Sartre und die Medien [1. Aufl.] 9783839408162

Dieser Band widmet sich den Medienkonfigurationen im Werk Jean-Paul Sartres. Ausgewiesene Kenner seines Werkes und namha

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German Pages 228 Year 2015

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Sartre und die Medien [1. Aufl.]
 9783839408162

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Sartre und... Elemente zur Einleitung
Poulou geht ins Kino
Das Spiel ist (nicht) aus. Zu Sartres Filmdrehbüchern. Les jeux sont faits und Résistance
Sartres Résistance. Ein unbekanntes Drehbuch des Philosophen aus dem Krieg
Bildhafte und andere Gedankensprünge. Zweimal Die Schmutzigen Hände auf der Bühne
Le Scénario Freud
Jeu, Machines, Finitude. Pour Mettre en Scène le Théâtre de Sartre
Diesseits/Jenseits in Sartres Das Spiel ist aus und aktuellen Filmen – Ein variables Motiv
Le mur. Sartres Novelle und Roullets Film
Das Bild und das Imaginäre. Sartres Schriften L’Imagination (1936), L’Imaginaire (1940) und Un théâtre de situations (1973)
„Some of these days, you’ll miss me honey“. Überlegungen zur Medialität subjekthafter Schöpfung beim frühen Sartre
Sehen auf Reisen. Sartres Italienfragmente La reine d’Albemarle ou le dernier touriste
Filmo-Bibliografie Jean-Paul Sartre
Autoren
Nachweis der Erstdrucke

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Michael Lommel, Volker Roloff (Hrsg.) Sartre und die Medien

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Michael Lommel, Volker Roloff (Hrsg.)

Sartre und die Medien

Medienumbrüche | Band 24

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Fotografie von Gisèle Freund, 1968 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-816-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort ....................................................................................................................... 7 Michael Lommel Sartre und... Elemente zur Einleitung ............................................................11 Klaus Kreimeier Poulou geht ins Kino ............................................................................................23 Franz-Josef Albersmeier Das Spiel ist (nicht) aus. Zu Sartres Filmdrehbüchern Les jeux sont faits und Résistance ......................................................................29 Jürg Altwegg Sartres Résistance. Ein unbekanntes Drehbuch des Philosophen aus dem Krieg.........................................................................53 Sandra Nuy Bildhafte und andere Gedankensprünge. Zweimal Die Schmutzigen Hände auf der Bühne.........................................59 Volker Roloff Le Scénario Freud ..................................................................................................79 Jean-François Louette Jeu, Machines, Finitude. Pour Mettre en Scène le Théâtre de Sartre ...................................................107 Laura Mock Diesseits/Jenseits in Sartres Das Spiel ist aus und aktuellen Filmen – Ein variables Motiv.........................................................119 Michael Lommel Le mur. Sartres Novelle und Roullets Film ..................................................141 Lothar Knapp Das Bild und das Imaginäre. Sartres Schriften L’Imagination (1936), L’Imaginaire (1940) und Un théâtre de situations (1973)..........................157

Gerhard Wild „Some of these days, you’ll miss me honey“. Überlegungen zur Medialität subjekthafter Schöpfung beim frühen Sartre............................................................................................... 173 Scarlett Winter Sehen auf Reisen. Sartres Italienfragmente La reine d’Albemarle ou le dernier touriste ........................................................................................... 191 Franz-Josef Albersmeier Filmo-Bibliografie Jean-Paul Sartre............................................................... 211 Autoren................................................................................................................... 221 Nachweis der Erstdrucke.................................................................................. 225

Vorwort Der Band Sartre und die Medien widmet sich den Medienkonfigurationen im Werk Jean-Paul Sartres. Er richtet das Interesse auf Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Theater und Film; auf Sartres Filmdrehbücher und Szenarien; auf Inszenierungen, Verfilmungen und Bearbeitungen seiner Werke; auf den Philosophen schließlich, der vor allem in seinen frühen Schriften zu den Begründern einer Medientheorie des Imaginären und der Bildwissenschaft gehört (und als solcher derzeit wiederentdeckt wird); und nicht zuletzt auf den Touristen Sartre, der – wie bei einem Schriftsteller, der eine Phänomenologie des Blicks vorgelegt hat, nicht anders zu erwarten ist – mit gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit durch die berühmten italienischen Städte flaniert. In der Ouvertüre des Bandes Sartre und die Medien skizziert Michael Lommel zunächst einige Elemente zur Einleitung. Darauf folgt Klaus Kreimeiers Aufsatz über Poulu im Kino, über Sartres Reminiszenz früher Kinoerfahrungen in Les mots. Sartre war von klein auf ein begeisterter Kinogänger. Nach dem Tod seines früh verstorbenen Vaters Jean-Baptiste lebte er zusammen mit seiner noch jungen Mutter im Haus der Großeltern. Dem kleinen Sartre kam sie eher wie eine ältere Schwester vor. Die „Kinder“, wie der Großvater die junge Witwe und den vaterlosen Enkel zu nennen pflegte, besuchten die Stummfilmvorführungen des Vorkriegskinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Bildungsbürger missbilligte der Großvater diese Besuche im Ladenkino um die Ecke – und tolerierte sie zähneknirschend. Später engagierte sich Sartre, der nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der Befreiung Frankreichs mit dem Existentialismus eine philosophische Mode, ja einen ganzen Lebensstil auslöste, im Grenzverkehr der Künste und Medien. Franz-Josef Albersmeier und Jürg Altwegg diskutieren Sartres Stellenwert im Rahmen der Zeitgeschichte und werten die während der Résistance entstandenen Drehbücher aus, die Sartre für die Filmgesellschaft Pathé-Cinéma verfasst hat. Altwegg greift in die Debatte um Sartres Position zwischen Kollaboration und Widerstand ein und verweist auf die Radikalität vor allem des Drehbuchs Résistance, das – wäre es unter deutscher Besatzung in die Kinos gekommen – Leib und Leben des Verfassers bedroht hätte. Kein anderer großer zeitgenössischer Text, so Altwegg, habe „die Verfolgung der Juden in Frankreich so deutlich beim Namen“ genannt. FranzJosef Albersmeier knüpft an diese Überlegungen an und erweitert die Perspektive. Er vergleicht die Handlungskonstellation der Drehbücher Les jeux sont faits und Résistance, die „komplementär“ angelegt sind und „sich zueinander verhalten wie Modell und konkrete Anwendung, wirklichkeitsenthobenes Konstrukt und erfahrungsgetränkte Utopie“.

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Vorwort

Sandra Nuy stellt am Beispiel des Attentatsdramas Les mains sales aktuelle Tendenzen der Aufführungspraxis vor, „hybride Inszenierungsstrategien im deutschen Theater der Gegenwart“. Sie analysiert Frank Castorfs schon legendäre Berliner Aufführung Schmutzige Hände (1998) und Albrecht Hirches Inszenierung des Stücks am Kölner Schauspiel (2005). So kommt Sartres Technik des „bildhaften Gedankensprungs“, die mit Rückblende und mise en scène arbeitet, Castorfs filmischer Inszenierung bereits entgegen. Dies gilt auch für das Freud-Scénario, das Volker Roloff untersucht. Im ausufernden, Hollywoods Knappheitsanspruch sprengenden Drehbuch kommen die Beziehungen von Theater und Film und die Struktur der existentiellen Psychoanalyse zum Ausdruck, die Sartre in L’être et le néant noch als Gegenentwurf zu Freuds Tiefenpsychologie entwickelt hatte. Als er die Schriften Freuds und die Freudbiografie von Ernest Jones wieder las, näherte er sich Freud an, dem der frühe Sartre nichts abgewinnen konnte. Spuren dieser Annäherung finden sich dann in der Flaubertstudie L’idiot de la famille, in der Sartre Flauberts „Schreibneurose“ mit dem Instrumentarium einer soziologisch geschärften Psychographie interpretiert. Jean-François Louette, einer der wichtigsten französischen Sartre-Forscher der jüngeren Generation, stellt anhand der Begriffe jeu, machine und finitude die grundsätzliche Frage, wie Sartres Theater aufgeführt werden könnte. Bei der Inszenierung der Stücke geht es nach Louette um die Darstellung des Imaginären („la montre de l’imaginaire“), die Irrealisation der Schauspieler und die Rolle der Objekte, der „machines au théâtre“. Zu diesen Theatermaschinen, denen besonders in Les séquestrés d’Altona eine wichtige Funktion für die mise en scène und das Spiel-im-Spiel zukommt, gehören Magnetophon, Radio, Film und Fernsehen. Laura Mock spannt in ihrem Aufsatz den Bogen bis zu populären Kinofilmen (Der Himmel über Berlin, The Sixth Sense, The Others), die das Spiel mit den Ebenen Diesseits und Jenseits aufgreifen. Mock betont, dass Sartres Theater/Film-Kombinationen keineswegs museal der Vergangenheit angehören. Die Untoten in The Others und die Engel in Himmel über Berlin fallen, wie die ,Gefangenen‘ in Huis clos und die wandelnden Toten in Les jeux sont faits, aus der chronologischen Zeit des Weltenlaufs, der Standardzeit heraus. Sie beobachten – Zuschauern im Theater oder Kino vergleichbar – das Schauspiel der Welt, ohne selbst eingreifen zu können. Engel und Untote sind Wesen, in denen „sich die Zeit gestaut hat“, so Joseph Vogl in einem Interview mit Alexander Kluge. Inmitten der verstreichenden Weltzeit schüfen sie eine „Insel des Unvergänglichen“, eine „verdickte Gegenwart“. Michael Lommel befasst sich mit der in der Sartreforschung und Filmgeschichtsschreibung wenig beachteten Verfilmung der frühen Novelle Le mur. Wobei der Regisseur des Films, Serge Roullet, 30 Jahre später (sein Film stammt aus dem Jahr 1967) ein neues Licht auf das Frühwerk Sartres vor der

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Vorwort

Wende zur littérature engagée wirft. Indem Roullet die politischen und gesellschaftlichen Konflikte ausspielt, die in Sartres Novelle nur den Hintergrund, nur die Folie für ein Notturno über die Uneinholbarkeit des Todes abgeben, verweist er – im Sinne einer Palimpsestgeschichte – auf die Kulturrevolte des Pariser Mai 1968. Lothar Knapp widmet sich Sartres Bildanthropologie und Bildphilosophie des Imaginären. Begriffe, die heute in den Kultur- und Bildwissenschaften diskutiert werden – Bildlichkeit, Schaulust, Rollenspiel, Simulation, Immersion, Virtualität und Inszenierung – waren für Sartre bereits von Bedeutung, auch wenn er dafür ein anderes Vokabular verwendet hat. Die Bildwissenschaft, deren Forschungsfeld derzeit Hans Belting, Lambert Wiesing, Gottfried Böhm u.a. abstecken, greift häufig, neben Merleau-Ponty, Husserl und Warburg, auf Sartres Schriften zum Imaginären zurück, die Lothar Knapp hier noch einmal systematisch zusammenrückt. Ihr Nachklang ist noch in Sartres Essays zum Theater zu hören (vgl. Un théâtre de Situations). Gerhard Wild untersucht mit musikphilosophischem Rüstzeug eine Trouvaille, der die Sartreforschung bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat: die Passagen über das Grammophon im Roman La nausée. Die Musik des Jazzsongs Some of these days, you’ll miss me honey befreit Roquentin, die Hauptfigur des Romans, zeitweise vom lähmenden Daseinsekel. Die im Band La reine d’Albemarle ou le dernier touriste versammelte Reiseliteratur Sartres wird von Scarlett Winter als nouveau regard gedeutet und – erstmals in dieser Form – in eine Poetologie des touristischen Blicks eingeordnet, die über Sehen und Gesehenwerden meditiert. Den Abschluss des Bandes Sartre und die Medien bildet die von Franz-Josef Albersmeier zusammengestellte Filmo-Bibliografie Jean-Paul Sartre, die neben bibliografischen Hinweisen eine Auswahl von Filmen und Fernseharbeiten auflistet. Unser Dank für das Zustandekommen des Bandes gilt besonders den Autorinnen und Autoren. Ferner danken wir Daniel Seibel für die redaktionelle Vorbereitung, Gesine Hindemith und Georg Rademacher für ihre Hilfe bei der Einrichtung des Textes und Franz-Josef Albersmeier für die Erstellung der Filmo-Bibliografie. Ingrid Galster sei herzlich für nützliche Hinweise und Anregungen gedankt. M.L.

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Michael Lommel

Sartre und... Elemente zur Einleitung Sartre und das Kino Sartre ist 26 Jahre alt und Gymnasiallehrer in Le Havre. Bei der Preisverleihung im Jahr 1931 fällt ihm als jüngstem Lehrer der Schule die traditionelle Aufgabe zu, die Rede zu halten. Er durchbricht die rhetorische Konvention dieses Anlasses, indem er die Kinematografie als eigenständige Kunst verteidigt, die ebenso der Bildung diene wie Griechisch oder Philosophie.1 Dem würdevollen Ritual, das Frankreichs Bildungsbürgertum mit dem Theater von jeher verbindet, spricht er jede Aura ab. Was heute wie eine gespreizte Floskel klingt, war damals keineswegs selbstverständlich, sondern eine Provokation für die anwesenden Zuhörer, die Schulleitung, die Lehrer und die Eltern der Schüler. Das Kino galt an den französischen Bildungsstätten, den Schulen und Universitäten, als kaum ernstzunehmende Kunst, als leichte Unterhaltung. Das Kino bedeutete, laut Anatole France, zwar noch nicht das Ende der Welt, aber doch schon „das Ende der Zivilisation“.2 Viele Jahre später, Sartre hat den Lehrerberuf längst an den Nagel gehängt und lebt als Schriftsteller und Philosoph in Paris, schreibt er seine Autobiografie Le mots. Er erzählt von seiner Kindheit und den Kinobesuchen zu Beginn des Jahrhunderts – wie er sich unter der Nachwirkung der Kinomagie in Rollenspielen erging, wie die Scheinwelten im Kino und die Heldentaten in den Abenteuerromanen, die er verschlang, mit seinen ersten Schreibphantasien verschmolzen sind. Sartres Nähe zum Film zeigt sich nicht nur in der Autobiografie. Im dramatischen und erzählenden Werk sind vom Film übernommene Kompositionsverfahren offensichtlich, z.B. die Parallelmontage im Roman Le sursis und die lange Rückblende zwischen dem ersten und letzten Akt im Theaterstück Les mains sales. Auch Sartres philosophische Schriften zeugen von einer Sensibilität für das Kino. Liest man das Kapitel über den Blick in L’être et le néant, in dem Sartre das Auftauchen des Anderen beschreibt, stellen sich fast zwangsläufig Filmfantasien ein.3

1

Sartre: „Die kinematographische Kunst“, S. 147-153.

2

Zit. nach ebd., S. 149.

3

Vgl. Lommel: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, S. 173-184.

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

Sartre und die virtuellen Biografien „Virtuelle Biografien“ nennt Joseph Vogl die Lebensalternativen, die wir nicht realisiert haben, die aber im Hintergrund unserer Selbstwahrnehmung mitlaufen und unser gelebtes Lebens begleiten – sei es in glücklicher oder unglücklicher Hinsicht.4 Sie verweisen auf ein verändertes Zeitempfinden in der Moderne, auf Asynchronitäten, die mit der synchronisierten Weltzeit von Greenwich in Konflikt geraten. Ohne den Begriff selbst zu verwenden, dachte Sartre mit seinen Überlegungen zu rôle, projet und transcendance de l’égo bereits über die virtuellen Biografien nach, von denen Vogl spricht. Heute, im Computerzeitalter, setzen sie einen Spieltrieb der Lebensspuren, Identitäten und Avatare frei: das multiple Ich, wie Sherry Turkle es nennt.5 Sartre bezog sich noch auf die vordigitalen Medien, besonders auf das Theater und die Schauspielkunst. Demnach wäre Virtualität gar kein Novum des Cyberspace und der Computerspiele. Sie entspränge einem grundlegenden Bedürfnis, sich in Rollenspielen und Selbst(be)spiegelungen zu vervielfachen. Nur dass eben vor dem Internet Theater und Film Stätten für die Freude am Masken- und Verwandlungsspiel bereitstellten. Das simulierte Leben in Portalen des Web 2.0 wie Second Life, mit manchmal realen (etwa finanziellen) Rückbindungen an die Wirklichkeit vor dem Computer, ist immer noch ein Rollenspiel, in dem sich das Ich transzendiert – so wie der Kaffeehauskellner in L’être et le néant jedes Mal eine Rolle vorspielt, wenn er in seinen Frack schlüpft und das Handtuch über den Arm legt. Sartre ist von Heideggers Begriff des „Entwurfs“ beeinflusst, den er als „projet“ ins Französische übersetzt hat. „Das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit“, so Heidegger. „Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein.“ Heidegger meint hier kein Erträumen, sondern ein Wählen von Möglichkeiten: Entwerfen ist nicht von schrankenloser Willkür. Als Entwurf bezeichnet er daher „die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens.“ Das Dasein habe sich „je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend“; „was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial […], weil es ist, was es wird bzw. nicht wird“.6 Solange das Dasein existiere, sei es „je schon sein Noch-nicht“.7

4

Vogl: „Zeit ohne Raum“, S. 242-261. Vgl. auch ders.: „Was ist ein Ereignis?“ S. 6783.

5

Turkle: Leben im Netz. Vgl. zur Intermedialität von Spielformen in Filmen und Computerspielen Leschke/Venus (Hrsg.): Spielformen im Spielfilm.

6

Heidegger: Sein und Zeit, S. 191-194.

7

Ebd., S. 324.

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

Die biografischen Spiele und alternativen Lebensläufe im Internet, jene Auslagerungen und Filiationen der Identität, sind „Entwürfe“ im Sinne von Heidegger und Sartre. Wie sehr die Richtung, die der Lebensentwurf einschlägt, variieren kann, weil er von äußeren Zufällen abhängt, demonstrieren die virtuellen Biografien und Potentialitäten in Episodenfilmen der Jahrtausendwende – Tom Tykwers Lola rennt, Alain Resnais’ Smoking / No Smoking, Lucas Belvaux’ Trilogie der Leidenschaften, Sandra Wernecks Amores Possíveis. Für diese Filme, die Möglichkeitsformen und Varianten der Existenz entfalten, bietet das Konzept des projet allerdings keine Handhabe mehr. Gilles Deleuze bezieht sich daher in seiner Kinophilosophie eher auf Borges, Bergson und Leibniz als auf Sartre und Heidegger: Der Film kann Lebensspiele und hypothetische Ereignisse in Kristallbildern koexistieren lassen: Aktualität und Virtualität sind „kompossibel“, ,gleichmöglich‘. Kristallbilder erlösen die Existenz aus der chronologischen Unumkehrbarkeit, dem Fatum der Zeit. Im Kino sind die Zeiten umkehrbar, reversibel. A (Delphine Seyrig) und X (Giorgio Albertazzi) haben sich letztes Jahr in Marienbad getroffen und sie haben sich nicht getroffen.8 Lola (Franka Potente) kommt in Tom Tykwers Film Lola rennt (1998) zu spät zum verabredeten Ort und sie kommt gerade noch zur rechten Zeit. Insofern ist es nur die halbe Wahrheit, wenn man sagt, das Kino sei fatalistisch, weil seine Bilder von Anfang an feststünden. Kristallbilder führen die Verzweigung der Zeit vor, Verzweigungen auf einer Linie, Labyrinthe nicht des Raumes, sondern der Zeit selbst. Vielleicht kann man mit Deleuze und Borges sagen, dass Sartre zu ,negativistisch‘ argumentiert, wenn er behauptet, das pour-soi (Heideggers „Dasein“) vernichte, indem es sich von der Gegenwart losreißt und in eine bestimmte Zukunft entwirft, alle anderen, nicht realisierten Möglichkeiten. Sartre hat wie kaum ein anderer die biografische Virtualität erkundet; er hat aber die Unheimlichkeit ausgeblendet, die von den unbegangenen Wegen der Lebensreise weiterhin ausgeht, all den Optionen, die das poursoi auf seinem Gang durch die Zeit verworfen hat, the roads not taken. Diese versammeln sich gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts im Gedächtnis – als virtuelle Biografien, die niemals ganz ausgelöscht werden, vielmehr wie Doppelgänger oder Schattenexistenzen persistieren und unser Selbstbild heimsuchen.

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Zu den Begriffen Kompossibilität und Inkompossibilität, die Deleuze aus der Theodizee von Leibniz übernimmt, siehe Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 173f., und ders.: Die Falte, S. 102-105 und S. 134-136. Zum Kristallbild in Robbe-Grillets und Resnais’ Gemeinschaftswerk L’année dernière à Marienbad (1960) vgl. die genaue Filmanalyse von Winter: Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick, bes. S. 120-137; sowie Schaub: Gilles Deleuze im Kino, S. 133ff. und S. 229-234.

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

Sartre und die Hirnforschung Die Kognitionsforschung hat die Willensfreiheit verabschiedet. Der freie Wille sei eine Illusion, heißt ihr Credo, das sie nicht müde wird auch in den Massenmedien zu verbreiten. Beim Publikum darf sie mit dem wohligen Schauer derjenigen rechnen, die masochistisch ihre Demission genießen. Freiheit sei ein Nebenprodukt der elektrochemischen Prozesse, die im Gehirn ablaufen. Unser Gehirn habe seine Entscheidungen längst gefällt, wenn wir sie uns – im nachhinein – fiktiv zuschreiben. Diese Auffassung ist ungleich simpler gestrickt als Sartres Überlegungen zum être en situation. Sartre verteidigt die menschliche Freiheit innerhalb gegebener Situationen und Vorbedingungen. Auch die Grenzen, die uns die Freiheit der andern setzt, gehören zum être en situation. Jeder Determinismus – sei es Gott, die Biologie, das Unbewusste, das Genom oder eben das Gehirn – ist nach Sartre ein Alibi für Verantwortungsdelegation. Niemand ist absolut frei, zumal der Begriff der Freiheit ohne Grenze jeden Sinn verliert. Aber jeder, der Selbstbestimmung an höhere Mächte abtritt, schwindelt sich in die Tasche: Er hat gewählt, dass andere für ihn wählen. Der Hirnforscher Gerhard Roth schwächt in seinem jüngsten Buch die harte These des Handlungsdeterminismus zwar wieder ab, erklärt jedoch die unbewussten Emotionen, die in den ontogenetisch ältesten Hirnregionen verarbeitet werden, zur letzten Entscheidungsinstanz und die Vernunft zur Sklavin der Gefühle. Das limbische System habe bei allen unseren Entscheidungen „das erste und das letzte Wort.“9 Ein großes, ein erstes und letztes Wort spricht hier die Hirnforschung. Aber von Sartre lernt man, dass Gene und Neuronen zum en-soi gehören, zur Natur, die wir mitbekommen, die wir nicht verändern können, genauso wenig wie die Tatsache, in Afrika oder in Europa geboren zu sein. Wir müssen uns dazu verhalten, indem wir unsere Vorbedingungen übernehmen, sie auf eine Zukunft überschreiten. Das heißt nicht, dass wir unsere Ausstattung negieren könnten. Wir verleihen ihr einen Sinn, indem wir sie in unseren Selbstentwurf einfügen. Emotionen, die Roth und andere Hirnforscher für die ,ultima ratio‘ halten, sind vom Bewusstsein durchdrungen. Wer heute traurig und morgen froh ist, hat ein Bewusstsein von seiner Niedergeschlagenheit oder seiner Hochstimmung. Und wenn man Sartre bis dahin zustimmt, dann folgt daraus, dass Trauer, Wut, Frohsinn oder Eifersucht sich-selbst-setzende Akte darstellen, so sehr Gefühlsbindungen auch von äußeren Ereignissen ausgelöst oder motiviert sein mögen: „Welchen Unter9

Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, S. 178. Wolf Singer schreckt auch vor der Tautologie nicht zurück: „[…] eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt“ (Singer: „Keiner kann anders als er ist“).

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

schied gibt es, so fragt Gide, zwischen einem gewollten und einem empfundenen Gefühl? In Wirklichkeit gibt es keinen; ,lieben wollen‘ und lieben sind eins, denn lieben heißt, sich als Liebenden wählen und sich dabei des Liebens bewußt werden.“10 Sartre geht noch weiter: Wenn meine Kopfschmerzen so stark sind, dass ich nicht mehr länger arbeiten kann, dann sind die Kopfschmerzen zwar wirklich, aber der Punkt, an dem sie mich dazu bringen, den Stift aus der Hand zu legen oder den PC herunterzufahren, ist nicht vom Kopfschmerz selbst vorgegeben; das Nicht-mehr-können ist immer auch ein Nicht-mehr-wollen. Ich beschließe, dass jetzt der Punkt erreicht ist, um die Arbeit zu unterbrechen. Denn zumindest theoretisch gäbe es immer noch eine weitere Sekunde, die ich länger arbeiten und die Belastung aushalten könnte.11 Gegen Sartres Freiheitsphilosophie wurde früh Kritik laut, die aus der Harmlosigkeit eines solchen Beispiels zu einem heikleren Gebiet übergeht. Dass für Juden im Konzentrationslager, wie überhaupt für jedes Folteropfer, Sartres Freiheitsbegriff Hohn spricht, haben ihm Marcuse und Adorno vorgeworfen. Für Sartre ist jedoch die Einschränkung der Freiheit auf ein Minimum, die nahezu vollständige Unterdrückung, kein Argument gegen, sondern gerade für die Freiheit. In diesen Extremsituationen tritt sie umso deutlicher hervor. Gefängnisaufenthalte sind schmerzlich, weil die Zukunft, in die sich der Inhaftierte entwirft, trostlos erscheint – und nicht deshalb, weil die Freiheit der Gefangenen ausgeschaltet würde. „Die Funktion von Sartres Freiheitsbegriff“, so Axel Honneth, besteht gewissermaßen darin, eine menschliche Existenzmöglichkeit gedanklich bis zu dem Punkt zu radikalisieren, an dem sie zum permanenten Stachel in unserem eingespielten Selbstverständnis wird. […] Wie von Hobbes oder von Nietzsche wird auch von Sartre eine verstörende Wirkung auch dann noch ausgehen, wenn nur noch Historiker von den sozialen und existentiellen Kämpfen wissen, in deren Wirren ihre Überlegungen einst entstanden sind.12

10 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 587. Vgl. auch Wildenburg: „Sartre: ,Bewusstsein und Wille sind eins‘“, S. 281-294. 11 Sartre wählt ein ähnliches Beispiel für die Erfahrung des „sog. ,physischen Schmerzes“, um „die Strukturen des präreflexiven Leibbewußtseins“ begrifflich herauszuarbeiten: „Mir tun die Augen weh, aber ich muß noch heute abend ein philosophisches Werk zuende lesen.“ Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 431ff. Was dem Individuum widerfährt, „muß es verantworten, als wäre es ein Akt seines eigenen Willens“, schreibt Peter Bürger: Sartre. Eine Philosophie des Als-ob, S. 37. 12 Honneth: „Stachel im Fleisch der Philosophie“.

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

Wolf Singer prognostiziert, eine kognitionswissenschaftliche Theorie des Ich werde, wenn die Hirnforschung sie eines vielleicht nicht fernen Tages vorlege, so abstrakt ausfallen, dass sie der Intuition widerspreche13; sie wird aber auch hoffentlich abstrakter (und ernstzunehmender) ausfallen als die Behauptung, das Ich sei eine Illusion, ein Gaukelspiel des Gehirns. Dass wir uns stets vorweg sind und unsere menschliche Realität keinerlei essentiellen Status beanspruchen kann, hat Sartre schon vor mehr als einem halben Jahrhundert formuliert. Die Hirnforschung, die sich zur Leitwissenschaft aufschwingt, ist wieder hinter den Stand, den die Philosophie erreicht hat, zurückgefallen. Der Philosoph Herbert Schnädelbach wirft Singer, Roth und Wolfgang Prinz „Pseudoaufklärung im Gewand der Wissenschaft“ vor. Ihre Position zur Willensfreiheit ist für ihn die „neu aufgewärmte immergleiche Geschichte vom Determinismus, diesmal in neurophilosophischer Variante“. Die Person mit dem Gehirn zu verwechseln, hält er für unsinnig. Das Gehirn ist hardware. Ich kann sie sezieren, wie ich will, das Programm ,Person‘ werde ich darin nicht finden. Die Person sei eine „Disposition“, „das Gehirn ist keine Disposition, sondern das Medium, in dem diese Disposition realisiert ist.“14 Es genügt eben nicht, wie es derzeit geschieht, die Vermittlung mit Freuds Tiefenpsychologie zu forcieren. Lange vor Roth und Singer gibt es schon in Sartres Anthropologie keine zentrale Schaltstelle im Gehirn mehr, die – wie früher Descartes’ Zirbeldrüse – als letzte Instanz, als Heimstatt des Ich identifizierbar wäre. „Die Existenz geht der Essenz voraus“, lautet Sartres berühmter Satz.15 Wenn der Mensch das nichtfestgelegte Wesen genannt werden darf, folgt daraus, dass er seine Entscheidungen auch nicht mit dem ihm unbewussten Neuronengewitter rechtfertigen kann.

13 Singer: „Auf der Suche nach dem Kern des Ichs“. 14 Schnädelbach: „Drei Gehirne und die Willensfreiheit“. Vgl. auch Uwe van der Heidens und Helmut Schneiders Einleitung in: diess. (Hrsg.): Hat der Mensch einen freien Willen?, S. 11-23: „dass die menschliche Freiheit sich nicht als Gegensatz zur Notwendigkeit und Kausalität verstehen muss, sondern dass sich Freiheit in und mit ihrer Bedingtheit vollzieht“, sei in der „gegenwärtigen gehirn- und neurobiologischen Debatte […] wohl noch nicht ganz verstanden worden“ (S. 23). 15 Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, S. 9.

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Sartre und die nachträgliche Kausalität „Warum sagen wir: die Zeit vergeht und nicht ebenso betont: sie entsteht?“16

Was bedeutet ein Menschenleben für die Nachlebenden? In der Rückschau, in der Retrospektive, können wir die Existenz nicht mehr erfassen: Die Existenz geht der Essenz voraus. Nach dem Tod biete das Leben den „Anschein eines Ablaufs“, schreibt Sartre und wendet sich direkt an die Leser: Sie können es nicht vermeiden, sein [eines Menschen] Verhalten im Lichte von Ereignissen zu beurteilen, die er nicht voraussah, und von Informationen, die er nicht besaß […]. Hier liegt die Spiegelung: die Zukunft ist wirklicher als die Gegenwart. Das ist nicht verwunderlich; wenn nämlich ein Leben zu Ende ist, hält man das Ende für die Wahrheit des Beginns.17 Sartre stimmt dem frühen Heidegger zu: Wir sind unsere Möglichkeiten. Im Rahmen unserer Möglichkeiten, die von der Faktizität begrenzt werden, sind wir frei. Wir können dieser Freiheit aber auch nicht entfliehen. Da es keine Essenz des Menschen gibt, wählen wir mit jeder Entscheidung, jeder Wahl, für alle anderen Menschen. Anthropologische Konstanten, wonach Menschen von Natur aus gut oder böse, aus krummem oder geradem Holze geschnitzt, kriegerisch oder friedenssüchtig, egoistisch oder altruistisch sind, hält Sartre für unsinnig, genauer gesagt: damit werde das Historisch-Empirische zum Anthropologisch-Transzendentalen erklärt. Sartres negative Anthropologie lautet: So lange ein Mensch lebt, entwirft er sich auf eine Zukunft. Solange er am Leben ist, kann man nicht sagen, was oder wer er ist. Er kann seine Vergangenheit – die Faktizität – umdeuten, ihr einen neuen Sinn verleihen. Insofern ist der Existentialismus tatsächlich ein Humanismus, weil er niemanden als hoffnungslosen Fall aufgibt, so schwer es ihm auch fallen möge, den Gewohnheitspanzer aufzusprengen. Auch das, was man gemeinhin als Charakter bezeichnet, nach Sartre das projet fondamental, muss man immer wieder erneuern. Wer notorisch pünktlich ist, muss auch bei der nächsten Verabredung wieder beschließen, rechtzeitig auf die Uhr zu sehen, um den andern nicht warten zu lassen. Nur so bestätigt er seinen guten Ruf. Und was für den Einzelnen gilt, gilt ebenso für die Gattung. So lange die Menschheit nicht ausstirbt, kann man niemals sagen, was den Menschen als Gattungswesen letztlich ausmacht – und

16 Heidegger: Sein und Zeit, S. 561. 17 Sartre: Die Wörter, S. 114.

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Michael Lommel | Elemente zur Einleitung

wenn man es könnte, gäbe es keinen Beobachter mehr, der ein Fazit zu ziehen in der Lage wäre. Die Offenheit der Existenz, die Handlungsalternativen und Entscheidungsoptionen, die Marcel Proust „le futur dans le passé“ nennt, kann man im Nachhinein, aus der Rückschau, nicht mehr erfassen. Der Lebende, der Existierende, hatte selbst die ungewisse Zukunft vor Augen. Er wusste nicht, was geschehen würde. Wir aber wissen es – und können davon nicht absehen, nicht verhindern, dass wir die jeweilige Vergangenheit im Lichte der Zukunft betrachten, die für uns keine wirkliche Zukunft ist, sondern nur jüngere Vergangenheit. Wir wissen, wie das Spiel ausgegangen ist, wie es ausgehen wird. Anders gesagt: Der historische Sinn, der überall nur „ein großes Werden“ (Nietzsche) erkennt, hat für den Zufall keine Fühler. Das hat Dieter Kühn im Gedankenexperiment seiner Erzählung N vorgeführt.18 Der Buchstabe N steht für Napoleon Bonaparte. Zugleich bezeichnet die Initiale den Möglichkeitssinn, der das, was war, genauso ernst nimmt wie das, was nicht war. Der kleine Napoleon ist für die Nachlebenden kein x-beliebiger Junge. Für sie trägt er bereits die unsichtbare Kaiserkrone auf dem Kopf. Diese Form der nachträglichen Kausalität löst Kühn auf. Les jeux sont faits ist ein ironischer Titel. Das Spiel ist niemals aus, wie Sartre im Kommentar zu seinem Filmdrehbuch schreibt. Wir legen eine Kausalität in dieses Leben hinein, die es so nie gegeben hat. Wir unterstellen Zielgerichtetheit – von der Geburt bis zum Tod, von der Wiege bis zur Bahre. Das meint Sartre mit der Formulierung „man hält das Ende für die Wahrheit des Beginns.“ Zur Illustration seiner These nennt er einen Protagonisten, der wenige Jahre vor Napoleons großem Auftritt im Scheinwerferlicht der Geschichte stand: Maximilien Robespierres.19 Wir können uns nicht von dem Wissen lösen, dass Robespierre enthauptet wurde. Georg Büchner war in seinem Drama Dantons Tod diesem Gedanken sehr nahe: Über aller scheinbaren Macht Robespierres, den ,abtrünnigen‘ Konterrevolutionär Danton mit einem Fingerzeig dem Henker auszuliefern, schwebt bereits das Damoklesschwert, genauer gesagt die Klinge der Guillotine. Robespierre wird Danton ins Grab nachfolgen, wie uns jede Chronik der Französischen Revolution belehrt. Für die Historiker trägt Robespierre schon den Kopf unter dem Arm, bevor irgendjemand seiner Zeitgenossen weiß, dass er am 28.7.1794 zum Opfer der Guillotine werden sollte.

18 Kühn: N. 19 Sartre: Die Wörter, S. 113f.

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Le style, c’est l’homme même Sartres philosophisches Hauptwerk L’être et le néant ist ohne den Einfluss der „drei H“, der deutschen Philosophen Hegel, Husserl und Heidegger (letzterem verdankt er sicherlich am meisten), kaum denkbar. Später, nach der Wende zum Politischen, kommt Marx hinzu. In einer Hinsicht verbindet ihn aber vielleicht noch mehr mit zwei deutschen Philosophen, die er auffallend selten erwähnt: Schopenhauer und Nietzsche. Mit beiden teilt er die Fähigkeit eines eleganten Stils, die Souveränität des sprachlichen Ausdrucks (abgesehen davon, dass auch Sartre vehementer Atheist und Antimetaphysiker war). Nietzsches Verführungsstil, seine den Leser „überrumpelnde“ Schreibweise, wurde akribisch von Heinz Schlaffer untersucht – und kritisiert. Nietzsche, so Schlaffer, übernehme Elemente der Lyrik in die Prosa und Formen des Sprechens in die Schrift, um den Leser „zum Einverständnis zu verführen, noch ehe er alles verstanden hat.“20 Nietzsche schreibt nicht immer so, wie Schlaffer es darstellt, aber wenn er es tut, unterscheidet sich Sartres Stil davon deutlich. Als seine stilistischen Vorbilder nannte Sartre den Historiker Jules Michelet und den Romancier Stendhal, bei denen, anders als bei Nietzsche, der Stil fast ganz hinter dem Gesagten zurücktrete – freilich erfordert dies geradewegs eine besondere stilistische Fertigkeit. Und noch etwas hat Sartre mit Nietzsche gemeinsam: Die nahezu zwanghafte Erforschung der menschlichen Lebenslügen, der raffinierten Tricks der mauvaise foi (die man mit dem Wort „Selbstkompromittierung“ ins Deutsche übersetzen können), jener listenreichen Fiktionen, die wir selbst erfinden, um an sie glauben zu dürfen. Mit einem wichtigen Unterschied: Nietzsche hielt den Schein und die Lüge für lebensdienlich, ja lebensnotwendig, Sartre wollte sie radikal aus seinem Leben tilgen. Es lohnt sich, noch einmal nachzulesen, wie er seine Kameraden beschreibt, mit denen er die Unterkünfte im „komischen Krieg“, im drôle de guerre nach Hitlers Überfall auf Frankreich, teilen musste. Da zappeln die Menschen mit ihren Schwächen und ihrem Selbstbetrug wie Fische im Netz des unerbittlichen Beobachters. Genauso hat er diesen schonungslosen, kalten Blick auf sich selbst gerichtet. Immer wieder versucht er, zu noch tieferen, versteckten Gründen und Motivationen seiner Handlungen vorzudringen, obwohl er nur zu gut wusste, dass es die Letztbegründung, wie er immer gelehrt hat, nicht gibt, nicht geben kann. Einen Menschen vollkommen transparent zu machen, das war das im Unendlichen liegende Ziel nicht nur der vielen Seiten über Genet und Flaubert. Sartre, so scheint es, hat mehrere Leben auf einmal gelebt. Man muss alles wollen, hat er einmal gesagt. Man kann das für übertrieben oder anmaßend halten, aber kaum bestreiten, dass er zumindest einen Beweis erbracht hat: Jean-Paul Sartre lui-même. 20 Schlaffer: Das entfesselte Wort, S. 58.

