kritik, der Legitimation wie der Aufklärung, aber auch der Unterhaltung und Ablenkung – erfüllen kann. Sie wird nicht nur von staatlichen und kulturellen (Bildungs-)Institutionen, sondern ebenso von kommerziellen Einrichtungen und Medien sowie zivilgesellschaftlichen Vereinigungen getragen. Unter dem umbrella term Geschichtskultur werden nicht nur historische Inhalte und Narrative untersucht, sondern auch die AkteurInnen und Medien, die Geschichte konstruieren, ebenso wie die Verbreitungswege und die Rezeption des historischen Wissens (Grever 2008; Sánchez Marcos 2009). Das Konzept der Geschichtskultur ist weniger prozesshaft-funktional ausgelegt als andere Konzepte des Umgangs mit Geschichte. Es fasst daher den bei populären Geschichtspräsentationen oft in den Vordergrund tretenden ästhetischen und ökonomischen, spielerisch-unterhaltenden und auch eskapistischen Charakter besser als der auf politische Implikationen ausgerichtete Begriff der Erinnerungskultur. Stärker auf die Produkt- und Erscheinungsebene fokussiert ist der Begriff der populären Geschichtspräsentationen oder der populären Geschichte, unter dem

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Zu unterschiedlichen Dimensionen der Erinnerungskultur (materiell, sozial, mental) siehe Erll (2005: 101ff); zur konzisen Diskussion der unterschiedlichen Konzepte in ihrem Potential zur Analyse von Geschichtsdarstellungen in populären Medien siehe Heinze (2012: 23-35).

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Der Begriff Vergangenheitsbewusstsein wird aus ethnologischer Perspektive z.B. von Judith Schlehe favorisiert, da der Geschichtsbegriff eine seit der Sattelzeit um 1800 in Europa formierte Vorstellung von Geschichte als Kollektivsingular und fortschreitendem Prozess benennt, die so in vielen nicht-europäischen Gesellschaften nicht ausgeprägt war. Stattdessen waren außerhalb der westlichen Welt häufig religiöse oder mythische Vergangenheitsbezüge konstitutiv, die vielfach noch bis in die Gegenwart weiterwirken.

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Darstellungen in textueller, visueller, audiovisueller und performativer Form gefasst werden, die »Wissen über die historische Vergangenheit in einer verständlichen, attraktiven Weise präsentieren und ein breites Publikum erreichen, das aber nicht unbedingt ein Massenpublikum sein muss.« (Korte/Paletschek 2009b: 13).9 Mithilfe des Konzepts populärer Geschichte wird versucht, die breite Palette und die vielfältigen Erscheinungsformen vergangener und gegenwärtiger Beschäftigung mit Vergangenheit zu fassen. Heute können wir Geschichte im Fernsehen und Radio, in Zeitungen, Romanen oder Comics konsumieren. Sie ist präsent in Themenparks und Freilichtmuseen, alten Burgen, Stadtmauern oder Gedenkstätten. Laiendarsteller spielen in Re-Enactments historische Schlachten nach oder schlüpfen auf Mittelaltermärkten und Live-Rollenspielen in historische Lebenswelten. In Computerspielen können UserInnen in historischen Welten agieren, und das Internet bietet zahlreiche Möglichkeiten textueller wie audiovisueller Geschichtspopularisierung. Geschichte war auch schon im 18. und 19. Jahrhundert – und teilweise auch davor – Thema populärer Unterhaltung. Ob es sich nun um historische Bezüge in den Dramen Shakespeares handelt oder um Panoramen des 19. Jahrhunderts, um Bildungszeitschriften der Aufklärung oder um Nationaldenkmäler und Heimatmuseen, die im späten 19. Jahrhundert errichtet wurden – ihnen allen ist gemein, dass sie Geschichte schon lang vor bekannten TV-Sendungen wie »Holocaust« (1978) oder »Hitlers Helfer« (1996) popularisierten. Gewandelt haben sich im 20. Jahrhundert allerdings die Medien und Genres der populären Geschichte. Während Geschichte im 19. Jahrhundert vorwiegend in Printmedien und Museen präsent war oder BesucherInnen von Bauwerken, Ruinen und Denkmälern eine historische Aura vor Ort erleben konnten, bot die Entwicklung vor allem audiovisueller Medien im 20. Jahrhundert völlig neue Möglichkeiten, Geschichte in bewegten Bildern und Tönen lebendig werden zu lassen. Die Fokussierung populärer Geschichtspräsentationen auf der Produktebene, aber auch die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Funktionen von (populärer) Geschichte prädestiniert sie für einen interdisziplinären Zugriff. So legt die Analyse der jeweiligen Mediendispositive, die die historischen Inhalte und das historisch Sag- und Darstellbare bestimmen, sowohl historische, ethnologische wie auch literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Zugänge sowie selbstverständlich auch eine Gender-Perspektive nahe. Während lange Zeit Facetten der Geschichts- und Erinnerungskultur vornehmlich in ihrer nationalpolitischen Dimension, über ›hochkulturelle‹ Ge-

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Dort auch weitere Ausführungen zu den Begriffen populär bzw. populäre Geschichtskultur (ebd. 14-20).

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schichtsrepräsentationen sowie in Bezug auf Prozesse der Vergangenheitsbewältigung, den Umgang mit Krieg, Traumata und Genozid im 20. Jahrhundert untersucht wurden, erschienen in den letzten Jahren vermehrt auch Studien zur populären Geschichtskultur. Diese Arbeiten analysieren populäre Geschichte, oftmals mit Rückgriff auf neuere, aus den Cultural Studies stammende Theorien, in unterschiedlichsten Epochen, Räumen und Medien.10 Doch auch diese neueren Forschungen betrachteten Geschlecht als Faktor populärer Geschichtskultur zunächst höchstens am Rande. Ähnlich wie die Historiographiegeschichte lange Zeit geschlechterblind betrieben wurde, entstanden trotz des Booms der Erinnerungskulturforschung in den letzten beiden Jahrzehnten erst allmählich Arbeiten zum Themenkomplex Geschlecht und Erinnerungskultur (Paletschek/Schraut 2008a). Diese beschäftigten sich vor allem mit in nationale Erinnerungskulturen eingeschriebenen Geschlechterbildern, etwa am Beispiel der napoleonischen Kriege (Schilling 1998; de Bruyn 2002; Förster 2004; 2012), der Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts (Rausch 2008: 31-60) oder geschlechtlicher Nationalsymbolik (Falkenhausen 1997). Mittlerweile liegen auch einige Arbeiten zu geschlechtsspezifischen Aspekten der Erinnerung an den Holocaust vor (Eschebach/Wenk 2002; Bruns 2012). Doch eine breite Untersuchung populärer Geschichtskultur unter Geschlechterperspektive ist nach wie vor Desiderat. Im Bereich populärhistorischer Produkte gibt es zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass und wie durch populäre Geschichte in faktualen wie fiktionalen, textuellen, audiovisuellen wie performativen Formen Geschlechterrollen und -verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart verhandelt wurden und werden. So steht etwa bei Mittelaltermärkten oder Freilichtmuseen eine Rekonstruktion historischer Alltagskultur und weiblicher wie männlicher Handlungsräume im Vordergrund; Spielfilme beschäftigen sich mit großen Frauen der Geschichte (Elizabeth, 1998/2007) oder mit Frauen, die aus ihrer traditionellen Geschlechterrolle ausbrechen (The Messenger: The Story of Joan of Arc, 1999; Die Päpstin, 2009); auch Homosexualität rückt zuweilen in den Fokus der historischen

10 Als Auswahl vgl. Rosenzweig/Thelen (1998); Crane (2000); Glassberg (2001); Crivellari et al. (2004); Hardtwig/Schütz (2005); Melman (2006); Groebner (2008); Langewiesche (2008); Bösch/Goschler (2009); Groot (2009); Hardtwig/Schug (2009); Howsam (2009); Korte/Paletschek (2009a; 2012); Nissen (2009); Oswalt (2009); Gehrke/Sénécheau (2010); Pirker/Rüdiger (2010); Korte/Pirker (2011); Paletschek (2011); Samida (2011); Heinze (2012); Kircher (2012); zu Geschichte im Fernsehen siehe u.a. Lersch/Viehoff (2007); Keilbach (2008), Fischer/Wirtz (2008); Horn (2009).

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Populärkultur (Aimée und Jaguar, 1999). In Dokus werden weibliche Rollenmodelle der 1950er Jahre getestet (Die Bräuteschule, 2007; Klein 2009) und in der Re-Enactmentszene ermöglicht die Nachstellung historischer Schlachten die Verwandlung der Teilnehmenden in männliche Krieger und Soldaten. Historische Romane haben selbst in vormodernen Epochen emanzipierte Frauen als Heldinnen (Ken Follett, The Pillars of the Earth, 1990; Iny Lorentz, Die Wanderhure, 2004). In vielen Städten gibt es feministische Stadtführungen bzw. Frauenstadtrundgänge, die vom Touristenbüro vermarktet werden. Werbefilme oder preisgekrönte Fernsehserien wie z.B. »Mad Men« (2007) spielen mit den Geschlechterrollen und -konventionen vergangener Jahrzehnte. Es zeigt sich hier sowohl ein großes Feld für das ständige Wiedereinschreiben hergebrachter Geschlechterrollen wie auch fürs Experimentieren mit geschlechtlichen Identitäten. Populäre Geschichte vermittelte und vermittelt nicht nur gesellschaftlich relevante Geschichts-, sondern auch Geschlechterbilder, und war und ist ein wichtiger Bestandteil der Konstruktion von Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit. Eine Beschäftigung mit Vergangenheit und Geschichte rekurriert – offen oder verdeckt – immer auch auf die Produktion und Reproduktion von Geschlechterbildern und geschlechtlichen Identitäten, auf die Diskussion, Legitimierung und De-Legitimierung gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse sowie auf die historischen Naturalisierungen von Zweigeschlechtlichkeit und bürgerlichen Geschlechter- und Familienmodellen. Durch die Produktion und Rezeption populärer Geschichte findet ein doing gender nicht nur in performativen Bereichen (zum Beispiel durch die spielerische Aneignung historischer vergeschlechtlichter Identitäten) statt. Populäre Geschichte kann auch die Möglichkeit bergen, geschlechtliche Identitäten zu dekonstruieren und zu hinterfragen – so wird (das zeigen einige der Beiträge dieses Bandes) mit Geschlechterrollen vor allem in fiktionalen und performativen Medien gespielt. In der populären Geschichte ist, trotz der affirmativen Dominanz des gesellschaftlichen und geschlechterstereotypen mainstream, zumindest das Potential angelegt, durch Historisierung von Geschlechterverhältnissen das oftmals so selbstverständlich genommene bürgerliche heteronormative Geschlechter- und Familienmodell partiell aufzubrechen und zu dekonstruieren.

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D IE B EITRÄGE

DES

B ANDES

Der vorliegende Band analysiert in exemplarischen Fallbeispielen die Zusammenhänge von populärer Geschichte und Geschlecht.11 Für historische Referenzräume von der Antike bis zur Gegenwart, für verschiedene Gegenwarten vom 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert, sowie für unterschiedliche Medien und Genres wird untersucht, wie Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in populären Präsentationen von Geschichte konstruiert und verhandelt werden. Über die Beschäftigung mit populärer Geschichte kann die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die historische Wissensgenerierung und historische Wissenskulturen reflektiert werden. Mit dem Blick auf die Kategorie Geschlecht als Marker, Ressource und Tracer lassen sich aber auch umgekehrt Spezifika populärer Geschichtspräsentationen differenzierter herauspräparieren. Folgende Forschungsfragen bieten sich als Einstieg an: 1) Welchen Stellenwert haben Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte in populären Medien und welche Entwicklungslinien bzw. Traditionen lassen sich festhalten? 2) Sind populäre Medien, Formate und Publika offener für Fragen der Frauen- und Geschlechtergeschichte als akademische Präsentationsformen und Kontexte? Gibt es eine Interaktion zwischen akademischer und populärer historischer Wissensproduktion in diesem Themenfeld? 3) Wie wirken unterschiedliche Medien und Formate auf die in populären Medien konstruierten Geschichtsbilder von Geschlechterrollen und -verhältnissen zurück? 4) Wie verhalten sich die in populären Medien hergestellten und transportierten Geschichtsbilder zu den jeweiligen Gesellschaftsentwicklungen und welche Rolle spielen populäre Geschichtsdarstellungen in der Herstellung von Geschlecht? Diese und ähnliche Fragen wurden in unterschiedlicher Weise in den vorliegenden Beiträgen aufgegriffen. Martin Nissen untersucht in seinem Beitrag Geschichtsschulbücher für Mädchen im 19. Jahrhundert und zeigt deren geschlechtsspezifische Besonderheiten auf. Geschichtsunterricht für Mädchen sollte statt der Vermittlung ereignisgeschichtlicher Fakten vor allem dazu dienen, christliche, später auch patriotische Moral zu vermitteln und den Schülerinnen ganz im Sinne einer historia magistra

11 Die Beiträge gehen auf eine von der DFG-Forschergruppe »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart« im Dezember 2011 in Zusammenarbeit mit dem »Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG)« veranstaltete Tagung zurück. Tagungsbericht Geschlecht und Geschichte in populären Medien. 01.12.2011-03.12.2011, Freiburg im Breisgau, in: H-Soz-u-Kult vom 16.02.2012 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4069). Zugriff am 26.4.2013.

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vitae historische Vorbilder zu präsentieren. Im höheren Mädchenschulwesen wurde Geschichte bevorzugt als Kultur- und Sozialgeschichte gelehrt, die Politikgeschichte rückte vergleichsweise in den Hintergrund, d.h. die (Schul)Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts waren per se und in ihren Inhalten gegendert. Die Darstellungen in den Schulbüchern wurden personalisiert und emotionalisiert. Diese Formen der Veranschaulichung rückten Mädchenschulbücher in die Nähe populärer Geschichtsdarstellungen ihrer Zeit. Jasmin Meier und Anabelle Thurn untersuchen Geschichtsschulbücher des 21. Jahrhunderts unter der Fragestellung, wie diese Frauen- und Geschlechtergeschichte thematisieren. Die Darstellung antiker Geschlechterverhältnisse, so ihre zentrale These, die sie anhand eines deutsch-türkischen Vergleichs aufstellen, applizieren moderne Geschlechterverhältnisse auf die Antike. Dies zeigt sich nicht nur in den Texten, sondern insbesondere in den Deutungen bildlicher Darstellungen. Sie spiegeln zudem die national unterschiedlichen Historiographietraditionen, so z.B. im türkischen Fall einen geographisch-räumlichen Zugang zu Geschichte, im deutschen Fall das frühere Aufgreifen sozialgeschichtlicher Perspektiven. Der Vergleich zeigt, dass sich die Darstellung der antiken Geschlechterverhältnisse und -rollen entsprechend der national unterschiedlichen Geschlechterdiskurse teilweise signifikant unterscheidet. Gemein ist den neuesten Schulbuchproduktionen beider Länder jedoch die anachronistische Projektion, die Menschen der Antike trotz höchst unterschiedlichem sozialem und rechtlichem Status primär als »römische Hausfrauen und Geschäftsmänner« präsentiert. Eine vielleicht noch breitere RezipientInnenschicht als das Schulbuch wies im 19. Jahrhundert das Medium der Zeitschriften, hier insbesondere der Familienzeitschriften, auf. In einem deutsch-britischen Vergleich untersuchen zwei Beiträge den Stellenwert von Frauen- und Geschlechtergeschichte in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Beide Beiträge zeigen, dass sich bereits im 19. Jahrhundert in der populären Geschichtsschreibung Traditionslinien einer gegenderten, auf unterschiedliche geschlechtsspezifische Publika abzielenden populären Geschichtsschreibung ausbildeten, die sich nach Inhalt und Darstellungsform deutlich von akademischen Geschichtspräsentationen unterschied. Doris Lechner und Nina Reusch machen in ihrer Untersuchung deutscher und britischer Familienzeitschriften die Zusammenhänge von Geschlechter- und Kulturgeschichte deutlich und überprüfen die These eines intersektionalen Zusammenhangs von Gender und Genre. Familienzeitschriften, so zeigen sie am Beispiel von Modegeschichte auf, schrieben Geschichte für ein geschlechtlich nicht spezifisches Publikum, doch bot das Genre einen doppelten Raum für Frauen in der Geschichte: als Autorinnen wie als historische Akteurinnen.

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Barbara Korte und Sylvia Paletschek richten ihren Fokus auf feministische Zeitschriften und untersuchen, wie die bürgerlichen Frauenbewegungen beider Länder den Rückgriff auf Freiheits- und Emanzipationsbewegungen, auf ›große Frauen‹ und auch ›große Männer‹ der Geschichte zur Legitimation ihrer Emanzipationsforderungen nutzten. Frauengeschichte erlangte einen zentralen Stellenwert als Beleg für die intellektuelle, politische und ökonomische Leistungsfähigkeit von Frauen. Anfänge der Selbsthistorisierung zeigen sich aber auch, indem seit dem späten 19. Jahrhundert die ›eigene‹ Geschichte, d.h. die Geschichte der Frauenbewegungen, aufgearbeitet wurde. Ansatzweise fanden in den Zeitschriften der Frauenbewegung auch Metareflexionen über das Schreiben von Geschichte statt. Der ›allgemeinen‹ männlich konnotierten Geschichte wurde hier eine weibliche, sehr stark intentional ausgerichtete Gegengeschichte gegenübergestellt. In unterschiedlichen Printmedien vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart untersucht Sylvia Schraut fiktionale und faktuale Darstellungen der gewalttätigen Attentate von Charlotte Corday (1768-1793), die 1793 den Revolutionär Jean Paul Marat erstach, sowie von Karl Ludwig Sand (1795-1820), einem Burschenschaftler, der 1818 August von Kotzebue, einen vermeintlichen Spion der Reaktion, erdolchte. Beide sind bis heute zentrale Figuren in der Auseinandersetzung mit Terrorismus und der Konstruktion einer vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichenden terroristischen Traditionslinie, in der Geschlecht eine zentrale Rolle zukommt. Die Auseinandersetzung mit den Gewalttaten Cordays und Sands wurde und wird vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer als Auseinandersetzung mit deren Geschlecht und als Infragestellung ihrer geschlechtlichen Identität geführt. Während in der Rezeption der Tat von Corday verschiedene Strategien gefunden werden mussten, Cordays geschlechtliche Identität ihrer als unweiblich markierten Tat anzupassen, war die SandRezeption durch ein changierendes Verhältnis von Männlichkeits- und Weiblichkeitszuschreibungen geprägt, das auch die politische Haltung der RezipientInnen spiegelte; so wurde und wird die Anwendung von Gewalt statt politischer Rationalität z.B. von Sands Kritikern weiblich gelesen. Auf einen Kriminalfall des 19. Jahrhunderts bezieht sich der Geschichtscomic »Gift« (2010), den Sylvia Kesper-Biermann in ihrem Beitrag analysiert. Sie zeigt die Verschiebung der Handlungsräume historisch-fiktionaler Stoffe durch die Einführung weiblicher Hauptfiguren und durch das Aufkommen neuer Genres und sie diskutiert das Verhältnis von akademischer Geschichtsschreibung und populären Bezügen im Comic. »Gift« stellt weibliche Handlungsspielräume und Geschlechterverhältnisse des 19. Jahrhunderts in biographischer Perspektive aus einem weiblichen Blickwinkel dar. Der Geschichtscomic als eigenständiges

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populärhistorisches Genre ermöglicht nicht nur die Darstellung neuer Themen und Figuren, sondern auch ein Spiel mit fiktionalen Elementen und Authentizitätsverweisen. Populäre Geschichte und gerade neuere Genreentwicklungen im Comic, so die These, bergen die Möglichkeit, Geschlecht und historische Geschlechterverhältnisse mit einer erweiterten Perspektive darzustellen, die auch weibliche Räume und subjektive Perspektiven einschließt. Dass ein weiblicher Blick auf historische AkteurInnen zu einer anderen Historiographie führen kann, zeigt Jule Nowoitnick in ihrem Beitrag über Tschingis Khaan-Romane der letzten zwei Dekaden, die von Frauen verfasst und tendenziell für ein weibliches Publikum geschrieben wurden. Khaan (um 1160-1227) wurde von männlichen Autoren stets als Herrscher und Kämpfer präsentiert; die Frauen in seinem Leben fanden kaum als eigenständige Akteurinnen Erwähnung. In den von Autorinnen geschriebenen historischen Romanen wird die maskulin-heterosexuelle Identität der männlichen Hauptfiguren durch homosexuelle Handlungen gebrochen. Mit einer Verschiebung der Handlungsräume vom Schlachtfeld auf den privaten Bereich des Alltags und der persönlichen Beziehungen erscheinen Frauen als handelnde Individuen. Diese Aufwertung weiblicher historischer Figuren geht einher mit Projektionen moderner Geschlechterverhältnisse in die Zeit des Mittelalters: Die Protagonistinnen vertreten eine moderne Ethik und erscheinen auf anachronistische Weise emanzipiert. Mit Presseerzeugnissen, jetzt aber aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, beschäftigt sich Leonie Treber, die am Beispiel der zeitgenössischen Darstellung von Trümmerfrauen die Wirkmächtigkeit populärer Medien, in ihrem Fall der Tagespresse, in der Konstruktion historischer Geschlechterbilder aufzeigt. Die Figur der Trümmerfrau entstand durch eine Pressekampagne innerhalb der SBZ. Sie sollte die Trümmerräumung von einer ungeliebten und als Strafarbeit konnotierten Arbeit zu einer ehrenvollen und für Frauen attraktiven Aufgabe machen. In der SBZ war die Trümmerfrau ein Symbol des Wiederaufbaus, während sie in den übrigen Besatzungszonen kaum, und wenn nur mit Bezug auf Berlin und die SBZ rezipiert wurde. Trümmerräumung wurde in der Nachkriegszeit meist von professionellen Unternehmen übernommen oder als Strafarbeit aufgefasst. Der Einsatz von Frauen war eher ein regionales, auf Berlin und die SBZ konzentriertes Phänomen. Dennoch erwies sich das zunächst durch die zeitgenössische Tagespresse geschaffene Geschichtsbild der Trümmerfrau über die Jahrzehnte und die Systemwechsel hinweg in unterschiedlicher Weise funktional und wandelbar und fand in einer mysthifizierten Form seit den 1980er Jahren breiten Eingang in die gesamtdeutsche populäre Geschichtskultur. Ähnlich reflektiert Andre Dechert in seinem Beitrag, wie zeitgenössische, nun jedoch fiktionale Bilder in der populärhistorischen Rezeption mythisiert

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werden und so allmählich den Anschein historischer Fakten annehmen. In einer Rezeptionsanalyse US-amerikanischer Familiy Sitcoms der 1950er und 1960er Jahre, die er als Teil eines breiteren Geschlechter- und Familiendiskurses begreift, zeigt er, wie die in den Sitcoms konstruierten traditionalen Modelle der bürgerlichen Kernfamilie im Laufe der Rezeptionsgeschichte verschieden interpretiert und bewertet wurden. Parallel zum Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Geschlechterdiskurse bewegte sich die Rezeption der Serien zwischen Idealisierung und Ablehnung des bürgerlichen Familienideals. Gleichzeitig verlief die Diskussion im Spannungsverhältnis von Fiktion und historischer Realität – während eine Lesart die Serien als fiktionale und idealisierende Produkte wahrnahm, erhielten sie in einer anderen als vermeintlichem Abbild historischer Realität Quellencharakter. Traditionale Geschlechterverhältnisse der 1960er Jahre strukturieren auch die US-Serie »Mad Men«, die Renée Winter in ihrem Beitrag untersucht. Mit den Begriffen Wiederholung, Fortschritt und Rekonstruktion entwickelt sie ein methodisches Instrumentarium zur Analyse von Geschlechterdarstellungen in populären Geschichtsformaten. Das Konzept der Wiederholung macht sichtbar, wie Sexismus, aber auch Rassismus und Homophobie nicht allein dargestellt, sondern durch Kameraführung und Marginalisierung diskriminierter Figuren reinszeniert und somit wiederholt werden. Mit dem Begriff Fortschritt reflektiert Winter das teleologische Narrativ der Serie, die nicht nur die Emanzipation ihrer Hauptdarstellerin darstellt, sondern auch impliziert, in der gegenwärtigen Gesellschaft sei – im Gegensatz zu der der 1960er Jahren – das Ziel der Gleichberechtigung erreicht. Gleichzeitig erzählt die Serie aber auch vom technischen Fortschritt, der vor allem anhand des Mediums Fernsehen inszeniert wird. Rekonstruktion bezeichnet die Verhandlung weißer heterosexueller Männlichkeiten, die in »Mad Men« im Mittelpunkt steht. Die Serie zeigt, welchen Aufwand die Herstellung dieser Männlichkeiten bedeutet und wie neue männliche Identitäten, die sich den Anforderungen der Emanzipation anpassen müssen, formuliert werden. Während die beiden Beiträge über Serien Zusammenhänge zwischen Geschlechterdarstellungen und Heteronormativität reflektieren, zeigen Beispiele aus der russischen sowie litauischen populären Geschichtskultur die enge Verbindung von Geschlecht und nationaler Identität auf. So legt Regine Nohejl am Beispiel verschiedener Werbespots der russischen Bank Imperial und des Spielfilms Napoleon kaput – Rževskij protiv Napoleona (Napoleon kaputt – Rževskij gegen Napoleon, 2012) dar, wie das Napoleon-Narrativ für den Diskurs nationaler Identität des gegenwärtigen Russland genutzt wird. Russland wird in diesen populärhistorischen Produktionen mit männlichen wie weiblichen Attributen

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versehen und kann gerade durch die Vereinigung beider Geschlechter und ihrer Tugenden zum russisch-christlichen »All-Menschen« dem Eroberer Napoleon trotzen – ein Motiv, dass in beiden Beispielen jedoch nicht nur reproduziert, sondern auch ironisiert wird. Gintare Malinauskaite untersucht die Erinnerungskultur Litauens, die durch eine zweifache Erinnerungskonkurrenz charakterisiert ist: In Konkurrenzverhältnissen stehen einerseits Gedenken an die NS-Zeit und an die Sowjet-Besatzung, andererseits die Erinnerung an den Holocaust und an den litauischen Partisanenkampf gegen Nazis wie Sowjets, wobei letzterer die litauische Erinnerungskultur und Identität dominiert. Der Holocaust, lange ein Tabuthema der litauischen Geschichtskultur, wird erst seit einigen Jahren verstärkt thematisiert. Das Beispiel des deutsch-litauischen Films »Ghetto« (2006) zeigt, wie die populärkulturelle Erinnerung an den Holocaust mit einer viktimisierenden und objektivierenden Darstellung vor allem weiblicher Opfer zusammengeht. Der Film bedient sich eines voyeuristischen Blicks, der sexualisierte Gewalt an jüdischen Frauen zeigt und reproduziert, ohne sie als solche zu benennen – die Gewalt wird stattdessen als Liebesgeschichte inszeniert. Eine Möglichkeit der Selbstermächtigung jüdischer Frauen zu Subjekten und »Regisseurinnen der Erinnerung« bieten hingegen Dokumentationen, die ehemalige Partisaninnen zu Wort kommen lassen und nicht nur ein Gegennarrativ zu bisherigen Holocaust- oder Widerstandserzählungen bieten, sondern beide Aspekte der Erinnerungskultur zusammenbringen. Zwei Beiträge reflektieren schließlich, wie populäre Geschichte Ausgangspunkt für doing gender sein kann. Am Beispiel eines Biedermeiermarkts analysiert Michaela Fenske das Spannungsverhältnis von gegenwärtigen und historischen Geschlechterrollen. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Marktes schlüpfen vor allem durch Kostümierung in historische Rollen, in denen sie auch Geschlechtererfahrungen machen, die quer zu ihren Rollen im alltäglichen Leben liegen. Zeitreisen, so die These, sind dabei keineswegs eine Rückkehr in konservative Geschlechterrollen, sondern vielmehr eine Alteritätserfahrung für Teilnehmende, die durch performativ-spielerische Reinszenierung traditioneller Weiblichkeiten und Männlichkeiten im Raum des Biedermeiermarkts Erfahrungen machen können, die ihnen sonst nicht möglich sind. Geschlechterperformance mithilfe historischer Geschlechterrollen kennzeichnet auch die Szene des skandinavischen Viking Metal, wie Imke von Helden in ihrer Untersuchung textueller und visueller Geschlechtersymbolik von Metalbands zeigt. Die heteronormativ geprägte Metalszene vollzieht im Subgenre des Viking Metal noch eine weitere Aufwertung martialischer Männlichkeiten. Mit der Figur des Wikingers wird vor allem Krieg und Schlacht verbunden, was in Songtexten wie performativ auf der Bühne und in Musikvideos dargestellt

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wird. Diese männlichen Schlachtenmythen werden allerdings teilweise gebrochen – durch Ironisierung oder durch die Aneignung der männlich konnotierten Technik des Growlings durch Sängerinnen; hier liegt ein Potential, die männliche Markierung des Genres aufzubrechen. Deutlich wird in allen Beiträgen, dass erstens historische Darstellungen von Geschlecht immer Auseinandersetzungen mit gegenwärtigen Geschlechterverhältnissen und -diskursen sind. Populäre Geschichte ist häufig normativ und intentional; eigene gesellschaftliche Verhältnisse und Wertvorstellungen werden in die Vergangenheit projiziert. Dies wird besonders deutlich am Beispiel von Geschlecht, das in den populären Geschichtspräsentationen meist in ahistorischer Weise verhandelt wird, die dem mainstream des jeweiligen zeitgenössischen Geschlechterdiskurses entsprechen. Während bis in die 1960er Jahre hinein in der populären Geschichte vor allem konservative Geschlechterverhältnisse und bürgerliche Familienmodelle propagiert wurden, zeigt sich die Intentionalität und der ahistorische Umgang mit Geschlecht heute in den vielen emanzipierten Heldinnen vor allem fiktionaler Erzählungen, die letztlich Projektionen gegenwärtiger emanzipierter Geschlechterideale auf die Geschichte sind. Der Gegenwartsbezug offenbart dabei auch, dass Geschlecht eine Ressource des Anschlusses von Geschichte an die Lebenswelt der RezipientInnen ist. Geschichte braucht Anknüpfungspunkte an die Erfahrungen des Publikums populärhistorischer Formate, um verstehbar und rezipierbar zu sein. Darstellungen von Geschlecht und Geschlechterrollen öffnen Erfahrungsräume, in denen sich alle RezipientInnen auskennen – so bestehen Möglichkeiten des direkten Vergleichs mit der eigenen Lebenswelt, des Wiederfindens eigener Erfahrungen in der Geschichte oder der Erfahrung von Alterität. Zweitens steht die Frauen- und Geschlechtergeschichte in populären Genres der Kultur- und Alltagsgeschichte nah. Populäre Geschichte, die eine Plattform für beide Ansätze ist, eröffnet nicht nur eine Perspektive auf Frauen als Akteurinnen der Geschichte, sondern weitet auch den Horizont historischer Untersuchungsgegenstände hin zu Alltag und Familienleben, zu Emotionen und subjektiven Erfahrungen. Dass in den Beiträgen des Bandes häufiger Frauengeschichte und andere ›weiblich‹ markierte populäre Geschichtsdarstellungen untersucht wurden, liegt vermutlich daran, dass ›männlich‹ markierte Bereiche populärer Geschichte nach wie vor ohne das Nachdenken über und Thematisieren von Geschlecht auskommen. Gleichzeitig scheint aber auch die geschlechtersensible Populärgeschichtsforschung vor allem auf Produkte, die Frauengeschichte verhandeln, zu fokussieren.

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Drittens ist der Umgang mit historischen Geschlechterverhältnissen in populären Geschichtskulturen national geprägt und gleichzeitig Nationsgrenzen transzendierend. Geschlecht hat eine wichtige Funktion für die Konstruktion nationaler Identitäten und Erinnerungskulturen. Doch neben nationalen Bezügen werden historische Geschlechterverhältnisse auch auf anderen Ebenen – lokalen, regionalen, transnationalen oder gar globalen – verhandelt. Wenn auch verstärkt sichtbar in den populären Geschichtsprodukten des 21. Jahrhunderts, so ist doch bereits im ›nationalen‹ 19. Jahrhundert eine Transzendierung des Nationalen zu beobachten, wenn etwa die jeweiligen nationalen Frauenbewegungen Frauen und Männer anderer nationaler Herkunft in ihre Ahnenreihe einspeisen oder wenn beispielsweise historische Gestalten wie die Französin Charlotte Corday oder der Deutsche Ludwig Sand zu Ikonen internationaler Diskurse über Terrorismus werden. Dies führt zum vierten Punkt: Die hier vorgestellten Beiträge untersuchten in der Regel marktorientierte, auf ein westliches Publikum zugeschnittene Produkte. Die Themen, die populärhistorisch aufgegriffen werden, sind dabei teilweise, aber nicht zwingend an geschlechtsspezifische Publika geknüpft. Frauen waren seit dem 19. Jahrhundert wichtige Adressatinnen vor allem für fiktionale historische Stoffe, während der historische Sachbuchmarkt männlich markiert war. Die Grauzone zwischen den tendenziell für Männer bzw. für Frauen hergestellten Produkten populärer Geschichte, die auch schon im 19. Jahrhundert bestand, wird allerdings im 20. und 21. Jahrhundert immer größer. Fünftens wird Geschlecht in populärhistorischen Diskursen vorwiegend innerhalb zweigeschlechtlicher Konzepte verhandelt. Alternative Formen von Geschlechtlichkeit innerhalb der populären Geschichte sind ein relativ junges Phänomen und finden, unabhängig vom Genre, nur wenig Platz. So sind zum Beispiel Elemente des Crossdressings oftmals eher einer bestimmten komödiantischen und damit genrespezifischen Tradition geschuldet, als dass sie subversive Möglichkeiten darstellen, Geschlechterrollen zu durchbrechen. Die performativen Formen populärer Geschichte bieten die Möglichkeit, mit Geschlechterrollen zu spielen und über das Eintauchen in Geschichte auch im Bereich des Geschlechts Alteritätserfahrungen zu machen. Doch diese Erfahrungen sind eher als unterhaltsames Spiel zu lesen, denn als Untergrabung von Geschlechterverhältnissen und -rollen. Sehr viel häufiger werden bestehende Geschlechterkonstellationen wiederholt und rekonfiguiert. Eine ambivalente oder nicht eindeutige Geschlechtsidentität dient meist der Abwertung der Person. Sechstens: Zwar wandeln sich die in der populären Geschichtskultur vermittelten Wertvorstellungen mit der jeweiligen Gesellschaft und Zeit, doch zeigen sich gleichzeitig starke Pfadabhängigkeiten und damit Kontinuitäten vom 19. bis

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ins 21. Jahrhundert. So wird Geschlecht meist nur dort als relevanter Faktor der Geschichte thematisiert, wo es um Frauen und weibliche Handlungsräume geht. Männlich markierte Bereiche gelten auch in der Populärgeschichte als ›allgemeinhistorisch‹ und werden nicht mit Geschlecht in Verbindung gebracht. Die Beiträge dieses Bandes zeigen aber auch, dass populäre Geschichtsdarstellungen bisher schon wichtige Ansätze geboten haben, Frauen zu Subjekten wie Akteurinnen der Geschichtsschreibung zu machen. Sie haben das Potential, Geschlechterverhältnisse wie auch allgemeine Konzepte von Geschlecht in ihren historischen und geschichtskulturellen Dimensionen zu reflektieren. Aus Geschlechterperspektive sind populäre Geschichtsdarstellungen verglichen mit den akademischen nicht die ›besseren‹ oder ›schlechteren‹, sondern attraktive und interessante, spielerisch wie normativ daherkommende ›andere‹.

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Geschichte für junge Frauen: Die Vermittlung historischer Bildung in Schulgeschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen M ARTIN N ISSEN

G ESCHICHTSSCHREIBUNG

FÜR

F RAUEN

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor Geschichte als Fach an deutschen Universitäten seinen minderen akademischen Rang. Aufgrund der verbesserten universitären Ausbildung stieg dementsprechend an den höheren Schulen auch das Leistungsniveau im Geschichtsunterricht. Neben dem Religionsunterricht und den klassischen Sprachen avancierte Geschichte an den Gymnasien nunmehr zu einem Kernfach (Rohlfes 1982: 11; Schneider 1982: 132). Die damit verbundene Aufwertung der historisch-politischen Bildung zielte vorrangig auf den Nachwuchs der höheren gesellschaftlichen Schichten; diese Kinder sollten im Erwachsenenalter möglichst eine führende Position einnehmen. Die Gewichtung der vermittelten Inhalte blieb im deutschen Kaiserreich freilich ideologisch stark umkämpft, denn die Geschichte war ins Zentrum der staatsbürgerlichen Erziehung gerückt (Schneider 1988: 54). Je höher die angestrebte gesellschaftliche Stellung, desto wichtiger wurden Inhalt und Umfang des im Geschichtsunterricht vermittelten Stoffes. Für die im Unterricht vermittelten Inhalte wurden die Ergebnisse der akademischen Geschichtsschreibung maßgeblich; sie wurde in den Schul- und Lehrbüchern aufgegriffen. Im internationalen Vergleich entwickelte sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert zu einem deutlich männlich konnotierten Arbeitsfeld (Smith 1998). Durch die Institutionalisierung, Professionalisierung und fortschreitende Spezialisierung des Faches blieben

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Frauen als Autorinnen und Leserinnen weithin ausgeschlossen. Dieser Prozess wurde insofern verstärkt, als die private Erinnerung zurückgedrängt und alternative Darstellungsformen ausgegrenzt wurden. Dies wurde zunehmend mit der Vorstellung einer männlich geprägten wissenschaftlichen Objektivität verbunden. Die meisten Fachwissenschaftler an den Universitäten unterstützten die Vermittlung historischer Bildung an ein weibliches Publikum nicht. So sah Friedrich Carl von Savigny in den von Friedrich von Raumer ab 1841 in Berlin im Verein für wissenschaftliche Vorträge geplanten Vorlesungen vor Mädchen und jungen Frauen eine Herabwürdigung der Wissenschaft. Auch Leopold von Ranke trat dem Unternehmen trotz der Bitten Raumers nicht bei (Nissen 2009: 128). Vor diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass sich Autorinnen selbst mit historischen Arbeiten an ein weibliches Lesepublikum wandten. Zwei Tendenzen standen dieser Entwicklung jedoch entgegen: Zum einen blieb die Zahl von Historikerinnen in Deutschland im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien marginal. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts – zumindest einer breiten Definition von Geschichtsschreibung folgend – Autorinnen wie Johanna Schopenhauer und Therese Huber einen weiteren Leserkreis erreichten (Epple 2003; Epple 20011), nahm die Zahl von Historikerinnen aufgrund der fortschreitenden Professionalisierung des Faches sowie der Konkurrenz durch den belletristischen Buchmarkt in der zweiten Jahrhunderthälfte ab. Louise von Kobell, Fanny Arndt, Caroline Friederike von Berg und Louise Büchner sind als Ausnahmen zu bezeichnen (Nissen 2009: 72). Zudem vermieden es die Autorinnen, ihre Position durch die Adressierung eines weiblichen Lesepublikums weiter zu schwächen – ein Hinweis hierfür ist die verbreitete Tradition der anonymen Autorenschaft (Smith 1998: 164f., Epple 2011: 27). Ähnlich wie bei populären Formen der Geschichtsschreibung diente auch in ihren historischen Darstellungen der Verweis auf führende Vertreter des Faches vielmehr dazu, die eigene Autorität abzusichern. Ein Umbruch erfolgte hier erst ab den 1890er Jahren, als Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Lina Morgenstern, Elise Oelsner, Lily Braun und Käthe Schirmacher frauengeschichtliche Themen aufgriffen und erste professionelle Historikerinnen wie Ricarda Huch und Ermentrude von Ranke sich im Feld der akademischen Geschichtsschreibung positionierten (Paletschek 2006). Dabei betraf der Erfolg der Bildungsgeschichte im 19. Jahrhundert Männer und Frauen gleichermaßen. Beide Geschlechter profitierten von der Schulpflicht, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in allen deutschen Staaten bestand und zu einem Rückgang der Analphabetenquote führte. Während die Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre vorwiegend Männern vorbehalten blieb, waren Frauen seit

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dem späten 18. Jahrhundert die Hauptadressatinnen des wachsenden Marktes für belletristische Literatur (Jäger 1980: 15). Die zunehmende Verstädterung, die Entstehung von Bildungsinstitutionen sowie die Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie mit einer verstärkten Innerlichkeit des individuellen Erfahrungsraums trugen zur Entstehung eines kulturräsonierenden Publikums bei (Langenbucher 1971: 57). Während diese Entwicklung zunächst nur die höheren bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Schichten – maximal 5 Prozent der Bevölkerung – betraf, führten der Anstieg der Reallöhne und die sinkenden Arbeitszeiten gegen Ende des Jahrhunderts dazu, dass auch die unteren und mittleren Gesellschaftsschichten von den verbesserten Bildungschancen profitierten (Wittmann 1999: 295). Die Ausweitung und Ausdifferenzierung des Lesepublikums spiegelt sich in der Geschichte der Geschichtsschreibung wider. Während bis zur Reichsgründung die führenden Fachwissenschaftler eine homogene deutsche Nation als Lesepublikum imaginierten, setzte ab den 1880er Jahren eine verstärkte Spezialisierung der fachwissenschaftlichen Forschung ein. Dies führte erstens zur Gründung spezieller Fachzeitschriften, zweitens zur zunehmenden Ausgrenzung abweichender Darstellungsformen, drittens zu einem Boom von der Fachwissenschaft vernachlässigter, aber in einer breiteren Öffentlichkeit beliebter Themen wie Regional-, Welt- und Kulturgeschichte sowie viertens zur verstärkten Produktion von Geschichtsliteratur, die sich an spezielle Lesepublika wie Frauen, Arbeiter und Kinder richtete. Die Zahl der historischen Werke, die sich vorrangig auf ein weibliches Publikum bezogen, blieb jedoch begrenzt. Ersten Ergebnissen zufolge lassen sich folgende Typen unterscheiden: Erstens historische Beiträge in Frauenzeitschriften wie der ab 1838 von der Publizistin und Übersetzerin Louise Marezoll in Leipzig herausgegebenen Frauenzeitung (1840-44 unter dem Titel Frauenspiegel), in der neben Novellen, Fortsetzungsromanen, Gedichten, Andachten und Gebeten auch biographische sowie lokal- und kulturgeschichtliche Beiträge publiziert wurden (Weckel 1998: 32f.); zweitens Sammlungen von Vorträgen wie der Vorlesungszyklus des Leipziger Kulturhistorikers Karl Friedrich Biedermann von 1854/55, der ab 1855 in der Gartenlaube veröffentlicht wurde und 1856 in Buchform unter dem Titel Frauen-Brevier erschien (Biedermann 1856); drittens schließlich Schulgeschichtsbücher für höhere Mädchenschulen, die sich bis zur Neuordnung des Mädchenschulwesens in den 1890er Jahren als Schul- und Hausbücher auch an ein breiteres Lesepublikum richteten. Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung liegt auf den Geschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen, bei denen der Bezug auf ein weibliches Lesepublikum bereits institutionell vorgegeben ist. Wie genauer zu zeigen

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sein wird, haben Schulgeschichtsbücher eine weite Verbreitung über häufig lange Zeiträume hinweg gefunden. Wo sind – im Vergleich zu den Schulgeschichtsbüchern für Knabenschulen – die Besonderheiten in den Darstellungsformen zu sehen? Welche didaktischen Konzepte lagen den Werken zugrunde? Welche Geschlechterbilder wurden anhand historischer Beispiele vermittelt und was waren bevorzugte Themen? Die Untersuchung legt methodisch den Schwerpunkt auf paratextuelle Elemente, also auf Vorworte und Einleitungen zu Schulgeschichtsbüchern für das höhere Schulwesen, die 2011 von Wolfgang Jacobmeyer in dem dreibändigen Werk Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700-1945 herausgegeben wurden (Jacobmeyer 2011).

D AS DEUTSCHE S CHULGESCHICHTSBUCH M ÄDCHENSCHULEN

FÜR HÖHERE

Im Vergleich zu anderen Formen der Geschichtsschreibung sind Schulgeschichtsbücher als hybride Publikationen zu bezeichnen, die einerseits ein normiertes staatliches Genehmigungsverfahren durchlaufen, sich zugleich jedoch an ein breiteres Lesepublikum auch außerhalb des schulischen Kontextes wenden. Die Lektüre erfolgt nicht freiwillig, sondern verpflichtend im Rahmen staatlicher Kontrolle. In seiner didaktischen Bedeutung fällt das Schulgeschichtsbuch zwar hinter den Lehrervortrag zurück. Aufgrund der vorgegebenen inhaltlichen Nähe zwischen Schulbuch und mündlichem Unterricht kann dennoch von einer hohen Bedeutung bei eindeutiger Adressierung ausgegangen werden. Wolfgang Jacobmeyer zufolge ist das Schulgeschichtsbuch »unstrittig das am weitesten verbreitete Medium moderner Gesellschaften zur Überlieferung von Geschichte« (Jacobmeyer 2011: 10). Für Mädchen gab es seit dem 18. Jahrhundert in allen deutschen Staaten gesonderte Schulen. Die eingeführte Schulpflicht machte die Gründung eigener Mädchenschulen erforderlich. Für die Töchter aus den höheren gesellschaftlichen Schichten verbot sich der Besuch der Elementarschulen aus Gründen der sozialen Distinktion. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts blieb ihnen wiederum der Besuch des Gymnasiums verwehrt. Gegründet wurden die höheren Mädchenschulen vielfach als Abteilungen von Knabenschulen. Zunehmend bildeten sich jedoch eigenständige, auch räumlich getrennte Schulen heraus. Im Gegensatz zu den Knabenschulen fielen die Mädchenschulen nicht unter staatliche Trägerschaft, sondern gingen auf private Initiativen zurück. Die Schülerinnen stammten aus den gebildeten und vermögenden städtischen Gesellschaftsschichten, die für den Schulbesuch ihrer Töchter ein hohes Schulgeld zahlten. Die

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Schulzeit umfasste im Anschluss an eine vierjährige Elementarschulzeit neun, häufig zehn Unterrichtsjahre, womit die Gymnasialschulzeit um ein Jahr übertroffen wurde. Aufgrund des verwehrten Zugangs für Frauen zu höherer Bildung führten an den höheren Mädchenschulen überwiegend Lehrer den Unterricht durch. In den katholisch geprägten Staaten kamen Ordensschwestern als Teil des Lehrpersonals hinzu (Kraul 1991; Küpper 1991). Geschichte war seit Beginn des 18. Jahrhunderts als ordentliches Lehrfach an allen höheren Schulen anerkannt, wobei die katholischen Länder den protestantischen nachfolgten (Rohlfes 1982: 35). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts löste sich Geschichte als Fach zunehmend vom Religionsunterricht und der Morallehre. Vor allem in den unteren Klassen der höheren Schulen wurde der Schwerpunkt auf Kirchengeschichte und Alte Geschichte gelegt. Ab der Mitte des Jahrhunderts nahm die Neue Geschichte mit besonderer Betonung der jeweiligen Regional- und Landesgeschichte einen Aufschwung. An den Elementar- und Volksschulen hingegen war die Bedeutung der Vermittlung historischer Bildung gering. Bis zur Mitte des Jahrhunderts gab es keinen eigenständigen Realienunterricht, zu dem auch der Geschichtsunterricht gehört hätte. Geschichte war an den höheren Mädchenschulen zwar nicht Hauptfach wie weibliches Arbeiten, Deutsch, Religion und Fremdsprachenunterricht, doch gehörte es bei steigender Stundenzahl überall zum Kernbestand (Küpper 1987: 182f.). Um 1900 lag der Unterrichtsanteil zusammen mit Kunstgeschichte und Erdkunde rund eineinhalb Mal höher als an den Knabenschulen (Kraul 1991: 291). Mit zwei bis maximal drei Wochenstunden blieb der Anteil an der gesamten Unterrichtszeit jedoch moderat (Schneider 1997: 495–509). Nachdem sich Geschichte als Fach im Fächerkanon der höheren Schulen etabliert hatte, bildete sich das Schulgeschichtsbuch seit dem frühen 19. Jahrhundert als eigenständige Gattung heraus. 1857 verfügte die Kultusbehörde in Preußen, dass der Geschichtsunterricht auf der Grundlage eines Lehrbuchs zu erfolgen habe (Erdmann 1982: 78). Diese Vorschrift führte zu einem starken Anstieg der Produktion von Schulgeschichtsbüchern ab den 1860er Jahren, die in der wilhelminischen Phase des Kaiserreichs ihren Höhepunkt erreichte. Die Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs kann dabei als das »Zentrum der Gattungsgeschichte« des Schulgeschichtsbuchs bezeichnet werden (Jacobmeyer 2011: 177). In dem Zeitraum zwischen 1890 und 1918 weist Wolfgang Jacobmeyer die Produktion von 478 neuen Schulgeschichtsbüchern nach. Damit sind in diesen 29 Jahren ebenso viele Lehrbücher erschienen wie in den rund 150 Jahren zwischen 1700 und 1850 zuvor. In den anschließenden Phasen während der Weimarer Republik und im Dritten Reich ging die Produktion neuer Schulgeschichtsbücher

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trotz stark veränderter politischer Rahmenbedingungen quantitativ wieder zurück. Für den Zeitraum zwischen 1890 und 1918 liegen auch für die Schulgeschichtsbücher für höhere Mädchenschulen die genauesten Zahlen vor (Jacobmeyer 2011: 177f.). Von den ermittelten 478 Titeln lassen sich 80 Prozent spezifischen Schulformen zuordnen. Dabei entfallen 44 Titel auf Mädchenschulen, 120 auf Gymnasien, 141 auf Volks- und 78 auf Mittelschulen. Unter den 44 Schulgeschichtsbüchern für Mädchenschulen ist der größte Teil, nämlich 41 Titel, dem Typus des narrativen Lehrbuchs zuzuordnen, dem zwei Lehrbücher für Lehrer und ein Lernhilfsbuch entgegenstehen. Der inhaltlich anspruchsvollste Typus des Quellen-Lehrbuchs, der bei den Gymnasiallehrbüchern zwölf von 120 Titeln ausmacht, fehlt vollständig. Die größten Unterschiede im Vergleich zu den Schulgeschichtsbüchern für Jungen bestehen für Gymnasien, wohingegen die Unterschiede zu den Schulgeschichtsbüchern der Volks- und Mittelschulen geringer ausfallen. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert sind Schulgeschichtsbücher im 19. Jahrhundert keine von Verlagen initiierten Projekte, an denen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist. Noch überwiegt der Typus des Einzelautors, der meist über eine langjährige Unterrichtserfahrung an Mädchenschulen verfügt. Es bestehen nur geringe Unterschiede zwischen den Autoren von Schulgeschichtsbüchern für Knaben- und denen für Mädchenschulen. Fast ausschließlich sind die Autoren selbst als Lehrer tätig. Sie sind überwiegend evangelisch und verfügen über eine akademische, fachlich einschlägige Ausbildung, die häufig mit der Promotion abgeschlossen wurde. 44 Prozent sind Lehrer und Direktoren der Lehrerinnenseminare, 31 Prozent Gymnasiallehrer und lediglich 12 Prozent Lehrer an Realschulen oder Vertreter der Schulverwaltung (Jacobmeyer 2011: 193). Lehrerinnen oder Schriftstellerinnen als Verfasserinnen von Schul- und Lehrbüchern für höhere Mädchenschulen sind die Ausnahme. Trotz des akademischen Hintergrundes der Autoren wurden in den Darstellungen kaum eigene Forschungsleistungen verarbeitet, sondern überwiegend Bekanntes aus Lehrund Überblickswerken zusammengefasst. Im späten 19. Jahrhundert nahmen Unternehmungen, an denen mehrere Verfasser beteiligt waren, zu. Das Bildungsniveau stieg weiter an, wobei noch immer die praktische Erfahrung in der Lehrtätigkeit Voraussetzung für eine erfolgreiche Autorenschaft war. Unter den wenigen Autorinnen von Mädchenschulbüchern überwog die Position der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, die sich 1865 im Allgemeinen Deutschen Frauenverein zusammengeschlossen hatte (Kraul 1991: 280). Auf der Basis der bestehenden Geschlechterunterschiede forderten sie gleiche Bildungschancen für das weibliche Geschlecht. Ihr Engagement galt der Förderung weiblicher Bildung und Erwerbstätigkeit, wobei den Besonderheiten der

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Frau und der Vermittlung weiblicher Tugenden Rechnung getragen werden müsse. Weiterführende Forderungen nach Zugang zu höherer Bildung als Voraussetzung für akademische Berufswege wurden erst ab den 1890er Jahren verstärkt geäußert. Eine typische Vertreterin der gemäßigten emanzipatorischen Position ist die Schriftstellerin Ella Mensch, die im Vorwort zu ihrem Leitfaden für den Unterricht in der Weltgeschichte an höheren Mädchenschulen von 1910 forderte: »Um schließlich die einseitige Auffassung zu tilgen, daß die Weltgeschichte lediglich eine Geschichte der Männer sei, muß schon im ›Leitfaden‹ das Wirken und Schaffen der Frau, da, wo es als Einschlag im großen Gewebe zu erkennen ist, sichtbarlich, mit wenigen aber deutlichen Strichen hervorgehoben werden, ganz besonders in der deutschen Geschichte, wo sich an den wichtigen Wendepunkten unseres historischen Lebens auch stets der kulturelle Einfluß der Frauen geltend macht, mögen sie nun wie die Schwabenherzogin Hadwig oder die Kaiserinnen aus sächsischem Hause die Verantwortung für ein ganzes Gemeinwesen tragen – oder wie im Jahr der Befreiungskriege von 1813 als Gesamtheit die guten und gesunden Regungen im Volksgeist unterstützen.« (Jacobmeyer 2011: 1324)

Die Gattungsgeschichte des Schulgeschichtsbuchs für höhere Mädchenschulen umfasst den Zeitraum von Beginn des 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine verstärkte Produktion lässt sich erst seit den 1820er Jahren feststellen, wobei zwischen 1850 und 1890 eine geringe Zahl an Titeln den Markt beherrschte. Der wichtigste Einschnitt waren die am 31. Mai 1894 vom preußischen Kultusministerium erlassenen Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen, in denen zum ersten Mal die Verwendung eines Schulgeschichtsbuchs an Mädchenschulen verbindlich vorgeschrieben wurde (Ministerium 1894: §7 u. 8). In der Folge erschienen in dem kurzen Zeitraum bis 1900 zwölf Schulgeschichtsbücher, die sich wie Ferdinand Roßbachs Leitfaden für den Unterricht in der deutschen Geschichte in den oberen Klassen höherer Mädchenschulen von 1895 explizit auf die Bestimmungen über das Mädchenschulwesen bezogen. Die Verlage setzten dabei den Erlass nicht lediglich um, sondern nutzten die Vorgaben auch als Werbemittel zur Steigerung des eigenen Absatzes. Die verstärkte Produktion in den späten 1890er Jahren ist jedoch nur als Vorbote für das bevorstehende Ende der Gattung zu verstehen. An den neuen Schulbüchern, die explizit im Hinblick auf ein weibliches Lesepublikum hin geschrieben wurden, entzündete sich die Kritik an der geschlechtsspezifischen Einteilung der vermittelten Unterrichtsinhalte (Jacobmeyer 2011: 196f.). So forderte etwa Friedrich Neubauer, einflussreicher Direktor des Frankfurter Lessing-Gym-

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nasiums, ein Ende der didaktischen Ungleichbehandlung. Die Forderungen nach einer Angleichung des Leistungsniveaus an sämtlichen höheren Schulen fand Ausdruck in dem ministerialen Erlass vom 15. August 1908, in dem die Unterschiede zwischen Knaben- und Mädchenunterricht zurückgenommen wurden. Der Unterricht an Mädchenschulen sollte nun in allen deutschen Staaten den Zugang zu höherer akademischer Bildung und zu den Universitäten ermöglichen, die für Frauen je nach Staat offiziell zwischen 1900 und 1909 – zuerst in Baden, zuletzt in Mecklenburg – geöffnet wurden. Auch wenn die Vorbehalte gegenüber gelehrten Frauen nach 1900 bestehen blieben, war die Richtung vorgegeben. Eine gesonderte Darstellung der Geschichte für Mädchen und junge Frauen wurde zunehmend als gegenstandslos erachtet.

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In seiner didaktischen Bedeutung trat das Schulbuch zwar hinter den Lehrervortrag zurück. So galt der Lehrervortrag insbesondere bei den didaktischen Zielen Motivation und Wertevermittlung weiterhin als Maß aller Dinge (Jacobmeyer 2011: 150f.). Dennoch ist die Bedeutung des Schulbuchs als sekundäres Unterrichtsmittel hoch einzuschätzen. Es diente als wichtiges Instrument zur Umsetzung der ministerialen Vorgaben und als zentrale Form der Qualitätssicherung im Unterricht. Die Zahl an Vorworten und Einleitungen zu Schulgeschichtsbüchern für Mädchenschulen, in denen didaktische Konzepte erläutert wurden, blieb im 19. Jahrhundert begrenzt. Hierbei sind vor allem die Schulgeschichtsbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessant. Eine spezielle Darstellung der Geschichte für Mädchen und junge Frauen war neu und insofern besonders erklärungsbedürftig. Ausführlich äußerte sich Friedrich Nösselt (1781-1850), einer der produktivsten und einflussreichsten deutschsprachigen Autoren von Mädchenschulbüchern im 19. Jahrhundert. Nösselt hatte in Halle Theologie studiert und war seit 1804 in Berlin, seit 1809 in Breslau als Gymnasiallehrer tätig. Im selben Jahr gründete er in Breslau eine Töchterschule, an die 1836 ein Seminar für künftige Erzieherinnen angeschlossen wurde. Parallel zu seiner pädagogischen Tätigkeit verfasste Nösselt zahlreiche historische, geographische und literaturgeschichtliche Lehrbücher, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung fanden. Nösselts didaktisches Konzept bei der Vermittlung historischer Bildung, mit der er sich an »heranwachsende Mädchen der gebildeten Stände« wandte (Nösselt 1822: VII), beruhte auf der Annahme, dass die Geschlechter über unterschiedliche Veranlagungen verfügten, die ihnen unter-

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schiedliche gesellschaftliche Aufgaben zuwiesen. Ausführlich begründete er dies im Vorwort zu seinem Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht heranwachsender Töchter von 1822, das bis 1867 14 Auflagen erfuhr. In Inhalt und Form müsse der Geschichtsunterricht die spezifischen Erfordernisse weiblicher Bildung berücksichtigen: »Es braucht hier nicht erst bewiesen zu werden, daß die Geschichte den Mädchen ganz anders vorgetragen werden müsse, als den Knaben und Jünglingen. Wenn diese nicht nur einen allgemeinen Ueberblicke über die ganze Geschichte, sondern auch eine in die einzelnen Theile derselben eingehende Kenntniß nöthig haben und die einzelnen Völker Schritt vor Schritt verfolgen müssen, mit beständiger Berücksichtigung der Chronologie, so ist dies Alles für Mädchen unnütz, für die es hinlänglich ist, wenn sie die Hauptbegebenheiten und diejenigen Thatsachen lernen, welche das weibliche Gemüth besonders ansprechen, an denen sie die Schönheit der Seelengröße und die Verwerflichkeit des Lasters und der Schwäche kennen lernen können, und welche ganz vorzüglich eine väterliche Weltregierung beweisen. Ueberhaupt scheint dem Verfasser, daß für Mädchen die Geschichte von der gemüthlichen Seite dargestellt werden müsse. Vieles aus ihr, was Knaben lernen, müssen die Mädchen auch wissen; aber Unzähliges muß beim weiblichen Unterrichte ganz weggelassen werden; dagegen sind viele Thatsachen für das weibliche Herz äußerst ansprechend, die man doch Knaben nicht vorzutragen pflegt, um für Wichtigeres Zeit zu behalten.« (Nösselt 1836, Bd. 1: VII)

Mit der Betonung des biographischen Elements und der Nähe der Erzählung zu den historischen Quellen werden Darstellungsformen gewählt, die auch als Mittel populärer Geschichtsschreibung bekannt sind. Die Erzählung wiederum, die sich im Sinne der didaktischen Reduktion auf die wichtigsten Ereignisse konzentrieren müsse – »Nichts tödtet den historischen Sinn mehr als die compediarische oder tabellarische Methode« (Nösselt 1836, Bd. 1: V) – hatte sich auch in der Fachwissenschaft im 19. Jahrhundert als wichtigste Darstellungsform durchgesetzt. Abweichungen in der Darstellung lassen sich jedoch in der notwendigerweise stärkeren Betonung des »Gemüths«, der Frömmigkeit und der Moral in Mädchenschulbüchern feststellen. So solle der Vortrag »lebhaft, kindlich und gemüthlich« sein ohne dabei die moralische Bewertung zu vernachlässigen (Nösselt 1836: Bd. 1: V). In seinem Lehrbuch der Geschichte der Deutschen für höhere Töchterschulen und die Gebildeten des weiblichen Geschlechts von 1828 fasst Nösselt den »Hauptzweck« des Geschichtsunterrichts folgendermaßen zusammen:

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»[...] das moralische und religiöse Gefühl zu beleben und die Ueberzeugung recht fest in die jugendlichen Herzen zu prägen, daß alles, was da geschieht und von je her geschehen ist, unter der allweisen Leitung der göttlichen Vorsehung stehe, und daß ohne Ausnahme aus guten Handlungen Glück und Segen, aus schlechten nichts als Unheil und Unsegen hervorgehen müsse. Was hilft es den Mädchen, wenn sie noch so viele Namen, Begebenheiten und Jahreszahlen wissen, und diese große Lehre, die auf allen Blättern der Weltgeschichte so laut und deutlich gepredigt wird, nicht begriffen haben!« (Jacobmeyer 2011: 574).

Insgesamt blieb die didaktische Tradition des Geschichtsunterrichts als Schule des Lebens (Historia magistra vitae), die in der akademischen Geschichtsschreibung zurückgenommen und in den Schulgeschichtsbüchern für Knabenschulen zumindest abgeschwächt wurde, an Mädchenschulen länger bestehen. Die Schulung des historischen Urteils wurde als wichtiger erachtet als die Vermittlung reinen Faktenwissens. Die Schülerinnen dürfe man Nösselt zufolge »nicht mit Jahreszahlen überhäufen, sie nicht die Reihen der Königsnamen auswendig lernen lassen« (Nösselt 1836, Bd. 1: V). Es müsse alles vermieden werden, »was einem Mädchen den Anstrich von gelehrter Bildung giebt.« Hervorzuheben seien vielmehr »gute und böse Beispiele, folgenreiche Thatsachen, besonders Handlungen merkwürdiger Frauen« (Nösselt 1836, Bd. 1: V). Bei der Darstellung selbst wird das Verhalten historischer Protagonistinnen in moralischen Kategorien gefasst, denen spezifische geschlechtsanthropologische Rollenmuster zugrunde gelegt werden. So sind – um ein Beispiel zu geben – bei der Abhandlung von Luthers Biographie die Rollen der Eltern so gestaltet, dass dem Vater der vernünftige Part zufällt, während die Mutter weiblich konnotierte Tugenden verkörpert: »Auch seine Mutter, eine tugendsame und gottesfürchtige Frau, hatte einen segensreichen Einfluß auf ihres Sohnes Erziehung. Von ihr erhielt er besonders den Sinn für stille, häusliche Frömmigkeit, und es ist der große Segen nicht zu berechnen, den fromme Mütter über die Gemüther ihrer Kinder verbreiten.« (Nösselt 1836, Bd. 3: 2)

Noch stärker betont wird die Bedeutung der Geschlechteranthropologie für die Konzeption der Geschichtsvermittlung in der zweibändigen Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht des Preßburger Pädagogen Tobias Gottfried Schröer (1791-1850) von 1841, die dieser unter dem Pseudonym Chr. Oeser veröffentlichte. Schröer hatte 1816-17 in Halle zwei Semester Theologie studiert und war aus finanziellen Gründen vorzeitig in seine Heimatstadt Preßburg zurückgekehrt, wo er ab 1817 am evangelischen Lyzeum Latein, Grie-

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chisch, Deutsch, Geographie, Geschichte und Ästhetik unterrichtete. 1818 verfasste er einen Organisationsentwurf für eine neu zu gründende Töchterschule, deren Leitung er bis 1824 innehatte. 1824 wurde Schröer an dem Lyzeum Subrektor, 1838 Professor für die höheren Klassen. Politisch gehörte er unter den Ungarndeutschen zur gemäßigten Richtung und unterstützte im Vormärz die liberale Bewegung. In dem Vorwort zu seiner Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht betont Schröer in ähnlicher Weise wie Friedrich Nösselt die Bedeutung der Herzensbildung im Geschichtsunterricht. Dieser diene bei den jungen Frauen nicht der Berufsvorbereitung, sondern vorrangig der Vermittlung von Moral auf religiös-sittlicher Grundlage: »Denn für diese [Töchter] hat die Geschichte meist nur formellen Nutzen, und sie lernen sie nicht etwa, um von ihr im bürgerlichen oder wissenschaftlichen Leben wie Staatsbeamte oder Lehrer Gebrauch zu machen, sondern einzig, um Geist und Herz zu bilden. Unsere Jungfrauen sollen nämlich Geschichte lernen, damit sie den Ernst des Lebens und die Hand Gottes in den Schicksalen einzelner Menschen und ganzer Völker wahrnehmen, um sich zu hüten, jenen Geschöpfen zu gleichen, die noch von der frivolen Leichtfertigkeit befallen sind, welche durch französische Sitten und Gouvernanten in unser Vaterland gebracht worden sind; […] Unsere Töchter sollen Geschichte lernen, damit sie die Aufgabe unserer Nation, als Lehrmeisterin und Gesetzgeberin des Erdkreises und Verbreiterin ächter Humanität im häuslichen, wie im bürgerlichen Leben erkennen, und, nach Vorbilde alter deutscher Frauen, häuslich, treu und ehrbar leben. […] Unsere Frauen sollen Geschichte wissen, damit sie erfahren, wie Kunst und Wissenschaft, Tugend und Glaube in Zeiten der Rohheit und Ausartung bei ihnen, und nur bei ihnen, eine Freistätte gefunden, wie aber auch lasterhafte Weiber den Untergang ganzer Völker beschleunigt haben.« (Oeser 1843, Teil 1: Vf.)

Schröer gliedert die Darstellung in die Epochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit, wobei er an das Ende der Epochenbeschreibung je ein Kapitel zur Situation der Frauen in der jeweiligen Zeit anhängt. Die Geschichte der Frauen dient dabei als Spiegel der jeweiligen historischen Zustände. Der Zustand des weiblichen Geschlechts kontrastiert bzw. verstärkt den welthistorischen Entwicklungsgang, ohne ihn jedoch maßgeblich zu beeinflussen. So heißt es zur Einführung der Geschichte der Frauen im Reformationszeitalter: »In einem Zeitalter, wo Kunst und Wissenschaft neuerwacht zum Leben bei den meisten Völkern die Sitten milderten, mußte sich auch das Loos des weiblichen Geschlechts freundlicher gestalten.« (Oeser 1843, Teil 3: 79)

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Die aufeinander folgenden Epochen werden in der Darstellung einem stark moralisierenden Urteil unterzogen und in kontrastierender Weise bewertet, wobei der Anteil der Frauen bei der Abfolge von Sittlichkeit und Sittenverfall verstärkend wirkt. So folgte Schröer zufolge auf die Blüte des klassischen Altertums die römische Dekadenz der Spätantike, auf die Hochkultur des Hochmittelalters der Sittenverfall des Spätmittelalters, auf die Läuterung im Reformationszeitalter die Unzucht der höfischen Kultur, die erst durch die Tugendhaftigkeit des bürgerlichen Zeitalters abgelöst wurde. In der Darstellung dienen die christliche Kultur, das Deutschtum und der evangelische Glaube als Quellen der Sittlichkeit. Quellen des Sittenverfalls sind die römische Dekadenz, die Korruption in der spätmittelalterlichen Kirche sowie die Galanterie der französischen Hofkultur. Zeitgenössische bürgerliche Idealvorstellungen werden dabei – wie bei vielen historiographischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts üblich – auf vergangene Zeiten übertragen. So sei durch die Verrohung der Sitten im späten Mittelalter das »stille häusliche Glück im freundlichen Zusammenleben liebender Ehegatten« verloren gegangen, genauso »bei manchem Weibe [die] häusliche Betriebsamkeit und andere weibliche Tugenden« (Oeser 1843, Teil 2: 310). Der christlich-moralische Impetus fällt in Schröers Werken besonders deutlich aus. So heißt es auch in dem Vorwort zu dem Kurze[n] Leitfaden der allgemeinen Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterrichte für das weibliche Geschlecht von 1842, den er zusätzlich zu seiner dreiteiligen Weltgeschichte für Töchterschulen verfasste: »Und nun, liebe Mädchen, sei euer leibliches und geistiges Erblühen in voller Gesundheit und Reinheit empfohlen Gott dem Vater, damit ihr recht wackere und herzensgute Frauen dereinst werdet, Frauen, wie sie der Deutsche gern hat und liebt und ehrt.« (Jacobmeyer 2011: 700)

Zwar wird die Vermittlung weiblicher Tugenden in den Vorworten zu Schulgeschichtsbüchern bis zum späten 19. Jahrhundert weiterhin als zentrales Unterrichtsziel benannt, doch werden die Begründungen weniger christlich-moralisch, sondern zunehmend patriotisch-national ausgerichtet. Die Ablösung von einer vorrangig christlich-moralisch geprägten Pädagogik zugunsten einer patriotischnationalen Wertevermittlung zeichnet sich in dem Lehrbuch Weltgeschichte für höhere Töchterschulen des Berliner Pädagogen Carl Wernicke von 1849 ab, bei dem es sich um das in den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1890 wichtigste deutsche Schulgeschichtsbuch an höheren Mädchenschulen handelt. Bis 1909 wurde Wernickes Lehrbuch im Berliner Verlag Nauck bzw. Nauck‫ތ‬sche Erben 34 Mal aufgelegt. Erst durch den Boom an Schulgeschichtsbüchern in der Folge des

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preußischen Erlasses zur Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom 31. Mai 1894 verlor das Werk seine Vorrangstellung. In dem Vorwort wird die Auseinandersetzung mit Forderungen nach höherer Mädchenbildung zur Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich. Wernickes Pädagogik beruht auf der gängigen Sonderanthropologie für Mädchen und junge Frauen, die den Ausgangspunkt für die Forderung nach unterschiedlichen, geschlechtsspezifischen Darstellungsformen begründet. Von Natur aus unterscheide sich die Wahrnehmung von Jungen und Mädchen grundlegend, wonach das Interesse des Jungen auf das Allgemeine, das des Mädchens auf das Spezielle abziele. Die Jungen seien befähigt, die Dinge in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen, wohingegen die Weltsicht des Mädchens im Detail verharre. Das Mädchen erfasse die Welt über das Gefühl, der Junge über den Verstand. Für die Darstellung der Geschichte ergäben sich Wernicke zufolge grundlegende Konsequenzen: »Nirgends dürfen daher dem Mädchen nur allgemeine Umrisse gegeben werden. Der Lehrer darf ihm den Entwicklungsgang des großen Drama‫ތ‬s der Weltgeschichte nicht nur in großen Zügen zeichnen. In lebendigen Gestalten muß er die Persönlichkeiten, in denen sich die Entwicklung des Menschengeschlechts in irgend einer Zeit gleichsam concentrirte, dem jugendlichen Geiste vorführen, damit aus diesem concreten Bilde sich dem Kinde das Allgemeine herausbilde und selbst eine lebendige Gestalt gewinne. Ueberall muß der Lehrer das biographische Element vorherrschen lassen [...]« (Jacobmeyer 2011: 747f.)

Sämtliche, zu weit reichende Emanzipationsbestrebungen seien mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur unvereinbar. Bestehende Forderungen nach einer Gleichstellung der Geschlechter lehnt Wernicke als »krankhafte Erscheinung unserer Zeit« ab (Jacobmeyer 2011: 747). Gleichzeitig verschließt er sich jedoch nicht Forderungen nach einer Verbesserung der höheren Mädchenschulbildung. Ausgangsbedingungen und Ziele seien der naturgegebenen Geschlechteranthropologie zufolge zwar verschieden, das Leistungsniveau in Gymnasien und höheren Mädchenschulen solle sich jedoch nicht grundsätzlich unterscheiden. Hier wird der Entwicklungsgang der höheren Mädchenbildung am Ende des 19. Jahrhunderts bereits sichtbar. Wernickes Forderungen nach einer geschlechtsspezifischen Darstellungsform in Schulgeschichtsbüchern für das höhere Mädchenschulwesen können als stellvertretend für die didaktischen Konzepte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angenommen werden. Im Zentrum standen dabei das biographische Prinzip, die exemplarische Erzählung, die Wernicke zufolge »heiter und freundlich« sein solle, und das moralische Beispiel, das der Vermittlung weiblicher

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Tugenden diente. Sprachlich sollte die Darstellung mit einfachem Satzbau und unter Vermeidung von Fremdwörtern und Fachtermini schlicht gestaltet sein. Im Vergleich zu den Lehrbüchern für Knabenschulen traten somit die didaktischen Formen des Schulbuchs als Hilfsmittel für die Repetition, das Tabellenwerk mit Zeittafeln und das Kompendium, eine Art Kurzabriss der Geschichte, in den Hintergrund (Jacobmeyer 2011: 127 ff.). Geschuldet war dies allerdings auch der insgesamt geringeren Investitionsquote bei Lehrmitteln für den Mädchenunterricht, die die zentrale Darstellungsform der narrativen Langfassung gänzlich in den Mittelpunkt treten ließ. Thematisch lagen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Schwerpunkte auf der Alten Geschichte, der Kirchengeschichte und der antiken Mythologie, der eigene Lehrbücher gewidmet wurden (Jacobmeyer 2011: 571). Friedrich Nösselt zufolge sollte die antike Mythologie zwar nicht mehr als eine Stunde pro Woche unterrichtet werden. Didaktisch hielt er sie jedoch für besonders geeignet, die Ausprägung des weiblichen »Gemüths« zu fördern und den ästhetischen Sinn zu schulen. Im Verlauf des Jahrhunderts verloren Alte Geschichte und Mythologie zunehmend an Bedeutung. Die Schulbücher für Knaben und Mädchen näherten sich thematisch an, wobei im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die neuere und neueste Geschichte in den Vordergrund trat. Thematische Unterschiede bestanden darüber hinaus in der Beschränkung der politischen Geschichte auf die wesentlichen Entwicklungsgänge; Diplomatie-, Verwaltungs-, Verfassungs- und Militärgeschichte wurden weitgehend ausgespart. Zu verzichten sei Tobias Gottfried Schröer zufolge bei den Mädchen zudem auf das Auswendiglernen von Jahreszahlen, die Repetition genealogischer Reihen und die Abhandlung von Kriegsverläufen: »Am wenigsten Interesse für sie können Kriege, Feldzüge und Schlachten haben; es ist genug, ihnen die Arbeit der Männer in einigen Gemälden zu zeigen; über ganze Zeitläufe, in denen die Menschheit mehr zerstörend als bauend zu schauen ist, kann man flüchtig hinwegeilen. Desto länger muß bei der Entwickelung menschlicher Cultur, bei Sitten und Gebräuchen, Kunst, Wissenschaft und Religion verweilt werden und am längsten bei ausgezeichneten weiblichen Charakteren.« (Oeser 1843, Teil 1: VIII)

In den Schulgeschichtsbüchern sowohl für Jungen als auch Mädchen setzt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit durch, wobei die Epochen zunehmend in einem Lehrbuch abgehandelt werden. Inhaltlich erweitert sich das Spektrum an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt liegt nun auf Lebensbildern, insbesondere der »vaterländischen Geschichte« (Ministerium 1894: 29) sowie auf der Darstellung der

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Kulturgeschichte. Dieser müsse, wie es in Emil Brockmanns dreibändigem Lehrbuch der Geschichte für katholische höhere Mädchenschulen, LehrerinnenBildungs-Anstalten und freie Fortbildungskurse von 1905 heißt, »der weiteste Raum« gewährt werden (Jacobmeyer 2011: 1289). Bei den Biographien seien Vorbilder wie treue Gattinnen, Wohltäterinnen und glaubensstarke Christinnen herauszustellen, so der Leipziger Schuldirektor Louis Mittenzwey (Jacobmeyer 2011: 195). Die Aufwertung der Kulturgeschichte lässt sich zwar, wie Elisabeth Erdmann nachgewiesen hat, in dem Zeitraum zwischen den 1850er und 1880er Jahren auch in Schulgeschichtsbüchern für Knabenschulen feststellen (Erdmann 1982: 89f.). Als ideales Anschauungsmaterial bei der Vermittlung patriotischer Werte fällt sie bei Schulgeschichtsbüchern für höhere Mädchenschulen jedoch deutlicher ins Gewicht. Die Betonung der jüngsten vaterländischen Geschichte und die Vermittlung gesellschaftlicher Werte anhand kulturhistorischer Beispiele folgten dabei den ministerialen Erlassen auf Landes- und Reichsebene seit den 1880er Jahren. So heißt es in den Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen der preußischen Kultusbehörde von 1894: »Der Unterricht erstrebt Stärkung und Vertiefung der Liebe zu Vaterland, Heimath und Herrscherhaus, Verständnis für das Leben der Gegenwart und die Aufgaben unseres Volkes [...]« (Ministerium 1894: 29). Die Furcht der Regierung vor einer Störung der gesellschaftlichen Ordnung spiegelt sich in den verschiedenen ministerialen Erlassen wider. So sollte der Geschichtsunterricht der Allerhöchsten Order Wilhelms II. vom 1. Mai 1889 zufolge zusammen mit dem Religions- und Deutschunterricht einen Beitrag dazu leisten, die Sozialisationsziele Gottesfurcht, Liebe zum Vaterland und Königstreue durchzusetzen (Schneider 1982: 134). Die von Wilhelm II. am 30. August 1889 genehmigten Vorschläge zur Ausführung des Allerhöchsten Befehls beziehen sich ausdrücklich neben den Gymnasien auch auf die Volks-, Mittel- und Mädchenschulen. Dadurch rückte die Neuere Geschichte ab den 1890er Jahren ins Zentrum der vermittelten Unterrichtsinhalte. Die damit einhergehende Abwertung der Alten Geschichte ist auch als Versuch zu verstehen, den Kosmopolitismus an den höheren Schulen zurückzudrängen, der im Verdacht stand, den Republikanismus zu befördern und das Nationale zu unterhöhlen.

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Z USAMMENFASSUNG In dem vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich eine Form der Geschichtsschreibung heraus, die sich vorrangig an ein weibliches Lesepublikum richtete. Ersten Befunden zufolge lassen sich dabei verschiedene Typen unterscheiden: Erstens erschienen in den Frauenzeitschriften, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert herausgebildet hatten, neben Novellen, Fortsetzungsromanen, Gedichten und Andachten auch historisch-politische Artikel häufig unterhaltsamer Provenienz. Zweitens wandten sich Vertreter des Faches in speziellen Vortragsreihen, die häufig auch publiziert wurden, an ein weibliches Publikum, wobei sie geschlechtsspezifische didaktische und thematische Schwerpunkte setzten. Drittens entstanden im 19. Jahrhundert eigene Schulgeschichtsbücher für das höhere Mädchenschulwesen, die aufgrund der institutionellen Vorgaben die größte Verbreitung gefunden haben. Zeitlich waren diese am deutlichsten eingegrenzt, da ab ca. 1910 mit der Angleichung der höheren Bildungsanstalten für Jungen und Mädchen einheitliche Geschichtsschulbücher verwendet werden sollten. Voraussetzung für die Verbreitung von Schulgeschichtsbüchern an Mädchenschulen war der Aufschwung des Mädchenschulwesens, der mit institutionellen Vorgaben von ministerialer Seite ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einherging. Die Verwendung eines Lehrbuchs im Geschichtsunterricht wurde seit den 1850er Jahren auch an Mädchenschulen obligatorisch. Dennoch blieb die Zahl an eigenen Schulgeschichtsbüchern für Mädchen gering. Größte Verbreitung fanden Friedrich Nösselts Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht heranwachsender Töchter von 1822 sowie Carl Wernickes Weltgeschichte für höhere Töchterschulen von 1849, die bis in die 1890er Jahre hinein vielfach aufgelegt wurden. Einen Wendepunkt stellten die Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen des preußischen Kultusministeriums vom 31. Mai 1894 dar, woraufhin sich die Produktion von Schulgeschichtsbüchern für Mädchenschulen deutlich erhöhte. Die Erfolge der Frauenbewegung und das Aufbrechen einer starren Geschlechteranthropologie drängte eine spezielle Darstellung der Geschichte für ein weibliches Publikum ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings zurück. Begründet wurde eine gesonderte Form der Geschichtsschreibung für Mädchen und junge Frauen durch die naturgegebenen Geschlechterunterschiede, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts festgeschrieben worden waren (Honegger 1991). Der Aufteilung der Sphären in Öffentlichkeit und Privatheit folgend, wurde das universalisierte Ideal der dreifachen Bestimmung der (bürgerli-

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chen) Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter auf zurückliegende historische Epochen übertragen. Stärker als in den Geschichtsbüchern für Knabenschulen folgte die Darstellung dabei moralisch-sittlichen Mustern, wobei die Geschichte als Ort der Wertevermittlung angenommen wurde. Weibliche Tugenden wie Keuschheit, Treue, Sittlichkeit und Geduld hätten demzufolge auch in historischen Umbruchszeiten stabilisierend gewirkt. Bei der Begründung der Wertevermittlung für das »moralische Geschlecht« (Steinbrügge 1987) lösten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend patriotisch-nationale Vorgaben die älteren christlich-sittlichen Argumentationsmuster ab. Aus der zugrundeliegenden Geschlechteranthropologie ergaben sich maßgebliche Unterschiede bei der Darstellung von Geschichte im Knaben- und Mädchenunterricht. Mit der größeren Anschaulichkeit, der Emotionalisierung und Personalisierung der Geschichte sowie der Reduktion von Komplexität wurden für den Mädchenunterricht Darstellungsformen gefordert, die sich auch in der populären Geschichtsliteratur finden. Thematisch standen Kultur- und Sittengeschichte im Mittelpunkt. Bei der Politik-, Militär- und Verfassungsgeschichte sei ein grober Überblick ausreichend. Die Geschichte der Frauen, die dem biographischen Prinzip folgend am historischen Beispiel vermittelt werden sollte, kam als weiterer thematischer Schwerpunkt hinzu. Trotz der Unterschiede in den Darstellungsformen sind die Parallelen in den Schulgeschichtsbüchern für den Knaben- und Mädchenunterricht nicht zu übersehen. Die Vermittlung nationaler Werte war den ministerialen Vorgaben zufolge auch an den Knabenschulen der Hauptzweck des Unterrichts. Die Erzählung als zentrale Darstellungsform setzte sich in der Historiographiegeschichte des 19. Jahrhunderts insgesamt durch. Die führenden Pädagogen des 19. Jahrhunderts waren sich einig, für Mädchen und junge Frauen eine spezielle Form der Geschichtsschreibung zu fordern. Inwieweit dies jedoch in den Darstellungsteilen tatsächlich umgesetzt wurde, gilt es weiter zu untersuchen.

L ITERATUR Biedermann, Karl (1856): Frauen-Brevier: Kulturgeschichtliche Vorlesungen, Leipzig: Weber. Epple, Angelika (2003): Empfindsame Geschichtsschreibung: Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln [u.a.]: Böhlau. Epple, Angelika (2011): »Questioning the Canon: Popular Historiography by Women in Britain and Germany (1750-1850)«. In: Sylvia Paletschek (Hg.),

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G ESCHICHTE FÜR

JUNGE

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›Römische Haus-Frauen und GeschäftsMänner?‹ Gender in deutschen und türkischen Schulbuchdarstellungen zum antiken Rom J ASMIN M EIER UND A NABELLE T HURN

Dieser Beitrag untersucht an Fallbeispielen paradigmatisch,1 ob und in welcher Form das Thema Gender in den Darstellungen zum antiken Rom in deutschen und türkischen Geschichtsschulbüchern berücksichtigt wird und welchen Stellenwert die Geschlechtergeschichte im ›Medium Schulbuch‹ einnimmt.2 Der für diese Untersuchung gewählte Vergleich zwischen der Türkei und Deutschland wird zeigen, wie stark die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart in den beiden Ländern die Darstellung von Geschlecht in Schulbüchern zur An-

1

Der Beitrag rekurriert auf eine vergleichende Untersuchung von für BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen zugelassenen deutschen Geschichtsschulbüchern (Anabelle Thurn). Diese wurde durchgeführt im Rahmen des Projektes »Kelten, Römer und Germanen: Konstruktionen antiker Lebenswelten in Kontexten politischer Sinnstiftungen« (DFG-Forschergruppe 875 »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart«). Die Erweiterung um den binationalen Vergleich mit türkischen Schulbüchern (Jasmin Meier) kam im Rahmen der Tagung »Geschlecht und Geschichte in populären Medien« zustande, die vom 01.-03.12.2011 in Freiburg im Breisgau stattfand. Für den türkischen Vergleich wurden Geschichtsschulbücher sowie Kapitel zur römischen Antike untersucht. Die historischen Rollen von Frauen und Männern oder Familienverhältnisse finden allerdings in der Türkei in anderen Fächern, Themenbereichen und Klassenstufen oftmals intensivere Berücksichtigung.

2

Gender soll hier als soziale Kategorie verstanden werden, mit der die soziale und kulturelle, meist hierarchische Klassifikation von Männlichkeit und Weiblichkeit untersucht wird (vgl. Schmitt Pantel/Späth 2007: 31).

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tike prägen. Im Folgenden wird untersucht, welche Darstellungsformen und welche Inhalte das Bild von römischen Frauen und Männern charakterisieren und wie dieses Bild zu beurteilen ist. Folgende Beobachtungen seien vorausgeschickt. Erstens: Die Verhandlung von Männer- und Frauenbildern in der Öffentlichkeit, in den Medien und auch in der Politik unterscheiden sich in Deutschland und der Türkei deutlich voneinander. Zweitens: Die Antike scheint eine Epoche zu sein, die besonders häufig dazu dient, gegenwärtige Diskurse in eine entfernte historische Zeit zu versetzen (Gorbahn 2004: 12; Sénécheau 2007: 127). Daraus leitet sich die These ab, dass die Darstellung von Geschlecht in Schulbuchkapiteln zur antiken Geschichte immens von gegenwärtigen Perspektiven geprägt ist. So erklärt sich auch der zugespitzt gewählte Titel dieses Beitrags »Römische Haus-Frauen und Geschäfts-Männer«. Einerseits werden durch Gegenwartsbezüge geschichtsdidaktische Forderungen eingelöst. Andererseits werden manche Darstellungen dem Anspruch an historische Faktentreue nicht mehr gerecht, da sich durch den Gegenwartsbezug in einigen Aspekten zwangsläufig Abweichungen vom wissenschaftlichen Diskurs ergeben.3 Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Inhalte der Schulbücher sowohl in Deutschland als auch in der Türkei staatlicher Aufsicht bzw. staatlicher Kontrolle unterworfen sind.4 In der vorliegenden Untersuchung wird auf zwölf deutsche und acht türkische Schulbücher Bezug genommen. Das Untersuchungskorpus der deutschen Schulbücher ergibt sich aus einem innerdeutschen Vergleich von Lehrbüchern aus zwei Bundesländern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Bei der

3

Lohnenswert ist freilich auch eine Untersuchung des Einflusses von gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen auf die Fachwissenschaft. Für den vorliegenden Beitrag kann dies aber nur am Rande Erwähnung finden.

4

Für die meisten Bundesländer in Deutschland gilt, dass Schulbücher aller Verlage von einer Fachkommission der jeweiligen Bundesländer genehmigt werden müssen, wobei der Lehrplan des jeweiligen Faches als Orientierungsmaßstab dient (Gorbahn 2011: 92). Für die Türkei ist besonders darauf hinzuweisen, dass seit 2005 Schulbücher nicht mehr von privaten Verlagen, sondern von Kommissionen innerhalb des Bildungsministeriums erstellt werden, die direkt dem Erziehungsrat (Talim ve Terbiye Kurulu), der staatlichen Behörde für Erziehungsfragen, unterstehen. Während die Schulbuchzulassung in Deutschland Ländersache ist, wird sie in der Türkei zentral geregelt. Entsprechend gibt es in Deutschland eine Vielzahl von verschiedenen Büchern in den einzelnen Bundesländern bzw. landesspezifische Anpassungen in für mehrere Länder ansonsten identischen Lehrbüchern, während in der Türkei im ganzen Land die gleichen Bücher verwendet werden.

G ENDER IN S CHULBUCHDARSTELLUNGEN | 61

Auswahl der Bücher wurden ausschließlich im Jahre 2011 zugelassene Schulbücher berücksichtigt. Daraus ergibt sich eine Auswahl von Büchern, die für das Land Baden-Württembergs aus dem Jahr 2004, für Nordrhein-Westfalen hauptsächlich von 2008 stammen.5 Es wurden außerdem Lehrbücher unterschiedlicher Schulformen berücksichtigt, i.e. Schulbücher für das Gymnasium (Das waren Zeiten BW 2004; Das waren Zeiten NRW 2008; Forum Geschichte BW 2004; Geschichte und Geschehen BW 2004; Geschichte und Geschehen NRW 2008; Horizonte BW 2004; Mosaik BW 2004; Zeiten und Menschen NRW 2008; Zeit für Geschichte BW 2004), für die Realschule (Zeitreise BW 2004; Zeitreise NRW 2008) sowie für die Hauptschule (Die Reise in die Vergangenheit NRW 2007).6 Der Untersuchungskorpus der türkischen Schulbücher umfasst Schulbücher zweier Klassenstufen. Hierbei handelt es sich um Bücher der Mittelschule und des Gymnasiums, zweier Schulformen, die linear auf einander aufbauen. Um zu untersuchen, in welcher Form das Thema Gender in türkischen Schulbüchern zu fassen ist, wurden vor allem Schulbücher der neunten Schulklasse aus den 2000er Jahren untersucht (Ortaö÷retim. Tarih 9 2008; Ortaö÷retim. Tarih 9 2009; Ortaö÷retim. Tarih 9 2010; Ortaö÷retim. Tarih 9 2011). Da nachvollzogen werden sollte, ob und inwiefern sich in Hinblick auf das zu untersuchende Thema Entwicklungen nachweisen lassen, wurden aber auch ältere Bücher zu Rate gezogen. Hierbei handelt es sich um Bücher für die Mittelstufe (Orta Okul için Tarih 1 1934; Ortaokullar için tarih 1 1953; Tarih. Orta 1. ølkça÷ 1967; Tarih 1. Ders Kitabı 1994).7 Des Weiteren ist zu beachten, dass das türkische im Gegensatz zum deutschen Schulsystem zentralistisch aufgebaut ist: Die Schulbücher, die durch das türkische Bildungsministerium zugelassen werden, sind im ganzen Land in Gebrauch. Es gibt also keine regionalen Unterschiede, die bei der Untersuchung türkischer Schulbücher zu beachten wären.

5

Dabei lagen den baden-württembergischen Lehrbuchausgaben von 2004 vermutlich bereits die Richtlinien der Bildungspläne von 2004 (Gym BW 2004; RS BW 2004; HS/WR BW 2004), den nordrhein-westfälischen Lehrbüchern von 2007/2008 Richtlinien der Lehrpläne von 2007 bzw. 1994 und 1989 zugrunde (Gym NRW 2007; RS NRW 1994; HS NRW 1989).

6

Dass deutlich mehr Gymnasialbücher als Hauptschulbücher untersucht werden, ergibt sich aus dem Fokus auf Genderaspekten in den Schulbuchdarstellungen. Während nämlich die Mehrzahl der Gymnasialbücher entsprechende Themen behandeln, ist deren Vorkommen in Hauptschulbüchern die Ausnahme.

7

Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass es sich hierbei um Schulbücher der sechsten Klasse handelt. Die Verschiebung der Klassenstufe ergibt sich aus zahlreichen Schulreformen bis in die Gegenwart.

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Z UR

ALTHISTORISCHEN

G ENDER -F ORSCHUNG

Das ›Vorhandensein‹ und die ›Geschichtsfähigkeit‹ antiker Frauen wird in der Forschung mittlerweile nicht mehr in Frage gestellt (Feichtinger 2002: 16; Schmitt Pantel/Späth 2007: 25f.; Scheer 2000: 169).8 Eines der größten Probleme der althistorischen Forschung zu Geschlechterverhältnissen und zum Handlungsspielraum von Frauen in der Antike ist jedoch die schlechte Quellenlage, insbesondere was Quellen aus der Feder von Frauen angeht. Häufig wird deshalb das Frauenbild einzelner antiker Autoren untersucht (Feichtinger 2002: 16f.; Scheer 2000: 145; Schmitt Pantel/Späth 2007: 24; siehe dazu beispielsweise die Untersuchung von Späth 1994 zu Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus). Auch Schulbuchdarstellungen, die sich von der ›traditionellen Geschichte der großen Männer‹ distanzieren, verfahren häufig so. Problematisch wird dieses Vorgehen jedoch, wenn in Schulbüchern Frauenbilder bestimmter antiker Autoren rezipiert werden ohne die Monoperspektivität der Ursprungsquelle konkret zu thematisieren. Für die Betrachtung der folgenden Schulbuchdarstellungen ist vorauszuschicken, dass in der antiken Geschlechterforschung seit einiger Zeit die Unterscheidung in einen privaten weiblichen und einen öffentlichen männlichen Bereich hinterfragt wird. Dabei ist eine solche Unterscheidung auf ältere Forschungsmeinungen zurückzuführen, die das Modell des 19. Jahrhunderts auf die Antike rückprojizierten (Hartmann 2002: 22f.; Schubert 2002: 68; Wagner-Hasel 1988: 20-22, 29f.; Wagner-Hasel 1993: 536, 541f.).9 Inzwischen hat sich eine Neudefinition oder wenigstens ein Überdenken der Kategorie ›öffentliches Leben‹ angekündigt (Scheer 2000: 168). Zahlreiche Studien hinterfragen und widerlegen zudem eine räumliche Festlegung der Frauen in der Antike auf das Haus und vor allem deren Ausschluss aus dem politischen oder öffentlichen Raum (Schubert 2002: 65, 69, 78f.; Menacci 2005: 228f.; Wagner-Hasel 2000: 203).10

8

Vgl. Wagner-Hasel (1993: 539): »Seit nahezu zwanzig Jahren wird auf der Grundlage eines veränderten ›Geschlechtercodes‹ der Gegenwart an dem Einschreiben von Frauen in die Geschichte antiker Kulturen gearbeitet […]«.

9

Geschlechtsspezifische Schranken und die Einteilung in eine private weibliche sowie eine politische männliche Sphäre nennt Wagner-Hasel (1988: 18) ein Ergebnis des »Mühlstein[es] einer Jahrhunderte andauernden abendländischen Tradition«.

10 Die Raumsegregation von Männern und Frauen wird in den meisten Fällen als Ideologie, symbolisches System oder literarische Fiktion bewertet. Einen prägnanten Überblick für den griechischen Raum gibt beispielsweise Strähli (2005: 83f.). Strähli weist außerdem darauf hin, dass »Bilder die Realität nicht abbilden, sondern sie konstituie-

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Die Entwicklung der Geschlechtergeschichte seit den 1980er Jahren bedeutete auch für die althistorische Forschung eine Erweiterung der älteren ›Frauengeschichte‹, die primär die Handlungen des weiblichen Geschlechts untersuchte, ohne die Kategorie Geschlecht zugleich an die historische Untersuchung von Handlungen der Männer anzulegen. Die Geschlechtergeschichte begünstigte die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen anstatt primär danach zu trachten, dass Frauen in die ›männerdominierte Geschichte‹ eingeschrieben werden sollten. Für Schulbuchdarstellungen ist demnach zu fragen, ob nur römische Frauen unter einer geschlechtlichen Perspektive betrachtet oder ob sowohl römische Frauen als auch römische Männer zu gleichen Teilen und mit denselben Perspektiven thematisiert werden. Eine weitere Frage zielt auf die Gegenwartsgebundenheit der Perspektive bzw. der Motivation der Darstellungen. Tanja Scheer stellt in einem Beitrag zu »Forschungen über die Frau in der Antike« zur Diskussion, dass es in den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen gar nicht um das Leben antiker Frauen per se gehe, sondern das erkenntnisleitende Interesse darin bestehe, dass »einzelne Frauen der Antike modernen Ansprüchen in manchen Punkten doch nicht genügt« hätten (Scheer 2000: 157, siehe auch Wagner-Hasel 1988: 30). Als Beispiel nennt Scheer hier die anachronistische Suche nach dem Einzug von Frauen in sogenannte »Männerdomänen«, der in der Antike nicht zu beobachten sei (Scheer 2000: 157). Ob und wie auch in den Schulbüchern Tendenzen festgestellt werden können, die Darstellungen von antiken Frauen nach modernen Ansprüchen zu bewerten, wird im Folgenden untersucht.

S CHULBUCHBEISPIELE Zunächst aber eine allgemeine Beobachtung zum deutsch-türkischen Vergleich:11 Die Suche nach Darstellungen römischer Frauen und antiker Ge-

ren« (Ebd.: 87). »Bilder reflektieren die Diskurse, die die Realität überwölben und das soziale Handeln organisieren«. (Strähli 2005: 86). Diese Feststellung gilt für alle Bilder, auch für ›literarische Bilder‹, die in schriftlichen Quellen überliefert sind. Für Rom ist mit Kunst (2005: 111) darauf hinzuweisen, dass es »Teil römischer Identität« war, »die Gemeinschaft von Mann und Frau in der domus zu betonen«. 11 Es wurde für diesen Vergleich darauf geachtet, Bücher für ähnliche Jahrgangstufen heranzuziehen. Laut Lehrplanvorgabe wird die römische Antike in Deutschland in der fünften, in der Türkei gegenwärtig in der neunten Klasse unterrichtet. Daher wurden deutsche Lehrbücher sowohl für das Gymnasium als auch die Realschule und die

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schlechterverhältnisse in Schulbüchern stößt in deutschen Publikationen auf ganz andere Präsentationsformen und Schwerpunktsetzungen als in türkischen. In deutschen Schulbüchern sind innerhalb einer nach politischen Ereignissen ausgerichteten chronologischen Struktur Kapitel zu sozialgeschichtlichen Themen eingefügt (Gorbahn 2004: 10; Sieberns 2004: 45). Geschlecht wird in sozialgeschichtlichen Kapiteln thematisiert, die in der Regel von der »Familie« handeln (Das waren Zeiten BW 2004: 117-119; Das waren Zeiten NRW 2008: 104105; Forum Geschichte BW 2004: 129-132; Geschichte und Geschehen NRW 2008: 108-111; Horizonte BW 2004: 151-152; Zeiten und Menschen NRW 2008: 140-145; Zeit für Geschichte BW 2004: 119, Zeitreise BW 2004: 136-137; Zeitreise NRW 2004: 116-117) oder vom »Alltag« im antiken Rom (Die Reise in die Vergangenheit NRW 2007: 122-137). Dies geschieht im Übrigen weitestgehend ohne eine Anpassung an die jeweilige römische Epoche, d.h. die Schülerinnen und Schüler bekommen ein einheitliches Bild ›antiker römischer Frauen‹ vermittelt, das scheinbar während 1000 Jahren römischer Geschichte unverändert geblieben ist.12 In türkischen Schulbüchern wird die Geschichte zunächst nach Epochen und dann nach Regionen eingeteilt. Je nach Region wird der Schulstoff ebenfalls in chronologischer Abfolge dargestellt (Ortaö÷retim. Tarih 9 2008; Ortaö÷retim. Tarih 9 2009; Ortaö÷retim. Tarih 9 2010; Ortaö÷retim. Tarih 9 2011). Zeit und Ort werden als eine Einheit präsentiert. Obwohl die Sozialgeschichte traditionell breiten Raum in türkischen Schulgeschichtsbüchern einnimmt, gibt es kaum Kapitel, die das Alltagsleben von Frauen und Männern im Detail darstellen. Eine Ausnahme bildet dabei ein Schulbuch, das 2008 für die neunte Klasse zugelassen wurde (Ortaö÷retim. Tarih 9 2008; Ortaö÷retim. Tarih 9 2009; Ortaö÷retim. Tarih 9 2010; Ortaö÷retim. Tarih 9 2011). Auch hier wird, wie in den deutschen Schulbüchern, das vermittelte ›Frauen- und Männerbild‹ nicht zeitlich eingeordnet.13

Hauptschule der Sekundarstufe eins berücksichtigt. Bei der neunten Klasse handelt es sich in der Türkei um die erste Klasse des Gymnasiums. Vor der Schulreform von 2005 gab es schon in der vierten (Grundschule) und in der sechsten Klasse (Mittelschule) jeweils einen Durchgang durch die Geschichte der Antike. Im Zuge der Reform fielen diese aber weg. 12 Auf dieselbe Problematik weist auch Gorbahn hin (2004: 10): »…wobei bei der Aufzählung sozial- und alltagsgeschichtlicher Aspekte die zeitliche Dimension nicht selten verschwimmt und leicht der Eindruck einer enormen Statik entstehen kann.« 13 Besonders problematisch ist eine statische Darstellung des römischen Frauenbildes vor dem Hintergrund, dass dieses besonders mit Beginn der Kaiserzeit – zumindest ideologisch – einen Paradigmenwechsel erfuhr (vgl. Kunst 2005: 111, 122-128). Es

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Zwei deutsche Schulbücher dokumentieren recht eindrücklich, welcher Popularität sich die Darstellung römischer Frauen derzeit erfreut. So haben es Frauen in Geschichte und Geschehen, einem Geschichtslehrbuch für Gymnasien, in den Ausgaben für zwei Bundesländer sozusagen ›auf das Titelbild geschafft‹. In der Ausgabe aus dem Jahre 2004 für Baden-Württemberg ist auf dem Buchtitel eine Wandmalerei abgebildet, die eine römische Priesterin mit Dienerinnen darstellt (Geschichte und Geschehen BW 2004: Titel).14 Den Titel des Buches von 2008 für Nordrhein-Westfalen schmückt eine Wandmalerei aus der Villa dei Misteri in Pompeji, die Kultdienerinnen der dionysischen Mysterien abbildet (Geschichte und Geschehen NRW 2008: Titel).15 Das Thema ›Frauen der Antike‹ wird hier also nicht nur in den sozialgeschichtlichen Kapiteln zu Rom inhaltlich berührt, sondern bereits auf dem Cover des jeweiligen Schulbuches prominent platziert. Auch innerhalb der Kapitel zur römischen Geschichte sind Frauen auf Abbildungen stets präsent, etwa durch die Wiedergabe römischer Reliefdarstellungen sowie in Rekonstruktionszeichnungen oder Lebensbildern. Türkische Schulbücher sind optisch ganz anders aufgemacht. Hier findet man viel Kartenmaterial und zahlreiche Abbildungen archäologischer Funde, wie beispielsweise auf dem Schulbuchtitel von Ortaö÷retim. Tarih 9 aus dem Jahr 2008, auf dem drei senkrecht stehende, mit Inschriften versehene Steine in einer weiten Landschaft zu sehen sind. Leider fehlt im Buch eine Abbildungsunterschrift, so dass die Rezipienten und Rezipientinnen ohne Vorwissen nicht erkennen können, um welche Art von archäologischen Funden es sich hierbei handelt. Auch wenn vereinzelte Abbildungsmotive denen in deutschen Schulbüchern entsprechen mögen, finden sich in den untersuchten türkischen Schulbüchern kaum Abbildungen von römischen Frauen (Orta Okul için Tarih 1 1934: 227).16

gibt aber auch Schulbücher, die auf Veränderungen eingehen wie beispielsweise Forum Geschichte BW 2004: 151. Hier werden Auszüge aus Livius 34 als Quellenmaterial zitiert, das nach »Mehr Freiheit für Frauen?« im Laufe der Republik fragt. 14 Zur archäologischen Besprechung der Wandmalerei vgl. Boriello 1986: 138f., Kat.Nr. 106. 15 Für die Forschungsdiskussion der Wandmalerei siehe Mielsch 2001: 32f., 40-45; Spano 2001. 16 Das Bild einer Statue trägt die Bildunterschrift »Romalı bir kadın« »eine römische Frau« und wird weder weiter beschrieben, noch steht es innerhalb des Kapitels zum antoninischen Herrscherhaus in einem inhaltlichen Zusammenhang zum Genderdiskurs. Aus diesem Grund soll es in der weiteren Diskussion unberücksichtigt bleiben. Dasselbe gilt für ein nicht antikes Gemälde (Orta Okul için Tarih 1 1934:

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B EISPIEL 1: »F RAUENBERUFE « UND »H AUSFRAUEN « IN DEUTSCHEN S CHULBÜCHERN Bemerkenswert ist, dass in deutschen Schulbüchern vielfach ein Schwerpunkt auf der Tätigkeit der römischen Frauen liegt. Dabei stehen sich sogenannte ›Frauenberufe‹ auf der einen Seite und die Situation römischer Frauen als ›Hausfrauen‹ auf der anderen Seite dichotom gegenüber. In Mosaik 2004 wird beispielsweise expressis verbis von »Frauenberufen« gesprochen (Mosaik BW 2004: 118). An anderer Stelle wird stattdessen die Formulierung »Frauenarbeit« benutzt (Mosaik BW 2004: 170). In Forum Geschichte ist von der »Berufstätigkeit römischer Frauen« und von »beruflichen Tätigkeiten von Frauen« die Rede (Forum Geschichte BW 2004: 171). Dem gegenüber steht die Verortung römischer Frauen in den privaten, familiären Bereich des Hauses. Ganz konkret wird hierbei sogar mit dem Terminus »Hausfrau« gearbeitet, wenn beispielsweise das Ideal der römischen Frau als das »der Hausfrau« skizziert wird (Forum Geschichte BW 2004: 170). Allgemein herrscht in den untersuchten deutschen Schulbüchern der Tenor vor, römische Frauen hätten das Haus selten verlassen. Gelegentlich geschieht dies auch in konkreter Abgrenzung von römischen Männern. So heißt es in Forum Geschichte in der personalisierten Erzählsequenz einer römischen Frau: »Aus dem Haus gehe ich nicht so oft wie mein Mann« (Forum Geschichte BW 2004: 131). Diese Verortung der Frauen im Haus wird noch verstärkt durch die Fokussierung auf ihre wichtigste Aufgabe, die Sorge für den Nachwuchs. In Zeiten und Menschen steht zu lesen: »Die Aufgabe der Frau bestand vor allen Din-

230), auf dem römische Frauen beim Teppichkauf dargestellt werden. Die Bildunterschrift lautet: »Romali kadınlar halı satınalıyorlar« (»Römische Frauen kaufen einen Teppich«). Im zugehörigen Kapitel über die römische Zivilisation gibt es nur folgende kurze Darstellung, die jedoch keine Rückschlüsse auf das römische Geschlechterverhältnis zulässt: »Aile eski temellere dayanıyordu. Çocuklar, küçükken satılabliyordu. Sakat veya cılız do÷anlar öldürülüyordu. Boúanma vardı. Bekârlar vergi vermek zorunda idiler.« (»Die Familie stützte sich auf die alten Fundamente. Kinder konnten, solange sie klein waren, verkauft werden. Diejenigen, die behindert oder schwächlich auf die Welt kamen, wurden getötet. Es gab Ehescheidungen. Unverheiratete mussten Steuern zahlen.«) Da das Türkische kein grammatikalisches Geschlecht kennt und hier keine weiteren Personenbeschreibungen vorhanden sind, lässt sich keine Aussage über das tatsächliche oder gedachte Geschlechterverhältnis in Rom treffen (Orta Okul için Tarih 1 1934: 231).

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gen darin, Kinder zu bekommen und den Haushalt zu führen« (Zeiten und Menschen NRW 2008: 141). Das vielleicht größte Gewicht in der Darstellung römischer Frauen liegt in den untersuchten deutschen Schulbuchdarstellungen auf ihrer Rolle als Mutter. So findet man beispielsweise in Forum Geschichte die Formulierung, dass die »Rolle« der römischen Frauen »stets vom Bild der Ehefrau und Mutter bestimmt« war (Forum Geschichte BW 2004: 170) oder in Die Reise in die Vergangenheit, dass »der Haushalt […] von der Ehefrau und Mutter« verwaltet wurde (Die Reise in die Vergangenheit NRW 2007: 123). Gegenüber der Thematisierung der beruflichen Tätigkeiten von römischen Frauen tritt ihre Charakterisierung als ›Hausfrauen‹, sowohl wörtlich als auch sinngemäß, stets in Verbindung mit ihrer Verantwortung für den Nachwuchs auf. Der Versuch, die Berufstätigkeit römischer Frauen mittels Illustrationen zu belegen, führt zu stark divergierenden Interpretationsversuchen unterschiedlicher Schulbücher. So wird die gleiche bildliche Darstellung einer Frau auf einem Relief höchst verschieden gedeutet (Vgl. Abb. 1).17 Die Bildunterschrift in Forum Geschichte lautet: »Frau und Mann in einer Metzgerei, Grabrelief aus Rom 1./2. Jh. n. Chr. Die Frau führt vermutlich die Bücher des Geschäfts« (Forum Geschichte BW 2004: 171). Interessant ist nun, dass eine Seite vor dieser Abbildung eine Liste von typischen Frauenberufen aufgeführt wird. In dieser Liste heißt es, dass wir »von Freigelassenen und Sklavinnen wissen«, dass »sie als Kellnerinnen, Buchhalterinnen und Hausangestellte, Bibliothekarinnen und Vorleserinnen arbeiteten« (Forum Geschichte BW 2004: 170). Weiter liest man dort: »ebenso waren sie in gesellschaftlich geächteten Bereichen tätig: als Flötenspielerin, Wirtin, Tänzerin, Schauspielerin, Prostituierte« (Forum Geschichte BW 2004: 170). Für die in der Bildunterschrift als Buchhalterin beschriebene Frau hieße das, dass sie wahrscheinlich eine Freigelassene oder Sklavin war, da sie den ›Beruf‹ der Buchhalterin ›ausübte‹. Geht man von dieser Annahme aus, könnte man sich aber wundern, warum die als Buchhalterin tätige Freigelassene oder Sklavin erhaben auf einem Sessel mit Fußbank sitzt und offensichtlich einen Mantel über der Tunica sowie eine für die römische Oberschicht typische Modefrisur trägt. Aufgrund dieser Befunde kommen die Autoren eines anderen Schulbuches zu einer völlig anderen Interpretation. In Geschichte und Geschehen BW wird die sitzende Frau nämlich als

17 Zur Besprechung des Reliefs in der archäologischen Forschung vgl. Zimmer 1982: 94f., Kat.Nr. 2. Hier wird jedoch lediglich beschrieben, was die dargestellte Frau tut, nicht was sie ›ist‹.

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»Dame« bezeichnet, die beim Metzger »auf ihre Ware« wartet (Geschichte und Geschehen BW 2004: 127). Abbildung 1: Relief eines Metzgers

Quelle: SKD Skulpturensammlung

Ebenso wie in diesen verschiedenen Schulbuchdarstellungen wird die Deutung des Reliefs auch in der althistorischen Forschung kontrovers diskutiert. So geht beispielsweise Rosmarie Günther für die weibliche Figur in diesem Relief von einer libraria-cellaria, einer Freigelassenen aus herrschaftlichem Hause aus, die bei einem Metzger als Kundin eine Bestellung aufgibt (Günther 2000: 375, Q 138) – eine Interpretation, an der sich wohl die Bildunterschrift in Geschichte und Geschehen BW orientiert hat. Der (durchaus gewichtige) Unterschied zwischen der Schulbuchdarstellung und der Interpretation Günthers ist die Bezeichnung der weiblichen Figur als Dame bzw. als Freigelassene. In der Beurteilung, dass die Frau keineswegs bei der Ausübung einer ›Arbeit‹ oder ›Berufstätigkeit‹ innerhalb der Metzgerei, etwa als ›Buchhalterin‹, dargestellt wird, stimmen beide überein. Robert Knapp hingegen versieht dasselbe Relief mit der Bildunterschrift: »Zusammenarbeit im Laden eines Metzgers: Die Ehefrau führt die Bücher, der Gatte hackt das Fleisch« (Knapp 2012: 100, Abb. 6).18 Eine solche

18 Bemerkenswert sind hier die gewählten Formulierungen für die Tätigkeitsbeschreibung von Ehefrau und Gatten. Während die Ehefrau nämlich schlicht als diejenige bezeichnet wird, die ›die Bücher führt‹, wird dem Gatten zugesprochen ›das Fleisch zu hacken‹. Möglich wäre auch eine wertfreiere Formulierung, wie z.B. dass der Gatte das Fleisch ›verarbeite‹. Mit dieser Bemerkung am Rande sei darauf hingewiesen, wie

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Deutung hat vermutlich der Bildunterschrift in Forum Geschichte als Vorlage gedient. Das Beispiel zeigt, wie in diesem Schulbuch derjenigen Interpretation, die eine ›Berufstätigkeit‹ der abgebildeten Frau dokumentiert, vor einer Deutung als Kundin Vorrang gewährt wird. Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass auch die Forschungsliteratur in ihrer Beschäftigung mit ›Frauenberufen‹ oder der Rollen und Tätigkeiten von Frauen in der Antike, die im Schatten der Geschichte weitestgehend verborgen geblieben sind, von gegenwärtigen Perspektiven beeinflusst ist.19 Ein Vorteil, der der Forschungsliteratur im Unterschied zu Schulbuchdarstellungen eingeräumt werden kann und muss, ist die Tatsache, dass sie Sachverhalte in ihrer vollen Komplexität verhandeln kann und sich nicht einer didaktischen Reduktion und Vereinfachung unterwerfen muss. Während an dieser Stelle unbeachtet bleiben soll, in wieweit sich die Forschenden selbst kritisch reflektieren, ist festzustellen, dass eine kritische Verortung der eigenen Perspektiven in den vorgestellten Schulbuchdarstellungen nicht stattfindet. Und in dieser gleichsam ›dogmatischen‹ Vermittlung bestimmter Sachverhalte in Schulbüchern liegt die Gefahr verborgen, dass gegenwärtige Perspektiven als historische Verhältnisse verhandelt werden. Nach der Tätigkeit von Männern wird in den Schulbuchdarstellungen übrigens nicht gefragt. Stattdessen suggerieren sie implizit, ›der römische Mann‹ sei ›von Beruf‹ Senator oder Sklave gewesen. Pauschalisierungen ›des Mannes‹ und der ›Tätigkeit als Senator‹, die den sogenannten ›Frauenberufen‹ gegenübergestellt werden, sind freilich höchst problematisch. Denn weder kann vom Senatorenstand als einem Berufsfeld gesprochen werden, noch war jeder römische Mann automatisch ein Senator. Als Alternative zum ›Senatorenstand‹ wird in den Schulbuchdarstellungen in der Regel lediglich der Status der Sklaverei angeboten, was die Vielfalt der sozialen Positionen und Tätigkeiten römischer Männer unsichtbar macht. Die gezeigten Schulbuchbeispiele zu Frauenberufen in der Antike thematisieren Diskurse über Geschlecht und Frauen, die auch aus gegenwärtigen Diskussionen bekannt sind (Schmitt Pantel/Späth 2007: 24). So weckt die Suche nach Frauenberufen in der römischen Antike Assoziationen zur aktuellen öffentlichen und politischen Debatte um die Berufstätigkeit von Frauen oder deren Aufstieg in Führungspositionen, die häufig in Verbindung bzw. im Konflikt mit

auch in der Forschungsliteratur über die Begriffswahl Klischees (wie das des kraftaufbringenden Mannes) bedient werden. 19 Vgl. hierzu auch Wagner-Hasel (1988: 14): »Das Werturteil [über Frauen] […] ist […] ebenso schwankend wie der Zeitgeist.«

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der Vereinbarkeit von ›Beruf und Familie‹ verhandelt werden. Und ebenso ist auch die Debatte um ›die Hausfrau‹ in Deutschland nach wie vor präsent. Die heute geführte Diskussion um die Berufstätigkeit von Frauen auf der einen Seite und die Aufgaben von Frauen als Hausfrauen und Mütter auf der anderen Seite prägt in der beschriebenen Weise wiederum Schulbuchinhalte – ob unbewusst oder zur Herstellung von Gegenwartsbezügen bewusst sei dahingestellt.

B EISPIEL 2: K EIN G ENDERASPEKT

IN TÜRKISCHEN

S CHULBÜCHERN ?

Während sich im deutschen Schulbuch gegenwärtige Rollendiskurse über die Berufstätigkeit von Frauen und ihre Identität als Mütter in der Darstellung römischer Frauen der Antike niederzuschlagen scheinen, fällt in türkischen Schulbüchern auf, dass dort nicht dieselben Diskurse geführt werden. Dies lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Erstens erfolgt der Zugang zur Alten Geschichte im türkischen Schulbuch, wie bereits erwähnt, über den geographischen Raum. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet eine Abbildung aus Ortaö÷retim. Tarih 9, auf der »der Geschichtssee« abgebildet ist, in dem sich der »Fluss der Zeit« erstreckt (Ortaö÷retim. Tarih 9 2008: 4; Ortaö÷retim. Tarih 9 2009: 4; Ortaö÷retim. Tarih 9 2010: 4; Ortaö÷retim. Tarih 9 2011: 4). Das Bild entstammt dem Kapitel »Einführung in die Geschichtswissenschaft« und zeigt ein Schiff, das als »Schiff der Menschlichkeit« über den Fluss der Zeit an großen Ereignissen der Geschichte – wie der Eroberung Istanbuls, der Französischen Revolution, der Schlacht von Çanakkale und dem zweiten Weltkrieg – entlang fährt. Doch auch diese Darstellungsweise hat einen Gegenwartsbezug. Ihr Ursprung liegt in den Bemühungen um eine neue nationale Geschichtsschreibung seit Beginn der Türkischen Republik Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die stark geographisch fokussierte Darstellung findet außerdem einen Ursprung in der türkischen Geschichtsforschung. So wirft Hüseyin Cevizo÷lu schriftlichen Quellen vor, dass sie absichtlichen wie auch unabsichtlichen Fehlinterpretationen zu viel Raum böten. Dem gegenüber erscheint ihm die Geographie als die geeignete historische Quelle, die unverfälscht vor dem Betrachter liege. In den Boden eines Landes seien gleichsam alle historischen Ereignisse und kulturellen Errungenschaften derjenigen Menschen, die hier seit frühesten Zeiten lebten, eingegangen und mit ihm verschmolzen. Davon kündeten nicht nur archäologische Zeugnisse, sondern auch alte Namen für Städte, Flüsse und Landschaften (Cevizo÷lu 1991: sunuú [Vorwort]).

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Die so vorgegebene Darstellung von Geschichte ist erstaunlich konstant.20 Aktuelle Gender-Diskurse finden hier keinen Raum. Dennoch zeigt ein Schulbuch, das seit 2008 bis zum vergangenen Schuljahr 2010/2011 in mehreren Auflagen erschienen ist, eine Neuerung: Hier gibt es einen kleinen Einschub über das Alltagsleben der Mitglieder einer römischen Familie, die sich, wie man aus der Darstellung entnehmen soll, aus den Eltern und den Kindern zusammensetze (Ortaö÷retim. Tarih 9 2008: 66; Ortaö÷retim. Tarih 9 2009: 66; Ortaö÷retim. Tarih 9 2010: 66; Ortaö÷retim. Tarih 9 2011: 66). Innerhalb der stark ereignisgeschichtlichen Darstellungsform des Schulbuchs wird so das Alltagsleben thematisiert. In Deutschland werden durch die Entwicklung hin zu einer kultur- und sozialgeschichtlichen Ausrichtung von Schulbuchdarstellungen seit etwa drei Dekaden neuere Forschungstendenzen berücksichtigt (Becher 1999: 46; Gorbahn 2004: 10; Sieberns 2004: 45). In türkischen Schulbüchern weist eine kultur- und sozialgeschichtliche Darstellungsweise eine längere Tradition seit den späten zwanziger und den frühen dreißiger Jahren auf. Neu ist in dem genannten Beispiel allerdings die Darstellungsform, die das Alltagsleben im antiken Rom anhand einzelner Familienmitglieder abbildet und in dieser Hinsicht deutschen Lehrwerken ähnelt. Zweitens ist der Umstand, dass sich im türkischen Schulbuch nicht dieselben Gender-Diskurse wie im deutschen Lehrbuch wiederfinden, nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass in der Türkei gegenwärtig nicht dieselben öffentlichen und politischen Diskussionen geführt werden. So spielt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der gegenwärtigen türkischen Frauendebatte eine untergeordnete Rolle. Stattdessen erscheint dort die Frau als »zentrales Symbol der politischen Auseinandersetzung« zwischen dem Kemalismus und dem politischen Islam in der Türkei, wie Barbara Pusch hervorgehoben hat (Pusch 2001: 9).

B EISPIEL 3: ALLTAGSGESCHICHTE IN UND EINEM TÜRKISCHEN S CHULBUCH

EINEM DEUTSCHEN

Trotz der unterschiedlichen Darstellungsformen in deutschen und türkischen Schulbüchern lässt sich in Hinblick auf das Alltagsleben von Frauen und Männern im alten Rom in einem Fall ein direkter Vergleich ziehen. So werden im

20 Im diachronen Vergleich türkischer Schulbücher lässt sich sogar feststellen, dass die Einteilung von Geschichte nach geographischen Aspekten von der frühen Republik bis heute vorzufinden ist. Einige Beispiele dafür sind: Orta Okul için Tarih 1 1934; Ortaokullar için tarih 1 1953; Tarih. Orta 1. ølkça÷ 1967; Tarih 1. Ders Kitabı 1994.

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deutschen Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (NRW 2007: 123) Männerund Frauenrollen folgendermaßen beschrieben: »Nur selten konnte sie [sc. die Ehefrau und Mutter] das Haus verlassen, um Freundinnen zu besuchen oder ins Theater zu gehen. Der Vater war tagsüber meist nicht da. Er ging seinen Geschäften nach und traf sich mit Freunden. Erst zum Abendessen, der wichtigsten Mahlzeit der Familie, war er wieder zu Hause.«

Im türkischen Schulbuch Ortaö÷retim. Tarih 9 (2008: 66) heißt es hingegen: »Der Herr des Hauses ging nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer hinüber. Das wichtigste Ereignis des Morgens war der ›Begrüßungsbesuch‹, bei welchem die Klienten [wörtl. die Beschützten] ihren Beschützern Respekt zollten und ihre verschiedenen Wünsche zur Sprache brachten. Danach besuchten sie in der Regel ihre Läden, die sich an der Vorderseite ihrer Villen befanden. […] Die Herrin des Hauses schminkte sich nach dem Frühstück lange und ging dann zu ihren Freundinnen [...]«21 (Übersetzung: J.M.).

Im Anschluss an diese Passage erfahren wir im türkischen Schulbuch, dass die Menschen in Rom am Nachmittag ins Bad und ins Theater gingen und gerne Bücher lasen. Zum Schluss wird die Teilnahme am Gastmahl als wichtige abendliche Beschäftigung genannt. Der Text beschreibt außerdem, dass die Kinder in die Schule gingen und danach im Garten spielten. Eine genauere Analyse dieser beiden Passagen fördert aufschlussreiche Erkenntnisse hinsichtlich der in den Schulbüchern anzutreffenden Pauschalisierungen der ›römischen Frau‹ bzw. des ›römischen Mannes‹ oder ›Vaters‹ zu Tage. Im deutschen Schulbuch wird über die römische Frau berichtet, dass sie nur selten das Haus verlassen konnte. Die römische Frau im türkischen Schulbuch ging dagegen regelmäßig nach dem Frühstück geschminkt aus dem Haus. Wenn die römische Frau im deutschen Schulbuch dann (wohl sehr selten) das Haus verließ, traf sie ihre Freundinnen oder ging ins Theater. Auch die Frau im türkischen Text traf ihre Freundinnen, wie es scheint sogar täglich. Der Theaterbesuch gehört im türkischen Schulbuch zum allgemeinen Nachmittagsprogramm und wird keinem Geschlecht zugeschrieben, wohingegen alltägliche kulturelle Aktivitäten im deutschen Schulbuch überhaupt nicht thematisiert werden. Inte21 »Evin beyi kahvaltıdan sonra çalıúma odasına geçerdi. Sabahın en önemli olayı himaye edilenlerin hamilerine saygılarını sundukları ve çeúitli isteklerini dile getirdikleri ›selamlama ziyareti‹ idi. Sonrasında ise genellikle villanın ön tarafında yer alan dükkânlarına u÷rarlardı.[...] Evin hanımı ise kahvaltıdan sonra uzun süren bir makyaj yapar, daha sonra arkadaúlarına giderdi.« Ortaö÷retim. Tarih 9 2008: 66.

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ressant ist auch, dass die Toilette der römischen Frau im deutschen Schulbuch nicht vorkommt, während im türkischen Schulbuch sowohl das lange Schminken als auch das Bad am Nachmittag explizit erwähnt werden. Dass die römische Frau das Bad besuchte, ist auch in den anderen untersuchten deutschen Lehrwerken nicht Bestandteil des vermittelten römischen Frauenbildes. Der Mann hält sich sowohl nach dem deutschen als auch nach dem türkischen Geschichtsbuch in einem jeweils anderen Raum auf als die Frau. Der Raum des Mannes im deutschen Schulbuch ist unbestimmt außerhalb des Hauses verortet, im türkischen Schulbuch befindet sich dieser sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses. Während der eine »tagsüber meist nicht da war« (deutsches Schulbuch), geht der andere (türkisches Schulbuch) in sein »Arbeitszimmer« im Haus, in den Laden an der Vorderseite der eigenen Villa (im Haus) oder ins Bad. In beiden Schulbüchern geht der römische Mann ›seinen Geschäften‹ nach. Bemerkenswert ist auch das Verhältnis von römischen Männern und Frauen zu ihren Freunden bzw. Freundinnen. Im deutschen Schulbuch hat die römische Frau kaum Gelegenheit, Freundinnen zu treffen. Der Mann hingegen geht täglich aus dem Haus und trifft Freunde. Im türkischen Schulbuch ist es die Frau, die ihre Freundinnen trifft, während von Freunden des Mannes nicht gesprochen wird. Dieser empfängt hier lediglich Besucher zur salutatio. Der Kontakt des Mannes zu Freunden oder Besuchern findet im deutschen Schulbuch außerhalb des Hauses statt, während sich der Mann und seine Besucher im türkischen Schulbuch innerhalb des Hauses begegnen. Darüber hinaus zeigt der türkische Text noch eine weitere Besonderheit auf, die sich so in deutschen Texten nicht wiederfinden kann: Die türkische Sprache kennt nämlich kein grammatikalisches Geschlecht. Daher ist es beispielsweise nicht klar, ob es sich bei den Besuchern im Rahmen der salutatio um Männer oder Frauen handelt. Wollte man hier also eine Geschlechterzuordnung vornehmen, müsste explizit im Text genannt werden, ob es sich um Frauen oder um Männer handelt. An welcher Stelle findet sich nun ein Gegenwartsbezug im türkischen Schulbuch? Anhand der Beschreibung des römischen Alltags lassen sich geschlechtsspezifische Handlungsfelder und Tätigkeiten nur vereinzelt ausmachen. Sowohl Römer als auch Römerinnen scheinen Zugang zu allen gesellschaftlichen Sphären zu haben: Sie verlassen das Haus und betreten ein anderes als Besucher, sie gehen ins Bad und ins Theater. Diese Bewegungsfreiheit entspricht im Verständnis der türkischen communis opinio grundsätzlich derjenigen moderner türkischer Frauen und Männer. Zwar sind auch in der heutigen türkischen Gesellschaft nach allgemeinem Dafürhalten die Frauen für den Haushalt und die Kin-

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dererziehung zuständig. Es findet sich im Schulbuchtext innerhalb der Darstellung der römischen Geschichte aber keine eindeutige Zuordnung der Frau auf die Rolle als Mutter und Hausfrau. Diese Ausblendung einer Debatte um geschlechtsspezifische Raumzuschreibungen, die im Vergleich zu deutschen Schulbuchdarstellungen besonders auffällig ist, könnte mit der Beobachtung von Kadıo÷lu zu tun haben, der zufolge die »Frau innerhalb der sozialen Einheit der Familie – und nicht als Individuum mit einem ›eigenen Raum‹« wahrgenommen werde (Kadıo÷lu 2001: 33). Ein ähnliches Phänomen stellt der Hinweis im türkischen Schulbuch dar, dass die Kinder erzogen würden, nicht aber, welcher Elternteil dafür zuständig sei. Dennoch erscheinen Männer und Frauen in für sie scheinbar typischen Geschlechterrollen: Der Römer geht seinen Geschäften nach, die Römerin schminkt sich. Insofern werden beide Geschlechter keineswegs gleichgesetzt. Ihre Handlungsfelder sind verschieden. Beide Tätigkeiten, das Führen der Geschäfte wie auch das Schminken, erscheinen aber in ihrer Geschlechterspezifität als einander ebenbürtig: Sich schön zu machen und dafür eine lange Zeit in Anspruch zu nehmen erscheint als legitim.22 Grundsätzlich spiegelt der römische Alltag im türkischen Schulbuch in Hinblick auf Bewegungsfreiheit und Geschlechterrollen die Idealvorstellung des modernen türkischen Alltages: Frauen und Männer beschäftigen sich zwar mit unterschiedlichen Dingen, keiner ist aber prinzipiell dem anderen gegenüber durch Bewegungseinschränkungen benachteiligt. Der Tag bietet für beide Geschlechter gleichermaßen ausgiebig Gelegenheit für die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt. Dass römische Frauen nun in die türkischen Schulbuchdarstellungen Eingang gefunden haben, hängt möglicherweise mit dem von Özkan-Kerestecio÷lu beobachteten gesellschaftlichen Prozess der Nationsbildung zusammen. Da, so Özkan-Kerestecio÷lu, »der Aufbau eines Nationalstaates bzw. der Prozeß der Nationenbildung in erster Linie die Konstruktion einer neuen gesellschaftlichen Integrationsform bedeutet, werden in diesem Prozeß fast immer Gruppen, die im alten System ausgeschlossen waren, integriert« (Özkan-Kerestecio÷lu 2001: 18). Frauen benennt sie in diesem Zusammenhang als eine »elementare Zielgruppe« (Özkan-Kerestecio÷lu 2001: 18). Weiter führt Özkan-Kerestecio÷lu (2001: 18) aus, »daß der Statuswandel der Frau für den Modernisierungsprozeß besonders kennzeichnend« sei (Özkan-Kerestecio÷lu 2001: 18). Die wenn auch nur vereinzelt stattfindende Berücksichtigung des Alltags römischer Frauen wäre demnach

22 Es sei allerdings hinzugefügt, dass gerade die Tätigkeit des sich Schminkens in der Türkei als Symbol für die moderne, westliche Frau gesehen wird – ganz im Gegenteil zur ›traditionellen, türkischen Frau‹ (vgl. Kadıo÷lu 2001: 41).

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eine Konsequenz des öffentlich bzw. politisch diskutierten Modernisierungsprozesses und eine gegenwärtige, auf die Vergangenheit projizierte Perspektive. Interessant ist darüber hinaus, dass das Wort ›Familie‹ kein einziges Mal im Text auftaucht. Die einzelnen Akteure agieren unabhängig voneinander. Wo und wann Männer und Frauen genau aufeinander treffen und wie sie sich dann verhalten, bleibt offen. Das oben besprochene Beispiel einer römischen Alltagsszene aus dem deutschen Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (NRW 2007: 123) gibt ein Frauenbild wieder, das eine eigentümliche Mischung aus Klischees über die Situation von Frauen im römischen sowie auch griechischen Kulturraum darstellt. In der besprochenen Alltagsszene wird die Römerin als »Ehefrau und Mutter« dargestellt. Ihre Frauenrolle geht demnach gewissermaßen ausschließlich in der Ehe und der Sorge für die Kinder auf. Dies entspricht zwar der römischen Idealvorstellung von gleichsam kanonisierter Tugendhaftigkeit. Elemente eines römischen Tugendkataloges oder gesetzliche Gebote und Verbote mit der historischen Realität gleichzusetzen, ist jedoch überaus problematisch (Scheer 2000: 152; Scheer 2000: 155). Die Rolle von Frauen im politischen (Dettenhofer 1994) und religiösen (Hartmann 2007: 124-130) Rahmen wird in diesem Kontext zudem gänzlich ausgespart. Das Beispiel verortet römische Frauen durch den Fokus auf ›die Ehefrau und Mutter‹ und die Feststellung, dass sie das Haus nur selten verlassen konnten, räumlich innerhalb des Hauses. Antike Frauen in einem rein privaten Raum innerhalb des Hauses im Gegensatz zum öffentlichen, außerhalb des Hauses gelegenen Raum des Mannes zu verorten, entstammt aber eher griechischen als römischen Idealvorstellungen. Denn »[w]ährend man im Griechischen die Trennung der Geschlechter zwischen Haus und Stadt offenbar glaubhaft propagierte, war es Teil römischer Identität, das genaue Gegenteil herauszustellen und stattdessen die Gemeinschaft von Mann und Frau in der domus zu betonen« (Kunst 2005: 111). Darüber hinaus wird in der gegenwärtigen Forschung auch für den griechischen Kulturraum eine geschlechtsspezifische Raumzuschreibung als »konstitutives Element des Diskurses der Geschlechter«, aber nicht als Abbild einer Lebensrealität verstanden (Stähli 2005: 86). Stähli erkennt darüber hinaus in den Zuweisungen griechischer Frauen zu bestimmten Räumen innerhalb des Hauses nicht reale, sondern »soziale Räume« (Stähli 2005: 87).23 So ist davon auszugehen, dass die lebensweltliche Verortung von Frauen innerhalb bestimmter Räume nicht der Realität entsprochen hat und die häusliche Verortung der

23 »Soziale Räume fallen also nicht mit gebauten Räumen zusammen« (Stähli 2005: 87).