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Klaus Kreimeier

Poulou geht ins Kino Wenn viele Menschen beisammen sind, muß man sie durch Riten von einander trennen, sonst massakrieren sie einander. Das Kino bewies das Gegenteil. Dieses überaus gemischte Publikum schien weniger durch eine Festlichkeit vereinigt zu sein als durch eine Katastrophe, die Etikette war tot und gab endlich den Blick frei auf das wirkliche Band zwischen den Menschen, auf die Anhänglichkeit. (Jean-Paul Sartre, Die Wörter )

Welch eine schöne Idee! Wie fantastisch die Vorstellung, dass im Kino die Menschheit zu ihrer Menschlichkeit erwachen könnte! Les mots, Jean Paul Sartres Erinnerungen an seine Kindheit, erscheinen 1964 bei Gallimard (und nur ein Jahr später, in der wunderbaren Übersetzung von Hans Mayer, auf Deutsch bei Rowohlt). 1964 ist der Algerienkrieg mit seinen Massakern, mit den ritualisierten Mordorgien in den Folterkellern der französischen Kolonialmacht seit ein paar Jahren vorbei; die Menschheit, die sich nun in den Ritualen des Kalten Krieges übt, gedenkt des August 1914, als der Erste Weltkrieg begann. 1914 war Sartre noch der kleine „Poulou“ und gerade neun Jahre alt. Und als er zum ersten Mal ins Kino ging, war er, wenn man seinen Erinnerungen Glauben schenken darf, knapp sieben. Das war also 1912. Schlägt man bei Georges Sadoul nach, erfährt man, dass in diesem Jahr in den großen Pariser Kinos Filme wie Fantômas und Maciste liefen – und siehe da, exakt diese Titel nennt auch Sartre in Les mots. Er hat sie in den prächtigen Boulevard-Kinos gesehen, die er nicht besonders mochte: „die Vergoldungen störten mein Vergnügen“. (Vielleicht hat ja auch Sartre bei Sadoul nachgeschlagen, aber warum sollten wir nicht schlicht und einfach seinem Gedächtnis vertrauen? In diesem Punkt jedenfalls sind seine Erinnerungen für den Filmhistoriker ergiebiger als beispielsweise die einschlägigen Texte Kafkas oder Musils, die den Wissenschaftler nötigen, nach Prag oder nach Wien zu reisen und in den Archiven der Zeitungshäuser nach uralten Kinoannoncen zu fahnden, um herauszufinden, welche Filme die Dichter mit ihren ungenauen Erinnerungen nun tatsächlich gesehen haben.) In den großen Kinos mit den Vergoldungen kann der kleine Sartre das „wirkliche Band zwischen den Menschen“, die „Anhänglichkeit“ nicht verspüren: Hier ist das Ritual, die „Etikette“ im Weg und lässt wärmere Empfin-

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dungen gar nicht erst aufkommen. Die Kinopaläste imitieren die statuarische Vornehmheit der gebildeten Bourgeoisie, die den Großvater noch ans Theater bindet, an die Comédie Française, an Corneille und Racine, und die ihn auf die Ankündigung hin, sein Enkel gehe ins Kino, die Stirn runzeln lässt. Die „Anhänglichkeit“, die Menschlichkeit, das Zusammenrücken angesichts der Katastrophe erfährt Poulou nicht im „Cinérama“ oder im „Hippodrome“, sondern im kleinen Schlauchkino an der Ecke, wo man „tappend“ der Platzanweiserin folgt, sich „wie ein Illegaler“ fühlt, wo das Klavier „wiehert“ und der „durchdringende Geruch eines Desinfektionsmittels“ einem die Kehle zusammenpresst. Von welcher menschenvereinenden Katastrophe ist da die Rede? In Filmen wie Fantômas und Maciste wimmelt es von (Körper-)Katastrophen, die den Siebenjährigen überwältigen und die er zu Hause, während die Mutter am Klavier sitzt und Chopin spielt, mit seinem eigenen Körper nach-inszeniert. Das Jahr 1912 ist, mit dem Untergang der „Titanic“, indessen auch ein reales Katastrophenjahr, und die Angst vor der nahenden Katastrophe eines Weltkrieges ist vielen Menschen in Europa gemeinsam, die sich in den kleinen Ladenkinos von Paris, London oder Berlin zusammendrängen und sich wenig später auf den Schlachtfeldern als Feinde gegenüber stehen werden. So kam es, dass sich im Kino die Katastrophensucht eines Kindes und die Katastrophenangst der Erwachsenen begegneten. Poulou konnte dies gewiss nicht ahnen. Doch Erinnerungen sind nicht nur das Rohmaterial, das in den Schichten des Unterbewusstseins abgelagert ist und den Prozess des Erinnerns erst auslöst: In Sartres Fall haben mehr als fünfzig Jahre daran gearbeitet, dem Stoff Gestalt zu geben, ihn umzumodeln, umzudichten, ihn in geschliffener und polierter Form Literatur werden zu lassen. Kino, anno 1912: „Der Geruch und die Früchte dieser bewohnten Nacht verschmolzen in mir: ich aß die Notlampen, ihr säuerlicher Geschmack erfüllte mich.“ Kino ist mehr als Film, und die Erinnerung des fast sechzigjährigen Sartre – sein Bemühen, in Farben und Gerüchen heraufzubeschwören, was das Kino für den siebenjährigen Poulou gewesen sein mag – ist mehr als eine Gedächtnisleistung: eher eine raunende Beschwörung des Imperfekts, die sich, sozusagen unvermeidlicherweise, auf die Pfade Marcel Prousts begibt. Eine (Wieder-)Aneignung des Verlorenen als gewalttätiger Akt, der alle Sinne mobilisiert und mit einiger Konsequenz in orale Willkür mündet: Um sich der Kinoerfahrung zu vergewissern, muss man das Kino (noch einmal) in sich einsaugen, mehr noch: man muss es fressen. Schlich sich der Knirps allein ins Kino, drückte er sich unbemerkt an der Kasse vorbei, um ins Paradies der Katastrophen zu gelangen? Der Großvater mütterlicherseits, der Poulous Bildungs- und Menschwerdungsprozess überwachte, hätte dies zu verhindern gewusst.

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Das Kino war eine Vergnügungsstätte für Frauen und Kinder; wir liebten es sehr, meine Mutter und ich, aber wir dachten kaum darüber nach und sprachen niemals davon: spricht man über Brot, wenn es daran nicht fehlt? Als wir uns über seine Existenz klargeworden waren, bildete es bereits seit geraumer Zeit unser wichtigstes Bedürfnis. Eine Vergnügungsstätte: auch für bürgerliche Frauen – und für bürgerliche Kinder mit erwachsener Begleitperson. Im Umkehrschluss heißt dies: Aus maskulin-bürgerlicher Sicht (die vermutlich auch die des Großvaters war) galt das Kino, oder vielmehr der „Projektionssaal“, als unmännlich und dem Manne nicht bekömmlich. Darüber, was die Frauen ins Kino trieb, wagte man nicht nachzudenken oder vertrieb die gefährlichen Gedanken alsbald. Es muss (dachte man doch einmal darüber nach) gleichfalls etwas Katastrophisches gewesen sein: etwas, das nur mit rätselhaften Vorgängen im Leib des Weibes zu erklären war – und mit der weiblichen, genau genommen: kindlichen und in die bürgerliche Welt nicht ganz passenden Eigenschaft, sich die Welt mit allen Sinnen, allen Fasern der sinnlichen Existenz anzueignen. Außerdem: In den Projektionssälen war es dunkel – keine Sache für den klar strukturierten, im Hellen tätigen männlichen Verstand. Schließlich: Im Dunkel nistet (und aus ihm droht): die Anarchie. Was in männlicher Betrachtung als „weibliche List“ gilt, führte insgeheim Regie, wenn es die Option für den Kinobesuch gegenüber anderen Vergnügungen zu erwägen und schließlich durchzusetzen galt: An Regentagen fragte mich Anne-Marie [Sartres Mutter], was ich tun wolle, und wir schwankten lange zwischen dem Zirkus, dem ChâteletTheater, dem Elektrischen Haus und dem Wachsfigurenkabinett; im letzten Augenblick entschieden wir uns mit berechneter Beiläufigkeit dafür, einen Projektionssaal aufzusuchen. Die Berechnung, die der beiläufigen Entscheidung voraus geht, hat den Medienumbruch von den vor-kinematographischen Attraktionen zu den laufenden Bildern im Projektionssaal bereits vollzogen: gewissermaßen als fait accomplit, als Selbstverständlichkeit, die nicht mehr hinterfragt oder reflektiert, am allerwenigsten bedauert werden muss. Pro forma wird den alten Medien noch eine Chance gegeben, der Konvention oder der inneren Stimme zuliebe, soweit diese noch immer mit der des Großvaters spricht. Der Zirkus, das Châtelet-Theater, das Wachsfigurenkabinett sind Volksvergnügungen, die immerhin die Tradition auf ihrer Seite und damit einen bürgerlichen Qualitätsstempel haben; für das Kino gilt dies noch nicht. Zur Attraktion der technischen Neuheit gesellt sich, geheimnisumwittert, die der gesellschaftlichen

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Ächtung, die Anziehungskraft des Verbotenen oder eigentlich Nicht-Zugelassenen, die das Kino mit dem Sexus und dem Sprechen über Sexuelles teilt. Poulou nimmt das Kino zunächst mit seinem Geruchs- und Geschmackssinn, also mit seinen eher animalischen, in der hierarchischen Gliederung der Sinne untergeordneten, gleichsam „prä-optischen“ Wahrnehmungswerkzeugen auf. Gibt es nichts zu sehen? „[…] endlich schaute ich auf die Leinwand, entdeckte eine fluoreszierende Kreide, zwinkernde Landschaften, die von Unwettern gestreift wurden; es regnete immer […].“ In den frühen Kinos regnete es immer. Jahrzehnte später werden die Nutzer der frühen Fernsehapparate feststellen, dass es auf den schwarzweißen Bildschirmen stets schneit. Den Schüler, der ein neues Alphabet zu lernen hat, begeistert zunächst dessen fremde Materialität und technisch unvollkommene Erscheinungsform: „Ich liebte diesen Regen und diese unablässige Unruhe auf der Wand.“ Es ist die Materialität der durch Gebrauch verschlissenen Emulsionsschicht, es sind die „Spratzer“, die Striemen und Kerben, die der ebenso geschäftstüchtige wie gewissenlose Raubbau an den Kopien den Bildern hinzugefügt hat. Film: das ist die tobende Unruhe auf einer weißen Fläche, ein Viereck in unablässiger Bewegung – reine Technizität. „Ich erlebte die Delirien einer Wand.“ Im Leben des Erwachsenen wird diese Obsession für die Turbulenzen der Abstraktion wiederkehren: Später haben mich die Verschiebungen und Rotationen von Dreiecken an die gleitenden Figuren auf der Leinwand erinnert; ich liebte das Kino bis hinein in die Planimetrie. Der kleine Poulou nutzt in seiner medientheoretischen Einfalt oder Genialität das Kino gegen seinen Sinn. Genauer: Er gibt der nicht zuletzt aus Propagandagründen dem Kino zugeschriebenen Omnipotenz, alles sichtbar zu machen, selbst das, was das menschliche Auge in der Natur nicht sehen kann oder gemeinhin übersieht, eine neue, seine eigene Logik. „Ich entzückte mich am Anblick des Unsichtbaren“: also wohl jener Segmente der sichtbaren Totalität, die aus dem Bildkader heraus fallen, von der Kamera ausgegrenzt worden sind und in einem Jenseits des Bildes ihr Wesen treiben, von unserem Auge gleichwohl errechnet werden können. „Aus Schwarz und Weiß machte ich bedeutsame Farben“: vermutlich solche Farben, die mit der Technik der Viragierung, die das Schwarzweiß nach der ästhetischen Maßgabe der Produzenten mit Bedeutung aufladen sollte, eher im Konflikt lagen. „Überdies liebte ich die unheilbare Stummheit meiner Helden“: In ihrem stummen Agieren, so muss es dem kindlichen Betrachter scheinen, sind sie nicht ansprechbar, sondern gehen unverwandt ihren Weg in den Untergang oder zum Sieg. In ihrer Unbeirrbarkeit ist ihre Unheilbarkeit begründet, das macht sie liebens- und nachahmens-

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wert: Wenn Poulou zu Hause die Filmszenen nachspielt und durch das Zimmer poltert, kann ihn die Mutter weder mit Mahnungen noch mit Schmeicheleien erreichen – „ich bin ja stumm.“ Aber die Stummfilmhelden „waren nicht stumm, denn sie konnten sich verständlich machen. Wir verständigten uns durch die Musik; es war das Geräusch ihres Innenlebens.“ Eines Innenlebens, das wie ein Uhrwerk im Rhythmus der sichtbaren Aktionen funktionierte und, wenn der Pianist seine Kunst verstand, im Rhythmus des ganzen Dramas: Welche Freude, wenn der letzte Messerstich mit dem Schlußakkord zusammenfiel! Ich war überglücklich, ich hatte die Welt gefunden, worin ich leben wollte, ich berührte das Absolute. Doch mit dem Schlussakkord fällt auch das Ende dieser Welt zusammen. Die jähe Helligkeit im Projektionssaal entblößt die geheime, unabwendbare Tragik jedes Kinobesuchs: „Draußen auf der Straße empfand ich mich dann wieder als überzählig.“ Poulou: der Kinogeher, der Patient mit dem ewigen Hunger und dem unglücklichen Bewusstsein. Den Einbruch des Lichtes nach dem Schlussakkord nennt Sartre auch eine „jähe Entgiftung“, als werde nach der Begegnung mit dem Absoluten aus dem Körper etwas heraus gezogen, was seine Gesundheit bedroht hat, doch von nun an lebensnotwendig geworden ist. Poulou hat die Sucht kennen gelernt – und die Hölle des unvermittelten Entzuges. Beide gehören noch einer älteren Kultur an, der Welt der Bücher und der Leiden, die das Lesen verschaffen kann. Die Kinoproduzenten aber werden in der Tonfilmzeit die „jähe Entgiftung“ durch den Segen des langen Nachspanns ersetzen, der den Zuschauer aus dem Tumult des Absoluten, bei Dämmerlicht und weiterplätschernder Musik, sanft in die Wirklichkeit entlässt.1

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Alle Zitate aus: Sartre, Jean-Paul: Die Wörter. Aus dem Französischen mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer, Reinbek b.H. 1965, S. 91- 97.

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Das Spiel ist (nicht) aus. Zu Sartres Filmdrehbüchern Les jeux sont faits und Résistance Sartres Filmdrehbücher konstituieren seit jeher das am wenigsten zugängliche und deshalb auch am schlechtesten erforschte Teilgebiet seines so enorm vielfältigen Schaffens. Daran hat sich, ungeachtet einiger wichtiger zwischenzeitlich zugänglich gemachter Primärquellen respektive vereinzelter Studien, im Grunde wenig geändert. Erst recht seine 1943/44, also in den ,dunklen Jahren‘ der deutschen Besatzung geschriebenen Filmdrehbücher gaben (und geben nach wie vor) der Forschung offenbar unlösbare Rätsel auf.1 Mangels zuverlässiger Informationen sowie nach wie vor unzugänglicher Quellen waren die Interpreten von Sartres Szenarii bislang auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Als mittlerweile einigermaßen gesichert können indes die folgenden Daten und Fakten gelten: Vom 1. November 1943 bis zum 31. Oktober 1944 stand Sartre in diversen Funktionen in Diensten der Filmgesellschaft Pathé. Der Vertrag wurde in der Folgezeit zwei Mal um je ein Jahr verlängert – so dass Sartre immerhin insgesamt drei Jahre (1943-1946) für Pathé-Cinéma gearbeitet hat, länger also als bislang angenommen. Dort war er mit vielfältigen Aufgaben betreut: Als Mitglied des „comité de lecture et de recherche“ – und Kollege von Claude Accursi, Alexandre Arnoux, André Berthomieu, Jean Cocteau, Nino Frank, Jean Giraudoux, Pierre-Aimé Touchard, Paul Vandenberghe u.a. – oblag ihm vor allem die Lektüre und gegebenenfalls auch die Überarbeitung (sozusagen als „rewriter“) der bei Pathé seinerzeit in bemerkenswert hoher Zahl eingehenden Drehbücher; als Mitarbeiter des „service manuscrits“ erwartete Raymond Borderie, damals wichtigster Filmproduzent bei Pathé, von Sartre die Abfassung von (laut Alain und

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Zum übergeordneten Komplex „Sartre und der Film/das Kino“ sowie zum Teilkomplex „Sartres Filmdrehbücher“ sind die folgenden Titel zu konsultieren: Frank: Petit cinéma sentimental; Rybalka: Sartre et le cinéma; Contat/Rybalka: Les écrits de Sartre; Avancées Cinématographiques: „Sartre et le cinéma“; Clerc: Ecrivains et cinéma, chapitre II: „Les scénarios de Sartre“, S. 213-267, S. 268-272. Cohen-Solal: Sartre (1905-1980), (Aussagen von Nino Frank, S. 280-282). Virmaux: Sartre scénariste; Teroni/Vannini: Sartre e Beauvoir al cinema, (Atti del Convegno „Sartre e Beauvoir al cinema“, Firenze, 8-9 maggio 1987). Virmaux: Sartre: Une vocation manquée de cinéaste; Virmaux: Sartre „collaborateur“?.

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Odette Virmaux) drei oder (laut Michel Contat) sechs eigenen Drehbüchern pro Jahr, dies über eine Laufzeit von zwei Jahren.2 Sartre schrieb jedenfalls für Pathé-Cinéma von 1943 bis 1946 wohl insgesamt acht Filmdrehbücher, deren Titel als gesichert angesehen werden können: Typhus, La grande peur (auch unter dem Titel La Fin du monde bekannt; im übrigen das einzige Drehbuch mit ungefährer Datumsangabe: „janvier 1944“), L’apprenti sorcier, Histoire de nègres (Vorlage für das später verfasste und 1952 von Marcello Pagliero und Charles Brabant verfilmte Theaterstück La putain respectueuse), Les faux-nez, Les jeux sont faits, Résistance sowie L’engrenage. Es wäre aufschlussreich zu wissen, in welcher Reihenfolge diese Texte verfasst wurden und welche Drehbücher in der uns im folgenden besonders interessierenden ersten Produktionsphase (Winter 1943/44) entstanden sind. Nicht ohne Bedeutung erscheint dabei der Umstand, dass einige Drehbücher seit langem zugänglich sind – wie Les faux-nez und Les jeux sont faits (1947) oder L’engrenage (1948) – während die (von Arlette Elkaïm-Sartre autorisierte) Veröffentlichung von Résistance erst 2000 ermöglicht wurde; Sartres Erbin und Nachlassverwalterin will demnächst auch das Typhus-Drehbuch publizieren. Nach wie vor sind allerdings La grande peur und L’apprenti sorcier nicht zugänglich; sie gelten als verschollen oder zerstört, sind jedenfalls trotz vielfältiger Bemühungen von französischen und ausländischen „sartriens“ bis heute nicht auffindbar. Sicher ist hingegen, dass die „Société Nouvelle Pathé Cinéma“ im Juni 1948 fünf der 1943/44 verfaßten Sartre-Drehbücher bei der „Association des Auteurs de Films“ (später in die „Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques“ integriert) hinterlegt hat. Und lediglich zwei dieser acht Drehbücher wurden tatsächlich verfilmt: neben Les jeux sont faits (Jean Delannoy, 1947) nur noch Typhus (Yves Allégret, 1953). Von besonders erklärungsbedürftiger Bedeutung erscheint uns nun allerdings die Tatsache, dass jene beiden Sartre-Drehbücher, die sich mit der brennenden zeitgeschichtlichen Problematik – das prekäre Verhältnis von Kollaboration und Résistance vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung – auseinandersetzen, von Pathé während der Besatzungszeit bezeichnenderweise nicht verfilmt wurden: Les jeux sont faits und Résistance. In diesem Zusammenhang stellen sich zunächst zwei Aufgaben: zum einen zu erforschen, in welcher Reihenfolge Sartre just diese beiden, thematisch so eng miteinander verflochtenen Texte verfasst hat; zum anderen, den Gründen nachzugehen, welche die Filmgesellschaft dazu bewogen haben, diese beiden Texte der filmischen Umsetzung zu entziehen – obwohl die zeitgeschichtlichen Umstände ein solch kulturpolitisches und speziell literarisch-cineastisches Engagement doch 2

Virmaux: Sartre scénariste, S. 52 sowie Contat: „A la recherche des manuscrits perdus“, S. 24.

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eigentlich als ebenso sinnvoll wie in gewisser Hinsicht sogar dringend erforderlich erscheinen ließen. Unsere erste Hypothese lautet: Angesichts der Allgegenwart der von der deutschen Besatzungsmacht ausgeübten Zensur erschien den Verantwortlichen von Pathé-Cinéma die filmische Umsetzung der beiden Sartre-Drehbücher nicht nur politisch riskant, sondern gar lebensbedrohend. Diese Ablehnung hatte zur Folge, dass Les jeux sont faits erst nach der Befreiung publiziert und dann 1947 von einem Regisseur verfilmt wurde, der nicht nur während Sartres Pathé-Phase bei derselben Filmgesellschaft tätig war, sondern Raymond Borderie zum Besuch einer Aufführung von Sartres Theaterstück Les Mouches animierte – nicht ohne Folgen. Auf seine Empfehlung hin wurde Sartre schließlich Mitarbeiter von Pathé: Jean Delannoy. Das Résistance-Drehbuch fristete sogar bis zum Jahre 2000 eine klandestine Existenz als verstaubtes, womöglich von den Rechte-Inhabern auch bewusst zurückgehaltenes Archiv-Dokument Unsere zweite Hypothese lautet: Angesichts der unübersehbaren Tatsache, dass Sartres Résistance-Drehbuch in der Darstellung der prekären Kollaboration/Résistance-Problematik wesentlich konkreter und detaillierter ausfällt als Les jeux sont faits als mythologisch-existentialphilosophisch überformte Auseinandersetzung mit (nicht zufällig) derselben Kollaboration/Résistance-Problematik, ergeben sich hinsichtlich der Reihenfolge der Abfassung der Texte a priori zwei Interpretationsvarianten: Sollte das zuerst genannte Drehbuch tatsächlich vor dem zweiten entstanden sein, ließe sich Les jeux sont faits als vergleichsweise ,moderate‘, die – von unmittelbarer Erfahrung und/oder präzisem Detailwissen getränkten – Episoden des späteren Résistance-Textes in deutlich mythologisch-philosophisch-parabelhafte Bahnen bannende Ausarbeitung des Stoffes deuten; im umgekehrten Fall ergäbe sich die methodische Perspektive, das Résistance-Drehbuch als zeitgeschichtliche Konkretisierung der Das Spiel ist aus-Parabel zu deuten – und damit der Absicht ihres Schöpfers Rechnung tragend, dem Zuschauer, sollte die filmische Umsetzung realisiert werden können, die realen, mitunter grauenhaften Zustände und Vorkommnisse des französischen Alltags in Zeiten von Kollaboration und Résistance möglichst drastisch vor Augen zu führen. Schließlich unsere dritte Hypothese: Unter Berücksichtigung der allgemeinen zeitgeschichtlichen Erfahrungen sowie speziell jener Umstände, unter denen Sartre seine Arbeit bei Pathé-Cinéma zu verrichten hatte, erscheint uns die privilegierte Interpretation der beiden Drehbücher einerseits unter dem Aspekt der allgemeinen zeitgeschichtlich-politischen Konditioniertheiten, andererseits unter dem Gesichtspunkt der politisch-philosophisch-ideologischen Involviertheit ihres Verfassers sowohl in die konkrete Filmpolitik bei Pathé als auch

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in die zeitgenössischen Debatten ebenso unverzichtbar wie – als primärer Deutungsansatz – (nach wie vor) ergiebig.

Les jeux sont faits Wir müssen wohl definitiv davon ausgehen, dass Les jeux sont faits vor Résistance verfasst wurde. Wenn Simone de Beauvoir in La force de l’âge bereits unter dem Datum vom 15. Juli 1943 notiert, Sartre sei von Pathé für das Schreiben von Filmdrehbüchern engagiert worden und Les jeux sont faits sei das erste aus dieser Produktion gewesen, das jedoch von den Experten des Hauses Pathé leider nicht die erforderliche Zustimmung erhalten habe,3 dann lässt sich aus solchen Äußerungen aus der engsten Umgebung unseres Autors schließen, dass Sartre schon vor Vertragsbeginn (1.11.1943) mit der Abfassung des zur Diskussion stehenden Drehbuchs begonnen hatte (wahrscheinlich in der ersten Hälfte des Jahres 1943). Selbst wenn Typhus noch vor Les jeux sont verfasst sein sollte4, so muss Les jeux sont faits in jedem Fall als ein Text aus der frühen Phase von Sartres Filmdrehbuch-Produktion in Diensten von Pathé gelten. Stützen ließe sich eine solche These durch mehrere Indizien: zum einen durch die Nähe zu jenen Theaterstücken, die etwa um dieselbe Zeit verfasst und überdies von Anfang an sowohl für die Bühne als auch für das Kino konzipiert wurden: Les mouches (entstanden 1942); L’engrenage (entstanden 1943/1944, ursprünglich Les mains sales tituliert) und Huis clos (entstanden 1944); zum anderen aufgrund der von Volker Roloff aufgezeigten Möglichkeit, Sartres Filmdrehbuch a priori als ein Theaterstück zu interpretieren – nämlich als den Versuch „existentialistisches Mythentheater für den Film zu adaptieren.“5 Obwohl die Originalfassung von Les jeux sont faits6 seit langem zugänglich ist, erscheint uns eine ausführlichere Rekonstruktion des Plot, welche den Status des Treatment transzendiert, zumal im Hinblick auf den von uns intendierten Vergleich mit dem Résistance-Drehbuch, noch immer lohnend zu sein. Pierre Dumaine, Gründer und Anführer einer Untergrundbewegung, die einen Putsch gegen das herrschende System – gemeint sind die Frankreich besetzt haltenden Nazis – plant, wird von einem Verräter (Lucien Derjeu) auf der Straße erschossen. Zur gleichen Zeit stirbt Eve Charlier, die Frau des Polizeisekretärs André Charlier. Sie wird von ihrem Mann, der sie nur wegen ihres 3

De Beauvoir: La force de l’âge, S. 569.

4

Siehe Contat: „A la recherche des manuscripts perdus“.

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Roloff: „Zur Ambiguität des Mythos in Theaterstücken der Okkupationszeit“, S. 103.

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Sartre: Les jeux sont faits.

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Geldes geheiratet hat und jetzt ihre Schwester (Lucette) begehrt, vergiftet. Die beiden Ermordeten begegnen sich im Reich der Toten (Rue Laguénésie) wieder. Nachdem sie registriert sind, können sie gehen, wohin sie wollen. Mit den Verstorbenen aller Zeiten wandeln sie jetzt durch die Stadt, für die Lebenden nicht mehr wahrnehmbar. Unbemerkt können sie sich an Orten aufhalten, zu denen ihnen der Zutritt im Leben verwehrt war. Auf diese Weise erkennen sie Zusammenhänge, die für sie vorher nicht durchschaubar waren. Diese Möglichkeit hat fast alle Toten zu grenzenlosen Pessimisten gemacht, da ihnen erst im Reich der Toten bewusst wird, wie sinnlos und absurd ihr bisheriges Leben gewesen ist. Nur einer, Pierre Dumaine, behauptet von sich, dass sein Leben einen Sinn gehabt habe: Er hat jenen Aufstand vorbereitet, der am folgenden Tag auch ohne seine Mitarbeit von seinen Anhängern ausgeführt werden wird, um den Diktator zu stürzen. Von dessen Skrupellosigkeit und Lächerlichkeit können sich die Toten als unbemerkte Gäste im Palast des Diktators überzeugen. Ebendort erfährt Pierre aus einer Unterredung des Diktators mit dem Chef der Sicherheitspolizei, dass alle Aktivitäten und vor allem der geplante Putsch seit langem verraten sind und der Diktator in dem von Pierre vorbereiteten Aufstand eine willkommene Möglichkeit sieht, die gesamte Untergrundbewegung zu liquidieren. Inzwischen haben Eve und Pierre ihre Liebe zueinander entdeckt. Sie sind davon überzeugt, dass sie füreinander bestimmt waren und sich nur durch einen Irrtum des Schicksals im Leben nicht getroffen haben. Sie bekommen von der ,Verwaltung‘ des Totenreichs die Chance, noch einmal zu leben – wenn es ihnen gelingt, innerhalb von 24 Stunden volles Vertrauen zueinander zu gewinnen und sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften zu lieben. In ihr früheres Leben zurückgekehrt, müssen sie allerdings bald feststellen, wie schwer die gestellte Bedingung zu erfüllen ist. Beide sind zu sehr in ihr Vorleben und ihr jeweiliges Milieu verstrickt, als dass sie sich von solchen Konditionierungen und Zwängen lösen könnten. Der soziale Unterschied zwischen beiden – Pierre ist Arbeiter, Eve gehört den führenden gesellschaftlichen Kreisen an – ist das erste nur schwer zu überwindende Hindernis. Außerdem glaubt Eve, dass sie gegenüber ihrer jüngeren Schwester eine Pflicht zu erfüllen habe, indem sie Lucette vor dem falschen Spiel ihres egoistischen und materialistischen Mannes André warnen will. Pierre versucht, seine Mitstreiter in der Untergrundbewegung im letzten Augenblick von dem geplanten Aufstand abzubringen, da seine Durchführung ihren sicheren Untergang bedeuten würde. Er weiß, dass der Treuebruch an seinen Freunden in der Stunde der Not eine Belastung wäre, die auch seine Liebe zu Eve auf Dauer zerstören würde. Doch Pierre Dumaine entscheidet sich dafür, seinen Weg als Führer der Untergrundbewegung zuende zu gehen – dies in dem Bewusstsein, dass er durch diese Grundsatzentscheidung weder die Sache (Aufstand gegen die deutschen Besatzer) noch seine Mitstreiter (An-

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hänger der bewaffneten Résistance-Bewegung) und erst recht nicht die ihrem bürgerlichen Milieu verhaftet bleibende Eve retten kann. Zusammen mit Eve Charlier kehrt Pierre Dumaine nach Ablauf der Probezeit ins Reich der Toten zurück. Hier könnte das ,Filmdrama‘ beendet sein. Doch fügt Sartre (bezeichnenderweise) einen Epilog hinzu: Ein junges Paar, das ebenfalls die Chance bekommt, auf die Erde zurückzukehren, fragt die beiden, ob es wirklich möglich sei, ein neues Leben zu beginnen. Pierre: „Essayez.“ Eve: „Essayez tout de même.“ Auf diese Weise erhält der Inhalt des Drehbuchs eine Art generationenübergreifenden und damit auch einen grundsätzlich politisch-philosophisch-moralischen Vermächtnischarakter, vielleicht auch die Dimension einer ,Entschuldung‘ jener (durch Pierre und Eve repräsentierten) ,Elterngeneration‘, deren Verwicklung in die während der deutschen Besatzung alltäglich auftretenden Konflikte im Drehbuch thematisiert wird. An anderem Ort haben wir angedeutet, inwiefern Les jeux sont faits – zugleich Filmdrehbuch, Theaterstück (oder zumindest ,Lesedrama‘), philosophischer Traktat und, was uns im Folgenden besonders interessieren wird, nach wie vor deutungsbedürftiges zeitgeschichtliches Dokument – als „MultiMedia-Text“ gelesen werden kann.7 Von literatur- und geistesgeschichtlich grundlegender Bedeutung ist bezüglich dieses Filmdrehbuchs die Dimension der philosophisch-mythologischen Einkleidung zeitgeschichtlicher Konflikte. Wenn Volker Roloff Les jeux sont faits als Versuch deutet, „existentialistisches Mythentheater für den Film zu adaptieren“ und zugleich in diesem Drehbuch „eine(n) der ersten Versuche der theatralischen bzw. filmischen Repräsentation von Absurdität (im Sinne des Existentialismus) und gerade daher eine(n) der bemerkenswertesten Texte, die sich diskurskritisch mit der Occupation beschäftigen“, erblickt8, dann beleuchtet er den komplementären Aspekt der mythemischen Einkleidung dessen, was uns im Folgenden zuvörderst interessiert: Sartres persönlicher Umgang mit der – nicht nur für zeitgenössische Intellektuelle, sondern schlechterdings für alle zwischen 1940 und 1945 lebenden Franzosen – dramatisch-existentiellen Situation des zwischen Kollaboration und Résistance Hinundhergerissenseins. Diese Ursituation einer existenzbedrohenden Zerreißprobe markiert Les jeux sont faits bis hinein in den Schematismus der antagonistischen Grundstruktur. Die fiktive Gegenüberstellung (und wechselseitige Durchdringung) der beiden Ebenen „vie“ und „mort“, mittels der dem Medium Film abgeschauten Technik der ,alternierenden Montage‘ in einen zugleich dramatisch7

Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich, S. 234-242. Ausführliche Hinweise zum Les jeux sont faits -„Medienpaket“ finden sich auf Seite 280f.

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Roloff: „Zur Ambiguität des Mythos in Theaterstücken der Okkupationszeit“.

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strukturalen und kausal-logischen Zusammenhang gerückt, hält den Leser-Zuschauer vom Anfang bis zum Ende des Drehbuchtextes in Atem. Die beiden Protagonisten Eve Charlier und Pierre Dumaine werden unabhängig voneinander getötet. Zunächst vergiftet André Charlier seine Ehefrau Eve, dann erschießt der mit den faschistischen Milizen kollaborierende Denunziant Lucien Derjeu den Vorarbeiter und revolutionären Rädelsführer Pierre Dumaine. Beide, Eve und Pierre, begegnen sich im Reich der Toten. Dort bekommen sie von einer mysteriösen Registrierdame aufgrund eines absurden Buchungsfehlers die Chance zur Rückkehr ins Leben eingeräumt – unter der Bedingung, dass sie binnen 24 Stunden den ihnen vorherbestimmten amour absolu verwirklichen. Ihr Versuch scheitert: Pierre gelingt es nicht, seine Liebe zu Eve mit den politisch-revolutionären Anforderungen einer gegen die mit der deutschen Besatzung kollaborierenden Milizen kämpfenden Existenz in Einklang zu bringen; Eve, die für Pierres politisch-revolutionäres Engagement nicht hinreichend Verständnis aufbringt, regrediert sozusagen auf ihr Ausgangsmilieu der sale bourgeoise. Der amour absolu bleibt unter solchen Bedingungen „impossible“ – mit der Folge, dass beide, Eve und Pierre, definitiv ins Totenreich verbannt werden. Dort vermag sie lediglich die vage Hoffnung zu trösten, dass andere Menschen an ihrer Stelle das ursprünglich gemeinsam in Angriff genommene Projekt der Verschwörung gegen die deutschen Besatzer weiterverfolgen. Zweifellos rekurriert Sartre in der literarisch-dramatischen Einkleidung seiner Doppelreich-Fiktion auf Vorlagen aus der griechisch-römischen Antike.9 Zugleich unterläuft er traditionelle Sinngebungen antik-heidnischer wie christlicher Provenienz mittels Paradoxie, Groteske, Satire, Ironie – sämtlich Stilmittel, mit denen unser Autor gegen jeden Versuch einer deterministischen Deutung der Welt im allgemeinen wie der zeitgeschichtlich prekären Lage der Franzosen in Zeiten von Kollaboration und Résistance im besonderen ankämpft. Und natürlich ist in diesem Kontext die sich in der Roulette-Formel „Les jeux sont faits“ ausdrückende Resignation vor dem (angeblich) Unveränderlichen nicht mehr als eine irreführende Pointe: Die sich in dem am Ende des Drehbuchs gezeigten jungen Paar inkarnierende optimistische Zukunftsvision lässt die Titel-Formel zu einer bloß oberflächlich-deterministischen, jederzeit in ihr Gegenteil umkehrbaren Floskel gerinnen. Freilich wird dieses für Sartres Philosophie fundamentale Element der Negation von Unfreiheit – ungeachtet aller von Volker Roloff subtil offengelegten Strategien der Farcierung des klassischen Mythentheaters – erst gegen Ende des Drehbuchs dramaturgisch wirksam inszeniert. Über weite Strecken hinweg dominiert hingegen die Suggestion des Sich-Entscheiden-Müssens: zwischen Leben und Tod, zwi9

Siehe zum Folgenden Roloff: „Der fremde Calderón“.