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römischen Frau in der Schulbuchsequenz ein irreführendes Bild des antiken Rom vermittelt.24

F AZIT Die hier thematisierten deutschen Schulbuchdarstellungen zur römischen Sozialgeschichte spiegeln forschungsgeschichtlich eher eine ältere Frauengeschichte als eine jüngere Geschlechtergeschichte wider.25 ›Frauen‹ finden in separaten sozialgeschichtlich ausgerichteten Kapiteln Erwähnung, während die Gesamtdarstellung noch immer politikgeschichtlich und überwiegend auf die ›großen Männer‹ bzw. die männliche Bevölkerung des alten Rom ausgerichtet ist. Eine Behandlung römischer Männer aus derselben Perspektive und unter derselben Prämisse wie die Behandlung römischer Frauen findet nicht statt. So stehen der scheinbar ›männlichen Geschichte Roms‹ die Rollen von Frauen im antiken Rom gegenüber, ohne dass im Sinne der Geschlechtergeschichte Frauen und Männern in Hinblick auf Geschlechterverhältnisse untersucht würden. Auch in aktuellen türkischen Geschichtsschulbüchern stehen die Politikgeschichte und die ›großen Männer‹ im Vordergrund. Insgesamt erscheinen römische Frauen und Männer im sozialgeschichtlichen Abriss des türkischen Geschichtsbuches aber in einem anderen Kontext als in deutschen Schulbüchern. Sie werden in ihren Geschlechterrollen als grundsätzlich gleichberechtigt dargestellt, über diese implizite Darstellungsweise hinaus aber nicht weiter thematisiert. Der Vergleich einer römisch-antiken Alltagsbeschreibung im deutschen und türkischen Schulbuch fördert gravierende Unterschiede zutage. Was dem Leser bzw. der Leserin entgegentritt, ist ein höchst unterschiedlicher römischer Alltag. Diese Beobachtung bekräftigt die These, dass die gegenwärtigen Diskussionen maßgeblich die Darstellungsform sowie den Inhalt der Schulbuchtexte prägen und die unterschiedlichen (Geschlechter)Diskurse in Politik und Öffentlichkeit in beiden Ländern dafür verantwortlich sind, dass sich die ›türkische‹ römische von der ›deutschen‹ römischen Geschichte so deutlich unterscheidet. Es wird je-

24 Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die besprochene Schulbuchdarstellung einer Alltagsszene einem Geschichtsbuch für die Hauptschule entnommen ist. Erste Stichproben haben die Vermutung nahegelegt, dass ähnlich unreflektierte und gegenwärtige Klischees bedienende Darstellungen in Schulbüchern für das Gymnasium nicht vorzufinden sind. Diesen Unterschied gilt es an anderer Stelle zu untersuchen. 25 Für den Paradigmenwechsel der Forschung vgl. Canning 1994: 372; Feichtinger 2002: 19.

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doch in beiden Ländern, und dies lässt sich als Gemeinsamkeit konstatieren, grundsätzlich weder auf unterschiedliche gesellschaftliche Schichten noch auf zeitliche Unterschiede innerhalb ›der‹ römischen Antike Rücksicht genommen. Zum Abschluss soll die eingangs zitierte These von Scheer aufgegriffen werden, die die Tendenz der Forschung kritisiert, ›die antike Frau‹ an modernen Maßstäben zu messen. Diese These lässt sich tatsächlich auch für Schulbuchdarstellungen aufrechterhalten. In Zeiten und Menschen kann man nämlich nachlesen, dass eine »Gleichberechtigung« noch nicht stattgefunden habe und in Forum Geschichte steht geschrieben, es habe in der Antike noch überhaupt keine »Frauenbewegung« gegeben (Zeiten und Menschen NRW 2008: 141; Forum Geschichte BW 2004: 170). Für antike Verhältnisse von modernen soziokulturellen Phänomenen wie der »Gleichberechtigung« oder der »Frauenbewegung« zu sprechen ist nun gewiss als Anachronismus zu bewerten. Während für die Forschung gilt, dass insgesamt ein breites Spektrum an Perspektiven und Fragestellungen die Behandlung der Frauen in der Antike leiten, bleibt für die Schulbücher festzustellen, dass hier ausgerechnet solche Forschungstendenzen rezipiert bzw. übernommen werden, die besonders stark von gegenwärtigen (politischen) Diskussionen geleitet sind. In deutschen Schulbüchern werden Gender-Diskurse an der Thematisierung römischer Frauen abgehandelt, wobei die Geschlechterrolle römischer Männer nicht äquivalent thematisiert wird. In den hier vorgestellten Schulbuchbeispielen geht es tatsächlich meist um ›römische Haus-Frauen‹. Im türkischen Geschichtsbuch werden in der Unterrichtseinheit ›römische Geschichte‹ Gender-Diskurse nicht explizit aufgegriffen. Frauen- und Männerbilder laufen in Alltagsdarstellungen, wenn diese Eingang in das Schulbuch finden, gleichsam nebeneinander her. In den Büchern der 2000er Jahre erscheint die römische Familie zudem als Einheit von Eltern und Kindern, es sind weder Rollenzuschreibungen noch Verantwortungsbereiche auf Seiten der Eltern erkennbar. ›Römische GeschäftsMänner‹ sind sowohl im türkischen als auch im deutschen Schulbuch vorzufinden. Insgesamt vermitteln die oben vorgestellten deutschen Schulbuchanalysen den Eindruck, dass im antiken Rom bereits genderspezifische Themen diskutiert wurden, die heute (noch) aktuell sind, und dass es in der Antike wie heute eine Debatte um die Berufstätigkeit römischer Frauen und ihrer Aufgaben als ›Hausfrau‹ gegeben habe, während römische Männer scheinbar selbstverständlich ›Hauptverdiener‹ gewesen seien. Weniger historisch anachronistisch und intentional ist die Herangehensweise mancher Schulbücher an das Thema Familie (Zeiten und Menschen NRW 2008: 140; Zeitreise BW 2004: 136f.; Zeitreise NRW 2004: 116f.; Geschichte und Geschehen NRW 2008: 108-111). Sie machen deutlich, dass die römische familia

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nicht gleichzusetzen sei mit der modernen Familie. Analog dazu könnte dieselbe kultur- und gesellschaftsbedingte Andersartigkeit geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen thematisiert werden. Es könnte betont werden, dass antike Frauen mit anderen Fragen des alltäglichen Lebens konfrontiert waren als Frauen dies heute sind. Themen wie Gleichberechtigung oder eine Entscheidung zwischen Familie und Beruf waren keine Parameter der antiken weiblichen Lebenswelt. Wichtig wäre aber vor allen Dingen eine systematische Behandlung sowohl von Frauen wie von Männern unter dem Genderaspekt. Römische Männer und Frauen sollten einander eben nicht mehr nur pauschal in ihrer Rolle als ›Senator‹ bzw. ›Hausfrau und Mutter‹ gegenübergestellt werden.

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G ENDER IN S CHULBUCHDARSTELLUNGEN | 81

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Christoffer, Sven/ Helmut Heimbach/ Uwe Jabs et al. (2004): Zeitreise 1 (Realschule Nordrhein-Westfalen), Leipzig: Klett. Lehrpläne Gym BW 2004: Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg (Hg.): Bildungsplan für das allgemeinbildende Gymnasium, Stuttgart. Gym NRW 2007: Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für das Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. HS NRW 1989: Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Hauptschule in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (ND 2001). HS/WR BW 2004: Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg (Hg.): Bildungsplan für Hauptschule/Werkrealschule, Stuttgart. RS BW 2004: Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg (Hg.): Bildungsplan für die Realschule, Stuttgart. RS NRW 1994: Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Realschule in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Abbildungsnachweis Abbildung 1: Relief eines Metzgers (Inv.-Nr. Hm 418). SLUB Dresden/ Deutsche Fotothek, Original: SKD Skulpturensammlung, Inv.Z.V. 44.

Klio in neuen Kleidern: Geschichte in Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts im deutsch-britischen Vergleich N INA R EUSCH UND D ORIS L ECHNER

Das 19. Jahrhundert war nicht nur ein Jahrhundert der Geschichte, in dem das Interesse an der eigenen Vergangenheit, an dem Gewordensein der eigenen Gegenwart erwachte. Es war auch ein Jahrhundert, in welchem die periodische Presse ihren Durchbruch zum Massenmedium erlangte. Eines der meistgelesenen Genres waren illustrierte Familienzeitschriften, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Folge zunehmender Alphabetisierung und der Erschließung neuer Publika im westeuropäischen Raum etablierten. Durch vielfältige Illustrationen sowie die Mischung von Fortsetzungsromanen und Sachtexten über Naturwissenschaften, berühmte Persönlichkeiten, fremde Länder, Zeitgeschehen und Geschichte gewannen sie ein großes Lesepublikum, das neben der Arbeiterklasse nun auch eine größere Anzahl an Frauen als neue Leserschaft mit einschloss.1 Die Familienzeitschriften boten damit eine Plattform für die Verhandlung sowohl von Geschichte, als auch von Geschlecht. Während Frauen im 19. Jahrhundert aus dem exklusiv männlich besetzten historisch-wissenschaftlichen Kanon weitgehend ausgeschlossen blieben, boten die Familienzeitschriften einen

1

Bösch (2005) liefert einen Überblick über die Forschungslandschaft zu Zeitschriften in Großbritannien und Deutschland; zu (Familien-)Zeitschriften als Genre siehe insbesondere Wynne (2001: 14-30), Phegley (2004: 11-19) und Law (2009), sowie Liddle (2009) und Mussell (2012: 49-56), die auch jeweils einen Überblick über Zeitschriftenforschung in Großbritannien bieten. Überblicke zur deutschsprachigen Zeitschriftenlandschaft finden sich bei Barth (1975) und Graf (2003); zur Erschließung von weiblichen und proletarischen Publika vgl. Gebhardt (1983) und Lyons (1999).

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Raum für Frauen in der Geschichte – als Autorinnen und Rezipientinnen historischer Darstellungen und als Akteurinnen der Geschichte.2 Diesen neuen, weiblichen Raum in der Geschichte beleuchtet der vorliegende Beitrag kritisch anhand zweier Familienzeitschriften, der britischen Leisure Hour (1852-1905) und der deutschen Gartenlaube (1853-1944). Nach einer Vorstellung der beiden Zeitschriften mit Augenmerk auf einen nationalen Vergleich untersuchen wir für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zeitgenössische geschlechtliche Konnotationen sowohl von Familienzeitschriften als auch von Historiographie. Aufbauend auf der These Rohan Amanda Maitzens von der intersektionalen Verschränkung von Gender und Genre werden wir schließlich anhand eines Fallbeispiels zeigen, wie in den Artikeln der Familienzeitschriften Geschichte und Geschlecht verhandelt wurden. Dabei zeigt sich, dass die intersektionale Verschränkung von Gender3 und Genre im 19. Jahrhundert einerseits zu einer Abwertung der weiblich konnotierten Felder Familienzeitschriften und populärer Geschichte führte, andererseits aber auch neue Zugänge zur Geschichte jenseits der gängigen Denkweisen des Historismus ermöglichte. Unsere These ist hierbei, dass die Geschichtsschreibung in illustrierten Familienzeitschriften nicht nur Frauen als Leserinnen, Autorinnen wie historische Subjekte in die Geschichtsschreibung einband, sondern darüber hinaus auch das Potential hatte, binäre Denkweisen von männlicher und weiblicher, akademischer und populärer, öffentlicher und privater Historiographie punktuell aufzubrechen.

2

Zu Geschichtsschreibung über und von Frauen im 19. Jahrhundert siehe u.a. Davis (1980), Smith (1984), Melman (1993), Stollberg-Rillinger (1996), Maitzen (1998), Burstein (1999), Epple (2003), Felber (2007), Paletschek (2007), Paletschek/Schraut (2008) und Epple/Schaser (2009).

3

Wir verwenden die Begriffe Gender und Geschlecht hier synonym und verstehen Geschlecht als Kategorie, die soziale Ungleichheit über politische, kulturelle und sozioökonomische Gefälle herstellt und so die Gesellschaft strukturiert. Diese strukturellen Ungleichheitsverhältnisse interagieren mit geschlechtlichen Rollen- und Charakterzuschreibungen, aber auch mit geschlechtlichen Identitäten und sind in den von uns untersuchten Gesellschaften hauptsächlich binär kodiert.

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D OPPELT WEIBLICH GEGENDERTE G ESCHICHTE IN F AMILIENZEITSCHRIFTEN Die Verwendung zweier in verschiedenen Nationen herausgegebenen Periodika als gemeinsame Argumentationsgrundlage erfordert eine genaue Reflexion, inwieweit die beiden Zeitschriften überhaupt vergleichbar sind.4 Neben spezifischen nationalen Print- und Geschichtskulturen wirkten Faktoren wie Klasse, Konfession, Geschlecht und politische Haltung auf die Inhalte und Formate der Zeitschriften mit ein. Da Großbritannien und Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einem ähnlichen Stand der Presseentwicklung waren, konnten sich Periodika in beiden Ländern gleichermaßen etablieren. Das Beispiel der Familienzeitschriften zeigt, dass sich Zeitschriftengenres nicht allein innerhalb nationaler Grenzen ausbildeten, sondern ein Transfer von Ideen und Formaten stattfand. Familienzeitschriften hatten spezifische nationale Ausprägungen, waren aber ein nicht national gebundenes Genre: in Aufbau und grundsätzlicher Zielsetzung – unterhalten und belehren zugleich – unterschieden sich die beiden hier behandelten Blätter kaum. Die Leisure Hour: A Family Journal of Instruction and Recreation,5 von 1852 bis 1905 von der evangelikalen Religious Tract Society (RTS) herausgegeben, erreichte eine Auflage von 80.000 bis zu 100.000 Exemplaren. Der niedrige Preis von einem Penny pro wöchentlich erscheinender Ausgabe ermöglichte es auch ArbeiterInnen, die Zeitschrift zu kaufen – eine Zielgruppe, die die RTS erreichen wollte, um Bildung mit christlicher Färbung zu vermitteln. Tatsächlich wurde das Blatt, wie auch die Gartenlaube, vor allem im kleinen und mittleren Bürgertum gelesen. Die Gartenlaube: Illustriertes Familienblatt,6 1853 vom liberalen Verleger Ernst Keil gegründet, war die erste und mit Auflagenzahlen bis zu 380.000 auch erfolgreichste deutsche Familienzeitschrift. Die Leisure Hour und die Gartenlaube verorteten sich neben ihren nationalen Kontexten zwar konfessionell und politisch verschieden; die Grundlage für eine gemeinsamen Analyse ist jedoch durch ihre vergleichbare Stellung auf dem nationalen Markt im

4

Die Verfasserinnen haben innerhalb der Forschergruppe ›Historische Lebenswelten‹ unter anderem in einem Workshop mit Leslie Howsam zusammen mit Barbara Korte und Sylvia Paletschek die Vergleichbarkeit von Zeitschriften diskutiert; vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Vergleich von Familienzeitschriften in Korte/Paletschek (2012). Für Anregungen und Hinweise zu diesem Artikel danken wir zusätzlich auch Andrea Althaus, Katharina Boehm und Marie Reusch.

5

Vgl. zur Leisure Hour Fyfe (2004a; 2004b; 2004c; 2005) und Lloyd/Law (2009).

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Vgl. zur Gartenlaube Belgum (1998), Koch (2003) und Paletschek (2011).

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Bezug auf Publikumsorientierung, Auflage sowie genrespezifische Charakteristika gewährleistet. Die folgenden Ausführungen zeigen, dass sich Gartenlaube und Leisure Hour in der Verhandlung von Geschlecht in seiner Verflechtung mit Genre und Geschichtsschreibung glichen und somit Parallelen in den beiden nationalen Geschichts- und Printkulturen existierten. Die Genrebezeichnung ›Familienzeitschrift‹ bezieht sich ausdrücklich auf ein Familienpublikum – dies deutet bereits an, dass die Verleger eine größtmögliche, diverse Leserschaft ansprechen wollten, die sich über Klassen-, Alters- und gerade auch Geschlechtergrenzen hinweg erstreckte.7 Die Quellenlage lässt jedoch keine zuverlässigen Angaben zu, wer tatsächlich die Zeitschriften gelesen hat.8 In diesen selbst wurde meist keine spezielle Ausrichtung auf Frauen dargelegt, sondern auf ein umfassendes (Familien-)Publikum. Weder die Leisure Hour noch die Gartenlaube gehen in ihren Editorials auf ein spezifisch weibliches Publikum ein.9 Jedoch entstand im 19. Jahrhundert ein Diskurs, der populäre Genres wie Familienzeitschriften mit weiblichem Lesen in Zusammenhang brachte, und somit implizit weiblich genderte. So wurde zum Beispiel im Zuge der Gründung der sozialdemokratischen Familienzeitschrift Die neue Welt, die sich in Aufbau und Form an bürgerlichen Magazinen orientierte, betont: »[…] gerade, weil diese Zeitschrift auf andere Kreise berechnet ist, als die üblichen Parteischriften, so muß sie auch einen durchaus verschiedenen Charakter haben; und wäre deshalb […] ›Wissenschaftlichkeit‹ sehr schlecht am Platze. Das Unternehmen muß auch

7

Vgl. Phegley (2004: 16): »Part of the great appeal of the family literary magazine was its ability to simultaneously address men and women and upper- and lower-middleclass readers by speaking instructively to those who needed it and confidingly to those who didn‫ތ‬t«.

8

In der Zeitschriftenforschung nährt man sich diesem Problem meist durch ein Fragen nach dem im Text implizierten oder intendierten Leser; vgl. hierzu z.B. Pykett (1989). Zur Untersuchung von Lesepublika in Großbritannien siehe v.a. Altick (1998 [1957]), Palmer/Buckland (2011) sowie Towheed/Crone/Halsey (2011).

9

H.D., »A Word with our Readers« (Leisure Hour 1 Januar 1852: 8-10); vgl. hierzu auch Fraser/Green/Johnston (2003: 54f.); Ernst Keil, »An unsere Freunde und Leser« (Gartenlaube 1853: 4). Von 25 abgedruckten Zuschriften, in denen LeserInnen ihre Treue zur Leisure Hour über 50 Jahre bekunden, sind 13 Zuschriften Männern und lediglich sechs Zuschriften Frauen zuzuordnen, vgl. »Our Old Readers« (1902: 243); diese Zahlen sind allerdings kritisch zu sehen, da die Zeitschrift meist von mehreren Personen gelesen wurde und hinter jedem Mann oft auch noch eine weibliche Leserin vermutet werden kann.

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wesentlich auf die Frauen berechnet sein, denen wir bisher nichts haben bieten können« (Protokoll der sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1873: 44).

Ebenso beobachten Hilary Fraser, Stephanie Green und Judith Johnston die Feminisierung des Lesepublikums von Periodika: »›[T]he public‹, we are informed in ›Periodicals‹ in 1849, ›goes to bed with a periodical in her hand, and falls asleep with it beneath her pillow‹ (182), a generic image of the reading public for periodical literature which manages to suggest both the voraciousness of the female reader and her leisured status« (Fraser/Green/Johnston 2003: 48).10

Jennifer Phegley merkt in ihrer Studie über weibliches Lesen von Familienmagazinen an: »Despite the dominant attitude toward women as dangerous readers, this genre of magazine led the way for women to participate in professional critical discourse as both consumers and producers of literary culture. Family literary magazines attempted to change the landscape of the debate surrounding women readers by combating the portrayal of improper reading as a particularly female malady and instead depicting women as intellectually competent readers« (Phegley 2004: 2).11

Das Genre der Familienzeitschriften bot demnach eine neue Plattform für eine weibliche Leserschaft. In den Diskurs um weibliches Lesen spielten verschiedene Faktoren mit hinein, wie zum Beispiel die Trennung von öffentlichem und privatem Raum, die im bürgerlich geprägten Denken des 19. Jahrhunderts ein Grundprinzip der gesellschaftlichen Ordnung darstellte.12 Wenn sie auch nicht die realen Lebensverhältnisse widerspiegelte, so bestimmte diese Trennung doch als wirkungsmächtige Norm weite Bereiche bürgerlichen Denkens. Dazu gehörte auch eine Verortung des Lesens fiktionaler Literatur in der privaten, weiblichen

10 Das Zitat bezieht sich auf den Artikel ›Periodicals‹ in Eliza Cook’s Journal 1849. Dabei handelt es sich allerdings um einen kurzen Auszug aus einem Artikel, der bereits im Dezember 1829 im Blackwood’s Edinburgh Magazine ([John Wilson]: ›Monologue, or Soliloquy on the Annuals‹, S. 948-976) abgedruckt wurde. 11 Zur Pathologisierung (fiktionalen) Lesens als Krankheit, für die gerade das weibliche Geschlecht besonders anfällig und die besonders der neuen, sensationalistisch ausgerichteten Presse zuzuschreiben sei, siehe neben Phegley (2004) auch Mays (1995: insbesondere 176-178). Zu weiblichem Lesen von Zeitschriften siehe Mitchell (1989). 12 Vgl. Hausen (1990; 1992), Frevert (1988; 1995), Klinger (2000) sowie Planert (2000).

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Sphäre. Die Familienzeitschriften, die sich hauptsächlich wegen ihres Angebots an Fortsetzungsromanen auf dem Markt durchsetzten, passten somit in das Schema des weiblichen Lesens, und boten Frauen gleichzeitig als Autorinnen eine Wirkstätte. Neben fiktionaler Literatur verbreiteten die Blätter jedoch auch andere Inhalte, darunter zu einem großen Anteil Geschichtsdarstellungen. Auch diese Artikel, die in hohem Maße faktual waren, lassen sich in einen dichotomen Diskurs einordnen. Denn in engem Zusammenhang mit der Differenzierung von männlichen und weiblichen Formen des Lesens stand auch die Unterscheidung von wissenschaftlicher und populärer Wissensvermittlung. Geschichtsschreibung wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend verwissenschaftlicht und akademisiert. Die Konzepte von Wissenschaftlichkeit und Professionalität befanden sich vor allem in der Jahrhundertmitte noch in einem beständigen Aushandlungsprozess, der einher ging mit einer Abgrenzung zu populären Formen der Geschichtsvermittlung.13 Die meisten intellektuellen Eliten positionierten sich gegenüber nichtakademischer Geschichtsschreibung zwischen Nichtbeachtung und Verachtung. So führte in Großbritannien etwa Mandell Creighton, der erste Herausgeber der English Historical Review, an, ein wissenschaftliches Publikationsorgan ähnlich der deutschen Historischen Zeitschrift schaffen zu wollen, das sich von den »sketchy articles« der populären Presse unterscheiden sollte (Howsam 2009: 282f.). Im Zuge der zunehmenden Akademisierung und den damit verbundenen Abgrenzungsprozessen wurde außerdem Wissenschaft allgemein und Geschichtswissenschaft im Besonderen zutiefst maskulinisiert – Männer betrieben historische Wissenschaft, sie definierten Kriterien der Wissenschaftlichkeit und sie standen für Fortschritt und Historizität.14 Die offizielle, akademische Historiographie marginalisierte Frauen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und bis tief in das 20. Jahrhundert hinein sowohl als handelnde Personen in der Vergangenheit als auch als Geschichtsschreiberinnen. So wur-

13 Vgl. zur Entwicklung und Akademisierung der deutschen Geschichtswissenschaft Jaeger/Rüsen (1992), Oexle (1996), Iggers (1997); zur britischen Historiographie vgl. Levine (1986), Soffer (1996), Howsam (2004), Porciani/Raphael (2010), Hesketh (2011), Macintyre/Maiguashca/Pók (2011); ein vergleichender Blick auf die Entwicklung verschiedener nationaler Historiographien findet sich bei Berger (2002), auf die Popularisierung nationaler Geschichte bei Berger/Lorenz/Melman (2012). 14 Angelika Epple verortet die Ursprünge dieser Vergeschlechtlichung von Historizität, die das 19. Jahrhundert durchzog, in der Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert: Hier werde »die Brucherfahrung von Frauen negiert. Brucherfahrung aber ist Voraussetzung für Historisierung« (Epple 2003: 400).

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den die vielen Amateurinnen, die ihre Texte zum Teil mit großem Erfolg publizierten, aus dem exklusiv männlich besetzten historischen Kanon ausgeschlossen; ebenso blieb die Arbeit, die Ehefrauen und Mitarbeiterinnen von Akademikern zur Forschung beitrugen, unsichtbar.15 Die Abgrenzung der sich zunehmend etablierenden akademischen Fachhistoriker gegen populärhistorische Arbeiten war also kongruent zum Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft. Rohan Amanda Maitzen hat in ihrer Monographie Gender, Genre and Victorian Historical Writing die These der intersektionalen16 Verschränkung von Gender und Genre aufgestellt und kritisch hinterfragt: »History, then, is to fiction as male is to female: a simple formula, it seems, for this intersection of gender and genre« (Maitzen 1998: 6). Der Begriff der Fiktion bezieht sich hier auch auf populäre Darstellungsweisen von Geschichte – im Gegensatz zu wissenschaftlichen. Maitzens grundlegende These ist, dass die Feminisierung historischer Praktiken und Inhalte sowie die Konkurrenz mit dem Genre des historischen Romans im 19. Jahrhundert zu einer Instabilität existierender Geschichtsmodelle geführt habe, die durch Frauen produktiv genutzt werden konnte (ebd: xiv). Somit verschränkten sich im »Victorian Discourse of History« nach Maitzen die Dichotomien männlich – weiblich sowie wissenschaftlich – populär miteinander (ebd: 3-32). Geschichtsdarstellungen in Familienzeitschriften waren demnach in einem doppelt weiblich gegenderten (und negativ besetzen) Diskurs verortet, sowohl in Bezug auf die Wahrnehmung des Genres Familienzeitschrift als auch die Einordnung populärer Geschichtsdarstellungen durch Kritiker im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig wurden diese dichotomen Diskurse und Praktiken der Wissensgenerierung in den Familienzeitschriften partiell aufgebrochen –hier bot sich ein Raum für Frauen in der Geschichte, in dem sie als Autorinnen schriftstellerisch arbeiten und sich als Leserinnen über historische Themen informieren konnten, aber auch als historische Akteurinnen wahrgenommen und thematisiert wurden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Auseinandersetzung mit Frauen in der

15 Vgl. insbesondere Epple (2003) und Paletschek (2007), sowie ferner Smith (1984), Melman (1993) und Burstein (1999); eine Gegenüberstellung von weiblicher Geschichtsschreibung in Deutschland und Großbritannien findet sich bei Epple (2011). 16 Die Geschlechterforschung versteht Intersektionalität als Zusammenwirken verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheit (vgl. Klinger 2003). Die hier angesprochenen Genres wurden durch ihre geschlechtliche Konnotation und ihre implizite Zuordnung zu Klasse und Bildungsstand hierarchisiert und interagierten mit diesen sozialen Ungleichheitskategorien. Wir sprechen daher von einer intersektionalen Verschränkung sozialer und genrespezifischer Kategorien.

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Geschichte unbedingt emanzipatorischer Art war oder nur von Autorinnen umgesetzt wurde – die Darstellungen verblieben meist innerhalb vorgeschriebener Geschlechterverhältnisse und Rollenmuster, und die Mehrheit der VerfasserInnen auch populärer Geschichtsdarstellungen waren männliche Autoren. Eine Auswertung der Honorarlisten in den Protokollen der Religious Tract Society zeigt, dass etwa 24% der BeiträgerInnen weiblichen Geschlechts waren.17 In der Ausgabe zum 50. Jubiläum, in der wichtige und prominente AutorInnen in Kurzbiographien vorgestellt wurden, finden sich unter den 111 Einträgen immerhin 36 Frauen (33%). Von 29 Personen, bei denen eine klare Zuordnung erfolgte, dass es sich um VerfasserInnen historischer Beiträge handelt, sind 23 männlichen und sechs – also etwa 20% – weiblichen Geschlechts (»Authors« 1902). Auch bei der Wahl historischer AkteurInnen dominierten Männer weiterhin das Geschichtsbild. Eine Auswertung der Jahrgänge 1890-1913 der Gartenlaube zeigt, dass sich 58% sämtlicher historischer Darstellungen vor allem auf Männer beziehen, während nur 5% hauptsächlich Frauen verhandeln; dafür gibt es einen beträchtlichen Anteil von geschlechterübergreifenden Darstellungen (32%).18 Vor allem politische Geschichte wurde meist als eine Geschichte »großer Männer« betrieben. Jedoch bot zum Beispiel die Kulturgeschichte eine Möglichkeit, Frauen in die Geschichte einzuschreiben.19 Der Begriff Kulturgeschichte stand in

17 Ausgewertet wurden die Auflistungen der RTS Copyright Committee Minutes (RTS CCM) der Jahre 1852 (52 BeiträgerInnen, davon 39 männlich und 13 weiblich), 1860 (87 BeiträgerInnen, davon 66 männlich und 21 weiblich) und 1865 (82 BeiträgerInnen, davon 63 männlich und 19 weiblich). Eine weitere Auswertung, die zeigt, dass insbesondere die Familienzeitschriften Publikationsmöglichkeiten für Frauen boten, wird von Phegley zitiert: »Taking the Cornhill as an example, Janice Harris claims that women writers contributed about 20 percent of its contents between 1860 and 1900, with women writers rising as high as 60 to 70 percent in certain issues during the 1860s and 1870s – the heyday of the genre (385). Harris compares these figures to Walter Houghton’s estimate that only 14 percent of the writers included in the thirtyfive journals indexed in his Wellesley Guide to Victorian Periodicals were women« (Phegley 2004: 7). Turner fügt ferner an, dass im Jahrgang 1862 des Cornhill Magazine fiktionale Texte zwar zu gleichen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, Sachtexte jedoch fast exklusiv von Männern geschrieben wurden (Turner 2000: 25). 18 Die restlichen 5% der Artikel behandeln Geschichte in nicht personalisierter Form. 19 Im Vergleich von politischen zu kulturgeschichtlichen Ansätzen zeigt sich, dass Politikgeschichte meist als Männergeschichte geschrieben wird (72% männlich, 3% weib-

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den Familienmagazinen für die Geschichte alltäglicher Artefakte, Lebensweisen und Gebräuche, für eine Historie des privaten Lebens. Diese populäre Form der Kulturgeschichte ist nicht zu verwechseln mit der von Fachhistorikern des späten 19. Jahrhunderts betriebenen namensgleichen akademisch geprägten Kulturgeschichte. Während diese ihren Schwerpunkt auf soziale und ökonomische Strukturen und gesellschaftliche Verhältnisse legte (Schleier 2003), richtete sich der Blick der ZeitschriftenautorInnen stärker auf Alltagsgeschichte und historische Volkskultur. Dieser Zugang war in der Gartenlaube und der Leisure Hour, aber auch in anderen Familienzeitschriften, eine typische Form, Geschichte darzustellen, und ermöglichte den Zeitschriftenredaktionen, beide Geschlechter in die Geschichte einzubeziehen, gerade dadurch dass Geschichte hier oft nicht auf individuelle Personen bezogen wurde.20 Die AutorInnen schrieben hier die Geschichte verschiedener sozialer Schichten – so wurden zum Beispiel neben den Herrschaftseliten auch bürgerliche Frauen und Männer, Bauern und Bäuerinnen oder ArbeiterInnen in die Geschichte eingeschrieben. Mit der Geschichte bestimmter Lebensmittel und Alltagsgeräte oder der Herkunft von Festen und Bräuchen wurden nicht nur weibliche oder nicht geschlechterspezifische Thematiken aufgegriffen, sondern auch Themen jenseits des Handelns »großer Männer«.

K LIO IN NEUEN K LEIDERN In diesen kulturhistorischen Artikeln zeigte sich Klio auch im wörtlichen Sinne »in neuen Kleidern«, denn ein beliebter Stoff war die Kleidungs- und Modegeschichte.21 Das erweiterte Geschichtsverständnis der Redaktionen zeigt sich schon allein darin, dass in den Familienzeitschriften die Mode ein Thema historischer Darstellungen werden konnte: hier wandten sich die AutorInnen einem

lich, 23% geschlechterübergreifend, 2% nicht personalisiert), während in der Kulturgeschichte geschlechtsübergreifende Darstellungen überwiegen (40% männlich, 5% weiblich, 51 % geschlechterübergreifend, 4% nicht personalisiert). 20 Zur Ausweitung exklusiv männlicher Geschichtsnarrative und der Erweiterung der Politik- durch die Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert vgl. Smith (1984: 711) und darauf aufbauend Paletschek (2007) sowie Melman (1993: 10). 21 Vgl. Smith (1984: 718f.) und Maitzen (1998: 38). Nanette Thrush untersucht das Interesse der Viktorianer an historischen Kostümbällen und schlussfolgert: »Overall, it makes sense that women chose to exercise their interest in history through fashion, as this was one of the few creative avenues open to them« (Thrush 2007: 273).

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Thema zu, das in der akademischen Geschichtsschreibung wenig beachtet und als nicht historisch relevant angesehen wurde. Im Folgenden soll daher anhand der Serien »Periodical Peeps at Female Costume in England« (1867) aus der Leisure Hour und »Neunzig Jahre Frauenmode« bzw. »Neunzig Jahre Männermode« (Gurlitt 1891-92) aus der Gartenlaube abschließend gezeigt werden, wie Geschichte und Geschlecht innerhalb des doppelt gegenderten Diskurses um Familienzeitschriften und populäre Geschichtsschreibung auch auf der Darstellungsebene verhandelt wurden. Wir untersuchen dabei drei Aspekte: die Verhandlung von Modegeschichte als Frauengeschichte oder Geschlechtergeschichte, die Verortung der Serien in Bezug auf wissenschaftliche Historiographie sowie den Umgang mit Konzepten von Öffentlichkeit und Privatheit, von Politik und Kultur in den Artikeln. Auch wenn Modegeschichte auf den ersten Blick ein weiblich besetztes Feld war, so wurde darin nicht ausschließlich Frauengeschichte geschrieben.22 Die fünfteilige Serie »Periodical Peeps at Female Costume in England« der Leisure Hour stellt zwar bereits im Titel Frauen in den Vordergrund, befasst sich jedoch auch mit männlicher Kleidung. Während die Serie einleitend verspricht, den Fortschritt guten Geschmacks und seiner Abweichungen aufzuzeigen, wird hier

22 Neben der im Folgenden analysierten Serie »Periodical Peeps at Female Costume in England« finden sich in der Leisure Hour Artikel und Serien zu Kleidungsgeschichte, die neben Frauen speziell auch andere Gruppen betrachten oder als LeserInnen ansprechen, vgl. insbesondere: »The Natural History of Dress« (Leisure Hour 29. Januar-3. Dezember 1870); J.R. Planché, »History in Armour« (Leisure Hour 28. Januar 1871); [Matilda Anne Mackarness], »The Children of Olden Time: Some Chapters Chiefly for Young Readers« (Leisure Hour 20. April-13. Juli 1872); »Curious Anecdotes Connected with Hats« (Leisure Hour 29. Juli 1877); »A Century of English Bonnets« (Leisure Hour 9. März 1978); »A Gossip on Wigs and the Wigs of Westminster Abbey« (Leisure Hour 18.-25. Januar 1879); »The Head-Gear of Many Lands« (Leisure Hour März 1881); »Fans« (Leisure Hour Juli 1882); »English Homes in the Olden Time: VIII. Costume« (Leisure Hour November 1884). In der Gartenlaube wurden im Zeitraum 1890-1913 neben der hier analysierten Serie »90 Jahre Frauen[/Männer]mode« die Bekleidung verschiedener Epochen, aber auch Volkstrachten im Wandel der Zeit behandelt, vgl. Hans Bösch, »Eine Gigerlfamilie des 19. Jahrhunderts« (Gartenlaube 1892: 620-621); Gustav Klitscher, »Das Volkstrachtenmuseum in Berlin« (Gartenlaube 1899: 364-367); Addy Wendt-Furtwängler, »Die Toilettenfrage in antiker Zeit« (Gartenlaube 1904: 88-90); Karl Witte, »Zur Geschichte des Perlenschmuckes« (Gartenlaube 1909: 63-66); Luise Gerbing, »Thüringer Volkstrachten« (Gartenlaube 1911: 780-784).

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bald deutlich, dass dieser Gegensatz wiederum gegendert ist: Frauen werden vorrangig neutral beschrieben, während groteske Auswüchse im Kleidungsstil meist den Männern zugeschrieben oder diese durch Beschreibung wie die folgende doch deutlicher abgewertet werden als Frauen: »The reign of Richard II, himself a great fop, witnessed more of the freaks of fashion than the most industrious chroniclers were able to record – the men especially indulging in more monstrosities and absurdities of dress than had ever before been witnessed« (»Periodical Peeps« 1867: 522).

Wenn man auch davon ausgehen mag, dass das für die Modegeschichte intendierte Lesepublikum durchaus ein weibliches war, so wurden männliche Leser als intendierte oder reale Leserschaft jedoch nicht ausgeschlossen. Die Serie »Neunzig Jahre Frauen-[/Männer-]mode« der Gartenlaube, verfasst von Cornelius Gurlitt, ließ beispielsweise die Mode des 19. Jahrhunderts mit Vergleichen zu vorherigen Jahrhunderten Revue passieren und kam zu dem Schluss, dass Männer wie Frauen sich das gesamte Jahrhundert hindurch der Mode und ihren Auswüchsen ausgeliefert hätten. Populärhistorische Artikel in den Familienzeitschriften wurden oft schon im Titel als »Plauderei«, »Spaziergang« – so im Deutschen – oder, in der englischen Variante, als, »Ramble«, »Gossip« oder – wie in der hier analysierten Serie aus der Leisure Hour – als »Peeps« bezeichnet. Durch solche Betitelungen wurde, wie Maitzen folgert, auch das populärhistorische Schreiben männlicher Autoren weiblich kodiert. Doch was zunächst nach einem weiblichen Negativ-Stereotyp klingt, barg laut Maitzen eine Form alternativer Gespächs- und Schreibkultur: »[ ...] the term [›Gossip‹] implies easy readability, graceful narrative, colorful details, and anecdotal approach, and a light, rather than serious, attitude towards the material« (Maitzen 1998: 54).23 So liegt in unseren Beispielen ein anekdotenhafter, essayistischer Stil vor, der auch Elemente des kommunikativen Gedächtnisses einbezog: Die AutorInnen brachten immer wieder die eigene Person mit in den Text ein – sei es als Ergänzung der Darstellungen um persönliche Erinnerungen und Anekdoten aus der eigenen Jugend oder als Einschub eines Forschungsberichts. »Nicht ohne Spannung durchblätterte ich die Modezeitungen von 1812 und 1813, um die Wirkungen der großen auf deutschem Boden geschlagenen Schlachten in diesen zu beobachten« (Gurlitt 1891: 45), schreibt etwa Gartenlaube-Autor Gurlitt und lässt die LeserInnen so an seiner Spurensuche in den Modeblättern der Zeit der Befreiungskriege teilhaben. An anderer Stelle

23 Vgl. auch Smith (1984: 720) zur Beschreibung von Frauengeschichte als »chatty«.

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der Serie resümiert er die Bartmoden des vergangenen Jahrhunderts und berichtet dabei auf humoristische Art von seinen eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Bärten und ständisch geprägten Moden: »Mein liebenswürdiger Hauptmann fragte mich […], ob mich meine ›Fliege‹ nicht beim Marschieren geniere. […] Und ich opferte für die Manöverzeit diesen Rest von Romantik und bürgerlicher Demokratie« (Gurlitt 1892: 18). So machen die Serien auch einen Umgang mit Quellen in den Familienzeitschriften deutlich, wie er in der akademischen Historiographie nicht üblich war.24 Die AutorInnen erschlossen oftmals neue Quellen oder interpretierten bekannte Quellen neu, so dass es im Vergleich zur akademischen Historiographie einfacher möglich war, auch nach Frauen in der Geschichte zu fragen. So basiert etwa die gesamte Serie »Neunzig Jahre Frauen-[/Männer-]mode« auf historischen Modemagazinen und die Serie »Periodical Peeps« nutzt unter anderem Gemälde und Reliefs, um eine weibliche Kleidungsgeschichte schreiben zu können. Hier wird allerdings wiederum die Abwesenheit einfacher Frauen in den antiken Darstellungen beklagt: »This was the costume of a proud queen; what was that of the average British woman at the same period can only be guessed, as no illustrative monuments of the time, if there ever were such monuments, have come down to us« (»Periodical Peeps« 1867: 519).25 Die AutorInnen pflegten einen freien Umgang mit ihren Quellen und verzichteten teilweise auf Belege und korrekte Zitation, so dass oft nicht ersichtlich wird, woher die Informationen stammen. So wird auch erst im letzten Teil der Serie »Periodical Peeps« die Hauptquelle für die vorangehenden Artikel benannt: »Hitherto we have been indebted to other authorities – chiefly to Mr. Fairholt’s ›Costume in England‹ – for the materials of the rapid and summary survey we have made« (»Periodical Peeps« 1867: 781). Da dem Verfasser für das verbleibende Jahrhundert al-

24 Paletschek verweist auch auf den Tatbestand, dass Autorinnen »ein Sammelsurium unterschiedlichster Quellen« benutzen, da ihnen Archivrecherchen erschwert wurden (Paletschek 2007: 31), sie also vermutlich aus der Not eine Tugend machten. Für die AutorInnen im populären Bereich ist dies als Ursache für ihren Quellenumgang dagegen nur bedingt anzunehmen. 25 Ähnlich legt die Serie »The Children of Olden Time« ihre Quellen für kultur- und alltagsgeschichtliche Betrachtungen offen: »Up to this period of history we have had to trust only to old illuminated MSS. and monuments in church and chapel; but now, as I have said, pictures come to our aid. The grand old paintings of Holbein, Rubens, and Vandyke, give us pictures of little folks in their habits as they lived, and enable us to form a right impression of the appearance made by the children of the olden time« ([Mackarness] 1872: 250).

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lerdings eine solche Quelle nicht vorliegt, beschließt er kurzerhand, hier auf jegliche Belege – wie z.B. »Ladies’ Magazines« – zu verzichten und sich des eigenen Erinnerungsvermögens zu bedienen: »therefore we prefer to draw solely on our own experience, and to set down – necessarily somewhat at random – such changes in the costume of the women of England as may present themselves to our own recollection« (»Periodical Peeps« 1867: 781). Dies legt zweierlei Schlussfolgerungen nahe: Erstens macht die Benennung der Hauptquelle deutlich, dass es sich hier um keine eigenständige Quellenanalyse sondern lediglich um eine Zusammenfassung des Werkes eines männlichen Autors zu handeln scheint;26 zweitens verwirft der Autor Frauenzeitschriften als Quelle. An mehreren Stellen in der Serie dient dagegen die von Joseph Addison und Richard Steel herausgegebene Zeitschrift Spectator (1711-12/14) als würdige Quelle. Somit nahm die Serie »Periodical Peeps« eine Mittelposition zwischen wissenschaftlicheren Präsentationen wie der (zugegeben als antiquarisch einzustufenden) Abhandlung Fairholts und populären Medien ein. Während sich die Artikel aus den Familienzeitschriften also formal vom wissenschaftlichem Duktus unterschieden, wurde dies durchaus auch direkt thematisiert. Die Abgrenzung des essayistischen Stils von einer wissenschaftlichen Herangehensweise macht der Autor der Artikelserie »Periodical Peeps« bereits im einleitenden Abschnitt deutlich: »We are going [...] to indulge in some occasional glances at the costume of the women of England at various periods of our history. Having no intention of compiling anything like a consecutive chronicle [...], we shall limit ourselves merely to the selection of what is indicative of a general progress towards good taste [...]. Being further under no obligation binding us to completeness in our casual survey, we shall be as arbitrary as it suits our convenience to be in the choice of matters to be set before the reader« (»Periodical Peeps« 1867: 519; unsere Hervorhebungen).

26 Wie üblich in britischen Zeitschriften um die Jahrhundertmitte wurde die Serie anonym veröffentlicht, weshalb nicht eindeutig ermittelbar ist, ob es sich um einen Autor oder eine Autorin handelt. In den Protokollen der RTS findet sich sowohl ein Zahlungseintrag für den Verlag Bell & Daldy als auch für T.R. Wright (RTS CCM 19/09/1867). Ob es sich hierbei allerdings um den Historiker und Antiquar Thomas Wright (1810-1877) handelt, der oft mit dem bereits verstorbenen Künstler und Antiquar Frederick William Fairholt (1814/1818-1866) zusammengearbeitet hatte, und ob Wright die Umsetzung von Fairholts Costume in England: A History of Dress (1846) in Serienform für die Leisure Hour vorgenommen bzw. den abschließenden Artikel verfasst hat, ist nicht zu klären.

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Er kündigt hier also an, mit unsystematischen und selektiven Einblicken zu arbeiten, und zwar mit dem vagen Ziel, das Fortschreiten guten Geschmacks zu präsentieren. Im Umkehrschluss charakterisiert er Wissenschaft als chronologisch, umfassend und auf das klare Ziel bedacht, einem bestimmten Sachverhalt auf den Grund zu gehen. Der Unterschied zur wissenschaftlichen Methodik wird vom populärhistorischen Autor selbst betont und mag sogar als Kritik an dieser Art der Geschichtsschreibung verstanden werden. Umso erstaunlicher ist es, dass die Serie in ihren fünf Teilen doch ein recht umfassendes Bild der Kleidungsgeschichte in chronologischer Form vorweist und sich mit ihrer Strukturierung entlang der monarchischen Regentschaften der gängigen Periodisierung englischer Historiographienarrative bedient, also genau das erfüllt, wovon sich der Autor zunächst abgrenzen wollte.27 Während auf die gängige politische Chronologie oft lediglich zurückgegriffen wurde, um die Texte zu strukturieren und die jeweilige Mode zeitlich einzuordnen, stellten einige Texte aber auch einen direkten Zusammenhang her28 und beschrieben den Einfluss der Regierung auf die Bekleidung der Bevölkerung oder die Entwicklung der Mode als Folge und Ausdruck politischer Verhältnisse. So betont die Serie »Periodical Peeps« immer wieder die Auswirkung der jeweiligen Regierung auf die Kleidung des Volkes, wie z.B. zu Zeiten Mary Tudors: »So long as she filled the throne all ranks of her subjects appear to have practised the utmost simplicity in dress; and it may be that they were influenced in so doing by the stringent enactments she passed, seeing that she punished the wearing of silk by any man below the rank of a knight by a fine of ten pounds for each day’s offence […]« (»Periodical Peeps« 1867: 522f.).

Ähnlich zeigt Gartenlaube-Autor Gurlitt den Zusammenhang von politischer Entwicklung, Zeitgeist und Mode auf. Er beginnt mit einer Beschreibung des bürgerlichen und adligen Lebensgefühls in Frankreich um 1800, das bestimmt

27 Die Chronologie der Serie beginnt bei der Besetzung Großbritanniens durch die Römer, setzt sich mit den Angelsachsen sowie der normannischen Herrschaft fort und benennt dann chronologisch die Regenten ab Richard II. 28 Vgl. hierzu auch Smith (1984: 720): »the difficulty in writing about homes and customs was [...] the inappropriateness of conventional chronology [...]. When grand public events appeared on the periphery rather than at the center, historical narratives lacked an accepted (or acceptable) storyline in much the same way as did the antiheroic approach«. Auf die gängige Chronologie mag daher auch zurückgegriffen worden sein, um sich in die existierenden Geschichtsnarrative miteinzuschreiben.

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gewesen sei von der Erleichterung über das Ende der Schreckensherrschaft, von Lebenslust, aber auch von Gesetzlosigkeit: »Auf den Trümmern der zerschlagenen alten Gesellschaft […] entstand eine neue; die alten Grenzen der Sitte […] waren zertrümmert, neue noch nicht aufgebaut« (Gurlitt 1891: 8). Dieser Zustand hatte laut Gurlitt besondere Auswirkung auf die Frauen. Diese, so schreibt er, seien »am meisten außer Rand und Band gekommen. Die Revolution hatte die Fesseln, welche sie zurückhielten, zersprengt« (ebd.: 8). So sei es Mode geworden, in Männerkleidung auf die Straße zu gehen, aber auch die Frauenkleider seien von einfachen, geraden Linien geprägt gewesen, die gerade durch ihre Natürlichkeit aufreizend gewirkt hätten. Gurlitt reflektiert die Verbindung von Politik, Zeitgeist und Mode: Jede Mode beruhe unbewusst auf allgemeinen Anschauungen ihrer Zeit. »Das Rokoko hatte sich im Reifrock, in einer unmäßigen Verbreiterung und Erweiterung der menschlichen Figur durch das Kleid gefallen. […] Wo das alte selbstherrliche Königtum, die mit ihm verbündete, jedem freien Luftzuge sich versperrende Kirche herrschten – dort war in der Kunst die Formenwillkür, in der Mode das Bauschige, die Nichtachtung der menschlichen Gestalt, die Steigerung dieser oder einiger ihrer Theile ins Übertriebene. Wo die junge Freiheit […] herrschte, da strebte man in der Kunst nach antiker Aufklärung und klassischer Formenreinheit, dort wurde das enganliegende Gewand Mode« (ebd.: 10).

Sein Fazit für die Mode um 1800 lautet: »Man muss es der Mode jener Zeit zugestehen, sie besaß den gewaltsamen Muth der Revolutionen ihrer Zeit!« (ebd.: 9f.). Die Beispiele machen deutlich, dass die AutorInnen das private Leben in seinen Verflechtungen mit dem öffentlichen Leben, mit der Politik darstellten. Mode war für sie somit Ausdruck und Konsequenz nicht nur von Mentalitäten, sondern auch von politischen Verhältnissen. Sie erschien als Teil der Kulturgeschichte, die eine Geschichte des privaten Lebens war, das aber nicht unabhängig von politischen Entwicklungen gesehen werden konnte. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, von Politik und Kultur, wurde hier also zumindest teilweise durchbrochen. Allerdings war das Kausalverhältnis immer ein einseitiges: in der öffentlichen Welt wurden die Weichen gestellt, im privaten, häuslichen, individuellen Raum zeigten sich die Auswirkungen der politischen Entwicklungen.

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F AZIT Illustrierte Familienzeitschriften veröffentlichten ihre Geschichtsdarstellungen in eine Historiographielandschaft hinein, die zwischen wissenschaftlicher und amateurhafter, zwischen akademischer und populärer, zwischen männlicher und weiblicher Form der Geschichtsschreibung unterschied und hierarchisierte. Diese Abgrenzungen dienten der Etablierung und Behauptung der vor allem von Männern betriebenen akademischen Historiographie, die sich im 19. Jahrhundert selbst noch im Prozess der Aushandlung von Wissenschaftlichkeit und Professionalität befand. Der historiographische Kanon schloss Frauen doppelt aus: So wurde die Arbeit von Historikerinnen größtenteils nicht in den Kanon aufgenommen; zudem umfasste er vor allem Werke mit einer historistischen Herangehensweise, die Frauen als handelnde Akteurinnen der Geschichte weitgehend ignorierte. Frauen, die Geschichte schrieben, wurden somit im akademischen Diskurs auf die Rolle von Populär- und Amateurhistorikerinnen verwiesen. Die Herausgeber populärer Genres entdeckten spätestens ab der Mitte des Jahrhunderts Frauen als potentielle Leserinnen, was unter anderem dazu führte, dass populärer Genres im Umkehrschluss eine weibliche Konnotation erhielten. Die hier untersuchten illustrierten Familienzeitschriften entstanden und existierten vor dem Hintergrund dieses doppelt gegenderten Diskurses um das Genre. Auf der inhaltlichen Ebene, wie sich in unseren Beispielen aus der deutschen Gartenlaube sowie der britischen Leisure Hour zeigte, durchbrachen die Zeitschriften durchaus dichotome Zuordnungen von Geschichte und Geschlecht. Hier wurde schon früh eine in der wissenschaftlichen Historiographie wenig beachtete Kulturgeschichte, eine Geschichte des privaten Lebens geschrieben, die es ermöglichte, auch Frauen als historische Subjekte in die Geschichte einzuschreiben. Von der Wissenschaft grenzten sich die AutorInnen zwar teilweise explizit ab, arbeiteten aber gleichzeitig mit wissenschaftlichen Prinzipien wie politischer Chronologie und Quellenanalyse. Diese Prinzipien waren jedoch nicht statisch, sondern wurden immer wieder gebrochen, zum Beispiel durch Einschub autobiographischer Anekdoten. Das Ergebnis war eine Hybridform von Wissenschaft, kommunikativem Gedächtnis und Essay, in der inhaltlich wie formal die Dichotomien von öffentlich – privat, wissenschaftlich – populär, Politik – Kultur und ihre jeweiligen geschlechtlichen Zuschreibungen immer wieder irritiert wurden – und Klio sich in neuen Kleidern präsentierte.

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Blick zurück nach vorn: (Frauen-)Geschichte in feministischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Deutschland B ARBARA K ORTE UND S YLVIA P ALETSCHEK

F RAUENEMANZIPATIONSBEWEGUNGEN

UND

G ESCHICHTE

Für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstehenden, in den Jahrzehnten um 1900 zu öffentlichkeitswirksamen Massenbewegungen herangewachsenen europäischen Frauenbewegungen war die Beschäftigung mit Geschichte ein wichtiges Moment der Identitätsstiftung und der Legitimation ihrer Forderungen (Grever 1997; Paletschek/Pietrow-Ennker 2004: 301-307). Aktivistinnen der ›alten‹ Frauenbewegung waren meist die ersten, die im frühen 20. Jahrhundert eine Geschichte ihrer Bewegung schrieben oder die Initiative ergriffen, Quellen zu sammeln.1 Frauenrechtlerinnen der ersten Stunden beschäftigten sich aber nicht nur mit der ›eigenen‹ Geschichte ihrer politischen Bewegung, sondern verfassten allgemeine Werke zur Frauengeschichte oder zu herausragenden Frauen. Es gab also bereits eine Frauengeschichte vor der in den 1970er Jahren aufkommenden akademischen Frauen- und Geschlechtergeschichte, die wiederum ihren Anstoß aus der zeitgenössischen Frauenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen erhielt. Dass die Beschäftigung mit Frauengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt – wenn auch nicht ausschließlich – eng mit der Entstehung feministischer Bewegungen verknüpft war, hat mit der Abbildung der politischen und gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse auch auf die jeweilige Wissenskultur und insbesondere den Wissenschaftsbetrieb zu tun.

1

Vgl. hierzu auch die Ausführungen in der Einleitung dieses Bandes.

106 | B ARBARA KORTE/SYLVIA P ALETSCHEK

Mit der sich seit dem Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert vollziehenden Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung verstärkte sich der Ausschluss von Frauen – sowohl als Subjekten wie Objekten der Geschichtsschreibung (Smith 1984; Smith 1998: 103-156). Dennoch gab es bereits in den Jahrzehnten um 1800 auf dem Buchmarkt erfolgreiche Historikerinnen wie z.B. Catherine Macaulay, die Strickland-Schwestern, Therese Huber oder Johanna Schopenhauer, die jedoch in der Folgezeit von der auf die akademische Geschichtsschreibung konzentrierten Historiographiegeschichte vergessen wurden (Smith 1998: 37-69; Epple 2003; Epple 2004: 21-33). Mit der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert weitete sich die Kluft zwischen populärer und akademischer Geschichtsschreibung. Es vollzog sich trotz weiter bestehender Interaktionen eine schärfere Trennung zwischen populärer und akademischer Geschichtsschreibung, die von einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Themenwahl überlagert wurde (Smith 1998; Epple/Schaser 2009: 7-26). Mittlerweile liegen zu der von Frauen im 19. Jahrhundert verfassten, faktualen wie fiktionalen Geschichtsschreibung mehrere Arbeiten vor.2 In den Forschungen zu feministischen Bewegungen sowie zum Verhältnis von Geschlecht und Erinnerungskultur finden sich Hinweise zur Funktion von Geschichte als Legitimationsmittel für Emanzipationsbewegungen (Grever 1997; Paletschek/Schraut 2008: 7-28). Die Geschichtsbilder und die Geschichtspolitik der Frauenbewegungen sind jedoch bisher nicht systematisch untersucht worden. Wir möchten hierzu einen Beitrag leisten und im Folgenden anhand zweier Fallstudien skizzieren, wie sich feministische Zeitschriften in Deutschland und Großbritannien im Zeitraum zwischen den 1850er und den 1890er Jahren mit (Frauen-)Geschichte auseinandersetzten und selbst zur (Frauen-)Geschichtsschreibung beitrugen. Dabei soll der deutsch-britische Vergleich dazu dienen, über die Konturierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden die Spezifik und Funktion der in den Frauenbewegungen kursierenden Geschichtsbilder herauszuarbeiten. Periodika waren zentrale Artikulations- und Verbreitungsmedien der Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts.3 Sie erreichten weibliche wie (in der Minderzahl vertretene) männliche Mitglieder und Sympathisanten der Bewegung und wurden partiell von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen.

2

Siehe neben den bereits genannten Arbeiten von Smith und Epple u.a. Spongberg 2004, Spongberg/Caine/Curthoys 2007, Paletschek 2007, Epple/Schaser 2009.

3

Zur Presse der deutschen Frauenbewegung siehe knapp zusammenfassend Wischermann 2003: 6-13; zu den ersten deutschen Frauenzeitschriften und ihrem Publikum im späten 18. Jahrhundert siehe Weckel 1998.

(F RAUEN-)G ESCHICHTE IN FEMINISTISCHEN ZEITSCHRIFTEN | 107

Die feministischen Zeitschriften stellten ein wichtiges Forum zur organisatorischen Konsolidierung, zur ideologischen Positionsbestimmung und zur öffentlichen Repräsentation der Frauenbewegungen dar. Folgende Fragestellungen leiten unsere Untersuchung: Welche historischen Traditionslinien und Geschichtsbilder konstruierten die Feministinnen des 19. Jahrhunderts in ihren Zeitschriften? Wie nutzten sie Geschichte als Legitimationsressource und Vehikel der Identitätsstiftung? Nahm Frauengeschichte hier einen besonderen Platz ein und welche Frauen oder weiblichen Lebensbereiche fanden Beachtung? War in den Zeitschriften der metahistorische Diskurs der Ausgrenzung von Frauen und weiblichen Handlungsräumen aus der akademischen (und dem Großteil der populären Geschichtsschreibung) ein Thema und wurde ggf. eine ›Gegengeschichte‹ entworfen? Waren die feministischen Zeitschriften im Vergleich mit anderen Frauenzeitschriften ›radikaler‹ in ihrer Darstellung und Funktionalisierung von Geschichte? Welche nationalen Unterschiede bzw. transnationalen Gemeinsamkeiten lassen sich beobachten? Wir konzentrieren uns auf feministische Zeitschriften,4 die organisatorisch eng mit den bürgerlichen Frauenbewegungen der ersten Organisationsphase5 im Zeitraum zwischen ca. 1860 und 1900 verbunden waren. Für Großbritannien sind dies das English Woman’s Journal (1858-1864) und flankierend seine Folgepublikationen Victoria Magazine (1863-1880) und Englishwoman’s Review of Social and Industrial Questions (1866-1910); alle drei Publikationen sind eng mit dem Kreis der ›Langham Place‹-Gruppe verbunden. Für Deutschland werden im Untersuchungszeitraum die Neuen Bahnen (1866-1919) ausgewertet, das Or-

4

Der Begriff Feminismus wurde erst seit den 1890er Jahren und mit Beginn des 20. Jahrhunderts in einigen europäischen Frauenemanzipationsbewegungen als Selbstbezeichnung verwendet, so vor allem im anglo-amerikanischen Raum, im romanischen Sprachraum und z.T. in Südeuropa, nicht jedoch in Nord-, Mittel- und Osteuropa. So war im deutschen Sprachraum die Bezeichnung als Frauenrechtlerin oder Emanzipierte geläufig. Zum Problem der Bezeichnungen siehe Offen 2000: 19-21, Paletschek/ Pietrow-Ennker 2004a: 5-8. Wir verstehen unter feministischen Zeitschriften solche, die in Verbindung mit den Frauenemanzipationsbewegungen standen oder von deren Aktivistinnen herausgegeben wurden und das Ziel verfolgten, die gesellschaftliche, rechtliche, wirtschaftliche und politische Situation von Frauen zu verbessern, deren Handlungsspielraum zu erweitern und die männliche Hegemonie kritisch zu hinterfragen. Wir folgen damit der Definition von Karen Offen sowie Doughan/Sanchez 1987: vii.

5

Als Versuch einer (flexiblen) Phasenbildung der europäischen Frauenbewegungen vgl. Paletschek/Pietrow-Ennker 2004b: 307-315.

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gan des 1865 gegründeten Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF), das von Louise Otto und Auguste Schmidt herausgegeben wurde.6

D AS

BRITISCHE

B EISPIEL

Die britische Frauenbewegung und ihre Zeitschriften Die ›Langham Place‹-Gruppe, so benannt nach ihrem Londoner Zentrum in den 1850er Jahren, wurde von Frauen gegründet und maßgeblich getragen, die sich der Bourgeoisie zurechneten (Rendall 2007). Ihnen war bewusst, dass sie, um Gehör zu finden, ihre politischen Anliegen mit Rücksicht auf dominante Geschlechtsrollenvorstellungen vorbringen mussten – Vorstellungen, die sie z.T. auch persönlich teilten.7 Zu den besonderen Anliegen der ›Langham Place‹Gruppe zählten die Verbesserung der weiblichen Bildung und Rechtsstellung, insbesondere verheirateter Frauen, sowie eine Erweiterung der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen auch der bürgerlichen Schichten. Das Organ der Gruppe, das English Woman’s Journal, hatte nur eine bescheidene Zirkulation von 500-1000 Exemplaren (Beetham 2003: 175), wurde jedoch weit über die subskribierten Exemplare hinaus verbreitet und wahrgenommen. Es war, wie Fraser, Green und Johnston (2003) feststellen, »an important extension of the work of the women of Langham Place« und begründete »new generations of social and political magazines for women« (149). Auch wenn das EWJ aufgrund von Finanzierungsproblemen nach 78 monatlichen Nummern 1864 eingestellt wurde, darf seine Bedeutung nicht unterschätzt werden. Es präsentierte sich seinen Leserinnen und Lesern als seriöse und intellektuell engagierte Zeitschrift und diskutierte die soziale Lage von Frauen in Großbritannien in Bezug zu anderen Reformanliegen, ohne eine Inversion von Geschlechterrollen zu fordern (ebd.: 155).

6

Hinweis zur Zitierweise: Im Folgenden geben wir Artikel, soweit dies ermittelt werden konnte, mit Band- oder Jahrgangsnummer/Heftzahlen bzw. Datum sowie, wo zum Auffinden erforderlich, mit Seitenzahlen an. Dabei beziehen sich die Bandzahlen der britischen Zeitschriften meist auf Halbjahre. Viele britische Frauenzeitschriften sind mittlerweile digitalisiert, so dass sich Artikel über Suchfunktionen ermitteln lassen. Die Neuen Bahnen sind über die Gerritsen Collection digitalisiert zugänglich.

7

Zum Oszillieren der britischen bürgerlichen Frauenbewegung und ihrer Publikationen zwischen emanzipatorischen Forderungen und traditionellen Weiblichkeitsidealen siehe auch Fraser/Green/Johnston 2003: 153-154.

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Hinter dem EWJ stand ein Team der ›Langham Place‹-Frauen; seine Hauptherausgeberin war Bessie Rayner Parkes (1829-1925).8 Viele Frauen, die mit dem EWJ assoziiert waren, arbeiteten auch an seinen Folgepublikationen mit. Von diesen war das von Emily Faithfull herausgegebene Victoria Magazine (VM) kommerzieller orientiert, um ein breiteres Publikum erreichen und auf dem Markt bestehen zu können. Die ab 1863 erscheinende Englishwoman’s Review of Social and Industrial Questions (ER) druckte weitaus weniger historische und biographische Artikel ab als EWJ und VM, denn sie verstand sich primär als »a current awareness bulletin, with few long articles, theoretical or otherwise, but very many short notices of feminist activities and relevant events« (Doughan/ Sanchez 1987: 3). Die ER ist, wie sich zeigen wird, jedoch eine wichtige Quelle für die beginnende Selbsthistorisierung der englischen Frauenbewegung. Eine Vergleichsfolie: Geschichte in nicht-feministischen Frauenzeitschriften Zur Bestimmung des historischen ›Profils‹ dieser feministischen Zeitschriften ist ein kurzer Blick auf das ›Durchschnittsprofil‹ zeitgleicher nicht-feministischer Frauenzeitschriften hilfreich. Diese Zeitschriften (wie z.B. die Queen, das Englishwoman’s Domestic Magazine oder das Ladies’ Treasury)9 hatten verschiedene Träger-, Herausgeber- sowie Leserschaften und waren ideologisch unterschiedlich imprägniert. Trotzdem zeigen sich Überschneidungen bei Präferenzen für bestimmte historische Themenbereiche. Auffällig ist dabei ein – im Vergleich zu zeitgleich erscheinenden Familienzeitschriften – hoher Anteil an weiblich konnotierten Geschichtsthemen, während die vorherrschend mit männlichen Handlungsräumen verbundenen Geschichtsbereiche wie Politik und Militär weitgehend ausgeblendet wurden. Spezielles Interesse galt der Geschichte weiblichen Lebens in verschiedenen Epochen, der Kulturgeschichte des Haushalts,10

8

Zu Geschichte und Hintergründen des EWJ siehe Nestor 1982, Herstein 1985, Rendall 1987, Dredge 2005, Mussell 2005-7 und Schroeder 2012.

9

Alle drei waren auflagenstarke Zeitschriften, die Leserinnen der oberen und mittleren Schichten erreichten und lange Laufzeiten hatten: The Queen 1861-1967, The Englishwoman’s Domestic Magazine 1852-79 und The Ladies’ Treasury 1858-1895. Zu ihrer genaueren Charakterisierung siehe die entsprechenden Einträge im Dictionary of Nineteenth-Century Journalism.

10 Zum Beispiel in der siebenteiligen Artikelserie »Lares et Penates« des monatlich erscheinenden Englishwoman’s Domestic Magazine (EDM), von Bd. 4 (2. Serie)/39, März 1868 bis Bd. 5/47, November 1868.

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der Mode und Kosmetik11 sowie der Handarbeit.12 Dazu kam ein hoher Anteil an Biographien historischer Frauen seit der Antike. Häufig waren dies Herrscherinnen,13 das Interesse galt vereinzelt aber auch Kämpferinnen wie Jeanne d’Arc14 und Revolutionärinnen wie Charlotte Corday.15 Vielfach porträtiert wurden zudem Wohltäterinnen,16 Literatinnen wie Madame de Staël17 oder Künstlerinnen wie Angelica Kauffmann, welche dem Ladies’ Treasury als Beweis dafür galt, »that genius had no sex« (1860: 111-112). Das Spektrum der Frauenbiographien war bemerkenswert international, europäisch orientiert und verweist auf ein zumindest implizites Programm, die Beteiligung von Frauen an der Geschichte sichtbar bzw. wieder sichtbar machen zu wollen.18 Nicht zuletzt die Serialität von Frauenporträts in fast allen Zeitschriften war geeignet, eine Kontinuität solcher weiblicher Bedeutsamkeit aufzuzeigen,19 wie die Queen zu Beginn ihrer

11 Zum Beispiel in der Artikelserie »Costumes and Fashions in Olden Times« der wöchentlich erscheinenden Queen, vom 26. Januar bis 11. Mai 1867. Für eine umfangreiche Kosmetikgeschichte konnte das EDM sogar den marktführenden Parfümhersteller in Großbritannien gewinnen: Eugene Rimmels »A History of Perfumery and the Toilet« erschien in zwölf Teilen 1864 (2. Serie, Bde. 8 und 9). 12 Zum Beispiel »Royal and Noble Lady Workers«, Queen, 15. März 1879; »Woman’s Work in the Middle Ages«, The Ladies’ Treasury, Februar bis Juni 1868. 13 Das EDM veröffentlichte 1862 und 1863 »Historical Female Biographies« von Agnes Strickland, die in verdeckter Ko-Autorenschaft mit ihrer Schwester Elizabeth die Mode der royal female biography initiiert hatte und eine der populärsten Autorinnen auf dem Gebiet war. 14 »Fearless and Spotless«, EDM, Bd. 11 (2. Serie)/20, August 1866. 15 Das EDM porträtierte Charlotte Corday sogar zweimal: in Bd 4/6, Oktober 1855, und in Band 2 (3. Serie)/13, Januar 1866. Zu Charlotte Corday siehe auch den Beitrag von Sylvia Schraut in diesem Band. 16 Zu Elizabeth Fry, einer Pionierin der Gefängnis- und Hospitalreform, siehe »Elizabeth Fry«, EDM, Bd. 4/9, September 1856 und Queen, August 1867. 17 Dabei war die Einschätzung de Staëls durchaus unterschiedlich. Man würdigte sie als Gegnerin Napoleons und führende Intellektuelle ihrer Zeit, aber die Autorin von »Madame de Stael«, EDM, November 1853, missbilligte de Staëls angebliche Vernachlässigung ihrer Ehe, während das Ladies’ Treasury sie im März 1857 auch als vorbildliche Ehefrau darstellte und so jeden Anlass zur Kritik ausräumte. 18 Programmatisch ist in dieser Hinsicht der Titel einer Serie in der Queen: »Women Who Have Appeared upon the Surface«, 18. April bis 20. Juni 1863. 19 Zur Bedeutung der Biographie als einer bevorzugten Form der weiblichen Historiographie siehe Smith 2001: 715.

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mehrteiligen Serie »Gallery of Celebrated Women« ausdrücklich hervorhob: »It is our intention to give in these pages portraits of celebrated women who have existed in all ages, and in all civilised countries« (17. August 1867: 129, unsere Hervorhebung). In diesem Sinne hatten auch die britischen nicht-feministischen Frauenzeitschriften – trotz ihrer oft prononcierten Distanzierung von der Frauenbewegung20 – ein zumindest protofeministisches frauenhistorisches Bewusstsein.21 Ausgeprägter und expliziter lässt sich ein solches in den Zeitschriften der Frauenbewegung nachweisen. Feministisches Einschreiben von Frauen und ihren Leistungen in die Geschichte Das English Woman’s Journal weist gegenüber dem Durchschnittsprofil nichtfeministischer Frauenzeitschriften einige charakteristische Abweichungen auf. Ein besonderes Anliegen des EWJ war es, Berufsfelder für Frauen vorzustellen. Diese wurden nicht nur für die Gegenwart beschrieben, sondern auch in historischen Dimensionen beleuchtet, da so demonstriert werden konnte, dass Frauen Arbeiten wie das Anfertigen von Holzschnitten für den Buchdruck, die Krankenpflege oder das Telegraphieren22 bereits in der Vergangenheit körperlich und moralisch unbeschadet bewältigt hatten. Da das EWJ – wie auch das Victoria Magazine – keine Artikel zu Themen wie Mode und Haushalt abdruckte, gibt es hierzu auch keine historischen Artikel. Auch Biographien von Männern sind im

20 So schrieb die Queen programmatisch in ihrer ersten Nummer: »When we write for Women, we write for Home. We shall offend very few when we say that women have neither heart nor head for abstract political speculation; while as for our own liberties, or our political principles, they may be safely left to men bred in the honest independence of English households.« (»Review of the Week«, 7. September 1861: 1) 21 So unterstützte die Queen am 18. Mai 1872 das Anliegen von Frauen, die zum Medizinstudium in Edinburgh zugelassen werden wollten, mit einem Artikel über einen antiken Präzendenzfall: »The Lady Doctors of Ancient Athens: A Story for Modern Athens«. Das Ladies’ Treasury wies in seiner Bücher- und Zeitschriftenschau »Literary Notices« (Juli 1876: 434) auf Artikel im feministischen Victoria Magazine hin, u.a. eine Biographie Caroline Herschels, zu der unten mehr gesagt wird. 22 »The History of Wood-Engraving«, EWJ, Bd. 1/3, Mai 1858; »The Rise and Progress of Telegraphs«, EWJ, Bd. 4/21, November 1859 und 22, Dezember 1859; »Nursing, Past and Present«, EWJ, Bd. 10/60, Februar 1863.

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EWJ – fast programmatisch – rar,23 während das marktorientierte VM wie andere Zeitschriften für Frauen häufiger Biographien von männlichen Künstlern und Schauspielern früherer Epochen abdruckte. Legten auch die nicht-feministischen Frauenzeitschriften Wert darauf, die intellektuelle Ebenbürtigkeit von Frauen herauszustellen – und diese im Kontext des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts ab Mitte des 19. Jahrhunderts als bereits weitgehend realisiert zu präsentieren – setzte das EWJ hier noch deutlichere Akzente. So betonte ein Artikel »On the Social Position of Women in the XIXth Century« (Bd. 1/4, Juni 1858), dass Frauen sich nicht nur als Künstlerinnen hervorgetan, sondern auch – und zwar als professionelle Autorinnen – um die Verbreitung von Wissen verdient gemacht hatten, nicht nur im Bereich der Geschichte und der Künste, sondern auch in der Mathematik und den Naturwissenschaften: »The manners and customs of long perished ages have been rescued from the formal custody of archaeology, and restored to that of vivid history by the labours of Miss Aikin, Miss Costello, Miss Agnes Strickland, and of our learned and accomplished neighbour, Miss Frere. Mrs. Jamieson is the best living expositor of the treasures of Mediaeval art, and the best delineator of the minuter lights and shadows of female character, whether real or ideal. We have seen astronomy represented by Miss Herschel, chemistry by Mrs. Marcet, and botany by Mrs. Loudon. The list might be increased indefinitely, but I will not weary your attention with a further enumeration of names.« (280)

Mit einem Doppelartikel über »Caroline Frances Cornwallis« (Bd. 13/76, Juni 1864 und 77, Juli 1864) würdigte das EWJ eine der produktivsten Popularisiererinnen von Wissenschaft des früheren 19. Jahrhunderts.24 Cornwallis wird dabei als Frau präsentiert, die Freude an der Gelehrsamkeit hatte und für sich ein ›natürliches‹ Recht in Anspruch nahm, die intellektuellen Fähigkeiten zu nutzen, mit denen sie ihr Schöpfer ausgestattet hatte: »She acquired deep learning, not to gratify ambition, or that it might be a means to gain any worldly end, but because she loved it for its own sake, because she felt the capability with which the Creator had endowed her, and desired to improve to the utmost the talents

23 Die wenigen porträtierten Männer scheinen dabei auf Reformer beschränkt gewesen zu sein wie »George Combe« (Nachruf), EWJ, Bd. 2/7, September 1858, und »Heinrich Pestalozzi«, EWJ, Bd. 10/55, September 1862 und 56, Oktober 1862. 24 Zur Popularisierung von Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert in Großbritannien siehe auch Schwarz 2008: 74-91.

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with which He had entrusted her; and she gave forth what she had acquired because she believed that all who have gained truth ought to impart it, and that exertion of their abilities is doubly incumbent on those whose powers, by a strange contradiction, are usually fettered because it is doubted whether they exist.« (Juli 1864: 307)

Der Artikel macht seinen Leserinnen aber auch bewusst, dass Cornwallis ihr Geschlecht nicht öffentlich enthüllt sehen wollte, um ernst genommen zu werden.25 Vorurteile führten dazu, dass sie trotz ihrer anerkannten Verdienste zu einer der ›versteckten‹ Frauen der Geschichte wurde. Das Victoria Magazine setzte das Augenmerk auf naturwissenschaftlich profilierte Frauen fort, u.a. mit der Biographie Caroline Herschels. Ein langer Artikel betont, dass diese Frau keineswegs nur die Assistentin und Haushälterin ihres berühmten Bruders William war, sondern eine Wissenschaftlerin eigenen Rangs, auch wenn sie selbst zu bescheiden war, um sich dieses Rangs bewusst zu sein. Bereits der Titel, »Caroline Herschel: Astronomer«, signalisiert die Wertschätzung des Artikels deutlich, und der Text identifiziert sie als »the indefatigable and invaluable fellow-worker of the great astronomer«, deren Leistungen umso höher einzuschätzen sind, als sie in einer rückständigeren Zeit erbracht wurden: »in the last century the aspirations of Caroline Herschel would have been looked upon as revolutionary.« (Bd. 27/2, Juni 1876: 126) Allerdings soll auch der Eindruck vermieden werden, dass Caroline Herschels Leistungen als Astronomin, die sogar die Royal Astronomical Society öffentlich anerkannte, mit einem Verlust an Weiblichkeit einhergegangen wären. Herschel wird als Wissenschaftlerin und exemplarische (gebürtig deutsche) »Hausfrau« und fürsorgliche Schwester vorgestellt.26

25 »The reason for this reticence was simply that she wished what was written to have its due weight, irrespective of the question as to who was the writer; and the state of society twenty-two years ago, when her works first begun to be published, was such that the only way to attain this was to conceal her name and sex.« (EWJ, Juni 1864: 232). 26 Auch nicht-feministische Frauenzeitschriften würdigen gelegentlich Leistungen von Frauen in den Naturwissenschaften, aber tendenziell geschieht dies, soweit die Materialgrundlage diese Schlussfolgerung zulässt, mit einer gewissen Zögerlichkeit und auch zeitlichen Verzögerung gegenüber den feministischen Zeitschriften. Das Ladies’ Treasury wies zwar auf den Artikel des VM über Caroline Herschel hin, begann einen eigenen Artikel über »Scientific Women« in Bd. 6/21, Juni 1881 aber mit einer gewissen Distanzierung von der Frauenbewegung: »We need not be fanatical admirers of women, or touch in any way the burning question of ›Women’s Rights‹, when we maintain that there are women strong enough in mind and will to approach the most

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Meta-historische Perspektiven und Umschreiben der Geschichte Die feministischen Frauenzeitschriften machten bewusst, welche Faktoren dazu führten, ob und wie Frauen kollektiv erinnert wurden: Im Fall von Cornwallis und Herschel seien Vorurteile und zu große persönliche Bescheidenheit dieser Erinnerung hinderlich gewesen, weil die Frauen selbst ihre Bedeutung herunterspielten. Aber auch die Geschichtsschreibung wird als Hindernis für eine angemessene Erinnerung und Würdigung weiblicher Leistungen identifiziert. Ein dezidiert reflektiertes meta-historiographisches Bewusstsein äußert sich etwa in einem Artikel des EWJ über »Domestic Life of German Ladies in the Sixteenth Century« (Bd. 5/26, April 1860). Ausdrücklich wird hier festgestellt, dass die Historiographie ›männlich‹ konnotierte Bereiche der Geschichte wie Politik und Militär bevorzugt und ›weiblich‹ konnotierte Bereiche wie Sozial- und Alltagsgeschichte allenfalls als ›Untergrund‹ der scheinbar bedeutsameren Geschichte zur Kenntnis nimmt: »The roll which the Muse of History bears in her hand is a Palimpsest. Those great events which shape the life of nations; the career of leaders and rulers; the death agony of old beliefs and worn-out empires; the birth throes of the new; these, with their kindred themes, make up its outward record, the record of the sword and the palm. The underwritten chronicle is for the most part fragmentary, its characters often dim and half-effaced; the man who would decipher it must make up his mind to bestow a good deal of patient labour on his task. Here you come upon a vivid picture, followed by a provoking gap; there the faintest possible sketch, a bare outline, which sends the puzzled student on a search for those hints and intimations whence it is to gain some form and colour. Yet the history, once spelled out and put together, shall seem to us not all unworthy of the pains it has cost. It presents sketches of household life; the customs and ways of thinking of the age; the private life and surroundings of those men who in any way stood before the world in their day and generation.« (102, unsere Hervorhebung)

difficult scientific problems, and to study them diligently and successfully« (327). Erst im Mai 1894 veröffentlichte das Treasury einen Artikel über »Caroline Herschel«, der jedoch ihre wissenschaftliche Leistung weitaus weniger betont als ihre hingebungsvolle Unterstützung des Bruders und programmatisch mit der Feststellung endet: »And the world of to-day is interested in her, not because she was a femme decorée, not because she discovered eight comets, but because she was a loyal, true, loving and devoted woman.« (Bd. 19/7: 286)

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Der Artikel fordert daher ein Um-Schreiben der Geschichte und eine neue Historiographie, an der Frauen beteiligt sind – nicht nur als Forschungsobjekte, sondern auch als forschende Subjekte: »Be it ours to lift in some degree the veil which time, and change, and circumstance, have all combined to weave over the real every-day life led by the ladies of that age and nation; those figures which appear as it were by chance in general history, and claim no more distinct memorials than a name in a genealogy, the monument they share with their husbands in some church, or a faded portrait on the walls of an ancient castle. Still, in mouldering letters and dusty archives traces of their personal existence may be found, and we present the truthful, though far too imperfect, sketch thus obtained to our readers, in the hope that some may share our own interest in this leaf we have borrowed from the records of the olive.« (102f.)

Ein Bestreben, die Rolle und Bedeutung von Frauen in der Geschichte (wieder) sichtbar zu machen, ist auch in den nicht-feministischen Frauenzeitschriften der viktorianischen Zeit zu erkennen. Das feministische EWJ artikuliert dieses Bestreben aber mit größerem Nachdruck und programmatisch, wobei sich auch hier die Umsetzung des Programms vor allem in biographischen Artikeln vollzieht. Zu den wenigen von einer bekannten Autorin signierten biographischen Artikeln im EWJ zählt ein zweiteiliger Beitrag über »Margaret of Norway« (Bd. 3/13, März 1859 und 14, April 1859) von Amelia Edwards, die neben literarischen und journalistischen auch historiographische Texte verfasste.27 Bereits der Beginn des Beitrags verkündet die Absicht, aus der Perspektive moderner feministischer Forderungen auf die Geschichte bedeutungsvoller Frauen zurück zu blicken: »At a time like the present, when women’s claims form the subject of so much discussion, it is curious to turn back to the pages of old history and inquire what position was occupied and what influence was wielded by the women of the forgotten past.« (März 1859: 6) Daran, dass Margarete von Norwegen (13531412) in ihrer Zeit eine bedeutende und machtvolle Herrscherin war, lässt der Artikel keinen Zweifel: »How these rude Northmen came afterwards to be both governed and subdued by a woman; […] how, driven from all their strongholds of pride and prejudice, they were made to bow lower beneath that woman’s yoke than ever their ancestors bowed in the old time before the priestesses of the temple, it is now our purpose to relate.« (März 1859: 8) Die Wiederholung des Wortes »woman« in dieser Passage unterstreicht, zu welch herausragenden politischen Leistungen das ›schwache‹ Geschlecht fähig war, und dass Macht und

27 Siehe u.a. A Summary of English History (1856) und The History of France (1858).

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Weiblichkeit einander nicht ausschlossen. Im Gegenteil, so betont Edwards, führte im Fall Margaretes gerade die Kombination ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Eigenschaften zu einem Glücksfall für ganz Skandinavien.28 Umso ›merkwürdiger‹ und ›bedauernswerter‹ sei es, dass auch eine derart herausragende Figur von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessen wurde, und zwar, so kann man zwischen den Zeilen lesen, aufgrund ihres Geschlechts: »Very strange is it, and much to be regretted, that no circumstantial history of this reign has been handed down to posterity. […] we are not aware that any attempt has yet been made to present a connected narrative of her life.« (April 1859: 95) Ihr Artikel präsentiert sich so als erster Schritt, die Königin Margarete wieder in die kollektive Erinnerung und die Historiographie einzuschreiben. Neben Herrscherinnen porträtierte das EWJ wie andere Frauenzeitschriften eine große Bandbreite bemerkenswerter historischer Frauen: Gelehrte und wohltätige Frauen29 oder Intellektuelle wie Mme de Staël und Rahel Varnhagen.30 Gerade für die intellektuellen Frauen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird insistiert, dass sie mit ihren Zirkeln auf ihre Art Macht ausübten. So spricht ein Artikel »Madame de Staël« eine »almost magical influence during this stormy period of society« zu und erklärt den Salon zu einem »empire, in which women were all-powerful« (Bd. 9/54, August 1862: 365). Das EWJ stellte aber auch Frauen vor, die Gewalt und Ungerechtigkeit erdulden mussten wie Agnes Bernauer,31 solche, die der Französischen Revolution zum Opfer gefallen waren,32 oder Mitstreiterinnen der Revolution von 1848/49 wie Johanna Kinkel, die mit ihrem Mann ins englische Exil gegangen war. 33 Bri-

28 »To that force of character and steadiness of judgement which more frequently belongs to man, she added the persuasive eloquence and subtle fascinations which are supposed to be the legitimate weapons of her sex. She was ambitious without seeming to be so, and achieved greatness while appearing only to follow the dictates of circumstance.« (EWJ, April 1859: 94) 29 »Margaret Beaufort«, EWJ, Bd. 8/43, September 1861 und 44, October 1861; »Sketch of the Life and Labours of Maria Bocci La Moinette«, EWJ, Bd. 3/16, Juni 1859; »Amalie Sieveking«, EWJ, Bd. 5/25, März 1860; »Elizabeth, Princess Palatine«, EWJ, Bd. 9/50, April 1862 und 51, Mai 1862. 30 Zum Beispiel »Maria Edgeworth«, EWJ, Bd. 7/2, September 1858; »Bettina [von Arnim]«, EWJ, Bd. 3/15, Mai 1859; »Rahel [Varnhagen]«, EWJ, Bd. 3/17, Juli 1859. 31 »Agnes Bernauerin«, 3 Teile, EWJ, Bd. 12/67, August 1863 bis 69, Oktober 1863. 32 Zum Beispiel »Marie Antoinette and the Court of France«, EWJ, Bd. 12/69, November 1863 und 70, Dezember 1863. 33 »Johanna Kinkel«, EWJ, Bd. 2/11, Januar 1859, ist ein Nachruf.

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tische Sympathien speziell für das italienische Risorgimento mögen erklären, warum das EWJ ein besonderes Interesse für italienische Frauen zeigte – auch jenseits der Unabhängigkeitsbewegung. So vermerkte ein Artikel, dass Italien eine lange Tradition gelehrter und künstlerischer Frauen vorzuweisen habe, einschließlich Professorinnen an Universitäten.34 Auch ›exzentrischen‹ Frauen zollte das EWJ Respekt. In einem zweiteiligen Beitrag 1862 würdigte es differenziert die für ihr freiwilliges orientalisches Exil notorisch gewordene Lady Hester Stanhope (1776-1839).35 Und in zumindest einem Fall wurde eine legendäre südasiatische, nichtchristliche Herrscherin als vorbildlich dargestellt: Im Juni 1863 findet sich im EWJ unter dem Titel »The Story of an Indian Princess« (Bd. 11/64) die Lebensgeschichte der Alia Bhye (Ahilyabai Holkar), die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über das indische Königreich Malwa herrschte und ihm Frieden und Wohlstand brachte. Als Zeitschriften aus der Frauenbewegung präsentierten das EWJ und VM die Geschichte von Frauen facettenreich und mit einer feministischen Perspektive. Von den nicht-feministischen Zeitschriften für Frauen wichen sie dabei meist graduell und nicht grundsätzlich ab. Der feministische Gestus beider Publikationen auch in der Darstellung von Geschichte war begrenzt durch die Situation der bürgerlichen Frauenbewegung in Großbritannien, die ihre Ziele nicht konfliktuell, sondern im Kontext allgemeiner Reformbestrebungen und ohne Verletzung bürgerlicher Wertvorstellungen erreichen wollte. Bei allen Veränderungen, die vor allem für Frauen der mittleren Schichten erreicht werden sollten, operierte die bürgerliche Frauenbewegung in Großbritannien vor 1890 daher auch mit Rücksicht auf das in ihren Kreisen noch dominante Ideal häuslicher Weiblichkeit. Dieser Umstand schlägt sich auch in den ersten Schritten der Selbsthistorisierung der Bewegung nieder, die sich anhand der Englishwoman’s Review nachvollziehen lassen. Selbsthistorisierung der Frauenbewegung Wie bereits festgestellt wurde, war die ER stark gegenwartsbezogen; sie machte aber wiederholt Rückblicke, oft motiviert durch Erfolge, die nach zehn oder zwanzig Jahren des Kampfes endlich erreicht wurden, wie z.B. beim Zugang von

34 »Gallery of Illustrious Italian Women«, EWJ, Bd. 1/6, August 1858 bis Bd. 2/10, Dezember 1858. 35 »Lady Hester Stanhope«, EWJ, Bd. 9/52, Juni 1862 und 53, Juli 1862. Erst deutlich später, im Februar 1881, druckte das nichtfeministische Ladies’ Treasury eine Biographie Stanhopes unter dem Titel »A Celebrity of the Present Century«.

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Frauen zum Arztberuf oder bei den Fortschritten in der Ehegesetzgebung.36 Am 15. August 1878 (Bd. 9/64) erschien im ER der Artikel »Three Decades of Progress«, der 30 Jahre Frauenbewegung in den USA zum Anlass nahm, die eigene Situation zu analysieren. 1848 war in Amerika nicht nur Margaret Fullers programmatische Schrift Woman in the Nineteenth Century erschienen, sondern in diesem Jahr fand auch der als Auftakt der amerikanischen Frauenbewegung gewertete Kongress von Seneca Falls statt. Der Artikel im ER hält fest: »Our friends beyond the Atlantic have been celebrating the third decade of the movement for the advancement of women. This movement really dates a few years earlier in America owing to the attention excited by the publication of Margaret Fuller’s remarkable work […]« (337) Die britische Frauenbewegung habe dagegen nicht nur später begonnen, sie sei in ihrem Charakter auch weniger antagonistisch als die amerikanische: »The efforts of the ›Women’s Progress‹ party in England have always been directed towards increasing their power of effectively co-operating with men, and establishing joint, but not antagonistic rights […].« (338) Explizit angesprochen wird die Scheu der britischen Bewegung vor zu schnellen und drastischen Interventionen in die dominante Geschlechterordnung: »Our progress during the parallel course of thirty years has been made with slow and very cautious steps.« (Ebd.) Trotz dieser Selbsteinsicht dokumentiert eine Chronologie am Ende des Artikels stolz die Schritte der britischen Bewegung, einschließlich der Gründung des EWJ – noch vor der Gründung des ersten Londoner Damenschwimmbads. Die Vorsicht der britischen Bewegung und ihre Rücksicht auf bestehende Weiblichkeitsideale erklärt eine signifikante Lücke der Selbsthistorisierung. Die Amerikanerin Margaret Fuller konnte anlässlich der zehnten Wiederkehr ihres tragischen Todes durch Ertrinken im EWJ mit einem zweiteiligen Artikel als Ikone der Bewegung gewürdigt werden, weil sie trotz aller feministischer Forderungen in ihrem Privatleben die Grenzen ›respektabler‹ Weiblichkeit gewahrt hatte.37 Geradezu verschwiegen wurde im EWJ wie im VR dagegen Mary Wollstonecraft, die Autorin der Vindication of the Rights of Woman (1792) – obwohl sie keineswegs eine ›vergessene‹ Frau der Geschichte war und andernorts Beachtung fand, etwa durch die Schriftstellerin George Eliot, die in einem Aufsatz

36 »History of the ›Married Women’s Property‹ Bill«, ER, Bd. 4/15, Juli 1873; »The Twentieth Anniversary of the Foundation of the Society for the Employment of Women«, ER, Bd. 10/75, Juli 1879; »The Close of a Long Struggle«, ER, Bd. 8/48, April 1877. 37 »Life of Margaret Fuller Ossoli«, EWJ, Bd. 4/19, September 1859 und 20, Oktober 1859.

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für die Zeitschrift The Leader Fuller und Wollstonecraft schon 1855 verglichen hatte.38 Für die bürgerlich-feministischen Zeitschriften war Wollstonecraft aber offensichtlich prekär: Eine Bewegung, die die Grenzen der viktorianischen Geschlechterordnung weitgehend wahren wollte, konnte sich über eine politisch radikale Atheistin, die einen distinkt unhäuslichen Lebensstil gepflegt hatte, nicht identifizieren oder gar legitimieren. Wollstonecrafts Wiederentdeckung durch die englische Frauenbewegung ließ allerdings nicht mehr lange auf sich warten. Eine Notiz im Ladies’ Treasury vom November 1890 in der Rubrik »On-Dits and Facts of the Month« erwähnt einen Vortrag der Frauenrechtlerin Florence Balgarnie (1856-1928) über »The Emancipation of Women«, in dem diese prophezeite, dass die Zeit kommen werde, »when the women of England, perhaps the women of the world, would realise that Mary Wollstonecraft was the first to strike a blow for the emancipation for her sex, and would raise a monument to her memory.« (703) In der Hochphase der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende fand diese Monumentalisierung dann auch in Frauenzeitschriften statt, und zwar nicht nur in biographischen Artikeln: 100 Jahre nach Wollstonecrafts Tod wurde ihre Vindication 1897/98 in der feministische Zeitschrift Woman’s Signal (1895-99) als Serie wieder abgedruckt und damit auch jenen Frauen zugänglich gemacht, die sich eine Buchedition nicht leisten konnten. Wie das folgende Kapitel zeigt, wies die Frauenbewegung aufgrund der politischen Verhältnisse in den deutschen Staaten einige Unterschiede zur zeitgenössischen englischen Situation auf, doch lässt die Analyse der feministischen deutschen Frauenzeitschriften auch Parallelen erkennen.

D AS

DEUTSCHE

B EISPIEL

Frauenbewegung in den deutschen Staaten und ihre Zeitschriften In den deutschen Staaten formierte sich seit Mitte der 1840er Jahre im Kontext oppositioneller, nationaler und religiöser Reformbewegungen die frühe deutsche Frauenbewegung, die in den Jahren der Revolution von 1848/49 ihren Höhepunkt erreichte (Gerhard 1990: 42-75, Paletschek 1998: 16-24; Gerhard 2004: 106-108; Schaser 2006: 15-23). Der liberal-demokratische Aufbruch dieser Jahre beförderte die schon im Vormärz einsetzende Politisierung von Frauen vornehmlich der bürgerlichen und zum Teil auch kleinbürgerlichen Schichten. Es gründe38 »Margaret Fuller and Mary Wollstonecraft«, The Leader, Bd. 6/290, 13. Oktober 1855: 988-989.

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ten sich erste Frauenvereine, die nicht nur die politische und religiöse Oppositionsbewegung unterstützten, sondern davon ausgehend erste feministische Forderungen – nach Teilnahme am politischen Leben, nach verbesserten Bildungsund Erwerbsmöglichkeiten von Frauen – stellten. Mit der von Louise Otto herausgegebenen Frauen-Zeitung erschien seit 1849 bis zur ihrem Verbot 1852 eine erste feministische Zeitschrift (Nachdruck Gerhard u.a. 1979). Zentren dieser frühen Frauenbewegung lagen in den mitteldeutschen Staaten, allen voran in Sachsen, aber auch im Rhein-Main-Raum, in Franken, in Schlesien, in Baden oder in einer Großstadt wie Hamburg. Mit der nach Niederschlagung der Revolution im Sommer 1849 einsetzenden politischen Repressionen in den deutschen Staaten kam bis 1852 auch diese frühe Frauenbewegung zum Erliegen. Die Frauen-Zeitung, ebenso wie einige der Frauenvereine oder auch die von ihnen gegründeten Kindergärten wurden als politisch zersetzend und die Ordnung gefährdend verboten. Viele der frühen Feministinnen, die meist gleichzeitig auch in der revolutionären Bewegung oder als religiöse Dissidentinnen aktiv waren, gingen ins Exil, nach London, in die Schweiz oder die USA. Nach der politischen Stagnation in der Reaktionsära der 1850er Jahre formierte sich mit den sich ab 1859 liberalisierenden Verhältnissen in den deutschen Staaten auch die Frauenbewegung wieder neu, wobei ehemalige, bereits in den 1840er Jahren aktive Frauenrechtlerinnen eine wichtige Rolle spielten. 1865 entstand, etwa zeitgleich mit den ersten Parteien der Arbeiterbewegung, der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) in Leipzig, gegründet von der ehemaligen 1848erin Louise Otto-Peters (1819-1895) sowie Auguste Schmidt (18331902) (Gerhard 1990: 76-83; Gerhard 2004: 108-109). In der Folgezeit bildeten sich über die in unterschiedlichen Städten veranstalteten Frauentage Zweigvereine in den verschiedenen deutschen Staaten; 1877 schätzte Louise Otto, dass der ADF ca. 12 000 Mitglieder hatte (Schaser 2006: 41). Ziele dieses über Zweigvereine national verbreiteten Frauenvereins waren eine Verbesserung der weiblichen Bildung, der Erwerbsmöglichkeiten für Frauen, ihrer Stellung in Recht und Gesellschaft sowie eine organisierte, vor allem Frauen zugutekommende Wohltätigkeit. Organ des ADF war die Zeitschrift Neue Bahnen, die bis in die 1890er Jahre hinein das wichtigste Sprachrohr der deutschen Frauenbewegung war. In den 1890er Jahren setzte die Hochphase der Bewegung ein, die mit einer enormen Verbreiterung – um 1913 hatte die deutsche Frauenbewegung ca. 500 000 Mitglieder – sowie Zentralisierung und Ausdifferenzierung einherging. 1894 wurde als neuer Dachverband der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) gegründet; bis dahin hatte der ADF mit seinem ›allgemeinen‹ Anspruch gewissermaßen die gesamte Frauenbewegung vertreten (Stoehr 1990: 3). Nun bildeten sich verschiedene Stränge der Frauenbewegung heraus, so die proletarische bzw. sozial-

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demokratische, die radikale, die sich aus der sogenannten gemäßigten bürgerlichen Bewegung abspaltete, sowie die konfessionellen, d.h. die protestantischen, katholischen und jüdischen Frauenverbände. Seit den 1890er Jahren entwickelte sich ein breites Spektrum feministischer Zeitschriften, die den unterschiedlichen Flügeln der Frauenbewegung zugeordnet waren. Damit verbunden war auch ein Generationswechsel, d.h. die Pionierinnen der 1840er bis 1860er Jahren traten nun ab und eine neue Generation entwickelte neue Aktionsformen und -felder. Im Folgenden untersuchen wir am Beispiel der Neuen Bahnen für den Zeitraum von 1865 bis Ende der 1890er Jahre die in der (später so genannten ›gemäßigten‹ bürgerlichen) deutschen Frauenbewegung entworfenen Geschichtsbilder und deren Umgang mit Geschichte. Die Neuen Bahnen wurden von Louise OttoPeters und Auguste Schmidt redigiert. Sie erschienen zweiwöchentlich, wurden von den Mitgliedern des Vereins automatisch bezogen, aber auch über den Buchhandel vertrieben. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zeitschrift eine Großzahl der in der Frauenbewegung aktiven bzw. mit dieser sympathisierenden Frauen (und Männer) erreichte.39 Mit den 1860er Jahren begann auch in Deutschland – mit leichter Verzögerung gegenüber England – das Zeitalter der Massenpresse. Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlicher inhaltlicher Couleur und politischer bzw. religiöser Ausrichtung erreichten ein breites, bis in untere soziale Schichten reichendes und beide Geschlechter und alle Altersgruppen umfassendes Publikum. Ein kleines Segment dieser neuen Öffentlichkeit waren die von politischen Bewegungen, so auch der Frauenbewegung, herausgegebenen Zeitschriften. Die Herausgeberinnen der Neuen Bahnen versuchten, möglichst viele Abonnenten und Abonenntinnen zu werben und riefen immer wieder dazu auf, »dass Alle, denen es ernstlich darum zu thun ist, den Kreis des Frauenlebens in Bezug auf Bildung und Erwerb, Pflicht und Recht zu erweitern, es als Gewissenssache betrachten, unserm Blatt zu immer größerer Verbreitung zu helfen.« (Bd. 9/24, 1875: 192, Herv. i. O.) Das Ziel des ADF und der Neuen Bahnen war die ökonomische und geistige Befreiung der Frau, wobei neben der Eröffnung neuer Berufsfelder für Frauen

39 Louise Otto und Auguste Schmidt trugen durch einen Vielzahl von Artikeln zu den Neuen Bahnen bei. In der Zeitschrift publizierten in der Bewegung aktive Frauen wie z.B. Julie Engell-Günther, Luise Büchner, Thekla Naveau, Natalie von Milde, Anna Simon etc. Es erschienen daneben auch anonyme oder mit den Anfangsbuchstaben gekennzeichnete Artikel. Männliche Autoren steuerten ebenso, allerdings mit einem deutlich kleineren Anteil, Artikel bei. In den Neuen Bahnen wurden auch die Leserinnen (und Leser) immer wieder zur Einsendung von Beiträgen aufgefordert.

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der weiblichen Erziehung – über die Errichtung von Gewerbeschulen, höheren Mädchenschulen bis zur Öffnung der Universitäten – eine besondere Bedeutung zukam. Zentrales Diktum der Bewegung bis in die 1890er Jahre hinein war das Eintreten für »das Menschenthum der Frau« (NB, Bd. 30/17, 1895: 180), d.h. die ganzheitliche Überzeugung, dass die Frauenfrage eine Menschheitsfrage sei. Nur durch eine verbesserte Stellung der Frau, die ihr die Entfaltung all ihrer Anlagen und Kräfte ermöglichte, könnten sich die gesellschaftlichen und sozialen Missstände grundsätzlich bessern. Sucht man nach Vergangenheitsbezügen in den Neuen Bahnen im Zeitraum zwischen 1866 und 1900 so ist das erste Ergebnis ernüchternd im Vergleich mit der bereits erwähnten Präsenz von Geschichte in britischen Frauenzeitschriften oder dem großen Anteil, den historische Themen in der beliebten Familienzeitschrift Die Gartenlaube einnahmen (Paletschek 2011: 41 und zu Familienzeitschriften allgemein Korte/Paletschek 2012). Die Neuen Bahnen berichteten auf den ersten Blick fast nur – und hier scheinen sie am ehesten vergleichbar mit der seit 1866 erscheinenden Englishwoman’s Review zu sein – über die Entwicklung in den Vereinen, über Petitionen und allgemeine Fragen wie Frauenstudium, Berufsbildung, die Öffnung neuer Berufszweige oder den Fortgang der Bewegung im Ausland. Dies entsprach der politischen Ausrichtung der Zeitschrift, die sich nur mit ernsthaften Fragen beschäftigen wollte und anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums stolz von sich behauptete, die einzige Frauenzeitung zu sein, die trotz ihres langen Bestehens »nie in ihren Spalten etwas Novellistisches, einen Modenbericht oder ein Kochrezept« gebracht habe.40 Die Neuen Bahnen grenzten sich damit dezidiert gegenüber Familienzeitschriften und anderen, nichtfeministischen Frauenzeitungen ab. Geschichte schien, so könnte zunächst vermutet werden, in die Sparte Unterhaltung und Novellistisches zu fallen, von der sich die Neuen Bahnen klar distanzierten. Zwar erschienen in den Neuen Bahnen nur wenige explizit historischen Themen oder Biographien gewidmete Artikel, doch fanden sich bei näherem Hinsehen – so in den Leitartikeln, in den Bücher-

40 Auguste Schmidt: »Das zweite Vierteljahrhundert«, NB, Bd. 26/1, 1891: 1-3, zit. 3. Auguste Schmidt fährt fort: »Wir wollen durch dieses negative Verdienst keinesweges den trefflichen Hausfrauen- und Modezeitungen zu nahe treten, die zur Bildung guter Hausfrauen und zur Verfeinerung der Geschmacksrichtung viel beigetragen haben, aber daß eine Frauenzeitung 25 Jahre alt und noch weiter lebensfähig sein kann, ohne daß sie dem Interesse der Küche und der Mode die geringsten Zugeständnisse macht, – das erscheint doch jedem, der das Leben aufmerksam beobachtet, wie ein Wunder, ja – wie ein Wunder, welches uns voraussetzen läßt, daß auch die Frauen lernen werden, sich mit allgemeinen Lebensaufgaben zu beschäftigen.«

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empfehlungen oder in Jubiläumsrückblicken – überraschend viele historische Bezüge. Teleologische Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte: Aus der Geschichte lernen Eine aufklärerische Fortschrittsgeschichte bestimmte das Geschichtsbild in den Neuen Bahnen. Aus der Geschichte könne gelernt werden, es gehe das »Heute aus dem Gestern« und »das Morgen aus dem Heute« hervor, schrieb Auguste Schmidt in ihrem Artikel »Zur Erkenntnis der Zeit« (Bd. 5/20, 1870: 154). Durch die Beschäftigung mit Geschichte könne die Gegenwart besser verstanden und die Zukunft antizipiert werden. Die Zeitschrift vertrat die Überzeugung, dass sich die Menschheit in steter Fortentwicklung befinde. In der Kulturgeschichte zeige sich ein »Gesetz des Fortschritts und Emporkommens«, »das Emporsteigen zu sittlicher Anschauung und Grundsätzen«. Laut einer historischen Buchempfehlung übt der historische Rückblick »eine versöhnende Kraft auf die Gegenwart« aus und deswegen sei es auch für die Frauen »dringend geboten, sich mit Culturgeschichte zu beschäftigen«.41 Mit dieser Vorstellung vom steten sittlichen Fortschreiten der Geschichte war die Überzeugung verbunden, dass sich damit die Forderungen der Frauenbewegung in ferner Zukunft verwirklichen würden, da die Frauenfrage ja als Menschheitsfrage dem sittlichen Fortschritt diente. In Zeiten der Reaktion könne eine Flucht in die Geschichte helfen, die Zeit des Stillstands zu überwinden, schrieb Louise Otto und führte als Beispiel sich selbst und ihre Beschäftigung mit Geschichte in der Reaktionsphase der 1850er Jahren an: »Alle Fortschrittsbestrebungen – auch die Frauenbewegung waren gehemmt. Die ›Frauenzeitung‹ [sic], die ich 1849 gegründet, konnte nicht weiter erscheinen – auch sonst war mir die Gegenwart für mein Schaffen verleitet. Ich flüchtete in die Vergangenheit! […] Zu den Beschäftigungen mit der Hexenzeit trieb mich nicht allein meine Weltflucht – oder meine Vorliebe für Mittelalter und Romantik – es trieb mich auch dazu: Die Frauenfrage.« (Bd. 26/5, 1891: 34)

41 NB, Bd. 11/8, 1876: 64. Empfohlen wurden »Kulturgeschichtliche Vorlesungen« von Heribert Rau, 1875 in Offenburg erschienen.

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Aus ihrer Beschäftigung mit der Hexengeschichte zog Louise Otto den Schluss, dass man niemals denken dürfe, »der Unsinn müsse in und von sich selbst zerfallen! – das geschieht nicht, es muß dagegen gekämpft werden.«42 Für die Beurteilung der Gegenwart stellte die Geschichte einen Erfahrungshaushalt dar der half, mögliche Entwicklungslinien abzuschätzen – im Positiven wie im Negativen. So dämpfte Louise Otto-Peters in ihrem Artikel »Die neue Zeit« angesichts des Sieges im deutsch-französischen Krieg 1870 und der nachfolgenden Reichsgründung die nationale Euphorie. Sie warnte davor, dass »Deutschlands so heiß ersehnte Einigkeit und Größe mit einer Säbeldictatur Hand in Hand geht, die dem Volkswohl niemals förderlich war« und dass sich das deutsche Volk »nicht abermals wie nach der Erhebung 1813 um die nur an der Sonne der Freiheit reifende Frucht des Sieges werde betrügen lassen« (Bd. 5/22, 1870: 170). Dass sich gerade Frauen mit Geschichte beschäftigen sollten, wurde in den Neuen Bahnen mehrfach betont. Frauen könnten »Gleichberechtigung weder erhalten noch beanspruchen dürfen, bis sie nicht selbst über die Hauptgebiete der Menschheitsentwicklung einen klaren historischen Überblick gewonnen haben« (Bd. 6/11, 1871: 80). Zudem sei es Aufgabe der Frauen und Mütter, dem Kind über Sagen und Geschichtserzählungen ein Nationalgefühl zu vermitteln (Bd. 1/10, 1866: 75) – d.h. aus nationalen wie feministischen Erwägungen heraus erschien eine Geschichtskenntnis für Frauen unabdingbar. Die Kenntnis der deutschen Geschichte sei gerade für Frauen und die weibliche Jugend wichtig, da »in Folge der langjährigen Zersplitterung Deutschlands unsern Frauen im Allgemeinen noch so sehr das Verständniß für die Entwicklung ihres Vaterlandes« fehle – so 1875 der Kommentar zur Empfehlung des Buches Deutsche Geschichte von 1815-1870 von Luise Büchner. Das Buch wurde den Leserinnen und Lesern wärmstens ans Herz gelegt, da es eines der wenigen historischen Werke einer Frau sei und zudem in populärer Form eine übersichtliche und gedrängte Darstellung der historischen Entwicklung gebe (Bd. 10/4, 1875: 111).

42 Louise Otto: »Mahnungen aus der Hexenzeit«, in: NB, Bd. 26/5, 1891: 33-36, zit. 34. Louise Otto schrieb in den 1850er Jahren »Hexengeschichten nach den Quellen«; sie arbeitete dafür in der Dresdner Königlichen Bibliothek mit dem Hexenhammer und weiteren Hexenchroniken. Die Artikel erschienen in verschiedenen Zeitschriften, wurden vielfach wieder abgedruckt und in ihrem Band Aus der alten Zeit (Leipzig: Hübner, 1871) sowie in ihren Privatgeschichten aus der Weltgeschichte (Leipzig: Mathes, 1868) publiziert.

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Historische Vorbilder: (herausragende) Frauen, Freiheitsbewegungen und ihre Helden Wer tummelte sich in dem in den Neuen Bahnen konstruierten historischen Universum der Frauenbewegung? Es handelt sich, wie zu erwarten, vielfach um historische Frauengestalten: verfolgte Hexen, Philosophinnen der Antike,43 Astronominnen der Frühen Neuzeit, gebildete Fürstinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart,44 Frauen der Reformation, des Humanismus und der Befreiungskriege sowie erste promovierte Frauen wie Dorothea Schlözer, Charlotte von Siebold und Nadežda Suslova.45 Auch wurde den Leserinnen und Lesern die Geschichte der Freiheits- und Revolutionsbewegungen der Neuzeit, insbesondere der englischen, amerikanischen und französischen Revolution oder auch die Geschichte der Freimaurerei ans Herz gelegt.46

43 Siehe etwa die Serie »Philosophinnen des Alterthums« von F.M. Wendt, NB, Bd. 9/18, 19, 20, 22, 24, 1874. Behandelt wurden Theano, Hipparchia, Arete, Axiothea, Lasthenia, Themista, Arria, Julia Domna, Salonina, Asklepigeneia, Aedesia, Sofiapatra, Hypatia. Der Autor der Serie F.M. Wendt aus Hermannstadt war Lehrer und Psychologe. Er unterrichtete am Lehrerinnenseminar von Auguste Schmidt in Leipzig, später war er Professor am k.k. Staatsinstitut zur Bildung von Lehrern und Lehrerinnen in Troppau (österreichisches Schlesien). Eine seiner Töchter war die österreichische Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Lehrerin Irene Sponner-Wendt (18671922), die andere Tochter, Cäcile Böhm-Wendt (1875) promovierte als eine der ersten Frauen 1900 in Wien in Mathematik. Siehe u.a. (http://www.onb.ac.at/ariadne/vfb /bio_sponner.htm). 44 Auguste Schmidt: »Fürstliche Frauen«, NB, Bd. 33/19, 1898: 201-203. 45 Siehe u.a. den Artikel »Drei weibliche Doctor-Promotionen«, NB, Bd. 3/5, 1868: 3335; behandelt werden hier Dorothea Schlözer, 1787 promoviert, Charlotte von Siebold, 1818 promoviert, sowie Nadežda Suslova, die 1868 in Zürich promoviert wurde. Siehe ferner auch die folgenden Artikel: Else Oelsner und Auguste Schmidt: »Die Leistungen der deutschen Frau in den letzten 400 Jahren auf wissenschaftlichem Gebiete«, NB, Bd. 29/12, 1894: 89-90; Amanda Georgi: »Sternkundige Frauen«, NB, Bd. 30/16, 1895: 121-123; Amanda Georgi: »Der Frauen Antheil an Gestaltung und Erhaltung der urgermanischen Volksdichtung und ihrer Sagenstoffe«, NB, Bd. 30/11, 1895: 81-83. Buchbesprechungen gab es u.a. zu Auguste Scheibes Caroline Herschels Memoiren und Briefwechsel, 1750-1848, NB, Bd. 12/23, 1877: 183, und Die Frauen des achtzehnten Jahrhunderts, NB, Bd. 12/12, 1877: 95-96. 46 L.O.: »Ein Jahrhundert der Revolutionen von Ludwig Wittig«, NB, Bd. 10/11, 1875: 88; »Geschichte der Freimaurerei«, NB, Bd. 6/11, 1871: 79-80.

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Auffällig ist die Aufmerksamkeit der Neuen Bahnen für die zeitgeschichtlichen, nur wenige Jahre zurückliegenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen: Die Helden der italienischen Einigungsbewegung, Garibaldi, Mazzini oder Piero Cironi,47 sowie der Revolution von 1848/49 – ein ähnlicher Befund ist auch für die britischen Zeitschriften der Frauenbewegung zu verzeichnen – fanden besondere Aufmerksamkeit. Aber auch mit der Freimaurerbewegung – »eine ideale Föderation, innerhalb derer Gleichberechtigung Aller […] ungeschmälerte Geltung« fand (Bd. 6/11, 1871: 80) – sollten sich die Leserinnen und Leser beschäftigen. Der Fokus lag zwar bevorzugt auf der deutschen nationalen historischen Entwicklung, dabei wurde aber keineswegs ein national begrenztes Geschichtsprogramm entworfen. Die vorbildhaften Personen waren überwiegend, doch nicht ausschließlich historische Frauengestalten, sondern ebenso Männer, insbesondere Freiheitshelden oder männliche Vorkämpfer der Frauenemanzipation wie Theodor Gottfried von Hippel.48 Historische Vorbilder waren also gleichermaßen russische Medizinerinnen, französische Astronominnen, italienische Freiheitskämpfer, griechische Philosophinnen oder rumänische Dichterköniginnen. Zudem fällt die antikatholische, antiklerikale und protestantische Einfärbung des Geschichtsbildes in den Neuen Bahnen auf: Luther wird als Vorkämpfer der Frauenemanzipation, als erster Gründer systematischer Mädchenschulen gefeiert und zur Legitimation der zeitgenössischen Emanzipationsforderungen herangezogen. Würde Luther in der Gegenwart noch leben, so Auguste Schmidt in ihrem Artikel »Luther und die Erziehung der Mädchen« (Bd. 11/1, 1876: 2-4), würde er, ebenso wie er in seinem Jahrhundert die religiösen Missstände kritisiert habe, nun die ökonomischen und geistigen Beschränkungen der Frauen aufs Schärfste geißeln. Dass sich Frauen in der deutschen Geschichte auskennen sollten, war ein Anspruch, den die Herausgeberinnen der Neuen Bahnen an ihre Leserinnen stellten. Unter deutscher Geschichte wurde dabei vornehmlich die Geschichte der Nationalbewegung verstanden. Deutsche Geschichte war noch nicht auf Preußen fokussiert. Statt dessen wurde das Studium der sächsischen oder badischen Geschichte empfohlen, da diese Staaten in der Verwirklichung von Verfassung und

47 Die italienischen Freiheitskämpfer gehörten »nicht Italien allein […], sondern der ganzen Menschheit« und alle Nationen sollten sich vereinigen, sie zu lieben und zu ehren. So die Buchbesprechung zu Ludmilla Assings Piero Cironi: Ein Beitrag zur Geschichte der Revolution in Italien, NB, Bd. 3/15, 1868: 119-120. 48 L.O.: »Zum 150. Jubiläum eines Schriftstellers für das Frauenrecht«, NB, Bd. 26/7, 1881: 50-51.

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Frauenrechten – so etwa durch die erstmalige Abschaffung der Geschlechtsvormundschaft in Sachsen 1831 – vorangegangen seien: »Sachsen leuchtete in der Reformation voran und Sachsen war auch nächst Baden der fortschrittlichste Staat in Bezug auf Verfassung und Rechtspflege. Speciell auch auf die Stellung der Frauen. In Sachsen ward bereits 1831 die Geschlechtsvormundschaft aufgehoben […]« (Bd. 9/24, 1874: 192). Intentionale Geschichte In den Neuen Bahnen konzentrieren sich die historischen Themen auf die – damalige – Zeitgeschichte, d.h. die Jahre seit der Französischen Revolution und damit auf die Jahre, die in die Zeitspanne des kommunikativen Gedächtnisses oder der Mitlebenden fielen. Während Staatengeschichte weitgehend fehlte, finden sich neben geistes- und ideengeschichtlichen Themen – die sich meist auf die geistigen und literarischen Leistungen von Frauen konzentrierten – Ansätze einer Behandlung von Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, etwa eine Geschichte der Nähmaschine (Bd. 1/10, 1866: 75-76) oder der Seidenraupenzucht (Bd. 5/3, 1870: 17-20). In diesen Beispielen zeigt sich die Anbindung der historischen Themen an die Lebenswelt und mögliche Arbeitsbereiche der Leserinnen. Insgesamt ist die Darstellung durch einen stark intentionalen Zugriff auf Geschichte gekennzeichnet: Die Geschichte der Freiheits- und Revolutionsbewegungen wird als Teil der eigenen Geschichte begriffen. Der Verweis auf die geistigen und wissenschaftlichen Leistungen historischer Frauengestalten diente dazu, die Bildungsforderungen der Gegenwart zu untermauern und »das Gerede von der Unfähigkeit der Frauen für den Eintritt in das Reich der Wissenschaft niederzuschlagen« (Bd. 12/23, 1877: 184). Zuschreibung feministischer Forderungen an berühmte Männer der Weltgeschichte wie z.B. Luther legitimierten die eigenen Forderungen der Gegenwart und stellten diese perspektivisch in eine sittliche Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der Menschheit. Es wurden vornehmlich historische Werke von Männern und Frauen der ›Bewegung‹, häufig ehemaligen 1848ern, besprochen und zur Lektüre empfohlen. Wenn es sich um Bücher zur Geschichte herausragender Frauen handelte, die von konservativen Autorinnen geschrieben worden waren, wurden diese deutlich kritischer besprochen. So sei etwa Fanny Arndts49 Der Frauen Antheil an der modernen Weltge-

49 Fanny Arndt war eine preußische Schriftstellerin und Historikerin, die auf dem populären historischen Buchmarkt erfolgreich mit zahlreichen Schriften vertreten war (Nissen 2009: 77).

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schichte zwar nicht in der Absicht der Frauenbewegung geschrieben worden, habe ihr aber dennoch gedient. Arndts Fazit, dass sich Frauen selten zum Besten des Landes in die Politik eingemischt hätten, da ihr Versöhnungstrieb hinter der Lust an der Intrige zurückgestanden sei, müsse man nicht unbedingt zustimmen. Die von Arndt als lobende Beispiele angeführten Regentinnen bewiesen jedoch, dass Frauen, würde man sie nur lassen, nicht zum Mittel der List greifen müssten und trefflich regieren könnten. Den Leserinnen und Lesern der Neuen Bahnen wurde also nahegelegt, die im Buch aufgeführten ›Fakten‹ in einer kritischsubversiven Lesart zu einer anderen Geschichtsdeutung zusammenzufügen (Bd. 12/1, 1877: 7-8). Selbsthistorisierung seit den 1890er Jahren und sich wandelnde zeitliche Erwartungshorizonte In den Neuen Bahnen wurden, wie in der damaligen ebenso wie der heutigen Geschichtskultur üblich, Jubiläen als Erinnerungsanker benutzt. Zwar betonte Auguste Schmidt die Willkürlichkeit des 25-jährigen oder 30-jährigen Erinnerns (Bd. 26/1, 1891: 1), doch hinderte dies sie und ihre Autorinnen nicht daran, häufig davon Gebrauch zu machen. In Jubiläumsartikeln wurde die Geschichte der Frauenbewegung, lokaler Frauenbildungsvereine oder Mädchenschulen thematisiert.50 Seit den 1890er Jahren setzten eine Reflexion der eigenen Geschichte und eine Historisierung der Frauenbewegung ein, die mit dem 25- bzw. 30-jährigen Bestehen des ADF und der Zeitschrift selbst zusammenfiel.51 Diese Selbsthistorisierung lief parallel zur Verbreiterung der Frauenbewegung zu einer Massen-

50 Die Jubelfeiern selbst wurden ›historisch‹ begangen: So war die Feier anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Städtischen Höheren Schule für Mädchen in Leipzig von einer theatralen Aufführung »historischer Bilder«, die Frauen in der Reformation sowie in den Befreiungskriegen darstellten, begleitet (NB, Bd. 31/21, 1896: 184). Heute würden wir dies unter Reenactment oder living history fassen. 51 Siehe u.a. Louise Otto: »Zum 25jährigen Bestehen des Frauenbildungsvereins Leipzig«, NB, Bd. 25/4, 1890: 25-29; Auguste Schmidt: »Das zweite Vierteljahrhundert«, NB, Bd. 26/1, 1891: 1-3; »Ein Artikel von Louise Otto aus dem Jahre 1847«, NB, Bd. 30/24, 1895: 193-195; Auguste Schmidt: »Die Entstehung und Bedeutung der Frauentage in Deutschland«, NB, Bd. 30/17, 1895: 179-180; Clara Claus: »Vor dreissig Jahren«, NB, Bd. 31/6, 1896: 50; Henriette Goldschmidt: »Wir sind die Alten«, NB, Bd. 31/6, 1896: 49; Henriette Goldschmidt: »Die Hochschule für das weibliche Geschlecht in Hamburg, gegründet 1850«, NB, Bd. 33/19, 1898: 197-200; Auguste Schmidt: »Die Zeit und wir!«, NB, Bd. 33/1, 1898: 1-2.

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bewegung, der Ausdifferenzierung der Bewegung und zum Aufkommen von Konkurrenz durch die proletarische, die konfessionelle, aber auch die ›junge Generation‹ der radikalen Frauenbewegung, die sich aus der ›gemäßigten‹ bürgerlichen Frauenbewegung herauslöste. Im historischen Rückblick in den Neuen Bahnen wurden die unterschiedlichen Generationserfahrungen und vor allem die Prägung der ersten Generation der Frauenbewegung durch die 1848er Revolution betont. Henriette Goldschmidt hob in ihrem Beitrag »Wir sind die Alten!« hervor, dass es ein Vorzug der Älteren sei (»wenn es je ein Vorzug genannt werden kann, älter zu sein als die Jugend«), dass sie den Aufbruch der 1840er Jahre miterlebt hätten. Wer diese Jahre bewusst erlebt habe, der sei ihr kein Fremder, sondern zu diesem habe sie eine innere Beziehung (Bd. 31/6, 1896: 49). Die 1860er Jahre und das Wiederaufleben der Frauenbewegung wurden retrospektiv als jene »ersten Zeiten des Sturmes und Dranges« (Bd. 33/10, 1898: 103) wahrgenommen. Es wird betont, wie groß die gesellschaftlichen Anfeindungen und der Charakter des Neuartigen der Frauenbewegung in diesen ersten Jahren waren (Bd. 30/17, 1895: 130). Die jetzige »junge« Frauenbewegung wolle von ihren Vorgängerinnen nichts wissen und erfinde das Rad vermeintlich neu. Doch seien lediglich die Geschwindigkeit, in der Veränderung erwartet würden und die Aktionsformen – Protestversammlungen statt gemeinnütziger Tätigkeit – andere, nicht aber die grundsätzlichen Forderungen, die alle schon einmal da gewesen seien – so Natalie von Milde in ihrer Bilanzierung »Alte und neue Frauenbewegung« (Bd. 33/23, 1898: 251). In den 1890er Jahren setzte eine systematischere Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Bewegung ein. Es wurde versucht zu bestimmen, was tatsächlich neu an der organisierten Frauenbewegung der 1860er war und welche Stationen wichtig waren: Benannt wurden in den Neuen Bahnen als zentrale Wegmarken die Poesie, die Landtagsverhandlungen und die freireligiöse Bewegung des Vormärz, die Frauenvereine der Revolutionszeit, die Frauen-Zeitung Louise Ottos 1849-1852, die Hamburger Frauenhochschule 1850-1852 und schließlich die Vereinsgründung 1865 sowie die in unterschiedlichen Städten abgehaltenen Frauentage (Bd. 30/24, 1895: 193-195). Gleichzeitig wurde die Traditionslinie der Bewegung immer weiter nach hinten verlegt und durch »Thatemanzipierte« wie Hypathia oder astronomische Forscherinnen der Neuzeit wie Marie-Jeanne de Lalande oder Caroline Herschel (Bd. 30/16, 1895) erweitert. Die feministische Ahnenlinie wurde immer länger und ihr wurden auch Frauen zugerechnet, die ihren Handlungsspielraum erweitert hatten, ohne in ihrer Zeit schon grundsätzlich über Frauen- und Menschenrechte zu reflektieren – seien dies runenkundige, singende Sagafrauen und Skaldinnen oder gar Eva, über die mit etwas Augenzwinkern in einem Artikel 1898 zu lesen war:

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»Eva, welche dem Verbot zum Trotz die erste Frucht vom Baume der Erkenntnis brach, war entschieden die erste Frauenrechtlerin. Sie ist uns heutigen mit leuchtendem Beispiel voran gegangen. Sie hat uns gelehrt, zu stehlen und zu naschen, ehe es uns vergönnt ist, von aller geistigen Nahrung frei zuzulangen und uns damit zu sättigen. Und sie hat uns gelehrt, für so ehrenvollen Diebstahl zu leiden, bis man einsieht, daß es eben kein Diebstahl, sondern unser gutes Menschenrecht ist.«52

Als Vertreterin der älteren, nun abtretenden Generation reflektierte die 65jährige Auguste Schmidt in dem Artikel »Die Zeit und wir!« 1898 ihre Erfahrungen in und mit der Frauenbewegung. In den stürmischen Anfängen der 1860er Jahre, im »ersten Kindesalter der Frauenbewegung«, sei sie noch überzeugt davon gewesen, dass in weniger als dreißig Jahren die Bewegung an ihr Ziel gelangt wäre. So hatte sie damals vor verdutzten und geschockten Lehrerkollegen verkündet: »In 30 Jahren sitze ich im Landtag!« In der Zwischenzeit habe sie aber »das langsame Reisen der Ideen und Rechte der Menschheit« erkannt. Damit einher ging ein justierter zeitlicher Erwartungshorizont: Nun hing für sie von der »Qualität der zukünftigen Generation studierter Frauen« ab, »wie schnell oder wie langsam wir im 20. Jahrhundert vorrücken«. Sie hoffte an ihrem Lebensabend »nicht wieder im Zeitmaß zu irren, wenn ich im Geiste im Jahre 1950 die Frauen an der ihnen längst vertrauten Wahlurne sehe und weibliche Abgeordnete im Parlament erblicke« (Bd. 33/1, 1898: 1-2). Auguste Schmidt schrieb dies zu einem Zeitpunkt, als es noch zwei Jahre dauern sollte, bis mit der badischen Universität Freiburg die erste deutsche Universität ihre Toren für Frauen öffnete. Zwei Jahrzehnte später, 1918, erhielten Frauen im Deutschen Reich schließlich das Wahlrecht. Auch diesmal also hatte sich Auguste Schmidt im Zeithorizont geirrt, denn der Zeitgeist der »Ideen und Rechte der Menschheit« war nicht immer langsam unterwegs, sondern konnte mitunter plötzlich schnelle Fahrt aufnehmen. Über die Geschichtskonstruktionen in den Neuen Bahnen und das sich Einschreiben dieser ersten Generation von Feministinnen in die Geschichte blitzt ein Teil ihrer Identitätskonstruktion auf – als Teil der Generation der 1848er, verbunden mit den europäischen National- und Menschenrechtsbewegungen der Gegenwart und Vergangenheit. Ihre nicht-hegemoniale, gleichwohl intentionale, vom Fortschritts- und Modernisierungsnarrativ beherrschte Geschichtsdeutung stellte nicht große Männer und Staaten, sondern herausragende Frauen, soziale und demokratische Bewegungen sowie humanistische Ideen ins Zentrum. Die

52 N. v. Milde: »Alte und neue Frauenbewegung«, NB, Bd. 33/23, 1898: 249.

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Frauenbewegung konstruierte damit eine Gegengeschichte, die mit den Paradigmen der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft an den Universitäten – preußisch-kleindeutsch, auf Staaten, Monarchie, Kirche, Diplomatie, große Männer und Ideen zentriert – nur wenig gemein hatte. Die konsequent intentionale Geschichtskonstruktion der Frauenbewegung mag aus wissenschaftlichhistoristischer Sicht irritieren, sie erscheint aus politischer und feministischer Perspektive allerdings nachvollziehbar und funktional.

F AZIT

UND ABSCHLIESSENDER

V ERGLEICH

Der Vergleich der Geschichtsdarstellungen in britischen und deutschen feministischen Zeitschriften bringt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede an den Tag. So vertreten alle hier ausgewerteten Zeitschriften ein Geschichtsbild, das vom Gedanken des allgemeinen Fortschritts der Menschheit geprägt ist und eine teleologische, aufklärerisch gefärbte Sicht von Geschichte propagiert, bei der große Frauen (und Männer) der Emanzipations- und Befreiungsbewegungen sowie Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen der Vergangenheit als Vorbilder dienen. Auffällig ist in den britischen wie deutschen Beispielen, dass im national imprägnierten 19. Jahrhundert Frauengeschichte nicht national beschränkt war, sondern eine dezidiert transnationale Ausrichtung hatte und historische Identifikationsfiguren aus Europa und vereinzelt selbst von außerhalb Europas für die ›eigene‹ Traditionsbildung reklamiert wurden. Gemeinsam ist den feministischen Zeitschriften des Weiteren eine intentionale Geschichtsbetrachtung. Sie konstruierten eine tendenzielle Gegengeschichte zur ›allgemeinen‹ Historie, die Frauen und ihre Erfahrungs- und Lebensbereiche systematisch vernachlässigte, wie viele Artikel in metahistorischen Reflexionen betonten. Dem wurde in der Praxis der Zeitschriften selbst eine weibliche Historiographie in doppelter Hinsicht entgegengesetzt: Frauen sollten nicht nur in die Geschichte eingeschrieben werden, sondern diese auch selbst schreiben. Programmatisch inkorporierten die feministischen (und auch einige nichtfeministische) Frauenzeitschriften Frauen in die Geschichte und schufen so eine für Frauen identitätsstiftende ›eigene‹ Historie. Dabei machten sie deutlich, dass die Suche nach Frauen in der Geschichte eine Perspektiverweiterung hin zu Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte mit sich brachte. Im Vergleich zu den nichtfeministischen Frauenzeitschriften verfolgten die feministischen hierbei ein bewusst ›seriöses‹ Programm, das ›typisch‹ weibliche Bereiche wie die Geschichte der Mode, des Haushalts und der dekorativen Handarbeit weitgehend aussparte

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und stattdessen die Geschichte weiblicher Berufstätigkeit oder Bildungsleistungen in den Vordergrund rückte. Geschichte diente den Frauenbewegungen als Ressource, um ihre politischen Forderungen zu legitimieren. Sie lieferte Nachweise über historische Leistungen von Frauen in Kunst, Wissenschaft, Erwerbsleben und Politik, mit denen sich Ansprüche auf erweiterte Handlungsspielräume in der Gegenwart untermauern ließen. Aus diesem Grund war es den Zeitschriften auch wichtig, dass ihre Leserinnen sich mit Geschichte beschäftigten. Neben diesen vielen Gemeinsamkeiten deutet sich als Unterschied an, dass die Neuen Bahnen Geschichte stärker politisch fokussierten und instrumentalisierten als die Zeitschriften der frühen britischen Frauenbewegung. Der Grund hierfür liegt möglicherweise in den nachwirkenden und noch vorhandenen politischen Restriktionen im Kaiserreich – der Unterdrückung der demokratischoppositionellen Bewegungen nach der gescheiterten Revolution von 1848/49, der gebremsten politischen Modernisierung im Kaiserreich, dem 1878 erlassenen Sozialistengesetz sowie dem bis 1908 in vielen deutschen Staaten geltenden Vereinsgesetz von 1850, das die Partizipation von Frauen an politischen Vereinen verbot. Es könnte aussagekräftig sein, weiterzuverfolgen, ob und wie sich die Geschichtskonstruktionen in den 1890er Jahren mit den sich ausdifferenzierenden und expandierenden Frauenbewegungen veränderten – in Deutschland mit der Ausbildung des sozialistischen, des konfessionellen sowie des radikalen Flügels, in Großbritannien mit der sich nun formierenden radikalen Suffragettenbewegung. Eine andere weiterführende Frage wäre, ob die transnationalen Gemeinsamkeiten in den Geschichtsbildern und feministischen Traditionsstiftungen die gesteigerten nationalen Antagonismen im Zeitalter des Hochimperialismus und des Ersten Weltkriegs überlebten.