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schen gesellschaftsferner ,reiner‘ Liebe und Liebe in Zeiten von Pest (die deutschen Besatzer) und Cholera (die mit den deutschen Besatzern kollaborierenden französischen Institutionen), zwischen fatalistischer Resignation in das scheinbar Unabänderliche (die Präsenz der deutschen Besatzer) und das mutige Engagement auf Seiten der ihre persönliche Freiheit und die Unabhängigkeit Frankreichs mutig und aufopferungsbereit verteidigenden Widerstandskämpfer. Unübersehbar verarbeitet Sartre in dieser dualistisch angelegten, mythologisch eingekleideten Geschichte seine eigene Existenz in Zeiten von Kollaboration und Résistance: dem Großbürgertum entstammend und der Versuchung ausgesetzt, mit den deutschen Besatzern zu kollaborieren; mit der cause du peuple schon damals sympathisierend und auf diese Weise sein kommunistisches Engagement nach dem Zweiten Weltkrieg antizipierend. Ein solcher Drehbuchtext, der die zeitgenössischen Konflikte, jenseits aller mythologischen Einkleidung, im essentiell antagonistischen Zugriff auf die Spitze treibt, musste einer Filmgesellschaft missfallen, die nicht nur der alltäglichen Observation ihrer Arbeit seitens der deutschen Besatzer, sondern auch der Versuchung ausgesetzt war, mit denselben Besatzungsmächten zumindest punktuell zu kollaborieren. Mit anderen Worten: Die essentiell konfliktuelle Anlage des Filmdrehbuchs findet ihr Analogon in den zeitgenössischen antinomischen politischen und gesellschaftlichen Strukturen, denen sich selbst (oder gerade) ein schon damals exponierter Intellektueller und Schriftsteller wie Sartre auf Dauer nicht entziehen konnte.

Résistance An der unmittelbaren zeitgenössischen Reaktion auf die erst im Jahr 2000 erfolgte Publikation des Textes in Les Temps Modernes lässt sich unschwer die Unsicherheit bezüglich der Einordnung von Résistance in die Gruppe der etwa acht von Sartre 1943/1944 für Pathé Cinéma verfassten Filmdrehbücher ablesen. Mehr noch: Die seit Jahrzehnten defizitäre Auseinandersetzung der Kritik mit Sartres literarischen Filmtexten war begleitet von Spekulationen und vorschnellen Urteilen. Kaum publiziert, sprach der Le Monde-Journalist Jacques Mandelbaum von einem „texte relativement édifiant“, der keine „révélation littéraire“ sei. Im Anschluss an die von Bernard-Henry Lévy in Le siècle de Sartre (2000) formulierte Vorstellung von den „deux Sartre“ insistiert auch Mandelbaum auf seiner Dualismus-These: Das Drehbuch enthülle den Zwiespalt sei-

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nes Verfassers zwischen dem mit der Zeitgeschichte unversöhnten Vorkriegspessimisten und dem militanten Nachkriegsaktivisten.10 Der Plot lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: François Dornier, die zentrale Figur des Drehbuchs, Journalist und Kriegsgefangener, wird dank der Beziehungen seines Schwiegervaters Bertaud, Direktor eines mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitenden Provinzblatts, aus deutscher Gefangenschaft befreit – unter der Bedingung, dass er nach seiner Freilassung einen Artikel veröffentlicht, in dem das Leben französischer Gefangener in deutschen Lagern als angenehm dargestellt wird. Dornier fils widersetzt sich diesem Begehren, schwört seiner anfänglichen Sympathie für kollaborationistische Ideen ab und bezahlt sein Engagement zugunsten der Résistance mit dem Leben. Das Resumee vermag freilich der Komplexität der Ausarbeitung des Stoffs durch den Szenaristen Sartre nicht gerecht zu werden. Empfehlenswert erscheint bei diesem so detailliert ausgearbeiteten Drehbuch erst recht eine extensivere Rekonstruktion des Plot.11 Zu Beginn seines Drehbuchs führt Sartre den Leser/Zuschauer in ein Gefangenenlager, in dem die von französischen Adjutanten befehligten „incurables“ (die „Unheilbaren“) untergebracht sind. Der ambivalente Begriff bezieht sich zwar in erster Linie auf gesundheitliche Unheilbarkeit aufgrund schwerer Kriegsverletzungen, könnte indes auch – aus der Sicht der deutschen Besatzer – eine (den französischen Gefangenen unterstellte) allgemein menschliche und speziell politisch-ideologische „Unheilbarkeit“ (wohl auch im Sinne von „Unbelehrbarkeit“) konnotieren. Unter den Gefangenen befindet sich François Dornier, die zentrale Figur des Drehbuchs, von Beruf Journalist – in exponierter Stellung: Er hat die Tochter (Jeannine) des Direktors der Provinzzeitung L’Eclair Rouennais geheiratet; das Ehepaar hat eine bald zweijährige Tochter (la petite Suzon), deren Geburtsdatum (Mai 1940, also zu Beginn der deutschen Besatzung) von Sartre ausdrücklich vermerkt wird. Im Kreis seiner 10 „La revue „Les Temps Modernes“ publie, sous le titre de „Résistance“, un scénario inédit de l’écrivain, écrit durant l’hiver 1943-1944. Ce texte, qu’on a cru longtemps perdu, permet de mieux comprendre son intérêt pour le cinéma.“ Mandelbaum: „Sartre et le cinéma, les échecs d’une tentation“. 11 Der in Les Temps Modernes erstmals abgedruckte Text des „scénario inédit“ wird eingeleitet durch Sartres (nicht signierten) Artikel: „Un film pour l’après-guerre“, L’Ecran Français – incorporé aux Lettres Françaises (clandestines), no. 15, avril 1944. In diesem Dokument skizziert Sartre nicht nur seine Auffassung vom Film als einer Literatur und Theater (zumindest in dieser Hinsicht) weit hinter sich lassenden „art des foules“, sondern stigmatisiert auch die zeitgenössischen Feinde einer ästhetisch hochwertigen Massenkunst à la King Vidor und Eisenstein: Krieg und Nazi-Ideologie. Der fulminante Schlusssatz ist bislang in seinen zeit- und mediengeschichtlichen Implikationen noch nicht hinreichend gewürdigt geworden: „Ainsi la libération du cinéma accompagnera la libération du territoire.“

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beiden Mitgefangenen Picard („un grand type du nord“) und Merlin ist wiederholt von „évasion“ die Rede, aus jeweils unterschiedlichen, sowohl individuellen wie auch politischen Gründen: Während Merlin die Gefangenschaft einfach satt hat, glaubt Picard, der seine Frau „pendant l’exode à Gien“ verloren hat, dass der Krieg noch nicht beendet sei; deshalb will er sich der Widerstandsarmee des Général de Gaulle anschließen. Währenddessen wird Dornier in die Kommandantur beordert. Dort signalisiert man ihm, dass er zusammen mit den „incurables“ sofort freigelassen werde. Der verdutzt nach den Gründen für seine Freilassung fragende Dornier bekommt keine Antwort, lässt Merlin und Picard indes wissen, dass er nicht desertieren will – aus Solidarität mit seinen Kameraden. Diese bestehen auf der Notwendigkeit seiner „évasion“; im übrigen kämen sie auch ohne ihn zurecht; gegebenenfalls könne Périer als dritter Mitstreiter beim für die Orientierung im Gelände unverzichtbaren Kartenlesen einspringen. In einer der wenigen Personenporträts des Drehbuchs – womöglich eine Art Autoporträt des damals ebenfalls noch jungen, großbürgerlichem Milieu entstammenden Sartre – charakterisiert der französische Schriftsteller und Philosoph Dornier als „un homme de volonté et d’intentions pures, mais faible, faible par douceur et aussi par suite de la vie facile qu’il a menée.“ (S. 6). Sein erster Fehler sei die Hochzeit mit der Tochter seines Chefs gewesen; sein zweiter Fehler – „qui déclenchera l’engrenage“ – dass er sich (von seinen Kameraden zur Flucht) überreden lasse. Dornier verabschiedet sich von seinen beiden Mitstreitern und empfiehlt ihnen sich direkt nach Rouen zu begeben, wo er sie bei sich zu Hause unterbringen, verpflegen und mit Geld versorgen werde, damit sie die freie Zone (den Süden Frankreichs) erreichen könnten. Mit Dorniers Abschied von seinen Kameraden endet die erste (längere) Sequenz des Drehbuchs. In der Folge schildert Sartre, einmal mehr sehr plastisch und detailliert, den Weg Dorniers wie der „incurables“ aus deutscher Gefangenschaft in ihre Heimat. In einem Eisenbahnwagon stößt Dornier auf den „fou“ Ernest Lamblin, einen der „incurables“, der ihm verrät, seine Krankheit nur vorgetäuscht zu haben. Dornier erklärt Lamblin, dass er eigentlich mit Picard und Merlin habe abhauen wollen. Das Schicksal will es, dass just Périer, der ja für den von den deutschen Besatzern entlassenen Dornier zwecks Unterstützung von Picard und Merlin eingesprungen war, auf der Flucht aus dem Gefangenenlager nach Rouen erschossen wird. Unterdessen landet der Zug mit den „incurables“ und Dornier in Châlons, wo sie von einem Gesandten des „Ambassadeur des Prisonniers“ mit den pompösen Worten willkommen geheißen werden, der Führer habe ihre Rückkehr ermöglicht – eine großzügige Geste, welche die deutsch-französische Freundschaft besiegeln werde. Dornier erfährt dort, dass er eigentlich gar nicht freigelassen worden, sondern lediglich in den Genuss eines dreiwöchigen Gefangenenurlaubs („congé de captivité“) ge-

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kommen sei – und dies auch nur unter der doppelten Bedingung, dass er sich jede Woche bei der Kommandantur seiner Heimatstadt Rouen rückmelden müsse und während seines dreiwöchigen „Urlaubs“ aus deutscher Gefangenschaft Nazi-Deutschland keinerlei Schaden zufügen dürfe. Dornier unterschreibt selbige Verfügung. Sartre fügt an dieser Stelle einen seine obigen Bemerkungen zum Charakter von Dornier ergänzenden Kommentar hinzu: Der Zuschauer solle an dieser Stelle den Eindruck haben, dass Dornier mit seiner Unterschrift den dritten Fehler begangen habe… Bezeichnenderweise kontrastiert er Dorniers spontan selbstkritische Bemerkung („Je crois que j’ai fait une connerie“) mit einer Einstellung von Périers Leichnam. Die Botschaft dieser Ton/Bild-Montage ist unmissverständlich: Niemand anders als Dornier hat Périers Tod auf dem Gewissen. Mit dieser Suggestion endet die zweite (kürzere) Sequenz des Drehbuchs. Mit der Ankunft des Zuges im Bahnhof von Rouen folgt die Enthüllung der Hintergründe für die (nur vorübergehende) Entlassung von Dornier aus deutscher Gefangenschaft – von Sartre als spannende ,Familiengeschichte‘ erzählt. Dornier und Lamblin (27 Jahre alt, unverheiratet, Sohn eines Kleinindustriellen aus Rouen – mit anderen Worten: wie Dornier, alter ego von Sartre –, der Bourgeosie entstammend) steigen zusammen aus. Ihnen fällt sofort auf, dass in ihrer Heimatstadt ein Regiment deutscher Pioniere („des Fritz“) weilt; dass die ehemals von Juden bewohnten Häuser und speziell die Schaufenster ihrer Läden leer sind. Schon im Juni 1940 war die Place de la Basse-Vieille-Tour von den Deutschen bombardiert worden. Ihre Omnipräsenz ist unübersehbar. In dieser unheimlich bedrohlichen Atmosphäre eröffnet Lamblin seinem Kameraden, dass er seine Evasion als „incurable“ zur Organisation des Widerstandes gegen die deutschen Besatzer nutzen wolle. Die Rede ist von Attentaten, Sabotageakten, Untergrund-Zeitungen, Waffendepots. Und Lamblin weist sein Gegenüber auf den in Rouen bereits bestehenden organisierten Widerstand hin. Auf Lamblins Frage, ob er mitmachen wolle, antwortet Dornier ausweichend: Er sei eigentlich Pazifist, verabscheue Blutvergießen, und zweifele an seinem eigenen Mut. Er wolle Lamblin jedoch „dans la mesure de mes moyens“ bei der Organisation des Widerstandes zur Seite stehen. Beim Stadtrundgang kommen sie am Verlagshaus von Dorniers Zeitung L’Eclair Rouennais vorbei. Titelüberschrift der ersten Seite: „L’héroïque L.V.F. Un geste magnanime du chancelier Hitler“, Kommentar von Lamblin: „Les salauds…“ Dornier beruhigt Lamblin: Nein, die Zeitung sei nicht auf der Seite der „Fritz“ (sprich: der deutschen Besatzer). Lamblin fordert Dornier auf, noch einmal über seine Mitarbeit beim zu organisierenden Widerstand nachzudenken. Doch Dornier beharrt auf seinen Bedenken: Er habe einfach nicht den Mut, einen Deutschen rücklings zu erschießen, selbst wenn man es notfalls tun müsse. Lamblin zählt indes auf Dorniers Beistand.

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An dieser Stelle streut Sartre die spannende Episode des Zeitungsverlegers Bertaud ein, der seinem zukünftigen Schwiegersohn (François Dornier) bei der deutschen Besatzungsmacht einen dreiwöchigen „congé de captivité“ besorgt hat, um ihn auf diese Weise wieder in seine frühere Funktion als Redakteur der Zeitung L’Eclair Rouennais einsetzen zu können. Die Freude über das Wiedersehen mit seinen Eltern wird bei den Dorniers getrübt durch die Ungewissheit, was es mit der vorübergehenden Entlassung ihres Sohnes aus deutscher Gefangenschaft auf sich habe. Ob Dornier fils nicht irgendwelche Konzessionen an die Deutschen gemacht habe. Der Sohn beruhigt seine Eltern mit der Versicherung „Je suis resté ce que j’étais“. Dornier mère informiert die im selben Haus wohnende, verwitwete Jüdin Esther Lyon, Jugendfreundin von Dornier fils, über die Ankunft ihres Sohnes. Dieser sieht auf ihrer Bluse den gelben Judenstern. Dornier erreicht endlich die auf einem Hügel außerhalb Rouens gelegene Villa seines Schwiegervaters. Ein Aushang vermeldet die Erschießung von 22 namentlich genannten Geiseln. Dornier, der seinen Schwiegervater Bertaud („un vieillard élégant“) in Gegenwart eines deutschen Offiziers erblickt, sieht nach langer Abwesenheit endlich seine Frau Jeannine („très jolie femme, jeune, sympathique, mais légère et mondaine“) wieder – womöglich ein verstecktes Porträt von Simone de Beauvoir. Bertaud erklärt seinem Schwiegersohn, warum er bei den deutschen Behörden seine vorübergehende Freilassung erwirkt hat: er brauche dringend einen „collaborateur“. Die Ambivalenz des Begriffs ist einmal mehr offensichtlich: die Mitarbeit bei der Zeitung seines Schwiegervaters impliziert nicht nur Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht, sondern die Freilassung ist geradezu an kollaborationistisches Denken und Handeln im Sinne der deutschen Besatzungsmacht gebunden. Jeannine besteht darauf, dass sich ihr Mann in den drei Wochen des „congé de captivité“ ausschließlich um sie und ihre gemeinsame Tochter Suzon kümmere. Der uralte, schon antike literarische Konflikt zwischen „Pflicht“ und „Neigung“ erfährt bei Sartre eine zeitgeschichtlich-politisch-ideologische Zuspitzung, die uns schon in Les jeux sont faits begegnet ist. Dornier erklärt Jeannine, warum er die Mitarbeit an der Zeitung ihres Vaters als „Verrat“ ansehe. Seine Frau gibt ihm zu verstehen, dass seine Verweigerung nicht nur ihr gemeinsames Familienleben, mithin ihr aller Glück aufs Spiel setze, sondern auch seine Deportation nach Deutschland nach sich ziehen könne; dass er ihrem Vater durch seine Verweigerung insofern Unrecht zufüge, als dieser den Deutschen zu verstehen gegeben habe, dass er und sein Schwiegersohn nach dessen vorübergehender Freilassung in der Leitung der Zeitung eine „gemeinsame (sprich: kollaborationistische) Linie“ verfolgen würden. Unter Verwendung des Substantivs „malentendu“ verdeutlicht Sartre an dieser Stelle die persönliche, politische und ideologische Zwangsjacke, in der sich François Dornier befindet, der seinen Aufenthalt in

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Rouen eigentlich nicht für die Mitarbeit an der (kollaborationistisch ausgerichteten) Zeitung seines Schwiegervaters nutzen wollte, sondern für die Organisation eines wirksamen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer. Freilich entscheidet sich der von Sartre bereits weiter oben als „schwach“ charakterisierte Dornier wieder – unter dem doppelten Druck von Schwiegervater und Frau – für den Verbleib im Umkreis der Familie Bertaud. Ohne dass Sartre diese Schlussfolgerung selbst zieht, könnte man von Dorniers viertem Fehler sprechen: Einmal mehr steht er nicht zu seiner eigentlichen Überzeugung von der Notwendigkeit der Organisation eines effizienten Widerstands gegen die deutsche Besatzung, sondern lässt sich umstimmen – mit der Folge, dass er sich weiterhin der existentiellen Zerreißprobe von hier Kollaboration und dort Réstistance aussetzt. An dieser Stelle seines Drehbuchs baut Sartre ein „fondu“ (Blende) ein. Der erste, verhältnismäßig elaborierte Teil ist abgeschlossen. Von der Dramaturgie her sind alle Voraussetzungen für die nun folgende Zuspitzung des Konfliktes und seine abschließende Auflösung gegeben. Sartre leitet den zweiten, wesentlich kürzeren Teil seines Drehbuchs mit filmtechnischen Notaten ein, die den Leser/Zuschauer gleich zu Anfang auf einen markanten Rhythmus- und Stimmungswechsel einschwören: „montage rapide“, „alternance de scènes“. Auf der einen Seite die beiden Kameraden Picard und Merlin, die auf ihrer Flucht aus deutscher Gefangenschaft von einem Bauern in dessen Scheune und von einem Pfarrer in dessen Pfarrhaus versteckt werden – auf der anderen Seite Dorniers Familienleben. Die eigentliche inhaltliche Verknüpfung von Teil 1 und Teil 2 bewerkstelligt Sartre bezeichnenderweise durch die Wiederholung des Substantivs „malentendu“, das er sogar noch durch die Hinzufügung des Adjektivs „profond“ in seiner Bedeutung für alles Kommende verstärkt: das „tiefe Missverständnis“ zwischen Jeannine und François, zwischen Pflicht und Neigung, innerer Berufung und äußerem Anpassungsdruck bleibt (in Zeiten von Kollaboration und Résistance) als lebensbedrohender Konflikt bestehen. Einmal mehr ist der thematische Rückbezug auf den Eve Charlier und Pierre Dumaine letztlich entzweienden Konflikt in Les jeux sont faits unübersehbar. Beide Welten werden gleich zu Beginn der Handlung des zweiten Teils als schroffer Generationen- und Familienkonflikt inszeniert. Während einer Feier anlässlich des Geburtstags („le 6 mai“) der kleinen Suzon führt Sartre den Leser/Zuschauer ins Milieu der Kollaborateure ein. Nicht zufällig sieht Dornier den deutschen Offizier wieder, der einige Tage zuvor die Villa seines Schwiegervaters verlassen hatte und mit der Überwachung der in Rouen ansässigen Presse beauftragt ist. Bezeichnenderweise ist es Bertaud, der die (frostige) Begegnung zwischen dem Offizier und seinem Schwiegersohn einfädelt, derweil Picard und Merlin vor der Tür auf ihren Kameraden warten. Dornier erklärt

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seiner Frau, dass Picard und Merlin unbedingt versteckt werden müssten. Jeannine ist einverstanden. Beide werden in Bertauds Fabrik untergebracht und von Jeannine mit Kleidung und Essen versorgt. Picard und Merlin berichten von ihrer Flucht. Plötzlich taucht Bertaud auf. Es kommt zum Wortwechsel mit den beiden „évadés“. Zwar werde er, Bertaud, französische Gefangene (wie Merlin und Picard) nicht an die Deutschern ausliefern, doch sei und bleibe sein Engagement zugunsten der Deutschen eine „question de loyauté“. Er könne die beiden Deserteure zwar 24 Stunden unterbringen, doch danach müsste für sie ein Versteck außerhalb seiner Mauern gefunden werden. Auf Picards Vorwurf der mangelnden Hilfsbereitschaft reagiert Bertaud pathetisch: er vertrete nicht die Interessen der beiden Deserteure, sondern das Interesse Frankreichs; Frankreich sei nun einmal darauf angewiesen sich mit Deutschland gut zu verstehen. Auf Picards Entgegnung, kampfesunwillige Leute wie er (Bertaud) hätten die augenblicklich katastrophale Lage Frankreichs verschuldet, reagiert der Beschuldigte schroff: Im Gegensatz zu fahnenflüchtigen Soldaten wie Merlin und Picard habe Frankreich den Ersten Weltkrieg am Ende gewonnen, weil Leute seines Kalibers bis zum Ende gekämpft hätten. Dornier versucht seinerseits eine Ehrenrettung der in seinen Augen mitnichten fahnenflüchtigen Soldaten von 1940, die vielmehr im Widerstand gegen die deutschen Besatzer ihr Leben geopfert hätten und verraten worden seien. Während Picard darauf verweist, dass der Krieg ja keineswegs vorbei sei, setzt Bertaud seine Gesprächspartner mit der Aufforderung unter Druck, ihr Versteck binnen 24 Stunden zu verlassen, andernfalls müsse er sie an die Deutschen verraten. Angesichts dieser verzweifelten Situation sehen Jeannine und François keine andere Möglichkeit als die Eltern von François umgehend um Hilfe zu bitten. Um dem Leser/Zuschauer die existenzbedrohende Dramatik der beschriebenen Situation drastisch vor Augen zu führen, schneidet Sartre an dieser Stelle die Episode der (bereits oben erwähnten) jungen jüdischen Witwe Esther Lyon, Jugendfreundin von François Dornier, ein: Sie entgeht der Deportation durch Selbstmord, indem sie sich (mit ihrem Kind) aus dem Fenster stürzt. Die Dorniers, ihr Sohn François und ihre Schwiegertochter Jeannine werden Zeuge einer erschütternden Szene: die Deutschen heben den Leichnam der Jüdin auf und tragen ihn in einen Lastwagen. Es ist diese Szene, welche innerhalb der Dramaturgie des Drehbuchs von Sartre als Peripetie fungiert: „Widerstand“ heißt fortan das Losungswort innerhalb der Familie Dornier und der Gruppe der übrigen Widerständler. Sartre lässt die Formen des Widerstands – Aufbau einer klandestinen Druckerei und eines Waffenarsenals – in kurzen Einstellungen („montage rapide“) vor dem Leser abrollen. Derweil wird Bertaud von einem deutschen „Zensuroffizier“ mit der Aufforderung an seinen Schwiegersohn (François Dornier) konfrontiert, dieser

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solle einen Artikel über das Leben der französischen Gefangenen in Deutschland schreiben – dies in der Absicht, die französischen Mütter und Frauen davon zu überzeugen, dass ihre Söhne und Männer in Deutschland mitnichten schlecht behandelt würden oder unglücklich seien. Als François sich weigert, den Auftrag der Nazis zu erfüllen, diktiert Bertaud kurzerhand seiner Sekretärin einen Artikel mit entsprechendem Inhalt. Szenenwechsel: Das Widerstandskomitee erwägt einen Brandanschlag auf das Gestapo-Hotel. Erneuter Szenenwechsel: In Unkenntnis des von Bertauds Sekretärin aufgesetzten Textes konfrontiert Lamblin François mit einem „La vie au camp“ überschriebenen Zeitungsartikel. In seiner Verzweifelung negiert François jegliche Mitarbeit, sieht sich jedoch dem Vorwurf seitens Lamblin ausgesetzt, er sei lediglich deshalb aus Deutschland zurückgekehrt, um seinen Gefangenurlaub als Mitarbeiter des (kollaborationistisch gesinnten) „Eclair Rouennais“ zu nutzen und auf diese Weise seine Befreiung aus deutscher Gefangenschaft zu erwirken. Die Widerstandsgruppe beschließt den Ausschluss des (angeblichen) Verräters und Denunzianten François Dornier einstimmig. Szenenwechsel: François sucht den „Zensuroffizier“ im nahe dem Gestapo-Büro gelegenen Hotel Molitor auf. Der Offizier beglückwünscht ihn zu seinem vorzüglichen Artikel. François gibt ihm zu verstehen, dass er gar nicht der Verfasser dieses Artikels sei und im übrigen jegliche Zusammenarbeit mit den Deutschen ablehne. Der deutsche Offizier gibt François zu verstehen, dass er nun in ein Straflager verlegt werde. Doch in diesem Moment, wo er nichts mehr zu verlieren hat, bleibt François standhaft. Auf dem Wege zum Gefängnis gelingt ihm die Flucht. Er kehrt zunächst zu Frau (Jeannine) und Tochter (Suzon) zurück, versteckt sich alsdann in einem Bauernhof nahe Rouen und besorgt sich bei seinen Eltern zwei Brandgranaten, die er in das Gestapo-Lokal wirft, das in Flammen aufgeht. Das gelungene Attentat, Resultat seiner Distanzierung von kollaborationistischer Gesinnung, markiert den Höhepunkt in der Karriere des Widerstandskämpfers François Dornier. Der seine filmdramaturgischen Mittel bewusst handhabende Drehbuchautor Sartre lässt die Odyssee seines „Helden“ in zwei abschließenden Sequenzen ausklingen, die jeweils von einer deutlich markierten Blende („fondu“) eingeleitet werden. In der ersten Sequenz befragen deutsche Offiziere einen französischen Spitzel – eine Neuauflage des Lucien Derjeu aus Les jeux sont faits – , der den flüchtigen François Dornier verrät. Außerdem können die deutschen Besatzer ja noch ihren Gewährsmann Bertaud befragen. In der Tat gibt der deutsche Zensuroffizier Bertaud zu verstehen, dass er im Gefängnis landen werde, falls er sich weigere, den Aufenthaltsort seines Schwiegersohns (François Dornier) zu verraten. Szenenwechsel: Der erschöpfte François in seinem Versteck (das Zimmer eines Bauernhofs). Szenenwechsel: Jeannine verrät ihrem Vater (Ber-

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taud) das Versteck von François. Zum Entsetzen von Jeannine leitet Bertaud die Auskunft an die Nazis weiter. Bevor Jeannine ihren Mann in seinem Versteck davon in Kenntnis setzen kann, führen die Nazis ihn vor ihren Augen in Handschellen ab. Szenenwechsel: François in einer Gefängniszelle, mit vier anderen Widerstandskämpfern. Er ist glücklich, befreit von allen Zwängen und Zweifeln. Er hat seine Freiheit und sein Leben für seine Überzeugungen – den für ihn notwendigen Widerstand gegen die deutsche Besatzung – geopfert. Szenenwechsel: In einem Feld hinter dem Gefängnis erspäht François seine Eltern und seine Frau. Bevor er zum ersten Verhör abgeführt wird, bekennt er: „J’avais fait une faute, mais maintenant j’ai payé!“ Szenenwechsel: François bekennt gegenüber drei weiteren, ebenfalls seiner Organisation des klandestinen Widerstands angehörenden Gefangenen, dass er irrtümlich verhaftet worden sei, weil die Nazis seinen Namen zufällig im Heft eines ebenfalls verhafteten und einer anderen Widerstandsorganisation angehörenden Schneiders gefunden hätten. Und plötzlich begegnet er seinem Kumpel Lamblin wieder, der ihn zunächst als Gefangenenspitzel („mouton“) bezeichnet. Szenenwechsel: Während des zweiten Verhörs wird François des Attentats auf das Gestapo-Lokal im Hotel Molitor beschuldigt. Es kommt zur Konfrontation François – Lamblin: Letzterer gibt zu, dass François „régulier“ (im Sinne von: moralisch intakt, zuverlässig) gewesen sei; und François bittet Lamblin, er möge den Kamaraden mitteilen, daß er „un type propre“ sei. Mit anderen Worten: Innerhalb der Widerstandsgruppe ist die Welt wieder intakt – was immer die Besatzungsmacht in der Folge mit den Widerstandskämpfern anstellt. Die zweite Blende („fondu“) leitet den (kurzen) Epilog des Drehbuchs ein. Drei Monate später trifft sich die Widerstandsgruppe zu einer klandestinen Versammlung. Der am Ende freigelassene Lamblin klärt die Anwesenden über das Schicksal von François Dornier auf: Er sei in der letzten Woche erschossen worden, der siebte von den Deutschen getötete Widerstandskämpfer aus ihrer Gruppe. Es folgt die abschließend lakonische Bewertung des Résistance-Engagements von François Dornier: „Il a fait son devoir.“ Die ausführliche intralineare Rekonstruktion des Drehbuch-Plots bei gleichzeitiger Offenlegung seiner filmdramaturgischen Faktur bedarf in mehrfacher Hinsicht der Rechtfertigung. Verblüffend erscheint auf den ersten Blick die sartresche Insiderkenntnis der beiden Milieus, die nur vordergründig betrachtet antagonistisch ausgerichtet zu sein scheinen: hier „Kollabos“, dort Résistance-Kämpfer. Sartre ist vielmehr – wie sein alter ego François Dornier – in beiden Milieus ,zuhause‘. Man könnte seinen Text als literarisch-filmisch aufbereitete ,Alltagsgeschichte‘ bezeichnen, wobei Sartres Quellen wohl eher Zeitungsberichte „au jour le jour“ oder Erlebnisberichte (aus dem Mund ihm wahrscheinlich vertrauter oder zumindest bekannter Personen) als eigene Erfahrungen darstellen. Wer je eine Geschichte der Occupation gelesen hat, wird

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jedenfalls das Erlebnissubstrat seiner Ausführungen in den Werken der alltagsund mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten Historiker in ähnlichen Versionen niedergelegt finden.12 Was in unserem Zusammenhang wichtiger ist: Dem Drehbuchverlauf liegt die implizite These zugrunde, dass aus einem anfänglichen „résistant“ jederzeit ein „collaborateur“ (und umgekehrt) werden könne, wenn sich dazu nur die passende Gelegenheit der Versuchung des Eintauchens in das jeweils andere Milieu ergibt. Hierin liegt zugleich die zeitgeschichtliche Brisanz und die fundamentale Glaubwürdigkeit von Sartres Drehbuch – bezeugt übrigens durch einen Film, der Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre eine für viele Franzosen schmerzliche Wende in ihrem Verständnis der Interaktion von Kollaboration und Résistance provoziert hat: Marcel Ophüls’ zweiteiliger Dokumentarfilm Le chagrin et la pitié (1969/1971). Sartres Drehbuch unterminiert die lange geläufige Vorstellung, die Franzosen hätten nur die Wahl zwischen einem Entweder-Oder gehabt: entweder sich mit den deutschen Besatzern zu arrangieren oder – de Gaulles Londoner Aufruf Folge leistend – sich im Widerstand zu engagieren.13 Die ungeheure zeitgeschichtliche – leider nicht zur Wirkung gekommene – Sprengkraft seines Textes besteht vielmehr darin, dass Sartre dem unvoreingenommenen Leser eine differenzierte Position des „Sowohl als Auch“ suggeriert: beides – kollaborationistische Gesinnung und Kraft zum Widerstand – konnte, so die implizit bleibende These, in ein und derselben Person koexistieren. Und dass bei der zentralen Gestalt seines Drehbuchs (François Dornier) die Kraft zum Widerstand den Hang zu kollaborationistischem Denken und Handeln immer mehr zurückdrängt und am Ende gar erfolgreich bekämpft, verdankt sich (für Sartre) glücklichen Umständen: (beispielsweise) der Unterstützung des in seinen Auffassungen vorübergehend immer wieder schwankend werdenden Protagonisten François Dornier seitens der Widerstandsgruppe oder der patriotischen Gesinnung der Familie Dornier. Man stelle sich einen Augenblick vor, die Filmgesellschaft Pathé hätte es gewagt, auf der Basis des – leider erst seit 2000 zugänglichen – Drehbuchs von 1943 einen solchen, zwischen den beiden Polen Kollaboration und Résistance aufrichtig und subtil vermittelnden Film zu drehen und dann womöglich auch noch den Text von Sartres Drehbuch zu publizieren. Natürlich ist eine solche, die zeitgeschichtlichen Umstände (Allgegenwart der deutschen Besatzer und ihrer Repressionsinstanzen) verkennende Vorstellung ebenso utopisch wie ge12 Siehe die einschlägigen Titel von H. Amouroux, R. Aron, J.-P. Azéma, Ph. Burrin, E. Conan/H. Rousso, H. Michel, P. Nora, P. Ory, R.O. Paxton, J.-P. Rioux sowie noch einmal H. Rousso, in der Bibliographie zur Studie von Dürr: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung, S. 178-181. 13 Dürr: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung, S. 173.

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schichtsblind, doch vermag eine solche fiktive Erwägung die immense zeitgenössische Sprengkraft des sartreschen Drehbuchs zumindest rückwirkend plausibel zu machen. Wie dem auch sei: Die Filmgesellschaft Pathé hat Sartres Drehbuch während der Jahre der deutschen Besatzung weder selbst veröffentlicht respektive (durch seinen Autor) veröffentlichen lassen noch für eine filmische (oder sonstige mediale) Bearbeitung freigegeben. Die beiden in unseren Augen wichtigsten Gründe für diese Verweigerung liegen auf der Hand: Die Kulturbehörde der deutschen Besatzungsmacht hätte die Veröffentlichung eines derart „konterrevolutionären“ Textes (in welch medialer Performanz auch immer) unter allen Umständen zu verhindern gewusst. Und den Franzosen von 1943/44 wollte man sicherlich einen solchen selbstkritischen, in nationalen Wunden herumrührenden Text wie Sartres Résistance-Drehbuch nicht zumuten. Mit anderen Worten: Sartres couragierte Drehbuchproduktion wurde das Opfer einer von Pathé betriebenen Filmpolitik, die selbst nicht frei von ,kollaborationistischen‘ Erwägungen und Hintergedanken war. Oder anders ausgedrückt: So viel Aufklärung wollte Pathé Cinéma wohl weder sich selbst noch dem französischen Filmpublikum – und erst recht nicht einer omnipräsenten deutschen Besatzungsmacht – zumuten.

Von Les jeux sont faits zu Résistance. Vergleichende Schlussbemerkungen Die doppelte Frage, warum Sartre einerseits – wahrscheinlich in kurzem zeitlichem Abstand voneinander – zwei so grundlegend verschiedene Texte zu einundderselben zeitgeschichtlichen Problematik verfasst hat und warum beide Filmdrehbücher andererseits von der Filmgesellschaft Pathé nicht zur filmischen Umsetzung freigegeben worden sind, bedarf einer abschließenden Klärung. Zweifellos wurzeln beide Texte in fundamentalen Axiomen sartrescher Philosophie.14 Wenn für Sartre die Präsenz des ,Anderen‘, des Fremden, für Konstruktion und Selbstverständnis des ,Ich‘ – das für ihn ohne ein être pour autrui nicht sinnvoll gedacht werden kann – konstitutiv ist, und wenn das Verstehen von Fremdheit immer schon die Spielräume des Ich denkend und handelnd ins Kalkül einzubeziehen hat, dann ergeben sich aus dieser Konstellation Konsequenzen für jene Interdependenz von Freiheit und Unfreiheit, Eingeschlossensein und Sprengung der Fesseln von Unfreiheit, Leben und Tod, Kontingenz und Determination, Engagement und Verantwortung sowie die 14 Siehe zu dieser Dimension von Les jeux sont faits erneut Roloff: „Der fremde Calderón“, besonders S. 238f. sowie S. 242.