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Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand: Populäre Repräsentation von Geschlecht und politischer Gewalt im 19. Jahrhundert S YLVIA S CHRAUT

Es war im Juli 2011, da erregte ein blutiges Attentat in Norwegen höchste mediale Aufmerksamkeit. Anders Behring Breivik tötete in einem Überfall über 70 Jugendliche eines internationalen Ferienlagers. In einem Bekennerschreiben kritisierte er die staatliche Obrigkeit wegen ihres Umgangs mit der Eingliederung von Migranten und rief zu einem neuen Kreuzzug gegen den Islam auf. Die Bluttat provozierte die gewünschte mediale Wirkung. Einige wenige Tage waren die Zeitungen, die Fernsehberichte und das Internet voll von Berichten über die Horrorereignisse in Norwegen. In der Sendung Kulturzeit bei 3sat zog die Journalistin Susan Christely historische Vergleiche: »Breivik ist gegen alles Liberale. In seinem Manifest erklärt er, warum er gemordet hat. Er ruft auf zum Kreuzzug gegen den Islam. Das Attentat war eine wahnhafte Werbung für seine Botschaft. Doch schon lange vor dem Internet gab es Attentäter, die ihre Ideologie aufschrieben: Charlotte Corday ermordete den Jakobinerführer Jean Paul Marat. Der reaktionäre Autor Karl August von Kotzebue fiel dem Messer des Burschenschaftlers Ludwig Sand zum Opfer. In jüngerer Geschichte war es zuletzt die RAF, die gezielt Repräsentanten ihres Feindbilds ermordeten« (Christely 2011).

Mit der hier gezogenen Entwicklungslinie des modernen politisch motivierten Attentats steht die Journalistin keineswegs allein. Jenseits von kleinen Ausflügen in das Alte Testament (Judith) oder in die Endphase der antiken römischen Republik (Brutus) gelten in vielen populären und populärwissenschaftlichen Darstellungen Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand als Urmutter bzw. Urvater

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politisch motivierter Anschläge und des Terrorismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Dass die Traditionssuche zumeist ihren Startpunkt bei Attentätern im Kontext der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses nahm und nimmt, ist nicht weiter verwunderlich. Es sind die Jahrzehnte, in denen der Dritte Stand antrat, sich eine auf Menschen- und Bürgerrechten aufbauende verfasste Nation zu erkämpfen. Es ist auch diejenige Epoche, in der sich eine mediale Öffentlichkeit entfaltete, in der um ›richtige‹ und ›falsche‹ Politik, um die Legitimität des bestehenden Herrschaftssystems gestritten werden konnte und sollte. Es ist überdies die kulturelle Entwicklungsphase, in der frühneuzeitlich religiös konnotierte Begriffe wie Held und Märtyrer verweltlicht auf die politische Sphäre übertragen wurden und in der die ersten politisch motivierten Attentate der Neuzeit stattfanden, mit denen die Ausführenden ihre Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zu einem Aufstand gegen das als illegitim interpretierte Herrschaftssystem provozieren wollten. Das viel zitierte Statement »one man’s terrorist is another man’s freedom fighter«, als dessen Urheber der britische Journalist Gerald Seymour, Autor zahlreicher bekannter Romane über politische Gewalt, gilt,1 charakterisiert auch die heftigen Debatten, die beide Attentate unmittelbar nach ihrer Durchführung provozierten und den langen Nachhall, der beiden Ereignissen folgte. Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand entwickelten sich jedoch nicht nur zu beliebten Protagonisten in Lyrik, historischem Roman und auf der Bühne. Sie wurden als Prototypen des politisch motivierten Gewalttäters und der politisch motivierten Gewalttäterin eingespeist in die jeweiligen Debatten über zeitgenössische Formen politischer Gewalt – so den Anarchismus im späten 19. Jahrhundert, den Linksterrorismus in den 1970er Jahren oder den islamistischen Terrorismus heute. Doch mit der Konstruktion einer Traditionskette von politischen Gewalt- und Terrorakten seit der Französischen Revolution übernahmen die solchermaßen verankerten journalistischen und belletristischen Deutungen auch die Geschlechterstereotypen, welche die Debatten um die politisch motivierten Frühformen des Terrorismus seit der Wende zwischen 18. und 19. Jahrhundert begleiten. Beide Stränge – die Einspeisung der Attentate von Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand in eine ›terroristische‹ Entwicklungslinie in populären Darstellungen, vor allem aber die hiermit verbundene Tradierung von Geschlechterstereotypen des frühen 19. Jahrhunderts – stehen im Folgenden zur Debatte.

1

»First written by Gerald Seymour in his 1975 book Harry's Game«, so jedenfalls: (http://wiki.answers.com/Q/Who_said_one_man%27s_terrorist_is_another_man%27s _revolutionary#ixzz1eKmkRMLU). Zugriff am 6. Juni 2012.

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Beginnen wir mit Charlotte Corday. Die historischen Fakten sind rasch benannt. Marie Anne Charlotte Corday d’Armont (1768-1793), Tochter eines nichterbenden verarmten Adeligen, lebte, soweit historisch belegbar, das typische Leben einer unverheirateten kleinen Adeligen des Ancien Regime. Als girondistische Anhängerin des neuen französischen bürgerlichen Verfassungsstaats misstraute sie der Radikalisierung der Revolution. Ihre Angst vor einem Bürgerkrieg zwischen den revolutionären Parteien führte zu dem Entschluss, Jean-Paul Marat als Repräsentanten des terroristischen Flügels der Revolution zu töten. Sie begriff ihre Vorhaben als Signal für einen politischen Aufbruch der gemäßigten Revolutionäre gegen den beginnenden Terreur. Am 9. Juli 1793 reiste sie nach Paris, erkämpfte sich am 13. Juli unter einem Vorwand den Zugang zu Marats Wohnung und verwundete ihn mit einem Messerstich tödlich. Ihrer sofortigen Festnahme folgte eine rasch anberaumte Gerichtsverhandlung und die Enthauptung Cordays nur vier Tage nach ihrem Mordanschlag. Die Tat erregte zeitgenössisch ungeheures Aufsehen. Nahezu unmittelbar setzte ein Prozess mythischer Überhöhung beider Personen ein. Stilisierte das jakobinische Frankreich Marat schlechthin zum Märtyrer der Revolution, so erwies sich Charlotte Corday insbesondere im Ausland als bestens geeignete schillernde Projektionsfläche für die liberalen Revolutionsfreunde, welche die revolutionären Ziele, nicht jedoch die gewaltsamen Methoden zu ihrer Durchsetzung begrüßten. Dass Corday den Kampf gegen die revolutionären Gewaltexzesse aufgenommen hatte, indem sie eben diese Gewalt selbst anwandte, tat der beginnenden Heldenverehrung wenig Abbruch. Als schwieriger einzuordnen erwies sich dagegen der Umstand, dass es sich bei dem Verteidiger der revolutionären Freiheit um eine politisch und gewaltsam handelnde Frau handelte, war doch das revolutionäre Frankreich gerade dabei, die eben erworbenen Bürgerrechte des weiblichen Geschlechts erneut zu beschneiden. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst ist auf den raschen Beginn und das ungeheure Ausmaß der literarischen Bearbeitung des Attentats im In- und Ausland hinzuweisen (Stephan 1989). Auch zahlreiche bekannte deutsche zeitgenössische Autorinnen und Autoren fühlten sich bemüßigt, zumindest einen kleinen Beitrag zur künstlerischen Bearbeitung des Corday-Stoffes zu leisten. Um nur einige zu nennen: Christoph Martin Wieland nahm sich des Themas als Herausgeber an (Gaum 1793), Christine Westphalen veröffentlichte eine breit rezipierte Corday-Tragödie (Westphalen 1804), Caroline Philippine de la Motte Fouqué lieferte einen Roman über das »Heldenmädchen aus der Vendée« (Fouqué 1816). Am bekanntesten dürfte die Bearbeitung des Corday-Stoffes durch Jean Paul sein. Er griff die Mordtat in dem von ihm, Friedrich Gentz und Johann Heinrich Voss herausgegebenen Ta-

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schenbuch für 1801 (Jean Paul 1800) auf und legte eine zweite überarbeitete Fassung 1809 im dritten Anhang zu »Dr. Katzenbergers Badereise« vor (Jean Paul 1809). Die Novelle wurde in den folgenden Dekaden häufig wieder aufgelegt: 1840 etwa wurde sie selbständig gedruckt (Jean Paul 1840), sie erschien außerdem mehrfach im Kontext der Badereise oder des Gesamtwerks, insbesondere seit Ende der 1860er Jahre. Insbesondere die frühen Bearbeitungen der Mörderin Corday als Sympathieträgerin der Kritiker der Terreur sind Gegenstand literaturwissenschaftlicher Bearbeitungen geworden (Beise 1992). Der Corday-Stoff blieb während des gesamten 19. und ebenso im 20. Jahrhundert nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland Thema zahlreicher literarischer und dramatischer Bearbeitungen. Zwar mutierte die Heldin aus politischer Überzeugung im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur Täterin aus weiblich konnotierten Motiven, aber das Interesse an der politischen Mörderin versiegte nie ganz. Selbst in die Gartenlaube fand sie zweimal Eingang (Gottschall 1881; Polko 1865). In Deutschland legte zuletzt 1988 Sybille Knauss einen Roman über Charlotte Corday bei Hoffmann und Campe vor (Knauss 1988). Er wurde 1989 vom Deutschen Bücherbund aufgenommen und erschien 1995 bei dtv, was wohl als Hinweis auf großes Publikumsinteresse interpretiert werden darf. Jenseits der eigenständigen Bearbeitung des Lebens und Tods von Charlotte Corday zogen im Gefolge der Entwicklung des Anarchismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Reihe von literarischen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen politischen Gewaltbereitschaft eine Entwicklungslinie von Charlotte Corday zu ›modernen‹ Attentäterinnen. So sind beispielsweise in der russischen Literatur seit den 1870er Jahren zahlreiche Belege für die Stiftung einer historischen Traditionslinie von Charlotte Corday zu den Anarchistinnen der eigenen Gegenwart zu finden. Gedichte und Flugblätter feierten beispielsweise Vera Zasuliþ, eine russische Anarchistin, die 1878 ein Attentat auf den Stadthauptmann von Sankt Petersburg durchführte, als Charlotte Corday. Marija Spiridonova, die als Führungsfigur der Sozialrevolutionäre 1906 den Gouverneur von Tambov, Luženovskij ermorderte, wurde von ihrem Anwalt mit »diesem tapferen und großartigen Mädchen« Charlotte Corday verglichen (Patyk 2012: 245). Neben der literarischen ist auch eine ›kriminalistische‹ Traditionslinie festzustellen, die Charlotte Corday als Urtypus weiblicher politisch motivierter Kriminalität konstruiert. Zu nennen ist hier beispielsweise Cesare Lombroso, Kriminalanthropologe und Gründungsfigur der Kriminologie, der sich im späten 19. Jahrhundert mit der Persönlichkeit des ›geborenen‹ Verbrechers befasste und insbesondere dem politischen Verbrecher große Aufmerksamkeit widmete. Eine

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Übersicht Lombrosos über politisch motivierte Straftäter bzw. »Revolutionäre aus Leidenschaft« beginnt mit einem Bildnis Charlotte Cordays, als weitere weibliche Täter werden eine Reihe russischer Nihilistinnen abgebildet: u.a. Sof‫ތ‬ja Perovskaja, Mitglied der russischen Sozialrevolutionäre, verwickelt in das tödlich endende Attentat auf den russischen Zaren 1881, und die schon erwähnte Vera Zasuliþ (Lombroso 1896: Tafel XLIX; Vukadinoviü 2012). Die hier angelegte kriminologische Entwicklungslinie setzte sich fort zumindest bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. So sind beispielsweise im Handwörterbuch der Kriminologie im Artikel »Attentat«, verfasst vom damaligen ›Terrorismusexperten‹ Wolf Middendorf, sechs Frauen namentlich aufgeführt: Charlotte Corday, die schon mehrfach genannte Vera Zasuliþ, des Weiteren Tat‫ތ‬jana Leont‫ތ‬ev; sie erschoss 1906 einen Kurgast, im Glauben, er sei der frühere russische Innenminister Ivan Durnovo (Middendorf 1979). Weiter aufgezählt werden im Übrigen Fanni Kaplan, eine Sozialrevolutionärin, die 1918 auf Lenin schoss, weil er in ihren Augen die Revolution verriet, schließlich Lynette Fromme und Sara Moore, Mitglieder der Manson-Sekte. Sie unternahmen 1975 Attentatsversuche auf den amerikanischen Präsidenten Henry Ford. Auf den Punkt brachte es schließlich der Terrorismusforscher Walter Laqueur. Er schrieb: »Charlotte Corday is the first truly modern terrorist heroine« (Laqueur 2001: 169). Parallel zur politisch-literarischen und kriminologischen terroristischen Traditionssuche hat auch die feministische Literatur nicht wenig zu dieser Traditionsstiftung beigetragen. Hier ist nicht der Raum, diese Entwicklungslinie im Detail zu verfolgen. Deshalb seien einige Beispiele nur kurz erwähnt: Schon Carry Brachvogel (1864-1942), viel gelesene feministische jüdische Autorin der Weimarer Republik, 1942 in Theresienstadt gestorben und heute vergessen, legte 1920 eine populärwissenschaftlich gehaltene Darstellung mit dem Titel »Eva in der Politik« vor. Darin heißt es: »Politische Mörderinnen sind seltene Erscheinungen. […] Man muss schon in sagenhafte Zeiten zurückgehen, bis zur Judith, die in der Brautnacht den Holofernes tötete, um eine richtige politische Mörderin aufzuspüren. Allerdings hat Judith in modernsten Tagen Nachfolgerinnen gefunden, in den russischen Nihilistinnen, die immer wieder, hauptsächlich aber vor dreißig, fünfunddreißig Jahren, mit Bomben und Revolver gegen die Bedrücker ihres Vaterlandes losgingen. Zwischen der hebräischen Judith und der russischen Nihilistin steht einsam Charlotte Corday, das Mädchen aus Caen, die ungewöhnliche Tochter einer ungewöhnlichen Zeit« (Brachvogel 1920: 64f.).

Auch die heute vergessene Etta Federn (1883-1951), bekannte feministische Anarchistin und Autorin der Zwischenkriegszeit, betrieb in ihrem spanischen

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Exil weibliche revolutionäre Traditionsstiftung und nahm in ihre Darstellung unkonventioneller Frauen mit dem Titel »Revolutionär auf ihre Art« neben linken Politikerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen eine Reihe von mordenden Anarchistinnen auf. Die Reihe der gewaltbereiten Politikerinnen eröffnete auch in dieser Darstellung Charlotte Corday, gefolgt von Vera Figner (1852-1942), beteiligt an der Attentatsplanung auf Zar Alexander II. 1881. Weitere Artikel behandeln die Frauenrechtlerin Emeline Pankhurst (1858-1928), die bekanntermaßen selbst vor Bombenanschlägen nicht zurückschreckte, und schließlich die Anarchistin Emma Goldman (1869-1940) (Federn 1997). Jüngst (2009) publizierte Michaela Karl eine Sammlung von historischen Frauenbildern unter dem Titel »Streitbare Frauen«. Den Reigen eröffnete auch hier Charlotte Corday, gefolgt unter anderem von der 1848erin Mathilde Franziska Anneke, der friedensbewegten Bertha von Suttner und Clara Zetkin, den Anarchistinnen Vera Figner und Emma Goldmann sowie schließlich der »Königin der Banditen«, Phoolan Devi (Karl 2009). Welche geschlechtsspezifischen Zuschreibungen hat das Corday-Bild in den letzten zwei Jahrhunderten durchlaufen? Kennzeichnend für die Darstellung Charlotte Cordays war von Anfang an eine Irritation über das Geschlecht der Marat-Mörderin. Dass eine Frau zu einer solchen, noch dazu politisch motivierten Tat fähig war, befremdete Befürworter und Gegner gleichermaßen. Die liberalen sympathisierenden Zeitgenossen retteten sich in eine Vermännlichung ihrer mit Jean D’Arc oder Brutus verglichenen »erhabnen Männin« (Stephan 2004) oder in eine metaphysische Entrückung und Überhöhung ihrer Heldenfigur, ihres »Engels des Mordes«, wie Lamartine schrieb (Lamartine zitiert nach Lombroso/Laschi 1892: 68). Solchermaßen der trivialen weltlichen Weiblichkeit entzogen, ließ sich Charlotte Corday leichter bewundern. Beide Strategien konnten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung des bürgerlichen Geschlechtermodells und zunehmender Distanz zu revolutionärer Gewalt nicht ernsthaft aufrecht gehalten werden. Was blieb, war zum Einen der Versuch, typische weibliche Motive für die Mordtat zu finden, etwa die weibliche Rache für den jakobinischen Mord an einem Geliebten, Freund oder Verwandten, zum Anderen die Strategie, die göttliche Entrücktheit der Heldin in eine verweltlichte Variante zu transformieren. Als Beispiel kann die Charakterisierung dienen, die Emma Adler, Sozialistin und breitenwirksame Schriftstellerin der Wende zum 20. Jahrhundert, in einer frühen und bemerkenswert fundierten Darstellung der Frauen der Französischen Revolution lieferte: »Das einzige Bildnis, das von ihr existiert, ist knapp vor ihrem Tode verfertigt worden. Es zeigt eine ungemeine Sanftheit. Nichts steht weniger im Zusammenhang mit der blutigen

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Erinnerung, die ihr Name heraufbeschwört, als ihr Äußeres. Es ist das Gesicht eines jungen Mädchens aus der Normandie, ein jungfräuliches Gesicht in seiner Frühlingsblüte. Sie sieht viel jünger aus als sie ist, als sonst Mädchen von 25 Jahren aussehen. […] Sie hat aschblonde Haare, sie trägt ein weißes Häubchen und ein weißes Kleid. In ihren Augen liegt ein Ausdruck des Zweifels und der Traurigkeit. Dem Stärksten mögen, so entschlossen er auch immer sei, im letzten Augenblick fremdartige Zweifel aufsteigen. Wenn man genau in ihre traurigen und sanften Augen blickt, fühlt man noch etwas, das vielleicht ihr ganzes Schicksal erklärt: Sie war immer einsam gewesen! Ja, das ist das einzige wenig Zuversichtliche, das man in ihr findet. In diesem entzückenden, guten Wesen war jene unheilvolle Macht, der Dämon der Einsamkeit« (Adler 1906: 26f.).

Ähnliche Charakterisierungen als ›sanft‹ und ›einsam‹, wenn nicht gar ›somnambul‹ finden sich in zahlreichen weiteren sympathisierenden oder neutralen Darstellungen, die der unmittelbaren zeitgenössischen Kommentierung der Ereignisse folgten. Betont wird häufig: Charlotte Corday habe keine Liebe zu einem Mann gekannt – dass sie noch Jungfrau war, hatte schon die Gemüter der Zeitgenossen bewegt. Sie sei in ihrer Tugendhaftigkeit und Sanftheit weltlichem Geschehen entrückt gewesen, unberührt von weiblichen Interessen und Wünschen, ganz dem hehren Ideal verpflichtet und diesem gemäß handelnd; mithin, so lässt sich folgern, keine Frau aus Fleisch und Blut. »So ist ihre Wesensverwandtschaft mit der Jeanne d’Arc sinnfällig«, erläuterte beispielsweise noch der zeitgenössisch viel gelesene Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewn in seinem 1937 erstmals publizierten Roman über Charlotte Corday. »Alle beide verträumten ihre Jugend in Wolken ahnungsvoller Schwermut, alle beide erscheinen sie in ihrer Unnahbarkeit wie Cherube gepanzert mit siebenfachem Erz gegen alles menschliche Begehren.« (Reck-Malleczewen 1947: 179). »Charlotte Corday, die Sanfte mit dem Dolch«, schrieb die Feministin Salomé Kestenholz noch 1984, » […] bewegt durch das Schicksal Ulrike Meinhofs, anderer Frauen und die in der Folge entstandene Verketzerung der emanzipierten Frau« (Kestenholz 1988: 9, 16). Mit einer Entsexualisierung und Entrückung ihres Analyseobjekts begnügten sich die gegnerischen Kritiker der Mörderin Corday und ihrer Nachfolgerinnen indes nicht. Doch auch in ihren Augen stellte das Geschlecht der politischen Mörderin ein Rätsel dar. Das politische Attentat drohte in ihren Augen die Grenzen der herrschenden Geschlechterrollen zu beschädigen. Bereits anlässlich der Gedenkfeier für Marat, die wenige Wochen nach dem Attentat stattfand, sprach Marquis de Sade von der Meuchelmörderin als einem jener »zwitterhaften Wesen, denen man kein Geschlecht zuerkennen kann, sie wurde zur Verzweiflung beider Geschlechter aus der Hölle gespien und gehört selbst keinem von ihnen

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an« (Sade 1978: 81). Der Kriminologe Lombroso dozierte 1891 über die russischen Revolutionärinnen im Gefolge von Charlotte Corday: »Petersburg zählt 168.000 unverheiratete oder vom Mann getrennt lebende Frauen und 98.000 verheiratete, dagegen 112 geschiedene Frauen und 24 geschiedene Männer. Die Konsequenzen dieses Zustandes sind evident. […] Den Frauen wird ihr natürlicher Wirkungskreis entzogen, und sie wenden sich der Politik zu. […] Hier finden sich jene Studentinnen oder, wie sie sich nennen, ›Weib-Männer‹, die ernste Verschwörungen stiften, reichen Erben nachjagen, um die Bundeskasse zu füllen, die Gefangene entführen, die Schliesser bestechen, als Zofen oder Krankenpflegerinnen überall Eingang finden und eine Propaganda machen, in der sie einzig sind. Deshalb nennt sie Bakunin seinen ›kostbarsten Schatz‹« (Lombroso/Laschi 1891: 230).

Dem Wiener Psychoanalytiker und Schriftsteller Fritz Wittels gelang es 1908 schließlich, die ursprünglich eher positiv konnotierte Einsamkeit der politischen Attentäterin und ihre geschlechtsspezifische Rollenverweigerung zusammenzufügen. Er war überzeugt: »Die weiblichen Attentäter sind die feuerspeienden Berge der eingeschmiedeten weiblichen Libido.«. Und weiter: »Die Vereinsamung der weiblichen Attentäter politischer Observanz mag freiwillig oder unfreiwillig sein, das Endergebnis ist das gleiche und heißt Sexualablehnung: sie wollen nicht küssen« (Wittels 1908: 32). Die hier konstruierte Interpretationslinie der freiwilligen oder unfreiwilligen Geschlechterrollenverweigerung wirkt bis heute weiter. Dies lässt sich an den Auseinandersetzungen mit den Terroristinnen der 1970er Jahre in den populären Medien beobachten. Lassen sich entsprechende Muster für männliche politische Gewalttäter feststellen? Dem männlichen Prototypen des modernen Terroristen, dem Theologiestudenten Karl Ludwig Sand, gelang ein ähnlich medienwirksamer Auftritt wie Charlotte Corday. Auch in seinem Fall muss eine kurze Attentatsgeschichte genügen. Am 23. März 1819 traf der Jenaer Student der protestantischen Theologie und Burschenschaftler in Mannheim ein. Jean Pauls Heldengeschichte über Charlotte Corday im Gepäck, kopierte er nahezu ihre Vorgehensweise. Er erschlich sich den Zutritt in die Privatwohnung des russischen Staatsrats August von Kotzebue, eines bekannten Lustspieldichters, Verfassers konservativer politischer Ergüsse und Feindfigur der national und liberal orientierten Studentenschaft, und verwundete diesen mit mehreren Dolchstichen tödlich. Kotzebue galt ihm als Verräter am liberalen Nationalstaatsprogramm. Den Mordanschlag wollte der Täter als Initialzündung zu einer neuen demokratischen Revolution verstanden wissen. »Auf! Ich schaue den großen Tag der Freiheit! Auf, mein Volk, besinne dich, ermanne, befreie dich« (Sand 1819), schrieb er in einem Bekenner-

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schreiben. Die drohende Gefangennahme vor Augen entschloss er sich für den Freitod, der ihm allerdings nicht vollständig gelang. Sorgfältig zurück ins Leben gepflegt, musste er sich einer langwierigen polizeilichen und gerichtlichen Untersuchung unterziehen, die schließlich mit dem Todesurteil und der öffentlichen Hinrichtung durch Enthaupten über ein Jahr später, am 20. Mai 1820, ihr Ende fand. Vom liberalen Publikum frenetisch als Freiheitsheld gefeiert, vom konservativen Publikum als fehlgeleiteter Schwärmer abgetan, diente er den deutschen Obrigkeiten zur Legitimierung der Karlsbader Beschlüsse. Der erhoffte Aufstand unterblieb. Wahre Wirksamkeit entfaltete das Bild des Meuchelmörders indes als Prototyp des mordenden bürgerlichen Freiheitshelden im politischen Schrifttum, in literarischen Bearbeitungen und auf der Bühne. Jenseits der heftigen Diskussionen in der Tagespresse erschienen allein zwischen 1819 und 1821 um die 50 selbstständige Schriften, die sich mit der Mordtat Sands auseinandersetzten (Schraut 2012). Bis heute lassen sich circa 140 selbständige politische Schriften, wissenschaftliche Aufsätze in unterschiedlichen Disziplinen, wenige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen und mehr als 30 poetische, literarische oder dramatische Bearbeitungen nachweisen. Auf eine ruhige Phase ab 1821 und vergleichsweise wenig gesteigerter einschlägiger Publikationstätigkeit im Vormärz erhob sich erst in den 1880er Jahren deutlich neues Interesse, das sich in den 1890er Jahren noch verstärkte und nach der Jahrhundertwende wieder nachließ. Insbesondere in den wenigen Jahren der Weimarer Republik, aber auch im Dritten Reich erhielt die Sandrezeption neuen Auftrieb, diesmal aus national-chauvinistischer Richtung. Danach fand das Attentat erst seit den 1960er, verstärkt seit den 1970er Jahren erneute Aufmerksamkeit, ein Sand-Boom, der bis heute anhält. In langer Zeitlinie lässt sich mit dem Publikationsanstieg in den 1880er/1890er Jahren, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, und schließlich seit den 1970er Jahren durchaus ein Zusammenhang mit der jeweils aktuellen Zunahme von politischer Gewalt und Terrorismus beobachten. Es ist – nicht weiter verwunderlich – das tagespolitisch motivierte Interesse, das die historische Wurzelsuche antrieb und antreibt. Ernsthafte fachwissenschaftliche Monografien sind ähnlich wie im Falle Charlotte Cordays vergleichsweise rar (Müller 1923). Die jüngste Publikation legte 2009 Marlene Möller vor. Der Roman trägt den Titel: »Seelenheimweh: vom kurzen Leben und langen Sterben eines Terroristen« (Möller 2009). Kennzeichnend für die zahlreichen Bearbeitungen ist die Vereinnahmung des ›Heldenjünglings‹ für die jeweiligen politischen Bestrebungen der Verfasser. Vom liberalen Freiheitshelden wandelte sich Sand im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kämpfer für den Nationalstaat ohne Bezug auf Men-

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schen- und Bürgerrechte. Als solcher war er auch im völkischen und nationalsozialistischen Schrifttum verwendbar. Inspiriert von aktuellen Debatten über politische Gewalt mutiert Sand derzeit zum Terroristen. Damit knüpfen heutige Sand-Darstellungen an eine Traditionslinie an, die in Auseinandersetzungen mit politischer Gewalt und Anarchismus Sand als Nebenfigur oder Urvater moderner politischer Gewalt dem weiblichen Prototyp Charlotte Corday zur Seite stellten. Um nur einige Belege anzuführen: »An wen denkt der junge Mann heute, der eine große Tat träumt, heiße er Alibrando oder Sand? Wen sieht er in seinen Träumen? Das Phantom des Brutus? Nein, die hinreißend schöne Charlotte, so wie sie war, in dem düsteren Glanz des roten Mantels, in dem blutigen Widerschein der Julisonne, im Purpur des Abends«, so Jules Michelet, in seiner Darstellung über »die Frauen der Revolution« aus den 1850er Jahren (Michelet 1984: 190). »Karl Sand war sehr schön«, so der bereits zitierte kriminologische Experte Lombroso 1891, und weiter: »Wer bewundert nicht die harmonische, robuste Schönheit von Charlotte Corday, die der Perowskaja, der Kulischew, Orsinis?« (Lombroso/Laschi 1892: 62f.). Welche geschlechtsspezifischen Konnotationen lassen sich in der SandRezeption nachweisen? Nach den Darstellungen der sympathisierenden Zeitgenossen handelte es sich bei dem Attentäter um einen körperlich zarten, hochgebildeten sensiblen Jüngling. Die Liebe zum Vaterland, tief verankerte Religiosität und Tugendhaftigkeit paarten sich mit der festen Überzeugung, dass Tugend sich in Taten manifestieren müsse. »Er war sich seiner Sache gewiß, er hielt es für Recht, das zu thun, was er gethan, und so hat er Recht gethan«, schrieb der Berliner Gelehrte de Wette und schrieb sich damit um seinen Lehrstuhl (Heusenstein 1907: 250). Insgesamt wurde ein Bild wehrhafter Manneskraft entworfen, das die militarisierte Männlichkeit der Freiheitskriege mit politischer Religiosität einfärbte und mit Elementen romantischer Sensitivität beziehungsweise Sensibilität anreicherte. Dem männlichen Heldenbild der liberalen Unterstützer Sands schlossen sich die Kritiker des Mordes indes nicht an. Typisch ist die Bewertung, die der zeitgenössisch bekannte Strafrechtler und Staatswissenschaftler Carl Ernst Jarcke in einer umfassenden psychologisch-kriminalistischen Erörterung 1831 vorlegte (Jarcke 1831).2 Demnach handelte es sich bei Sand um einen durch Krankheiten in der Kindheit in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurückgebliebenen und schwermütigen Jüngling, dessen Schriften nicht eben von Rationalität

2

In dem mir vorgelegenen Exemplar hat ein Leser den Verfasser auf dem Titelblatt mit dem handschriftlichen Zusatz »Erz-Philister« charakterisiert; ein Graffiti, das von der Heftigkeit der Debatten zumindest noch in den 1830er Jahren zeugen mag.

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und logischem Denken zeugten. Jarcke zeichnete das Bild eines emotional geleiteten religiösen Fanatikers. Gemeinsam ist allen zeitgenössischen Sandkritischen Schriften eine in den Grundlagen ähnliche Charakterisierung des Delinquenten, die sich in Bezeichnungen wie ›verwirrt‹, ›schwärmerisch‹ oder ›fanatisch‹ zusammenfassen lässt, mithin weiblich konnotierten Begriffen, die deutlich machen, dass Sand als politisch handelnder Mensch nicht ernst zu nehmen ist. So stand in der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die Persönlichkeit Sands ein männlich an den politischen Gegebenheiten leidender Held einem weiblich konnotierten verwirrten Un-Erwachsenen gegenüber. In dem Maße, in dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politische Gewalt an Legitimität auch im oppositionellen politischen Lager verlor, konnten sich Gegner und Befürworter des Attentats auf die Deutung Sands als Schwärmer verständigen. In einem weiteren Punkt schlugen kritische und wohlwollende zeitgenössische Beobachter einen gemeinsamen Kurs ein: im Herausstellen der Mutter als desjenigen Elternteils, der auf den Werdegang des Attentäters besonderen Einfluss ausgeübt habe. Die Absenz des Vaters »gab der ihn sorgfältigst erziehenden Mutter Gelegenheit, das Gemüthliche in ihm auf den höchsten Grad der Verhältnisse des Lebens zu steigern«, schreibt ein Verteidiger Sands (Wahrmund 1819: 93). Auch die gegnerischen Schriften weisen ihr hohe Bedeutung für den Werdegang des Sohnes zu. In der Brockhaus-Ausgabe von 1827 schließlich gehen die diagnostizierte Schwärmerei des Delinquenten und der mütterliche Einfluss eine enge Verbindung ein: »Sand«, so ist zu erfahren, »erhielt eine sorgfältige Erziehung, die vorzüglich seine (schwärmerischen Ansichten nicht unempfängliche) Mutter geleitet haben mag«.3 Das Deutungsangebot, die mütterliche Erziehung habe das Ihre dazu beigetragen, die weiblich konnotierten Anlagen des Mörders und seinen Hang zur Schwärmerei zu stärken, ist von historischen Darstellungen, vorzugsweise aber von den literarischen und für die Bühne gedachten Versionen des Sandstoffs in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten gerne aufgegriffen worden. In der Wahl zwischen der Sicht auf den Täter als weiblich anmutendem Schwärmer oder männlichem Helden entschieden sich insbesondere die deutschtümelnden, völkisch und nationalistisch beeinflussten Darstellungen Ende des 19. Jahrhunderts während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches für den positiv konnotierten heldenhaften männlichen Jüngling. Dessen Wesen und Denksystem mochte allerdings vielfältige weibliche Elemente aufweisen und seine Männlichkeit musste bisweilen durch deutliche Distanz zum weiblichen Geschlecht

3

»Sand«. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Conversations-Lexikon in 12 Bänden, 7. Auflage, Bd. 9, Leipzig 1830, S. 626-631.

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unter Beweis gestellt werden. Beschrieben wurden implizit oder explizit geschlechtliche Widersprüche in Sands Wesen, die sich jedoch vor dem großen nationalen deutschen Ziel in der Bereitschaft zur (Mord-)Tat auflösten, ein mit sich selbst gewonnener ›Geschlechterkampf‹ und ein politischer Mord, der den Betrachtern bei allen moralischen Skrupeln offensichtlich auf diffuse Weise Hochachtung abnötigte. Von solcher Bewunderung sind heutige literarische Bearbeitungen frei. Der weiblich konnotierte Schwärmer und Fanatiker dient indes immer noch zur Charakterisierung Sands. »Was zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein Einzelfall war, ist zur weltweiten Bedrohung geworden. Ein diffus zuschlagender Terror hält die Menschheit in Atem«, so die Verlagsbeschreibung des jüngsten Sand-Romans der Autorin Marlene Möller aus dem Jahr 2009. »Der Roman begleitet Sand auf seinem Weg von der Kanzel zum Schafott, und der Gesprächsrahmen zieht Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wobei er die seelischen und biographischen Hintergründe derjenigen Eigenschaft beleuchtet, die man meistens Fanatismus nennt; sie hat aber auch andere Namen: Hass, Größenwahn, Fundamentalismus«.4

F AZIT Welche Schlüsse sind aus der Entwicklung der medialen Auseinandersetzungen mit dem weiblichen oder männlichen Prototypus des politischen Attentäters oder Terroristen in Genderperspektive zu ziehen? Kennzeichnend für ihre frühen Charakterisierungen war nicht zuletzt das Infragestellen ihrer geschlechtlichen Identität. Gemessen am neuen bürgerlich republikanischen Gendermodell, das Frauen den Rückzug von der politischen Bühne nahelegte und ihre Rolle auf die Erziehung gebildeter republikanisch gesinnter Kinder beschränkte, konnte es sich bei einer aus politischen Motiven mordenden Frau nur um ein Wesen handeln, das mit der ihr zugeschriebenen Geschlechterrolle nicht zurechtkam oder zurechtkommen wollte. Ähnlich erging es ein Vierteljahrhundert später letztlich auch dem neuen männlichen Repräsentanten politischer Gewalt. Angesichts der beginnenden Entfaltung des bürgerlich/demokratischen Politikmodells, das die Gemeinschaft politikfähiger, das heißt vernunft- und redebegabter Männer als Basis des aufzubauenden Verfassungs- und Rechtsstaats begriff, schien es sich bei einem Verfechter politischer Gewalt um einen Mann zu handeln, der zur ge-

4

Verlagsbeschreibung zu Möller (2009): (http://www.wjk-verlag.de/langbeschreibun gen/zzz_kategorie_jera.htm). Zugriff am 6. Juni 2010.

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forderten politischen Rationalität nicht fähig war. Entsprechend lagen weiblich und emotional konnotierte Attribuierungen nahe. Ein solchermaßen charakterisierter Mann konnte in der Folge eigentlich kein ›richtiger‹ Mann sein. Dem republikanischen Männlichkeitskonzept stand freilich insbesondere im letzten Drittel des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein völkischnational(istisch)es Männlichkeitsbild konkurrierend gegenüber, das Gewaltbereitschaft zum männlichsten aller männlichen Attribute erhob, ohne sich in der Rezeption von Attentätern von deren weiblichen Konnotierung gänzlich lösen zu können. Verblüffend sind die vielfältigen Verbindungslinien, die seit dem 19. Jahrhundert im populären Schrifttum über politische Gewalt immer wieder zu Corday und Sand gezogen wurden und werden. Es scheint, als provoziere stets aufs Neue die Konfrontation mit der drohenden politischen Gewalt, mit dem bedrohlichen Terrorismus, die populärwissenschaftliche Beschäftigung mit ›vertrauter‹ politischer Gewalt in der Geschichte. Jenseits zeitbedingter Besonderheiten belegen die Corday- und Sandrezeption, dass sich in der zeitgenössischen wie in der nachfolgenden Nutzung der Medien als politische Kampfarena viele geschlechtsspezifisch konnotierte Deutungs- und Legitimationsmuster abzeichnen, die noch in aktuellen Mediendebatten um terroristisches Geschehen wirksam sind. Auch gegenwärtig steht im Falle gewaltbereiter Frauen der »erhabnen (und damit unweiblichen) Männin« das weibliche Familienmitglied gegenüber, das nur als Teil eines Familienverbandes gewaltbereit agieren kann, oder aber die Frau, die die Grenzen ihrer Geschlechterrolle negiert. Auch heute changiert das Bild des typischen (islamistischen) Terroristen zwischen dem weiblich konnotierten emotionalisierten, manipulierten, auch verwirrten schwachen Verlierer (der Globalisierung) in der Perspektive seiner Gegner und dem männlich konnotierten mutigen, heldenhaften zu Tod und Märtyrerschaft bereiten Jüngling in der Perspektive seiner Anhänger. Doch es sind nicht nur die Begriffe und Bilder, die aus der Geschichte übernommen werden, sondern auch die ihnen innewohnenden Deutungskontexte und Normen. Sie färben mit ihrem historisch-politischen Beigepäck aktuelle Terrorismusdebatten zumindest ein.

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Ein kompromissloser Blick aus der weiblichen Perspektive? Geschlechterkonstruktionen im Geschichtscomic am Beispiel von Gift S YLVIA K ESPER -B IERMANN

Im frühen 19. Jahrhundert erregte ein Bremer Kriminalfall überregionales Aufsehen: Nach ihrer Verhaftung im Jahr 1828 gestand die 43-jährige Gesche Margarete Gottfried in einer Reihe von Verhören dem Untersuchungsrichter, seit 1813 insgesamt 15 Menschen aus ihrem Umfeld mit Gift ermordet zu haben, darunter ihre beiden Ehemänner, ihre Kinder, Eltern und ihren Bruder. Sie wurde 1831 mit dem Schwert auf dem Domshof öffentlich hingerichtet. Dieses »historische Drama«, so der Klappentext, behandeln Peer Meter (Text und Szenario) und Barbara Yelin (Zeichnungen) in ihrem 2010 erschienenen Comic Gift (Meter/Yelin 2010). Er steht in dreifacher Hinsicht beispielhaft für neuere Entwicklungen auf dem Comic-Markt: Zum einen ist der Comic in Deutschland entstanden, das sich zunehmend von einem Importland zu einer Produktionsstätte von Bildergeschichten entwickelt. Zum anderen behandelt er einen historischen Stoff; seit den 1980er Jahren ist eine stetige Zunahme geschichtlicher Themen in den Alben zu verzeichnen. Schließlich stehen drittens Frauen im Zentrum der Handlung eines lange Zeit durch männliche (Haupt-)Figuren geprägten Mediums. Das Werk eignet sich deshalb besonders gut für die Untersuchung von Geschlechterkonstruktionen im Geschichtscomic.1 Die folgenden Ausführungen gehen in drei Schritten vor. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Darstellung von Frauen und Weiblichkeit – auf die ebenfalls denkbare Untersuchung der Konstruktionen von Männlichkeit in Bil1

Für die Lektüre des Manuskripts und hilfreiche Anregungen danke ich Jeannette van Laak.

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dergeschichten wird verzichtet, da eine solche doppelte Blickrichtung auch aufgrund des Forschungsstandes im Rahmen dieses Beitrages nicht zu leisten ist. Der erste Teil behandelt Definition und Entwicklung des Geschichtscomics in Deutschland. Anschließend werden allgemeine Tendenzen im Hinblick auf Typologien, Themen und Zugänge des Geschichtscomics in geschlechtergeschichtlicher Perspektive vorgestellt. Der dritte Teil nimmt eine exemplarische Analyse von Geschlechterkonstruktionen im historischen Comic am Beispiel von Gift vor. Ein Fazit fasst die Ergebnisse zusammen.

G ESCHICHTSCOMICS

IN

D EUTSCHLAND

Obwohl geschichtswissenschaftliche Forschungen zu Gedächtnis und Erinnerungskulturen in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt haben, sind Comics als Teil der populären Aneignung von Geschichte in modernen Gesellschaften – zumindest in Deutschland – erst vereinzelt betrachtet worden. Studien liegen etwa zur Darstellung der DDR (Kramer 2002) oder des Holocaust im Comic vor (Behringer 2009; Frahm 2006). Einige Aufmerksamkeit ist zudem jüngst in geschichtsdidaktischer Perspektive dem Einsatz von Comics im Schulunterricht gewidmet worden (Gundermann 2007; Mounajed 2009). Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die deutsche Comic-Forschung in den letzten Jahren zugenommen hat (Stein 2011). Die Analyse der Bildergeschichten in geschlechtergeschichtlicher Perspektive steckt hingegen noch in den Anfängen. In Anlehnung an die Definition von Scott McCloud werden Comics hier verstanden als zu räumlichen Sequenzen angeordnete bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und ästhetische Wirkungen beim Betrachter erzeugen (McCloud 2001: 17). Aufgrund der typischen Kombination von Bildern, Sprache und Symbolen spricht das Medium die Leserinnen und Leser auf emotionaler Ebene an. Auf diese Art und Weise wird eine sinnliche Erfahrung des Historischen möglich (Pirker/Rüdiger 2010: 17). Mit dem Begriff ›Geschichtscomic‹ werden im Folgenden solche Comic-Alben bezeichnet, deren Handlung in der Vergangenheit spielt und die vornehmlich ein erwachsenes Publikum unterhalten wollen. Insofern sind sie vom Comic-Journalismus bzw. vom Reportage- oder dokumentarischen Comic abzugrenzen, der sich journalistisch mit aktuellen Ereignissen, vor allem mit Krisen und Kriegen, beschäftigt.2 Eine weitere

2

Vgl. dazu demnächst die Ergebnisse der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung in Passau 2011: Dietrich Grünewald (Hg.) (2013): Der dokumentarische Comic: Reportage und Biographie. Essen: Ch. A. Bachmann Verlag.

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Einschränkung betrifft die Intention: Da es um populäre Repräsentationen von Geschichte geht, werden keine Comics einbezogen, die sich in dezidiert didaktischer bzw. schulischer Zielrichtung an ein jugendliches Publikum richten.3 Die Frage der Authentizität und ›Richtigkeit‹ der historischen Darstellung, welche die geschichtsdidaktische Literatur im Hinblick auf den Schulunterricht ausführlich diskutiert, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Belang. Es handelt sich ferner ausschließlich um eigenständige Publikationen, also Comic-Alben, keine Kurzgeschichten oder Fortsetzungsserien in Printmedien. Geschichtscomics bilden seit den 1950er Jahren einen Bestandteil der in Deutschland erscheinenden Bildergeschichten. Ihr Anteil am gesamten Comicmarkt lässt sich nicht genau beziffern; es liegen aber erste Angaben zur Zahl von Geschichtscomics vor. Die von René Mounajed zusammengestellte »GeschichtsComicographie« nennt insgesamt 361 bis zum 1. Mai 2008 erschienene Einzeltitel und Reihen; bis zum Februar 2012 sind noch weitere 35 hinzugekommen.4 Fast 90 Prozent aller in Deutschland herausgegebenen Geschichtscomics entfallen auf die letzten 30 Jahre, mit einem Höhepunkt in den 1990er Jahren. Eine Umkehrung des Trends zeichnet sich derzeit nicht ab, denn berücksichtigt man zusätzlich diejenigen Alben, die erneut aufgelegt wurden, kommt man auf 119 Publikationen allein in den letzten zehn Jahren. Dieser enorme Anstieg hängt mit generellen Entwicklungen des Mediums in den 1980er Jahren zusammen, die sich nach Kagelmann durch formale, künstlerische, mediale und inhaltliche Innovationen auszeichneten (Kagelmann 1991: 49f.). Die Hinwendung zum »Realismus« und zum Individuum gehörten dazu (Dolle-Weinkauff 1990: 297-299). Die Öffnung für eine breite Palette an geschichtlichen Themen ist demnach in diesen Zusammenhang einzuordnen. Häufig wird der Beginn der ›HistorienWelle‹ auf den 1979 zuerst in Frankreich, 1981 in Deutschland erschienenen ersten Band der Reihe Reisende im Wind (Les Passagers du Vent) von François Bourgeon datiert (Gundermann 2007: 35). Gleichzeitig spiegeln sich in der sprunghaften Zunahme historischer Themen im Comic das steigende öffentliche Interesse und die Zunahme populärkultureller Repräsentationen von Geschichte in anderen Medien und Genres seit den 1980er Jahren (Korte/Paletschek 2009: 9).

3

Neuere Beispiele: Jacobson, Sid /Ernie Colón (2010): Das Leben von Anne Frank: Eine grafische Biographie, Hamburg: Carlsen; Heuvel, Eric/Ruud van der Rol/Lies Schippers (2007): Die Suche, Amsterdam: Schroedel.

4

Vgl. die Auflistung bei Mounajed 2009: 203-274. Die Jahre (Mai) 2008-2012 nach eigener Zusammenstellung, für Unterstützung dabei danke ich Janina Wolff.

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Wie der Verweis auf die französische Serie Les Passagers du Vent andeutet, handelt es sich nicht um eine speziell deutsche Entwicklung, vielmehr ist auch in anderen Sprach- und Kulturräumen seit etwa 30 Jahren eine Zunahme historischer Themen in den Bildergeschichten zu verzeichnen. Sie sind in die Betrachtung miteinzubeziehen, denn (Geschichts-)Comics lassen sich sinnvoll nur im transnationalen Zusammenhang untersuchen (vgl. das Plädoyer von Stein 2011) – unter anderem weil sie aufgrund der Bild-Symbol-Text-Kombination für Transfers und Übersetzungen besonders geeignet erscheinen. Die globale Zirkulation von Geschichtscomics und deren Einfluss auf die transkulturelle Übertragung von Geschichtsbildern ist allerdings noch nicht erforscht worden.5 In jüngster Zeit, etwa seit der Jahrtausendwende, zeichnen sich Veränderungen hinsichtlich der Produktion von Geschichtscomics in Deutschland ab. Während diese über Jahrzehnte bestenfalls stagnierte, gibt es nun eine wachsende Zahl deutscher Comiczeichnerinnen und -zeichner, die bevorzugt historische Themen wählen.6 Es scheint, als habe sich eine neue Generation von Künstlern das lange als eher fremd – sei es dem US-amerikanischen oder franco-belgischen Kulturraum zugehörig – empfundene Medium durch die Rezeption gegenwärtiger transnationaler Tendenzen angeeignet. Vermutlich bildeten die Vereinigung der beiden deutschen Comic-Traditionen nach 1989 sowie ein Generationswechsel an den Kunsthochschulen spezifisch deutsche Bedingungen, die begünstigend hinzukamen (Platthaus 2010). Blieb die Rezeption der in der alten Bundesrepublik sowie in der DDR entstandenen Geschichtscomics im wesentlichen auf den eigenen (teil-)nationalen Raum beschränkt, entstehen die aktuellen Alben als Teil eines transnationalen (Geschichts-)Comic-Raums und werden entsprechend wahrgenommen. Einige der neuen Werke, darunter auch Gift, sind in andere Sprachen übersetzt worden.7

5

Für 2013 ist allerdings folgender Sammelband angekündigt: Stein, Daniel/Shane Denson/Christina Meyer (Hg.) (2013): Transnational Perspectives on Graphic Narratives: Comics at the Crossroads, London: Bloomsbury.

6 7

Zum Beispiel Reinhard Kleist, Isabel Kreitz, Simon Schwartz, Barbara Yelin. Gift ist unmittelbar nach dem Erscheinen ins Französische übersetzt worden. (http://editionsdelan2.com/article.php3?id_article=305). Zugriff am 1. März 2013. Ein weiteres Beispiel ist die Castro-Biographie von Reinhard Kleist (Kleist 2010), die bereits ins Englische, Spanische, Französische, Griechische, Niederländische, Portugiesische und Chinesische übersetzt worden ist. (http://www.reinhard-kleist.de/?lang =de§ion=2&subsection=22). Zugriff am 1. März 2013.

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G ENDER UND G ESCHICHTSCOMIC : T YPOLOGIEN , T HEMEN , Z UGÄNGE Geschichtscomics transportieren über nationale und kulturelle Grenzen hinweg Geschichtsbilder. Blickt man auf die behandelten Epochen, spielt die überwiegende Mehrheit der ausgewerteten deutschen Comics mit fast drei Vierteln (73 %) in der Neuzeit; allein auf die Zeit nach 1800 entfallen knapp 56 % aller Neuerscheinungen seit 1950. Das starke Gewicht insbesondere der Zeitgeschichte ist eine relativ junge Entwicklung seit den 1980er Jahren, die bis in die Gegenwart zunimmt.8 Fragt man danach, ob und inwieweit Frauenfiguren in den historischen Bildergeschichten auftauchen, so kann man generell feststellen, dass ihnen im westlichen Comic, wenn überhaupt, lange nur Nebenrollen zukamen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, selbst im männlich dominierten Genre des (amerikanischen) Superhelden-Comics gab es seit den 1940er Jahren einige wenige Protagonistinnen wie Wonder Woman oder Catwoman. Das änderte sich in den 1990er Jahren im Rahmen der Bad Girl Art, als zunehmend weibliche Superheldinnen auftraten (Klähr 2006). Vergleichbares lässt sich für den Geschichtscomic feststellen. Bis weit in die 1980er Jahre hinein gab es überwiegend männliche Hauptfiguren, sei es bei den in der Bundesrepublik erschienenen Heldenabenteuern von Sigurd und Buffalo Bill, sei es in der DDR bei den Digedags und Abrafaxen oder in der Römerzeit des Asterix. Die wenigen weiblichen Charaktere erfüllten oft Rollenklischees, ohne als eigenständige Persönlichkeiten zu agieren. Die bereits als Auftakt der Historien-Welle genannte Reihe Reisende im Wind nimmt auch insofern eine Sonderstellung ein, als hier eine sich den klassischen Rollenzuschreibungen widersetzende Frau als Hauptprotagonistin auftritt. Seit dem Ende der 1970er Jahre erschienen in Deutschland im Zuge der Frauenbewegung erste Untersuchungen vor allem zu Frauendarstellungen im Comic (Knigge/Schnurrer1980; Knigge 1985) und es wurde auf die fehlende bzw. einseitige Repräsentation weiblicher Charaktere hingewiesen. Einige Zeichnerinnen wie Franziska Becker nutzten den Comic als Medium, um Frauenalltag und feministische Forderungen zu schildern. Diese grundsätzliche Infragestellung traditioneller Geschlechterkonstruktionen und -verhältnisse in Bildergeschichten erfolgte jedoch in der Regel in aktuellen Szenarien, nicht in historischen Kontexten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Geschichtscomic Feminax und Walkürax von 1992 über »ein von unbeugsamen Germaninnen bevölkertes Weiberdorf hoch über dem Rhein« (Becker 1992: 5). Erst der verfrem-

8

Errechnet nach der Einteilung von Mounajed 2009.

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dende Effekt, die Handlung in die Römerzeit zu verlagern, erlaubte nach Ansicht der ZEIT die feministische Aussage: »Der Sprung in die Vergangenheit macht es möglich. […] Jenseits der komplexen Realität gibt es bei den alten Germaninnen nur eine Wahrheit: ›Die spinnen, die Männer!‹« (Hösch 1992). Feminax und Walkürax stellte in Aufmachung und Zeichenstil unverkennbar eine Replik auf den im Jahr zuvor erschienenen Band 29 der Asterix-Reihe Asterix und Maestria dar. Dieser hatte in der für die Serie typischen gegenwartsbezogenen parodistischen Form den Feminismus anhand eines letztlich gescheiterten Aufstands der Frauen im Gallierdorf thematisiert und war vielfach als Verhöhnung der Frauenbewegung verstanden worden. Mit ihrer expliziten Behandlung von Geschlechterverhältnissen und deren Veränderung fanden die beiden Geschichtscomics zunächst jedoch keine Nachfolger. Doch setzten in den 1990er und vor allem in den 2000er Jahren auf anderen Ebenen deutliche Veränderungen ein. Die Feststellung von Andreas C. Knigge und Achim Schnurre aus dem Jahr 1980, dass »nur zu oft die Bilderfrauen ein Schattendasein als Statistinnen oder unterdrückte Sexualobjekte zu führen haben« (Knigge/Schnurre 1980: 139), trifft nicht mehr zu. In vielen Geschichtscomics kommen Frauen nun als Hauptfiguren und/oder als aktiv Handelnde vor; in langlebige Serien werden Protagonistinnen eingeführt. So erschien beispielsweise 2008 ein erstes Mosaik-Heft mit den drei Heldinnen Anna, Bella und Caramella. Weibliche Charaktere und ihre Handlungsmöglichkeiten werden in den neuen Alben vielfach komplex dargestellt; Geschlechterkonstruktionen und -verhältnisse folgen häufig keinem einfachen Schema, sondern werden in der Regel indirekt und implizit abgehandelt; eine direkte Thematisierung ist hingegen selten. Sie erfolgt bei den Reisenden im Wind etwa darüber, dass sich die weibliche Hauptfigur und ihre Gefährtin als Männer verkleiden. Den Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen im historischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die in mehrfacher Hinsicht als einengend und beschränkend für die Frauen beschrieben werden, können sie sich letztlich nur durch Flucht in eine andere bzw. neue Welt entziehen. Das bedeutet allerdings insgesamt nicht, dass es gegenwärtig keine Geschichtscomics mehr gäbe, die nicht (fast) ohne Frauen auskommen oder in ihrer Darstellung einfachen und traditionellen Schemata folgen. Auch dafür ließen sich einige Beispiele finden, insbesondere unter den Bildergeschichten, deren Handlung stark um Kämpfe, militärische und kriegerische Auseinandersetzungen kreist. Es ist also weniger von einer gänzlichen Ablösung traditioneller geschlechterstereotyper Muster als einer Pluralisierung und daraus resultierenden Vielfalt auszugehen. Quantitative Angaben über den allgemeinen Trend hinaus sind beim derzeitigen Forschungsstand nicht möglich.

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Noch schwieriger sind Aussagen über die Ursachen dieser Entwicklung. Darüber, ob sich Veränderungen in der Geschichtswissenschaft und die neueren Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte in den Geschichtscomics niederschlagen, lässt sich derzeit bestenfalls spekulieren. Plausibel erscheint ein Zusammenhang mit dem gleichfalls seit einiger Zeit festzustellenden Wandel in der Autorenschaft. Bestand diese lange fast ausschließlich aus Männern, beschäftigen sich nun zunehmend Frauen als Autorinnen gerade mit historischen Themen, auch wenn sie insgesamt nach wie vor unterrepräsentiert sind. Was die Leserschaft angeht, so war auch diese lange Zeit überwiegend männlich und es ist zu überlegen, ob eine möglicherweise sich verändernde Zusammensetzung des Publikums die Nachfrage nach weiblichen Charakteren steigert. Eine solche Entwicklung lässt sich zumindest eindeutig im Hinblick auf die japanische bzw. asiatische Bildergeschichten-Kultur des Manga feststellen, die seit den 1990er Jahren nach Deutschland kommt. Zeichnerinnen sind in Japan längst etabliert, was auch mit der differenzierteren Ausrichtung der Produkte zu tun hat: Während in Deutschland keine nennenswerte Tradition spezieller Mädchen- oder Frauencomics existiert, gab es schon früh Manga mit geschlechtsspezifischer Zielrichtung (Gundermann 2007: 54 ff.; Knigge/Schnurrer 1980: 139-147). Deren Erfolg bei einer weiblichen Leserschaft zeigt sich längst auch am deutschen Markt. Historische Themen spielen in diesem Segment insgesamt eine geringe Rolle, doch gibt es bekannte Ausnahmen wie die Abenteuer der Lady Oscar im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Ikeda 2003). Ob und inwiefern (direkte) Rück- und Wechselwirkungen, etwa über die Verlage, mit der zunehmenden Repräsentation von Frauen im Geschichtscomic in Deutschland bestehen, lässt sich nur vermuten. Es ist aber festzustellen, dass es inzwischen auch in Deutschland eine Reihe von Manga-Autorinnen gibt, die den asiatischen Stil für europäische historische Stoffe adaptieren. Ein aktuelles Beispiel ist Alpha Girl von Inga Steinmetz, das die (erotischen) Abenteuer eines Mädchens ebenfalls im Frankreich des 18. Jahrhunderts schildert (Steinmetz 2012). Die Kontexte, in denen Frauengestalten in den (westlichen) Geschichtscomics der letzten Jahre erscheinen, sind vielfältig und lassen sich nicht auf traditionell Frauen zugeschriebene Räume wie Familie und Haus oder allgemein die nicht-öffentliche Sphäre beschränken. Liebe und Sexualität spielen oft in unterschiedlichen Zusammenhängen und in verschiedenen Darstellungsformen eine Rolle. Das für Frauen- und insbesondere für Mädchencomics in der älteren Literatur teilweise als typisch bezeichnete Thema der romantischen Liebe kommt vor, ist aber kein durchgängiges Muster. Am deutlichsten taucht es in den Comics auf, die von den Verlagen (auch) für Kinder bzw. ein jugendliches Publi-

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kum als geeignet empfohlen werden. In ›Erwachsenencomics‹ kommen in Bild und Text vielerlei mögliche Formen von Sexualität vor, sei dies eine hetero- oder homosexuelle Orientierung, seien dies einvernehmliche oder gewaltsame, sadomasochistische oder andere Praktiken (Hubert/Kerascoët 2010). Ob, wie und in welchen Zusammenhängen Frauen erscheinen, hängt auch davon ab, welche Funktion Geschichte in den Comics übernimmt. Geschichte kann lediglich den Hintergrund bzw. die Kulisse für die Handlung bilden; ein Ereignis, eine Epoche oder eine Person der Vergangenheit können aber auch im Zentrum stehen. Unter Berücksichtigung dieses Stellenwertes von Geschichte sowie anderer Faktoren sind verschiedene Typologien von Geschichtscomics vorgeschlagen worden (Mounajed 2009; Pandel 1994). In Anlehnung an Christine Gundermann lassen sich folgende vier Arten unterscheiden (Gundermann 2007: 87ff.):9 Erstens die Comic-Geschichtsgroteske oder -parodie, in der der historische Hintergrund vor allem den Rahmen für die Ironisierung aktueller Lebensumstände darstellt. Sie ist auf die jeweilige Gegenwart gerichtet und der Humor steht im Vordergrund (so z. B. in Asterix). Auch bei der zweiten Form, der historisierenden Comic-Abenteuerimagination, dient Geschichte vor allem als Hintergrund, vor dem fiktive Figuren ihre Abenteuer erleben. Anders als bei der erstgenannten Gruppe spielt die Spannung eine größere Rolle als der Humor, oft sind Helden die Hauptfiguren und der Bezug zur Gegenwart wird nicht direkt hergestellt (so z.B. in Sigurd). Im Comic-Epochalepos stellt Geschichte drittens nicht nur den Rahmen bereit, sondern Hintergrund- und Vordergrundnarration sind miteinander verzahnt. Für die Erzählung sind die jeweiligen Zeitumstände wichtig; sie bedingen die Handlung und fließen mit ein. Häufig handelt es sich um eine Art historischen Roman, der eine Epoche vorstellt. Die Hauptfiguren sind meist erfunden, sofern historische Personen auftauchen, sind sie keine Hauptfiguren, sondern übernehmen Nebenrollen, wie z.B. in Berlin, steinerne Stadt (Lutes 2003). Viertens stellt die Comic-(Auto-)Biographie schließlich einzelne historische Personen in den Vordergrund und erzählt entweder Ereignisse und Abschnitte aus deren Leben oder sogar die ganze Lebensgeschichte wie z.B. im Comic Castro (Kleist 2010). Bei den Comic-Autobiographien sind Texter/in, Zeichner/in und Protagonist/in identisch; in dieser relativ neuen Form des Geschichtscomics wird meist die jüngere Vergangenheit thematisiert (so z.B. Persepolis, Satrapi 2011).

9

Die Funktion des Comics, als Quelle für seine Entstehungszeit zu dienen (»Quellencomic«), wird hier nicht einbezogen, da diese nicht spezifisch für Geschichtscomics ist, sondern auf alle Arten von Comics zutrifft.

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Frauenfiguren und Geschlechterverhältnisse scheinen vor allem in den beiden letztgenannten Formen des Geschichtscomics eine Rolle zu spielen. Der (auto-)biographische Zugang ermögliche einen »kompromisslosen Blick aus der weiblichen Perspektive«, schrieb etwa Comic-Zeichnerin Diane Noonin (Klähr 2006: 6). In einer solchen Perspektive erscheint diese Form als besonders geeignet, um sich mit Geschlechterkonstruktionen und -verhältnissen auseinanderzusetzen. Autorinnen und Autoren gegenwärtiger Geschichtscomics heben die in den Bildergeschichten zum Ausdruck kommende subjektive Sichtweise auf die Vergangenheit als deren besondere Qualität hervor und stellen sie wie Simon Schwartz einer »scheinbar faktisch objektiven Geschichtsschreibung« von Historikern gegenüber (Bünte 2012). Das dient einer bewussten Abgrenzung von der akademischen Geschichtswissenschaft und hebt auf einen alternativen Geschichtszugang ab, den der Comic bieten kann. In dieser Gegenüberstellung werden drei Punkte hervorgehoben: die bildliche Repräsentation der Vergangenheit im Comic gegenüber einer textlastigen Geschichtsschreibung, die emotionale Vermittlung des Historischen gegenüber einer bloß nüchtern auf den Verstand ausgerichteten Wissenschaft sowie die das Erleben und die Erfahrungen der Akteure betonenden Geschichtscomics gegenüber den auf Fakten und Ereignisse konzentrierten Geschichtsbüchern. An dieser Positionierung wird einerseits deutlich, dass hier mit einem (Gegen-)Bild von Geschichtswissenschaft gearbeitet wird, das nicht dem aktuellen Stand der Forschung und Reflexion innerhalb der Disziplin entspricht. Sie zeigt andererseits, dass der historische Comic, ähnlich dem Forschungstrend des letzten Jahrzehnts, offensichtlich parallel dazu eine gewissermaßen kulturgeschichtliche Wende vollzogen hat und sich auf die Akteure, deren Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungsspielräume konzentriert. Die Autorinnen und Autoren verstehen diese Form des Geschichtscomics als »ehrlich subjektiv«: Durch die künstlerische Bearbeitung und die Übertragung in das Medium der Bildergeschichte werde unmittelbar erkennbar, dass es sich lediglich um Deutungsangebote der Vergangenheit handele (Möller 2011). Diese Deutungsangebote können widersprüchlich sein, was wiederum die Geschichtscomics selbst thematisieren, beispielsweise die bekannte Szene aus Art Spiegelmans Maus, in der der autobiographische Erzähler seinen Vater mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Lagerkapelle in Auschwitz konfrontiert, die dessen Erinnerungen widersprechen (Spiegelman 2009: 212). In Packeis stellt Simon Schwartz die Rolle des Afroamerikaners Matthew Henson bei der Entdeckung des Nordpols 1909 sowohl aus dem Blickwinkel der (weißen) Geschichtsschreibung als auch der Sagenwelt der Inuit dar (Schwartz 2012).

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Die Betonung des Deutungsaspekts steht nicht im Gegensatz zu der Tatsache, dass sich die neuen Geschichtscomics oft durch akribische Detailgenauigkeit auszeichnen. Die Autorinnen und Autoren betreiben umfangreiche Quellenrecherchen, legen ihren Bildern zeitgenössische Fotos und Zeichnungen zugrunde oder reisen an die Schauplätze der Handlung (Möller 2011). Während der Kontext wie Kleidung, Straßenbild und (Alltags-)Gegenstände zeittypisch recherchiert wird, nutzt man bei Charakteren, Beziehungen und Handlungsmotiven den künstlerischen Gestaltungsspielraum. Gerade in dieser Kombination von vorgegebenem Rahmen und Fiktion scheint der besondere Reiz historischer Themen für die Comic-Autorinnen und – Autoren zu liegen. Das zeigt sich auch am Beispiel von Gift.

H ANDLUNGSSPIELRÄUME VON F RAUEN IM FRÜHEN 19. J AHRHUNDERT : D AS B EISPIEL G IFT Anhand des Albums Gift lassen sich eine Reihe der Merkmale des gegenwärtigen Geschichtscomics einschließlich der Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen exemplarisch zeigen. Wie eingangs bereits erwähnt, behandelt der Comic den Fall der Serienmörderin Gesche Gottfried im Bremen des frühen 19. Jahrhunderts. Gemäß der Geschichtscomic-Typologie ist er in die Kategorie der Comic-Biographie einer realhistorischen Person einzuordnen. Über die Person der Täterin nähert sich die Bildergeschichte dem Alltagsleben, den Kommunikationsmechanismen und den sozialen Strukturen in einer deutschen Stadt. Die Psychologie der Hauptfigur, die Motive für ihre Morde, aber auch die Frage, warum diese über einen Zeitraum von 15 Jahren unentdeckt blieben und welche Funktionen Aufdeckung, Strafprozess und Hinrichtung für die Bürgerschaft erfüllten, bilden zentrale Aspekte des Buches. Im Mittelpunkt stehen gesellschaftliche Verhaltensnormen, weiblicher Alltag, Erfahrungen und Handlungsstrategien im 19. Jahrhundert. Die Person Gesche Gottfried ist aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive besonders interessant, weil sie einerseits die von der bürgerlichen Geschlechterordnung vorgesehenen Aufgaben als Ehefrau, Hausfrau und Mutter erfüllte. Vor dem Bekanntwerden ihrer Taten wird sie im Comic ausschließlich im privaten Umfeld, beschäftigt mit häuslichen Tätigkeiten, gezeigt. Sie handelt auch dadurch gesellschaftlichen Verhaltensnormen entsprechend, dass sie die – von ihr vergifteten – Kranken aufopferungsvoll pflegt und die Verstorbenen betrauert. Selbst die Verwendung von Gift – in diesem Fall Arsen – einer bis heute als typisch weiblich angesehenen Form des Mordens (Weiler 1998), bestätigt ihre traditionell weibliche Rolle. Andererseits

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verstößt sie gleichzeitig besonders eklatant gegen die Frauen zugeschriebenen Handlungsmuster, indem sie nicht nur mehrfach tötet, sondern als Opfer ihre eigentlich zu liebenden Ehemänner und Kinder auswählt und ihr keine emotionalen Motive oder Affekthandlungen, sondern Kaltblütigkeit und Egoismus zugeschrieben werden. Der Comic geht jedoch über eine, seit den Lebens- und Pitavalgeschichten des 19. Jahrhunderts (Feilner 1831) immer wieder vorgenommene lineare biographische Schilderung von Leben und Tod der Gesche Gottfried hinaus, indem deren Geschichte in eine doppelte Rahmenhandlung eingebettet wird. Der Fall selbst nimmt nur einen vergleichsweise geringen Anteil in der Bildergeschichte ein. Dadurch gewinnt die Handlung an Komplexität und es werden zusätzliche Perspektiven auf weibliche Handlungsspielräume im 19. Jahrhundert möglich. Der Comic beginnt mit der Eisenbahnfahrt zweier nicht näher bezeichneter Frauen, beide offensichtlich Schriftstellerinnen, etwa 50 Jahre nach dem Tod der Serienmörderin. Dass der Zug umgeleitet werden muss, bietet den Anlass zu einer Rückblende der älteren Frau, die sich zur Zeit der Hinrichtung der Gottfried 1831 für zwei Tage in Bremen aufhielt. Sie schildert, wie sie, zufällig darauf aufmerksam geworden, dem Fall nachging und schließlich die Enthauptung der Mörderin miterlebte. Mit dieser Rahmenhandlung wird ein Alternativentwurf weiblicher Handlungsmöglichkeiten vorgestellt. Das zeigt sich schon am unterschiedlichen Alter und der unterschiedlichen Lebenssituation der beiden Frauen: Gesche Gottfried ist eine Frau mittleren Alters, sie war verheiratet und hatte Kinder. Die Erzählerin hingegen ist eine junge ledige Frau, die als allein reisende Schriftstellerin gerade nicht auf den privaten Bereich beschränkt ist, sondern sich selbständig und selbstverständlich im öffentlichen Raum, auch der Stadt, bewegt. Angesichts der Erwähnung eines reichen Elternhauses und der Begleitung durch eine Gouvernante wird nicht deutlich, ob sie mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt finanziert oder ob es sich eher um eine standesgemäße Freizeit- bzw. NebenBeschäftigung handelt. In jedem Fall stößt sie in Bremen durch ihr ›unweibliches‹ Verhalten wiederholt auf Unverständnis und Widerstände gerade auch von Männern in öffentlichen Funktionen. So erklärt der Verteidiger Gesches, Friedrich Leopold Voget: »Eine Frau sollte die Schuld des Lebens nicht durch Tun, sondern durch Leiden ertragen. Durch die Wehen der Geburt und durch die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem sie eine geduldige und aufheiternde Gefährtin sein soll«. Voget steht stellvertretend für die an dem Strafverfahren beteiligten Männer, die nicht nur über Gesche Gottfried, sondern auch über die Erzählerin urteilen. Diese erwidert: »Da wundert es mich nicht…wenn in dieser Stadt Frauen dahin kommen…ihre Männer zu vergiften!« (Meter/Yelin 2010: 70f.).

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Somit wird an einigen Stellen des Comics das Geschlechterverhältnis explizit thematisiert und reflektiert, wobei die modern anmutende Kritik an den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über eine fiktive zeitgenössische Figur in die Handlung eingebaut ist. Sie geht aber nicht so weit wie Rainer Werner Fassbinder in seiner Bearbeitung des Falles als Theaterstück und Fernsehfilm (Fassbinder 1983/1972): Dort erscheinen die Morde der Gesche Gottfried als emanzipative Akte der Befreiung, als Widerstandshandlungen gegen die Unterdrückung der Frau durch Männer. Abbildung 1: Thematisierung der Geschlechterordnung

Quelle: Gift, S. 71. Copyright Reprodukt/Barbara Yelin.

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Auffallend ist die zeichnerische Gestaltung des Comics. Er ist ganz in schwarzweiß gehalten und besteht ausschließlich aus verwischten Bleistiftzeichnungen. So entsteht insgesamt eine düstere Grundstimmung, die noch dadurch verstärkt wird, dass viele Szenen in dunklen Räumen, vor einem dunklen Hintergrund, spielen. Die Panelgestaltung ist klassisch mit einer Unterteilung jeder Seite in drei waagerechte Bereiche. Oft arbeitet die Zeichnerin mit sechs gleich großen Panels (vgl. Abb. 2); diese Struktur wird aber auch verschiedentlich durchbrochen, etwa durch verbundene Panels, die eine gesamte waagerechte Ebene einnehmen oder durch drei Panels pro Ebene (vgl. Abb. 1). Die Sprechblasen reichen oft über den Rand der einzelnen Bilder hinaus; viele Panels kommen auch ganz ohne wörtliche Rede aus. Daneben verwendet der Comic Texte am oberen oder unteren Panelrand. Sie enthalten Erläuterungen der Erzählerin aus der Rückschau oder Schilderungen beteiligter Personen aus der Erinnerung, beispielsweise des Pastors über seinen ersten Besuch als Seelsorger bei Gesche Gottfried in der Untersuchungshaft (Meter/Yelin 2010, S. 31f.). Aussagen der Serienmörderin über ihre Taten und Motive werden ebenfalls auf diese Art und Weise wiedergegeben, allerdings in Schreib- und nicht in Druckschrift, so dass sie deutlich von den Erinnerungen anderer Zeugen des Geschehens zu unterscheiden sind. Diese Passagen sind den Verhörprotokollen entnommen und stellen Quellenzitate dar. Das leitet über zur Frage nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion in der Geschichtsrepräsentation des Comics. Es wird nicht nur zu Beginn des Albums darauf hingewiesen, dass alle Textpassagen den Akten entnommen sind, sondern die Akten tauchen selbst in den Zeichnungen auf (vgl. Abb. 2). Der Rückbezug in Bild und Text auf die wichtigste Quelle dient dazu, die Authentizität des ›wahren‹ Falles und seiner Interpretation im Comic zu unterstreichen (Pirker/Rüdiger 2010). In dieselbe Richtung weist der »historische Überblick« im Anhang, in dem auch das zeitgenössische Porträt Gesche Gottfrieds abgebildet ist, das offensichtlich der zeichnerischen Darstellung der Comic-Protagonistin als Vorlage diente (Meter/Yelin 2010: 196-199). Wie bei vielen anderen populären Geschichtsrepräsentationen dient der Verweis auf die Authentizität des »historischen Dramas« und dessen weltweites Aufsehen, etwa im Klappentext, als wesentlicher Bestandteil von Werbungs- und Vermarktungsstrategien des Verlages.

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Abbildung 2: Authentizität durch Quellenzitate

Quelle: Gift, S. 55. Copyright Reprodukt/Barbara Yelin

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Betrachtet man nun die Personen, Schauplätze und Gegenstände des Comics unter diesem Gesichtspunkt, so lässt sich auch für Gift die Absicht feststellen, die Kulisse bzw. den Rahmen den Verhältnissen des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend darzustellen. Sowohl die Kleidung der Figuren als auch etwa das Stadt- und Straßenbild sollen ein Bild Bremens und des bremischen Stadtbürgertums im frühen 19. Jahrhundert bieten. Das wird am Schluss des Albums noch einmal besonders deutlich. Nach dem Hauptteil, der Rückblende auf die Hinrichtung der Gesche Gottfried, wird nämlich die Rahmenhandlung durch einen Besuch der beiden Frauen im Zug auf dem Bremer Domshof fortgesetzt und abgerundet. Auf die zeitliche Distanz von ca. 50 Jahren und die Veränderungen im Stadtbild weisen die Figuren explizit hin, indem die ältere Frau feststellt: »Der Dom hatte damals nur einen Turm. Auch die Häuser scheinen mir neuer« (Meter/Yelin 2010: 189). Darüber hinaus finden sich vor allem zu Beginn des Comics Verweise auf bekannte geschichtliche Personen wie Heinrich Heine, Bettina von Arnim oder Friedrich Nietzsche, die weniger der zeitlichen Einordnung als der Demonstration des Anspruchs dienen, historisch ›korrekt‹ zu erzählen. An Gift zeigt sich somit die oben allgemein festgestellte Tendenz des gegenwärtigen (deutschen) Geschichtscomics, Fakten und Fiktionen in der Art zu verbinden, dass ein detailgetreu recherchierter Rahmen mit einem Deutungsangebot der Vergangenheit, hier eines spektakulären Kriminalfalls, verbunden wird. Autor Peer Meter bestätigt das ausdrücklich: Er habe »auf der Grundlage von Polizei- und Prozessakten die historischen Fakten recherchiert«, heißt es auf seiner Homepage, und daraus sei »eine neue Sichtweise« auf die Täterin und ihr gesellschaftliches Umfeld entstanden.10

F AZIT Der Fall der Serienmörderin Gesche Gottfried fasziniert bis heute. Er ist seit der Hinrichtung im Jahr 1831 immer wieder Gegenstand unterschiedlichster geschichtskultureller Repräsentationen. Gegenwärtig kann man beispielsweise in Bremen der Gesche als kostümierter Stadtführerin und als Darstellerin im Geschichtenhaus begegnen, oder einen ›Gesche Gottfried Teller‹ einschließlich Brot mit ›Arsen‹-Kugeln in der dortigen Gastronomie zu sich nehmen. Den Fokus für diese Formen des dark tourism bildet die emotionale Komponente des Gruselns und der Faszination des Schreckens (Quack/Steinecke 2012; Stone

10 Vgl. die Homepage Peer Meters »Graphic Novel ›SerienmörderTrilogie‹« (http:// www.peermeter.de/4.html). Zugriff am 1. März 2013.

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2010). Daneben spielten und spielen etwa in juristischen Fallschilderungen und in der Kriminologie angesichts des als ›typisch weiblich‹ angesehenen Giftmords geschlechtergeschichtliche Perspektiven eine Rolle. Rainer Werner Fassbinder griff diese auf und kehrte die Interpretation erstmals zu einem Befreiungskampf gegen die Unterdrückung der Frau um. Die neueste Bearbeitung des Falls, der Comic Gift, setzt diese Linie mit einem anderen Schwerpunkt fort, indem er die Handlungsspielräume von Frauen und die Geschlechterverhältnisse im frühen 19. Jahrhundert thematisiert. Dabei eröffnet ihm aus Sicht der Autoren zum einen der biographische Zugang die Möglichkeit, eine dezidiert subjektive ›weibliche Perspektive‹ auf die Geschichte einzunehmen. Zum anderen verfolgt er im Hinblick auf Quellenrecherche und Detailgenauigkeit den Anspruch historischer Authentizität. Nicht nur in dieser Kombination steht Gift exemplarisch für neuere Entwicklungen im Geschichtscomic als eigenständigem Medium populärer Repräsentation der Vergangenheit. Seit dem Beginn der ›Historien-Welle‹ in den 1980er Jahren hat nicht nur die Zahl der in Deutschland publizierten historischen Bildergeschichten zugenommen, sondern damit einher gingen Veränderungen in der Autorenschaft, in den Themen und Figuren, den methodischen Zugängen und behandelten Epochen. Zwar lässt sich insgesamt feststellen, dass die zuvor das Medium prägende männliche Dominanz auf verschiedenen Ebenen zurückging. Doch geschah das nicht in einheitlicher Art und Weise. Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnisse im Geschichtscomic sind vielfältiger geworden und bedürfen weiterer Untersuchung.

L ITERATUR Becker, Thomas (2009): »Genealogie der autobiografischen Graphic Novel: Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen«. In: Ders./Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.), Comic: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript, S. 239-264. Behringer, Marco (2009): Der Holocaust in Sprechblasen: Erinnerung im Comic, Marburg: tectum. Bünte, Christoph (2012): »›Da existieren verschiedene Wahrheiten‹: Interview mit Simon Schwartz zu seinem neuen Comic ›Packeis‹«. In: fudder vom 5.10.2012 (http://fudder.de/artikel/2012/10/05/packeis-die-verschiedenenwahrheiten-die-da-existieren/). Zugriff am 1. März 2013.

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Tschingis Khaan aus weiblicher Perspektive: Zur Re-Evaluierung etablierter Geschlechterrollen und Geschichtsbilder in populären historischen Romanen J ULE N OWOITNICK

In seiner zweihundertjährigen Gattungsgeschichte passte sich der historische Roman in Inhalten und Formen immer wieder dem sich wandelnden Umgang der Gesellschaft mit Geschichte an.1 Während die hierbei relevanten ästhetischliterarischen und sozio-politischen Interdependenzen vielfach erforscht sind, wird der Frage nach dem Zusammenhang von Geschichtsdarstellung und Geschlechteridentität erst seit einigen Jahren nachgegangen. Einen Beitrag hierzu leistete der Sammelband Geschichte/n – Erzählen von Marianne Henn, Irmela von der Lühe und Anita Runge. In ihrer Einleitung erklären sie, es müsse bei der Schließung dieser Forschungslücke um mehr gehen, als allein um die Aufarbeitung der Marginalisierung von Autorinnen im Gattungskanon: »Ob und gegebenenfalls inwiefern in der literarischen Vergegenwärtigung von Geschichte der per se problematische Status weiblicher Autorschaft eine Rolle spielt, ob die narrative Zurichtung von Geschichte zu Geschichten aus jener einen Gegenstand der Aufklärung oder der idyllisierenden Regression, des politisch-moralischen Appells oder der mythisierenden Verklärung macht, ob Vergangenheit als bloßes Stoffgebiet oder als Medium einer aufklärungs- und emanzipationsbedürftigen Jetztzeit erscheint, all dies hängt von der Geschlechterzugehörigkeit des Autors ebenso ab wie von der Gattungswahl.« (Henn/von der Lühe/Runge 2005: 14) 1

Einen komparatistisch angelegten Überblick über die Gattungsgeschichte bietet Geppert (2009). Als Standardwerk für den deutschsprachigen Raum ist zudem Aust (1994) zu nennen.

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Ausgehend von dieser Differenzierung des Spannungsfeldes von Geschichte und Geschlecht soll im Folgenden untersucht werden, wie in historischen Romanen deutsch- und englischsprachiger Autorinnen über den mongolischen Eroberer Tschingis Khaan etablierte Heldenbilder und Geschlechterrollen hinterfragt und damit zugleich korrespondierende ›Meistererzählungen‹ der historischen Ereignisse neu verhandelt werden. Im Abgleich mit der männlichen Darstellungsperspektive in Historiographie wie Literatur und nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung im 20. Jahrhundert liegt der Schwerpunkt auf zwei Werken der letzten beiden Jahrzehnte, namentlich Pamela Sargents Ruler of the Sky (1993) und Barbara Goldsteins Der Herrscher des Himmels (2007).

D ER

MÄNNLICHE

B LICK

AUF

T SCHINGIS K HAAN

Tschingis Khaans historiographische wie literarische Darstellung war und ist in doppelter Hinsicht von einem männlichen Blick geprägt, insofern beide Felder nicht allein von männlichen Autoren, sondern auch von einer androzentrischen Perspektive bestimmt sind. Prägnant erscheint in der Geschichtsschreibung zunächst die Chronologisierung des Geschehens anhand von Schlachten. Die Biographie Tschingis Khaans wird auf eine militärisch-politische Ereignisgeschichte reduziert, wie etwa sein populärwissenschaftliches Porträt in der Brockhaus Enzyklopädie Online zeigt: »Dschingis Khan [mongolisch wohl ›ozeangleicher Herrscher‹, ›Weltherrscher‹], Dschingis Chan [-'ka:n], Tschingis Khan, Cinggis Khan ['ti-], Cinggis Qa'an [-'ka:n], eigentlich Temüdschin, (Temujin [-din, ›Schmied‹], der Begründer und erste Großkhan des mongolischen Weltreiches, * am Onon (heutige Provinz Khentii in der Mongolei) 1162, † vor Ninghsia (heute Yinchuan) 18. (?) 8. 1227; Sohn eines Steppenadligen. Nach dem Tod des Vaters (1171) und danach ausbrechenden Kämpfen um die Vorherrschaft über die Stämme am Onon wurde er 1189 Oberhaupt der Khamag-Mongolen. In wechselnden Bündnissen unterwarf er die benachbarten mongolischen und Turkstämme (Tataren) ebenso wie die zunächst verbündeten nestorianischen Kereit (1202–05). Er schloss sie zu einem einheitlichen Stammesverband zusammen, ließ sich 1206 zum ›Herrn über alle in Filzzelten lebenden Stämme‹ wählen und nahm den Titel Dschingis Khan an. Grundlage des von ihm aufgebauten, straff organisierten und zentral ausgerichteten Staatswesens war die nahezu vollkommene Militarisierung aller Lebensbereiche (Einteilung der Bevölkerung in regionale, zumeist Heerführern unterstellte Gruppen). 1207–11 unterwarf Dschingis Khan die Uiguren und die Tanguten, 1211–15 eroberten seine Reitertruppen Teile Nordchinas, 1218 Ostturkestan, 1219–24 Mittelasien (1220 Buchara und Samarkand, 1219–21 Vernichtung

T SCHINGIS K HAAN AUS WEIBLICHER P ERSPEKTIVE | 175

von Choresm). 1220 wurde auf Befehl Dschingis Khans mit dem Bau der mongolischen Hauptstadt Karakorum begonnen. 1223 erlitten die Polowzer (Kumanen) und südrussischen Fürsten in der Schlacht an der Kalka eine erste Niederlage. Eine Strafexpedition gegen die Tanguten (1226–27) endete mit deren völliger Vernichtung. Dschingis Khan starb im August 1227 an den Folgen eines Jagdunfalls. Bei seinem Tod hinterließ er ein mächtiges Reich, das vom Chinesischen Meer bis an die Ostgrenzen Europas reichte. Seine Söhne Dschagatai, Ögädäi, Tului und seine Enkel Batu Khan (Goldene Horde), Kubilai und Hülägü (Ilkhanat, Ilkhane) setzten seine Eroberungspolitik fort (Mongolen, Geschichte).« (Brockhaus Enzyklopädie Online 2005–12)2

Das ›zivile‹, ›private‹ Leben Tschingis Khaans wird ausgeklammert, obwohl die Quellen – allen voran Die Geheime Geschichte der Mongolen, die einzige mongolische Chronik aus der Zeit Tschingis Khaans – hierzu durchaus Auskunft geben. Entsprechend finden sich auch Informationen zu den wichtigsten Frauen in seinem Leben. Tschingis Khaans Mutter Öelün führte ihre Familie nach dem Tod des Vaters resolut durch einige existenzbedrohende Jahre. Wie Tschingis Khaans Ehefrauen beriet sie ihn zudem in politischen Belangen (Schöne 1993). Doch während in ausführlicheren (populär-)wissenschaftlichen Darstellungen Tschingis Khaans unzählige Kämpfe in der Steppe, der umstrittene Mord an seinem Halbbruder Bekter und die Rolle seiner Kampfgefährten und späteren Generäle durchaus detailliert beschrieben werden, reduziert sich die Rolle der Frauen in der Perspektive männlicher Autoren zumeist auf ihre bloße Nennung und spiegelt damit den Stellenwert, der ihnen im Laufe der Weltgeschichte zugestanden wird.3 Bedingt durch die Gattungskonventionen der Enzyklopädie fehlt im obigen Zitat zudem eine explizite Bewertung Tschingis Khaans, wobei die Nichtnennung der millionenhohen Opferzahlen der Feldzüge eine anerkennende Ein-

2

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts las sich der Eintrag wie folgt (Brockhaus 1911: 464): »Dschingis Chan, eigentlich Temudschin, mongol. Eroberer, geb. 1162 am Onon, besiegte 1202 den Großchan der Mongolen, 1203 den der naimanschen Tataren, 1206 zum Chakan ausgerufen, überstieg 1209 die Chines. Mauer, nahm 1215 die Hauptstadt Yen-king (Peking), unterwarf 1219 Turkestan, schlug die Russen an der Kalka unweit Mariupol (1223), eroberte 1225 Tangut; gest. 18. Aug. 1227. – Vgl. Erdmann (1862).«

3

Tatsächlich sind auch die Verfasser der überlieferten mongolischen, persischen und chinesischen Chroniken – soweit diese bekannt sind – männlich. Hieraus jedoch auf eine direkte Transferlinie männlicher Perspektive zu schließen, verbietet sich aufgrund der divergenten kulturellen und historischen Kontexte.

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schätzung implizieren mag. Die Wertung in der Fachhistorie wie im medialen Diskurs changiert bis heute zwischen zwei Extremen: dem Feindbild des barbarischen Massenmörders einerseits und dem Vorbild des genialen Feldherrn und Staatsmannes andererseits, der das größte Imperium der Weltgeschichte schuf und dabei eine neue Qualität im Kulturaustausch zwischen Asien und Europa bewirkte.4 Im Vergleich sind in den historischen (Unterhaltungs-)Romanen männlicher Verfasser die Frauenfiguren zwar präsenter, sie treten jedoch kaum als historische Akteure auf. Vielmehr erscheinen sie als eindimensionale Objekte romantischer Liebe oder erotischer Eroberung.5 Sexualität wird damit zu einem weiteren Bereich der männlichen Machtausübung erklärt und fügt sich in die Vorstellung einer Geschichte, die von großen Männern ›gemacht‹ wird. Der Fokus auf Militär- und Staatsgeschichte bringt insbesondere in den deutschsprachigen Werken der Jahrzehnte während und nach dem Dritten Reich zudem eine gewisse Ideologisierung Tschingis Khaans mit sich.6 An ihm wird die Faszination wie auch die Gefahr eines ›Führers‹ ausgehandelt – positiv in der Konzentration auf seine militärischen Erfolge, negativ in der Konzentration auf die für diese Erfolge geopferten Menschenleben.7

4

Dominierte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts im englisch- wie deutschsprachigen Raum die erste Lesart, so trug Harold Lambs populäre Biographie Tschingis Khaans maßgeblich zur Etablierung der positiven Deutung bei (Lamb 1928).

5

Eine romantische Liebe zwischen Tschingis Khaan und seiner ersten und Hauptfrau Börte zeichnet etwa Emanuel Stickelberger (Stickelberger 1937). Otto Gmelin dagegen schreibt seinem Helden eine sexuelle Wirkung zu, die an Dämonie grenzt (Gmelin 1925: insb. 4-6). Die Betonung der sexuellen Leistungsfähigkeit findet sich auch noch in aktuellen englischsprachigen Romanen (vgl. Iggulden 2008: 176).

6

Bereits in den Romanen der Weimarer Republik findet sich die Faszination der großen Persönlichkeit, diese ist jedoch weniger politisiert als vielmehr aufgeladen mit der Begeisterung für exotische Abenteuer (vgl. Hanstein 1924) oder mit einer stark personalisierten Auseinandersetzung (vgl. Gmelin 1925).

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So erscheint der mongolische Eroberer insbesondere bei Emanuel Stickelberger, aber auch bei Michael Prawdin als Folie einer ›gelb-roten Gefahr‹ aus dem sowjetischen Osten (Stickelberger 1937; Prawdin 1938), während er etwa bei Rudolf Rauch ungeachtet der eigentlichen kulturellen Distanz zum vorbildlichen ›Führer‹ nach deutschem Muster stilisiert wird (Rauch 1940). Sowohl in der BRD wie auch in der DDR der Nachkriegsjahre dient er schließlich der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit (vgl. jeweils Baumann 1954 und David 1966).

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In den Romanen der 1990er Jahre dominieren weiterhin die jedoch nicht länger politisierten Themen von Abenteuer und Krieg. Internationaler Qualitätsmaßstab ist nun das Umsetzen einer gewissen ›Authentizität‹ und zwar wiederum insbesondere in militärhistorischen Belangen.8 Zumindest in den hier betrachteten historischen Romanen mündet diese Forderung bei näherer Betrachtung in eine Projektion moderner Sehnsüchte von einem martialischen Kriegerleben in feindlicher Umwelt. Von zentraler Bedeutung hierfür erweist sich die Darstellung der historisch in der Biographie Tschingis Khaans verbürgten Gewalt. Die Differenzierung zwischen akzeptabler, da unvermeidlicher militärischer Gewalt und nicht akzeptabler, ziviler Gewalt9 erlaubt es den Autoren, den Ansprüchen moderner Ethik gerecht zu werden und dennoch eine exotistische Bewunderung der kriegerheroischen Figuren zu pflegen,10 die sich in genretypischen Geschlechterbildern spiegelt: »These novels present a set of possible masculinities within a relatively conservative nationalistic narrative. Their models of heroism are largely straightforward, dutiful, resourceful, violent and homosocial. They present a process of history in which the central character is repeatedly tested in some way before achieving some form of martial success.« (Groot 2010: 79)

D ER

WEIBLICHE

B LICK

AUF

T SCHINGIS K HAAN

Auch Autorinnen bietet das Genre die Möglichkeit zur Verhandlung von Geschlechteridentitäten in historischer wie kultureller Ferne.11 Zu Recht betont Groot die wichtige Stellung des historischen Romans als Genre weiblichen Schreibens (Groot 2010: 67). Diana Wallace verortet den Beginn dieser Entwicklung für den englischsprachigen Raum in den 1930er Jahren, in denen »the

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Dass es sich hierbei um ein gattungstypisches Phänomen handelt, indiziert folgende Bemerkung von Jerome de Groot (2010: 85): »The interaction with scholarly history demonstrates the striving for realism that is crucial to the male historical novel.«

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Vgl. hierzu ausführlicher Nowoitnick 2011.

10 Eine Ausnahme bildet der Roman Die neun Träume des Dschingis Khan des tuwinischen Schriftstellers Galsan Tschinag, der eben dieses Narrativ ironisch bricht (Tschinag 2007). 11 Ähnlich formuliert Jerome de Groot: »[...] women writers have used the historical novel to express multiple, complex identities and used them as sites of possibility and potential.« (Groot 2010: 67)

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historical novel becomes a genre particularly associated with women writers.« (Wallace 2003: 76) Auch im deutschsprachigen Raum sind Autorinnen in diesem Marktsegment seit dem 19. Jahrhundert prominent vertreten (vgl. die Beiträge in Henn/von der Lühe/Runge 2005). Interessanterweise gilt dies jedoch nicht für historische Romane über Tschingis Khaan; Werke von Autorinnen bilden hier die absolute Minderheit.12 Der Grund dürfte die überwältigende Präsenz von Krieg und Gewalt im Leben Tschingis Khaans sein. Denn, wie Jerome de Groot konstatiert, liegt der Interessensschwerpunkt in historischen (Unterhaltungs-)Romanen von und für Frauen vornehmlich auf Liebesgeschichten, die in einen historischen Kontext gebettet und aus weiblicher Perspektive erzählt werden.13 Bereits Letzteres bildet in der Biographie Tschingis Khaans eine Herausforderung, da es keine historische Frauenfigur gibt, die konstant an seiner Seite war und so einen durchgehenden weiblichen Blick erlauben würde.14 Die Autorinnen lösen dies durch einen Fokus auf eine spezifische Episode seiner Biographie beziehungsweise durch wechselnde Perspektiven.15 In jedem Fall korrespondiert die weibliche Erzählperspektive mit der Verlagerung von der Eroberungs- und Kriegsgeschichte hin zur Frauen- und Familiengeschichte. In den Vordergrund rückt die Alltagskultur mongolischer, aber auch chinesischer und persischer Frauen des 13. Jahrhunderts. Dieser Perspektivwechsel resultiert in Brüchen mit der konventionellen, männlich geprägten Meistererzählung. Zum einen wird die historische Chrono-

12 Im deutschsprachigen Raum stehen im 20. Jahrhundert zwei Romane von Autorinnen vierzehn Titeln von Autoren gegenüber, zählt man historische Dramen, Novellen und Jugendromane nicht mit. Von diesen stammt aber ebenfalls nur eine Novelle von einer Autorin. Im englischsprachigen Raum gestaltet sich das Bild deutlich anders; insbesondere im Jugendbuch sind hier Autorinnen sehr wohl präsent. 13 Der Unterschied zur »historical romance fiction«, in welcher laut Pamela Regis der historische Rahmen das mehr oder weniger beliebige Setting für das schwierige, aber letztlich glückliche Zueinanderfinden des Liebespaares bildet, liegt in einem genuinen Interesse an der Historie und dem nicht unbedingten ›Happy End‹ (Regis 2011: 855f). 14 Seine erste und spätere Hauptfrau Börte begleitet ihn durch seine Jugend, ist aber an den Kriegszügen jenseits der Steppe nicht beteiligt. Auf diese nimmt der Khaan andere Ehefrauen mit, die er jedoch erst als erwachsener Mann heiratet. 15 Erstere Möglichkeit wählt etwa Annemarie Süchting, deren Roman Die Schalen des Dschingis-Khan (1967) die Jahre 1215-16 fokussiert und die historische Figur einer chinesischen Prinzessin, die der chinesische Kaiser dem Khaan als Preis für den Rückzug der Mongolen schenkte, in einer fiktionalen, tragisch endenden Liebesgeschichte mit Tschingis Khaan verstrickt (Süchting 1967).

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logie nun nicht mehr an Schlachten festgemacht, sondern an persönlichen Beziehungen. Die Darstellung Tschingis Khaans als kriegerheroischer Eroberer relativiert sich, insofern die weibliche Perspektive ihn nicht auf dem Schlachtfeld zeigen kann. Zum anderen entwickelt er sich – korrespondierend mit dem Wandel der Frauenfiguren vom Objekt männlicher Geschichtsschreibung zum Subjekt weiblicher Darstellung – vom positiven oder negativen Vorbild für männliches Streben zum Ziel weiblichen Begehrens. Entsprechend finden sich in den Texten mehr oder weniger explizite, aber immer erotische Beschreibungen männlicher Körper. Dies geht einher mit einer äußerlichen wie innerlichen Entfernung von der kulturellen Identität der historischen Figuren. Diese ›Entkulturisierung‹ kann sich auf ein Motiv der historiographischen Überlieferung berufen, nach welcher Tschingis Khaan für einen Mongolen seiner Zeit tatsächlich vergleichsweise groß war und helle Augen wie rötlichbraune Haare hatte (Ratchnevsky 1983: 13). Von männlichen wie weiblichen Autoren werden diese vermeintlich europäischen Attribute aufgegriffen, um wohl nicht zuletzt eine Identifikation der Leser mit dem fremdkulturellen Helden zu erleichtern. Der Höhepunkt scheint in Barbara Goldsteins noch näher zu besprechendem Roman Der Herrscher des Himmels erreicht, in welchem nicht nur Tschingis Khaan und seine Familie »opalblaue« Augen und häufig goldblondes Haar haben, sondern auch der chinesische Geliebte ihres fiktiven Helden blaue Augen hat (Goldstein 2007). Trotz des beschriebenen Perspektivwechsels deckt sich Tschingis Khaans Konstruktion als Objekt der weiblichen Darstellung auch noch im 20. Jahrhundert weitgehend mit derjenigen als Subjekt der männlichen, das heißt letztlich mit einem heteronormativen Männerbild. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten wird das Ideal des kriegerheroischen Tatmenschen zugunsten neuer Geschlechterrollen und Liebeskonzeptionen dekonstruiert. Stellt die mit dem Namen Tschingis Khaan inhärent verbundene Gewalt hierbei offenbar eine Herausforderung dar, dienen ein freies Ausleben sexueller Lust und die Bisexualität der männlichen Helden als markante Signale neuer Geschlechterkonzepte. Dabei ist eine mögliche Bi- oder Homosexualität Tschingis Khaans nicht nur nicht überliefert, sie ist zudem in der mongolischen Kultur tabuisiert.

P AMELA S ARGENTS R ULER

OF THE

S KY (1993)

Die US-amerikanische Schriftstellerin Pamela Sargent scheint sich dieses Tabus durchaus bewusst zu sein, wenn sie in ihrem Roman Ruler of the Sky (1993) homosexuelle Erfahrungen Temujins (d.i. Tschingis Khaans) mit seinem Schwurbruder Jamukha als fiktives Handlungsmotiv einführt. Unzweifelhaft

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sind allein die Gefühle des verliebten Jamukhas, aus dessen Perspektive sich die gemeinsam verbrachte Nacht nach der Erneuerung ihrer Schwurbrüderschaft wie folgt liest: »A fierce longing filled him as he recalled those nights [of their youth]. Temujin had accepted his touch then, welcoming the way they could give pleasure to each other with their hands, but perhaps he saw that only as boys’ play, something to be put aside when one was grown. He circled Temujin’s waist with one arm. His anda sighed, but did not push him away.« (Sargent 1993: 251)

Nicht zuletzt in Folge der personalen Erzählperspektive bleibt nicht nur für Jamukha, sondern auch für die Leserschaft im Unklaren, ob sich Tschingis Khaan nach dieser Nacht von Jamukha distanziert, weil er nicht wie dieser empfindet oder weil er sich dem gesellschaftlichen Druck – verkörpert durch die Provokationen seines Halbbruders Bekters (Sargent 1993: 130) – beugt. Doch bereits diese angedeutete Homosexualität signalisiert eine Neuverhandlung der Geschlechterrollen, indem sie die in der androzentrischen Meistererzählung verankerte heterosexuelle Identität des männlichen Helden anzweifelt. Zugleich bricht der Roman das in der Tradition etablierte weibliche Rollenschema, wenn Frauen ausnehmend selbstbewusst gezeichnet werden. Sargent zeigt die gesamte Spannbreite von Liebes- über politische hin zur Zwangsheirat, betont dabei jedoch immer den aktiven Beitrag der Frauen zur Gesellschaft und damit zur Historie. So tritt Bortai (d.i. Börte) in Übereinstimmung mit der mongolischen Überlieferung als respektierte Beraterin ihres Mannes auf, die ihm auch unter Androhung von Strafe im Stammesrat zu widersprechen wagt (Sargent 1993: 332f. und 339).16 Und es sind seine Ehefrauen, die sich gegen den alten Tschingis Khaan stellen, als dieser die exzessive Gewalt der Westfeldzüge mit sadistischem Vergnügen befiehlt (Sargent 1993: 607). Insbesondere seine Frau Khulan vertritt mit ihrem Wunsch nach einem Ende von Gewalt und Krieg die Position einer modernen und damit anachronistischen Ethik, die jedoch am männlichen Selbstbild scheitert (Sargent 1993: 459): »It’s a man’s work to make war [...].«17 Eben diese historisch verbürgte Gewalt Tschingis Khaans entpuppt sich als der Punkt, an dem Sargents ›authentische‹ Darstellung mittelalterlicher Geschichte insbesondere in Bezug auf das Heldenbild und die damit verbundenen

16 Vgl. die ebenso auf der historischen Überlieferung beruhende Trennung Temujins von Jamukha aufgrund von Bortais und Hoeluns (d.i. Öelüns) »wise council« (Sargent 1993: 265f.). 17 Vgl. zudem Hoeluns Wunsch für ein Ende der Steppenkämpfe (Sargent 1993: 243).

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Geschlechterrollen an ihre gattungspoetischen Grenzen zu stoßen droht. Um der Lesart des barbarischen Tyrannen entgegenzuwirken, werden in der Darstellung des jungen Temujin seine genuin guten Absichten, seine Intelligenz und sein Charisma betont. Er scheint sich geradezu emanzipieren zu wollen, wenn er beispielsweise die selbstverständliche Praxis der Vergewaltigung – sei es einer Kriegsgefangenen oder der eigenen Frau – in der Hochzeitsnacht mit Bortai hinterfragt: »›Others tell me that a man must seize his woman, that otherwise she’ll think he’s a weakling and mock him in secret, and when I saw you, I couldn’t hold myself back. But I – ‹ His throat moved as he swallowed. ›I wanted it to be more.‹« (Sargent 1993: 197)

Diese vermeintliche Emanzipation ist jedoch nicht von Dauer.18 Mit dem Verlust der Intimität der frühen Jahre, in denen Bortai die einzige Frau an seiner Seite ist, geht auch der Verlust dieser Selbstreflexion einher. Temujin identifiziert sich zunehmend mit der Gewalt, erhebt diese – einmal mehr an die historische Überlieferung anknüpfend – zum Lebensinhalt,19 bevor sie in seiner wahnhaften Angst vor dem eigenen Tod im Horror der Westfeldzüge zum eskapistischen Selbstzweck wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Pamela Sargent für die Dekonstruktion des tradierten, heterosexuellen Heldenmythos mit den homosexuellen Erfahrungen Tschingis Khaans ein fiktives Handlungselement bemühen muss. In Bezug auf die weibliche Geschlechteridentität erlaubt ihr dagegen gerade die Nähe zur Überlieferung den Bruch mit dem konservativen Klischee des Genres. Dabei vertreten die Frauen zwar Standpunkte moderner und somit anachronistischer Ethik, werden jedoch nicht grundsätzlich zu exotistischen Projektionsflächen. Zu sehr betont Sargent den kulturhistorischen Kontext und insbesondere die Zwänge, die für beide Geschlechter mit der gewalttätigen Realität ihrer Zeit und ihres Ortes verbunden sind. Auch die in der Tradition verankerte Ereigniskette wird in ihrer Chronologie nicht verändert, wohl jedoch ihre Wertung. Denn aus der konsequent weiblichen Sicht auf die Geschichte erscheint im Ausgang

18 Den Bruch markiert nicht zuletzt die brutale Vergewaltigung der dreizehnjährigen Kaufmannstochter Zulaika in Bukhara (Sargent 1993: 573-80). 19 Entsprechend stellt Pamela Sargent dem siebten Teil ihres Romans, in welchem mit den China-Feldzügen die Steppe verlassen wird, folgendes Zitat ihres Titelhelden voran: »Temujin said, ›The greatest joy for a man is to bring death to his enemies, to herd them before him, to hear the weeping of those who loved them, to mount their horses, to hold their wives and daughters in his arms.‹« (Sargent 1993: 509)

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der Schlachten nicht der mögliche politische Gewinn, sondern vielmehr der mögliche persönliche Verlust entscheidend.

B ARBARA G OLDSTEINS D ER H ERRSCHER (2007)

DES

H IMMELS

Trotz des identischen Titels und Umfangs von je mehr als 700 Seiten nähert sich Barbara Goldstein in ihrem historischen Roman Der Herrscher des Himmels (2007) dem Stoff grundlegend anders. Auch hier ist Tschingis Khaan eher Flucht- als Mittelpunkt der Handlung, die jedoch nicht von weiblichen Figuren und deren Perspektive bestimmt wird. Fiktiver Protagonist und Ich-Erzähler des Romans ist stattdessen sein illegitimer Sohn Temur. Diese zentrale Ablösung von der Überlieferung hat weitreichende Konsequenzen. Während Sargent einen neuen Blickwinkel auf die bekannten Geschehnisse anbietet, erfindet Goldstein für ihren Helden größtenteils neue Episoden beziehungsweise ändert historische Ereignisse grundlegend, indem sie historische Akteure durch die fiktionale Figur Temurs ersetzt. Und während Sargent in ihrer Darstellung zumal der weiblichen Geschlechterrolle von historischen Überlieferungen ausgeht, löst Goldstein ihre Figuren auch in dieser Hinsicht aus dem kulturhistorischen Kontext. Temur ist Projektionsfläche eines modernen, exotistischen Männlichkeitsideals, als dessen Verkörperung ihn die weiblichen Figuren des Romans vornehmlich passiv bewundern. Er ist mächtiger Schamane, hochgebildet und weltoffen. Er sehnt sich nach Frieden und verurteilt den Krieg, ist sensibel und leidenschaftlich.20 Die Folge dieser anachronistischen und akulturellen Projektionen ist nicht allein eine ›Entkulturalisierung‹ der Figuren, insbesondere Temurs. Auch innerhalb der Erzähllogik des Romans selbst kommt es zu Diskrepanzen, und zwar zwischen Temurs Doing Gender als Figur der Handlung und seinem Writing Gender als Erzähler derselben. Aus seiner in die Textoberfläche eingeschriebenen Performanz ergibt sich in mancherlei Hinsicht eher das Bild einer konservativ weiblichen Rolle, wenn er in seiner Empfindsamkeit etwa wiederholt in Tränen ausbricht (Goldstein 2007: 89f, 144). Dem gegenüber stehen seine benannte, aber kaum gezeigte Kampfeskraft, seine Erfolge als Eroberer, ja schließlich sogar seine sadistischen Entgleisungen auf den Feldzügen in Nordchina. Sympto-

20 Dabei ist diese Empfindsamkeit und Emotionalität allen positiv gezeichneten männlichen Figuren des Romans gemeinsam, wenn ›Mann‹ sich etwa per Umarmung und Wangenkuss begrüßt.

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matisch erfährt der Leser von letzteren erst durch Temurs besten Freund Dschebe:21 »[…] Wir hatten kaum das letzte Schlachtfeld verlassen, da bist du schon auf das nächste gestürmt, als könntest du den Kampf gar nicht erwarten. […] Du hast dir keine Ruhe gegönnt, hast gewütet wie ein blutdurstiger Tiger, der mit seinen scharfen Krallen wild um sich schlägt und jeden vernichtet, der es wagt, sich mit ihm anzulegen. Jeder Schlag ein schmerzhafter Treffer, jede Schlacht ein Sieg! […]« (Goldstein 2007: 428)

Das Stilmittel des Botenberichts erlaubt es Goldstein, die Episode in einer Außenperspektive zu rekapitulieren, was aufgrund der Wahl des Ich-Erzählers sonst nicht möglich wäre. Dschebe jedoch kann – wie es der Konjunktiv verdeutlicht – über die Gefühle Temurs nur mutmaßen, deren Interpretation letztlich der Leserschaft überlassen bleibt. Forciert wird dieser Kunstgriff wohl durch den auch Barbara Goldstein einholenden Zwang, die Gewalt der mongolischen Eroberungen darzustellen, gehören diese doch so inhärent zum Stoff, dass eine völlige Aussparung der Schlachten wie auch kriegerheroischer Männlichkeit Lesererwartungen enttäuschen würde. Eine vollkommene Identifikation Temurs mit diesem Bild würde jedoch seiner Konstruktion als ›modernem Mann‹ widersprechen. Ebenfalls in diesem Zwiespalt ist das einmal mehr auf die mongolische Kultur des Mittelalters projizierte, exotistische Ideal einer freien Liebeskultur zu verorten. Es wird auf den ersten Seiten des Romans etabliert, wenn Temur die Affäre seiner Frau, der fiktiven Nomolun, mit Dschebe wie folgt einordnet: »Dass meine Gemahlin und mein bester Freund mehr als eine leidenschaftliche Nacht miteinander verbracht hatten und dass Nomolun von ihm schwanger war, wusste ich. Wenn zwei Menschen sich lieben, steht es einem Dritten nicht zu, sich zwischen sie zu stellen.« (Goldstein 2007: 19)

Ausgangspunkt hierfür mag die in der mongolischen Kultur verankerte Akzeptanz unehelicher Kinder und ihrer Mütter sein. Von der Wunschvorstellung im Roman, ohne Eifersucht, aber auch ohne Gleichmut Liebe zu teilen, ist dies jedoch natürlich weit entfernt.

21 Historisch ist Dschebe einer der engsten Gefährten und später wichtigsten Generäle Tschingis Khaans, dessen Stelle Temur nicht nur in dieser zwischenmenschlichen Beziehung einnimmt.

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Ebenso wird in Bezug auf die auch bei Goldstein thematisierte Homosexualität an die kulturellen Gegebenheiten angeknüpft. Hier findet sich in der mongolischen Kultur keine vermeintliche Vorstufe zu einem Idealzustand, ist doch Homosexualität, wie bereits erwähnt, bis heute tabuisiert. Goldstein erhebt dieses Tabu zum Gesetz, indem sie das Verbot homosexueller Beziehungen bei Todesstrafe als fiktionalen Absatz in die historisch verbürgte und in der historiographischen Überlieferung prominente Gesetzessammlung Tschingis Khaans aufnimmt. Der Triumph der Liebe zwischen Temur und seinem Seelenverwandten Yelu Chutsai22 erscheint vor diesem Hintergrund doppelt problematisch. Einerseits aufgrund der absoluten Folgenlosigkeit der Verletzung dieses Gesetzes – mehrfach küssen sich die beiden öffentlich, ohne dass die anwesenden Figuren reagieren. Andererseits aufgrund Temurs Rechtfertigung der Beziehung, bei der er sich auf ein weiteres historisches und in der Darstellungstradition ebenso zentrales Gesetz beruft, nämlich die religiöse Toleranz der Mongolen. Auf die Anklage seines Bruders Tschagatai23 erwidert Temur: »Die Yassa regelt auch die Freiheit des Glaubens und die unbeschränkte Ausübung desselben. […] Chutsai und ich praktizieren das Tantra-Yoga. […] Es ist ein heilender… ein heiliger Akt.« (Goldstein 2007: 756)

Bereits anlässlich der ersten gemeinsamen Liebesnacht hatte Chutsai erklärt, dass im Tantra-Yoga das Geschlecht der beiden Partner keine Rolle spielt: »Je vollkommener du wirst, desto weniger bist du ein Mann oder eine Frau, desto mehr bist du ein Mensch, der beide Anteile in sich vereinigt. […] Es ist also gleichgültig, in welchen Körper du in diesem Leben hineingeboren wurdest. Dein sterblicher Leib ist doch nur eine schöne, sinnliche, praktische, aber vergängliche Hülle für das, was du wirklich bist, Temur!« (Goldstein 2007: 505)

Damit scheinen die traditionell als starr gedachten Geschlechterrollen im Sinne postmoderner Vorstellungen transzendiert.24 Doch bei genauerer Betrachtung

22 Auch dieser ist einer historischen Person nachempfunden, namentlich einem chinesischen Astronom und Beamten, der zum Berater Tschingis Khaans wurde. 23 »Die Liebe zwischen zwei Männern ist durch die Yassa bei Todesstrafe verboten!« (Goldstein 2007: 505) 24 Wie Christel Baltes-Löhr und Karl Hölz erklären, vollzieht sich seit den 1990er Jahren zumindest eine »De-Essentialisierung« der vormaligen Vorstellung dichotomer Geschlechteridentitäten (Baltes-Löhr/Hölz 2004: 14).

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kehren die in dieser homosexuellen, ideal gleichberechtigten Partnerschaft scheinbar überwundenen Rollen wieder, spiegelt die Beziehung von Temur und Chutsai doch in ihrer Dynamik die heterosexuellen Beziehungen Temurs. Temur erscheint als der aktive, der männliche Part, während Chutsai den passiven, wartenden Part der Frau spielt. Nicht zuletzt wird in Temurs oben zitierter Rechtfertigung das kulturelle Tabu weder aufgehoben noch überhaupt problematisiert; es wird mit rhetorischem Geschick umgangen. Ganz ähnlich wird bei der Vergewaltigung Temurs verfahren. Diese markiert in vielerlei Hinsicht die endgültige Auflösung des klassischen Heldenparadigmas, insofern die Opfererfahrung sexueller Gewalt gemeinhin als exklusiv weibliche begegnet. Doch so schonungslos und explizit der Akt der Vergewaltigung beschrieben wird (Goldstein 2007: 587ff.), erscheint die Darstellung der Langzeitfolgen beinahe verharmlost. Geschildert wird allein die Rekonvaleszenz von der ebenfalls erlittenen körperlichen Folter, während das psychologische Trauma in der dissoziierten Rache Temurs an seinem Vergewaltiger nur angedeutet wird. Und damit scheint das Erlebnis auch bereits überwunden, wenn die erste Begegnung Temurs mit Chutsai nach dem Gewaltakt völlig unvermittelt in einer der genretypisch zahlreichen Sexszenen des Romans endet.25 Die Figuren und mit ihnen die idealisierte Neuverortung der Geschlechterrollen verharren somit an einer exotistischen Oberfläche, gekennzeichnet durch die Freiheit hetero- wie homosexuellen Verkehrs. Dabei bleiben vor allem die Frauen – wie auch Chutsai in der weiblichen Rolle – zudem in konservativen Verhaltensmustern gefangen, wenn sie Temurs egozentrische Fluchten auf der Suche nach dem eigenen Glück still und unhinterfragt ertragen und ihnen zudem – bereits aufgrund der gewählten Erzählperspektive – kaum eigenständige Handlung zugestanden wird.

25 »Wir hatten uns geliebt, leidenschaftlich und selbstvergessen, und nun lag er entspannt in meinen Armen.« (Goldstein 2007: 618)

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F AZIT Zusammenfassend lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen der Darstellung Tschingis Khaans aus männlicher und weiblicher Feder bestätigen. Ist die von männlicher Sicht geprägte und konsequent in männlicher Perspektive erzählte Meistererzählung Tschingis Khaans fokussiert auf Staats- wie Militärgeschichte und wird anhand entsprechender Daten chronologisiert, so resultiert die weibliche Erzählperspektive in einer Konzentration auf Frauen- und Kulturgeschichte und damit in einer grundlegenden Neuorientierung. Die Person Tschingis Khaans tritt in den Hintergrund, da er doch an diesem Bereich vergleichsweise wenig Anteil hat. Die Geschichte wird nun anhand von privaten Bindungen und deren Auflösung geordnet und gewertet. Die für die Biographie Tschingis Khaans so entscheidende Kriegsgewalt fungiert nicht mehr als Bühne heroischer Männlichkeit, sondern als Quelle weiblichen Leids. Insbesondere in den historischen Romanen, die nach 1990 erschienen, werden zudem die Geschlechterbilder neu verhandelt, wobei die Frage der Gewaltdarstellung vor dem Hintergrund moderner, westlicher Ethik für Autoren wie Autorinnen zur Herausforderung wird. Die Autoren tendieren zur Differenzierung zwischen legitimer Gewalt auf dem Schlachtfeld und illegitimer Gewalt abseits desselben, was eine Fortführung kriegerheroischer Männlichkeitsinszenierungen erlaubt. Eben diese werden in den Romanen der beiden hier ins Zentrum gestellten Autorinnen jeweils durch das Motiv der Homosexualität gebrochen beziehungsweise uminterpretiert. Die Frauen sind im Roman Pamela Sargents, die sich stark an mongolischen Quellen orientiert, zwar einerseits Opfer der Gewalt, andererseits treten sie durchaus selbstbewusst auf und werden somit als eigenständige Akteure in der Geschichte betont. Barbara Goldstein löst sich von der kulturhistorischen Identität ihres Stoffes. Die Figuren, die als Projektionsflächen moderner, fließender Geschlechterkonzepte erscheinen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als exotistische Träger konservativer Rollenklischees. Dem an aktuelle Forschung anknüpfenden Befund Jerome de Groots, dass selbst bei einer scheinbar unreflektierten Präsentation konservativer Geschlechterrollen in den historischen Romanen von Autorinnen doch bereits die Darstellung vergangener weiblicher Unterdrückung zur kritischen Reflektion anrege (Groot 2010: 52f.), ist somit nur bedingt zuzustimmen. Bewirkt der weibliche Blickwinkel auf die Ereignisgeschichte tatsächlich einen Bruch in der Darstellungskonvention, so ist die Neuverhandlung der Geschlechteridentität von divergierenden, teilweise eher regressiv wirkenden Konzepten geprägt.

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Die Geburtsstunde der »Trümmerfrau« in den Presseerzeugnissen der deutschen Nachkriegszeit L EONIE T REBER

Im Oktober 2008 ließ der Entertainer Harald Schmidt in seiner abendlichen TVShow den Fernsehzuschauer im heimischen Wohnzimmer an seiner Interpretation der gerade vollständig erschienenen Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler teilhaben. Neben seinen Erklärungsansätzen zu den unterschiedlichen historischen Schulen und Theorieansätzen führte Schmidt das Publikum mithilfe von Playmobilinstallationen durch die deutsche Geschichte und damit vom Teutoburger Wald bis zur Wiedervereinigung. Das Symbol für die Nachkriegszeit waren neben den kaugummibringenden US-Soldaten, den Kriegsversehrten und dem Volkswagen vor allem die »Trümmerfrauen«. Mit dieser Darstellung bediente Harald Schmidt ein gängiges und zum Klischee geronnenes Bild der Nachkriegszeit, wie es im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, in dem die »Trümmerfrau« einen konstitutiven Platz einnimmt, gespeichert ist. Seit mindestens zwei Jahrzehnten wird dieses Bild durch historische Darstellungen in Zeitungen und Zeitschriften, Schulbüchern, Museen sowie in Film- und Fernsehdokumentationen beständig reproduziert. Hierbei werden die »Trümmerfrauen« in auffällig stereotyper Weise mit Kopftuch auf dem Haupt und Hammer in der Hand bzw. in Eimerketten arbeitend dargestellt. Die dazugehörigen Kommentare suggerieren, dass die Frauen freiwillig damit begannen Deutschland wieder aufzubauen, als die Männer noch im Krieg, in Gefangenschaft oder gar gefallen waren (Krauss 2009: 738-740; Frankfurter Rundschau, 22. Mai 2009: 2). Diesem vor allem durch populäre Medien geprägten »Trümmerfrauen«-Bild im kollektiven Gedächtnis der Deutschen soll im Folgenden nachgespürt werden. Anhand einer Analyse zeitgenössischer Presseerzeugnisse von 1945 bis 1949 wird nach dem Ursprung des heutigen »Trümmerfrauen«-Bildes und dem damit zu-

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sammenhängenden Entstehungskontext gefragt. Hierbei ist es unabdingbar eine vergleichende deutsch-deutsche Perspektive einzunehmen. Denn auch wenn die »Trümmerfrau« nach der Wende 1989/90 zu einem gesamtdeutschen Erinnerungsort werden konnte, speist sich das heutige Bild der »Trümmerfrau« aus zwei unterschiedlichen Erinnerungskulturen von BRD und DDR, deren Wurzeln wiederum in die unmittelbare Nachkriegszeit und damit in die SBZ sowie die amerikanische, britische und französische Besatzungszone zurückreichen. Zielführend erweist sich der komparative Ansatz bereits nach einer kursorischen Durchsicht der zeitgenössischen Presseerzeugnisse. Denn diese ergibt den erstaunlichen Befund, dass die enttrümmernde Frau zeitgleich mit der Zulassung von Tageszeitungen und Frauenzeitschriften in Berlin und der SBZ zum Medienschlager avancierte, während sie sich in den Presseerzeugnissen der drei westdeutschen Besatzungszonen wie die Nadel im Heuhaufen präsentierte. Erklären lässt sich diese divergierende Medienpräsenz der »Trümmerfrau« nur durch einen kurzen Blick auf die Maßnahmen, die mit dem Ende des Krieges in den deutschen Städten zur Trümmerräumung ergriffen wurden.

D IE T RÜMMERRÄUMUNG IN

DER

N ACHKRIEGSZEIT

Entgegen heutiger Vorstellungen kam Frauen bei der Trümmerräumung in der Nachkriegszeit eine deutlich nachgeordnete Rolle zu. In erster Linie waren professionelle Firmen und Gesellschaften – ein prominentes Beispiel hierfür ist die Trümmerverwertungsgesellschaft in Frankfurt am Main – mit schwerem Gerät und Fachkräften die Akteure der Enttrümmerung (Schildt 2007: 10; Pohl 1999: 300-306). Über die Initiierung von Bürgereinsätzen und Dienstverpflichtungen von Arbeitslosen wurde der überall grassierende Arbeitskräftemangel der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgeglichen. Auch wenn das Kontrollratsgesetz Nr. 32 zumindest ab Juli 1946 den Einsatz von Frauen auf dem Bau und ganz explizit bei Aufräumungsarbeiten erlaubte (Anders o.J.: C 32/1; von Oertzen/Rietzel 1995: 30), waren Frauen bei der Trümmerräumung in der amerikanisch, französisch und britisch besetzten Zone eine Ausnahmeerscheinung. Grund dafür war, dass die Vertreter der deutschen Stadtverwaltungen und Behörden den Einsatz von Frauen zur Trümmerräumung in der Regel ablehnten und daher keine Maßnahmen ergriffen um ihn zu fördern bzw. alle Hebel in Bewegung setzten um ihn einzudämmen.1 Lediglich für Berlin und die Städte der SBZ lässt sich der Ein-

1

Gerade auf Initiative der britischen Militärregierung gab es Bestrebungen, auch Frauen zur Trümmerräumung heranzuziehen. Dieses Vorhaben wurde jedoch durch rest-

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satz von Frauen zur Enttrümmerung in einem größeren Umfang nachweisen. Bei diesen Frauen handelte es sich zumeist um Arbeitslose. Sowohl Männer als auch Frauen im arbeitsfähigen Alter waren verpflichtet, sich bei den Arbeitsämtern zu melden. Eine Unterlassung der Registrierungspflicht wurde mit dem Entzug der Lebensmittelkarte sanktioniert. Von den Arbeitsämtern wurden die Arbeitslosen schließlich als ungelernte Arbeitskräfte u. a. bei der Enttrümmerung eingesetzt. Aufgrund des besonders ausgeprägten ungleichen Geschlechterverhältnisses in Berlin und der SBZ waren Frauen vor allem in den Jahren 1945 und 1946 bei diesen Einsätzen in der Überzahl.2

D IE ENTTRÜMMERNDE F RAU B ERLIN UND DER SBZ

ALS

M EDIENSCHLAGER

IN

Diese Frauen, die offiziell in der Regel Bauhilfsarbeiterinnen genannt wurden (McAdams 1999: 151), stellen schließlich den Kern dar, von dem aus sich der Mythos der »Trümmerfrauen« entspinnt. Denn die in Berlin und der SBZ tätigen Journalisten machten nicht selten die auf den Enttrümmerungsbaustellen tätigen Bauhilfsarbeiterinnen zu den zentralen Protagonistinnen ihrer Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, in denen sie über die gerade stattfindende Trümmerräumung in den Städten berichteten. Diese regelrechte Medienkampagne darf jedoch keinesfalls als zufälliges Ergebnis der journalistischen Berichterstattung missinterpretiert werden. Vielmehr muss unterstellt werden, dass mit ihr eine ganz bestimmte Wirkung erzielt werden sollte. Schließlich setzten die Vertreter der Stadtverwaltungen in Berlin und den Städten der SBZ von Anfang an darauf, die Enttrümmerung durch den Einsatz von Arbeitslosen voranzutreiben. Diese machten sich jedoch keineswegs freiwillig an die Arbeit, wie es die Berichterstattung suggerieren wollte. Vielmehr herrschte eine negative Einstellung zur Trümmerräumung vor, die ganz am Anfang der Nachkriegszeit kein Geheimnis

riktive Verordnungen der Landesarbeitsämter ausgehebelt, die die Möglichkeiten, Frauen bei diesen Arbeiten einzusetzen, stark reglementierten. Vgl. Ruhl 1994: 37-41; Jül-A, IV-740: Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nord-Rheinprovinz an die Herren Vorsitzenden der Arbeitsämter, 27. Februar 1946; LA NRW Düsseldorf, NW 37, Nr. 647: Rundverfügung Nr. 118/1946 des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Westfalen-Lippe an die Arbeitsämter, 5. Juni 1946. 2

Vgl. für Berlin: LA Berlin, C Rep. 110, Nr. 56: Entwicklung des Arbeitseinsatzes, [Ende 1947]; Hanauske 1995: 177; vgl. für Dresden: StadtAD, 4.1.8, Nr. 55: Statistische Übersichten Monat Juli 1945.

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war und auch in den Tageszeitungen diskutiert wurde. So war im August 1945 in einer Dresdner Zeitung zu lesen: »Sieht man hingegen nicht an vielen Stellen nur müßig herumstehende diskutierende Gruppen – Frauen und Männer – auf Schaufeln und Hacke gestützt, gelangweilt ins Licht blinzelnd und nur auf den Feierabend wartend? Sieht man nicht schon auf weite Entfernung die Interesselosigkeit, das Muss, die notwendigen Lebensmittelmarken zu erhalten?« (Sächsische Volkszeitung, 26. August 1945: 1)

Diese negative Haltung galt es zu ändern, wenn die Trümmer nicht ewig auf den Straßen liegen bleiben sollten. Da vor allem Frauen das Arbeitskräftereservoir stellten, musste gerade für sie ein sinnhaftes Bild von der Arbeit in den Trümmern gezeichnet werden. Dies erforderte jedoch besondere Anstrengungen, denn die Trümmerräumung muss für die Frauen doppelt unattraktiv gewesen sein. Zum einen war die Arbeit schwer und dreckig und somit ohnehin keine ›klassische‹ Frauenarbeit. Zum anderen stand die Trümmerräumung ganz allgemein nicht gerade in einer Tradition, die den unbescholtenen deutschen Bürger zur Arbeitsaufnahme ermuntern musste. Denn Trümmer wurden in den deutschen Städten nicht erst nach der Kapitulation im Mai 1945 geräumt, sondern seit den ersten alliierten Luftangriffen im Jahr 1940. Schließlich musste das tägliche Leben in den Städten, trotz anhaltender Bombardierungen durch die Alliierten, aufrecht erhalten werden, wozu zumindest eine provisorische Trümmerräumung notwendig war. Diese wurde in der Zeit des Luftkrieges jedoch nicht von altruistisch motivierten deutschen Frauen durchgeführt. Vielmehr versuchten die Nationalsozialisten mit zentral gelenkten Maßnahmen den Trümmermassen Herr zu werden. Zum Einsatz kamen neben männlichen Handwerkern und Mitgliedern u. a. der Luftschutzpolizei, des Reicharbeitsdienstes, der HJ und der Wehrmacht vor allem Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.3 Dieser Umstand konnotierte die Trümmerräumung deutlich als Strafarbeit. Diese Idee wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den alliierten Militärregierungen und deutschen Stadtverwaltungen weiter fortgesetzt, denn nun wurden zu allererst ehemalige NSDAP-Mitglieder und deutsche Kriegsgefangene als Sühnemaßnahme zur Trümmerräumung eingesetzt.4 Innerhalb kürzester Zeit musste dieses

3

Vgl. für den Einsatz von KZ-Häftlingen zur Trümmerräumung v. a. die wegweisende

4

Für den Einsatz von Kriegsgefangenen vgl. beispielsweise: StadtAN, C 119, Nr. 13,

Studie von Karola Fings (2005) zu den SS-Baubrigaden. Auszug aus dem Amtsblatt Nr. 33, 19. September 1945; StASb, Dezernat GS, Nr. 39, Die Arbeitsmarktlage im September 1945, 11. Oktober 1945. Für den Einsatz von

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negativ besetzte Bild von der Trümmerräumung als Strafarbeit umgedeutet werden, um die Arbeitsmoral der bei der Enttrümmerung eingesetzten Arbeitslosen, insbesondere der Frauen, zu heben. Teil dieses medial gesteuerten Transformationsprozesses war zum einen die explizite Herauslösung der Tätigkeit der Bauhilfsarbeiterinnen aus dem Kontext der Strafarbeit. So stellt ein Artikel der Frauenzeitschrift Frau von heute von 1946 bereits mit seiner programmatischen Überschrift »›Kiek ma die NaziWeiba! Unter uns: Es sind gar keine!‹« klar heraus, dass die bei der Trümmerräumung eingesetzten Frauen nicht mit den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern zu verwechseln seien, die diese Arbeit als Sühnemaßnahme ausführen mussten (Frau von heute, 2. März-Heft 1946: 29). Zum anderen wurde durch die massenhafte Berichterstattung über das neuartige Phänomen der enttrümmernden Frauen in Berlin und in der SBZ ein positives Rollenvorbild zur Nachahmung geschaffen. In einem ersten Schritt wurden Frauen als Akteurinnen bei der Trümmerräumung in der lokalen und regionalen Berichterstattung überhaupt erst sichtbar gemacht. So war in einer Dresdener Tageszeitung zu lesen: »In den Straßen der Stadt Dresden sieht man überall zahlreiche Gruppen von Frauen und Männern – vorwiegend jedoch Frauen – die zu Aufräumungsarbeiten im Rahmen des Wiederaufbauprogramms der Stadt Dresden eingesetzt sind. […] Es ist Arbeit mit Hacke und Schaufel, körperliche und zumeist nicht leichte Arbeit. Schuttmassen von den Straßen räumen, Bombentrichter auffüllen, Panzersperren wegreißen, Kanalisationen, Schleusen und Gleisanlagen in Ordnung bringen, […]« (Sächsische Volkszeitung, 26. August 1945: 1)

Und der Auftakt der Berliner Enttrümmerung wurde mit folgenden Worten zusammengefasst: »Wohin wir auch schauen, wir gewahren Menschenketten, die die riesigen Schuttmassen des Hitlersystems zu beseitigen bestrebt sind oder sie doch wenigstens unsichtbar machen wollen. Eimer wandern von Hand zu Hand. Männlein und Weiblein, bunt durcheinander.« (Das Volk, 14. Juli 1945)

Frauen wurden als Akteurinnen bei der Trümmerräumung gemeinschaftlich mit Männern dargestellt, genauso wie es der Rekrutierungspraxis entsprach. Doch

ehemaligen NSDAP-Mitgliedern vgl. beispielsweise: StArch Kiel, 33463, Schreiben von Herrn Kr. an den OB, 4. Juni 1945; StAFfO, BA II, 1.3.19, 4159, Blatt 112.