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Verweigerung derselben Tugenden, um die sämtliche Theaterstücke und Filmdrehbücher von Sartre letzten Endes kreisen. Vor diesem gemeinsamen Hintergrund überrascht die auffallend unterschiedliche Ausarbeitung der beiden zur Diskussion stehenden Filmdrehbücher. Wie in Huis clos inszeniert Sartre in Les jeux sont faits die Dialektik von Determination und Freiheit als Rollenspiel. Die beiden Liebenden (Eve Charlier und Pierre Dumaine), der blinde Bettler, der Diktator u.a. agieren auf der Bühne des großen Welttheaters als Inkarnationen maskenhaft anmutender Rollen. An seinen zentralen personae dramatis exemplifiziert Sartre typische Verhaltensweisen des in Grenzsituationen des Sich-Entscheiden-Müssens hineingeworfenen Menschen der Occupation-Jahre: zwischen Altruismus und Egoismus, Pflicht und Neigung, Engagement und Verweigerung desselben. Das Rollenspiel endet in der totalen Desillusion: der Aufstand des Arbeiterführers Pierre Dumaine und seiner Gesinnungsgenossen wird niedergeschlagen, die Beziehung Eve-Pierre scheitert. Politik und Privatleben konvergieren in der Erfahrung der Vernichtung ursprünglicher Lebensentwürfe und politischer Ideale. Bleibt die vage Hoffnung, dass künftige Generationen den Kampf gegen Unterdrückung und Verfolgung fortführen. Die Ablehnung von Sartres Drehbuch seitens der Pathé-Oberen ist nachvollziehbar, bleibt gleichwohl auch rätselhaft. Sicherlich erschien ihnen die Diktator-Sequenz mit Hitler-ähnlichen, an Chaplins The Great Dictator angelehnten Zügen als eine womöglich lebensgefährliche, an die Adresse der deutschen Besatzer gerichtete Provokation. Oder war es die fatalistische Resignation in das angeblich Unveränderliche – die Präsenz der Nazis auf französischem Boden – suggeriert durch die Roulette-Formel des Titels Les jeux sont faits, welche für Pathé eine inakzeptable Entmutigung der französischen Widerstandsbewegung implizierte? Vielleicht fördern die im Pathé-Archiv lagernden Dokumente aus jener Zeit (vor allem die Pathé-Gallimard-SartreKorrespondenz) die wahren Gründe für das zur Diskussion stehende Verdikt zutage. Die missverständliche Roulette-Formel, deren paradoxale Ausdeutung durch Sartre selbst eigentlich jegliche Instrumentalisierung im Sinne der deutschen Besatzer wie der französischen Widerstandsbewegung absurd erscheinen lässt, kann nicht der Grund für Pathés Ablehnung gewesen sein – treibt Sartre doch das Verwirrspiel mit seinem Publikum mit folgenden kontradiktorischen Aussagen auf die Spitze: „Mon scénario baigne dans le déterminisme“ contra „L’existentialisme n’admet point que les jeux soient jamais faits.“15 Die Ironisierung der Höllenkonzeption, die Vision vom Jenseits als Ausbund bürokratischer Gängelung, die Verwischung der Grenzen von Leben und Tod,

15 Siehe Contat/Rybalka: Les écrits de Sartre, S. 156.

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Diesseits und Jenseits müssten gerade aufgrund ihres Spielcharakters jeder vorschnellen Indienstnahme von vornherein den Boden entziehen. Unter solchen Voraussetzungen erscheint das zweite Drehbuch mit dem bezeichnenden Titel Résistance wie ein um Aktualisierung und Konkretisierung bemühter Gegenentwurf zu seinem Vorläufer Les jeux sont faits. Die grausame Episode der von den Nazis in den Selbstmord getriebenen Jüdin Esther Lyon sucht jedenfalls gerade in ihrer visuell-erschütternden Lakonik innerhalb der Résistance-Literatur ihresgleichen. Sie markiert überdies insofern eine Peripetie im Handlungsgeschehen des Drehbuchs, als François Dornier nun endlich begreift, dass er selbst um den Preis seines Lebens Widerstand gegen die deutschen Besatzer leisten muss. Natürlich reichte allein der tollkühne Einbau dieser Episode aus, um Pathé davon zu überzeugen, dass man ein solches Drehbuch, das die Judenverfolgung in Frankreich endlich einmal beim Namen nennt, angesichts der Omnipräsenz der deutschen Besatzer weder publizieren noch gar verfilmen darf. Résistance ist, wie Jürg Altwegg16 schon bald nach der Veröffentlichung des Drehbuchs scharfsinnig herausgearbeitet hat, ein Text, in dem sich Sartres ambivalente Position innerhalb der zeitgenössischen Konflikte als ein problematisches zwischen den beiden Polen ,Kollaboration‘ und ,Résistance‘ Dahinlavieren verrät. Sartre entging bekanntlich der Zensur der Nazis in mehrfacher Hinsicht: Seine Stelle als Gymnasiallehrer verdankte er dem Juden-Statut. Seine Stücke (vor allem Les Mouches) konnten während der deutschen Besatzung aufgeführt und seine Bücher bei Gallimard – einem Verlag, dem die Veröffentlichung von Büchern jüdischer Provenienz untersagt war – publiziert werden. Sartre erhielt bei einer Filmproduktionsfirma namens Pathé eine Anstellung, welche nicht zufällig auch die Pariser Wochenschau produzierte und überdies nicht im Verdacht stand, Propaganda gegen die deutschen Besatzer zu betreiben. Er wollte sich dem bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer anschließen und schrieb zugleich Artikel für das Kollaborationsorgan Comoedia. Warum legt Sartre in seinem Résistance-Filmdrehbuch ein am Ende so unzweideutiges Bekenntnis zum Widerstand gegen Nazi-Deutschland ab? Die Antwort erscheint zunächst leicht: François Dornier als sein literarisch-filmisches alter ego inkarniert wichtige Eigenschaften des jungen Sartre. Er entstammt (wie Sartre) dem Großbürgertum und entwickelt im Laufe der Zeit (wie Sartre) eine tiefe Abneigung gegen die kollaborationistische Gesinnung seines bourgeoisen Ausgangsmilieus; wie viele andere Menschen der Jahre 1940-45 (wie wohl auch Sartre) erblickt er in den einfachen, mitunter dem Proletariat entstammenden Menschen seiner Aktionsgruppe die Keimzelle eines glaubwürdigen wie effektiven Widerstands gegen 16 Altwegg: „Sartres ‚Résistance‘“. Wir danken Michael Lommel für die Zusendung einer Kopie des Artikels.

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die deutschen Besatzer. Wie Sartre selbst gelangt Dornier fils erst spät, am Ende eines schwierigen, von Rückfällen in kollaborationistische Anwandlungen gekennzeichneten Prozesses der Bewusstseinsbildung zur Einsicht in die Notwendigkeit des Widerstandes. Und doch greift diese Antwort, so plausibel sie zunächst erscheinen mag, zu kurz. Sartre war sich immer der Schwierigkeit einer eindeutigen Abgrenzung von Kollaboration und Résistance bewusst. Belegen lässt sich diese These a posteriori durch folgenden Hinweis: Sartre soll den Résistance-Text nach dem Krieg in der Weise umgearbeitet haben, dass der Journalist François Dornier nun nicht mehr der Résistance beitritt, sondern zu den Kollaborateuren überläuft.17 Im übrigen hatte Sartre für sein Drehbuch, das einige Kritiker als melodramatisch, pathetisch, sentimental, dramaturgisch wenig überzeugend und voller Klischees wie auch mit unübersehbaren Anleihen bei zeitgenössischen Produktionen durchsetzt abzuqualifizieren versuchten, eine Remodellierung der ebenso wichtigen wie problematischen Figur des Zeitungsverlegers Bertaud, Schwiegervater von François Dornier, vorgesehen: 1.

On retravaillera le personnage du beau-père dans le sens suivant : - plus nuancé, et le personnage sera moins antipathétique, - son point de vue sera défendu de façon plus claire. Il sera peut-être simple rédacteur en chef et son supérieur, le véritable directeur, représentera la collaboration cynique (genre Luchaire). De cette façon, le personnage du beau-père sera dégagé de toute compromission. Nous pourrons faire le portrait du collaborateur sincère.

2.

On étudiera davantage la société collaboration qui l`entoure, et c`est dans ce milieu qu`on typera des personnages plus nettement antipathétiques.

3.

On changera la fin et on laissera prévoir, d`une manière ou d`une autre, la victoire de la Résistance, au lieu de terminer sur la mort du héros.18

Jenseits solcher Konkretisierungen respektive Korrekturen belegt dieses Zitat auf eindrucksvolle Weise, wie sehr Sartre in den Jahren 1943/44 daran gelegen war, über dem in der Figur seines alter ego François Dornier inkarnierten ,Sieg der Résistance‘ nicht die weniger ehrenhaften Umtriebe des (den Autor wie seine Figur umgebenden) kollaborationistischen Milieus aus den Augen zu verlieren. Dabei sollte nicht der ,zynische‘ Kollaborateur à la Bertaud, sondern seine ,aufrichtige‘ Spezies im Zentrum der Darstellung stehen. Mit anderen Worten: In Résistance dominiert die irrationale Verherrlichung der Résistance 17 Siehe Contat: „A la recherche des manuscrits perdus“. 18 Virmaux: Sartre scénariste, S. 52f.

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die gleichgewichtige wie (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der Kollaboration. Nachvollziehbar wird auf diese Weise, „wie sich bei Sartre zwischen Ohnmacht und Ehrgeiz die Gefühle der Scham und der Schuld einstellten und verstärkten.“19 Sartres Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kollaboration/Résistance-Problematik findet ihren Niederschlag in zwei komplementär angelegten Filmdrehbüchern, die sich zueinander verhalten wie Modell und konkrete Anwendung, wirklichkeitsenthobenes Konstrukt und erfahrungsgetränkte Empirie. In beiden Texten wird der Kollaboration/Résistance-Komplex als dialektisch angelegter und damit nie abschließend zu beurteilender Geschichtsund Bewusstseinsprozess behandelt. Mit anderen Worten: Das Spiel ist eben nicht aus.

Literaturverzeichnis Avancées Cinématographiques, Sartre et le cinéma, Nr. 5, Paris 1984. Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Altwegg, Jürg: „Sartres ,Résistance‘. Ein unbekanntes Drehbuch des Philosophen aus dem Krieg“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2000, S. 49. de Beauvoir, Simone: La force de l’âge, Paris 1960. Clerc, Jeanne-Marie: Ecrivains et cinéma. Des mots aux images, des images aux mots; adaptations et ciné-romans, Metz 1985. Cohen-Solal, Annie: Sartre (1905-1980), Paris 1985. Contat, Michel: „A la recherche des manuscrits perdus“, in: Le Monde, 24.08.2000, S. 24. Contat, Michel/Rybalka, Michel: Les écrits de Sartre, Paris 1970. Dürr, Susanne: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung. Die Zeit der „Occupation“ im französischen Film, Tübingen 2001. Mandelbaum, Jacques: „Sartre et le cinéma, les échecs d’une tentation“, in: Le Monde, 24.08.2000, S. 24. Roloff: „Der fremde Calderón. Sartre und das spanische Barocktheater“, in: Leinen, Frank (Hrsg.): Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität, Berlin 2002. 19 Altwegg: „Sartres ‚Résistance‘“.

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Franz-Josef Albersmeier | Das Spiel ist (nicht) aus

Roloff, Volker: „Zur Ambiguität des Mythos in Theaterstücken der Okkupationszeit“, in: Drost, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Paris sous l’Occupation/Paris unter deutscher Besatzung, Heidelberg 1995, S. 103. Sartre, Jean-Paul: Les jeux sont faits, Paris 1947, 1968. Sartre, Jean-Paul: Résistance, in: Les Temps Modernes, Nr. 609, Juni-August 2000, S. 3-22. Sartre, Jean-Paul: „Un film pour l’après-guerre, L’Ecran Français“, in: Lettres Françaises, Nr. 15 April 1944. Teroni, Sandra/Vannini, Andrea (Hrsg.): „Sartre e Beauvoir al cinema“, Florenz 1989. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: „Sartre: une vocation manquée de cinéaste“, in: Jeune Cinéma, Nr. 210, 1991, S. 13-18. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: „Sartre ,collaborateur‘? (Essai de mise au point)“, in: Jeune Cinéma, Nr. 231, 1995, S. 27-32. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: „Sartre scénariste“, Nr. 120, 1986 S. 50-54.

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Jürg Altwegg

Sartres Résistance. Ein unbekanntes Drehbuch des Philosophen aus dem Krieg Die Nachbarin im proletarischen Mietshaus, in dem seine Eltern wohnen, heißt Esther. Die junge Witwe trägt den Judenstern. Die Handlung spielt in der französischen Provinz, in Rouen. Der Journalist François Dornier ist aus der deutschen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt – er weiß selber noch nicht so genau, warum man ihn entlassen hat. Dornier besucht seinen Vater, er soll zwei Widerstandskämpfer verstecken. Zur Nachbarin unterhält die Familie beste Beziehungen. „Esther spricht mit ihnen, gibt ihre große Angst zu erkennen: überall werden Juden verhaftet, ganze Quartiere wurden durchsucht, Haus um Haus. Die Mütter werden von ihren Kindern getrennt. Sie hat ihren Gatten verloren, wenn man ihr das Kind nimmt, wird sie sich umbringen.“ Vater Dornier ist bereit, die Gefährten seines Sohnes aufzunehmen. „,Sie sollen nur gleich kommen.‘ Im gleichen Augenblick wird im Treppenhaus nach Esther gerufen. ,Es ist Besuch für Sie da, Madame.‘ Esther geht hinaus. François blickt durch das Fenster und sieht einen Bus voller Frauen, die von Deutschen bewacht werden. Er rennt zur Türe und schreit: ,Geh nicht hin, Esther!‘ Aber es ist zu spät. Esther begibt sich ins Treppenhaus und sieht zwei Deutsche, die auf sie warten. Sie scheint zurückzuweichen, fragt schließlich ganz natürlich: ,Sie wollen mich abholen?‘ Sie nicken. Sie öffnet die Türe und begibt sich in die Wohnung. Sie folgen ihr. ,Und das Kind?‘, fragen sie, ,wir nehmen es auch mit.‘ Esther: ,Ich hole es Ihnen.‘ Sie begibt sich in das Zimmer, holt das Kind aus der Wiege, geht zum Fenster, spricht ihm ganz leise zu und springt mit einem Satz in die Tiefe.“ Dornier „sieht nur noch, wie sich die Deutschen auf der Straße über einen Körper beugen, ihn aufheben und in den Bus tragen“. Eine Szene von solcher Radikalität ist einem aus der gesamten französischen Widerstandsliteratur nicht in Erinnerung. Es gibt keinen großen zeitgenössischen Text, der die Verfolgung der Juden in Frankreich so deutlich beim Namen nennt. Es ist zudem eine Schlüsselszene, die Dorniers Entschluss zum Widerstand ganz entscheidend motiviert – zumindest für die nichtjüdische Résistance waren der Antisemitismus und die Deportation kaum je der Grund zum bewaffneten Kampf gegen die Besatzer gewesen. Erst jetzt ist die Se-

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Jürg Altwegg | Sartres Résistance

quenz in Les Temps modernes (Nummer 609) erstmals veröffentlicht worden. Sie stammt aus einem Drehbuch-Entwurf von Jean-Paul Sartre.1 Mit dem Text wird sechzig Jahre später ein Gerücht lokalisierbar, das Sartre schon im besetzten Paris verfolgte und vom Times Literary Supplement noch in seinem Nachruf – Sartre starb 1980 – aufgewärmt wurde: Er habe seine Entlassung aus deutscher Kriegsgefangenschaft vermutlich dem Faschisten Drieu la Rochelle zu verdanken. Als der Priester Marius Perrin diesen Artikel las, entschloss er sich, seine Aufzeichnungen aus dem Krieg zu veröffentlichen. Er war mit Sartre im Stalag und hatte ihm ein falsches Attest ausgestellt. Für Sartre waren die acht Monate Gefangenschaft die wichtigste existentielle Erfahrung seit seiner Geburt. Er wurde „gesellig und sogar glücklich“, schreibt seine Biographin Annie Cohen-Solal. Dass der Mensch zur Freiheit „verdammt“ sei, ist eine Quintessenz seiner Philosophie, des Existentialismus. 1954 hat Sartre seine Entlassung als Verlust der Geborgenheit, ja als Entwöhnung beschrieben: „Tag und Nacht fühlte ich die Wärme einer Schulter oder eines Schoßes. Das war nicht quälend: die anderen, das war nochmals ich. Am ersten Abend in Freiheit, ein Fremder in meiner Heimatstadt, öffnete ich die Tür eines Cafés: Ich empfand sogleich Angst – oder fast. Ich war verloren.“ Die wiedergefundene Freiheit als Vertreibung aus dem Paradies.

Mutiges Bekenntnis Résistance ist ein seltsamer Text, in dem sich Jean-Paul Sartres eigenes Verhalten auf zwiespältige Weise widerspiegelt. Er war versucht, sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen – und hat für das Kollaborations-Organ Comoedia geschrieben. Die Stelle als Lehrer, die er bekam, war dank dem Juden-Statut freigeworden. Seine Stücke wurden mit dem Segen der Zensur gespielt und seine Bücher von Gallimard, der keine jüdischen Autoren veröffentlichen durfte, publiziert. 1943 schloss er mit der Filmgesellschaft Pathé 1943 einen Vertrag, der es ihm erlaubte, seinen Beruf als Lehrer aufzugeben und eine Existenz als freier Schriftsteller ins Auge zu fassen. Für sie hat Sartre mehrere Drehbücher und Entwürfe geschrieben. Sie gelten als verschollen, könnten aber – und sei es aus Zufall – wie Résistance eines Tages durchaus noch auftauchen. Die von der Forschung noch immer nicht wirklich aufgearbeitete Tätigkeit für Pathé – die Produktionsfirma war in die kulturelle Propaganda eingespannt und produzierte die Pariser Wochenschau – ist der bedenklichste Punkt Sartres 1

Sartre: „Résistance“, in: Les Temps Modernes, Juni-August, Nr. 609, 2000, S. 3-22.

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umstrittenen Verhaltens in der Kriegszeit. Aber der mutige Text Résistance ist gleichzeitig Sartres eindeutigstes Bekenntnis zum Antinazismus. An ihm hätte die Zensur durchaus Anstoß genommen – nur schon das Abliefern eines derartigen Entwurfs an die Pathé-Verantwortlichen, in wessen Hände auch immer das Szenario gelangt war, bedeutete ein immenses Risiko. Es enthält neue Schlüssel zum Verständnis von Sartres Entwicklung im Krieg, der erst seine Politisierung bewirkte – noch das Abkommen von München hatte der Schriftsteller mit Sympathien für den Anarchismus begrüßt. Der Hass auf das – kollaborierende – Bürgertum schlägt in die Verherrlichung des – Widerstand leistenden – Proletariats um. Résistance lässt nachvollziehen, wie sich bei Sartre zwischen Ohnmacht und Ehrgeiz die Gefühle der Scham und der Schuld einstellten und verstärkten. Sie werden seine – stets antifaschistischen – Positionen des Nachkriegs bestimmen. Das zentrale Motiv der Filmskizze ist der Fehltritt – das Versagen, Zögern und späte Bewähren. Dornier wird zur Lagerleitung bestellt. Er soll drei Wochen Urlaub bekommen. Dornier ist der Schwiegersohn des Besitzers einer kollaborierenden Zeitung, in der er als Redakteur arbeitet. „Sein erster Fehler war gewiß die Tatsache, daß er die Tochter seines Chefs heiratete. Man muß spüren, daß er jetzt, in dem er sich (zur Heimkehr) überreden läßt, seinen zweiten Fehler begeht, der alles auslösen wird.“ Tatsächlich geht das Angebot auf eine Initiative seines Schwiegervaters zurück. Dornier unterschreibt ein Formular und verspricht, während des Heimaturlaubs nichts zu unternehmen, was Deutschland schaden könnte – Regieanweisung Sartres: „Der Zuschauer muß den Eindruck haben, daß dies Dorniers dritter Fehler ist.“ Der Autor unterstreicht seine Intention mit einem Kameraschwenk auf die Leiche eines beim Fluchtversuch erschossenen Häftlings.

Schuld und Sühne Mit den „Unheilbaren“ fährt Dornier im Zug zurück. Sie misstrauen ihm, halten ihn für einen Spitzel. Ausgerechnet der ebenfalls heimgeschickte „Verrückte“, der seinen Wahn nur gespielt hat, hat ihn „seit zwei Jahren beobachtet“: Dornier sei schon in Ordnung. Beim ersten Gang durch das heimische Rouen – sie entdecken die Zerstörungen durch die deutschen Bombenangriffe vom Juni 1940 – ist Dornier keineswegs zum Eintritt in die Résistance bereit: „Ich bin pazifistisch gesinnt, ich kann kein Blut sehen, und ich weiß nicht einmal, ob ich mutig bin.“ Er sieht den Aushang der Zeitung – sie beschreibt die Entlassung der Kranken als große humanistische Geste Hitlers. Bei den Eltern trifft er Esther. Die Deutschen verlangen von seinem Schwiegervater, dass Dornier als Gegenleistung

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Jürg Altwegg | Sartres Résistance

für die Freilassung über die Zeit in der Gefangenschaft schreibt. Es ist seine erste Verweigerung. Nach Esthers Sprung in den Tod schließt er sich der Widerstandsgruppe an. Wegen der Publikation des Artikels wird er ausgeschlossen – der Schwiegervater hat ihn der Sekretärin diktiert. Dornier erklärt der Gestapo, er sei keineswegs der Autor. Er wird verhaftet, kann aber fliehen. Mit zwei Bomben, die ihm sein Vater besorgt, kehrt er zurück. Nach dem Attentat verrät der Schwiegervater den Deutschen seinen Aufenthaltsort. Im Gefängnis wird er von den inhaftierten Widerstandskämpfern gemieden. Erst ein Riesenaufmarsch der Résistance vor dem Zuchthaus verschafft ihm Genugtuung: „François, alle haben Vertrauen in dich!“ schreit sein Vater. „François wird von einem Kameraden auf den Schultern heruntergetragen. Er sagt: ,Das sind meine Eltern und meine Frau. Ich habe einen Fehltritt begangen, aber jetzt habe ich meine Schuld beglichen.‘“ Das Drehbuch ist in dramaturgischer Hinsicht nicht sehr überzeugend und voller Klischees. Die Beschreibung der Widerstandsaktivitäten wirkt etwas weltfremd. Am Schluss erfährt man von der Erschießung Dorniers. Natürlich wurde das Szenario nicht verfilmt. Das Projekt blieb nach dem Krieg noch eine Zeitlang in der Diskussion. Sartre soll es sogar umgeschrieben haben: In der Nachkriegsversion schloss sich Dornier nicht der Résistance an – er wurde Kollaborateur. Die neue Version – Sartre wollte eine vertiefte Darstellung des Collabo-Milieus vorlegen – bekam in Anspielung an seinen Romanzyklus Die Wege der Freiheit den Titel Les mauvais chemins (Der falsche Weg) und war als Fortsetzung der Kindheit eines Chefs gedacht. Die Temps modernes drucken Résistance zusammen mit einem geharnischten Aufsatz, der Sartre gegen politische Vorwürfe zu verteidigen sucht, und Zitaten aus einem Aufsatz, den er – ohne Namensangabe – für die im Untergrund erscheinenden Lettres françaises (von Louis Aragon) schrieb. Der Grund für die Krise des französischen Films, liest man da, seien „der Krieg und die Ideologie der Besatzer und ihrer Lakaien, die ihn zu ersticken versuchen. […] Die Befreiung des Films wird mit der Befreiung des Landes einhergehen.“2 Zu ihr hat Sartre mit Résistance ganz gewiss keinen Beitrag geleistet. Dennoch erstaunt die verschämte Lieblosigkeit, mit der seine engste Umgebung diesen Text – den man durchaus als Rehabilitierung lesen kann – behandelt. Dazu gehört offensichtlich auch die systematische Verzögerung und Beschränkung seiner Verbreitung. Seit 1994 liegt er vor. Er wurde im Nachlass von Claude Accursi entdeckt: Mit ihm hatte Sartre im Krieg über Projekte diskutiert. Als Accursis Sohn das Script fand, war das Fernsehen an einer Verfilmung interessiert. JeanClaude Carrière sollte Regie führen, namhafte Schauspieler waren zur Mitarbeit 2

Sartre: „Résistance“, in: Les Temps Modernes, Juni-August, Nr. 609, 2000, S. 3.

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Jürg Altwegg | Sartres Résistance

bereit. Doch Sartres Erbin Arlette Elkaïm-Sartre verweigerte ihre Zustimmung. So wie sie es der Frankfurter Allgemeinen Zeitung untersagte, den aufschlussreichen und wichtigen Text in einer vollständigen Übersetzung, die der deutsche Sartre-Herausgeber Vincent von Wroblewsky erstellt hätte, zu publizieren.

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Sandra Nuy

Bildhafte und andere Gedankensprünge. Zweimal Die Schmutzigen Hände auf der Bühne I. Der Probenbericht ist alles andere als euphorisch: „etwas deprimierend“ findet Simone de Beauvoir noch im März 1948 die Vorbereitungen zur Uraufführung von Les mains sales.1 Die Schauspieler seien nicht so gut, der Jüngere sei wunderbar, doch der Ältere zwar bedeutend, aber „zu dumm, um wirklich gut zu spielen […]; der arme Cocteau weiß nicht, was er mit ihm machen soll.“2 Textänderungen, Improvisationen und Umbesetzungen sorgten bis zur Generalprobe für eine angespannte Atmosphäre. Nach der Premiere am 2. April 1948 im Pariser Théâtre Antoine konnte Beauvoir jedoch erleichtert nach Amerika vermelden: „Es war dann ein echter Triumph, alle meinen, es sei das beste Stück Sartres und seit langem die beste Inszenierung in Frankreich.“3 Zuvor schon hatte sie Nelson Algren pointiert den Inhalt skizziert: „Es handelt sich um ein blutiges, düsteres, aber sehr ironisches und humorvolles Drama um einen politischen Mord.“4 Die Geschichte dieser Tötung, mit der sich die kommunistische Partei eines Kaders entledigen will, der für ein Bündnis mit anderen, ehemals verfeindeten Parteien eintritt, ist inspiriert durch die Ermordung Trotzkis. In Der Lauf der Dinge berichtet Simone de Beauvoir: Ich hatte in New York einen ehemaligen Sekretär Trotzkis kennengelernt, der mir erzählte, daß es dem Mörder gelungen war, sich gleichfalls als Sekretär engagieren zu lassen, um recht lange an der Seite seines Opfers in einem streng bewachten Hause zu wohnen. Sartres Phantasie war durch diese Situation – hinter verschlossenen Türen – angeregt worden. Er erfand die Figur eines aus der Bourgeoisie stammenden jungen Kommunisten, der durch eine Tat seine Herkunft auslöschen will, dem es aber nicht gelingt, auch nicht um den 1

Beauvoir: Eine transatlantische Liebe, S. 260. (Brief vom 06./07.03.1948)

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Ebd. Die Rede ist von François Périer in der Rolle Hugos und André Luguet als Hoederer. Jean Cocteau führte die Regie in Zusammenarbeit mit Pierre Valde.

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Brief vom 04.04.1948. Ebd., S. 273.

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Brief vom 6./7.3.1948. Ebd., S. 260.

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Sandra Nuy | Bildhafte und andere Gedankensprünge

Preis eines Mordes, sich seiner Subjektivität zu entledigen. Ihm stellte er einen völlig seinen Zielen verschworenen Kämpfer entgegen.5 Erzählt wird der Weg hin zur Erschießung Hoederers durch Hugo in einer langen Rückblende; Jean-Paul Sartre arbeitet hier also mit einer dem Film entlehnten Dramaturgie. Die Darstellungstechnik hatte er bereits in seinem Filmszenario L’Engrénage (Im Räderwerk)6 genutzt, doch im Gegensatz zu der zeitlichen Diskontinuität, die den Drehbuch-Entwurf durch den raschen Wechsel von erzählter Gegenwart und Rückblenden auszeichnet, wählt Sartre für die Bühne eine lineare und zugleich konventionelle Form. Die schmutzigen Hände gliedern sich in sieben Bilder (= Akte), wobei die Bilder 1 und 7 den Rahmen bilden, während die Binnenhandlung, sprich die Rückblende, recht streng dem pyramidalen Schema des fünfaktigen Dramas folgt. Diese geschlossene Form geht einher mit einer Symmetrie im Hinblick auf die Abfolge der Schauplätze und die thematische Strukturierung der Szenen. Denn es geht nicht allein um die Diskussion unterschiedlicher Philosophien politischen Handelns – „Wieder einmal die Konfrontation der Moral mit der Praxis“7 - und um die Skrupel bzw. ihre Überwindung bei der Ausführung des Mordes, vielmehr erzählt ein zweiter Handlungsstrang die Dreiecksgeschichte zwischen Hugo, seiner Frau Jessica und Hoederer. Das private Drama und die politische Auseinandersetzung haben einen gemeinsamen Kulminationspunkt: den Mord. Letztlich ist es Eifersucht, die Hugo dazu bringt, Hoederer zu erschießen, d.h. sein Motiv ist ein anderes als ein im Sinne der Partei politisch korrektes, notwendiges Handeln. Doch dies nur am Rande, interessant ist hier, dass Sartre sich erneut einer filmischen Erzählweise bedient, wenn er die beiden Handlungsstränge in Form einer Parallelmontage verknüpft. In Die schmutzigen Hände lassen sich jedoch nicht allein intermediale Referenzen nachweisen, hinzu kommt eine theatrale Selbstreflexivität durch Erscheinungsformen des Spiels im Spiel. Sartre evoziert so einen 5

Beauvoir: Der Lauf der Dinge, S. 150.

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Diesem im Winter 1946 geschriebenen und 1948 veröffentlichten Szenario war zunächst der Titel Les mains sales zugedacht; Sartre änderte seine Meinung jedoch und verwarf somit frühere Überlegen das Theaterstück Les biens des ce monde oder Crime passionnel (späterer Titel der englischen Übersetzung) oder Les gants rouges (späterer Titel der Broadway-Aufführung) zu nennen. Wie groß die Unsicherheit hinsichtlich eines Titel war, bezeugt eine Bemerkung Simone de Beauvoirs, wonach ihr – eher trivialer – Vorschlag Ende gut, alles gut „akzeptiert wurde“. Warum es dann doch zu dem Titel Les maines sales kam, berichtet sie allerdings nicht. Vgl. Brief vom 06./07.03.1948 in Beauvoir: Eine transatlantische Liebe. S. 260.

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Beauvoir: Der Lauf der Dinge, S. 150.

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Antiillusionismus, in dem er nicht nur die Illusion des Schauspiels auf der Bühne, sondern gleichzeitig die Illusion über eine eindeutige Wirklichkeit des Lebens selbst zerstört. In der Irrealität des Schauspiels wird die Scheinwelt des Menschen, in der Wahrheit und Fiktion ineinanderfließen, reflektiert.8 Anknüpfend an die filmische Strukturvorgabe ebenso wie an das Spiel im Spiel wird im folgenden das intermediale Erzählen auf dem Theater untersucht. Es wird darum gehen, beispielhaft theatral-filmische, hybride Inszenierungsstrategien im deutschen Theater der Gegenwart zu analysieren. Aufführungs- und Inszenierungsanalysen stehen vor dem Problem, dass sich das Theater durch die Flüchtigkeit und Unwiederholbarkeit des Augenblicks auszeichnet. Herangezogen wird daher in der Hauptsache eine Inszenierung, die durch das Fernsehen aufgezeichnet wurde9 und ergo wiederholbar für die Analyse zugänglich gemacht werden kann. Zugleich lässt sich der Medienwechsel vom Theater ins Fernsehen und eine damit verbundene weitere, intermediale Erzählstrategie thematisieren. Die Rede ist von der Produktion Schmutzige Hände (!) der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Regie führte Frank Castorf. Die Inszenierung hatte am 11. März 1998 Premiere und hat sich acht Jahre im Repertoire gehalten. Zum 26. März 2006 allerdings wurde die Dernière angekündigt. Vergleichend10 wird eine Produktion des Schauspiels Köln aus der Spielzeit 2005/6 in der Regie von Albrecht Hirche herangezogen (Premiere: 14.01.2006). Wenngleich hier keine Fernsehaufzeichnung vorliegt, so kann doch anhand von Video- und Fotomaterial, Gesprächen mit künstlerisch Verantwortlichen und eigener Anschauung eine Analyse vorgenommen werden.11 Albrecht Hirche arrangiert das Stück als multimediale Performance, in der das genuin Theatrale die Leitstimme übernimmt. Hirche arbeitet mit Film- und

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Winter: „Spiel und Rolle“, S. 39.

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Während des Berliner Theatertreffens 1999 durch das ZDF/3sat. Die Fernsehregie hatte Peter Schönhofer.

10 Deutschlandweit standen Die schmutzigen Hände in der Spielzeit 2005/2006 in Berlin (Volksbühne) und an den Häusern in Köln (Schauspiel), Frankfurt (Schauspiel) und Hamburg (Thalia-Theater) auf dem Spielplan, in der Spielzeit 2006/2007 gefolgt vom Düsseldorfer Schauspielhaus. 11 An dieser Stelle möchte ich mich herzlich für die Unterstützung meiner Arbeit durch das Schauspiel Köln bedanken; namentlich bei Jörg Vorhaben (Dramaturgie) und Silke Bernd (Pressestelle). Auch der Dramaturgie der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gebührt mein Dank, vor allem Götz Leineweber, der mir einen überaus umfangreichen Pressespiegel hat zukommen lassen.

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Schriftprojektionen, mit Audioeffekten und vor allem mit Musik. Dennoch bleibt das Theater stets als Theater präsent. Frank Castorf hingegen reichert das Bühnengeschehen mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen auf den Film und die Filmgeschichte an, so dass seine Inszenierung in einem hohen Maße filmisch geprägt ist, ohne jedoch eine mediale Apparatur auf die Bühne zu bringen, was in späteren VolksbühnenProduktionen zu einem dominanten Markenzeichen werden sollte.

II. Intermediale Inszenierungen wie die genannten sind Teil einer Theatergeschichte des Films: Tempo und Lichtwirkung des Films übernahmen Regisseure wie Leopold Jessner bereits zu Zeiten der Weimarer Republik für ihre Theaterarbeiten. Erwin Piscator integrierte 1924 – nach Meyerhold in der Sowjetunion – zum ersten Mal „Lichtbildprojektionen“ in eine deutsche Bühneninszenierung.12 Es ist sicher mehr als eine Fußnote der Theatergeschichte, dass sich dies an eben jener Berliner Volksbühne ereignete, deren Intendanz seit 1992 bei Frank Castorf liegt.13 Während Piscators Arbeiten im Berlin der Weimarer Republik den Beginn der Filmprojektion auf der Bühne markieren, hat Castorf die Bühne zur Jahrtausendwende dergestalt in ein mediales Spiegelkabinett verwandelt, dass es, pointiert formuliert, wie ein anachronistisches Wunder anmutete, wenn man in seinen Arbeiten überhaupt noch einen Schauspieler leibhaftig zu Gesicht bekam. Castorfs Inszenierungen bilden den Höhepunkt einer Entwicklung, die sich so beschreiben lässt, dass sich Theaterregisseure14 in der Wahl ihrer Mittel Sehgewohnheiten angepasst haben, die durch Film, Fernsehen und Videoclip geprägt worden sind. Die Adaption von Prinzipien der Montage und der Ellipse schuf einen filmischen Erzählstil für die Bühne, der Mitte bis Ende der 1990er Jahre einen regelrechten Boom erlebte, sei es als Kopie medialer Inszenierungsstrategien, in der Präsenz des medialen Apparates auf der Bühne oder in der Stoffwahl (Umsetzung von Drehbüchern). Das Theater begann in sei-

12 Vgl. Piscator: Das politische Theater, S. 62. 13 1913/1914 wurde die Volksbühne am damaligen Bülow-Platz nach Entwürfen von Oskar Kaufmann gebaut, im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus zerstört und 1952-1954 wieder aufgebaut. 14 Die Beziehung von Tanz/Performance und Medien wird bei diesen Überlegungen ausgeklammert; die künstlerische Auseinandersetzung mit Medien verläuft in diesen Sparten wesentlich avancierter und avantgardistischer als im Sprechtheater, um das es hier geht.

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nen räumlichen Nähe-Distanz-Relationen die Regeln der découpage classique zu imitieren: Nicht immer so offenkundig wie durch das Abfilmen der Schauspieler und ihre medial verdoppelte Anwesenheit, sondern auch subtil durch den Einsatz von Licht und Elementen des Bühnenbildes, die Einstellungsgrößen und Blickperspektiven der Kamera nachahmen. Nicht nur, dass sich damit die alte Theaterfrage nach Sein und Schein, nach Person und Rolle, Kunst und Leben vervielfacht, die Unterwanderung von theatraler Ästhetik und Dramaturgie durch die Medien der Audiovision wurde und wird von der Frage nach Realismus und Authentizität bestimmt. In der Reaktion auf eine Wirklichkeit, in der eine immer schneller werdende Wahrnehmung dominant über Bildschirme funktioniert, besteht eine für die Gegenwart adäquate Theaterästhetik, so schien es zur Jahrtausendwende, in der Kopie von Dramaturgien audiovisueller Erzählmaschinen. Der Höhepunkt dieser Filmisierung des Theaters scheint indes überschritten, selbst Castorf arbeitet durchaus auch wieder ohne den Einsatz von Medien, so etwa in seiner Version von Andersen Schneekönigin (Spielzeit 2004/5). Wenn Sergej Eisenstein bereits die sich verändernden Formtendenzen in der Literatur des 19. Jahrhunderts als Ästhetik des filmischen Sehens beschrieben hat, gilt dies umso mehr für die jüngere Vergangenheit. Zu beobachten ist, dass sich die Organisationsformen auch des dramatischen Erzählens an narrativen Mustern des Films orientieren. Die Spuren eines filmischen Schreibens für die Bühne finden sich am deutlichsten in der Art, wie Auftritte, Szenen und Akte miteinander verbunden werden: im Prinzip der Montage. Dass dies nicht nur für die Generation der Gegenwartsdramatiker gilt, die mit Film und Fernsehen großgeworden sind, sondern auch für einen Kinogänger und Schriftsteller wie Jean-Paul Sartre, ist bereits skizziert worden. Bleibt zu ergänzen, dass sich auch in der Handlung von Les mains sales ein filmisches Moment ablesen lässt: Die Ausführung des Mordplans kann man in Verbindung mit der Dreigeschichtsgeschichte auch als genregemäßen Polit-Krimi des film noir begreifen. Wenn die dramatische Vorlage sich formal dem Film annähert, so liegen genuin filmische Adaptionen auf der Hand – Les mains sales ist bislang dreimal verfilmt worden. 1951 kam ein französischer Film in der Regie von Fernand Rivers in die Kinos; Sartre selbst schrieb die Dialoge, war aber unzufrieden mit dem Ergebnis: Sartre was deeply unhappy with the film (which opened in Paris on 29 August 1951), chiefly because it was viewed by the PCF as a renewed and persistent attack on the left at a crucial moment of the Cold War, an he effectivevly disowned it, with the most apposite of metaphors –

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‚Je m’en lave les mains‘ (Paris-Presse-L’Intransigeant, 7 June 1951) […].15 1978 folgte eine italienische Fernsehfassung – Le Mani sporche – mit einem ‚außergewöhnlichen’ Marcello Mastroianni als Hoederer in der Regie von Elio Petri, dieser wurde aber aus ‚Copyright-Gründen‘ nie außerhalb Italiens gezeigt, heißt es zumindest in dem Wikipedia-Eintrag zu Petri.16 Ebenfalls nur einem nationalen Rezipientenkreis zugänglich war die Adaption von Aki Kaurismäki, der das Stück unter dem Titel Likaiset kädet 1989 ins finnische Fernsehen brachte. Eine Kaurismäki-Fanpage schreibt dazu folgendes: „A dryish adaptation of Sartre’s play, produced for Finnish Television. The Kaurismäki regulars in the cast read through their lines with little inspiration. Unexpressive camerawork and monotonous editing. Clearly a minor work.“17

III. Im Gegensatz dazu gehört die Volksbühnen-Inszenierung Frank Castorfs zu den ‚bemerkenswerten Aufführungen‘, wie das satzungsgemäße Auswahlkriterium für das Berliner Theatertreffen heißt. Schmutzige Hände wurde 1999 auf der sogenannten Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters gezeigt (und aufgezeichnet). Wenn Nikolaus Merck in Theater der Zeit über die Inszenierung schreibt, Castorf nutze die „Technik des bildhaften Gedankensprungs“18, so ist damit nicht nur die filmische Grundhaltung, sondern auch die politische Aktualisierung im Hinblick auf den Bosnienkrieg gemeint. Bei Castorf wird Sartres Stück u.a. mit Gedichten des seit 1996 wegen schwerster Kriegsverbrechen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesuchten serbischen Politikers Radovan Karadžić collagiert.19 „Ob dahinter intellektueller Mut, Zynis-

15 O'Donohoe: „Sartre’s Theatre“, S. 126, Fn. 91. 16 http://en.wikipedia.org/wiki/Elio_Petri, 24.8.06.: „In 1978 [...] Petri directed for the television a remarkable version of Sartre's play Dirty Hands, in which, once again, Marcello Mastroianni gave an exceptional performance. For the reason of copyright the film has not been released outside Italy.“ 17 Fanpage von Pekka Taskinen & Kimmo Sääskilahti: http://www.saunalahti.fi/ ~solaris/kauris/likaiset.html, 16.8.06. 18 Merck: „Willkommen zurück im Politischen“, S. 5. 19 Weitere Fremdtexte sind von Ratko Mladic (ebenfalls vom Internationalen Gerichtshof gesucht) und Senada Marjanović: Herzschmerzen. Gespräche vom Krieg mit Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien.

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mus, Blödheit oder Sensationslust steckt, lässt sich am Ende kaum mehr ausmachen“20, kommentierte dies die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frank Castorf, 1951 geboren, hat sich spätestens mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einen eigenen ästhetischen Kosmos geschaffen, dessen Impulse für die (internationale) Theaterszene nicht hoch genug einzuschätzen sind, was sich unter anderem daran ablesen lässt, dass die Zahl seiner Epigonen Legion ist. Das Arsenal der Castorfschen Mittel hat Amely Haag, Castorfs langjährige Mitarbeiterin und auch Regie-Assistentin bei Schmutzige Hände, überaus treffend katalogisiert und sei daher hier zur Gänze zitiert: Ständige Irritation der Erwartungen anhand von Brüchen, häufiger Wechsel und somit Kontrastpole gegensätzlicher und zeitweise simultan erzählter Stimmungen, wie zum Beispiel Momente der Aggression, der Trauer, der Leere, der Brutalität, der Verspieltheit, der Melancholie und des Chaos. Hohes Spieltempo und zeitweiliger Stillstand andererseits, woraus ein Rhythmus aus Reduktion und Redundanz erwächst. Fragmentarisch, assoziativ und unzusammenhängend Erscheinendes, so dass sich zwischen Text und Aktion oftmals schwer eine Verbindung herstellen lässt. Extreme Übertreibungen und Trivialität auf vielen Ebenen der Inszenierung wie in den Kostümen, der Sprache, der Stimmgebung und dem körperlichen Ausdruck. Groteske, slapstickartige und absurde Szenen, Eigendynamik, Dezentralisierung von Bedeutung und Sinnpausen. Einbeziehung von Medienrealität. Temporeiche Wechsel der Spielart der Schauspieler sowie ihre intensive bis an die Grenzen reichende Körper- und Stimmarbeit. Sprache als Klanginstrument und nicht als Bedeutungsübermittler. Tanz als wesentliches Ausdrucksmittel. Rollenwechsel und verwechselbar ähnliche Rollen und das sich durch die gesamte Inszenierung ziehende Element der Demontierung des Bühnenbildes, der Handlung und der Figuren.21 Vor diesem Hintergrund waren nicht wenige Theaterkritiker überrascht, dass Schmutzige Hände so klassisch begann, wie ein Theaterabend nur beginnen kann, nämlich vor einem geschlossenen, roten Samtvorhang. Hugo (Matthias Matschke) und Olga (Silvia Rieger) posieren in Abendgarderobe, Olga im Pelz mit roter Nelke im Knopfloch. Beider ausgestellter Sprachduktus lässt eine emotionale Beteiligung der Figuren nicht erkennen. So lässt sich also sagen:

20 Busch: „Der Partei, der Partei wird immer schlecht“. 21 Haag: Aufführungsanalyse der Inszenierung von Frank Castorfs „Raststätte oder Sie machens alle“. Zit. nach: Detje: Castorf. Provokation aus Prinzip, S. 229f.

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Kontrastiv zum Vorhang als typischem Accessoire des Illusionstheaters wird im Stil Brechtscher Verfremdung der Handlungsrahmen abgesteckt. Nach der Zeitangabe „März 1943“, womit die Rückblende markiert wird, setzt Klaviermusik ein, die Beiden blicken eine Weile ratlos und suchend nach oben, schließlich öffnet sich der Vorhang, Louis (Sir Henry) sitzt als Pianist auf einer schiefen Ebene. Die Szenerie ist in rotes Licht getaucht. Die Klaviermusik liegt unter den Dialogen, später tanzen Hugo und Olga eine Art Volkstanz, ehe Hugo dann durch einen überdimensionalen Kochtopf (!) in die Tiefe verschwindet. Bühnenbildner Hartmut Meyer hat die Drehbühne22 der Volksbühne in vier Spielbereiche (ein Gewächshaus mit Duschgelegenheit, ein Schlafzimmer, Hoederers Büro, die Schräge mit Klavier) unterteilt, die durch Kanäle, Röhren und Türen miteinander verbunden sind. Schon zu Beginn wird eingeführt, was sich als dominantes inszenatorisches Mittel herausstellen soll, dass nämlich die Schauspieler die Musik wahrnehmen, auf sie reagieren und gesanglich und tänzerisch interagieren. Ebenso rasch wird deutlich, dass hier der Soundtrack eines Films zitiert wird: die Musik von Goran Bregovic und den Tzigane Brass Orchestras aus Emir Kusturicas Film Underground (1995). Auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, erzählt Underground in Form einer tragikomischen Farce rund 50 Jahre jugoslawischer Geschichte. Im Belgrad des Jahres 1941 steigen die beiden Freunde Marko und Petar in den Waffen- und Schwarzmarkthandel ein. Gebaut werden die Waffen von Untergrundkämpfern, die in einem unterirdischen Bunkerlabyrinth leben. Auch nach 1945 setzt Marko das äußerst lukrative Geschäft fort, versäumt es allerdings, die Widerständler über das Ende des Zweiten Weltkrieges zu informieren. Stattdessen lässt er sie mittels inszenierter Radioberichte in dem Glauben, die Kampfhandlungen dauerten an. Durch Zufall geraten 1961 einige der Partisanen ans Tageslicht, allerdings glauben sie sofort, dass die Nationalsozialisten noch an der Macht sind – sie geraten nämlich in die Dreharbeiten eines Films, der die deutsche Besatzung schildert. Erst 1991 – mitten im Balkankrieg – findet das Leben im Untergrund ein Ende.

22 Der Theaterbau ist zugleich wesentliches Kriterium für die Gestaltung der Produktionen, so sagte Castorf über sein 2.200-Plätze-Haus: „Es ist heute noch ein ganz schwer zu bespielendes Monstrum: die Vorbühne, der schmale Portalausschnitt, dann eine der größten Drehbühnen Europas, dann die Tiefe; das bedeutet, daß man da nicht einfach ein Konversationstheater bedienen kann [...]. Die Volksbühne ist zur Konzeption verpflichtet.“ Zit. nach: „Die Vier von der Volksbühne. Sieben Jahre Volksbühne – ein Podiumsgespräch mit Frank Castorf, Hans Kresnik, Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief“, S. 16.

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Kusturicas Film bildet die ästhetische Folie für Castorfs Inszenierung: „Kusturicas Affe23 taucht auf, das Tunnelsystem, das die Bilder auf der Drehbühne verbindet, stammt aus dem Film, vor allem aber das Hauptmotiv: die Verwechselung von Fiktion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart.“24 Castorf hat dies nie geleugnet, im Gegenteil: „Wenn Sie hören wollen, dass ich geklaut habe, meinetwegen“, zitiert ihn die Münstersche Zeitung.25 Auf den Film geht auch die Idee zurück, die Handlung quasi bis in die 1990er Jahre zu verlängern, wenn Henry Hübchen als Hoederer optisch durch seine Fönfrisur, dann aber vor allem durch die eingefügten Gedichte, mit Karadžić gleichgesetzt wird. Kostüm und Maske Hübchens – weißer Nadelstreifenanzug mit bunt gemusterter Krawatte, Dreitagebart – erinnerten darüber hinaus verschiedene Theaterkritiker an die Figur Snàporaz aus Fellinis Stadt der Frauen, die Castorf zwei Jahre zuvor in einer Bühnenfassung inszeniert hatte, mit Hübchen als Snàporaz. Auch die Bühne zitiere Stadt der Frauen mit „einer langen, roten Rutsche, die sich einer Kurve um eine (!) großes Bett legt“, so die Frankfurter Rundschau.26 Überhaupt war das Assoziationsfeld der Presse ein ausgeprägt filmisches – Schmutzige Hände wurde als film noir der Bühne rezipiert. Theater heute erkannte in dem Gewächshaus The Big Sleep und bemerkte weiter „BodyGuards, die wie aus einem Film der Marx-Brothers geklettert scheinen, oder auch aus ‚Clockwork Orange’, lustvoll, verspielt und grausam“27. Auch die Blues Brothers wurden herangezogen, um den Lesern zu verdeutlichen, was sich da – changierend zwischen Melodramatik, Clownerei und Pop – auf der Bühne ereignet hat.28 Der verärgerte C. Bernd Sucher glaubte sich gar „im falschen Film“ und konstatierte: „Sartre machte sich das Denken schwer; Castorf vereinfacht. Aus dem Diskurs wird ein Plakat. Jeder einigermaßen wache Zuschauer kapiert rasch, wohin die zweieinhalbstündige Reise geht, kennt vor dem Start das Ziel.“29 Von Anfang an bekannt ist der Mord an Hoederer, doch den verweigert Castorf seinem Hugo in gewisser Weise. An die Stelle des einen tödlichen Schusses setzt Castorf nämlich eine Schießerei aller gegen alle, die allein Hugo 23 Eine Anekdote am Rande: Während der Proben hat der Affe – ein Rhesusaffe namens Fridolin – die Schauspielerin Kathrin Angerer in die Hand gebissen, so dass die geplante Premiere um gut eine Woche verschoben werden musste. 24 Burckhardt: „Knarren, Clowns und Karadžić“, S. 16 25 Castorf, zit. nach: „Revolution unter einem roten Stern“ 26 Dermutz: Auf Karadzics roter Rutsche. In: Frankfurter Rundschau. 13.3.1998. 27 Burckhardt: „Knarren, Clowns und Karadžić“, S. 16. 28 Vgl. Kohse: „Willkommen im Privaten“. 29 Sucher: „Vom Gewäsch wird keiner sauber“.

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wundersamerweise überlebt. Wer will, mag auch hier eine Parallele zu The Big Sleep sehen, wo die Gangster versehentlich ihren Boss erschießen. Hoederer jedoch entpuppt sich als Widergänger und hat vor dem schon geschlossenen Vorhang einen allerletzten Auftritt – als Rezitator eines Gedichts von Radovan Karadžić.

IV. Das Bild vor dem ersten Bild besteht in Albrecht Hirches Kölner Inszenierung aus Schrift. Der Eiserne Vorhang (Feuerschutzvorhang) ist geschlossen und dient als dunkle Leinwand. „Schmutz“ steht am Beginn einer Reihe von projizierten Wörtern, die weiß auf schwarz Substantive visualisieren, während eine Stimme aus dem Off einen französischen Text verliest, nämlich einen Ausschnitt aus Der Ekel. (Und „Ekel“ ist auch das letzte Wort, ehe sich ‚der Eiserne’ hebt.) In diesem Prolog wird das Publikum mit einem medialen Zitat konfrontiert, das wahrscheinlich nur eine Minderheit in seinen originalen Kontext einordnen kann, handelt es sich doch um ein Voice-Over aus dem Filmporträt Sartre über Sartre30. Dieser visuell-akustische Auftakt ist kein herkömmlicher ‚Regie-Einfall‘, sondern lässt sich konkret auf die Inszenierungsvorbereitung des Ensembles zurückführen, waren doch die gemeinsame Sichtung besagten Porträts und die kollektive Rezeption weiterer Filme Bestandteil der Proben.31 Albrecht Hirche ist bekannt für eine stark am Probenprozess orientierte Arbeitsweise, was nichts anderes meint, als dass eine Inszenierung weniger durch eine konzeptionelle Kopfgeburt, sondern vielmehr auf sinnliche Art und Weise in gemeinsamer Anstrengung aller Beteiligten entsteht, vor allem also die Schauspieler stärker eingebunden werden und sie nicht allein als Erfüllungsgehilfen eines Regiekonzepts agieren. Auch die Strichfassung ist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Michael Altmann entstanden, der die Rolle des Hoederer verkörpert hat. Nebenbei: Die zugleich vorgenommenen sprachlichen Modernisierungen („Ich hab’ so’n Hals“) sind nicht immer literarisch wertvoll und in ihrer Notwendigkeit zweifelhaft. Entsprechend kritisch hat die Kölner Presse darauf reagiert, die allerdings mehrheitlich die Besetzung

30 Sartre über Sartre ist ein Film von Alexandre Astruc und Michel Contat. (Frankreich, 1976.) Zuletzt auf arte ausgestrahlt am 10.06.2005. – Es ist allerdings nicht Sartre, der den eingespielten Text spricht. 31 Bemerkungen dieser Art beruhen auf einem Gespräch mit dem Dramaturgen Jörg Vorhaben vom 12.06.2006.

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lobte. An der Seite Altmanns war Markus Scheumann als Hugo zu sehen, die Jessica war mit Bettina Lamprecht besetzt. Wenn schon die Probe als Gemeinschaftsprojekt einen so hohen Stellenwert in der künstlerischen Aneignung eines Stoffes bzw. eines Stücks hat, nimmt es nicht Wunder, dass das Theater in seinen Eigengesetzlichkeiten ein weiteres Grundelement in Hirches Arbeiten – und so auch in Die schmutzigen Hände – darstellt. Das Spiel in seinen verschiedenen Schattierungen bildet den Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung. Dadurch rücken die Fragen nach einer möglichen politischen Moral von Attentaten in den Hintergrund, stattdessen nimmt Hirche die Dreiecksgeschichte und den sich darin abzeichnenden Generationenkonflikt zum Ausgangspunkt. Albrecht Hirche (Jahrgang 1959) arbeitete als Gast am Schauspiel Köln. Die schmutzigen Hände war seine dritte Inszenierung in Köln – und ein schon länger gehegter Wunsch. Er ist einer der wenigen Regisseure, die den Wechsel zwischen Stadt- und Staatstheatern und der sogenannten Freien Szene problemlos bewältigen. Zumeist arbeitet er in fester Konstellation mit dem Bühnenbildner Alain Rappaport und der Kostümbildnerin Kathrin Krumbein. Während Rappaport auch für Die schmutzigen Hände die Bühne gebaut hat, zeichnete Hirche diesmal selbst für die Kostüme verantwortlich. Die Inszenierung bot dem Publikum Assoziationsfelder, deren Ränder durch verschiedene Medien markiert wurden. Da wäre zunächst die schon erwähnte Schrift. Ihr kommt eine strukturierende Funktion zu, so wird etwa zu Beginn des Zweiten Bildes die Zeitangabe „Zwei Jahre früher“ eingeblendet. Auch der politische Diskurs wird durch Schriftlichkeit zugleich verkürzt und verdoppelt: „Positionen“ lautet die projizierte Überschrift zu dem Auftritt von Karsky und Prinz Paul (4. Bild, 4. Szene); „Vernichtung. Vertrauen. Parole. Manöver“ sind die folgenden Schlagwörter, welche die weitere Unterredung gliedern, auf der diejenige politische Allianz geschmiedet wird, deretwegen Hoederer von der Partei zum Tode verurteilt worden ist. Während die Schrift dem Intellekt und der Abstraktion zugeordnet ist, repräsentieren Fotografien die Vergangenheit. Dies ist schon bei Sartre so angelegt – Hugo hat zwölf Fotos von sich selbst im Gepäck (3. Bild, 1. Szene) -, bekommt aber in der Kölner Produktion noch einen zusätzlichen erinnernden Charakter, der sich in seiner Gänze nur sehr aufmerksamen Zuschauern erschließt, welche das Programmheft sorgfältig lesen bzw. ansehen. Im Ersten Bild sprechen Hugo und Olga über die Fotos an der Wand von Olgas Schlafzimmer, das eine zeigt Hugo und über das andere sagt er: „Vor allem über das zweite Foto habe ich mir den Kopf zerbrochen, ich wußte nicht mehr, wer es war“ (1. Bild, 1.

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Szene, S. 17)32. Was auf der Bühne für das Publikum nicht unbedingt erkennbar oder einsehbar ist, zeigt ein Foto im Programmheft deutlich: Das eine Bild zeigt Markus Scheumann im Porträt, das andere ist eine Aufnahme von Claudia Fenner. Claudia Fenner war als Schauspielerin am Kölner Schauspielhaus engagiert, verstarb aber im Juli 2005. In beiden Fällen handelt es sich um Pressefotos der Schauspieler, nicht um Fotos der Figuren, so dass deutlich wird, dass hier ein Ensemble einer toten Kollegin gedenkt. Olgas Haus ist der Schauplatz der Rahmenhandlung. Alain Rappaport hat dafür einen blutroten Kasten mit offener Rückwand und Bodenwellen entworfen, in dem sich drei Zimmer nebeneinander anordnen. Postiert im Orchestergraben wird diese Konstruktion zu Beginn von unten nach oben gefahren, während sich der Eiserne Vorhang hebt. Durch diese doppelte Bewegung der Bühnenmaschinerie wird ein Effekt wie bei einer filmischen Schiebeblende erzeugt. Da der Kasten ein begehbares Dach hat, ergibt sich die Möglichkeit, auf zwei Ebenen gleichzeitig zu spielen. Dies erinnert einerseits an die Simultanbühne, andererseits lässt sich das Split Screen-Verfahren assoziieren. Hugo, Olga und Louis stehen auf besagtem Dach, um die Explosion und den Brand zu beobachten, der durch eine von der Partei ausgeführte Sabotageaktion ausgelöst wurde (vgl. 2. Bild, 4. Szene). Während Hirche hier mit einer filmischen (Flammen-)Projektion arbeitet, kommt die später von Olga gezündete Bombe (4. Bild, 4. Szene) mit den Möglichkeiten der theatereigenen Nebelmaschine aus. Hirches filmische Erzählstrategien reichen jedoch noch weiter. HansChristoph Zimmermann schreibt – kritisch zwar, dies aber durchaus mit einiger Berechtigung – im Bonner Generalanzeiger: „Liebe, Alltag, Mord, alles ist ein Spiel, das man mit Posen aus Film und Musikvideo inszeniert. Eine diskutierenswerte Idee, doch Hirche peppt das zum nervösen Zappeltheater wie zur Generallinie auf.“33 Hier handelt es sich nicht um den Fall, dass ein Theaterkritiker sieht, was ihm seine Sehgewohnheiten diktieren, sondern tatsächlich um die kritische Würdigung einer intendierten Rezeption. Daher wäre zu ergänzen: Nicht nur die Pose war angestrebt, sondern auch das direkte Zitat, wie etwa aus der amerikanischen Krimiserie 24. Zur ‚Generallinie‘ gehört auch, dass die Musik als eine eigene Erzählinstanz fungiert; 12 Titel listet das Programmheft, oft handelt es sich um von 32 Wenig später wird die Situation aufgelöst: „Das Foto an der Wand. Es war deine Schwester.“ (1. Bild, 4. Szene). Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Sartre: Gesammelte Werke. Die schmutzigen Hände. Stück in sieben Bildern. Neuübersetzung von Eva Groepler, hier S. 21. Beide Inszenierungen arbeiten mit dieser Übersetzung. Künftig wird im Haupttext die jeweils zitierte Seitenzahl angeben. 33 Zimmermann: „Knallchargen im Zappeltheater“.

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den Schauspielern vorgetragene Songs, welche die Dialoge mal illustrieren, mal kommentieren. Die Musikeinspielungen sind stilistisch äußerst heterogen und reichen von Death of a Clown (The Kinks) über Maria Magdalena (Sandra) bis hin zu Der Leiermann (Franz Schubert), von Michael Altmann sinnfälligerweise kurz vor Hoederers Tod gesungen. Nicht wenige Kritiker waren durch die „musikalischen und tänzerischen Mätzchen“ ähnlich befremdet wie die Bild-Zeitung; diese, mitnichten als Freundin des gepflegten Konservationsstücks bekannt, monierte gar mit einem „Schade!“, dass die Inszenierung vor der Pause „eher Musical-Charakter“ gehabt hätte.34 Nach der Pause setzt Hirche seine Dekonstruktion der Zeichensysteme des Theaters bis hin zur völligen Entgrenzung des Theaterraums fort. Schon im Übergang zur Jetzt-Zeit der Erzählung wird das Theater als Theater decouvriert35, findet doch der Szenenwechsel auf offener Bühne statt: Mitarbeiterinnen der Abteilungen Maske und Kostüm treten auf und umsorgen Markus Scheumann; Michael Altmann, als Hoederer eben erschossen, steht auf und verlässt die Bühne. Bühnenarbeiter erledigen den Umbau. Zum Ende des Dialogs zwischen Olga und Hugo (7. Bild) verlässt Markus Scheumann die Bühne und hält Hugos Quasi-Monolog über sein Verhältnis zu Hoederer, der Partei und dem Mord mitten im Zuschauerraum. Er steigt dabei über die Stuhlreihen und balanciert von Armlehne zu Armlehne. Der Theaterraum wird endgültig entgrenzt. Mit dem Tod des Protagonisten ist die Welt des Spiels in der Wirklichkeit angekommen.

V. Die Thematisierung der Dialektik aus Spiel und Ernst ist der Bezugspunkt beider Inszenierungen und dabei keineswegs ein willkürliches Regiekonzept, sondern bereits von Sartre als Spiel im Spiel angelegt. Vor allem die Beziehung von Hugo und Jessica ist geprägt durch ein Als-ob-Handeln, eine unernste, spielerisch-testende Inszenierung ihrer gemeinsamen Wirklichkeit. „Ihre Beziehung realisiert sich als kindliche irreale Spielwelt.“36 Die Schauspieler haben in ihren Rollen Charaktere darzustellen, die selbst wiederum bewusst verschiedene emotionale Haltungen und soziale Rollen einnehmen und ein in ihren 34 Bischoff: „Plattes Politdrama voller Musical-Jux“. 35 Zuvor hatte es immer mal wieder Andeutungen gegeben, z.B. Kommentare von Bettina Lamprecht und Markus Scheumann an unsichtbare Bühnenarbeiter im Backstage-Bereich und/oder Kollegen: „Ich mach mich aber erst nach der Pause nackig“ oder „Kannste jetzt mal aufhören“. 36 Winter: Spiel und Rolle, S. 38.

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Alltag integriertes Theater spielen. Dabei sind sie Akteur und Zuschauer in einer Person. Zugleich hält mit den gemeinsamen Auftritten von Hugo und Jessica die Komik Einzug in das Stück, anders ausgedrückt manifestiert sich in diesen Szenen die eingangs zitierte Wertung Simone de Beauvoirs, Les mains sales sei ein ‚sehr ironisches und humorvolles Drama‘. Dies wird bereits in ihrer ersten gemeinsamen Szene deutlich (3. Bild, 1. Szene), in der 20 Mal vom Spiel die Rede ist; am komplexesten sind folgende Repliken: „HUGO: Jessica, versuche doch einmal ernst zu sein. JESSICA: Wieso sollte ich ernst sein? HUGO: Weil man nicht ständig spielen kann. JESSICA: Ernst sein liebe ich zwar nicht, aber ich weiß eine Lösung: Ich werde spielen ernst zu sein“ (S. 43) Sartre arbeitet in Les mains sales durchgängig mit dem Topos von der Welt als Bühne. Das Leben erscheint als Spiel und die Metaphorik des Rollenbegriffs verweist sowohl auf eine Fremdbestimmtheit – Rollenhandeln erfolgt immer als Erfüllung bestimmter Erwartungsmuster – als auch auf eine Identitätskrise Hugos: „Ich bin zuviel, ich habe keinen Ort, und ich störe jeden; niemand liebt mich, niemand vertraut mir (S. 125).“ Die dramenanalytische Betrachtung ließe sich fortsetzen, doch sollen hier Fragen nach der Inszenierungspraxis im Mittelpunkt stehen. In dieser Hinsicht ist es auffällig, dass beide Produktionen einen psychologischen Realismus der Figureninterpretation und illusionistische Konzepte verweigern und stattdessen auf die Bildwelten von Film und Fernsehen zurückgreifen bzw. autoreflexiv auf das Theater rekurrieren. In beiden Fällen wird das Zitat zur dominanten rhetorischen Figur. Es geht beiden Regisseuren nicht darum, auf der Bühne eine sozialpsychologische Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens darzustellen, vielmehr wird ein medialer Widerschein von Wirklichkeit abgebildet, wenn die Haltung zur filmischen Pose gerinnt und die Idee des Spiels auf die audiovisuelle Fiktion bezogen wird. In der Inszenierung Frank Castorfs zitiert Kathrin Angerer als Jessica – obwohl schwarzhaarig – an einer Stelle den kreischenden Entsetzensschrei der typischen Filmblondine des Thrillers. Vorangegangen ist ein Wortwechsel mit Hoederers Leibwächter Slick. „Schieß doch mal“, fordert sie ihn auf. Kathrin Angerers Jessica ist provozierend, kess, verwegen und in gewissem Sinne todessehnsüchtig: „Aber ein Toter, der ist wirklich tot. Es gibt nichts, was ich sein könnte, außer ein Toter mit sechs Fuß Erde über dem Kopf. Ich sage euch, es ist alles Theater“ (S. 92). Eigentlich eine Replik Hugos, ist diese Textstelle bei Castorf Jessica zugeordnet. Wenn Slick ihr antwortet „Oder die Toten spielen auch Theater. Nehmt mal an, man würde sterben und dann fest-

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stellen, daß die Toten Lebendige sind, die tot spielen! (S. 93)“37, ist auch dies in der Dramenvorlage Hugos Text. Es ist also nicht länger Hugo, der über das Verhältnis von Authentizität und Spiel reflektiert, sondern der Gedankengang wird auf zwei andere Figuren verteilt, was eine Sinnverschiebung zur Folge hat. Die Dialektik von Theater und Tod wird dadurch wesentlich stärker herausgearbeitet. Für Jessica ist der Tod das einzig Reale und damit ein Gegenmodell zum Theater. Sie stellt sich damit gegen Vorstellungen, die mit Heiner Müller das Moment der Verwandlung als Gemeinsamkeit von Theater und Tod begreifen und davon ausgehen, dass Theater „immer mit einem symbolischen Tod zu tun“ habe.38 Jessicas sehnsuchtsvolle Idee von Authentizität hat jedoch etwas utopisches, wie sie durch Slick erfahren muss – auch im Totenreich ist kein Entkommen vor dem Zwang des Ausprobierens verschiedener Rollen. Als Slick dann die Waffe auf sie richtet, reagiert sie mit dem bereits erwähnten, sehr bewusst gesetzten schrillen Schrei und signalisiert damit deutlich, dass sie gewillt ist, weiter zu spielen. Erst später – nach weiteren eincollagierten Berichten über die Kriegsgräuel in Bosnien (gesprochen von Olga/Silvia Rieger) und der moralischen Auseinandersetzung über einen politisch motivierten Mord – wird sie sagen: „Ich spiele nicht mehr“ (S. 105). Sie hat ihre Position gefunden und betrachtet diese als außerhalb des Spielreglements liegend: „Ich bin weder ein Unterdrücker noch ein Sozialverräter, noch ein Revolutionär. Ich bin unschuldig.“39 Dass hier auch ein politisches Statement unternommen wird, ist so offenkundig, dass es nicht weiter kommentiert werden muss. Jessica wird bei Castorf zur stellvertretenden Opferfigur, dies bestätigt sich auch in den von ihr gesprochenen Fremdtexten, die aus der Perspektive eines Kindes über den Krieg berichten. Im Stück und in der Inszenierung ist es Jessica, die versucht, Hugo von dem Mord an Hoederer abzubringen, doch dieser rechtfertigt sich gesinnungsethisch mit dem Zwang so handeln zu müssen, wie es die Partei verlange, da diese im Besitz der politischen Wahrheit sei (vgl. 5. Bild, 2. Szene). Castorf arbeitet bei der Umsetzung dieser Schlüsselszene mit dem Bild eines KasperleTheaters. Hugo klettert auf Hoederers Schreibtisch, unternimmt einen Klimmzug und setzt sich dann rittlings auf die Bühnenrückwand. Zuvor schon hatte Jessica die Szenerie verlassen und war dann oberhalb der Kulisse wieder 37 Dass Sartre hier eine Anspielung auf sein Filmdrehbuch Les jeux sont faits (1947) unternimmt, sei am Rande vermerkt. 38 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 75. 39 Zit. nach. gesprochenem Text der Inszenierung. Im Dramentext heißt es: „Ich bin weder ein Unterdrücker noch ein Sozialverräter, noch ein Revolutionär, ich habe nichts getan, ich bin an allem unschuldig“, S. 104.

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aufgetaucht. Sie steht und ist dabei bis zur Hüfte zu sehen. Unter den beiden, an der Wand, hängt überdimensional groß eine Fahne in den jugoslawischserbischen Nationalfarben Blau-Weiß-Rot mit einem roten Stern in der Mitte. Wenn die Anordnung der Schauspieler im Raum an ein Handpuppen- oder Kasperle-Theater erinnert, verweist dies einerseits auf eine Unfreiheit im Handeln – Hugo als Marionette der Partei – und andererseits wird ein Attentäter und die Ideologie der einen Wahrheit bzw. richtigen Denkungsart zu einer lächerlichen Figur. Ganz anders ist der Inszenierungsansatz Albrecht Hirches. Er löst Hugos Dilemma in dieser Szene – entweder er verrät die Partei oder missbraucht Hoederers Vertrauen – in einer körperlichen Aktion auf: der völlig nackte Hugo und Jessica vollführen einen ungestümen Tanz zu dem Titel Fuck Forever von den Babyshambles, zwischen sich ein Transparent mit den Worten Vertrauen auf der einen und Sabotage auf der anderen Seite.40 Hier erfolgt eine extrem plakative Versinnbildlichung von Hugos innerer Zerrissenheit; dies lässt sich ob der plumpen Offensichtlichkeit kritisieren, doch die dahinter liegende Figurenregie ist im Kontext einer intermedialen Fragestellung interessant. So lässt sich die – im übrigen nicht nur auf diese Szene begrenzte - extreme Körperlichkeit von Markus Scheumanns Kölner Hugo als ein Gegenentwurf zu jeder an einer Alltagswahrscheinlichkeit orientierten filmischen Ästhetik begreifen und somit auch als eine Absage an ein identifikatorisches Schauspielen, stattdessen geht es um die radikale Veräußerlichung von Gefühlen, Gedanken, Ideologien. Auf die Raserei folgt die Ruhe – und in diesem Fall die Leere, da sich das Paar für den Schluss der Szene hinter die Bühne begibt. Dem Publikum wird gewissermaßen das Bild entzogen, es muss sich mit einem Hörspiel begnügen. Dem synästhetischen Medium Theater einen Sinnesreiz zu verwehren, ist ein Effekt, den Hirche noch ein zweites Mal einsetzt, wenn er die Erschießung Hoederers ohne Geräusch ablaufen lässt. Der Knall des Schusses wird zeitversetzt nachgeliefert in der Rahmenhandlung, als Hugo über die Tat spricht und sie durch eine Geste nachstellt.

40 Diese Szene werde zusammen mit dem Anfang in französischer Sprache bei Publikumgesprächen am häufigsten diskutiert und kritisiert, so der Dramaturg Jörg Vorhaben. Die Nacktheit Markus Scheumanns wurde aber während der Proben von ihm selbst vorgeschlagen, sei also kein ‚Zwang‘ der Regie gewesen.

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VI. Die Absage an die vollendete Illusion der Imitation von Wirklichkeit und Leben auf der Guckkastenbühne und die Aufhebung der Konvention der vierten Wand geht in beiden hier untersuchten Inszenierungen einher mit einem Aufbrechen des Dramentextes. Wo Castorf auf zeitgenössische Texte zurückgreift, setzt Hirche auf die Schrift, um dem Publikum einen Interpretationsleitfaden für die Thesenhaftigkeit des politischen Diskurses an die Hand zu geben. Wesentlich stärker als Castorf bringt Hirche eine Politfarce auf die Bühne – die politisch motivierte Handlung erscheint nurmehr als popkulturelle Attitüde. Während Hirche dabei trotz aller Verweise an die audiovisuellen Medien immer wieder das Theater als Theater dekonstruiert und damit in einer dialektischen Wendung als Kunstform bestätigt, bezieht sich Castorf dominant auf den Film. Seine Theatralisierung des Films erlebt durch die Fernsehaufzeichnung der Inszenierung eine Art mediale Rückführung. Typologisch gesehen, handelt es sich dabei um eine Aufzeichnung mit Publikum. Dieses Publikum ist zwar nur akustisch präsent, aber dennoch steht bei dieser Form von ‚Theater im Fernsehen‘ der Dokumentationsgedanke im Vordergrund. Der Abspann nennt 6 Kameramänner, was der gängigen Aufzeichnungspraxis von 3sat mit vier bis sechs Kameras entspricht. Bisweilen gewinnt man allerdings den Eindruck, die Kamera befinde sich auf der Bühne zwischen den Figuren.41 Damit würde der Blick des Zuschauers aus dem Parkett aufgegeben zu Gunsten einer medienspezifischen Auflösung von Dialogen im Schuss-Gegenschuss-Verfahren. Die Fernsehfassung von Schmutzige Hände nutzt noch weitere Möglichkeiten, die sich durch den Medienwechsel ergeben. Wenn Kathrin Angerer aus der Perspektive eine Kindes vom Krieg erzählt, ist ihr Gesicht in Großaufnahme (Profil) in der linken Bildhälfte zu sehen. In einer fast unmerklichen Überblendung wird Hugos/Matthias Matschkes Kopf spiegelbildlich in die andere Bildhälfte eingefügt. Auf der Bühne sitzt er ein gutes Stück von Kathrin Angerer entfernt, so dass für den Fernsehzuschauer eine virtuelle Nähe zwischen den beiden hergestellt wird und sie zusätzlich in eine Nähe zu den Schauspielern gesetzt sind, die im Theater nicht möglich ist.42 Die Kamera ist

41 Es ist durchaus Produktionspraxis, neben der Live-Aufzeichnung einer Aufführung – takeweise – eine Aufzeichnung anzusetzen, bei der die Kamera auf der Bühne agieren kann. In der Postproduktion werden dann die Takes zusammengefügt. Vgl. Wolfgang Bergmann im Gespräch mit Inga Lemke und Sandra Nuy. In: Nuy: „Zum Beispiel: Das Berliner Theatertreffen“, S. 31-44. Hier: 42. 42 Zumal hier bei der Mischung ein ‚verbotener Achsensprung‘ unterlaufen ist. Das überblendete Bild zeigt Hugo im Halbprofil von rechts. Wenn er dann am Ende

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an keiner anderen Stelle derart dicht an den Gesichtern der Schauspieler, so dass die ohnehin bewegende Erzählung noch zusätzlich emotionalisiert wird, sieht man doch die Tränen in den Augen der Angerer. Durch die medienästhetische Nähe von Film und Fernsehen kommt Castorfs Inszenierung in der Fernsehversion zu sich selbst, also zum Film. Dies lässt sich auch am Licht ablesen. Gearbeitet wird mit einer klaren Farbdramaturgie: Die Auftritte von Louis sind in Rot getaucht, im Gewächshaus ist Grün die vorherrschende Farbe und eine rund 38 Minuten lange Passage vom Auftritt Olgas nach dem missglückten Anschlag bis kurz vor dem Mord an Hoederer - ist so ausgeleuchtet, dass man den Eindruck einer SchwarzweißOptik gewinnt. Wenn das Theater hier den Schwarzweiß-Film imitiert, so wirkt dies im Fernsehen nicht verfremdend, sondern vielmehr wie ein Relikt aus der Frühzeit des Mediums. Die Schnittmenge der Mittel des Theaters und der Medien der Audiovision zu finden, ist bei beiden hier untersuchten Interpretationen von Les mains sales inszenatorisches Ziel, doch der Ausgangspunkt, das ästhetische und stilistische Referenzmedium, ist jeweils ein anderes: Theater bei Hirche und Film bei Castorf. Die intermedial genutzte Bühne eröffnet dabei, wie gezeigt wurde, komplexe Verweisungszusammenhänge und Deutungsmöglichkeiten politischer ebenso wie popkultureller Art. So unterschiedlich Zielrichtung und Anspruch dabei auch sein mögen, eines ist den intermedialen Erzählhaltungen - darin sind beide Regisseure offenkundig gute Brechtianer – gemeinsam: die Aufforderung, sich nicht in die Handlung einzufühlen, sondern sich mit den dargestellten Konflikten und Positionen kritisch auseinander zu setzen. Und sie dienen, aber auch das ist bei Brecht nachzulesen, nicht zuletzt der Unterhaltung.