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dabei blieb es nicht, denn gerade den Berliner Bauhilfsarbeiterinnen wurde exklusiv eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln gewidmet: »Charlottenburg in den Morgenstunden. In den Straßen sieht man große Kolonnen von Frauen mit Eimern und Schippen. Sie gehen zur angewiesenen Arbeitsstelle. Nicht mit Freude und Begeisterung, da das Schuttragen keine leichte Arbeit für die ausgemergelten Menschen ist. Der größte Teil aber hat die Notwendigkeit dieser Arbeiten eingesehen. Im Vorbeigehen höre ich, wie eine junge Frau zu einer älteren sagt: ›Irgendwie muß der Schutt ja weg. Von alleine wird nichts.‹ Die ältere ist ärgerlich: ›Na, und die Männer drücken sich darum.‹ ›Männer‹, sagt die junge Frau ironisch, ›sind nicht viel hier. Sie starben für Hitlers Sieg. Sind verkrüppelt oder befinden sich in Gefangenschaft. Da müssen wir Frauen uns schon selber helfen.‹« (Deutsche Volkszeitung, 26. Juni 1945: 2)

Diese Darstellung rekurrierte auf den akuten Männermangel, um den Einsatz der Frauen bei der Trümmerräumung zu begründen. Generell lieferte die demografische Umwälzung in der Berichterstattung einen häufig angeführten Grund, warum es überhaupt zu dem als ungewohnt wahrgenommenen Fraueneinsatz kam: »Wenn heute auf 100 männliche Einwohner 170 weibliche kommen, so wirkt sich das schon zum Beispiel auf den Arbeitsmarkt dergestalt aus, daß viele Arbeiten von Frauen ausgeführt werden müssen, die bisher als Männerarbeit galten und – ihrer Schwere wegen – eigentlich auch gelten müssen.« (Das Volk, 31. August 1945)

Die hier verfolgte Argumentationslinie, die Heranziehung von Frauen zu schwerer körperlicher Arbeit sei im Grunde abzulehnen und könne daher nur eine Notlösung sein, war jedoch die Ausnahme. Sehr viel häufiger baute der Plot der Zeitungsartikel auf einer positiven Wendung auf, wie er auch in der oben zitierten Episode zu der Charlottenburger Frauenkolonne angelegt war: Auch wenn die Arbeit schwer sei, hätten die Frauen die Zeichen der Zeit erkannt und würden trotz der widrigen Lebensumstände ihre Arbeitskraft nicht verweigern sondern sie in den Dienst der dringend notwendigen Schuttbeseitigung stellen. Freiwilligkeit und völlige Selbstlosigkeit bildeten schließlich die Attribute, die in der Berichterstattung den enttrümmernden Frauen beständig angedichtet wurden und ihren schönsten Ausdruck in folgendem Artikel finden: »Es war sehr kalt. Auf der Straße zwischen Ruinen und Steinhaufen saß eine alte Frau. Sie hatte einen Hammer und klopfte mit Eifer und Schwung, beinahe mit Grazie, Steine zurecht. Es hörte sich an, als würde der Takt zu einer flotten Melodie geschlagen. ›Wenn man Ihnen zusieht,‹ sagte ich, ›glaubt man, Steineklopfen sei die schönste Arbeit von der

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Welt‹. Die Alte sah auf. Oh Wunder, sie lächelte! ›Ach, wissen Sie, ich bin schon 'ne ziemlich alte Frau, ich habe im Leben viel durchgemacht. Habe nie geglaubt, daß ich wirklich mal Steine klopfen muß, aber man soll sich nicht versündigen.‹›Versündigen?‹ unterbrach ich sie. ›Wieso denn versündigen?‹ Die Alte lachte. ›Jahrelang habe ich während der ganzen schrecklichen Alarmzeit im Keller immer gesagt: Lieber will ich mein Leben lang Steine klopfen, wenn nur der Krieg zu Ende wäre. Sehen Sie, nun ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen, und wenn ich an meine Worte von damals denke, fällt mir das Steineklopfen nicht schwer!‹ Kling- kling, machte der Hammer und schlug die Steine.« (Tägliche Rundschau, 20. November 1945: 4)

Der Redakteur dieses Artikels scheute keine Mühe ein positives Bild von der weiblichen Arbeit bei der Trümmerräumung zu zeichnen: Die Arbeitsmotivation der Frau erstrahlt im hellsten Licht und auch die Arbeit selbst wird ästhetisiert – das Steineklopfen wird als »schönste Arbeit der Welt« beschrieben und der Aufbau des Artikels konstruiert eine klingende Melodie von Hammerschlägen, die die Lichtgestalt der älteren Dame einrahmt. Sie habe nicht nur freiwillig und selbstlos mit der Trümmerräumung begonnen, sondern ihr Entschluss zur Arbeitsaufnahme sei bereits während des Krieges gereift und sie übe die Trümmerräumung obendrein als Dank für das Kriegsende aus. Freiwilliges Anpacken bei der Trümmerräumung statt Bombenterror und Todesangst im Bunker – ein sinnhafteres Bild von der Frauenarbeit bei der Trümmerräumung, die demnach nichts anderes als eine ehrenhafte Arbeit sein konnte, hätte kaum entworfen werden können. Doch auch wenn diese und ähnlich lautende Botschaften in der Presse beständig wiederholt wurden, hieß das nicht automatisch, dass der ausgesäte Samen auch Früchte trug. Vielmehr blieb die Konnotation von der Trümmerräumung als Strafarbeit fest im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert. Gerade die betroffenen Frauen selbst waren weit davon entfernt ihre Arbeit in den Trümmern als eine freiwillige und heldenhafte Tat anzusehen. Gut ein Jahr nach Kriegsende meldeten sich in der Berliner Frauenzeitschrift Sie mehrere Bauhilfsarbeiterinnen in Form von Leserbriefen zu Wort. Grund für ihre Einsendungen war eine zuvor in der Zeitschrift veröffentlichte Gegenüberstellung von Emmy Göring und einer Berliner »Frau aus dem Volk«: Während sich erstere wohlgenährt und -gekleidet in einem idyllischen Dorf ihres Lebens erfreuen könne, friste die andere abgehärmt und hungernd als Arbeiterin ihr Dasein und müsse die von Hermann Göring und Konsorten verursachten Trümmer in der Großstadt räumen (Sie, 12. Mai 1946: 3). Ähnlich drastisch wie diese Darstellung fielen die Reaktionen der Frauen aus, die sich in der »Frau aus dem Volk« wiedererkannten. Voller Verbitterung schilderten sie, weshalb sie diese Arbeiten verrichteten:

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»Wir stehen auf den Trümmern, selbst Frauen, die im 63. Lebensjahre stehen, tragen Steine, schieben Loren, klopfen Ziegel ab. Wir nutzen unsere letzten Stiefel, das letzte Kleid ab, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, denn unsere Konten sind gesperrt worden.« (Sie, 2. Juni 1946: 2)

Kein Wort von einer intrinsischen Motivation, die sie zur Trümmerräumung antrieb und kein Wort von Ehre, die sie aufgrund ihrer Arbeit empfinden würden bzw. die ihnen deshalb gebühren sollte. Stattdessen die empörte Frage: »Wo hat sich Frau Göring eigentlich gemeldet, als die ›Sippe‹ zum Dreckschippen antreten mußte? Sie war doch selbst Parteimitglied. Wir Berliner Frauen haben die Trümmer beseitigt, die durch die ›Luftherrschaft‹ ihres hohen Gatten entstanden sind. Und das, ohne in der Partei gewesen zu sein. Hätte man sie dazu nicht auch heranziehen können? Allerdings hätten ihre zarten Hände gelitten, denn unsere sehen auch nicht mehr so aus wie früher. Und ihr Töchterchen liefe acht Stunden am Tage unbeaufsichtigt herum, wie unsere Kinder auch. Wir hoffen sie bald als Kollegin begrüßen zu können. Vielleicht kann mal ein Austausch stattfinden? ...« (Ebd.)

Im Bewusstsein dieser Frauen hatte sich die Trümmerräumung als freiwillige oder gar ehrenhafte Arbeit nicht verankert, sie war das geblieben, was sie in der Realität darstellte: eine harte und schmutzige Arbeit, die sie nur ergriffen, weil sie aufgrund sozialer Zwänge keine andere Wahl hatten. Und somit war auch das Bild von der Trümmerräumung als Strafarbeit in ihrer Wahrnehmung nicht überschrieben worden. Vielmehr fassten es die Frauen als Ungerechtigkeit, wenn nicht sogar als Strafe auf, dass sie unverschuldet diese Arbeiten verrichten mussten, während eine Frau Göring ungeschoren davon kam. Sie leiteten daraus die Forderung ab, diejenigen zur Räumung zu verpflichten, die sie für die Trümmer verantwortlich machten. Insofern kann dem Versuch, über die mediale Berichterstattung eine Umdeutung der Trümmerräumung von der Strafarbeit zur heldenhaften Tat der Frauen vorzunehmen, kein großer Erfolg attestiert werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass bei den Zeitgenossen und -genossinnen nicht der Effekt erzielt wurde, den man sich wohl erhofft hatte.5 Allerdings hatte die Medienkampagne eine sehr viel nachhaltigere Wirkung: Denn in den Zeitungsartikeln der Jahre

5

Frank Bösch und Norbert Frei haben darauf verwiesen, dass »Mediennutzer eigene Schlüsse aus medialen Repräsentationen ziehen«; gezielt gesteuerte Medienkampagnen also nicht zwangsläufig die intendierte Wirkung bzw. das beabsichtigte Ergebnis nach sich ziehen müssen. Vgl. hierzu: Bösch/Frei 2006: 13.

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1945 und 1946 tauchten bereits die Bilder und Stereotype auf, die noch heute die Erinnerungen an die »Trümmerfrauen« prägen. So zum Beispiel die konstatierte Freiwilligkeit und Selbstlosigkeit, mit der die Frauen angeblich ans Werk gegangen sind, oder die Vorstellung, der deutsche Wiederaufbau habe mit der Arbeitsleitung der Frauen begonnen: »Frauen schippen, Frauen putzen Ziegelsteine, tragen Balken, kurzum Frauen beseitigen Kriegstrümmer. […] Erfreuliche Bilder deutschen Neuaufbaus; […]« (Sie, 27. Januar 1946: 1) Ebenso betonten die Artikel den Dank, der den Frauen wegen ihrer nicht enden wollenden Opferbereitschaft bzw. der Mobilisierung ihrer Kraftreserven gebühre: »Wir achten diese Frauen ganz besonders, denn ihrer beherzten Tatkraft danken wir den ersten entscheidenden Schritt zum beginnenden Wiederaufbau. Sie verbergen ihre Enttäuschung über ihr Schicksal nicht, aber was auch geschehen mag: sie wollen über diese schwere Zeit hinweg. So entfalten sie unerwartete seelische und physische Kräfte und beweisen, daß auch das schwache Geschlecht sehr stark sein kann, wenn’s darauf ankommt.« (Neue Zeit, 27. April 1946: 3)

Darüber hinaus prägten die Artikel langlebige Bilder über die Art und Weise, wie die Frauen ihre Arbeit verrichteten: »Stein um Stein wanderte durch ihre Hände, Eimer um Eimer wurde weitergegeben. Lange Ketten von Menschen wanden sich durch das Geröll, sie endeten immer an einer Stelle, wo noch Platz für das zertrümmerte Gestein war. Die Ketten sind heute nicht mehr. Dafür sind Loren als willkommene Transportmittel gekommen. Frauen beladen sie, Frauen kippen sie aus, Frauen rollen mit ihnen zurück.« (Ebd.)

Das Bild von Frauen, die selbstlos, ja nahezu engelsgleich mit ihren Eimerketten begannen, Deutschland nach Kriegsende wieder aufzubauen, war entstanden.

D ER B EGRIFF DER »T RÜMMERFRAU « Geboren war jedoch nicht nur das Bild, sondern auch der Begriff, mit dem die heute noch gängigen Stereotype von Anfang an aufs Engste verknüpft wurden. Denn im Zusammenhang mit diesen Artikeln lässt sich erstmals der Begriff der »Trümmerfrau« nachweisen: »Neun Monate schweigen die Sirenen, neun Monate Frieden! Wir blicken zurück. Die Trümmerfrauen waren die ersten, die an die Arbeit gingen. Ein Symbol!« (Sie, 3. Februar 1946: 1) Verwendet wurde der Begriff jedoch nicht nur in Artikeln, die das Bild der symbolträchtigen »Trümmer-

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frauen« ausschmückten, sondern auch in solchen, die rein informativ über die Arbeitslage bei der Enttrümmerung berichteten. So lautet die Überschrift einer Berliner Tageszeitung »Weniger ›Trümmerfrauen‹« und im Artikel ist zu diesem Sachverhalt zu lesen: »Das hat den Magistrat dazu veranlaßt, im wesentlichen nur noch Firmen mit großen Geräten [bei der Enttrümmerung, L.T.] heranzuziehen. Bei dieser Umstellung kann damit gerechnet werden, daß von den rund 35 000 Arbeitskräften, die bisher bei der Enttrümmerung tätig waren 10 bis 15 Prozent entlassen werden. Zu einem Teil handelt es sich dabei um Frauen, die auf Anweisung der Alliierten Kommandantur, Kräfte für Aufgaben von besonderer Bedeutung heranzuziehen, beschäftigt worden waren, und die von sich aus gar nicht den Wunsch haben, erwerbstätig zu sein.« (Der Tagesspiegel, 5. Juli 1946: 6)

Die Verwendung des »Trümmerfrauen«-Begriffes in diesem Artikel offenbart schließlich den wesentlichen Wandel seines Bedeutungsinhaltes. Den Prämissen der Begriffsgeschichte folgend, die nach dem Ursprung eines Begriffes, den »temporalen Schichten«, die ihm innewohnen und den damit einhergehenden Wandlungen des Bedeutungsinhaltes fragt (Koselleck 2010: v.a. 9-102; Bödeker 2002), muss konstatiert werden: Während heute mit dem Begriff der »Trümmerfrau« nur allzu oft die Botschaft transportiert wird, alle deutschen Frauen der Nachkriegszeit hätten Trümmer geräumt bzw. der Begriff der »Trümmerfrau« zu einem Synonym für die Frau der deutschen Nachkriegszeit im allgemeinen gerinnt, so war der Kreis derjenigen Frauen, die ursprünglich damit gemeint waren, eng begrenzt: Der Begriff der »Trümmerfrau« bezeichnete erstens nur die Frauen, die als Bauhilfsarbeiterinnen bei der Trümmerräumung beschäftigt waren (und nicht etwa die Frauen, die in Selbsthilfe oder im Rahmen von Bürgereinsätzen Trümmer räumten), und zweitens nur diejenigen, die diese Arbeiten in Berlin verrichteten. Denn der Begriff der »Trümmerfrau« lässt sich zunächst nur in Zeitungsartikeln nachweisen, die der lokalen Berliner Presse entsprangen. In Dresdner Tageszeitungen fand er hingegen keine Verwendung, zumal der Einsatz von Frauen bei der Enttrümmerung dort insgesamt weniger häufig Gegenstand der Berichterstattung war (Sächsisches Tageblatt, 25. April 1946: 3; Sächsische Volkszeitung, 26. August 1945: 1). Der Begriff der »Trümmerfrau« wurde 1946 in Berlin aus der Taufe gehoben, was nicht zuletzt durch eine gleichlautende zeitgenössische Behauptung in der Neuen Zeit gestützt werden kann: »Trümmerfrauen – es ist ein hartes Wort, das die Berliner geprägt haben. Das mühevolle Leben der 41 000 [sic!] Frauen steht dahinter, die tagtäglich in den Ruinen schwere Arbeit leisten.« (Neue Zeit, 20. September 1946) Ob der Begriff vom Volksmund auf der Straße geprägt wurde und von dort Eingang in die jour-

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nalistische Berichterstattung fand, oder ob der Transfer andersherum verlief muss leider offen bleiben. Eindrücklich belegen lässt sich hingegen, dass der Begriff der »Trümmerfrau« auf das Engste mit Berlin verwoben blieb, und dass er von dort aus den Siegeszug seiner Verbreitung antrat. Im Laufe des Jahres 1947 fand der Begriff der »Trümmerfrau« allmählich Eingang in die SBZ-weit erscheinenden Frauenzeitschriften Frau von heute und Für Dich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten dort die Begriffe der »Schipperin« und der »Bauarbeiterin« als Bezeichnung für die bei der Enttrümmerung tätigen Frauen dominiert.6 Der Begriff der »Bauarbeiterin« orientierte sich dabei an der offiziellen Berufsbezeichnung Bauhilfsarbeiterin, mit der die Frauen von den Arbeitsämtern als Arbeitskräfte bei der Enttrümmerung erfasst wurden – die Unterschlagung der Silbe ›hilfs‹ wertete die Tätigkeit der Frauen jedoch auf, da sie dadurch nicht mehr als Hilfs- sondern als vollwertige Bauarbeiterinnen dargestellt wurden.7 Während dieser sehr allgemeine Begriff auch später hin und wieder für die enttrümmernden Frauen verwendet wurde (Frau von heute, 17/1947: 16-17; Frau von heute, 19/1948: 31), hatte der Begriff der »Schipperin« eine vergleichsweise kurze Lebensdauer. Er fand vor allem 1946 Verwendung, als sich der Begriff der »Trümmerfrau« noch nicht vollständig etabliert hatte (Frau von heute, 1. Februar-Heft/1946: 16; Frau von heute, 1. Mai-Heft/1946: Innenseite des Titelblattes und 16-17; Tägliche Rundschau, 5. Juni 1946). Es ist anzunehmen, dass der Begriff der »Schipperin« durch den der »Trümmerfrau« verdrängt wurde, zumal letzterer das Phänomen der Trümmerräumung durch Frauen wesentlich treffender charakterisierte – eine Schipperin konnte schließlich auch Erde, Sand oder dergleichen wegschippen, eine »Trümmerfrau« jedoch nur die Trümmer, die der Krieg tonnenweise hinterlassen hatte. Daran anknüpfend kann die naheliegende Vermutung formuliert werden, dass die neuartige Erscheinung der trümmerräumenden Frauen auch eine »linguistische Innovation«8 erforderte

6

Auch in Tageszeitungen, die in Berlin und der SBZ erschienen, waren 1946 die Begriffe »Bauarbeiterin« und »Schipperin« verbreitet, vgl. beispielsweise: Neue Zeit, 20. September 1946; Tägliche Rundschau, 5. Juni 1946; Neues Deutschland, 24. Juli 1946.

7

Vgl. zur Verwendung des Begriffs der Bauarbeiterin: Sächsisches Tageblatt, 9. Mai 1946: 3; Für Dich, 8/1946: 5.

8

Koselleck definiert »linguistische Innovationen« als neu geprägte Begriffe. Er stellt sie denjenigen Begriffen gegenüber, die eine semantische Kontinuität aufweisen, auch wenn sich in ihren temporalen Schichten verschiedene Bedeutungsinhalte ablesen lassen. »Linguistische Innovationen« treten nach Koselleck immer dann zutage, wenn sich ein (neues) Phänomen nicht mehr angemessen beschreiben lässt bzw. die bislang

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– dass Begriffe, die dem Wortschatz bereits zuvor zur Verfügung standen, dem neuen Phänomen nicht ausreichend gerecht werden konnten. Allerdings blieb der neue Begriff der »Trümmerfrau« zunächst stark in dem Kontext verhaftet, in dem er geprägt worden war. Denn in all den seit 1947 erscheinenden Artikeln der SBZ-Frauenzeitschriften, in denen die »Trümmerfrauen« begrifflich in Erscheinung traten, blieben sie ganz ausdrücklich Berliner Frauen, die zum Beispiel auf dem Gendarmenmarkt auch bei Frost ihrer harten Arbeit nachgingen, am Wilhelmplatz großreinemachten oder den Grundstein für den Wiederaufbau der Museumsinsel legten. Ihnen wurden in Berliner Mundart Gedichte gewidmet und sie wurden zum Gegenstand von Erzählungen gemacht (Für Dich, 3/1947: 5; Für Dich, 2/1948: 5; Frau von heute, 12/1949: 16-17; Für Dich, 2/1948: 5; Frau von heute, 1/1949: 9). Von Anfang an wurde dadurch eine symbiotische Verbindung zwischen den »Trümmerfrauen« und ihrer Verortung in Berlin erzeugt. Gerade in den überregional erscheinenden Frauenzeitschriften der SBZ lassen sich Artikel über das Phänomen der enttrümmernden Frauen, die nicht auf Berlin rekurrierten, bis zum Ende der 1940er Jahre kaum finden. Und wenn die enttrümmernde Frau außerhalb Berlins in Erscheinung trat, dann nicht unter der Bezeichnung »Trümmerfrau«. So ziert den Artikel über »Die im Kriege am stärksten zerstörte Stadt Dresden« zwar ein Bild, das Frauen beim Schieben einer mit Trümmerschutt beladenen Lore zeigt, doch weist die Bildunterschrift diese schlicht als »aufbauwillige Menschen« aus (Für Dich, 19/1949: 5). Zur Übertragung des »Trümmerfrauen«-Begriffs auf Frauen, die in anderen Städten der SBZ bei der Enttrümmerung tätig waren, kam es nur ganz allmählich. Einen ersten Hinweis darauf liefert ein Situationsbericht des Landesarbeitsamtes Sachsen von Juni 1949, in dem es im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Arbeitskräften für die Dresdner »Aktion Arbeitskraft« hieß: »Die größten Schwierigkeiten dabei, nämlich die Beschaffung von Arbeitskleidung und Schuhen, wurden überwunden, indem durch Vermittlung der Frauensachbearbeiterin bereits 3000 mtr. Faserstoff zur Anfertigung von Berufskleidung für Trümmerfrauen von der Landesregierung zur Verfügung gestellt wurden.«9

Die Nennung des Begriffs »Trümmerfrau« in diesem Zusammenhang ist aus drei Gründen bemerkenswert: Erstens wird deutlich, dass die Berichte über die Berli-

dafür verwendeten Begriffe diesem Phänomen in seiner Bedeutung nicht (mehr) gerecht werden können. Vgl. Koselleck 2010: 96ff. 9

StadtAD, 4.1.8, Nr. 45: Situationsbericht des Landesarbeitsamtes Sachsen für den Monat Mai 1949, 9. Juni 1949.

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ner »Trümmerfrauen« auch außerhalb Berlins wahrgenommen wurden, womit eine Übertragung erst möglich wurde. Dies führte zweitens dazu, dass der Begriff aus dem Berliner Kontext herausgelöst wurde, der Bedeutungsinhalt jedoch unverändert blieb – mit »Trümmerfrauen« waren weiterhin die von den Arbeitsämtern vermittelten arbeitslosen Frauen gemeint. Allerdings nutzten drittens nicht mehr nur die Pressevertreter den Begriff der »Trümmerfrau«, vielmehr hatte er Einzug in die Amtssprache gehalten. Auch wenn sich der Begriff der »Trümmerfrau« in der offiziellen Amtssprache der Arbeitsämter und Stadtverwaltungen nicht wirklich etablieren konnte, indem er etwa den Begriff der Bauhilfsarbeiterin verdrängte, zeigen das angeführte Beispiel und ein ähnlich lautendes aus Berlin dennoch,10 dass der Begriff der »Trümmerfrau« Ende der 1940er Jahre salonfähig geworden war. Sein Bedeutungsinhalt war so klar umrissen, dass er auch in amtlichen Kontexten genutzt werden konnte, um die von den Arbeitsämtern zur Enttrümmerung vermittelten Frauen zu benennen.

D IE T RÜMMERFRAU

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Die Verbreitung des so aufgeladenen Begriffs der »Trümmerfrau« und des damit einhergehenden Bildes von den heldenhaften Frauen bedarf an dieser Stelle einer Präzisierung: Denn die »Trümmerfrau« diffundierte von Berlin aus zwar zügig gen ›Osten‹, die Membran in Richtung ›Westen‹ erwies sich allerdings als wesentlich undurchlässiger. Im Gegensatz zu Berlin und der SBZ führte die »Trümmerfrau« in der medialen Berichterstattung der drei westdeutschen Besatzungszonen ein Schattendasein – veranschaulichen lässt sich dies schon dadurch, dass das Thema der Trümmerräumung durch Frauen in dem seit 1947 erscheinenden Spiegel bis Ende der 1940er Jahre nur ein einziges Mal in einer Randnotiz aufgegriffen wurde.11 In Anbetracht der Tatsache, dass Frauen bei der Trümmerräumung auf den Straßen der westdeutschen Städte so gut wie gar nicht in Erscheinung traten, ist diese fehlende mediale Rezeption jedoch wenig verwunderlich. Anders als in den Städten der SBZ bot sich die Figur der Berliner

10 Vgl. LA Berlin, B Rep. 213, Nr. 188: Verfügung Nr. 5 von Abteilung für Arbeit Berlin-Tempelhof, 19. Februar 1948. 11 Unter der Rubrik »Personalien« wurde von Frau Conrad berichtet, der Gattin eines verstorbenen Ethnologie-Professors, die sich im Krieg dazu bewegen ließ, in die NSDAP einzutreten, deshalb ihren Pensionsanspruch verlor und »als Bauarbeiterin in Berlin ihr Leben fristen« musste; eine Abbildung zeigt sie beim Steineklopfen, vgl. Der Spiegel, 3/1947: 12.

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»Trümmerfrau« als Projektionsfläche für die Akteure der Enttrümmerung in den westdeutschen Städten nicht an. Die wenigen Zeitungsartikel, die sich in der überregionalen westdeutschen Presse zu diesem Thema finden lassen, beschränken sich daher darauf, das Phänomen der enttrümmernden Frauen als Berliner Spezifikum darzustellen. Bereits im August 1945 hieß es in der Frankfurter Rundschau in der Unterschrift eines Bildes, dass Frauen bei der EimerkettenEnttrümmerung zeigt: »Zupacken! – Darauf kommt es an! Berliner Frauen bei Aufräumarbeiten. Sie bilden lange Eimerketten, um die Trümmer wegzuräumen.« (Frankfurter Rundschau, 4. August 1945) Der Begriff der »Trümmerfrau«, der zu diesem frühen Zeitpunkt selbst in Berlin noch nicht zur Verfügung stand, etablierte sich in der überregionalen westdeutschen Presse schließlich im Jahr 1948, und fand – es hätte kaum anders sein können – nur dann Verwendung, wenn über die Frauen berichtet wurde, die in Berlin enttrümmerten: »Früher war sie Mannequin Unter den Linden, heute ist sie […] nur ein paar Häuser weiter Trümmerfrau in der Friedrichstraße und winkt den Trümmerexpreß ein, der den Trümmerschutt aus der toten Innenstadt Berlins hinausschafft. Die Zeit zwingt die Frauen zur Selbständigkeit.« (Constanze, 2/1948: 4-5)

Auch wenn die Berliner »Trümmerfrauen« in diesen beiden Artikeln in einem durchaus positiven Licht dargestellt wurden, blieb die westdeutsche Berichterstattung über sie ambivalent. So hieß es beispielsweise in einem ebenfalls 1948 erschienenen Interview mit Lise Albrecht, der zweiten Vorsitzenden der bayerischen SPD, aus Anlass ihrer Rückkehr von einer Berlinreise: »Schrecklich war mir der Anblick der sogenannten Schuttfrauen, die Berlin aufräumen und zum Teil in schweren Männerberufen wieder aufbauen.« (Frankfurter Rundschau, 31. Juli 1948: 1-2) In aller Eindringlichkeit unterstreicht diese Aussage obendrein, dass die »sogenannten Schuttfrauen« als Berliner Phänomen wahrgenommen wurden, ihr Anblick in den übrigen westdeutschen Städten ein unbekannter war und mitunter kritisch beäugt wurde.

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R ESÜMEE

UND

AUSBLICK

Im Gegensatz zur heutigen Omnipräsenz der »Trümmerfrau« in den medial verbreiteten Erinnerungsberichten zur deutschen Nachkriegszeit und der dadurch genährten Vorstellung, alle deutschen Frauen der Nachkriegszeit seien »Trümmerfrauen« gewesen und hätten ganz Deutschland von Schutt und Trümmern befreit, eröffnet die Analyse der zeitgenössischen Presserzeugnisse eine sehr viel differenziertere Perspektive. Denn weder waren Frauen in der Nachkriegszeit qua Definition »Trümmerfrauen«, noch haben Frauen überhaupt die Hauptlast der Enttrümmerung getragen. Vielmehr muss die Heranziehung von Frauen zur Trümmerräumung als regionales Phänomen begriffen werden, das sich auf Berlin und die Städte der SBZ beschränkte. Damit einhergehend wurde die »Trümmerfrau« zwar bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum stehenden Begriff und heldenhaften Vorbild in den Medien stilisiert, jedoch ebenfalls nur in Berlin und der SBZ. In den westdeutschen Besatzungszonen war die »Trümmerfrau« hingegen weder als reales Phänomen auf den Straßen noch als Medienstar in den Presseerzeugnissen in nennenswertem Umfang anzutreffen. Bis es soweit war und die »Trümmerfrau« als Gedenkikone auch in den populären Medien der 1949 gegründeten BRD Eingang gefunden hatte, war es noch ein weiter Weg. Denn im Gegensatz zur DDR, in der die von Medien und Politik gelenkte Erinnerung an die »Trümmerfrau«, ausgehend von der medialen Repräsentation in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den dabei erzeugten Bildern, beständig gepflegt und reproduziert wurde, fristete die »Trümmerfrau« im kollektiven Gedächtnis der BRD lange Zeit ein Mauerblümchen-Dasein. Hier war ihre Zeit erst in den 1980er Jahren mit der Popularisierung der Frauengeschichtsschreibung und den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um das »Babyjahr« angebrochen (Kramer 2011: 320-335). Im Zuge dieser Debatten wurde die Figur der Berliner »Trümmerfrau« wieder- bzw. neuentdeckt. Die bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen Narrative über die heldenhaften Berliner »Trümmerfrauen« wurden aufgegriffen, ausgeschmückt und zu einer übergreifenden Generationserfahrung erweitert. Die dabei erzeugten Bilder und Vorstellungen, die nicht zuletzt von den Medien transportiert wurden, waren es schließlich, die das heutige »Trümmerfrauen«-Bild im kollektiven Gedächtnis nachhaltig prägen sollten.

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L ITERATUR Bödeker, Hans Erich (2002): »Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode«. In: Ders. (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 73-121. Bösch, Frank/Norbert Frei: »Die Ambivalenz der Medialisierung: Eine Einführung«. In: Dies. (Hg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 7-23. Fings, Karola (2005): Krieg, Gesellschaft und KZ: Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn: Schöningh Verlag. Hanauske, Dieter (1995): »Bauen, bauen, bauen …!«: Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945-1961, Berlin: Akademie Verlag. Koselleck, Reinhart (2010): Begriffsgeschichten: Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Kramer, Nicole (2011): Volksgenossinnen an der Heimatfront: Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Krauss, Marita: »Trümmerfrauen: Visuelles Konstrukt und Realität«. In: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. Band I: 1900 bis 1949, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 738-745. McAdams, Kay L. (1999): »›Ersatzmänner‹: Trümmerfrauen and Women in ›Men’s Work‹ in Berlin and in the Soviet Zone, 1945-1950«. In: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter in der SBZ–DDR, Essen: Klartext Verlag, S. 151-167. Oertzen, Christine von/Almut Rietzel (1995): »Neuer Wein in alten Schläuchen: Geschlechterpolitik und Frauenerwerbsarbeit im besetzten Deutschland zwischen Kriegsende und Währungsreform«. Ariadne: Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 27, S. 28-35. Pohl, Manfred (1999): Philipp Holzmann: Geschichte eines Bauunternehmens 1849-1999, München: C. H. Beck. Ruhl, Klaus-Jörg (1994): Verordnete Unterordnung: Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit (1945-1963), München: Oldenbourg Verlag. Schildt, Axel (2007): Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München: Oldenbourg Verlag.

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Gedruckte Quellen Anders, Reinhard: Die Proklamationen, Gesetze und Verordnungen der Militärregierung Deutschlands (Amerikanische Zone). Einschliessl. d. Proklamationen u. Gesetze d. Alliierten Kontrollbehörde Kontrollrat. Engl. u. dt. Text. Karlsruhe o. J. Ungedruckte Quellen Landesarchiv Berlin (= LA Berlin): B Rep. 213, Nr. 188; C Rep. 110, Nr. 56. Landesarchiv Düsseldorf (= LA NRW Düsseldorf): NW 37, Nr. 647. Stadtarchiv Dresden (= StadtAD): 4.1.8, Nr. 45; 4.1.8, Nr. 55. Stadtarchiv Frankfurt/Oder (= StAFfO): BA II, 1.3.19, 4159. Stadtarchiv Jülich (= Jül-A): IV-740. Stadtarchiv Kiel (= StArch Kiel): 33463. Stadtarchiv Nürnberg (= StadtAN): C 119, Nr. 13. Stadtarchiv Saarbrücken (= StASb): Dezernat GS, Nr. 39. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Constanze (1948): »Hut ab vor unseren Frauen«. In: Constanze vom 2/1948, S. 4-5. Das Volk (1945): »Berlin und seine Einwohner«. In: Das Volk vom 31. August 1945. Das Volk (1945): »Was in Trümmern verborgen ist: Das Geld liegt auf der Straße«. In: Das Volk vom 14. Juli 1945. Der Spiegel (1947): »Personalien«. In: Der Spiegel 3/1947, S. 12. Der Tagesspiegel (1946): »Die Arbeitslage in Berlin: Bestimmungen über den Arbeitsplatzwechsel – Weniger Trümmerfrauen«. In: Der Tagesspiegel vom 5. Juli 1946, S. 6. Deutsche Volkszeitung (1945): »Die Frauen packen an: Aufbau in Charlottenburg«. In: Deutsche Volkszeitung vom 26. Juni 1945, S. 2. Frankfurter Rundschau (1945): »Zupacken! – Darauf kommt es an!« In: Frankfurter Rundschau vom 4. August 1945. Frankfurter Rundschau (1948): »Frauen in der Festung Berlin«. In: Frankfurter Rundschau vom 31. Juli 1948, S. 1-2. Frankfurter Rundschau (2009): »Wir sind Deutschland«. In: Frankfurter Rundschau vom 22. Mai 2009, S. 2.

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Frau von heute (1946): »›Kiek ma die Nazi-Weiba! Unter uns: Es sind gar keine!‹« In: Frau von heute 2. März-Heft/1946, S. 29. Frau von heute (1946): »Die linden Lüfte sind erwacht …«. In: Frau von heute 1. Mai-Heft/1946, S. 16-17. Frau von heute (1946): »Unser Titelbild«. In: Frau von heute 1. Mai-Heft/1946, Innenseite des Titelblattes. Frau von heute (1946): »Unsere Schipperinnen feiern ein Fest«. In: Frau von heute 1. Februar-Heft/1946, S. 16. Frau von heute (1947): »Sie arbeiten«. In: Frau von heute 17/1947, S. 16-17. Frau von heute (1948): »Wissenswertes für die Berlinerin«. In: Frau von heute 19/1948, S. 31. Frau von heute (1949): »Frauen in Berliner Museen«. In: Frau von heute 12/ 1949, S. 16-17. Frau von heute (1949): »Ja, und dann habe ich zwei Kinder …«. In: Frau von heute 8/1949, S. 18-19. Frau von heute (1949): »Wir laden den Kies …«. In: Frau von heute 1/1949, S. 9. Für Dich (1946): »Sorge Dich nicht, Dein Kind hat es gut«. In: Für Dich 8/1946, S. 5. Für Dich (1947): »Trümmerfrauen bei Frost«. In: Für Dich 3/1947, S. 5. Für Dich (1948): »Die Trümmerfrau«. In: Für Dich 2/1948, S. 5. Für Dich (1948): »Großreinemachen am Wilhelmplatz«. In: Für Dich 2/1948, S. 5. Für Dich (1949): »Die im Kriege am stärksten zerstörte Stadt Dresden«. In: Für Dich 19, S. 5. Neue Zeit (1946): »Die Trümmerfrauen von Berlin«. In: Neue Zeit vom 20. September 1946. Neue Zeit (1946): »Stein um Stein: Frauenarbeit in den Trümmern Berlins«. In: Neue Zeit vom 27. April 1946, S. 3. Neues Deutschland (1946): »Gleicher Lohn für gleiche Leistung: Bei unseren Bauarbeiterinnen«. In: Neues Deutschland vom 24. Juli 1946. Sächsische Volkszeitung (1945): »Mehr Tempo beim Aufbau Dresdens!« In: Sächsische Volkszeitung vom 26. August 1945, S. 1. Sächsisches Tageblatt (1946): »Mit Bagger und Feldbahnen: Ein Gang über die Großbaustelle Dresden-Johannstadt«. In: Sächsisches Tageblatt vom 25. April 1946, S. 3. Sächsisches Tageblatt (1946): »Schaffende Frauen«. In: Sächsisches Tageblatt vom 9. Mai 1946, S. 3. Sie (1946): »Briefe an die Herausgeber«. In: Sie vom 2. Juni 1946, S. 2.

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Sie (1946): »Der Platz an der Sonne«. In: Sie vom 27. Januar 1946, S. 1. Sie (1946): »Ein Jahr nach dem Zusammenbruch«. In: Sie vom 12. Mai 1946, S. 3. Sie (1946): »Frauen vor Frauen: Notizen zur Kundgebung im Admiralspalast«. In: Sie vom 3. Februar 1946, S. 1. Tägliche Rundschau (1945): »Die Sünde«. In: Tägliche Rundschau vom 20. November 1945, S. 4. Tägliche Rundschau (1946): »Unterstützung für die Schipperinnen«. In: Tägliche Rundschau vom 5. Juni 1946.

Von der zeitgenössischen Fiktion zur Dokumentation historischer Realität? Gender in US-amerikanischen Family Sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre1 A NDRE D ECHERT

»Contrary to popular opinion ›Leave it to Beaver‹ was not a documentary.« (Coontz 1992: 29) Mit diesen Worten fasste die US-amerikanische Historikerin Stephanie Coontz in ihrer 1992 erschienenen Studie The Way We Never Were. American Families and the Nostalgia Trap ironisch, aber doch treffend die Bedeutung und den Einfluss von US-amerikanischen Sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre zusammen. In der Folge ihrer Ausstrahlung und einer anhaltenden Popularität, die in zahlreichen Wiederholungen im US-amerikanischen TV Ausdruck fand (Leibman 1995: 21-22; LaRossa 2004: 58), prägten insbesondere die um die Institution der Familie kreisenden Sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver und The Adventures of Ozzie and Harriet ein Bild der Geschlechterrollen in der US-amerikanischen Familie der 1950er Jahre, welches im Laufe der folgenden Jahrzehnte in der öffentlichen Wahrnehmung teils für ein Abbild historischer Realität gehalten wurde.2 So strahlte NBC im Januar 1

Dieser Beitrag entstand als Teil meines Dissertationsprojektes »Dad on TV: Debatten über Vaterschafts- und Familienrepräsentationen US-amerikanischer Sitcoms, 198192« (Arbeitstitel), welches in der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe der DFG »Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im 20. Jahrhundert« unter der Leitung von Prof. Dr. Isabel Heinemann an der WWU Münster angesiedelt ist.

2

Father Knows Best (CBS 1954-55; NBC 1955-58; CBS 1958-60); Leave it to Beaver (CBS 1957-63); The Adventures of Ozzie and Harriet (ABC 1952-66). Diese drei Serien zählten gemessen an den Zuschauerquoten zwar nicht zu den populärsten TV-

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1990 die Dokumentation Who Killed Ozzie and Harriet? aus, welche sich mit dem Wandel der Familie seit den 1950er Jahren befasste. Bilder der Sitcom The Adventures of Ozzie and Harriet wurden dokumentarischen Aufnahmen amerikanischer Familien aus den frühen 1990er Jahren gegenübergestellt um so den gesellschaftlichen Wandel zu verdeutlichen (Skolnick 1991: xv-xvi). Fiktion der 1950er Jahre wurde in diesem Fall neu definiert als dokumentarisches Material einer historischen Realität, die sich – wie die Forschung gezeigt hat – maßgeblich von der dargestellten Realität der genannten Sitcoms unterschied. Doch warum entfalteten diese sogenannten family sitcoms eine derartige diskursive Wirkungsmächtigkeit, die sich (zumindest) bis in die 1990er Jahre erstreckt?3 Warum ist eine Vielzahl jener in den 1950er Jahren produzierten Darstellungen von Familien, die vom Modell der ›isolated nuclear family‹4 mit dem Vater als Alleinverdiener und der Mutter als Hausfrau abwichen, im kollektiven Gedächtnis der US-amerikanischen Gesellschaft tendenziell in Vergessenheit geraten, während Sitcoms wie The Adventures of Ozzie und Harriet das retrospektive Bild der USA der 1950er umso deutlicher prägen? (LaRossa 2004: 57-61) Aufschluss bietet, so argumentiere ich im Folgenden, eine nähere Betrachtung des Familien- bzw. des Genderdiskurses anhand der Rezeption der drei über Jahrzehnte populären Sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver sowie The Adventures of Ozzie and Harriet in der US-amerikanischen Mainstream-Presse. In Folge des sogenannten visual turns haben Bilder – und damit auch ›bewegte Bilder‹ wie TV-Serien – in der Geschichtswissenschaft neue Bedeutung gewonnen. Sie werden nicht länger als bloße Illustrationen verstanden, sondern als bedeutende kommunikative Handlungen und wesentliche Teile von Diskursen, die unsere Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägen (Paul 2010; Cameron 2005). Angesichts ihrer Wirkungsmächtigkeit sind

Sendungen ihrer Zeit, erreichten aber aufgrund des Monopols der drei großen Networks ABC, CBS und NBC dennoch hohe Zuschauerzahlen (vgl. LaRossa 2004: 5758, 68, n. 46). Für eine tabellarische Übersicht der Ratings von TV-Serien der Prime Time der US-amerikanischen Network- und Kabelsender von 1946 bis 2007: Brooks/Marsh 2007: 1679-1698. 3

Diskursive Wirkungsmächtigkeit wird hier im Sinne Michel Foucaults verstanden, welcher die produktive, wirklichkeitskonstituierende Kraft des Diskurses hervorhebt (Foucault 1997: 74).

4

Der Begriff ›isolated nuclear family‹ geht auf den US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zurück, der damit ein Familienideal bezeichnete, welches in Anpassung an die industrielle Gesellschaft im Zeitalter des Konsums entstanden sei (Parsons 1955: 16).

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auch die US-amerikanischen family sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre vermehrt in den Blick historischer Forschung in verschiedensten akademischen Disziplinen geraten (Gilbert 2005; Haralovich 2005; LaRossa 2004; LaRossa 2011; Leibman 1995; Spigel 1992; Taylor 1989). Dabei bleibt jedoch die Frage nahezu unberührt, wann und in welchem Kontext diese Darstellungen der USamerikanischen Familie und ihrer Geschlechterrollen welche Wirkung entfaltet haben bzw. wie diese Darstellungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der USamerikanischen Gesellschaft gedeutet wurden. Doch gerade eine Untersuchung dieser Fragen bietet wertvolle Hinweise und Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse und Kontinuitäten in einer höchst selbstreflexiven modernen Gesellschaft wie den USA. Zum einen betonten USAmerikaner seit den frühen Tagen des Fernsehens die Funktion von TV-Serien als Rollenmodell, insbesondere in Bezug auf die Darstellung von Geschlechterrollen (LaRossa 2004: 61). Zum anderen wurde der Familie während des gesamten 20. Jahrhunderts der Status als wichtigste Mikroeinheit der USamerikanischen Gesellschaft nach dem Individuum zugesprochen (Heinemann 2011: 3). Wird in der historischen Forschung zwar die Macht der Bilder postuliert, so stellt sich doch immer wieder die Frage, wie diese analytisch zu fassen ist. Wie und wann gelang es den Sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver und Ozzie and Harriet, als Verkörperung ›der‹ idealen US-amerikanischen Familie der 1950er und frühen 1960er Jahre wahrgenommen und zu »Ikonen des kulturellen Gedächtnisses« (Paul 2010: 4) zu werden? Da kulturelle Produkte keine Gegenstände mit einer festen inhärenten Bedeutung sind und ihre jeweilige Bedeutung immer erst und beständig neu in Interpretationsprozessen der aufnehmenden Subjekte entfalten (Hall 2010: 44-55), erscheint eine Analyse der Rezeption dieser Serien in der US-amerikanischen Öffentlichkeit als vielversprechender Ansatz, der jedoch bisher in der Forschung relativ wenig Beachtung gefunden hat (eine Ausnahme sind z.B. die Studien Aniko Bodroghkozys). Eine Rezeptionsanalyse erkennt nicht nur die diskursive Macht der Bilder an, indem sie fragt, welche Bedeutungen diesen zugewiesen wurden, sondern kann zugleich noch Wandlungsprozesse in der Deutung und Bedeutungszuweisung an diese Serien in den Blick nehmen. Ich verstehe den Begriff Rezeption dabei in Anknüpfung an Christina von Hodenberg im Sinne eines historisch-hermeneutischen Ansatzes (von Hodenberg 2012: 40-43). Ziel ist es, so die Bedeutungszuweisungen an die family sitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre in der US-amerikanischen Öffentlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Teil der US-amerikanischen Gender- und Familiendiskurse zu analysieren. Dieser Aufsatz beschränkt sich in seinem Ana-

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lysezeitraum jedoch nicht auf die 1960er und 1970er Jahre – einen Zeitraum, für den nach Christina von Hodenberg die Rezeptions- und Wirkungsprozesse in den USA aufgrund einer Knappheit des Angebots in Verbindung mit dessen hoher Reichweite »besser belegbar [seien, A.D.] als je zuvor oder danach« (von Hodenberg 2012: 42). Ich greife hingegen weiter aus, da – wie John Fiske betont hat – Deutungen eines TV-Programms in der Gesellschaft nicht nur durch den Kreis der unmittelbaren Zuschauer zirkulieren, sondern auch durch jene, die mit diesem Produkt nur indirekt in Berührung gekommen sind, sei es z.B. in persönlichen Gesprächen (Fiske 1992: 353). So kann sich auch für TV-Programme früherer oder späterer Dekaden eine außerordentlich gute Quellenlage zur Erfassung der Rezeption ergeben. Zudem gilt es in diesem konkreten Fall zu bedenken, dass die 1950er Jahre-Sitcoms bereits zum Zeitpunkt ihrer Erstausstrahlung hohe Zuschauerzahlen erreichten und zudem durch ihre Wiederholungen kontinuierlich in der US-amerikanischen Gesellschaft präsent blieben. Doch wie erfasst man die Rezeption der family sitcoms der 1950er und 1960er Jahre in der US-amerikanischen ›Öffentlichkeit‹? Aufgrund der Heterogenität der US-amerikanischen Gesellschaft – hier sei nur kurz auf die Kategorien gender, race, ethnicity und class hingewiesen – kann und soll hier eine Annäherung an das Idealkonstrukt einer Öffentlichkeit als »Medium der Selbstreferenz der Gesellschaft« (Imhof 1996: 4) über die Betrachtung eines Teils der Medienöffentlichkeit erfolgen.5 Eine Untersuchung der ›veröffentlichten Meinung‹ in der Mainstream-Presse – hier verstanden als auflagenstarke Zeitungen und Zeitschriften, die sich an ein breites, nationales Publikum richten – erscheint aufgrund mehrerer Faktoren sinnvoll. Zum einen sind die Massenmedien pluralistischer Gesellschaften zwar nicht mit einer idealtypisch gedachten Öffentlichkeit gleichzusetzen, doch bietet ihre Analyse einen Einblick in gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse und den Wettstreit verschiedener Meinungen (Requate 1999: 9). So haben sich insbesondere die in diesem Artikel als Quellen herangezogenen großen nationalen Tageszeitungen Chicago Tribune, New York Times, Los Angeles Times und Washington Post sowie das Magazin Time in den USA als Ort der gesellschaftlichen Thematisierung von TV-Serien als Rollenmodell in Bezug auf die US-amerikanische Familie erwiesen (Dechert 2012). Zum anderen sind die Thematisierungen der TV-Serien in der Presse selbst ein signifikanter Teil des Diskurses. Sie können – so die Theorien des ›agenda settings‹ und ›framings‹ – die individuelle Deutung des thematisierten Objektes maßgeblich beeinflussen:

5

Vgl. zum Problemfeld der ›Öffentlichkeit(en)‹ Warner 2002: 49-90.

G ENDER IN US- AMERIKANISCHEN F AMILY S ITCOMS | 213

»Whatever the attributes of an issue – or other topic – presented on the news agenda, the consequences for audience behavior are considerable. How a communicator frames an issue sets an agenda of attributes and can influence how we think about it. Agenda setting is a process that can affect both what to think about and how to think about it« (McCombs/Shaw 1993: 62-63; Entman 1993: 51-58).

Der Blick auf den sogenannten ›mainstream‹ der US-amerikanischen Gesellschaft erscheint als ein erster Schritt zur Untersuchung der Bedeutung der family sitcoms der 1950er Jahre sinnvoll, da sich die Serien sowohl an ein Massenpublikum richteten als auch ein Idealbild der US-amerikanischen Familie abzubilden suchten (Taylor 1989: 151-152; Leibman 1995: 223). Folgende Fragen sind zentral in meiner Analyse der Rezeption der family sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver und The Adventures of Ozzie and Harriet in der US-amerikanischen Mainstream-Presse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts:6 (1) Wie wurden die in den drei Sitcoms dargestellten Familien und Geschlechterrollen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interpretiert? (2) Ging der gesellschaftliche Wandel mit einem Wandel der Interpretation dieser Serien einher? (3) Wurden die in den Sitcoms dargestellten Geschlechterstereotypen in der öffentlichen Diskussion idealisiert und dienten in der Folge ihrer Ausstrahlung als Referenzpunkt für eine Vorstellung von historischer Realität, die allein Produkt dieser Serien war? Dieser Artikel konzentriert sich dabei auf die schriftlichen Thematisierungen der Serien. Die teils beigefügten Bilder der Serien – wobei es sich vornehmlich um offizielles Werbematerial handelte – erlauben zwar potenziell Rückschlüsse auf die Rezeption, so z.B. durch ihre Auswahl. In diesem konkreten Fall treten die Bilder jedoch in ihrer Bedeutung für die Analyse hinter den Text des Artikels zurück, da die Rezeptionsprozesse vornehmlich schriftlich Ausdruck finden. Le-

6

Die Recherchen für die Tageszeitungen Chicago Tribune, New York Times, Los Angeles Times und Washington Post beruhen auf der Volltextdatenbank ProQuest Historical Newspapers. Die Recherchen für das Magazin Time erfolgten online auf der Homepage des Magazins (www.time.com). Als Suchbegriffe dienten in allen Fällen die Titel der drei Serien, sowie – aufgrund der Vielzahl der Treffer – zur Begrenzung auf relevantes Quellenmaterial die Begriffe ›family‹, ›father‹ und ›mother‹. Als im Kontext des Untersuchungsinteresses dieses Artikels relevant und aussagekräftig erwiesen sich nach Sichtung schließlich insgesamt 65 Artikel. Father Knows Best wurde dabei in 47 Artikeln thematisiert, Leave it to Beaver in 18 Artikeln und Ozzie and Harriet in 18 Artikeln.

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serbriefe werden in diesem Aufsatz nicht gesondert angeführt, da sie in diesem konkreten Fall keine abweichenden Aussagen liefern. Im Folgenden werde ich zunächst einen Überblick über die Darstellung der Geschlechterrollen in den Sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver und The Adventures of Ozzie and Harriet geben. Anschließend zeige ich das Spannungsverhältnis zwischen der Darstellung von Vaterschaft und Mutterschaft in den Serien und der historischen ›Realität‹ der 1950er Jahre auf. Daran anknüpfend wende ich mich der Rezeption der idealen Sitcom-Familien der 1950er Jahre in der US-amerikanischen Mainstream-Presse zu und werde diese von den 1950er bis in die frühen 1990er Jahre in drei Schritten skizzieren. Zunächst werde ich die Rezeption von den 1950ern bis in die mittleren 1960er Jahre betrachten, dem Zeitraum der Erstausstrahlung der Serien (1952-1966). Mit dem Ende der letzten noch ausgestrahlten Serie 1966, Ozzie and Harriet, wurden die drei Sitcoms zwangsläufig zu einem historischen Produkt, das sich insbesondere vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandels potenziell in der Wahrnehmung der Zeitgenossen von der gesellschaftlichen Gegenwart abgrenzen musste. Anschließend nehme ich den Zeitraum des gesellschaftlichen Umbruchs und damit auch des beschleunigten Wandels von Familienwerten und -normen in den Blick: von den späten 1960er Jahren bis in die späten 1970er Jahre (1967-1978). Als drittes betrachte ich schließlich die Rezeption von den späten 1970ern bis in die frühen 1990er Jahre (1979-1992). Die ›langen 1980er Jahre‹, wie ich diesen Zeitraum nennen möchte, werden in der Forschung gemeinhin als teils widersprüchliche Dekade betrachtet: zum einen zeichnet sich diese durch einen Aufschwung des US-amerikanischen Konservatismus aus, welcher sich zwar bereits im Laufe der 1970er Jahre andeutete, jedoch erst 1979 mit der Gründung großer nationaler, oftmals religiöser Organisationen wie der Moral Majority manifestierte (Brocker 2004: 42-61). Insbesondere die christliche Rechte betonte öffentlich die Bedeutung traditioneller Werte (Bendroth 1999; Lassiter 2008). Zum anderen verbreiteten sich aber auch progressive Werte weiter in der Gesellschaft. So setzte sich der Pluralisierungsprozess von Familienformen fort (Stacey 1998: 14-15). Die Analyse endet 1992, da die Präsidentschaftswahlen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen einen Bruch in der Auseinandersetzung um Familienwerte zu bedeuten schienen. Angesichts der Einschätzung, der Wandel der Familie sei unaufhaltsam und unumkehrbar, schienen die Bemühungen zahlreicher Konservativer Ende 1992 vergeblich, die vermeintlich konservativen 1980er Jahre mit der Wahl Clintons endgültig beendet zu sein (Stacey 1996: 52-82). Ziel dieser Einteilung in drei Zeiträume ist es, der Frage nachzugehen, ob und wann die dargestellten Ideale als deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Realität der 1950er

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Jahre wahrgenommen wurden und wie diese in einen analytischen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel in den USA gestellt werden können.

S ITCOMS , DIE AMERIKANISCHE F AMILIE UND G ESCHLECHTERROLLEN IN DEN 1950 ER J AHREN »The family is the center of your living. If it isn't, you've gone far astray« (Schindler 1958: 415, auch bei Coontz 2000: 25). In den 1950er Jahren betonten nicht nur populäre Ratgeber wie der hier zitierte die Bedeutung der Familie. Die Mehrzahl der Amerikaner schien diese Einschätzung zu teilen. Das Konzept der middle-class isolated nuclear family, bestehend aus Vater, Mutter und deren Kindern, die in ihrem eigenen Haus im Vorort lebten, erfreute sich einer weitreichenden Popularität in der US-amerikanischen Gesellschaft. Die Trends der vergangenen Dekaden kehrten sich um: Heirats- und Kinderzahlen stiegen an. Nur wenige Amerikaner konnten sich vorstellen, ohne Ehepartner und Kinder glücklich zu sein (Coontz 2000: 25-26). Diese Popularität der isolated nuclear family spiegelte sich auch in TVSitcoms der 1950er und frühen 1960er Jahre wieder. Serien wie Father Knows Best, Leave it to Beaver und The Adventures of Ozzie and Harriet zeichneten ein harmonisches Bild dieser Familienform, in welchem Vater und Mutter klare Geschlechterrollen zugewiesen waren. Während der Vater die Rolle des Familienernährers ausfüllte und sich zugleich – wenn auch im Falle von Ozzie and Harriet mit geringen Abstrichen (Gilbert 2005:135-163) – als kompetent, fürsorglich und liebevoll in der Kindererziehung erwies, kümmerte sich die Mutter allein um Haushalt und Kinder und fügte sich zufrieden in diese Rolle. Die zunehmende Erwerbstätigkeit amerikanischer Frauen, insbesondere im Rahmen des Zweiten Weltkriegs, aber auch in den 1950ern selbst, fand in der Darstellung der Sitcoms keine direkte Abbildung. Die genannten Sitcoms führten Frauen vielmehr zurück in die Sphäre der eigenen vier Wände (Leibman 1995: 253-254). Father Knows Best, Leave it to Beaver und Ozzie and Harriet propagierten Geschlechterrollen, welche maßgeblich auf dem Konzept des Patriarchats beruhten. Der Vater war die zentrale Autoritätsfigur in der Familie, stellte deren Wohlergehen und Funktionalität sicher und diente in dieser Funktion als Rollenmodell für seine Kinder (Leibman 1995: 254). Parallel zu den Sitcoms betonten zahlreiche Sozialexperten und Ratgeber-Kolumnen die Bedeutung von Vätern, da sie den Einfluss von überfürsorglichen Müttern fürchteten: »You have a horror seeing your son a pantywaist, but he won’t get red blood and self-reliance if you leave the whole job of making him a he-man to his mother.« (Fontaine

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1950: 108; auch bei LaRossa 2011: 108) Eine angeblich massive Zunahme von Homosexualität und jugendlichen Straftätern in der Nachkriegszeit schien die Annahme zu bestätigen, dass Mütter nicht als geeignetes Rollenmodell für ihre Söhne dienen konnten (Griswold 1993: 187-195, 209-210). Dementsprechend ging in den Sitcoms mit der Idealisierung des Vaters auch eine Herabsetzung der Mutter einher. Diese hatten sich ihren Ehemännern unterzuordnen und sich auf die häusliche Sphäre zu beschränken, welche jedoch in der Darstellung ebenfalls von ihren Ehemännern dominiert wurde. Entgegen der gesellschaftlichen Realität, in welcher die überwiegende Mehrheit der Väter die meiste Zeit außer Haus verbrachten und ihrem Beruf nachgingen, waren die idealen Väter der Sitcoms immer für ihre Kinder verfügbar. Stets waren es in diesen Serien die Väter, welche die Probleme lösten, die die Stabilität und den Zusammenhalt der Familie bedrohten. Mütter schienen allein indem sie ihre Pflichten als Hausfrauen erfüllten von familiärer Bedeutung zu sein (Leibman 1995: 253254). Die gesellschaftliche Realität gestaltete sich innerhalb der Familien jedoch oftmals weitaus komplexer als diese Narrative vermitteln. Zwar vergrößerte sich in den 1950er Jahren die amerikanische middle-class, doch Mitte der Dekade lebten etwa 25% aller Amerikaner, 40 bis 50 Millionen, in Armut. Geschlechterrollen, wie sie in den drei von mir behandelten Sitcoms der 1950er propagiert und idealisiert wurden, waren einem großen Teil der US-amerikanischen Bevölkerung somit schlicht nicht möglich. Viele Frauen – auch der durchschnittlich wohlhabenderen weißen Bevölkerung – mussten einem Beruf nachgehen um das finanzielle Überleben ihrer Familien sicherzustellen (Coontz 2000: 29-31). Zum anderen erweist sich die Popularität der isolated nuclear family mit ihren strikten Geschlechterrollen der ›homemaking mother‹ und des ›bread winning father‹ nur auf den ersten Blick als frei gewähltes Familienmodell. Sowohl Männer als auch Frauen waren oftmals starkem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, der sie in die Rollen als Familienvater und Alleinverdiener bzw. Hausfrau und Mutter zwang. Während Männer sich durch die Wahl eines alternativen Lebensweges in der antikommunistischen und homosexuellenfeindlichen Gesellschaft der USA der 1950er Jahre dem Verdacht aussetzten, Kommunist oder homosexuell zu sein, wurde eine Vielzahl von Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg von Arbeitgebern aus der Berufstätigkeit zurück in die heimischen vier Wände gedrängt (Coontz 2000: 31-33). Oftmals nur widerwillig gaben sie ihre neu gewonnene Unabhängigkeit auf. Aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der u.a. von Sozialexperten, Medien und Politik propagierten Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter griffen Tausende von Frauen zu Beruhigungsmitteln und Alkohol (Coontz 2000: 36; Metzl 2003).

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»R EFLECTION OF T YPICAL F AMILY L IFE «? K ONTRÄRE D EUTUNGEN ZEITGENÖSSISCHER F IKTION (1952-1966) Das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Realität und Familienideal der Sitcoms spiegelt sich auch in der Rezeption dieser Serien von den 1950ern bis in die 1960er Jahre wieder. So wurde zu Beginn der 1960er Jahre Father Knows Best in der Los Angeles Times als »pleasant [..] fantasy« (Smith 1960: A10) bezeichnet und die Lebensrealitäten der Andersons in Father Knows Best und der Nelsons in Ozzie and Harriet von der Washington Post eine »cozy world« genannt, in welcher »things never get far beyond whether or not mother should cut her hair.« (Laurent 1960: TV6) Reale Familien hätten sich hingegen mit ernsthaften Problemen wie Inflation oder dem ständigen drohenden Gefahrenhorizont des Kalten Krieges auseinanderzusetzen (ebd.), der, wie Elaine Tyler May in ihrer Studie Homeward Bound eindrucksvoll gezeigt hat, maßgeblich sowohl die Wendung zur Familie in den 1950er Jahren bedingte als auch das Familienleben der Dekade bestimmte (May 1999). Die New York Times fasste schon 1952 übereinstimmend mit unserer heutigen historischen Perspektive am Beispiel Ozzie and Harriet zusammen: »›The Adventures of Ozzie and Harriet‹ is not so much a reflection of typical family life as it is a representation of the genial atmosphere most families strive for but which few achieve due to various stresses and constraints.« (Pryor 1952: X15) In den 1950er Jahren wurde diesen Serien jedoch überwiegend eine Realitätsnähe bzw. gar der Status eines Spiegels gesellschaftlicher Realität zugesprochen.7 So finden sich in der Presseberichterstattung zahlreiche Belege, welche die Glaubwürdigkeit der Familiendarstellungen in den drei Sitcoms betonten. Prägnant stellte z.B. die Los Angeles Times 1958 fest: »Perhaps television's most effective function is as a reporter ... a mirror set to life...reflecting people and events ... and sometimes, watching Father Knows Best, you have the feeling that TV is fulfilling this function – mirroring life ... and rather pleasant life ... the Anderson ... their kids ... it's the family next door.« (S.: 1958: G2) 8

7

Es ist nicht auszuschließen, dass diese Interpretationen von der Bewerbung des Mediums TV als »window on the world« beeinflusst sind. Vgl. Spigel 1992: 102-109.

8

Beispielhaft seien hier zudem folgende Zitate angeführt: die New York Times berichtete, »the chief appeal of the program [Father Knows Best, A.D.] lies in its close relationship to events that occur regularly among families all over the country.« (Shanley 1955: 32); »This show [Father Knows Best, A.D.] tells the story of an aver-

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Es greift jedoch zu kurz, diese Interpretation in einem direkten Kontinuitätsverhältnis zu jenen Interpretationen der frühen 1990er Jahre zu sehen, welche diese Sitcoms der 1950er Jahre als ein Abbild historischer Realität begriffen. Vielmehr weisen die seit den frühen 1960er Jahren zunehmend im Diskurs dominanten Deutungen der Sitcoms als Fiktion auf einen Wandel der Wahrnehmung der Familien- und Geschlechterrollendarstellung hin. Dieser geht mit der allmählichen Liberalisierung der Geschlechterrollen in der US-amerikanischen Gesellschaft einher. So sind z.B. bereits die Baby-Boom-Mütter der späten 1950er und frühen 1960er Jahren als Vorkämpferinnen dieses Liberalisierungsprozesses und des second-wave feminism zu charakterisieren, wie Jessica Weiss in ihrer Studie To Have and to Hold. Marriage, the Baby Boom and Social Change gezeigt hat (Weiss 2000).

»N OBODY R EALLY L IVED THAT W AY «! N EUINTERPRETATION › ÜBERKOMMENER ‹ I DEALBILDER (1967-1978) Ende der 1960er Jahre schien sich die amerikanische Gesellschaft im Krieg mit sich selbst zu befinden. Nicht nur die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und das Engagement der USA in Vietnam spalteten die Gesellschaft. Die Generation der baby boomer, welche zwischen 1946 und 1964 geboren wurde, und etwa 76 Millionen Amerikaner umfasste, forderte grundlegende Werte und Normen der vorhergehenden Generation heraus (Farber/Bailey 2001: 58). Auch und gerade auf der Ebene der Familie hinterließen sie eine veränderte amerikanische Gesellschaft. Insbesondere die feministische Bewegung bedeutete einen maßgeblichen Einschnitt für das Familienideal der 1950er Jahre mit seinen strikten Geschlechterrollen – wie das Statement of Purpose der liberalen feministischen Organisation National Organization for Women von 1966 verdeutlicht: »We do not accept the traditional assumption that a woman has to choose between marriage and motherhood, on the one hand, and serious participation in industry or the

age American family. [...] It is thoroughly believable« (Wolters 1955: C10), stellte die Chicago Tribune fest; die New York Times begründete den Erfolg von Ozzie and Harriet mit der »authentic manner in which it deals with relationships between parents and their sons.« (Shanley 1957: X11); in der Chicago Tribune wurde Leave it to Beaver als »believable family serial« (Wolters 1957: W10) bezeichnet.

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professions on the other. We question the present expectation that all normal women will retire from job or profession for 10 or 15 years, to devote their full time to raising children […]. We believe that a true partnership between the sexes demands a different concept of marriage, an equitable sharing of the responsibilities of home and children and of the economic burdens of their support.« (Friedan 1966)

Bereits in den 1970er Jahren etablierte sich eine Vorstellung der Familie und ihrer Geschlechterrollen, die den Forderungen feministischer Aktivistinnen Rechnung trug, obwohl gewichtige Teile der US-amerikanischen Gesellschaft diesen skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstanden. Die Berufstätigkeit der Frauen nahm zu und Väter mussten einen größeren Teil der Kindererziehung übernehmen. Der US-Historiker Bruce Schulman fasst für die 1970er Jahre zusammen: »No longer would Americans accept and even applaud disconnected, distant, disciplinarian dads. Fathers wanted, and their families expected, much more paternal involvement in child rearing.« (Schulman 2001: 184-185)9 In diesen Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs erfreuten sich auch Father Knows Best, Leave it to Beaver und Ozzie and Harriet einer gewissen Popularität in der US-amerikanischen Gesellschaft. Seit den 1960er Jahren liefen im Fernsehen Wiederholungen zahlreicher Sitcoms der 1950er Jahre, insbesondere der genannten Serien.10 Gleichzeitig rückten diese Serien aber insoweit aus dem öffentlichen Interesse als sich bis in die späten 1970er Jahre nur wenige Thematisierungen der Serien in der US-amerikanischen Presse finden.11 Zudem wurden die Familiendarstellungen und die vermittelten Geschlechterrollen nicht im Detail

9

Zur wirtschaftlichen Notwendigkeit dieses Wandels: Griswold 1993: 41; Coltrane 1996: 23.

10 Einen Einblick in die Ausstrahlung von Wiederholungen bieten die Fernsehprogramme und Artikel über lokale Sender in den großen nationalen Tageszeitungen. Vgl. Kompare 2005 für die Geschichte von Wiederholungen im US-amerikanischen Fernsehen. 11 Im Zeitraum von 1952-1966 thematisierten von insgesamt 28 nach Sichtung als relevant erachteten Artikeln zu den drei Sitcoms 19 Father Knows Best, sieben Leave it to Beaver und acht Ozzie and Harriet. Die Anzahl der als relevant erachteten Artikel beschränkt sich für den Zeitraum von 1967 bis 1978 auf 13 Artikel. In zehn dieser 13 Artikel wurde Father Knows Best thematisiert, Ozzie and Harriet hingegen nur in fünf Artikeln, Leave it to Beaver wurde nicht in einem relevanten Zusammenhang thematisiert. Für den Zeitraum von 1979 bis 1992 wurden 24 Artikel als relevant erachtet. Father Knows Best wurde in 18 Artikel thematisiert, Leave it to Beaver in elf Artikeln und Ozzie and Harriet in fünf Artikeln.

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diskutiert, sondern – wenn überhaupt – oberflächlich und/oder knapp thematisiert. Leave it to Beaver blieb in diesem Kontext sogar unerwähnt. Doch auch jene spärlichen und kurzen Kommentare bieten wertvolle Rückschlüsse bezüglich der Rezeption der Serien im Kontext des gesellschaftlichen Wandels der USA und damit auch des Idealbildes der US-amerikanischen Familie und ihrer Geschlechterrollen der 1960er und 1970er Jahre. Angesichts der feministischen Bewegung und des von ihr beschleunigten Wandlungsprozesses der Geschlechterrollen steht zu vermuten, dass gerade jene im Rückblick reaktionär anmutenden Geschlechterrollen der Sitcom-Familien der 1950er Jahre nicht nur auf Kritik in der US-amerikanischen Gesellschaft stießen, sondern auch von Gegnern des Wandels als positives Gegenbeispiel gelobt wurden. In der Mainstream-Presse dominierte jedoch erstere Position. Die Darstellung der Familie und ihrer Geschlechterrollen in den Sitcoms der 1950er Jahre wurde als ein Idealbild interpretiert, das der Vergangenheit angehörte. Noch 1960 hatte die Chicago Tribune den Charakter Margaret Anderson aus Father Knows Best aufgrund der Darstellung ihrer Tätigkeiten als Hausfrau als ein Abbild realer Mütter gedeutet: »She looks, acts, and speaks like a real mother. Everytime we focus our television set to the happy domicile of the Anderson family, we find Miss Wyatt [Darstellerin der Margaret Anderson, A.D.] carrying for a large bundle of wet-wash, or ironing or shelling peas.« (Purcelli 1960: SW 16). Eine Reduzierung der Frauen auf die Rolle der Hausfrau und Mutter schien Mitte der 1970er Jahre jedoch nicht mehr zeitgemäß; weder in der Realität noch in der Darstellung im TV, wie die Wortwahl in einem Artikel der New York Times zu Father Knows Best impliziert: »women have been allowed to grow up […] from the happy homemaker with her brain in tupperware, […] arriving triumphant at the career girl.« (Leonard 1975: 82) Die Geschlechterrollen, wie sie die drei Sitcoms propagierten, wirkten auf die Autoren der Artikel nicht nur nicht zeitgemäß, sie wurden auch als Idealbild gedeutet, dass wenig mit den tatsächlichen Lebensumständen in den 1950er Jahren gemein gehabt habe. So stellte z.B. die Los Angeles Times fest: »[…] the Adventures of Ozzie and Harriet was a typically cutesy-poo show. Daddy was perennial happy patsy. Mom loved cooking and cleaning house […]. The boys were cleanliving youngsters, who never got pimples, messed up their rooms or talked back to their elders. That made many people throw up. They figured that nobody really lived that way, and nobody was particularly served by a show that perpetuated tired old stereotypes.« (O’Brien 1975: P5)

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Und auch Father Knows Best wurde aufgrund seiner Darstellung der »perfect parents with the perfect kids living the perfect lives« (in der Los Angeles Times: Smith 1975: G15) als ein »WASP dreamland, far from the actualities« (in der Washington Post: Shales 1973: B1) interpretiert. Resultat dieser Darstellungen in Serien wie Father Knows Best und Ozzie and Harriet war laut Los Angeles Times, dass falsche Erwartungen bezüglich des eigenen Familienlebens geweckt wurden. Weder Kinder noch Eltern konnten diesen in der Realität gerecht werden und dem Vergleich mit den ›idealen‹ Figuren der Sitcoms standhalten (Margulies 1977: G1). Die amerikanische Gesellschaft schien sich daher – angesichts des gesellschaftlichen Wandels – vom Idealbild der Geschlechterrollen, wie sie die Sitcoms der späten 1950er Jahre propagierten, verabschiedet zu haben. Diese erschienen als ein Relikt der Vergangenheit; ihre Untauglichkeit hätten sie gerade für die Gegenwart des gesellschaftlichen Umbruchs unter Beweis gestellt. Sie konnten – wie in der Chicago Tribune konstatiert wurde – allenfalls ein »dependable respite for those who were terrified by the pace of the world« sein (Deeb 1975: B11; siehe dazu auch Marcus 2004: 22-35). Im Rahmen der Argumentation über die US-amerikanische Familie und den gesellschaftlichen Wandel boten die Sitcoms die Möglichkeit, Kritik am Familienideal der 1950er Jahre zu üben, da sie Werte und Normen illustrierten, die in wachsenden Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stießen.

»W ARM

FEELINGS FOR A TIME THAT NEVER QUITE EXISTED «? Z WISCHEN N OSTALGIE UND W ANDEL

(1979-1992) Angesichts der seit den 1960er Jahren zunehmend den Diskurs dominierenden Kritik, den family sitcoms mangele es an Nähe zur Realität der USamerikanischen Bevölkerung, mutet es auf den ersten Blick erstaunlich an, dass die Serien Anfang der 1990er Jahre scheinbar als dokumentarisches Material interpretiert wurden. Daniel Marcus stellt in seiner Studie Happy Days and Wonder Years die These auf, dass die Akzeptanz der Serien als realistische Abbildung der Familie und der Geschlechterrollen der 1950er Jahre maßgeblich auf ihrer Instrumentalisierung durch den US-amerikanischen Konservatismus seit den späten 1970er Jahren beruht, welcher die Sitcoms als illustratives Material im Rahmen einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die US-amerikanische Familie nutzte:

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»the nuclear family as presented in the family sitcoms of the 1950s took on documentary value to illustrate the stable realities of American life before the disruptions of Sixties social movements. […] In the absence of strong belief in the alternatives to the values defined by conservatives and dramatized in cultural artifacts, the Fifties could evoke a retrospective sense of social cohesion and belonging.« (Marcus 2004: 41, 69)

In der Tat dienten die vermeintlich idealen Familien aus Sitcoms wie Father Knows Best konservativen Amerikanern als Referenzpunkt für eine vermeintlich bessere Vergangenheit. Im Laufe der 1970er Jahre hatte sich eine breite gesellschaftliche konservative Koalition etabliert, die die USA angesichts von Ereignissen wie Vietnam, Watergate, dem Öl-Embargo der OPEC-Staaten nicht nur in einer tiefgreifenden politischen, sondern auch kulturellen Krise sah, welche durch eine Abkehr von vermeintlich traditionellen Werten ermöglicht und herbeigeführt worden sei. Amerikanische Konservative stellten daher ab den 1970er Jahren der feministischen und liberalen Kritik an den 1950er Jahren zunehmend eine Deutung der Dekade entgegen, welche deren Geschlechterrollen und die amerikanische Familie idealisierte. Sie definierten die 1950er Jahre als Höhepunkt des US-amerikanischen Familienlebens, als sogenanntes ›golden age of the family‹ (Lassiter 2008: 21). Vor diesem Hintergrund beurteilten auch noch in den frühen 1990er Jahren konservative Organisationen – insbesondere die religiös geprägten – Sitcoms wie Father Knows Best als positive Darstellungen der US-amerikanischen Familie.12 Marcus betont zwar die potenzielle Wirkungsmächtigkeit der family sitcoms der 1950er Jahre auf die US-amerikanische Bevölkerung insbesondere im Rahmen ihrer Instrumentalisierung durch den US-amerikanischen Konservatismus, er nimmt jedoch nicht die Rezeption der Serien selbst in den Blick. Offen bleibt somit die Frage, ob mit dem Aufschwung des US-amerikanischen Konservatismus eine generelle Neudeutung der family sitcoms als Dokumentation einherging, oder ob die Interpretation dieser Serien als Abbild der historischen Realität der 1950er Jahre nur ein in seiner Ausbreitung begrenztes Phänomen war. Angesichts dessen, dass der konservative Erfolg 1980 eher eine Abwahl Jimmy Carters als Präsident als eine Wahl des konservativen Ronald Reagan war (Ehrman 2005: 47), wäre es zudem fahrlässig, den Erfolg einer konservativen Instrumentalisierung der 1950er Sitcoms unkritisch vorauszusetzen. In der Tat scheinen sich die family sitcoms der 1950er Jahre in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren parallel zur derjenigen des US-amerikanischen Konservatismus einer wiederauflebenden Popularität erfreut zu haben. Neben 12 Vgl. u.a. das Magazin der einflussreichen evangelikalen, konservativen Organisation Focus on the Family, z.B. folgende Artikel: Bauer 1991: 7; Farah 1990: 9-11.

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zahlreichen Wiederholungen im TV und einer gestiegenen Anzahl von Thematisierungen der drei Serien in der Mainstream-Presse implizieren Berichte über Fanclubs der family sitcoms, Zuschriften von Zuschauen an TV Sender, ›reunion shows‹ oder ›TV nostalgia books‹, dass zumindest die Einschätzung einer neuen Popularität der Serien in der Gesellschaft verbreitet war.13 Diese Popularität erklärte Time im August 1982 in Bezug auf Leave it to Beaver folgendermaßen: »It is based on a reassuring assumption: the family, solid and resilient, is the ultimate sanctuary from the world.« (Stengel 1982: 91-92) Wohl vor diesem Hintergrund kam alten TV-Serien für Teile der Bevölkerung die Funktion einer »time machine for backtracking into social history« zu, wie Time bereits im April 1982 schrieb. Diese seien »nostalgic and telling – reminders of the way we once were.« (Henry 1982: 84-85; auch O’Connor 1983: H25) Doch anders als die Gegenüberstellung dokumentarischen Materials der 1990er Jahre mit Szenen aus Ozzie and Harriet in der eingangs erwähnten Dokumentation Who Killed Ozzie and Harriet? vermuten lässt, blieben jene nostalgischen Betrachtungen der hier behandelten Sitcoms als Abbild historischer Realität ein minoritäres Phänomen in der US-amerikanischen Mainstream-Presse. So formulierte die Los Angeles Times 1986 über Wiederholungen von Ozzie and Harriet: »scenes of American family life […] evoke warm feelings for a time that never quite existed in the first place.« (Shales 1986: I9) Die Darstellungen der Sitcoms der 1950er Jahre wurden primär als Idealbild begriffen, welches mit der Realität wenig gemein hatte, wie auch dieses Beispiel aus der New York Times exemplarisch zeigt: »Television betrayed us when it gave us the perfect 1950's families [...]. Our parents could never measure up to the kindness and patience we saw dispensed on television, and yet it seemed they should. […] Though it is comforting to watch reruns of our favorite 50‫ތ‬s shows, it‫ތ‬s a little easier now to perceive the lie behind those perfect families in whom we once believed.« (Hoffman 1988: H1; siehe auch Chicago Tribune (Holston 1984: J3) und New York Times (Trevers 1986: 18 L.I.))

13 Über Zuschriften durch Zuschauer und Fanclubs von Leave it to Beaver berichteten das Magazin Time (Stengel 1982: 90-91) und die Chicago Tribune (Graff 1982: N1); zu einer Father Knows Best ›reunion show‹ führten u.a. die Chicago Tribune (Gallagher 1977: A1) und die New York Times (Eskenazi 1977: D29) aus; über eine erfolglose Neuauflage von Leave it to Beaver schrieben die Chicago Tribune (Scott 1984: K4) und die Los Angeles Times (Rosenberg 1984: G1); die ›nostalgia books‹ wurden in der New York Times behandelt (Harmetz 1984: C19).

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Um dieser Meinung Glaubwürdigkeit zu verleihen – so ist zumindest zu vermuten – wurden in der Mainstream-Presse auch Akademiker zitiert, die außerhalb des universitären Rahmens an der Korrektur des Eindrucks mitarbeiteten, dass die Sitcoms der 1950er ein Spiegelbild gesellschaftlicher Realität gewesen seien. So berichtete die Los Angeles Times, dass Sitcoms wie Father Knows Best und Leave it to Beaver laut der Kommunikationswissenschaftlerin Ella Taylor nicht als realistische Abbildungen einer unschuldigeren Zeit zu betrachten seien. Vielmehr seien diese Sitcoms als eine Weigerung der Gesellschaft der 1950er Jahre zu verstehen, die schon damals steigenden Scheidungszahlen als Zeichen eines vermeintlichen Zerfalls der Familien anzuerkennen (Haithman 1987: SD D1). In einem Artikel der Chicago Tribune betonte die Historikern Barbara Berg 1987, dass Leave it to Beaver keine amerikanische Tradition darstelle, indem es die Mutter backend in der Küche und auf den Vater wartend visualisiere. Dieses Modell gelte lediglich für die middle-class Mütter der 1950er Jahre, doch auch diese seien mit ihrer Rolle nicht glücklich gewesen (Somerville 1987: E8). Die Serien erschienen im Rückblick auf die 1950er Jahre nicht nur realitätsfern, auch ihre Wirkung wurde – hier z.B. in der New York Times – kritisch beurteilt: »Adults have been known to recall growing up neurotic because life at home did not measure up to the warm togetherness shown on ›Father Knows Best‹.« (O’Connor 1992: C16). Ein Autor des Magazins Time argumentierte im November 1990 sogar, dass sich negative Auswirkungen noch in der Gegenwart bemerkbar machen würden. Viele junge Mütter in den frühen 1990er Jahren empfänden Unsicherheit und Schuldgefühle angesichts des Wunsches nach einer eigenen Karriere. Diese Gefühle wären maßgeblich auf ihre Jugend in den 1950er Jahren zurückzuführen: »Much of the turmoil felt by parents in the ‫ތ‬90s derives from the fact that so many are children of the ‫ތ‬50s. Their image of an ideal family comes from TV shows like Father Knows Best; their notion of the ideal mother is the one played by Jane Wyatt [in Father Knows Best, A.D.]: never rattled, always at home« (Elmer-DeWitt et al. 1990: 72-75).14

14 Angesichts dessen, dass junge Mütter des Jahres 1990 wohl eher in den 1960er und 1970er Jahren aufgewachsen sind, steht zu vermuten, dass die Autoren dieses Artikels aus dem Magazin Time die Äußerung »children of the 1950s« vermutlich in einem übertragenen Sinne verstehen. Unzweifelhaft ist, dass auch diese jüngere Generation mit den Bildern dieser Sitcoms aufgewachsen ist, da zahlreiche Wiederholungen der Episoden im US-amerikanischen TV ausgestrahlt wurden.

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Ein erstrebenswertes Ideal stellten die Sitcoms der 1950er Jahre in dieser Deutung mitnichten dar. Implizierte die Verwendung von Szenen aus Ozzie and Harriet in der Dokumentation Who Killed Ozzie and Harriet?, dass zumindest diese Sitcom in der US-amerikanischen Gesellschaft den Status dokumentarischen Materials zugesprochen bekommen hatte, so verdeutlicht die Betrachtung der MainstreamPresse in den ›langen‹, vermeintlich konservativen 1980er Jahren, dass es sich bei dieser Interpretation jedoch um ein minoritäres Phänomen handelte. Für einen gewichtigen Teil der US-amerikanischen Bevölkerung blieben die Sitcoms der 1950er Jahre mit ihrer idealisierten Darstellung der Familie Fiktion – Fiktion, welche Werte und Normen darstellte, die in weiten Teilen der Gesellschaft zumindest auf Kritik stießen. Angesichts von Verweisen auf die 1950er Jahre Sitcoms als positives Rollenmodell in Publikationen konservativer – insbesondere religiös geprägter – Organisationen ist davon auszugehen, dass die Deutungen der Sitcoms als Abbild einer besseren Vergangenheit als Ausdruck eines sich seit den 1970er Jahre etablierenden Diskurses unter konservativen Amerikanern zu sehen ist. Dieser idealisierte die 1950er Jahre und ihre Geschlechterrollen als ein ›golden age of the family‹, während die 1960er Jahre und der soziale Wandel der Familie und Gesellschaft von ihnen dämonisiert und als Ausdruck des Niedergangs der USA interpretiert wurden.

F AZIT Das Familienideal der middle-class isolated nuclear family mit dem Vater als Alleinverdiener und der Mutter als Hausfrau war weniger historische Realität als gesellschaftliches Wunschbild der 1950er Jahre. Während Sozialexperten dieses Modell propagierten, erwies sich dessen Umsetzung in der Realität oftmals als schwierig oder nicht möglich. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Realität und Ideal der US-amerikanischen Familie kennzeichnete auch die Rezeption der TVSerien Father Knows Best, Leave it to Beaver und The Adventures of Ozzie and Harriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Diskurs der MainstreamPresse erwiesen sich zwei Wahrnehmungen der Sitcoms als dominant. Sie wurden entweder als Fiktion oder als Abbild der (historischen) Realität gedeutet. Alternative weitere Interpretationen fanden zumindest in der US-amerikanischen Mainstream-Presse keinen Niederschlag. Während in den 1950er Jahren die Sitcoms in der US-amerikanischen Mainstream-Presse überwiegend als Abbild der realen isolated nuclear middleclass family wahrgenommen wurden, etablierten sich seit den frühen 1960er Jah-

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ren zunehmend Deutungen, die die Diskrepanz zwischen der Darstellung der Sitcoms und der Lebensrealitäten für die amerikanische Bevölkerung betonten. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels seit den 1960er Jahren, insbesondere des im Kontext von Familie und Geschlechterrollen besonders wirksamen secondwave feminism, dominierte letztere Ansicht die Wahrnehmung der Serien in den späten 1960er und den 1970er Jahren. Den Status einer Dokumentation sollten die Serien erst vermehrt im Zuge des Aufstiegs des US-amerikanischen Konservatismus seit den späten 1970er Jahren zugesprochen bekommen. Ein sozialkonservativer Teil der US-amerikanischen Gesellschaft deutete den gesellschaftlichen Wandel und insbesondere die zunehmende Pluralität von Familienwerten und -formen als Ausdruck eines gesellschaftlichen Niedergangs. Die 1950er Jahre erfuhren in diesem Rahmen eine Idealisierung, welche die negativen Aspekte der Epoche und ihrer Geschlechterrollen ausblendete. Da sich parallel zur Etablierung einer breiten konservativen Koalition in der US-amerikanischen Gesellschaft seit den späten 1970er Jahren auch wieder Interpretationen der Sitcoms als Abbild historischer Realität in der Mainstream-Presse finden, sind diese Deutungen als Ausdruck des konservativen Familien- und Geschlechterrollendiskurses zu interpretieren. Für die Mehrheit der Bevölkerung – so ist zumindest aufgrund der Presseauswertung zu folgern – blieb die Darstellung der Familie und ihrer Geschlechterrollen in den Sitcoms Father Knows Best, Leave it to Beaver und Ozzie and Harriet jedoch Fiktion, die sich als untaugliches Rollenmodell in Vergangenheit und Gegenwart erwiesen hatte. Unterschiedliche retrospektive Wahrnehmungen bzw. Erinnerungen der 1950er Jahre bedingten unvereinbare, sich gegenüberstehende Wahrnehmungen der Serien als Fiktion und Dokumentation. In beiden Fällen dienten die Serien im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch als Referenzpunkt für die Familienideale der 1950er Jahre. Wichtigster Grund für die hohe diskursive Wirkungsmächtigkeit der Sitcoms war ihre Anschaulichkeit, boten sie doch für die beiden im Diskurs dominanten Deutungsstandpunkte höchst illustratives Material. Während die Deutungen der Serien als Fiktion mit einer Kritik an den dargestellten Werten und Normen einhergingen, nutzen die Befürworter vermeintlich traditioneller Familienmodelle die Sitcoms zur Veranschaulichung der eigenen Normen und Werte.

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Wiederholung, Fortschritt und Rekonstruktion: Repräsentationen von Geschlechterverhältnissen der 1960er Jahre in Mad Men R ENÉE W INTER

Geschlecht und Geschichte sind zentrale und miteinander interagierende Kategorien der US-amerikanischen Fernsehserie Mad Men. Nach einer kurzen Einführung in die Serie und deren Rezeptionen untersuche ich im Folgenden Formen der Bezugnahme auf (historische) Geschlechterverhältnisse und deren mögliche Funktionen. Die seit 2007 in bisher fünf Staffeln (zu je 13 Folgen) auf dem Sender AMC ausgestrahlte Fernsehserie handelt vom Arbeiten und Leben vor allem männlicher und einiger weiblicher Angestellter einer Werbeagentur in der Madison Avenue im New York der 1960er Jahre.1 Hauptfigur der Serie ist Don (Donald) Draper, gespielt von Jon Hamm. Don, Art Director und kreativer Kopf der Firma, wird als attraktiv, überzeugend in seinem Job und umschwärmt von Frauen gezeichnet. Im Laufe der Serie hat er zahlreiche Affären, lässt sich von seiner ersten Frau Betty (January Jones), mit der er drei Kinder hat, scheiden und heiratet am Ende der vierten Staffel Megan (Jessica Paré). Die ersten Staffeln drehen sich außerdem intensiv um die sich nach und nach aufklärende Vergangenheit Don Drapers, der, als Dick Whitman in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, im Korea-Krieg die Identität seines verstorbenen Vorgesetzten angenommen hatte um dem Krieg (schneller) zu entkommen. Einer der weiblichen Hauptcharaktere ist Peggy Olsen (Elisabeth Moss), die direkt von der Sekretärinnenschule zur Werbeagentur stößt und dort zunächst als Sekretärin von Don arbeitet. Sie wird – gefördert von Don – Texterin, erwartet 1

Die ersten fünf Staffeln (2007-2012) behandeln die Jahre 1960 bis 1967.

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aus einer kurzen Affäre mit einem Mitarbeiter der Agentur ein Kind, das sie nach der Geburt weggibt. Sie zieht von Brooklyn nach Manhattan und wird – als lange Zeit einzige weibliche Texterin – für den Erfolg der Firma immer bedeutender. Am Ende der fünften Staffel gibt sie die Stelle zugunsten eines besseren Jobangebotes auf. Während Dons Erscheinungsbild und Kleidung über die Jahre und Staffeln auffällig unverändert bleiben – wie die meisten Männer der Firma trägt er vor allem Anzüge – ist der berufliche Aufstieg Peggys auch von einer äußerlichen Transformation begleitet. Sie beginnt sich zu schminken, die Haare werden kürzer, die Kleidung enger. Ihr Stil verändert sich von einem katholischländlichen hin zu einem modern-urbanen Stil der 1960er Jahre. Mode spielt auch eine beträchtliche Rolle im Marketing2 und der Rezeption der Serie. Mad Men genießt eine außergewöhnliche Popularität, die sich in hohen Zuschauer_innenzahlen, Fan-Seiten, einem Mad-Men-Wiki, Foren, publizistischer Aufmerksamkeit, aber auch wissenschaftlicher Thematisierung zeigt. Einige wissenschaftliche Sammelbände und etliche Aufsätze sind mittlerweile zur Fernsehserie erschienen (Carveth/South 2010; Edgerton 2011; Stoddart 2011). Die Rezeptionen durchzieht der Diskurs um historische Authentizität, die zu erreichen auch Teil der Intention der Serienproduzierenden ist (Rose 2011: 29ff.). In der Serie artikuliert sich dieser Authentizitätsanspruch vor allem in Ausstattungsdetails, aber auch in den historischen Bezügen auf zeitgenössische Literatur und Filme sowie politische Ereignisse. Über die Darstellung von zeitgenössischer Mode, Rauch- und Trinkgewohnheiten hinaus werden Medienereignisse – unter Verwendung von historischen Film- und Tonaufnahmen – thematisiert, so etwa die Wahl zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy 1960, der Tod Marilyn Monroes 1962, die Rede von Martin Luther King 1963 oder die Ermordung John F. Kennedys 1963. Historische gesellschaftspolitische Strukturen und Prozesse werden verhandelt, und Geschlechterverhältnisse sind ein zentrales Thema der Narration. In der Beschreibung auf der Website des Fernsehsenders AMC heißt es dementsprechend: »The series also depicts authentically the roles of men and women in this era while exploring the true human nature beneath the guise of 1960s traditional family values.«3 Dieses Ansinnen wird mitunter auch als feministisches Unterfangen gewertet. So beantwortet die Historikerin Stephanie Coontz in der Washington Post die

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So zum Beispiel im auf der Website des Fernsehsenders AMC zugänglichen OnlineSpiel »Mad Men Yourself«, in dem Spieler_innen ihren eigenen Mad Men-Charakter zusammensetzen, kleiden, mit Accessoires versehen und in unterschiedlichen Szenerien platzieren können (http://www.amctv.com/madmenyourself/).

3

(http://www.amctv.com/shows/mad-men/about)

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Frage »Why ›Mad Men‹ is TV’s most feminist show« mit dem Hinweis auf die realistische Darstellung der Lebenswelten von Frauen in den frühen 1960er Jahren. Sie argumentiert weiter: »Mad Men’s writers aren’t sexist. The time period was.« Und: »Every historian I know loves the show; it is, quite simply, one of the most historically accurate television series ever produced.« (Coontz 2010) Die Bezugnahmen auf vergangene Geschlechterverhältnisse in Mad Men und deren mögliche Funktionen in der Gegenwart möchte ich mit drei Begriffen charakterisieren: Wiederholung, Fortschritt und Rekonstruktion. Auf die damit verbundenen Thesen werde ich im Folgenden eingehen.

W IEDERHOLUNG In Mad Men wird nicht nur auf Sexismus, Rassismus und Homophobie hingewiesen, diese Machtverhältnisse werden reinszeniert und wiederholt. Dies geschieht formalästhetisch durch die Einnahme bestimmter (Kamera-)Perspektiven und strukturell durch die narrative Marginalisierung und erneute Viktimisierung derjenigen Figuren, die zu dem Zweck eingeführt wurden, Diskriminierungen darzustellen und zu erklären. Am offensichtlichsten ist das bei Repräsentationen von Rassismen und von Kämpfen gegen rassistische Machtverhältnisse. So gibt es diejenigen Figuren, die eingeführt werden, um bestimmte Ereignisse des Civil Rights Movements zu erzählen, wie die kurzzeitige Partnerin bzw. Geliebte von Paul Kinsey (Michael Gladis), Sheila White (Donielle Artese). Diese wird zum Anlass genommen, die aktivistischen Bemühungen, afroamerikanische Wählerinnen und Wähler 1962 in Mississippi registrieren zu lassen (drei Jahre vor dem Voting Rights Act), zu thematisieren. Sheila, die nur als Partnerin von Paul in die Narration eingebunden ist, verschwindet nach diesem Erzählstrang ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht ist. Anhand anderer Figuren, die regelmäßig vorkommen, wie Hausangestellte, Reinigungspersonal oder ein Fahrstuhlführer, thematisiert die Serie verbalen Rassismus. Die Amerikanistin Allison Perlman argumentiert, dass gerade diese Passagen ein populäres Gedächtnis an die Civil Rights Era kritisch hinterfragen, in dem Rassismus normalerweise im Süden, bei Menschen mit geringem Bildungsgrad verortet und überhaupt als überwundenes Phänomen betrachtet wird (Perlman 2011: 215f., 220). Dagegen würde die Serie Mad Men weiße Zuschauer_innen dazu bringen, ihre eigene Komplizenschaft in (wie sie sagt) »less dramatic forms of racism« zu durchdenken und überdies in Frage zu stellen, dass rassistische Diskriminierung wirklich abgeschafft sei (Perlman 2011: 220).

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Dies erachte ich als eine mögliche, jedoch sehr optimistische Lesart. Die Argumentation Perlmans lässt beiseite, dass in Mad Men, um rassistische Strukturen darzustellen, durchaus mit kritischer Intention, diese wiederholt und reproduziert werden. Dies geschieht durch die Wiederholung von rassistischen Aussagen und Begriffen, die dadurch wieder in den Rahmen des Sagbaren eintreten, aber auch auf struktureller Ebene. So sind die Charaktere, die zur Thematisierung von Rassismus herangezogen werden, Figuren ohne Geschichte, ohne eigenen Handlungsstrang, ohne (Privat-)Leben, meist ohne Nachnamen und eigene Sprechposition und besitzen wenige Handlungsoptionen – außer in Reaktion auf Rassismen. Die Narration von Mad Men erfolgt eindeutig aus einer weißen Perspektive. Außerdem fungieren die Auseinandersetzungen um Rassismus auch als Möglichkeit der Rekonstruktion einer ›neuen‹ und zeitgemäßeren weißen Männlichkeit, worauf ich später noch zurückkommen möchte. Ähnlich funktionieren die Thematisierungen von Antisemitismus und Homophobie: jüdische, lesbische und schwule Figuren werden eingeführt, um anhand von ihnen vor allem Ausgrenzungsmechanismen zu zeigen. Während ich diese vorrangig als Wiederholung von Ausschlussmechanismen, dem Ausschluss von Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten, bezeichnen würde, liegen die wiederholenden Elemente in der Darstellung von Geschlechterverhältnissen an anderer Stelle. Weiße heterosexuelle Frauen genießen in Mad Men – anders als die oben genannten Figuren und ebenso wie weiße heterosexuelle Männer – das Privileg, in der Narration eigene Erzählstränge und (begrenzte) Handlungsoptionen zu erhalten. Das Hinweisen auf Sexismen der 1960er Jahre geschieht durch ein verbales Wiederholen von Aussagen und über Kameraperspektiven, die ästhetisch die an- und ausgesprochenen Sexismen wiederholen und thematisieren. So zum Beispiel in einer Szene, in der Roger Sterling (John Slattery), einer der Partner der Firma, der Office Managerin Joan Harris (Christina Hendricks) nahelegt, sie solle dasjenige Kleid anziehen, in dem sie wie »ein Geschenk« aussehe. Die Kamera übersetzt seine Worte in einen Bildausschnitt, in dem Rogers Blick ebenso wie der kopflose »Geschenks«-Körper in Form des Rumpfes von Joan sichtbar sind. Eine weitere Art von Wiederholung ist die Reproduktion zeitgenössischer medialer Konstruktionen. Das betrifft vor allem Kleidungs- und Musikstile, Inszenierungen von Wohnraum und Familie, aber auch bestimmte Verhaltensweisen und Körpersprachen. Letzteres wird zum Beispiel sichtbar in einer Szene, in der Don Draper seiner Tochter Sally (Kiernan Shipka) telefonisch ankündigt, dass sie zu einem Beatles-Konzert gehen werden. Sally reagiert mit einer Performance des schreienden weiblichen Fans, wie sie Teil der medialen Inszenierung um die Beatles in den 1960er Jahren war. Die Darstellung des Fans als

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weiblich und hysterisch, die mit Pathologisierungen und Problematisierungen des Fantums einherging4, wird hier nicht als mediales Phänomen der 1960er Jahre aufgegriffen und in die Erzählung integriert, sondern als historische Gebärde performt und reinszeniert. Diese Darstellungen der Geschlechterverhältnisse vor der Zweiten Frauenbewegung unter Einsatz von Wiederholungen und Reinszenierungen patriarchaler Machtverhältnisse, die historische Authentizität herstellen sollen, lassen vor allem in den ersten Staffeln einen Eindruck entstehen, den Daniel Mendelsohn in der New York Review of Books polemisch folgendermaßen formulierte: »It’s as if [… the writers] can’t quite believe how bad people were back then, and can’t resist the impulse to keep showing you.« (Mendelsohn 2011, Herv. i. O.) Mit dieser Wiederholung und Ausstellung der Machtverhältnisse und Ausgrenzungsmechanismen der frühen 1960er Jahre wird implizit nahegelegt, so die Vermutung, dass es ›heute besser‹ sei, was zur zweiten These führt.

F ORTSCHRITT In der Darstellung der Geschlechterverhältnisse der 1960er Jahre erzählt Mad Men davon, dass heute Gleichberechtigung, bzw. ›Unabhängigkeit‹ erreicht sei. In Mad Men wird auf mehreren Ebenen Fortschritt inszeniert; so funktioniert die Serie auch als eine Erzählung des technischen Fortschritts, der vor allem anhand des Fernsehens inszeniert wird. Fernsehen spielt auf vielen Ebenen eine signifikante Rolle in der Serie, die ebenso als selbstreferentielle Erzählung des Fernsehens über sich selbst gelesen werden kann. Erstens wird inszeniert, wie Fernsehen als junges Medium im Alltag verwendet wurde und welche Konstruktionen von Gender und Familie damit verbunden waren (Newcomb 2011); zweitens sind frühe Fernseh-Medienereignisse und vereinzelt Sendungen Teil der Narration; drittens spielt Fernsehen für die Werbung eine steigende Rolle – die Produktion von Fernsehwerbungen ist Bestandteil der gezeigten Tätigkeiten der Firma; viertens – das ist der durchgängigste und auffallendste Aspekt – kommen vor allem in den ersten Staffeln

4

Diese Darstellungsweise des Fans wurde z.B. von Studien aus den Cultural Studies vielfach kritisiert und Fantum als aktive Auseinandersetzung, als Verhandlung von Normen und Werten und als soziales/kommunikatives Handeln untersucht (vgl. Lewis 1992).

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technische Störungen ins Bild: Das Fernsehen rauscht, hat Bildstörungen und wiederholt wird auf den Fernsehapparat geklopft, damit er funktioniert.5 Die Fernsehhistorikerin Lynn Spigel betont, dass Fernsehen seine eigene Vergangenheit erinnere, um an den Fortschritt der Gegenwart zu glauben (Spigel 1995: 20). Das lässt sich in Hinblick auf den technischen Fortschritt des Fernsehens selbst feststellen, aber auch in Bezug auf seine Repräsentationen. Spigel konstatiert dieses in einem 1995 erschienenen Text, der Fernsehwiederholungen von 1950er-Jahre Sendungen und deren Rezeption in Bezug auf Geschlechterverhältnisse thematisierte. Sie stellt fest, dass viele der Student_innen in ihren Kursen sich in ihren Vorstellungen der Lebenswelten von Frauen in den 1950er Jahren auf diese Wiederholungen historischer Sendungen im Fernsehen und damit auf ein »populäres Gedächtnis« bezogen. Populäres Gedächtnis beschreibt Spigel folgendermaßen: »Popular memory is a form of storytelling through which people make sense of their own lives and culture. […] Popular memory does not set out to find ›objective‹, ›accurate‹ pictures of the past. Instead, it aims to discover a past that makes the present more tolerable.« (Spigel 1995: 21)

Populäres Gedächtnis sei weder eindeutig abgegrenzt von (geschichts-) wissenschaftlichem Gedächtnis, noch per se »widerständig«, sondern »enmeshed in knowledge circulated by dominant social institutions.« (Spigel 1995: 22) In der Bezugnahme des populären Gedächtnisses auf Geschlechterverhältnisse der Vergangenheit sieht sie eine Indienstnahme, die die Vergangenheit simplifiziere, um Gegenwart zu affirmieren: »Almost all students agreed that we are now living in an age of enlightenment where women have more choices and more career opportunities. Within this construction of the present, the past served as a comparative index by which people could measure their relative liberation. In this regard, television reruns and nostalgia shows might well have

5

Somit erscheinen in Mad Men zumindest Versatzstücke der »populäre[n] warenförmige[n] Tendenzen [...] in der Fernsehgeschichtsschreibung«, die Judith Keilbach und Matthias Thiele beschrieben haben: »Zum einen die nostalgische und vergnügliche Erinnerung an vergangene Fernsehjahrzehnte und Fernsehkulte, zum anderen teleologisch anmutende Erfolgsgeschichten des Fernsehens, die von Karrieren, technischem Fortschritt, Sendervermehrung und Programmvervielfältigung erzählen.« (Keilbach/Thiele 2003: 63).

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served the purpose of legitimation because they provide us with pictures of women whose lives were markedly less free than our own.« (Spigel 1995: 27)

Viele Beobachtungen Lynn Spigels lassen sich für eine Lektüre von Mad Men nutzen. Die Geschichtserzählung von Mad Men als populäres Gedächtnis könnte knapp zusammengefasst lauten, dass in den 1960er Jahren Vieles sehr schlimm und schlimmer als heute, aber auch schöner war, die Welt sich seitdem aber verbessert hat, wobei die schönen Dinge beibehalten werden können. Gleichzeitig bedient sich die Geschichtserzählung durchaus verschiedener Elemente der Frauen- und Geschlechterforschung, der kultur-, alltags und sozialgeschichtlichen Forschungen und der Historiographie der Bürger_innenrechtsbewegung. In Bezug auf Geschlechterverhältnisse behauptet die lineare Fortschrittserzählung implizit eine inzwischen eingetretene Gleichberechtigung. Deutlich tritt dieses Narrativ in einer die DVD-Edition begleitenden Dokumentation hervor. Zur zweiten Staffel wird die Dokumentation »Birth of an Independent Woman/ Geburt einer unabhängigen Frau« mitgeliefert. Die Sendung beleuchtet anhand von Expertinneninterviews und Ausschnitten aus Mad Men die Veränderung der Geschlechterverhältnisse in den 1960er Jahren in Zusammenhang mit Frauenbewegung und Civil Rights Movement. So wird beispielsweise eine Szene zwischen Don Draper und Peggy Olson aus der ersten Staffel mit Interviewsequenzen der Professorin für Frauengeschichte Ellen C. Dubois, der feministischen Autorin Marcelle Karp und des Soziologen und Männlichkeitsforschers Michael S. Kimmel gegengeschnitten: Peggy: »You wanted to see me?« Don: »Close the door.« Ellen C. Dubois: »These women who were pretty identified with their labour force participation. They also began to raise the issue of the disparity between men’s and women’s pay and jobs as a kind of discrimination.« Don: »That was quite a presentation you gave. The Samsonite people are thrilled.« Peggy: »Oh. That’s good to hear.« Don: »They requested that you be reassigned as the copywriter on their account.« Dubois: »Once it was identified as a problem and then got a name, a sort of suppressed eagerness that women had for better pay and more job opportunity…« Peggy: »Are you sure?« Marcelle Karp: »I think the young ambitious working women then really had a lot to prove, really had to fight harder than anybody else in the office.« Don: »Don’t feel bad about being good at your job.« Peggy: »I wish it hadn’t happened this way.«

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Don: »That’s the way it happened. Congratulations.« Michael S. Kimmel: »Once upon a time the workplace was a homosocial arena, it was an all male workplace. And when women were there, they were there in service positions. One of my colleagues uses this word, they were there to kind of lubricate male-male interactions. They served the coffee, served the drinks, they were hostesses, secretaries. They made sure that male-male-interaction went with less friction because of the potential competitiveness of those interactions.«

Die interviewten Personen sprechen – wohl den Fragen und dem Thema der Dokumentation geschuldet – allesamt in der Vergangenheit. Implizit wird dadurch – wie auch durch den Titel »Geburt einer unabhängigen Frau« – nahegelegt, dass die angesprochenen Auschlussmechanismen in der Arbeitswelt, wie auch die Kämpfe dagegen, der Vergangenheit angehören – »Once upon a time...«. Die Einblendungen aus Mad Men fungieren in der Dokumentation auf einer visuellen Ebene als Authentifizierung der Geschichtserzählung (White 2011: 156f.); doch läuft im zitierten Ausschnitt die Narration der Interviews dem gezeigten fiktionalen Material zuwider. Es ist nicht Peggy, die etwas fordert, sondern Don, der ihr etwas gibt und der ihr sagt, sie solle sich nicht schlecht fühlen, wenn sie gut in ihrem Job ist. Die letzte Sequenz der Dokumentation beschäftigt sich im weitesten Sinn mit der Bedeutung des Begriffs »Feminismus«. Sie beginnt mit einer Szene aus Mad Men, in der eine Geliebte von Don, Bobby Barrett (Melinda McGraw), Peggy erklärt, wie sie beruflichen Erfolg erreichen könne: Bobby: »You’re never gonna get that corner office until you start treating Don as an equal. And no one will tell you this, but you can’t be a man. Don’t even try. Be a woman. It’s a powerful business when done correctly.« Marcelle Karp: »Female independence is about choice. That, of course, has tentacles.« Emily Bazelon (Journalistin, Juristin): »Feminism gets identified with its most radical kind of man-hating moments, when really feminism is just about wanting women to have the same opportunities as men.« Marcelle Karp: »What all the ladies of the Second Wave were really trying to emphasise was, we could be liberated from what kept us feminine. They weren’t trying to belittle their femininity, but what they were trying to do was be seen as equals and not as sexual beings.« Diana York-Blaine (Women’s Studies): »I think female independence, for me, has been realising there is a self in here who absolutely has desires and needs and wants, and they may not be in line with cultural, approved roles for the female.« Marcelle Karp: »It’s economic choice, it’s personal choice, it’s sexual choice. And I’m not saying preference, it’s choices, you know. It’s everything. It’s emotional choice. It’s what-

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do-I-wanna-do-with-my-life choice, where-do-I-wanna-live choice, it’s all of that, it’s being able to say what you want to do, make those choices and then go for it.«

Bemerkenswert erscheint mir das abschließende Thema der Dokumentation: »die unabhängige Frau« hat nach ihrer »Geburt« ihre Weiblichkeit nicht verloren und eine Abgrenzung von als »radikal« bezeichneten Formen des Feminismus wird vorgenommen. Diese Beteuerungen haben den Charakter einer Entschuldigung und einer nachträglichen Legitimierung der im Laufe der Dokumentation getätigten feministischen Aussagen. Dieses Motiv wird in der Narration von Mad Men durch Peggy repräsentiert, deren beruflicher Aufstieg von einer äußeren Transformation begleitet wird, in der sie mit Codes moderner Weiblichkeit experimentiert und diese schließlich gekonnt einsetzt. Zur Visualisierung von Frauenbewegung und Feminismus werden in dieser Abschlusssequenz der Dokumentation im Gegensatz zu vorherigen Repräsentationen nur wenige und ausschließlich weiße Frauen – darunter auch drei Charaktere von Mad Men: Betty Draper, Joan Harris, Peggy Olson – herangezogen. In der letzten Minute der Dokumentation wird demnach auf mehreren Ebenen eine eindeutige Interpretation der zuvor versammelten vielfältigen Statements vorgeschlagen. Bevor ich zum abschließenden Punkt komme, möchte ich auf Nostalgie als Form der Bezugnahme auf Vergangenheit zu sprechen kommen. Wie Lynn Spigel bemerkt, widerspricht Nostalgie nicht einer Fortschrittserzählung: »Nostalgia in this regard is not the opposite of progress, but rather its handmaiden. Like the idea of progress, nostalgia works to simplify history into a timeline of events that lead somewhere better.« (Spigel 1995: 29) Ein doppelter Bezug auf die Vergangenheit kennzeichnet Mad Men: Die 1960er Jahre erscheinen sowohl als eine Zeit, der ›wir‹ in der Gegenwart relevante Entwicklungsschritte voraus haben, als auch als eine nostalgisch verklärte, verlorene Zeit – die Mode, das hemmungslose Rauchen und Trinken, die gute Musik, die schönen Autos. Damit wird eine ›koloniale‹ Perspektive gegenüber dem als »Other« dargestellten historischen Zeitraum eingenommen. Eine theoretische Verbindung zwischen »travel, time and narrative« haben Barry Curtis und Claire Pajaczkowska in ihrem gleichnamigen Text 1994 hergestellt: »The ›foreign‹ as well as the ›past‹, has the virtue of clarity and coherence and a distance that renders it desirable and appropriable.« (Curtis/Pajaczkowska 1994: 205) Die zeitlich bzw. räumlich beschränkte Aneignung und das Spielen mit »anderen« Identitäten geschehe oft in Zusammenhang mit Objekten – Souvenirs oder Antiquitäten

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(Curtis/Pajaczkowska 1994: 204).6 Curtis und Pajaczkowska argumentieren, dass Reisen, wie auch der Retro-Bezug auf eine »recyclete Vergangenheit«, die Funktion eines Ausgleichs eines Mangels oder einer Wiedergewinnung von etwas Verlorenem hat: »What is marked in accounts of travel is finding elsewhere what has become obsolete at home.« (Curtis/Pajaczkowska 1994: 202) Dieses (Zeit-) Reisen erlaube eine Repositionierung von Identität: »Period, like place, provides opportunities for the repositioning of identity.« (Curtis/Pajaczkowska 1994: 205) Diese Möglichkeit der Repositionierung von Identität durch den Bezug auf andere Orte und Zeiten führt uns zur letzten These.

R EKONSTRUKTION In Mad Men werden spezifische, als veraltet bewertete, weiße heterosexuelle Männlichkeiten dekonstruiert, neue Formen und Verhaltensweisen nahegelegt und mit Handlungsmacht ausgestattet. Das führt zu einer Rekonstruktion und Reformulierung weißer Männlichkeiten. Die Verhandlung weißer Männlichkeiten steht im Mittelpunkt der Serie. Das drücken nicht nur die Men im Titel aus, es kann auch als programmatisch für die Serie gelten, was Rachel Menken (Maggie Siff) in der allerersten Folge zu Don Draper sagt: »I don’t think I realized until this moment, that it must be hard, being a man, too.« Große Teile von Mad Men sind damit beschäftigt, auszustellen, welche Arbeit und welchen Aufwand es bedeutet, weiße heterosexuelle Männlichkeiten herzustellen. Das Leiden an der Konkurrenz im Job, die Schwierigkeiten mit Anforderungen des traditionellen Familienmodells umzugehen, die Angst vor Unfruchtbarkeit, der Umgang mit patriarchalen und gewalttätigen Vätern und Schwiegervätern sowie die Entfremdung von Ehefrauen und Kindern sind wiederkehrende Themen der Sendung. Anhand der Figur des Don Draper werden neue Formen des Umgangs mit diesen Anforderungen ausgelotet, ohne eine mit weißer Männlichkeit verbundene Machtposition aufzugeben. Während an der Protagonistin Peggy Olson der Fortschritt durchinszeniert wird, sie eine Transformation durchläuft, die stets von außen angestoßen wird und die, wie gezeigt, nicht nur beruflichen Aufstieg, sondern auch einen Stilwechsel zu einer modernurbanen Weiblichkeit beinhaltet, kommt es über die Figur des Don Draper zu einer Reformulierung und Rekonstruktion weißer Männlichkeit. Don ist nicht mehr der harte, alles hinunterschluckende, rassistische Mann, sondern einer, der

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Vgl. dazu auch den Fan-Bezug auf Mad Men in Form von Parties im »original 60er Jahre Stil«, wie zum Beispiel im Wiener Gartenbaukino (Obermüller Molterer 2012).

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sich durch eine Lüge dem Militär entzogen hat und der in Tagebuchaufzeichnungen seinen Alkoholkonsum reflektiert. Er bemüht sich, auch wenn es nicht immer gelingt, ein gutes Verhältnis zu seinen getrennt lebenden Kindern zu haben, sie nicht zu schlagen – bezeichnenderweise im Gegensatz zu deren Mutter Betty Draper – und er zeigt sich in den wenigen nicht sexualisierten Beziehungen zu Frauen mitunter freundschaftlich und verletzlich. Diese Reformulierung geschieht gerade unter Bezug auf die ausgestellten Rassismen, Antisemitismen, Sexismen und Homophobien. Don ist weniger rassistisch und antisemitisch als die Anderen: Er verteidigt schon in der ersten Folge einen schwarzen Kellner gegenüber seinem weißen Vorgesetzten, er liest über Israel und er ist als erster für die Einstellung einer schwarzen Mitarbeiterin in der Firma. Don weiß als einziger in der Firma um die Homosexualität eines Kollegen und gibt ihm zu verstehen, dass diese Information für ihn nichts ändert und er sie für sich behalten wird. Er verhält sich damit konträr zu den mit homophoben Äußerungen um sich werfenden übrigen Männern der Werbeagentur. Und Don fördert Peggy. Das alles ändert jedoch nichts an seiner Machtposition; er bleibt in der Position, Anerkennung und Macht zu verteilen und zu nehmen. Seine Stellung ist zu keiner Zeit von Peggy bedroht. Unter Bezug auf eine verlorene Vergangenheit kommt es demnach in Mad Men zu einer Neuformulierung von Identitäten: Es ist möglich, einige Dinge zu behalten und andere zu verändern; was das jeweils ist, ist in Mad Men hochgradig gegendert. Geschichte fungiert in Mad Men als Setting, in dem Facetten der 1960er Jahre lustvoll-nostalgisch affirmiert werden und gleichzeitig die Gegenwart durch die Vorstellung, dass vieles trotz allem heute ›besser‹ sei, legitimiert wird. In dieser doppelten Bezugnahme dient die Vergangenheit als Ort für aktuelle Verhandlungen feministischer Kämpfe und Konzeptionen von Weiblichkeiten und Männlichkeiten.

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L ITERATUR »About the Show«. In: AMC: Mad Men (http://www.amctv.com/shows/ mad-men/about). Zugriff am 20.6.2012. Carveth, Rod/James B. South (Hg.) (2010): Mad Men and Philosophy: Nothing Is as It Seems, Hoboken/New Jersey: John Wiley and Sons. Coontz, Stephanie (2010): »Why ›Mad Men‹ is TV’s most feminist show«. In: Washington Post vom 10.10.2010. Curtis, Barry/Claire Pajaczkowska (1994): »›Getting there‹: Travel, Time and Narrative«. In: George Robertson/Melinda Mash/Lisa Tickner et al. (Hg.): Travellers´ Tales: Narratives of Home and Displacement, London: Routledge, S. 199-215. Edgerton, Gary (Hg.) (2011): Mad Men: Dream Come True TV, London, New York: I.B. Tauris. Lewis, Lisa A. (Hg.) (1992): The Adoring Audience: Fan Culture and Popular Media, London, New York: Routledge. Keilbach, Judith/Matthias Thiele (2003): »Für eine experimentelle Fernsehgeschichte«. Hamburger Hefte zur Medienkultur 2, S. 59-75. »Madmen Yourself« In: AMC (http://www.amctv.com/madmenyourself). Zugriff am 20.6.2012. Mendelsohn, Daniel (2011): »The Mad Men Account«. In: The New York Review of Books vom 24.02.2011. Newcomb, Horace (2011): »Learning to Live with Television in Mad Men«. In: Gary Edgerton (Hg.), Mad Men: Dream Come True TV, London, New York: I.B. Tauris, S. 101-114. Obermüller, Nadine/Georg Molterer (2012): »Mad Wien«. In: Rondo Nr. 667, Beilage zu Der Standard vom 6. April 2012, S. 6-8. Perlman, Allison (2011): »The Strange Career of Mad Men: Race, Paratexts and Civil Rights Memory«. In: Gary Edgerton (Hg.), Mad Men: Dream Come True TV, London, New York: Routledge, S. 209-225. Rose, Brian (2011): »›If It's Too Easy, Then Usually There's Something Wrong‹: An Interview with Mad Men's Executive Producer Scott Hornbacher«. In: Gary Edgerton (Hg.), Mad Men: Dream Come True TV, London, New York: Routledge, S. 25-41. Spigel, Lynn (1995): »From the Dark Ages to the Golden Age: Women's Memories and Television Reruns«. Screen 36.1, S. 16-33. Stoddart, Scott F. (Hg.) (2011): Analyzing Mad Men: Critical Essays on the Television Series, Jefferson/North Carolina, London: McFarland.

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White, Mimi (2011): »Mad Women«, in: Gary Edgerton (Hg.), Mad Men: Dream Come True TV, London, New York: Routledge, S. 147-158. Fernseh-, DVD-Produktionen Mad Men Staffel 1-5 (AMC, 2007-2012) Birth of an Independent Woman (USA 2009; Extra zur DVD-Edition der 2. Staffel von Mad Men)

Napoleon, Borodino und der Vaterländische Krieg von 1812 in populären russischen Geschichtsdiskursen der Gegenwart R EGINE N OHEJL

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der DFG-Forschergruppe ›Historische Lebenswelten‹1 an der Universität Freiburg und des Teilprojekts des Slavischen Seminars ›Napoleon, Borodino und der Vaterländische Krieg von 1812‹.2 Im Mittelpunkt steht die Frage, wie der für Russland ebenso bedeutsame wie traumatische ›Mythos Napoleon‹, das Gedächtnis an den Krieg von 1812, im modernen russischen Geschichtsverständnis ›arbeitet‹, wie er popularisiert und für die nach dem Ende der Sowjetunion wieder so aktuell gewordenen Diskurse nationaler Identitätsfindung fruchtbar gemacht wird. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem zweihundertjährigen Jubiläum des Vaterländischen Krieges im Jahre 2012. Der Krieg von 1812 bedeutet einen entscheidenden Wendepunkt in der russischen Geschichte. Durch die Begegnung mit Napoleon wird Russland gezwungen, gegenüber Westeuropa, mit dem schon das ganze 18. Jahrhundert hindurch ein intensiver Austausch stattfand, prinzipiell Stellung zu beziehen und sich im bzw. gegenüber dem westeuropäischen Kontext politisch und weltanschaulich zu verorten.3 Dieser Prozess ist in gewisser Weise bis heute nicht abgeschlossen; so

1 2

(http://portal.uni-freiburg.de/historische-lebenswelten/). Der Arbeitsgruppe gehören neben der Verfasserin dieses Artikels Elisabeth Cheauré, Marina Kahlau und Konstantin Rapp an.

3

Vgl. Boris Groys, der die Formel von Russland als dem »Anderen des Westens« geprägt hat (Groys 1995: 8), d.h. gerade weil Russland den imaginierten »Westen« als Kontrastfolie der eigenen Identitätsbildung benutzt, bleibt es auf Gedeih und Verderb an sein konstruiertes Gegenüber gefesselt.

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verwundert es nicht, dass das, was ich im Folgenden als ›Napoleon-Narrativ‹ bezeichne und beschreibe, die Gemüter auch im gegenwärtigen Russland heftig bewegt. Die Bezeichnung ›Narrativ‹ wähle ich anstelle des verfänglichen MythosBegriffs, der m.E. zu viele unklare Implikationen enthält. Mit dem Narrativen wird ein wichtiger Aspekt des Mythischen in den Vordergrund gerückt, nämlich das Bedürfnis, das Weltgeschehen zu verstehen und zu bewältigen, indem man es in die Form schlüssiger Geschichten fasst. Damit sind weniger die »großen Geschichten« im Sinne Lyotards gemeint, die auf die Vorherrschaft abstrakter Prinzipien abzielen. Viel eher passt darauf die These vom narrativ-ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung, wie sie in neuerer Zeit vor allem von Hayden White pointiert vertreten worden ist (White 1986; 2008). Man muss dabei nicht bis ins Detail Whites »nahezu mechanische[m] Insistieren auf vier narrativen Modellierungen« folgen (Landwehr 2009: 46), die fest mit bestimmten Leittropen und politisch-weltanschaulichen Grundhaltungen verbunden werden. Entscheidend ist die Einsicht, dass die Geschichtsschreibung sich mindestens ebensosehr mit Erfundenem befasst wie mit Gefundenem, dass sie eine Zwischenstellung einnimmt zwischen Fiktion und Faktographie, und dass es in ihr nicht so sehr auf die Sammlung historischer Fakten und Informationen ankommt (deren vermeintliche Objektivität sich schon aufgrund des Zwangs zur Selektion gleichfalls als trügerisch erweist) als vielmehr auf die narrative Modellierung und Aufarbeitung dieses Materials. Für die dabei entstehenden Geschichten stellt die Kultur nach White bestimmte Gestaltungsmuster, Metanarrative, zur Verfügung.4 Solche Metanarrative sind heute in Russland noch sehr viel stärker und ungebrochener wirksam, als dies in vielen westlichen Ländern der Fall ist. Für diese Besonderheit, ohne deren Berücksichtigung auch das Napoleon-Narrativ und seine Rolle in zeitgenössischen russischen Geschichtsdebatten nicht adäquat eingeordnet werden kann, lassen sich verschiedene Gründe anführen: • Verantwortlich für die beharrliche Präsenz von Metanarrativen im russischen

Geschichtsdenken ist zum einen das fortgesetzte Ringen um nationale Identi-

4

Nicht eindeutig beantwortet wird bei White die Frage nach der Genese dieser Narrative. Unter Berufung auf Psychologie und Psychoanalyse (Piaget, Freud) bezeichnet er sie zum einen als »archetypisch«, d.h. anthropologisch bedingt; zum anderen sieht er deutlich, dass das Schema der »tropologischen Präfiguration« sich v.a. auf die »moderne abendländische Kulturtradition« anwenden lässt und gibt seinem Ansatz somit eine eher diskursanalytische Wende (White 1986: 22). Auf die Nähe von Whites Ansatz zu abendländischen Kulturtraditionen verweist u.a. Burke (1999: 47f.).

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tät und um die Stellung Russlands in Europa und in der Welt, das wie erwähnt bis heute nicht abgeschlossen ist. So scheinen vielfach noch immer die Worte des skeptischen Westlers Potugin aus Ivan Turgenevs Roman Dym (Rauch, 1870) zutreffend, dass dort, wo westliche Nationen konkrete Fragen und Probleme diskutieren, die Russen stets in der Endlosschleife abstrakter Identitätsdebatten hängenbleiben: »[…] ɫɨɣɞɟɬɫɹ ɞɟɫɹɬɶ ɪɭɫɫɤɢɯ, ɦɝɧɨɜɟɧɧɨ ɜɨɡɧɢɤɚɟɬ […] ɜɨɩɪɨɫ ɨ ɡɧɚɱɟɧɢɢ, ɨ ɛɭɞɭɳɧɨɫɬɢ Ɋɨɫɫɢɢ, ɞɚ ɜ ɬɚɤɢɯ ɨɛɳɢɯ ɱɟɪɬɚɯ, ɨɬ ɹɢɰ Ʌɟɞɵ, ɛɟɡɞɨɤɚɡɚɬɟɥɶɧɨ, ɛɟɡɜɵɯɨɞɧɨ.« (Turgenev 1965: 167; […] wenn zehn Russen zusammenkommen, taucht augenblicklich die […] Frage nach der Bedeutung, der Zukunft Russlands auf, aber in so allgemeinen Zügen, von Adam und Eva angefangen, ohne konkrete Anhaltspunkte, ausweglos).

• Entscheidend ist ferner, dass die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sub-

systeme in Russland traditionell weniger stark ausgeprägt ist. Aufgrund verschärfter politischer Zensur war lange Zeit die Literatur ein zentrales Medium für gesellschaftspolitische Debatten, die Spuren dieser Entwicklung sind bis heute in der starken Literarisierung nichtästhetischer Disziplinen, darunter auch der Geschichtswissenschaft, erkennbar. Auch das Napoleon-Narrativ erhält immer wieder wesentliche Impulse aus der Literatur, man denke nur an Lev Tolstojs Roman Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1868/69), der weit über Russland hinaus die Vorstellung vieler Rezipienten über die Epoche von 1812 entscheidend geprägt hat. Wenn Hayden White feststellt, dass »die erzählerische Form eines geschichtswissenschaftlichen Textes bis heute mit der des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts überein[stimme]« (Liebelt 2007: 7), dann ist es, als hätte er dabei die russische Situation als prototypisch im Auge gehabt.5 • Schließlich hat die Fixierung der sowjetischen Wissenschaft auf den Marxis-

mus als grundlegende Gesellschaftstheorie dazu geführt, dass die Muster der großen Geschichtsnarrative des 19. Jahrhunderts lebendig geblieben sind bzw. lange Zeit künstlich am Leben erhalten wurden.

5

Auch für Deutschland ist durch die Arbeit von Barbara Beßlich (Beßlich 2007) ein bis weit ins 20. Jahrhundert dauernder literarischer Napoleon-Diskurs nachgewiesen worden. Während dieser sich jedoch vom historiographischen Diskurs abkoppelt, ja diesen regelrecht unterläuft, sind die Grenzen in Russland viel fließender.

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Bevor ich mich auf die Suche nach den Spuren des Napoleon-Narrativs in der russischen Gesellschaft von heute begebe, möchte ich kurz erläutern, wie dieses Narrativ aufgebaut ist und warum in ihm – wie in der russischen Kultur generell – Gendermetaphern eine wichtige Rolle spielen. Im Gefolge des Krieges von 1812 verfestigt sich die Vorstellung von Russland als einer naturwüchsigen Kraft, die durch ihr schieres Sein, durch die Unermesslichkeit ihres Raumes das zeit- und entwicklungsorientierte Denken der westlichen Moderne außer Kraft setzt und jeden Eindringling aus dem Westen, sei er auch noch so gut gerüstet und organisiert, einfach ›verschluckt‹. Unzählige mit Pfeilen bestückte Landkarten präsentieren seither Napoleons Russlandfeldzug als einen gescheiterten, angesichts der räumlichen Verhältnisse nachgerade lächerlichen Penetrationsversuch. Russland erscheint hierbei zunächst als eine dem aggressiven Vergewaltiger hilflos ausgelieferte ›weiblich‹-passive Masse, die jedoch unversehens die Oberhand gewinnt, indem sie den Gegner immer weiter in ihre Tiefen lockt, dorthin, wo nach ihren Regeln gespielt wird und wo der selbstbewusste Eroberer keine Chance mehr hat. In Russland selbst wird dieses Modell in den kommenden Jahrzehnten dahingehend ausgebaut, dass das russische Volk als ›Gottesträgervolk‹, als Repräsentant des wahren Christentums und der göttlichen Vorsehung auf Erden stilisiert wird – keine bloße ›weibliche‹ Elementarkraft, sondern ein christlicher »Allmensch«6, der ›männliche‹ Stärken (Mut, Entschlossenheit…) und ›weibliche‹ Tugenden (Geduld, Demut, Leidensbereitschaft…) in harmonischer Weise in sich vereint und damit langfristig gesehen dem einseitig männlich konnotierten westlichen Machtmenschen und seinen vordergründigen wissenschaftlich-technischen Scheinerfolgen nicht nur ebenbürtig, sondern weit überlegen ist. Denn wenn die westlichen Fortschrittsgesellschaften sich an ihren Aporien totgelaufen haben werden, dann wird die Stunde Russlands schlagen, wird das russische Imperium als geistig-moralischer Retter des Westens in Erscheinung treten. Dieser messianische Aspekt tritt erstmals in der besonderen Rolle

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Die wohl bekannteste Formulierung der These vom russischen »Allmenschentum« (vseþeloveþestvo) findet sich in Fedor Dostoevskijs Rede zur Eröffnung des Aleksandr-Puškin-Denkmals in Moskau 1880. Die Vorstellung, das Russische bewahre gegenüber der westlichen Tendenz zu Spezialisierung und Differenzierung ein universelles, ganzheitliches, ›urmenschliches‹ Ideal im Geiste des Christentums (später austauschbar durch säkulare Ideologien: »Proletarier aller Länder…«) hatte insofern fatale Folgen, als sich mit der Begründung, das Russische repräsentiere nicht eigentlich eine Nation, sondern das Allgemeinmenschliche schlechthin, russische Interessen unverblümt anderen Völkern und Gemeinschaften aufdrängen ließen.

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zutage, die Russland innerhalb der Heiligen Allianz beansprucht und in der Stilisierung Aleksandrs I. als androgyne Figur des ›rettenden Engels‹.7 Es verwundert nicht, dass das Napoleon-Narrativ sich in der russischen Geschichte zum Dauerbrenner entwickelt hat, denn es ließ (und lässt) sich in jeder Krisensituation aufs Neue aktivieren. Mit ihm war es möglich, das den Vorurteilen arroganter westlicher Aufklärer und Fortschrittsmenschen entstammende Klischee vom unzivilisierten, groben, ›barbarischen‹ Charakter der Russen (Wolff 1994) zurückzuweisen und die technische Rückständigkeit der russischen Gesellschaft im Sinne eines »Wir sind zu anderem bestimmt« zu legitimieren, ja sogar in einen geheimen Vorzug, ein Alleinstellungsmerkmal zu verwandeln. Auch die Notwendigkeit der Konservierung autoritär-imperialer Herrschaftsstrukturen gegenüber dem Anspruch nationaler Differenzierung und Souveränität ließ sich mit dem Verweis auf die imperial-weltumfassende Mission Russlands begründen. Ein wichtiger Schritt zur Fixierung und Fortschreibung des Napoleon-Narrativs in der Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Etikettierung des Zweiten Weltkriegs als »Großer Vaterländischer Krieg« (Velikaja Oteþestvennaja vojna), durch die nicht nur eine historische Kontinuität zum Vaterländischen Krieg von 1812 (Oteþestvennaja vojna) hergestellt wurde, sondern durch den Einbau der Klimax die russische Geschichte in der Form eines teleologisch ausgerichteten, unaufhaltsam auf seinen dramatischen Höhepunkt zusteuernden »Endzeitdramas« inszeniert wurde. Der Große Vaterländische Krieg und mit ihm das Napoleon-Narrativ ist gerade im abrupten Übergang von der alten zur neuen Gedächtniskultur, den das Ende der Sowjetunion mit sich brachte, ein wichtiges Bindeglied geblieben, ein zentrales Moment des kulturellen Gedächtnisses, an dem die ansonsten weit divergierenden gesellschaftlichen Interessen konvergieren (Rolf 2006: 324ff.; Bordjugov 2010: 170ff.; Bordjugov 2011). Wie häufig in der russischen Geschichte lässt sich auch gegenwärtig beobachten, dass diametral entgegengesetzte Interessengruppen schlagartig zusammenrücken, sobald es um die imperiale Einzigartigkeit des Russischen und um seine Verteidigung gegenüber Bedrohungen von außen geht (Scherrer 2002: 180). Mehr denn je lässt sich mit Elena Hellberg-Hirn sagen, das imperiale Narrativ »looms like a giant supertext over Russian culture« (Hellberg-Hirn 1998: 216). Von der martialischmännlichen Rhetorik, die dabei gelegentlich bemüht wird – im Februar 2012 verkündete z.B. Vladimir Putin während einer Wahlrede dem erstaunten Publikum plötzlich, dass die »Schlacht von Borodino« weitergehe und der »echte«

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Sehr instruktiv zur Bedeutung solcher Symboliken als »Szenarien der Macht«: Wortman 1995.

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Russe auch heute noch bereit sei, für das Vaterland zu sterben8 – darf man sich dabei nicht täuschen lassen; sie ist nur eine Seite eines durch und durch ambivalenten, janusgesichtigen Selbstbildes, bei dem man zwar bisweilen gerne signalisiert, dass man westliches, männlich konnotiertes Machtgebaren auch im Repertoire hat, indes ohne dass die Vorstellung von der Überlegenheit des Russischen darauf reduziert würde. Im Folgenden möchte ich anhand zweier Beispiele aus der populären russischen (Geschichts)kultur zeigen, wie lebendig auch heute noch das ist, was ich als ›Napoleon-Narrativ‹ bezeichne – die Vorstellung, das russische Volk werde am Ende gerade deshalb über seine(n) westlichen Gegner triumphieren, weil es neben ›männlichem‹ Kampfgeist auch über die ›weiblichen‹ Tugenden der Geduld und Demut verfügt, und über die Fähigkeit, das eigene Handeln in den Dienst eines höheren spirituellen Ganzen zu stellen. Das erste Beispiel stammt aus den 1990er Jahren, einer Zeit, in der sich in Russland ein wildwüchsiger Kapitalismus ausbreitete und in der Tat Anlass zu der Sorge bestand, das Land könne zu einer grotesken verspäteten Karikatur jener frühkapitalistischen Verhältnisse werden, die der Westen 200 Jahre zuvor erlebt hatte. Das zweite Beispiel stammt aus den Jahren 2011/12, einer Zeit, in der die frühkapitalistischen Auswüchse im postsowjetischen Russland durch eine »gelenkte Demokratie«, ein neues autoritär angehauchtes Regime einstweilen eingedämmt scheinen, in der aber zunehmend Befürchtungen aufkommen, der neue Autoritarismus könne wieder in einen Totalitarismus münden. Dass das erste Beispiel die alten imperialen Narrative eher zu affirmieren scheint, wohingegen sie im zweiten respektlos und ironisch angegangen werden, ist jedoch sicher nicht nur durch die Wandlungen des Zeitgeistes bedingt, sondern auch durch die Unterschiedlichkeit der Genres. Während der 1990er Jahre lief im russischen Fernsehen eine Serie von Werbespots der Bank Imperial. Die Serie trug den nicht unbescheidenen Titel »Weltgeschichte« (Vsemirnaja istorija) und stellte verschiedene Herrschergestalten der Weltgeschichte vor, bis auf Katharina die Große alle männlichen Geschlechts.

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Vgl. (http://www.youtube.com/watch?v=57Ok_4qpOak).

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