Literaturverzeichnis Beauvoir, Simone de: Der Lauf der Dinge, Reinbek b.H. 1988. Beauvoir, Simone de: Eine transatlantische Liebe. Briefe an Nelson Algren 1947-1964, Reinbek b.H. 1999. Bischoff, Michael: „Plattes Politdrama voller Musical-Jux“, in: Bild-Zeitung, 16.01.2006.

des Monologs aufspringt, um Jessica in die Arme zu nehmen, gerät er jedoch im linken Halbprofil ins Bild.

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Burckhardt, Barbara: „Knarren, Clowns und Karadžić. Frank Castorf inszeniert Sartres ,Die schmutzigen Hände‘ als Epilog auf den jugoslawischen Bürgerkrieg“, in: Theater heute, H. 4, 1998, S. 15-17. Busch, Frank: „Der Partei, der Partei wird immer schlecht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 13.3.1998. Dermutz, Klaus: „Auf Karadzics roter Rutsche“, in: Frankfurter Rundschau, 13.03.1998. Detje, Robin: Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin 2002. Kohse, Petra: „Willkommen im Privaten“, in: die tageszeitung, 13.03.1998. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Merck, Nikolaus: Willkommen zurück im Politischen. Frank Castorf inszeniert Sartres „Schmutzige Hände“ an der Berliner Volksbühne. In: Theater der Zeit. H. 3. 1998. S. 4-7. N.N.: „Revolution unter einem roten Stern“, in: Münstersche Zeitung, 26.05.1999. O’Donohoe, Benedict: „Sartre’s Theatre: Acts for Life. (Modern French Identities Vol. 34), Bern 2005. Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke. Die schmutzigen Hände. Stück in sieben Bildern. Neuübersetzung von Eva Groepler, Reinbek b.H. 1991. Sucher, C. Bernd: „Vom Gewäsch wird keiner sauber“, in: Süddeutsche Zeitung, 13.03.1998. Winter, Scarlett: „Spiel und Rolle. Zur Schauspielmotivik in den Theaterstücken Sartres“, in: Zimmermann, Rainer E. (Hrsg.): Jean-Paul Sartre, Cuxhaven 1989. S. 36-44. Zimmermann, Hans-Christoph: „Knallchargen im Zappeltheater“, in: Bonner Generalanzeiger, 16.01.2006.

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Le Scénario Freud 1.

Vorbemerkung: Theater und Film

Der französische Begriff scénario, der im Deutschen merkwürdigerweise meist durch den Begriff Drehbuch ersetzt wird, erinnert an den gemeinsamen Ursprung von Theater und Film, an die Faszination des Schauspiels, der Schaulust und Inszenierung, die beiden Medien zugrunde liegt. Die Konkurrenz zwischen Theater und Film hat dazu geführt, dass die gemeinsamen Ursprünge lange Zeit verdrängt wurden, unter anderem durch puristische Theater- und Filmtheorien, die darauf bedacht sind, die Besonderheiten und Differenzen der beiden Medien zu betonen. Die Autoren, Regisseure und Schauspieler, die mit beiden Medien vertraut sind, haben sich an solche akademischen Abgrenzungen nie gehalten, sondern immer schon die Wechselbeziehungen und Korrespondenzen zwischen beiden Medien erkannt und ausgespielt; allein der Blick auf die französische Filmgeschichte bietet, mit spektakulären Namen, ein eindrucksvolles Szenario der Intermedialität von Theater und Film – von Surrealisten wie Cocteau, Buñuel oder Artaud bis hin zu Jean Renoir, Marcel Pagnol, Max Ophüls und dann vor allem den Regisseuren der Nouvelle Vague, die, wie zum Beispiel Godard, Truffaut, Rivette, Rohmer, Malle, Resnais, zum Teil bis in die Gegenwart in immer neuen Variationen die Theatralität der Filmkunst zum Ausdruck bringen.1 Aber auch schon in den 50er Jahren, in einer Zeit, in der die künstlerische Vorherrschaft des Theaters gegenüber dem Film noch unangefochten schien, haben Filmtheoretiker wie Bazin die Theatralität des Films hervorgehoben. Bazin spricht in seinem Essay „Théâtre et cinéma“ aus dem Jahr 1957 in Bezug auf Cocteau von dem „surcroît de théâtralité“, die den Film gegenüber dem Theater kennzeichne und auszeichne2, und auch Deleuze betont in seinen Analysen der Filme von Renoir und Ophüls, im Anschluss an Bazin, die „Théâtralité proprement cinématographique […] que seul le cinéma peut donner au théâtre.“3 1

Vgl. Albersmeier: Theater – Film – Literatur in Frankreich; Lommel/Roloff: Jean Renoirs Theater/Filme; Roloff/Winter: Theater und Kino; Lommel u.a.: Französische Theaterfilme.

2

Bazin: Qu’est-ce que le cinéma?, S. 148.

3

Deleuze: L’image-temps, S. 112.

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Dieser Aspekt betrifft auch zahlreiche Werke von Sartre, insbesondere seine scénarios, die nicht nur die enge Verbindung und Wechselbeziehung von Theater und Film hervorheben und veranschaulichen, sondern darüber hinaus verschiedene Spielformen und Konzepte der Theatralität in einer intermedialen Perspektive reflektieren. Gleichwohl werden die Filmszenarien Sartres bisher, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, im Vergleich zu den Theaterstücken weniger beachtet – am ehesten noch das bekannteste scénario Les jeux sont faits, das von Jean Delannoy 1947 verfilmt wurde und dessen intermediale Aspekte besonders von Franz-Josef Albersmeier und Scarlett Winter hervorgehoben wurden.4 Erstaunlicherweise werden weitere Szenarios wie L’engrenage, Résistance, Typhus oder Les faux nez bisher nur am Rande erwähnt;5 und auch das 1958/59 von Sartre geschriebene, aber erst 1984 publizierte umfangreiche Scénario Freud ist bisher zwar unter verschiedenen Aspekten kommentiert worden, aber meist im Blick auf die Beziehungen zwischen Sartre und Freud oder im Interesse für entstehungsgeschichtliche Fragen, insbesondere die Probleme der Zusammenarbeit zwischen Sartre und Huston, der das Szenario in Auftrag gegeben hatte.6 Obwohl Sartre schon in La nausée, in L’être et le néant oder L’idiot de la famille sowie in den Theaterstücken die gewohnten Grenzen der literarischen Gattungen und Genres überschreitet und obwohl er vor allem auch im Zwischenbereich von Theater und Film neue Kombinationen sucht, hat die Sartre-Forschung Schwierigkeiten, die für Sartre typische Vernetzung verschiedener Medien zu erfassen. So ist es bisher nicht gelungen, die explizite und implizite Medientheorie und Medienästhetik, die viele Texte Sartres miteinander verbindet, zu veranschaulichen und zu aktualisieren; der vorliegende Band ist daher ein Versuch, die Medienkonfigurationen Sartres, seine intermedialen Experimente und Kombinationen im Kontext des Existentialismus, aber auch im Zusammenhang mit aktuellen Fragestellungen zu diskutieren. Angelpunkt meines Beitrags ist das Scénario Freud, das, wie mir scheint, für die Entwicklung der sartreschen Medienästhetik und damit auch für seine Theater- und Filmtheorie und künstlerische Praxis eine wichtige Rolle spielt.

4

Albersmeier: Theater – Film – Literatur, S. 234-242; Vgl. jetzt auch Chateau: Sartre et le cinéma, der aber vor allem Sartre als „théoricien du cinéma“ behandelt und auf die einzelnen Scénarios nicht näher eingeht.

5

Vgl. auch in diesem Band die Beiträge von Altwegg und Albersmeier sowie die unveröffentlichte Thèse von Shuji Morita und die Artikel in Noudelmann: Dictionnaire Sartre, zu L’engrenage, Typhus, Résistance, Les faux nez.

6

Vgl. Pontalis in Sartre: Le Scénario Freud. Préface, S. 9ff; Roudinesco: „Sartre lecteur de Freud“, S. 89 ff.; Koch: „Sartre projette Freud sur l’écran“, S. 569 ff.

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Dass für Sartre die Philosophie dramatisch ist und das Spiel als Erklärungsmodus und Symbol für die Problematik der menschlichen Existenz erscheint, gehört zu den Topoi der Sartre-Literatur: „Le jeu est à l’origine du monde, il y a monde (c’est-à-dire liaison intime entre la société humaine et la nature) lorsque les conventions collectives fixent les règles du jeu. Absurdes et gratuites, ces conventions n’ont d’autre effet que de transformer en tous les domaines l’activité humaine en ballet.“7 Die Regeln des Spiels sind gleichwohl nicht festgelegt, da das Spiel, wie auch Louette hervorhebt, bei Sartre zum freien und ursprünglichen Akt des Bewusstseins gehört.8 Die Definition des Bewussteins als Spiel beruht auf der Dialektik von Ich und Nicht-Ich, der „Gleichursprünglichkeit des Bewusstseins seiner selbst und des ‚alter ego‘“.9 Daraus resultiert die Dramatik, ohne die für Sartre die menschliche Existenz nicht vorstellbar ist. Die Existenz des Anderen ist notwendige Voraussetzung der Freiheit, aber zugleich auch Ursprung jener comédie, die alle Erscheinungsformen des individuellen und kollektiven Imaginären begleitet. Die Dramatik ist für Sartre das Gegenprinzip gegen substantialistische und deterministische Vorstellungen: „Aujourd’hui je pense que la philosophie est dramatique. Il ne s’agit plus de contempler l’immobilité des substances qui sont ce qu’elles sont, ni de trouver les règles d’une succession des phénomènes. Il s’agit de l’homme qui est à la fois un agent et un acteur - qui produit et joue son drame en vivant les contradictions de sa situation jusqu’à l’éclatement de sa personne ou jusqu’à la solution de ses conflits.“10 Dies führt Sartre zur Konzeption eines „théâtre des situations“: „Mais s’il est vrai que l’homme est libre dans une situation donnée et qu’il se choisit lui-même tant et par cette situation alors il faut montrer au théâtre des situations simples et humaines et des libertés qui se choisissent dans ces situations. Le caractère vient après, quand le rideau est tombé.“11 Sartres Theaterstücke und ebenso die Filmszenarien sind daher darauf angelegt, die dramatischen Figuren dem Spiel auszuliefern, das heißt, ihnen den Glauben an ihren „Charakter“, an Kausalität und ein festgelegtes Schicksal zu entziehen, also substantialistische und psychologische Motivationen aufzulösen. So wird die komödiantische Seite des existentiellen Dramas sichtbar, die Lächerlichkeit des von Sartre so genannten esprit de sérieux, und damit öffnet sich für Sartres Theater und seine Filmsze-

7

Sartre: Saint-Genet, S. 144.

8

Vgl. Louette in diesem Band.

9

Vgl. Heumann: Ethik und Ästhetik bei Sartre und Fichte, S. 48; Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, zu Sartre S. 331ff.

10 Sartre: Situations IX, S. 12. 11 Sartre: Un théâtre de situations, S. 20.

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narios ein Spielraum der Ironie, Paradoxie und Komik, der seine Stücke grundsätzlich als Denkspiele, als ambivalent im Sinne des Spielbegriffs erscheinen lässt.12 Wie sehr das Freud-Szenario genau diesem Konzept entspricht, wie paradoxerweise gerade die scheinbar seriöse Figur Freud und die Praktiken der Psychoanalyse diesem Spiel ausgeliefert werden und wie viele Situationen und Szenen zur Komödie tendieren, wird im Folgenden zu erläutern sein. Fast alle Szenen geraten an einen Punkt, an dem das Absurde und Groteske der Realität auftaucht. Es ist schon von daher offensichtlich, dass Sartres Spieltheorie – und mit ihr das Scénario Freud - konventionellen Vorstellungen eines Erzählkinos, in dem Brüche, Diskontinuität und Kontingenzen vermieden werden (wie zum Beispiel in den meisten der damaligen Hollywood-Filme), radikal entgegengesetzt sind. Schon an dieser Stelle sei angemerkt, dass Sartre Theater und Film als Spielbühne einer Gesellschaft begreift, als „genuinen Ort einer Ästhetik der Inszenierung“13, die gesellschaftliche, individuelle und kulturelle Phänomene umfasst und die, in der Spannung von Virtualität und Aktualität, Authentizität und Rollenspiel, einen Angelpunkt gegenwärtiger Medientheorien darstellt. Theatralität und Inszenierung erscheinen dabei, wie besonders Fischer-Lichte erläutert, als Prozess, der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann und sich überall dort ereignet, wo Darsteller und Zuschauer zusammentreffen.14 Nicht allen Theater- und Filmwissenschaftlern und Soziologen ist bekannt, dass Sartre schon in L’être et le néant, noch vor Erving Goffman15, auf das literarische Paradigma des theatrum mundi zurückgreift, um eine Identitäts- und Rollentheorie zu entwickeln, die von einem Repertoire vorgegebener gesellschaftlicher Rollen ausgeht, zugleich aber darauf angelegt ist, die Masken und Inszenierungen öffentlicher Schauspiele und politischer Aktionen einzubeziehen. Es geht darum, das Verhältnis von Determination und Freiheit, Rollenzwängen und Improvisation, durchschaubar zu machen und deren Interdependenz zu analysieren. Dabei bietet der Film, wie schon die Surrealisten erkannt haben, noch mehr Möglichkeiten als das Theater, um mit den Mitteln des filmischen effet de réel die Theatralität des Alltags, reale und imaginäre Rollenspiele, Tagträume, Obsessionen, Illusionen, Visionen und Halluzinationen darzustellen, insbesondere auch die Täuschungen und Selbsttäuschungen, die Sartre mit dem Begriff 12 Zur Ambiguität des Spiels bei Sartre vgl. Vf.: „Existentielle Psychoanalyse“, S. 98. 13 Früchtl/Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 30; vgl. bes. Winter: Spielformen der Lebenswelt, S. 56ff. 14 Vgl. Fischer-Lichte/Pflug: Inszenierung von Authentizität, S. 11ff. 15 Vgl. Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, erschienen 1959; Sartre: L’être et le néant, vgl. dort bes. „Les conduites de la mauvause foi“, S. 44ff.

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der mauvaise foi analysiert. Sartre entdeckt und nutzt dabei die Chancen filmischer Darstellungsmöglichkeiten, zunächst zum Beispiel in verschiedenen filmanalogen Szenen von Huis clos, in denen die Protagonisten auf die nur ihnen sichtbare Welt der Lebenden herabblicken – und die in der Verfilmung von Jacqueline Audry auch entsprechend inszeniert werden.16 Formen des Spiels im Spiel und der theatralen Selbstreflexivität finden sich schon in den Theaterstücken Kean und Les mains sales, werden besonders aber in dem Szenario Les jeux sont faits weiter ausgestaltet.17 Hier wird der barocke Topos des theatrum mundi mit filmischen Mitteln inszeniert, zugleich ironisiert und ad absurdum geführt. Vor allem in dem Scénario Freud wird Sartre weitere Formen der filmischen Inszenierung der Theatralität, der Darstellungen realer und imaginärer Rollenspiele und Maskeraden, mit neuen Varianten und Raffinessen vorführen. Festzuhalten bleibt, dass bei Sartre Theater und Film dadurch verbunden sind, dass sie den Begriff des Spiels erweitern: Wenn die Welt ein Schauspiel ist, wenn das Spiel „à l’origine du monde“ ist und die Menschen prinzipiell Schauspieler und Rollenspieler sind, so können die Spielformen des Theaters und Films immer nur Spiel im Spiel sein, das heißt Veranschaulichung, Verdeutlichung und Problematisierung dieser Grundsituation. „Sartres Theater“, so Scarlett Winter, „veranschaulicht mit dieser Konzeption des Theatrum mundi deutliche Vorzeichen postmoderner Dramatik: spielerische Zeichenhaftigkeit und Metaspiel verbunden mit dem Ziel der Ironisierung und Pervertierung tradierter Mythen und Theatertraditionen setzen postmoderne Akzente.“18 Das Freud-Szenario ist, neben den theoretischen Ausführungen in Saint Genet – Comédien et martyr und L’idiot de la famille, der umfassendste Versuch Sartres, um dieses Konzept der Theatralität und des ‚Spiels im Spiel‘ darzustellen, zu reflektieren und dabei neue Perspektiven zu eröffnen.

2.

Das Scénario Freud

Erst wenn man Sartres Begriffe der Theatralität und des Spiels, ihre philosophische und medienästhetische Dimension mitbedenkt, kann man auch die Figur Freuds in Sartres Szenario verstehen. Auf dem Spiel steht Sartres Versuch, die Auseinandersetzung mit Freud als Wechselspiel von Empathie und kritischer Distanz darzustellen, dabei die eigene Position im Spiegel der Identitätssuche Freuds neu zu reflektieren. Es geht in dem Freud-Szenario wie auch in 16 Huis clos (F 1954, Regie: Jacqueline Audry). 17 Vgl. Winter: Spielformen der Lebenswelt, S. 56ff. 18 Ebd., S. 66.

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den Flaubert-Studien nicht primär um eine zeitgeschichtliche oder biographische Rekonstruktion in dramatischer bzw. filmischer Form, sondern um Rollenspiele und Maskeraden, mit denen Sartre sein eigenes Verhältnis zu Freud zu klären sucht. Aus diesem Grund führt auch das Studium der Quellen, die Sartre für das Freud-Szenario benutzt hat – zum Beispiel die Freud-Biographie von Ernest Jones und erst 1950 publizierte Briefe zwischen Freud und Fließ – nicht sehr weit.19 Auch Gertrud Koch betont diesen Aspekt des Szenarios: „Derrière la découverte de l’inconscient et du complexe d’Œdipe qui forme le sujet manifeste du scénario le biographe Sartre cache son propre projet d’analyse existentielle d’un auteur nommé Freud.“20 Man könnte in diesem Punkt noch weitergehen: Sartre wählt in dem Szenario ganz verschiedene Rollen und Masken, um die Wandelbarkeit, Fragilität und Komplexität der eigenen Existenz durchschaubar zu machen. Er ist in dem Szenario, um einen Gedanken von Borges aufzugreifen, zugleich Regisseur, Schauspieler und Zuschauer.21 Was Borges als Merkmal der Traumtexte, des sueño dirigido der Literatur und Lektüre hervorhebt, gehört auch für Sartre zum Spiel der Literatur, zur Theatralität der literarischen Imagination: „Das Spiel gehört“, so formuliert Sartre schon in L’être et le néant am Beispiel des Kellners „als eine Form des Sichzurechtfindens (repérage) und der Selbsterfahrung zum alltäglichen Leben.“22 Das Rollenspiel erscheint einerseits als Möglichkeit, sich durch die übertriebenen Gesten der Maskerade, Würde und Ernsthaftigkeit selbst zu bestätigen und führt so zu einer permanenten Komödie der Realitätsflucht. Auf der anderen Seite hat das Spiel aber auch Merkmale des Risikos, der Kontingenz und der Unvorhersehbarkeit, eine Möglichkeit der prise de conscience, der Entdeckung der eigenen Freiheit, die den esprit de sérieux auflöst. Um die Formen des Spiels im Spiel und die Theatralität des Freud-Szenarios genauer zu analysieren, genügt es nicht, die verschiedenen Rollenspiele und theatralen Situationen auf einer thematischen Ebene zu erläutern, sondern in ihrem Zusammenhang mit den von Sartre bevorzugten dramatischen Genres; mit anderen Worten: Die offene und zum Teil auch verdeckte Auseinandersetzung Sartres mit der Freudschen Psychoanalyse ist hier vor allem eine Frage der dramatischen und filmischen Strukturen, die diese Auseinandersetzung modellieren. Die bisherigen Interpretationen des Freud-Szenarios sind in dieser Hinsicht unzureichend; es gibt kaum Versuche, die Besonderheiten der dramatischen Form des Szenarios zu erfassen und auch kaum Versuche 19 Vgl. Pontalis in: Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 16ff. 20 Koch: „Sartre projette Freud sur l’écran“, S. 576. 21 Borges: Libro de sueños. Vorwort. 22 „Le jeu est une sorte de repérage et d’investigation.“, Sartre: L’être et le néant, S. 99.

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der Analyse einzelner Szenen. Sartres Konzept eines théâtre de situations, das die Protagonisten in konkreten Entscheidungssituationen gleichsam auf die Probe stellt und Elemente des von Sartre so genannten bürgerlichen Theaters wie Psychologie, Intrige und Realismus verweigert23, bestimmt auch das FreudSzenario. Gleichwohl übernimmt Sartre Motive des traditionellen bürgerlichen Dramas, wie zum Beispiel den Konflikt zwischen Vater und Sohn, modifiziert sie aber auf seine Weise.24 Es gehört zur Ironie des Szenarios, dass Freud, als eine Figur der bürgerlichen Wiener Familie um die Jahrhundertwende, hier in Situationen gerät, die den Glauben an Kontinuität, Kausalität und Zwangsläufigkeit dramatischer Prozesse und psychologischer Entwicklungen unterlaufen – und zwar bis zu einem Punkt, an dem auch die neuen, gerade erst gewonnenen Erkenntnisse der Psychoanalyse selbst schon wieder zweifelhaft werden. Sartres Gegenposition wird vor allem durch die Mittel der Komödie verdeutlicht: Das Freud-Szenario enthält, wie zu zeigen bleibt, das facettenreiche Repertoire der französischen Komödie, von der Farce, der klassischen Komödie, dem Boulevardtheater bis hin zu aktuellen Spielformen des surrealistischen und absurden Theaters. Das Spiel der Zufälle, die grotesken und absurden Zwischenfälle des Alltags und die Alogik der Träume unterlaufen den esprit de sérieux und damit auch die Dramatik, die Freuds Karriere bestimmt und sein wissenschaftliches Projekt immer wieder bedroht. Zu überlegen bleibt, ob und inwieweit die melodramatischen und tragischen Elemente, die unter anderem mit dem Leitmotiv des Antisemitismus verbunden sind, davon berührt werden. Obwohl die Struktur der Komödie in vielen Szenen unverkennbar ist, geht das Freud-Szenario in mehrfacher Hinsicht darüber hinaus. Mit im Spiel sind Darstellungsweisen des analytischen Dramas antiker Provenienz. Es geht – wie im antiken Ödipus-Drama – um die Suche nach der Wahrheit, die erst nach einer Reihe von Täuschungen und Irrtümern zu finden ist. Die Tragödie des Ödipus führt in Sartres Szenario, im Rahmen einer ironischen Umkehr der Analyse, schließlich zur Freude über die Entdeckung des ‚Ödipus-Komplexes‘. Mit im Spiel ist auch das epische Theater, das im Frankreich der 50er Jahre mit der Brecht-Rezeption wichtig wurde – hier schon aufgrund der Vorgabe eines Filmprojekts, das verschiedene Ereignisse der Biographie Freuds thematisieren soll.25 Sartre entwickelt unter diesen Voraussetzungen eine Kombination, die komödiantische und ernste dramatische Formen verbindet, und zugleich narrative Strukturen enthält: So entsteht eine Art Stationendrama, das an die Struktur der Spirale erinnert, indem es typische Situationen aus dem Leben 23 Vgl. den Beitrag von Knapp in diesem Band. 24 Wie im Übrigen auch schon, zumindest in Ansätzen, Theaterautoren zur Zeit Freuds wie z.B. Strindberg und Schnitzler. 25 Vgl. Sartre: „Brecht et les classiques“, in: Un théâtre de situations, S. 80ff.

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Freuds variiert und so das Prinzip der Wiederholung und Veränderung als ein Modell für biographische Prozesse verdeutlicht;26 ein Modell, das Sartre besonders in L’idiot de la famille veranschaulicht und das auch in dem Szenario Les jeux sont faits erkennbar ist. Ich möchte im Folgenden einige Situationen herausgreifen, Situationen, die einerseits Sartres Konzept der Theatralität, die Formen des Spiels im Spiel und andererseits das Prinzip der Spirale verdeutlichen. Wie bereits angedeutet, kann man bei der Analyse der verschiedenen Formen des Spiels im Spiel zwischen den quasi privaten Szenen der comédie familiale und den öffentlichen Bühnen des gesellschaftlichen Lebens, hier vor allem den akademischen Aktivitäten der medizinischen Fakultät unterscheiden. Schon die erste Szene des Szenarios27 ist ein Beispiel für die groteske Komik, aber auch für das Unheimliche, das hinter der Fassade der korrekten medizinischen Behandlung den Umgang der Ärzte mit den Patienten bestimmt. Mit der Frage, ob die neue Patientin blind ist oder Blindheit nur vortäuscht, beginnt ein Spiel der Simulationen und Dissimulationen, das in dem gesamten Szenario in immer neuen Varianten und Kombinationen gespielt und reflektiert, bis zum Schluss aber nicht aufgelöst wird. Das medizinische und psychologische Problem der Definition von Hysterie, Psychose und Neurose erscheint bei Sartre von Anfang an als ein Szenario des Theatrum mundi, in dem nicht nur Patienten und Ärzte, sondern alle Figuren beteiligt sind. Das Problem der Definition und medizinischen Behandlung gehört zu einem Spiel, in dem prinzipiell alle Positionen umkehrbar sind. Je sicherer und entschiedener die Position der Ärzte, desto leichter die Widerlegung und ironische Umkehrung. Das erste Beispiel dieser Paradoxie und Komödie ist Professor Meynert, der in seiner professoralen Autorität und Attitüde die Patientin als Lügnerin, Komödiantin und Simulantin bezeichnet, als schlechte Schauspielerin, „Jede ihrer Bewegungen verrät ihre Absicht.“28 Meynerts Auftritt, „Zylinder und schwarze Handschuhe, Gehrock, hoher Stehkragen, Vorhemd, bunte Weste“, gehört zu den Ritualen des damaligen akademischen Alltags: „Die Studenten erstarren in respektvoller Haltung.“29 „Die Gruppe der Studenten […] folgt respektvoll wie ein Ballettchor dieser anmutigen Figur, die fast tanzt, trotz ihres Hinkens und vielleicht gerade deswegen und mehr einem Startänzer ähnelt als einem Medizinprofessor.“30 26 Vgl. Sartre: L’idiot de la famille; Vgl. Vf. : „Von der ‚psychanalyse existentielle‘ zur Sozialgeschichte der Literatur“, S. 109ff. 27 Textgrundlage ist die erste Fassung von 1959, Sartre: Le scénario Freud, S. 28ff. und die deutsche Übersetzung (Freud. Das Drehbuch, S. 33ff). 28 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 42. 29 Ebd., S. 38. 30 Ebd., S. 39.

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Um seine Lehrmeinung, dass in Wirklichkeit „diese angebliche Krankheit der Hysterie gar nicht existiert“31 zu beweisen, wird Meynert selbst zum Schauspieler, der Beifall sucht: „Er mimt ganz diskret die Bewegungen der Alten. Die Studenten sehen lachend abwechselnd Meynert und die Alte an. Meynerts Bewegungen verstärken sich leicht, als verlöre er bald die Kontrolle über sie.“32 Schon in dieser Szene erscheint Freud als skeptischer Beobachter, genauer in der Rolle des neugierigen Zuschauers, der die Tricks und Marotten seines Lehrers Meynert zu durchschauen beginnt. In dem späteren Gespräch mit Meynert bemerkt Freud, wie Meynert – in demselben Moment, in dem er Charcot als „Scharlatan“ und „Gelächter der Ärzteschaft“ verspottet33, in seinem Bart wühlt und offensichtlich zwanghaft „den Bart von Zeit zu Zeit loslässt und den linken Zeigefinger gegen die linke Nasenseite schlägt“34. Und er beobachtet auch, dass Meynert sich ständig, wenn auch verstohlen, Schnaps einschenkt. Meynert wird offensichtlich aus gekränkter Eitelkeit vom Förderer zum Gegenspieler Freuds, bis hin zu dessen öffentlicher Verspottung in der Veranstaltung der Wiener Ärzte, in der Freud von seiner Begegnung mit Charcot berichtet. Sartres Scénario begnügt sich schon in den ersten Szenen nicht mit den einfachen Rollenschemata der Komödie. Die weiteren Begegnungen mit Meynert bleiben voller Überraschungen und Paradoxien: Es ist nämlich nicht Freud, sondern Meynert, der – zwar nicht in der öffentlichen Rede, aber im vertraulichen Gespräch – der Analyse der Neurosen und Hysterie näher kommt und damit den Erkenntnissen Freuds sogar voraus ist. Meynert gibt gegenüber Freud zu bedenken, dass die Neurotiker möglicherweise gar nicht geheilt werden wollen, sondern „ihr Leiden lieben“, dass die Neurose „ein Mittel sei, um zu leben“35 – und Meynert geht am Ende noch weiter, indem er sich selbst die Krankheit und Rolle zuschreibt, die er immer am meisten geleugnet hatte, die des männlichen Hysterikers: „Ich habe meine Zeit damit verloren, die Wahrheit zu verbergen […]. Nicht ich habe mein Leben gelebt: ein anderer.“36 Nicht erst dieses Rimbaud-Zitat zeigt ihn am Ende seines Lebens als eine Figur, deren Pathos lächerlich wirkt, aber gleichwohl der existentiellen Psychoanalyse Sartres sehr nahe ist, gerade in seiner Schwäche,

31 Ebd., S. 42. 32 Ebd., S. 43. 33 Ebd., S. 49: „Charcots Studenten sammeln Mädchen vom Strich auf und schicken sie in die Salpétrière, damit sie ihm ihre ‚große Krise‘ vorspielen.“ 34 Vgl. ebd., S. 49. 35 Ebd., S. 113. 36 Ebd., S. 161.

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Unsicherheit, seinem Scheitern, aber auch in seiner Selbstkritik. Dem entspricht auch Meynerts hintergründiges Spiel mit den Insekten, das, mit der Anspielung auf den Pandora-Mythos, in einer Mischung aus Groteske und Ironie, die Gefährlichkeit der freudschen Experimente andeutet: „Sie werden Jagd auf die Ungeheuer machen, die sich bei anderen verbergen, und es werden ihre eigenen Vampire sein, die sie entdecken.“37 So wird hinter der Komik und Satire, die viele Szenen zwischen Freud und Meynert kennzeichnet, ein anderes Drama sichtbar, das, so scheint es zumindest, eine ernste Seite hat: Der Pakt mit dem Teufel, der, wie Meynert andeutet, nötig sei, um „die Seele zu ergründen“38. Freuds Beziehung zu Fließ, der eine Zeit lang, mit seinen „schrecklichen glühenden Augen“39, die Rolle des dämonischen Verführers einnimmt, wird den Faust-Mephisto-Mythos aktualisieren, aber zugleich auch auflösen und ad absurdum führen.40 Die wissenschaftliche Methode von Fließ, der den Glauben an den Empirismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts repräsentiert, wird schließlich durch die Erkenntnisse Freuds widerlegt, und von dem Mythentheater mit Faust und Mephisto bleibt bei Sartre am Ende nur die Parodie und Farce. Sartres Spiel mit verschiedenen dramatischen Traditionen hat hier - wie im gesamten Szenario - die Funktion wechselseitiger Spiegelungen, die die Differenzen und Grenzen zwischen den dramatischen Genres aufheben. Hinzu kommt, dass das Filmszenario in dem Maße, in dem es den Blick auf die Details, die alltäglichen Objekte, die Gesten, das Minenspiel und die Ticks der einzelnen Figuren richtet, melodramatische und tragische Situationen immer wieder karikiert und ironisiert. Und Freud selbst ist – mit seinem Zigarren-Rauchen und seinem Nasenbohren – nicht davon ausgenommen.41 Für Sartre bietet der von Bazin so genannte surcroît de théâtralité, die den Film gegenüber dem Theater auszeichnet, die Chance, das konventionelle System dramatischer Genres aufzulösen und neue Kombinationen zu suchen. Die Theatralität wird, wie zum Beispiel in den Schauspielen der medizinischen Demonstrationen bei Meynert ebenso wie bei Charcot, bis zu dem Punkt geführt, an dem das Absurde, das Surreale des Geschehens deutlich wird. Charcot inszeniert seine Hypnosen wie

37 Ebd., S. 116. 38 Ebd., S. 115. 39 Ebd., S. 167. 40 Zum Faust- und Teufelsmythos in Sartres Scénario vgl. bes. Stukemeier: Sartres Blick auf Freud. 41 Vgl. zum Zigarren-Rauchen, Leitmotiv des gesamten Scénario, schon die erste Szene, in der Freud mit von Asche zugeschwärztem Gesicht auftritt, S. 36, zum Nasenbohren z.B. S. 151, 194.

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ein Zauberkünstler42, fast wie in den zur gleichen Zeit von Méliès erfundenen Stummfilmgrotesken. So wird zum Beispiel der Engländer Wilkie, der das Rauchen verachtet und ohnehin alles für Simulation hält, von Charcot durch die Hypnose in einen Raucher verwandelt und so dem schadenfreudigen Gelächter des Auditoriums ausgeliefert. Eine keineswegs nebensächliche Pointe besteht auch darin, dass Freud in dieser Situation erstmals auf die Idee kommt, über die eigene Lust zu rauchen nachzudenken, die Zwänge und Gelüste, die dahinter stecken.43 Dies gilt im Prinzip auch für den Komplex der psychoanalytischen Experimente und Gespräche, die in dem Freud-Szenario den Mittelpunkt bilden. Vor allem der Fall von Cecily (Cäcilie), der an den historischen Fall Anna O. anknüpft44, ist ein Beispiel dafür, wie Sartre verschiedene dramatische Möglichkeiten abtastet, um eigene Wege einer zugleich theatralischen und filmischen Analyse zu finden, so als ob Sartre die freudschen Experimente auf seine Weise nachahmen und neu gestalten wollte. Die historischen und biographischen Bezüge, die Referenzen, die zum Beispiel auf Freuds Studien zur Hysterie und zur Traumdeutung verweisen45, spielen dabei nur eine geringe Rolle. Das Freud-Szenario hat keine Ähnlichkeit mit jenem Typ des historischen Dramas, in dem es vor allem darum geht, bedeutende Forscher oder wissenschaftliche Entdeckungen zu erinnern, zu idealisieren oder auch zu problematisieren. Der berühmte Fall von Cäcilie erscheint bei Sartre vielmehr als ein Geschehen, das sich zwischen bürgerlichem Trauerspiel, Boulevardkomödie und analytischem Drama abspielt und bis zum Schluss trotz der verschiedenen Behandlungsmethoden und Versuche von Breuer, Freud oder Fließ keine sicheren Zuordnungen und Beurteilungen erlaubt. Thematisiert wird die Suche nach Erkenntnis, wobei Sartre dabei, wie bereits angedeutet, auf Verfahren des analytischen Dramas antiken Musters zurückgreift. Die tragische Struktur des Ödipus-Dramas ist hier aber, so könnte man sagen, schon aufgehoben, noch bevor Freud am Beispiel von Cäcilie den Ödipus-Komplex entdeckt. Wie im antiken Drama sind Anagnorisis und Selbsterkenntnis miteinander verbunden, aber die Serie der Irrtümer, Täuschungen und Missverständnisse ähnelt auch einer Komödie. Die Geschichte Cäcilies, die zunächst von Josef Breuer, Freuds Freund, behandelt wird, zeigt einerseits die Ohnmacht der Ärzte, die lange Zeit trotz aller Bemühungen keinen Ausweg finden, und andererseits ein ungewöhnliches 42 Ebd., S. 93. 43 Ebd., S. 95. 44 Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, S: 297ff; vgl. Breuer/Freud: Studien über Hysterie, Wien 1895. 45 Vgl. Freud: Die Traumdeutung; Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 44).

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Engagement der Patientin, die, so scheint es, ihre eigene Krankengeschichte inszeniert. Breuers anfängliche Bemerkung „Was halten sie von einer Kranken, die die Therapie, die sie braucht, selbst erfindet?“46 wird nicht nur bestätigt, sondern führt im Verlauf des Geschehens zu Situationen, die das Verhältnis von Arzt und Patient umkehren. Zunächst gelingt es Cäcilie, mit ihrem Charme und ihrer Phantasie Breuer zu faszinieren, mit einem Spiel, das sich, da Breuer als Einziger der Beteiligten seine eigenen Gefühle für Cecilie nicht durchschaut, zu einer regelrechten Ehekomödie ausweitet; bis hin zu dem Drama der eingebildeten Schwangerschaft, mit der Cäcilie – mit einer beachtlichen Schauspielkunst – nicht nur sich selbst, sondern auch Breuer eine Zeit lang zu täuschen vermag. Das Phänomen der ‚Übertragung‘ erscheint hier, in der Interpretation Sartres, als Element eines grotesken Spiels, in dem der ahnungslose Psychotherapeut in eine lächerliche Rolle gerät. Auch die Beziehung zwischen Freud und Cäcilie entwickelt sich zu einem Rollenspiel, in dem beide Partner gleicherweise beteiligt sind und beide ihre Phantasien spielen lassen. Als Freud, nachdem die Hypnose-Experimente nicht weiterführen, Cäcilie zu einem lockeren, zwanglosen Gespräch über ihre Träume inspiriert, findet er eine kooperative, ideen- und einfallsreiche Gesprächspartnerin: Cäcilie amüsiert sich selbst in der Erinnerung an ihre Träume. „Sie amüsiert sich sichtlich“, wie Sartre im Szenario anmerkt. „Was im Augenblick bei dieser Einsamen zählt, ist die Anwesenheit eines Mannes und das Spiel, das sie mit ihm spielt.“47 So ist es kein Zufall, dass sie in ihren Traumberichten in verschiedenen Rollen, Maskeraden und Verkleidungen auftritt, in seltsamen, grotesken Auftritten, zum Beispiel im weißen Hochzeitskleid mit riesigem Schlitz oder als Prostituierte, die „vor der Laterne auf und ab geht“48. Cäcilie selbst hat sehr schnell den Eindruck, dass Freuds Interesse für ihre Träume „wie ein Gesellschaftsspiel abläuft“, als ein Spiel der Wahrheit49, das aber, wie Cäcilie erkennt, beide betrifft: „Sie wollen, daß wir uns gegenseitig heilen?“50. Damit präfiguriert Cecilie die mögliche Lösung des Problems, ganz im Sinne der existentiellen Psychoanalyse Sartres. Erst durch die Analyse der Träume Cäcilies wird Freud zur Analyse der eigenen Träume, Phantasien und Tabus angeregt und kann von daher die Wirkungsweise und Problematik des ÖdipusKomplexes durchschauen. Freud, so erscheint es in dem Szenario, gelangt durch den Dialog mit Cäcilie zur Selbsterkenntnis: „Sicher ist, dass ich sie [die

46 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 154. 47 Ebd., S. 321. 48 Ebd., S. 322, 323. 49 Ebd., S. 321, S. 370. 50 Ebd., S. 370.

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Krankheit] nicht erkennen werde, solange ich mich nicht erkannt habe. […] Ich muss an ihnen entdecken, was ich bin.“51 Es ist offensichtlich, dass Sartre in diesem Punkt nicht die traditionelle Analyse, sondern einen Angelpunkt seiner eigenen Existenzphilosophie und Intersubjektivitätstheorie formuliert. Cäcilie wird nicht nur aus diesem Grund neben Freud zur wichtigsten Figur des Szenarios; ihre bizarre Einbildungskraft, ihr Mut zu extremen Situationen und Experimenten entspricht in vieler Hinsicht der Dramaturgie des Szenarios selbst, das die Theatralität der Träume und der damit verbundenen erotischen Phantasien und Strategien hervorhebt. Die imaginäre Welt des Theaters und des Films ist, wie Sartre hier andeutet, letztlich eine Inszenierung des Autors, der versucht, das eigene, individuelle Begehren im Zusammenhang mit dem kollektiven Imaginären der Gesellschaft zu erfassen. Cäcilie ist mit ihren erotischen Fantasien, ihrem schauspielerischen Talent und ihrer Intelligenz daher der sartreschen Inszenierung der Träume und Theatralität sehr nahe. Sie wird, indem sie ihre Rolle als Patientin überschreitet, zu einer zentralen Figur, die Sartres Konzeption des Spiels im Spiel in ihrer Ambiguität repräsentiert und veranschaulicht: auf der einen Seite das Risiko der extremen Irrealisation und Regression - und auf der anderen Seite die Möglichkeit der Befreiung von den Rollenzwängen der eigenen Vergangenheit und Gesellschaft. Die Rollenspiele von Cäcilie sind nicht arbiträr, sondern gründen in der Kindheit, in der comédie familiale einer bourgeoisen Wiener Familie, in der die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit den Umgang mit Sexualität tabuisieren und Cäcilie bis in die Gegenwart verfolgen. In einer weiteren Version des Szenarios betont Sartre daher die Normalität von Cäcilie: „Cecily (ou Anna O.) doit paraître parfaitement simple et normale dans ses conduites (sans arrière-pensée) et les deux ou trois messages qui nous parviennent de son préconscient doivent sembler des bizarreries, des faits insolites qui s’imposent à elle, qui tantôt échappent à son attention plus encore qu’à la nôtre, et tantôt la surprennent autant qu’ils nous surprennent.“52 Cäcilie hat in ihrem wahnhaften Wunsch, die Geliebte ihres verstorbenen Vaters zu spielen und nachzuahmen, schließlich die Idee, als Prostituierte aufzutreten, genau in dem Wiener Rotlichtmilieu, mit dem der Freud des Szenarios schon vorher nolens volens mehrfach konfrontiert war. Der Auftritt von Cäcilie, die tatsächlich in einem Lokal des Milieus erscheint, ist, ganz im Sinne der theatralen bzw. filmischen Inszenierung der Szene, ebenso realistisch wie fantastisch: „Ihr Hut sitzt schief, sie hat sich ungeschickt geschminkt und ihr Lippenstift geht über die Konturen des Mundes hinaus und verleiht ihr auf 51 Ebd. 52 Es handelt sich um das so genannte Scénario II, erschienen in Obliques no 24-25, 1981, S. 73-136, hier S. 134 zitiert bei Morita: Sartre et le cinéma, S. 321.

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den ersten Blick riesige sinnliche Lippen. […] Über die blonden Augenbrauen hat sie zwei schwarze Kohlenstriche gezogen, die nicht einmal mit der Linie der Augenbrauen übereinstimmen. Trotz dieser Maskerade erscheint sie hundertmal schöner und jünger als alle anwesenden Frauen.“53 Die Maskerade Cäcilies erinnert an den Traum, den Cäcilie Freud schon vorher im Rahmen ihres Gesellschafts- und Wahrheitsspiels erzählt hatte. Cäcilie trägt ein „Hochzeitskleid mit einem riesigen Riß und geht wie eine Prostituierte vor der Laterne auf und ab. Ein Herr mit Zylinder erscheint, der sie Potiphar nennt und dem sie einen goldenen Ring gibt.“54 Freuds Deutung des Traums verweist, mit der Anspielung auf Joseph und Potiphar, auf Josef Breuer, vor allem aber auf Ereignisse der Kindheit, Cäcilies Beziehungen zum Vater und zur Mutter.55 Fast scheint es, als ob Cäcilie mit ihrem Traum Freuds Fantasie anregen möchte und selbst eine neue Methode der Traumdeutung sucht: „Es herrscht – so Sartre im Szenario – eine merkwürdige Komplizität zwischen ihnen [Freud und Cecilie], die sich jedoch sehr von der unterscheidet, die Cäcilie und Breuer verband. Diesmal könnte man meinen, dass sie einander zu täuschen versuchen. Sie sieht ihn mit einem ironischen Lächeln an, als wenn sie sich vage bewusst wäre, dass sie ihn getäuscht hat.“56 In dieser Szene wird deutlich, wie Sartre die besonderen Möglichkeiten der filmischen Mittel einsetzt, die in einer Theateraufführung so nicht inszenierbar sind. „Während sie [Cäcilie] ihren Traum beschreibt, sehen wir ihn, wie sie ihn beschreibt. Wir sehen eine Straße in der Nacht von einer Gaslaterne schwach beleuchtet. In der Ferne geht eine Frau, es ist Cäcilie, die wir jedoch sehr schlecht erkennen, auf dem Trottoir hin und her. Von weitem scheint sie wie eine klassische Prostituierte gekleidet zu sein.“57 Auf diese Weise entstehen zwei Realitätsebenen, die filmisch realisierte Traumerzählung Cäcilies und die theatrale Präsenz des Dialogs zwischen Cäcilie und Freud, der jeweils aus dem Off eingespielt wird, wobei der Wechsel zwischen beiden Ebenen durch die Kommentare von Cäcilie und die Rückfragen und Interventionen Freuds markiert wird. So wird der potentielle Filmzuschauer mitbeteiligt, da er ständig zwischen den Filmszenen und den aktuellen Kommentaren vergleichen und eventuelle Differenzen bewerten kann. Sartre reizt die im Film mögliche Simultaneität und er schafft hier und auch in weiteren Szenen eine eigentümliche intermediale Kombination zwischen theatralen und filmischen Darstellungs-

53 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 350. 54 Ebd., S. 323. 55 Ebd., S. 324, 325. 56 Ebd., S. 327. 57 Ebd., S. 322.

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weisen, die weder im Theater noch im Film üblich ist und für die Regisseure auch nicht besonders attraktiv erscheint. Obwohl die Traumerzählung vollkommen von der subjektiven Erinnerung Cäcilies abhängig ist, entsteht durch die filmische Realisierung eine Spannung zwischen den Bildern des Films, den Kommentaren Cäcilies und den Zwischenfragen Freuds – eine Spannung und damit auch Verunsicherung, die sich auf die Filmzuschauer überträgt und die die ohnehin schwierige Deutung der Träume durch die verschiedenen Perspektiven der beteiligen Figuren kompliziert, zugleich aber auch das Engagement und Mitdenken der Zuschauer provoziert. In der ersten Version des Exposés von 1958, die der ausführlichen Version des Szenarios von 1959 vorausgeht, erläutert Sartre noch genauer, wie diese Traumszenen filmisch zu gestalten wären: Die von Freud analytisierten Träume, von denen wir hier einige der bedeutungsvollsten benutzen, wirken vor der Analyse absurd und bizarr, doch sie bleiben ganz alltäglich. Selten taucht etwas Fantastisches oder Geheimnisvolles in ihnen auf. Es erschient also notwendig, sie mit ‚noch mehr Realismus‘ zu behandeln als die Szenen im Wachzustand. Durch die Absurdität der Verhaltensweisen und den sichtbaren Konflikt dieser Absurdität mit dem Realismus der Orte und Gegenstände wird man die besondere Surrealität und die ‚Überdeterminierung‘ der von Freud berichteten Träume wiedergeben.58 Cäcilies Traum, ihr absurder Wunsch, die Rolle einer Prostituierten zu spielen, ist ein typisches Beispiel für Sartres Projekt, durch ein „Mehr an Realismus“ zu einer besonderen Form der Surrealität zu gelangen. Es geht ihm nicht darum, wie in einigen frühen surrealistischen Filmen, das Absurde, Groteske und Fantastische der Traumerfahrung durch filmische Mittel der Verfremdung darzustellen und zu steigern, sondern umgekehrt darum, die Surrealität der Träume als ein Element der Realität selbst darzustellen. In Sartres Szenario sind Tagträume, nächtliche Träume, Traumata, Erinnerungen, Visionen, Halluzinationen und die Rollenspiele des Alltags nicht grundsätzlich unterschieden. Aus diesem Grunde neigt Sartre in dem Szenario immer wieder dazu, gleitende Übergänge zwischen Realität und Traum zu schaffen.59 Dabei werden die Möglichkeiten des Films, verschiedene Formen der „images subjectives“ zu realisieren, von Sartre genutzt; Morita unterscheidet dabei vier Kategorien solcher „images subjectives incrustées dans le récit plutôt objectif:

58 Ebd., S. 545. 59 Vgl. Morita: Sartre et le cinéma, S. 302.

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visions préoniriques de Freud, flash-backs courts et enfin images souvenues de ses patients – sans hypnose ou non.“60 In dem Freud-Szenario präfigurieren die Träume Cäcilies, wie bereits angedeutet, ihren ‚wirklichen‘ Auftritt in der Rotlichtszene: Beide Szenen sind eng verwandt, indem sie das Bizarre der Verhaltensweisen als ein Merkmal sowohl der imaginären als auch der realen Rollenspiele und Konflikte hervorheben, also die Imagination als Bedingung der Realität, genauer des effet de réel veranschaulichen. Cäcilies Auftritt in dem Lokal der Prostituierten gerät mit ihrer Maskerade und ihrem Versuch, mit einer tragischen und finsteren Miene Kunden zu gewinnen, zunächst zur Groteske – mit vielen Merkmalen der Farce. Zur Farce gehören hier das böse Lachen der Zuschauer, die Schadenfreude (als eine Form des alltäglichen Sadomasochismus) und die Streiterei, die schließlich mit einer Prügelszene endet.61 Das plötzliche Erscheinen von Freud, dessen nächtliche Suche nach Cäcilie mit Motiven und Pointen einer Boulevardkomödie ausgestattet wird62, ändert die Situation und verwandelt die Farce in ein Drama, in dem es um die Entscheidung zwischen Leben und Tod geht. Freuds ‚realer‘ Auftritt, seine Intervention, die in den früheren Gesprächen immer nur als Stimme aus dem Off erscheint, durchkreuzt die wahnhafte Inszenierung Cäcilies. Der Dialog zwischen beiden verhindert Cäcilies Selbstmordversuch, Freuds schnelles Eingreifen wird als Wahrheitsspiel inszeniert, in dem nicht nur Cäcilies Leben auf dem Spiel steht, sondern Freuds eigene, bisher angewandte Theorie und Behandlungsmethode. Die extreme Theatralität der Szene, ihre Melodramatik führen im Sinne der sartreschen Inszenierung zu einer prise de conscience und schaffen so – für Cäcilie ebenso wie für Freud - die Voraussetzung für Erkenntnisse, die in den vorhergehenden psychoanalytischen Gesprächen und Traumanalysen noch nicht durchschaubar waren. Freud entdeckt nach der nächtlichen Eskapade, die im Kontext der psychoanalytischen Gespräche wie ein ebenso reales als surreales Intermezzo erscheint, jene psychischen Strukturen, die er später mit dem Begriff des Ödipus-Komplexes zusammenfassen wird. Freud beginnt mit Hilfe von Cäcilie die Sexualität als Basis sowohl der kindlichen als auch aktuellen Fantasien Cäcilies zu verstehen und er entdeckt darüber hinaus die comédie familiale als Voraussetzung der besonderen Fantasien und Probleme von Cäcilie.63 Vor allem die folgenden Szenen wechseln immer schneller zwischen kurzen fragmentarischen Erinnerungen und Rückblenden sowie aktuellen Ereignissen, wobei 60 Ebd., S. 299ff. 61 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 353. 62 Ebd., S. 351ff. 63 Zum Begriff der „comédie familiale“ bei Sartre vgl. bes. Les mots und L’idiot de la famille.

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Sartre in dem ständigen Wechsel virtueller und aktueller Bilder den von Deleuze analysierten „cristaux de temps“ erstaunlich nahe ist. L’image actuelle et l’image virtuelle coexistent et cristallisent, elles entrent dans un circuit qui nous ramène constamment de l’une à l’autre, elles forment une seule et même ‚scène‘ où les personnages appartiennent au réel et pourtant jouent un rôle. Bref, c’est tout le réel, la vie tout entière, qui est devenu spectacle conformément aux exigences d’une perception optique et sonore pure.64 Das schnelle Tempo der Schlussszenen, der nur im Film mögliche schnelle Wechsel der Zeiten und Orte steigern die Dramatik des Szenarios. Deutlich wird dabei auch die Nähe zum analytischen Drama, mit der vom Zuschauer längst geahnten und erwarteten Anagnorisis – aber Sartre verzichtet dabei keineswegs auf Überraschungseffekte, auf Elemente der Komödie, in der die Wiedererkennung, zur Verblüffung der Beteiligten, ebenfalls eine Rolle spielt. Cäcilie, die immer mehr zur Akteurin wird, zeigt Freud „ein farbiges Plakat, das eine fast nackte, angeblich spanische Tänzerin darstellt“65. Die Tänzerin ist zur Überraschung Freuds Cäcilies Mutter vor der Ehe und wird für Freud zum Anlass, den Blick des Analysten zu erweitern und die Rolle der Mutter in der Familie Cäcilies mit zu berücksichtigen. Mitten im Gespräch mit der Mutter, Frau Körtner, verändert sich das Bild. Das Drehbuch ermöglicht die plötzliche Rückblende, das Spiel mit Zeit. Wir sehen, 25 Jahre zurückversetzt, eine sehr schöne junge Frau mit einer gewagten Tanznummer, „Leda mit dem Schwan“, in einem Tingeltangellokal.66 Diese triviale Theater- und Schaunummer wird so inszeniert, dass vor allem die Schaulust der Zuschauer, die voyeuristische Neugier den Mittelpunkt bildet. Der Vorhang wird zugezogen, „als sich der Schwanenschnabel langsam dem Bauch der entrückten Tänzerin nähert“67. Hier geht es um den Blick der Zuschauer und die Reflexion der eigenen Schaulust. Damit korrespondiert die Szene aber auch mit jener „Vision“, mit der Freud sich an seine eigene Kindheit und seine eigene Mutter erinnert: „Das Kind mit offenen Augen, und wir sehen – fast mit seinen Augen – in der Ferne im Halbdunkel, wie eine große sehr gut gebaute Frau ihre letzten Kleidungsstücke fallen lässt…“68 Sartres Szenario konzentriert sich in solchen Szenen nicht nur darauf, die Vorgeschichte der freudschen Analyse der 64 Deleuze: L’image-temps, S. 112. 65 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 378. 66 Vgl. ebd., S. 381. 67 Ebd., S. 382. 68 Ebd., S. 390.

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voyeuristischen ‚Urszene‘ und des Ödipus-Komplexes zu veranschaulichen, sondern erweitert und öffnet über Freud hinaus den Spielraum der Analysen. Der Voyeurismus betrifft nicht nur individuelle Fälle bzw. die Pathologie einer einzelnen Familie, sondern erscheint am Ende als ein Grundelement der sinnlichen Wahrnehmung, als der Sinn69, der allen individuellen und öffentlichen Schauspielen und Inszenierungen zugrunde liegt. Die Schaulust wird in diesen Szenen nicht nur, wie bei Freud selbst, als Schautrieb problematisiert, sondern erscheint als eine Voraussetzung des Spiels im Spiels, der Theatralität, die das Freud-Szenario selbst veranschaulicht und in der Kombination theatraler und filmischer Darstellungsmöglichkeiten reflektiert.

3.

Das Freud-Szenario und die psychanalyse existentielle

Sartres Scénario Freud ist, wie angedeutet, ein Theaterfilm, der auf der Grundlage traditioneller und moderner theatraler Gattungen zugleich neue Möglichkeiten der filmischen Darstellung des Imaginären, der Träume, Tagträume und Fantasien aufzeigt. Zum Typ des Theaterfilms gehört, schon seit Renoir und Cocteau, der Versuch, die Theatralität der Gesellschaft zu zeigen, genauer die Analogien und Differenzen zwischen theatraler und filmischer Schaulust, die Spielformen der sichtbaren und unsichtbaren, öffentlichen und privaten Theatralität.70 In dieser Hinsicht erinnert das Freud-Szenario an filmische Elemente in Huis clos und besonders in Les jeux sont faits , aber es gelingt vor allem in dem Freud-Szenario die bereits in L’être et le néant formulierte Spieltheorie in die Praxis eines Szenarios umzusetzen und weiterzuentwickeln. In dem vorhergehenden Abschnitt ging es zunächst darum, die bisher weniger beachtete dramatische Form und Struktur des Szenarios am Beispiel einiger Szenen näher zu erläutern, das heißt Sartres besondere Kombination verschiedener Genres, von der Komödie bis zum analytischen Drama, von der Farce und Boulevardkomödie bis zum Melodram, vom epischen bis zum surrealistischen Theater. Bemerkenswert ist, wie Sartre das Imaginäre als Element der Realität ins Spiel bringt und dabei doch das eigene Prinzip des théâtre de situations konsequent verfolgt und vom traditionellen psychologischen Drama abgrenzt: „Ce que le théâtre peut montrer de plus émouvant est un caractère en train de se faire, le moment du choix, de la libre décision qui engage une morale et toute une vie.“71 Zu den Raffinessen Sartres gehört, dass das Ödipus-Drama, das am Ende als Erklärungsmodell der freudschen Recherchen er69 Vgl. den frz. Begriff „sens“, der Sinn und Sinnlichkeit verbindet. 70 Vgl. Lommel u.a.: Theater und Schaulust, S. 11ff. 71 Sartre: Un théâtre des situations, S. 20.

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scheint, in der Struktur des Szenarios schon angelegt ist, zugleich aber im Sinne Sartres umgedeutet wird: „La fatalité que l’on croit constater dans les drames antiques n’est que l’envers de la liberté.“72 Dieser Konzeption entspricht auch, dass Freud nicht als der berühmte, erfolgreiche Forscher gezeigt wird, sondern in seiner Unsicherheit, seinen Ängsten und Wünschen „Freud non pas quand ces théories l’avaient déjà rendu célèbre, mais à l’époque où vers l’âge de trente ans, il se trompait complètement et où ses idées l’avaient conduit dans une impasse désespérée.“73 Die letzte Szene, das Gespräch mit Fließ und Breuer auf dem Friedhof, ist typisch für das offene Ende. Freud löst sich von seinen Vätern und Mentoren und damit von den Rollenzwängen, die ihn bislang belastet haben; aber die neuen Ideen, die vor allem durch die Behandlung Cäcilies auftauchen, werden nicht mehr ausformuliert. Es bleibt dem Leser und Zuschauer überlassen, ein eigenes Urteil zu bilden. Das Freud-Szenario deutet an, dass Sartre, offensichtlich durch neue Freud-Lektüren bei der Vorbereitung des Projekts, seine Freud-Analysen in L’être et le néant im wahrsten Sinne des Wortes re-vidiert, das heißt mit der Suche filmischer Bilder neu reflektiert. Da das Szenario, wie schon erwähnt, keine direkte Auseinandersetzung mit Freud und seinen Schriften darstellt, sondern den Protagonisten als Theaterfigur präsentiert, wäre es problematisch, direkte Bezüge zwischen Sartre und Freud auf einer theoretischen Ebene zu diskutieren. Es geht vielmehr, wie auch Pontalis anmerkt74, um das Rollenspiel Sartres, der in dem Szenario mit der Empathie und Distanz zu Freud seine eigene Position neu bedenkt. Von besonderem Interesse sind dabei die medienästhetischen Aspekte, Sartres Versuch, theatrale und besonders filmische Möglichkeiten zu nutzen, um auf diese Weise die Theorie und Praxis der eigenen psychanalyse existentielle zu veranschaulichen. Schon in L’être et le néant betont Sartre: „Les conduites étudiées par cette psychanalyse ne seront pas seulement les rêves, les actes manqués, les obsessions et les névroses mais aussi et surtout les pensées de la veille, les actes réussis et adaptés, le style etc. Cette psychanalyse n’a pas encore trouvé son Freud.“75 In L’être et le néant weist Sartre darauf hin, dass die existentielle Psychoanalyse alle Verhaltensweisen betrifft, auch die scheinbar unwichtigen Phänomene des Alltags: „[…] autrement dit: qu’elle n’est pas un goût, un tic, un acte humain qui ne soit révélateur.“76 Wenn Sartre in Question de méthode (1960) und später ausführlich in 72 Ebd., S. 19. 73 Sartre: Entretien avec Kenneth Tynan, S. 161. 74 „… le scénario sur Freud fut aussi pour Sartre un scénario Freud où il tint son rôle.“, Sartre: Le scénario Freud, S. 20; vgl. auch Koch, s. Anm. 20. 75 Sartre: L’être et le néant, S. 663. 76 Ebd., S. 656.

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L’idiot de la famille den Begriff des vécu als Angelpunkt der existentiellen Psychoanalyse hervorhebt und präzisiert, so entspricht dies dem Ansatz von L’être et le néant und dem Vorbehalt gegenüber bestimmten Prämissen der freudschen Definition des Unbewussten. J’ai voulu donner l’idée d’un ensemble dont la surface est tout à fait consciente et dont le reste est opaque à cette conscience et, sans être de l’inconscient, vous est caché. Quand je montre comment Flaubert ne se connaît pas lui-même et comment en même temps il se comprend admirablement, j’indique ce que j’appelle le vécu, c’est-àdire la vie en compréhension avec soi-même, sans que soit indiquée une connaissance, une conscience thétique.77 Dans le livre que j’écris su Flaubert, j’ai remplacé mon ancienne notion de conscience – bien que j’utilise encore beaucoup le mot – par ce que j’appelle le vécu. […] [C]e terme, qui ne désigne ni les refuges du préconscient, ni l’inconscient, ni le conscient, mais le terrain sur lequel l’individu est constamment submergé par lui-même, par ses propres richesses, et où la conscience a l’astuce de se déterminer ellemême par l’oubli.78 Schon in dem Freud-Szenario, also noch vor L’idiot de la famille, nimmt Sartre die Gelegenheit wahr, dieses Konzept des vécu zu konkretisieren, und zwar nicht nur am Beispiel der theoretischen Diskussionen über die Psychoanalyse, sondern durch die scheinbar winzigen, nebensächlichen Details und Objekte, die der Film, mehr noch als das Theater, sichtbar machen kann. Zwischen den Maskeraden Cäcilies und den kleinen Ticks, zum Beispiel Meynerts Griff nach dem Schnapsglas oder Freuds Nasenbohren und seiner Lust zu rauchen besteht kein prinzipieller Unterschied. Alle Neurosen sind sexuellen Ursprungs, aber bei Sartre nicht durch unbewusste Triebe gesteuert, sondern im Grunde inszeniert, gewollt. In dem Szenario spricht Freud von seinem Projekt einer Psychopathologie des Alltagslebens, die Sartres Konzept besonders nahe ist. „Ich würde zeigen, dass die Normalen Verrückte sind, deren Neurose eine gute Wendung genommen hat.“79 Das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem bzw. Vorbewusstem, zwischen realen und imaginären, sichtbaren und verdeckten Rollenspielen des Alltags wird in dem Freud-Szenario nicht nur thematisiert, sondern filmisch veranschaulicht - durch die genau beschriebenen Blicke, Blickwechsel der Figuren bzw. der Kamera. Die Inszenierung der 77 Sartre: Situations X, S. 111. 78 Sartre: Situations IX, S. 108. 79 Sartre: Freud. Das Drehbuch, S. 231.

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Blicke und der Schaulust bietet Sartre die besondere Chance, die Spielformen des vécu und damit auch der mauvaise foi, die den alltäglichen Verhaltensweisen zugrunde liegt, sichtbar zu machen. Die filmische Großaufnahme ermöglicht es, jede winzige Geste und Gebärde, das Mienenspiel, die Masken, Metamorphosen sowie die körperlichen Aktionen der Figuren, die Täuschungsversuche, Grimassen und Maskeraden aufzudecken und zu analysieren. Allein die Veränderungen des Gesichtsaudrucks von Freud – von der düsteren, bitteren und finsteren Miene, von den Ängsten und Sorgen bis hin zum Erstarren oder zur Ironie und Lachen nehmen in dem Szenario einen breiten Raum ein; auch groteske Momente, wie zum Beispiel das von der Asche geschwärzte Gesicht gleich am Anfang, als Freud seine früheren Aufzeichnungen verbrennt, finden die Aufmerksamkeit Sartres. Für Pontalis liegt das Problem des Freud-Szenarios darin, dass das psychische Leben, wie Pontalis voraussetzt, nicht ohne Fälschung im Bild wiedergegeben werden kann: Das Bild nimmt das Unbewusste nicht an. „L’image ne reçoit pas l’inconscient.“80 Auf der einen Seite, so Pontalis, habe die Psychoanalyse das Imaginäre freigesetzt, „den Bereich des Sichtbaren über das Wahrnehmbare hinaus ausgedehnt und seine Wirkung sowohl im persönlichen wie im kollektiven Leben entdeckt: Träume, Tagträume Phantasien, visuelle Szenen, privates Theater, ideale Stätte von Visionen begleiten uns unablässig. Aber in anderer Hinsicht diskreditiert sie es, dieses Sichtbare, indem sie ihm den Status abspricht, auf den es Anspruch erhebt: Das Unbewusste lässt sich ebenso wenig sehen wie das Sein der Philosophen.“81 Wenn man, wie Pontalis, von Freuds Definition des Unbewussten ausgeht, ist diese Argumentation schlüssig: Das Unbewusste, verstanden als ein Spielraum der Triebe, ist nicht ohne weiteres in Bilder umsetzbar: „La pulsion opère et, au terme des ses opérations de pensée, elle traverse l’image; elle fait signe, elle ne fait pas l’image.“82 Pontalis, überzeugter Anhänger der freudschen Psychoanalyse, bedenkt dabei nicht, dass Sartre sich längst von Freuds Interpretation des Unbewussten entfernt hat. Sartre lehnt jede Mythologie des Unbewussten ab und damit insbesondere die freudsche Triebtheorie, aufgrund ihrer biologistischen und substantialistischen Aspekte.83 Alle Traumanalysen in dem Freud-Szenario sind daher darauf angelegt, die Inszenierbarkeit und Durchsichtigkeit der Träume und Tagträume als Spielformen des Imaginären darzustellen, wobei das Imaginäre bei Sartre als Akt des Bewusstseins gedacht wird, auch in den Erschei80 Ebd., Vorwort, S. 28. vgl. Sartre: Le scénario Freud, Préface, S. 21. 81 Ebd., Vorwort S. 28. 82 Sartre: Le scénario Freud, Préface, S. 22. 83 Vgl. Vf.: „Von der ‚psychanalyse existentielle‘ zur Sozialgeschichte der Literatur“, S. 109 ff.; Koch: „Sartre projette Freud sur l’écran.“, S. 574.

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nungsformen wahnhafter Irrealisationen. Der enge Zusammenhang von Bewusstsein und Imaginärem erscheint bei Sartre, wie auch Iser betont, als Spielbewegung, als ein Kaleidoskop ständig wechselnder Einstellungen: „Daß sich Imaginäres als Spiel präsentiert, hängt mit der ihm eigenen Unvorherbestimmbarkeit zusammen.“84 So beruhen zum Beispiel auch die Maskeraden, Einbildungen, Rollenspiele, Inszenierungen Cäcilies, wie angedeutet, auf Strategien, die durch die Gespräche mit Freud nach und nach durchschaubar werden. Auch bei Sartre gibt es Grenzen des Sichtbaren, sind die psychischen Vorgänge nicht von Anfang an durchschaubar und auch nicht ohne weiteres in theatrale Spiele oder filmische Bilder umsetzbar, aber sie sind im Prinzip zugänglich und vermittelbar. Unbestritten ist, bei Sartre wie bei Freud, dass die Sexualität die Wünsche und Ängste produziert, aber schon in L’être et le néant und in dem Freud-Szenario sowie in L’idiot de la famille bevorzugt Sartre den Begriff désir, der anstelle von Freuds Begriffs des Triebs das Begehren als „mode singulier de ma subjectivité“85 begreift. In dieser Hinsicht ist Sartre zum Teil schon den Überlegungen nahe, die Foucault in der Einleitung von Ludwig Binswangers Traum und Existenz mit seiner Kritik an Freud verbindet: Träume sind nicht nur die Geschichte früherer Erfahrungen, sondern Ausdruck der gesamten Existenz des Subjektes. Die Imagination, hier folgt Foucault Sartre, ist ein nicht abschließbarer Prozess der Suche nach dem Bild; „das Band zwischen dem Bild und dem Sinn“ bleibt, so Foucault, „immer nur ein mögliches, eventuelles, kontingentes.“86 Auch wenn Sartre in dem Zweifel an der Fixierbarkeit der Bedeutungen nicht ganz so weit geht wie Foucault oder Barthes, so ist er doch - in der Darstellung der Theatralität des Begehrens und der nicht abschließbaren Suche - in dem Freud-Szenario auf dem Wege zu einer neuen Traum- und Medienästhetik, die die Spielfreude, die ästhetische und erotische Lust am Schauspiel und Kino, der Mimesis, der Inszenierung der Träume und Tagträume hervorhebt - mit der Leitfigur des homo ludens in seiner Freiheit, Kontingenz, Neugier, aber auch seiner Fragilität, Abgründigkeit und Unheimlichkeit. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, die sartresche existentielle Psychoanalyse im Blick auf jene Autoren zu diskutieren, die sich mehr oder weniger explizit auf Sartre beziehen bzw. von Sartre angeregt werden, wie zum Beispiel neben Foucault besonders Barthes, Lacan, Deleuze oder Baudrillard. Das Scénario Freud verdient dabei mehr als bisher Beachtung, repräsentiert aber nur eine wichtige Zwischenphase, die dann mit L’idiot de la famille und auch Les mots

84 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 350. 85 Sartre: L’être et le néant, S. 455. 86 Binswanger: Traum und Existenz, Einleitung von Foucault, S. 17.

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zu weiteren Analysen und Kombinationen führt. Als Entwurf eines ungewöhnlich raffinierten, bis zum Schluss spannenden und auch unterhaltsamen Theaterfilms nimmt das Freud-Szenario auch im Vergleich mit den öfter gespielten Theaterstücken Sartres eine Sonderstellung ein. Zu fragen bleibt daher nicht nur, warum Huston mit dem Szenario Sartres nicht viel anfangen konnte, sondern auch welche Möglichkeiten für neue Inszenierungen denkbar wären.

4.

Nachwort: Der Film von Huston und weitere Perspektiven

Wer Schwierigkeiten mit den langen, komplizierten Essays Sartres hat, etwa der Flaubert-Studie L’idiot de la famille, sollte, so Walter van Rossum, unbedingt das Freud-Szenario lesen: „Ungemein spannend, Seite für Seite ein echter Sartre und ein vielschichtiger Freud.“87 Die Gründe, warum die Zusammenarbeit Sartres mit Huston so schwierig war und schließlich zum Rückzug von Sartre führen, wurden von Sartre und Simone de Beauvoir kommentiert und auch von Jean-Bernard Pontalis, Gertrud Koch und Elisabeth Roudinesco näher erläutert.88 Sartres erste Fassung, die auch der vorliegenden Analyse zugrunde liegt, hätte einen Film von etwa acht Stunden ergeben, die zweite Fassung, die in der Ausgabe von Pontalis zum Teil abgedruckt ist, gerät sogar noch etwas länger. Auch als Sartre Huston auf dessen Farm in Irland besucht, gelangen beide trotz langer Diskussionen nicht zu einer Lösung. Huston sei, so Sartre später, denkfaul: „Il fuit la pensée, parce qu’elle attriste.“89 Und Huston beschreibt Sartre als einen unermüdlichen Raisonneur, der ihn kaum zu Wort kommen lässt. „Il m’assaillait d’un flot de paroles.“90 Es lag offensichtlich nicht nur an dem Kürzungsproblem, dass beide nicht zueinander fanden, sondern auch an der Differenz der Konzepte. Die später von den neuen Drehbuchautoren Charles Kaufman und Wolfgang Reinhardt auf der Basis von Sartres Vorlage gekürzte Version wurde 1961 von Huston verfilmt; Sartre hatte aber inzwischen seinen Namen zurückgezogen. Neben Montgomery Clift, der die Rolle Freuds spielt, sollte wie schon in dem vorhergehenden Film von Huston, Misfits, Marilyn Monroe in der Rolle der Cäcilie engagiert werden. Die Rolle übernahm dann aber Susannah York. In dem Film mit dem Titel 87 Van Rossum, Walter: „Der junge Freud – ein Drehbuch von Jean-Paul Sartre.“, in: Die Zeit, 29.04.1994, S. 66. 88 Vgl. Sartre: Freud. Das Drehbuch, Vorwort von Ponttalis, S. 9ff.; Koch: „Sartre projette Freud sur l’écran.“, S. 569ff.; Roudinesco: „Sartre lecteur de Freud.“, S. 596ff. 89 Koch: „Sartre projette Freud sur l’écran.“, S. 572. 90 Ebd., S. 572.

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Freud: The Secret Passion, der ohne Zweifel einige gute Szenen hat, repräsentiert Clift mit seinem ernsthaften, manchmal pathetischen Auftreten ein Konzept, das an der Bedeutung der Erkenntnisse Freuds keine Zweifel lässt. „Seine Mimik“ – so Ursula von Keitz in ihrer detaillierten Analyse des Films –, „so verletzlich Clifts Augenpartie zwischen seinem schwarzen Haar und dem Vollbart hervortritt und sich in seinem Blick der Nachhall eines ungeheuren Schreckens zu spiegeln scheint, ist zumindest in den Tagesszenen ruhig, vergeistigt, dabei jungenhaft und verhalten.“91 Der Film erscheint als eine Art Dokumentation zur Darstellung und zum Lob der Entdeckungen Freuds und der Psychoanalyse, die besonders in den 50er und 60er Jahren in den USA ihre stärkste Wirkung entfaltet und auch in vielen Theaterstücken und Filmen, zum Beispiel bei Hitchcock, thematisiert wird. Die Erforschung des Unbewussten wird in den Traumsszenen des Films, die genau markiert sind, als fantastisches und mutiges Abenteuer stilisiert, gleichsam als eine Höllenfahrt, die Freud mit Bravour besteht. In dem Vorspann heißt es: „Dies ist die Geschichte von Freuds Abstieg in eine Region, die fast so schwarz ist wie die Hölle selbst, in den Kerker des menschlichen Unterbewusstseins, deren Tür er als erster aufstieß.“92 Der Begründer der Psychoanalyse erscheint, so Ursula von Keitz, als mystische Figur, als „Erlöser und Befreier“93. Es bedarf keiner weiteren Hinweise, um zu sehen, wie weit Sartres Szenario von dieser Konzeption abweicht: Der Film vermeidet es, in seiner eher lehrhaften und durchweg seriösen Tendenz, die Unsicherheiten, Zweifel, Irrtümer und Ambiguitäten, die Freuds Experimente bei Sartre kennzeichnen, zum Ausdruck zu bringen. Er vermeidet es auch, Sartres eigene Interpretation Freuds mit ins Spiel zu bringen. Damit verpasst der Film auch die Chance, die Theatralität und groteske Komik und auch die surrealen Momente, die viele Szenen bei Sartre bestimmen, filmisch zu gestalten. Die Autorität des Psychotherapeuten wird in Hustons Film nicht in Frage gestellt. Vor allem die spektakulären Rollenspiele und Maskeraden, die Zwischenformen zwischen Träumen, Tagträumen und Visionen, die bei Sartre viele Szenen strukturieren könnten zu filmischen Experimenten reizen. Nur ab und zu, z.B. in den Charcot-Szenen und in den Szenen mit Cäcilie, gelingt es dem Film, einige Aspekte der sartreschen Vorlage anzudeuten.94 Hustons Film 91 Keitz: „Ich weiß nicht, was ich werd. Jedenfalls kein Arzt!“, S. 235. 92 Ebd., S. 225. 93 Ebd. Für Ursula von Keitz hat Hustons Film durchaus filmische Qualitäten. „Kinematographische Nervenkust“, die aber „ihr eigenes behavioristisches Grundkonzept unterläuft, indem sie die Welt der sichtbaren Erscheinungen als solche hinterfragt.“ (S. 235). 94 Vgl. Keitz, ebd. S. 225 ff.

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konzentriert sich – in Anbetracht des vielfältigen, verschiedene Genres kombinierenden Repertoires des sartreschen Theaterfilms – am ehesten auf die Elemente des analytischen Dramas und bevorzugt – anders als Sartre - die traditionelle Variante einer quasi-historischen Rekonstruktion. Es wäre längst an der Zeit, Sartres Scénario Freud neu zu inszenieren, sei es im Theater oder im Film. Der einzige mir bekannte Versuch einer Theateraufführung ist eine von Jürgen Kühnel 1993 eindrucksvoll inszenierte „Szenische Lesung“ der Studiobühne der Siegener Universität. Vor allem die grotesken Elemente, die Formen des Spiels im Spiel, das Changieren zwischen analytischem Drama, Traumszenarien und Komödie könnten Regisseure reizen, die, wie z.B. Frank Castorf in seiner Inszenierung von Les mains sales, neue Regiekonzepte entwickeln und dabei vor allem den für Sartre grundlegenden Topos von der Welt als Bühne neu interpretieren.95 Noch attraktiver wäre ein neuer Versuch einer filmischen Gestaltung, etwa mit Regisseuren, die den Mut und die Möglichkeit haben, einen längeren Spielfilm oder auch einen mehrteiligen Fernsehfilm zu produzieren; wie z.B. Faßbinder mit Berlin Alexanderplatz oder Jacques Rivette mit dem Theaterfilm Out 1. In Sartres Scénario Freud steckt ein Potential, das nicht nur für die Sartreforschung, sondern auch für intermediale Experimente zwischen Theater, Film und Fernsehen neu zu entdecken wäre.

Literaturverzeichnis Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Theater – Film – Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1997. Binswanger, Ludwig: Traum und Existenz. Einleitung von Michel Foucault, Bonn 1992. Borges, Jorge Luis: Libro de sueños, Madrid 1976. Chateau, Dominique: Sartre et le cinéma. Biarritz 2005. Deleuze, Gilles: L’image-temps, Paris 1985. Fischer-Lichte, Erika/Pflug, Isabel (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Basel 2000. Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, London 1950.

95 Vgl. Nuy, Sandra: Bildhafte und andere Gedankenspräge. Zweimal Die schmutzigen Hände auf der Bühne, in diesem Band.

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Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt a.M. 1981 (zuerst Wien 1900). Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2001. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959. Heumann, Lucia: Ethik bei Sartre und Fichte. Dissertation Universität Siegen 2007 (Ms.). Iser, Wolfgang: Das fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt 1991. Jones, Ernest: The Life and Work of Sigmund Freud. Bd. 1, New York 1953 (dt. Ausgabe: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Wien 1960). Keitz, Ursula von: „‚Ich weiß nicht, was ich werd. Jedenfalls kein Arzt!‘ Zwei filmische Zugänge zur Person Freud“, in: Ballhausen, Thomas u.a. (Hrsg.): Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film, Wien 2006, S. 224-244. Koch, Gertrud: „Sartre projette Freud sur l’écran“, in: Les temps modernes Nr. 531-533, Okt-Dez 1990, S. 569-587. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004. Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. Morita, Shuji: Sartre et le cinéma, Thèse Paris 1990 (dact). Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hrsg.): Theater und Kino in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000. Roloff, Volker: „Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi“, in: König, Traugott (Hrsg.): Sartre. Ein Kongress, Reinbek b.H. 1988, S. 93-106. Roloff, Volker: „Von der ‚psychanalyse existentielle‘ zur Sozialgeschichte der Literatur. Anmerkungen zur Methode Sartres, besonders in L’idiot de la famille“, in: Lendemains 17/18, 1980, S. 109-124. Roudinesco, Elisabeth: „Sartre lecteur de Freud“, in: Les temps modernes Nr. 531-533, Okt-Dez. 1990, S. 589-613. Sartre, Jean-Paul: Freud. Das Drehbuch, Reinbek b.H. 1993. Sartre, Jean-Paul: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film (in: Gesammelte Werke) Reinbek b.H. 1991. Sartre, Jean-Paul: Le scénario Freud. Préface de J.-B. Pontalis, Paris 1984.

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Sartre, Jean-Paul: Situations X, Paris 1976. Sartre, Jean-Paul: Un théâtre de situations, Paris 1973. Sartre, Jean-Paul, Situations IX, Paris 1972. Sartre, Jean-Paul: Situations IX. Mélanges, Paris 1972. Sartre, Jean-Paul: L’idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, Paris 1971. Sartre, Jean-Paul: Les mots, Paris 1964. Sartre, Jean-Paul: Critique de la raison dialectique, précédé de Question de méthode, Paris 1960. Sartre, Jean-Paul: Saint Genet. Comédien et martyr, Paris 1952. Stukemeier, Iris: Sartres Blick auf Freud. Eine Untersuchung literarischer Motive in Le scénario Freud. Siegen 1995 (Staatsexamensarbeit dact.). Waibel, Violetta L.: Unbewusstes oder Unaufrichtigkeit? Freud und Sartre im Widerstreit über Reflexivität und Präreflexivität des Bewusstseins“, in: Grundmann, Thomas (u.a.): In: Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Selbstgefühl. Frankfurt a.M. 2005, 460-491. Winter, Scarlett: Spielformen der Lebenswelt. Zur Spiel- und Rollenmotivik im Theater von Sartre, Frisch, Dürenmatt und Genet, München 1995.

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Jeu, Machines, Finitude Pour Mettre en Scène le Théâtre de Sartre „la machine […] n’est pas seulement un impératif pratique et un instrument d’exploitation mais aussi un organe d’aperception“ (L’Idiot de la famille)

Abstract Der für Sartre grundlegende Begriff der Theatralität und des Spiels ist Ausgangspunkt für die Frage, wie Sartres Theaterstücke am besten ‚in Szene gesetzt‘ werden können. Sartres Theater erscheint – paradigmatisch in Kean – als eine Form des Spiels im Spiel, als eine Möglichkeit des „redoublement de la théâtralité“. Bei der Inszenierung der Stücke geht es um die Darstellung des Imaginären („la montre de l’imaginaire“), die Irrealisation der Schauspieler und nicht zuletzt die Rolle der Objekte, der „machines au théâtre“. Dazu gehören die neuen Medien wie Radio, Fernsehen, Film und Magnetophon, die – besonders in Les séquestrés d’Altona – eine wichtige Funktion im Rahmen der „mise en scène“ erhalten.

Sans le moins du monde me prendre pour un metteur en scène, ni bien sûr donner des leçons aux metteurs en scène éventuellement intéressés par Sartre, je voudrais suggérer trois directions dans lesquelles pourraient être orientées les ou plutôt des mises en scène de pièces sartriennes.1 Je m’appuierai sur deux définitions de la théâtralité. D’une part, tout le monde a en tête celle qu’en 1954 proposa Roland Barthes, dès la première page de son étude sur „Le théâtre de Baudelaire“: „le théâtre moins le texte“, soustraction qui laisse toutefois „une épaisseur de signes et de sensations“, toute „l’extériorité des corps, des objets, des situations“2. Il ne serait pas inutile de se demander en quoi au juste doit consister cette „extériorité“ pour devenir théâtrale: sans doute faut-il qu’une opération de cadrage et d’ostension, assumée par la mise en scène et par les acteurs, la transforme en signes spectaculaires3. Mais on peut aussi songer à une définition réflexive de la théâtralité: elle tiendrait alors à la „conscience“ qu’une pièce manifeste d’être une pièce, par le 1

Ces pages sont extraites d’un article paru dans Les Temps modernes, juillet-octobre 2005, sous le titre: „Sartre: un théâtre d’idées sans idées de théatre?“.

2

Repris dans Barthes: Essais critiques.

3

Voir Féral: „La théâtralité“.

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biais des personnages ou d’une structure attirant l’attention sur son caractère théâtral (on songe à des énoncés du type „Nous jouons la comédie“, à une forme comme le théâtre dans le théâtre, etc.).

Le jeu du jeu Le goût de Sartre pour le baroque (entendu comme esthétique de la métamorphose et de l’ostentation), sa passion pour le jeu, acte libre et type de projet dans lequel le faire est irréductible à l’être4 – et surtout pas réductible au désir d’être un „en-soi-pour-soi“ comme Dieu –, la définition de la conscience comme jeu (au double sens de non-coïncidence et de comédie) avec soi… tout cela culmine dans Kean (1953), qui est beaucoup plus qu’une simple adaptation de la pièce de Dumas, et qui forme, dans la présente perspective, l’apogée du théâtre de Sartre. Il faut ici renvoyer à l’étude, excellente mais trop peu connue, qu’en a donnée en 1982 Michel Pruner, qui dénombre cinq procédés utilisés par Sartre pour „mettre en jeu le théâtre, ou – si l’on préfère – mettre en théâtre le jeu“5. 1) La pièce s’ouvre sur le dialogue entre deux jeunes mondaines, Eléna et Amy: cette scène est à la fois une scène de rivalité entre deux coquettes, drôles et méchantes, et une discussion théorique portant sur le théâtre. Amy est incapable de se laisser prendre par le phénomène d’irréalisation: comme elle dira plus loin dans la pièce, „Quand on a vu vingt fois Othello étouffer Desdémone avec un oreiller, ils peuvent bien changer d’Othello et de Desdémone, c’est toujours le même oreiller“; Eléna au rebours se laisse totalement prendre au piège de l’illusion et de l’identification, si bien qu’elle fait du personnage une réalité: Amy ne croit pas assez au théâtre, Eléna y croit trop. 2) Le personnage central, Kean, est un acteur, qui nous est montré dans l’exercice de son métier, inséparable d’une réflexion sur ledit métier, d’autant plus que se présente à lui une jeune fille, Anna, qui veut devenir actrice. 3) La société tout entière est schématiquement présentée comme un théâtre, par exemple celui du jeu de société, ou de la diplomatie (le mari d’Éléna est diplomate), ou de l’amour. 4) La pièce se déroule pour l’essentiel dans les coulisses, au sens large d’un théâtre: Sartre donne à voir la préparation matérielle du spectacle (le coiffeur, le souffleur qui fait répéter…), la représentation côté scène (a parte dans le jeu, commentaires murmurés pendant la réplique du partenaire, trous de mémoire, lapsus récupérés brillamment, art de laisser se prolonger les applaudissements), et côté salle, puisque plusieurs personnages sur scène regardent Kean et Anna jouer Othello, et que la pièce 4

Voir le quatorzième des Carnets de la drôle de guerre et L’être et le néant, p. 670-671.

5

Pruner: „Sur le Kean de Sartre. Approche d’une théorie de l’acteur“.

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montre leur participation à la représentation (sommeil, bravos, sifflets): si bien que les spectateurs „sont en même temps sujets et objets d’un regard“. Mais les coulisses du théâtre, c’est aussi „tout un passé théâtral, une culture […] dans laquelle l’art dramatique prend ses racines“, et la pièce est un festival de citations extraites du répertoire. Ainsi: „Un acte, un geste, là est la question“, se demande Kean. 5) Enfin, Sartre donne à voir, sous trois formes différentes, un processus d’improvisation dans lequel „un acteur réel joue le rôle d’un acteur imaginaire qui joue un rôle alors qu’il n’est pas en représentation“. Par exemple (acte II, 3), Pierre Brasseur joue Kean, acteur chevronné qui reçoit Anna, apprentie comédienne, et lui fait passer une audition, mais ils la jouent tantôt comme une audition codée (la vedette fait du plat à l’apprentie, laquelle est prête à tout…), tantôt en dénonçant ce code. Impossible de rentrer plus avant dans les détails. Délaissons Kean: les autres pièces de Sartre n’ignorent pas non plus certains procédés par lesquels le jeu est à la fois déclaré, exhibé, parfois dénoncé. Tantôt interviennent des personnages de meneurs de jeu, ou bien qui le deviennent: ainsi le Montreur d’images, relayé par un Récitant, au début de Bariona, ou Nekrassov, metteur en scène de ses propres impostures, ou le vieux von Gerlach, qui se fait montreur par images cinématographiques interposées de son fils, Frantz. Tantôt les scènes se construisent sur des schèmes de jeu internes, ce qui permet un redoublement de théâtralité: ainsi dans Les séquestrés (I, 1: le jeu de l’attente, rituel familial éprouvé; I, 2, le Père comme manipulateur de sa propre famille; I, 4, l’interrogatoire; II, 3, Frantz joue au magicien avec Johanna; III, 4, Werner joue au soudard, lui dit sa femme; IV, 9, le rituel de l’épreuve, etc.). Tantôt encore (mais au fond, en même temps), les paroles et les gestes des personnages s’affichent comme de théâtre: ainsi dans cet échange entre Hugo et Jessica (Les mains sales): „Tu veux jouer à la femme d’intérieur?/Tu joues bien au révolutionnaire“, ou bien dans le geste de se frotter les mains, tellement fréquent, dans Les séquestrés, que les références s’imposent, à la fois à Ponce-Pilate, et aux traîtres de mélodrame. De plus, un personnage sartrien tend à se composer de plusieurs rôles: Goetz ou Frantz sont à la fois soldats, mondains, (faux) prophètes… Dans chaque pièce de Sartre, se rencontrent des moments où la parole des personnages devient poétique; ainsi dès Bariona, où le héros éponyme s’exclame, par exemple: „Voici revenu le temps de combattre, le temps des moissons rouges et des groseilles de sang qui perlent aux lèvres des blessures“; dans cette irréalisation du verbe, le théâtre exhibe les mots et fait résonner la parole. Constamment, les réactions du public sont anticipées, comme dans cette réplique que Frantz adresse à Léni: „FRANTZ, il se laisse faire un instant, puis bondit en arrière. – À distance! À distance respectueuse. Et surtout pas d’émotion“. Faire en sorte que toute cette exhibition du jeu ne reste pas purement verbale, n’est-ce pas très précisément l’affaire du metteur en scène?

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Comment comprendre cette importance accordée au jeu, dans la perspective d’un théâtre qui se voudrait engagé? Rien n’est assuré, puisqu’on peut proposer deux interprétations opposées. La première rejoindrait le postulat d’Antoine Vitez, selon lequel „le théâtre a [une] fonction de mise en ironie visà-vis de toute idéologie dominante“6, et elle s’appuierait sur une page singulière de L’Idiot, qui présente l’acteur (par exemple Kean) comme un Je qui produit un Il, le personnage (par exemple Hamlet), qui lui-même dit Je; ce qui manquerait ici, c’est le Tu, „marque de la réciprocité“, impossible parce que Kean ou le jeune Gustave acteur „sont sur les planches, intouchables, séparés des témoins plus encore par la flamme de l’imaginaire qui les enveloppe que par les feux de la rampe“7. Séparé des témoins: l’acteur „remplace la communication par la montre“, et donc on est au plus loin d’un je + tu, ou d’un je + vous, bref de la communauté de l’engagement. Cependant – deuxième interprétation possible – une autre page de L’Idiot invite à penser qu’il y aurait un autre enjeu à ce jeu: „puisque la praxis est rigoureusement bannie de toute représentation [„le discours théâtral n’offre pas de prise aux actes verbaux“], on remplacera la fermeté volontaire par les emportements de la sensibilité: en d’autres termes, on la peindra par son contraire“8. L’excès de théâtralité renverrait négativement à la vérité de l’acte, hors théâtre. On retrouve la théorie de l’engagement négatif: l’exhibition de gestes et de belles paroles finirait par rendre sensible la nécessité d’un acte9. Est-elle tenable? Kean n’a sans doute jamais conduit personne à faire la Révolution… Face à cette ambiguïté (les redoublements du jeu excluent-ils tout engagement, ou y conduisent-ils par renversement?), il est tentant de déplacer le terrain de l’interprétation. Le théâtre sartrien ne formerait-il pas avant tout un élément de la réflexion sartrienne sur le corps? Or le corps de l’acteur présente un cas particulier d’incarnation. Barthes soutenait (dans „Le théâtre de Baudelaire“) que le théâtre serait le lieu d’une „ultra-incarnation, où le corps est double, à la fois corps vivant venu d’une nature triviale, et corps emphatique, solennel, glacé par sa fonction d’objet artificiel“. Emphatique? Non, comique aussi bien, avait montré Sartre dans Kean, et il y reviendra dans L’Idiot de la famille: à sept ans Gustave veut être un grand acteur, c’est-à-dire qu’il „éprouve une volupté suspecte [aux yeux de ses parents] à engager son être entier dans la 6

Vitez: Le Théâtre des idées, p. 77.

7

Sartre: L’Idiot de la famille, p. 765.

8

Ibid., p. 167.

9

Voir Sartre écrivant dans son texte sur Nizan: „Quand la mer chante, n’y sautez pas“ (Situations, IV), i. e. défiez-vous des Sirènes, du beau style. L’exhibition du beau style devrait en détourner, c’est le substrat du fonctionnement pragmatique espéré pour Les mots.

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production d’une apparence“10. Engager en une ultra-incarnation? Non, plutôt en une infra-incarnation ou hypo-incarnation, si j’ose ce petit monstre hybride qui a le mérite de renvoyer au mot qui en grec, chez Platon ou Aristophane, désigne l’acteur, hypocritès. Reprenant le schéma de L’Imaginaire, livre de trente ans antérieur (1941), Sartre montre comment l’acteur (par exemple Kean) se sert de son corps, de ses affections, de son exaltation aussi (là se marque la différence avec Diderot), en les irréalisant, si bien qu’il en fait un analogon (symbole matérialisant l’objet visé), pour viser un objet absent ou fictif doté de passions propres (un personnage: par exemple Hamlet). Un acteur, c’est donc quelqu’un qui irréalise sa personne en l’être d’un personnage, si bien que son corps contingent se sert de „comportements […] dégraissés, asséchés“11, calculés, efficaces et indispensables au rôle, mais, au total, en vain (Kean se tend vers Hamlet, mais Hamlet ne sera jamais Kean), devant des spectateurs qui usent d’une perception irréalisante (en se figurant, par-delà la personne de l’acteur, le personnage du rôle), et dans le cadre d’une entreprise, le théâtre, que Sartre définit comme „la montre de l’imaginaire“12. Le jeu redoublé contribue à produire l’hypo-incarnation de l’acteur. Ainsi, ce penchant baroque et cette exaltation du jeu constituent une première orientation possible pour des mises en scène du théâtre de Sartre. C’est en gros celle qu’avait choisie Daniel Mesguich en 2001 pour Le Diable et le bon Dieu. Une autre orientation fonctionnerait en quelque sorte à l’inverse: elle ne serait pas irréalisante, mais réalisante. On passe alors à la définition „barthésienne“ de la théâtralité, et d’abord à l’extériorité des objets: une manière de mettre en scène Sartre serait d’insister sur le rôle des objets, et plus précisément des machines, dans son théâtre.

Machines au théâtre Sartre a été l’un des premiers à réfléchir aux conséquences, sur la littérature, de l’invention de nouveaux media: ils transforment les belles-lettres en un art qui s’industrialise. C’est le mot qui apparaît dans la dernière partie de Qu’est-ce que la littérature?, „Situation de l’écrivain en 1947“; en effet, journal, radio et cinéma donnent à la littérature un public plus large, mais touché „moins profondément“, recevant les œuvres „avec plus d’indifférence et de scepticisme“13. 10 Sartre: L’Idiot de la famille, p. 661. 11 Sartre: L’Idiot de la famille, p. 783. 12 Sartre: L’Idiot de la famille, p. 868. 13 Sartre: Situations, II, p. 270. Voir aussi Denis: „Genre, public, liberté. Réflexions sur le premier théâtre sartrien (1943-1948)“, p. 153-154.

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De plus, l’oral menace l’écrit. Dans Les mains sales, au début du Deuxième tableau, Ivan déclare à Hugo que le journal fait par ce dernier lui „passe souvent entre les pattes“, mais qu’il ne le lit pas: „C’est pas votre faute mais vos nouvelles sont en retard de huit jours sur la BBC ou la Radio soviétique“. L’écrit est en retard sur l’oral: la presse (et Sartre pense à Nizan journaliste), mais aussi la littérature, dans le champ de la politique, se trouve désormais en position seconde. Le théâtre de Sartre enregistre une redistribution des cartes dans le jeu moderne de la circulation de l’information. Le même Ivan, dans une esquisse du même tableau, avoue à Hugo que les camarades ne lisent pas le journal qu’il fait: „Les types ont la radio ou bien ils vont l’écouter chez le voisin. C’est plus vivant“, et le speaker se regarde moins parler qu’Hugo ne se regarde écrire. Bref: la radio est vivante, mais l’écrit est mourant. Cela tuera ceci. L’idée de Sartre serait de reprendre en main et en œuvre ce qui aliène la littérature et sa réception, en intégrant radio et cinéma à ses pièces. Autre bénéfice de l’opération: dépasser l’individuel vers le collectif ou l’historique –nous vivons dans un monde de plus en plus technique, et le théâtre doit en rendre compte. On pourrait donc mettre Sartre en scène en insistant sur l’exploitation que font ses pièces du microphone, de la radio, du cinéma, du magnétophone. En proposant une ostension de cette extériorité machinique. Vous me direz que j’ai oublié le téléphone: je l’admets. Certes il y a cette phrase de Frantz dans Les séquestrés: „le trentième ne répond plus“, avec léger effet burlesque, pour cet appel aux siècles futurs, et thème de la communication en faillite; ou encore les ordres donnés par téléphone dans cette farce qu’est Nekrassov, pièce où la photographie de presse joue aussi un rôle. Mais on ne peut tout décrocher. Du microphone je dirai peu: il vient à l’aide de Jupiter tentant d’impressionner Oreste, à l’acte III des Mouches: „Sa voix est devenue énorme“. Une autre didascalie précise: „Mélodrame“. Indication à prendre je crois dans le sens étymologique du terme: Jupiter psalmodie ses paroles, dans un effort pour envoûter Oreste. Mais on peut aussi y entendre la voix même de l’autorité, ou de la tyrannie allemande, tonnante et grondante. La radio joue un rôle essentiel dans Morts sans sépulture. Dès la scène 1 du Premier tableau, les prisonniers entendent la radio qu’écoutent les Miliciens: „Une musique vulgaire et criarde éclate soudain“. Une polka: „Je hais cette musique“, dit Henri. La radio apparaît comme un premier outil de torture. Au deuxième tableau, scène II, les Miliciens écoutent les nouvelles: on entend successivement une phrase mystérieuse de Radio-Londres, puis la voix du speaker qui minimise l’avancée des Alliés qui ont débarqué – la radio représente donc la voix de l’Histoire, avec sa grandeur, ses énigmes, et ses mensonges. Dans le même tableau, à la scène IV, Landrieu, le chef des Miliciens, allume la radio pour couvrir les cris d’Henri qu’on torture: „Musique et cris“. La radio symbolise

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alors non plus la voix de l’Histoire – comme encore au début du quatrième tableau14 –, mais celle de l’Art utilisé (en vain?) pour couvrir l’horrible cruauté du réel. Dans Les mains sales, la voix d’un speaker à la Radio est la première que l’on entende, à la scène I du Premier tableau: Olga écoute un poste de TSF. Toujours la voix de l’Histoire, mais désormais c’est la radio elle-même qui fait l’exposition, exposition synthétique de la situation en Illyrie. Plus besoin de confident, de valet ou de soubrette. Dernier exemple, Les séquestrés. Sartre y fait intervenir à la fois radio, cinéma et télévision, magnétophone. Frantz parodie les émissions de la radio, dans ses enregistrements au magnétophone: soit celles de la propagande nazie, soit celles de la BBC (avec le caractère énigmatique de leurs messages codés), soit même l’appel du 18 juin, soit enfin les reportages qui rendirent compte des procès de Nuremberg. L’expression de „Radio-Frantz“ s’impose, parce que tout comme un appareil de radio, Frantz est traversé par diverses voix: dès la nouvelle „La Chambre“, l’appareil de TSF symbolisait pour cette raison la folie. Mais le modèle de l’émission radiophonique signifie aussi une aliénation par la technique, sous la forme double de la métallisation de la voix humaine, et de la passivité ainsi que de l’atomisation des auditeurs. Ce dernier point est analysé dans la Critique de la raison dialectique: „le fait même d’écouter la radio […] établit un rapport sériel d’absence entre les auditeurs“, j’écoute sans réciprocité (je ne peux lui répondre) une „Voix-Autre“, et je ne puis agir sur les autres auditeurs, je ne suis plus que „le membre inerte d’une série“, toute praxis commune est impossible15. Donc les auditeurs (le public, dans la salle) des monologues de Frantz éprouvent cette situation de non-réciprocité et de passivité, qui est décisive pour Sartre dans l’expérience moderne du collectif. Enfin, le modèle radiophonique exhibe une dernière forme d’aliénation, que Sartre explicitera dans sa préface à La Promenade du Dimanche de Georges Michel, en 1967; il y évoque le „noble verbiage“ de l’ORTF et de la radio: „ces âneries pompeuses se sont aussi glissées en nous: il est rare que nous nous exprimions comme un speaker de la radio mais le speaker est entré au plus profond de notre cœur, il parle et ses paroles servent de modèle intime à notre pensée“. La radio est le moyen d’une aliénation par les lieux communs: écoutant Radio-Frantz (et non Radio-France…) nous devenons „le support passif

14 Landrieu apostrophe le poste: „Salaud!“ – parce que la réception est brouillée. Il écoute un instant la B.B.C., „un Tchèque qui parle à Londres“. Encore une fois la voix de l’Histoire, qui replace la situation locale dans un monde global, la torture dans la guerre. 15 Sartre: L’Idiot de la famille, p. 320-324.

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de ces relations impersonnelles et négatives de tout le monde avec tout le monde“. Pour ce qui est du rôle du cinéma dans Les séquestrés, je me bornerai à rappeler qu’il intervient sous deux formes. D’une part, Frantz imagine, sous la forme d’une vitre noire où se graveraient les moindres actes des hommes, un enregistrement universel et en direct de l’Histoire, une sorte de reportage cinématographique, ou plutôt télévisuel. Dans la logique paranoïaque de Frantz, la technique moderne (la télévision ne se répand qu’après la deuxième guerre), par un archivage perpétuel et impitoyable, se met au service d’un procès de tous les instants. On notera la couleur noire, qui suggère la violence et l’inintelligibilité de l’Histoire. Par ailleurs, il est fort possible que Sartre se souvienne d’un poème de Hugo, „La vision d’où est sorti ce livre“, qui forme le prologue de la deuxième série de La Légende des siècles: „J’eus un rêve: le mur des siècles m’apparut“, et plus loin: „Toute la vision trembla comme une vitre“. Mais il se peut aussi que Frantz ait lu Camus, qui en Suède, dans sa conférence du 14 décembre 1957, se demandant „si le réalisme pur est possible en art“, répondait qu’il n’y a „qu’un seul film réaliste possible, celui-là même qui sans cesse est projeté devant nous par un appareil invisible sur l’écran du monde“16. On croyait être délivré de Dieu: mais reste l’Histoire, dans le rôle d’un impitoyable surveillant. La deuxième forme sous laquelle intervient le cinéma est celle des scènes d’anamnèse, flash back qui montrent le passé de Frantz. On est tenté à ce point de placer Les séquestrés dans une filiation qui irait de Piscator à Brecht puis à Arthur Miller. Je les réunis parce que, comme on sait, Brecht a travaillé avec Piscator à Berlin (notamment pour la fameuse mise en scène du Brave Soldat Schweyk en 1928) et s’est réclamé de lui. Quant à Arthur Miller, qui utilise le procédé du flash back dans une pièce célèbre que Sartre avait vue, Mort d’un commis voyageur (1949), il a suivi les cours d’écriture théâtrale dispensés au Dramatic Workshop créé par Piscator à New York en 1939. Piscator, dans Le Théâtre politique, définit son théâtre comme politique, engagé, idéologique – mais il évoque aussi son „style technique“17: projections photographiques, projection de films documentaires (parfois même non figuratifs), emploi du hautparleur, installation de tapis roulants sur la scène pour Schweyk, etc. Piscator a monté Les Mouches à New York en 1947; puis L’Engrenage en 1955 à Tübingen; vers la fin de sa vie (il meurt en 1966), Les séquestrés d’Altona à Essen en 1960 (spectacle qui sera repris à Marburg la même année, au Schauspielhaus, et à Tübingen en 1961); enfin Le Diable et le bon Dieu en 1964 à Francfort. Hélas, 16 Camus: Essais, p. 1086. 17 Paru en allemand en 1929, trad. fr. augmentée en 1962, par Arthur Adamov, aux éditions L’Arche. Voir p. 207 et 221.

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malgré de longues recherches, je ne sais comment il a monté Les séquestrés: j’imagine qu’il a insisté sur les outils techniques dont joue la pièce. Cependant, touchant l’emploi du cinéma, il faut demeurer attentif à ce qui sépare Sartre de Piscator: chez ce dernier, il s’agit en projetant des films (qui donnent souvent à voir des scènes de guerre, ou de révolution) d’élargir le sujet dans l’espace et le temps, en montrant l’interdépendance des individus et des classes sociales, avec de plus un double effet de l’alternance théâtre/cinéma: surprise, et renforcement de la tension dramatique18. Chez Sartre, mêmes effets, mais le cinéma est choisi comme le mode d’accès à une conscience, pour les scènes d’anamnèse, puisque, Sartre le notait dans un carnet de jeunesse, „accompagné de la musique qui est ce qui ressemble le plus à une conscience: le film est une conscience“, et aussi puisque „le cinéma seul peut rendre un compte exact de la psychanalyse“19. Piscator avait déjà utilisé le procédé des flash back: mais chez Sartre, loin de servir uniquement la vérité, dans une fonction documentaire et réaliste, ils forment aussi des mensonges, au moins par omission, sur le passé de Frantz. Il reste à dire un mot du rôle imparti au magnétophone dans Les séquestrés. Simone de Beauvoir avait peut-être raconté à Sartre ce fantasme qu’elle rapporte dans La Force des choses: „J’ai toujours sournoisement imaginé que ma vie se déposait dans son moindre détail sur le ruban de quelque magnétophone géant et qu’un jour je déviderais tout mon passé“20. Mais cette fonction mémorielle, somme toute heureuse, ne vaut pas pour Frantz. Dans la machine, sa voix s’emprisonne: aliénation de l’humain à la technique et redoublement de séquestration (ou du refus de parler à son Père). Instrument d’une anamnèse, le magnétophone figure l’écoute analytique, avec ses effets de miroir, de ressassement, d’enfermement peut-être; il manifeste ce que Sartre, dix ans après Les séquestrés, nommera la „tragédie de l’impossible réciprocité“ en commentant l’histoire de ce patient qui un jour voulut imposer un magnétophone à son analyste.21 Le magnétophone fonctionne de plus comme un haut-parleur, qui donne à entendre lui aussi la voix de l’Histoire.22 Voix de l’écrivain, cette „voix

18 Voir Roubine: „Sartre e il „cinema nel teatro“. 19 Sartre: Écrits de jeunesse, „Carnet Midy“, p. 446, et „Apologie pour le cinéma“, p. 398. 20 de Beauvoir: La Force des choses, p. 393. 21 Voir Sartre: „L’homme au magnétophone“, repris dans Situations, IX. J.-B. Pontalis dans ce même numéro appelait à se souvenir des Séquestrés où „sur un autre théâtre, un magnétophone servait déjà à fixer les traces d’un „dialogue intérieur““ (Sartre: Situations, IX, p. 360). 22 Voir La Mort dans l’âme: Brunet écoute Chalais, le communiste orthodoxe: „Cette voix de haut-parleur, Brunet l’écoute, fasciné: ce n’est plus la voix de personne,

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enregistrée“ de son grand-père qui selon Les mots, le jetait à sa table, et où Sartre reconnut la sienne, voix d’une dure beauté – la „transparence métallique“ de la musique de jazz dans La nausée, qui „écras[e] contre les murs notre temps misérable“ –, la voix du magnétophone est aussi une voix machinée de mort-vivant, puisque Frantz a accompli son suicide à l’instant où on l’entend. Qualité funèbre qui conduit à examiner une dernière possibilité de mise en scène du théâtre de Sartre: celle qui insisterait sur l’extériorité des corps, c’està-dire sur leur finitude.

Un théâtre de la finitude Michel Raskine, en montant Huis clos en 1991, a insisté sur la sensualité de la pièce, sur une bataille des corps, dans un double mouvement d’attraction et de répulsion. Mais la particularité de sa mise en scène fut de recourir à une sensualité non allégée par la beauté des comédiens. Il fut le premier (à ma connaissance) à faire jouer Estelle par une comédienne qui n’était pas particulièrement attirante, trop fardée, assez ridiculement habillée (un manteau de fausse fourrure d’un bleu cobalt assez effrayant…), et Inès par une femme au visage vieilli, en blouson de cuir rouge, „punkette“ dure et rude. Une telle mise en scène de l’imperfection et de la fatigue des corps retrouvait cette page peu connue des Cahiers pour une morale, que je citais plus haut, sur le don que l’autre, par son regard, me fait de ma propre finitude. Un théâtre des corps en relation, voilà ce que propose Huis clos; des corps fragiles, Raskine l’a bien fait sentir. Cette obsession de la fragilité humaine, qui est subie par chacun, mais dont chacun, par son regard, fait aussi don à l’autre, explique pourquoi Sartre est hanté par la Passion du Christ, qu’il ne cesse de rendre profane, d’humaniser. Tout homme qu’on torture est un nouveau Christ, c’est ce que montre Morts sans sépulture, et c’est ce que dit Clochet à Henri qu’il torture: „Tu sues. J’ai mal pour toi. (ll lui essuie le visage avec son mouchoir)“. Qu’est le théâtre de Sartre, sinon un théâtre de l’incarnation, mais universelle, et se bornant à ce moment de la déréliction où le Christ est abandonné de Dieu, et donc humain? Rien de plus humain que la mort. Aussi les catégories définies par JeanPierre Sarrazac dans sa réflexion sur le drame s’appliquent parfaitement au théâtre de Sartre, qui, fait de „métadrames“, ou de „pièces-épitaphes“, constitue un „théâtre-testament“ fondé sur un „geste testamentaire“ qui ramasse „la totalité d’une existence puis l’égrène, moment après moment, comme un cha-

c’est la voix du processus historique, la voix de la vérité“ (Sartre: Œuvres romanesques, p. 1493).

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pelet“23. Il y a ainsi un côté funèbre des Mouches, non seulement en raison de la fête des morts, mais surtout parce que Oreste part pour une autre vie, entre dans la hors-vie de la légende, comme le héros refondateur d’Argos. – Inutile de revenir sur Huis clos, testament infini (avant tout pour Garcin), puisque sans dernier mot, pour autant qu’on peut continuer à débattre éternellement du sens d’une vie. Le métadrame, „drame sur un autre drame“, est là exemplaire, puisqu’on voit „les trois drames antérieurs distincts des trois personnages principaux, ceux qui les ont conduits vers la mort, servir en quelque sorte de combustible au drame existentiel, au drame parabolique – „autrui a barre sur moi“ – que noue leur improbable rencontre“, et puisque les personnages sont spectateurs de leur propre existence „considérée comme révolue“24. – Dans Morts sans sépulture, où les résistants prisonniers attendent la mort, l’un d’eux, Canoris, prononce ces belles phrases: „Moi, je crois qu’il y a beau temps que nous sommes morts: au moment précis où nous avons cessé d’être utiles. À présent il nous reste un petit morceau de vie posthume, quelques heures à tuer“. Ils parlent et agissent „depuis le seuil de la mort“25. –Dans Les mains sales, Hugo est à l’instant décisif, il récapitule sa vie, et choisit de mourir: toute la pièce est au seuil du tombeau. – Enfin, guère de pièce plus funèbre que Les séquestrés, qui semble illustrer par avance le propos de Jean Genet dans une de ses Lettres à Roger Blin (1967): „Nous pressentons que la scène est un lieu voisin de la mort“. La symétrie est parfaite avec Huis clos: deux pièces-testaments (post ou ante mortem), deux confessions, lentes, différées, fragmentées, menteuses, douloureuses. À partir de 1954, Piscator, installé en Allemagne de l’Ouest, veut promouvoir un théâtre de la confession (Bekenntistheater) destiné à lutter contre l’absence de conscience autocritique dans l’Allemagne de l’après-guerre26. Estce pour cela qu’il s’intéressa aux Séquestrés? On voudrait avoir indiqué, fût-ce trop vite, des chemins à explorer. Trop vite – Laissons le dernier mot à Nietzsche: „La méditation a perdu toute dignité formelle, on a tourné en ridicule le cérémonial et les allures solitaires de la méditation et un sage de style antique nous paraîtrait insupportable. Nous pensons trop rapidement […]: tout se passe comme si nous transportions dans nos têtes une machine constamment en train de tourner qui continue de fonctionner jusque dans les circonstances les plus défavorables“27.

23 Respectivement: Sarrazac: L’Avenir du drame, p. 36-38; Théâtres intimes, p. 123; Théâtres du moi, théâtres du monde, p. 119. 24 Études théâtrales, p. 66. 25 Sarrazac: Théâtres intimes, p. 153. 26 Voir Goertz: Piscator, et Willett: The Theatre of Erwin Piscator. 27 Nietzsche: Le Gai Savoir, p. 65.

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Bibliographie Barthes, Roland: Essais critiques, Paris 1964. de Beauvoir, Simone: La Force des choses, Paris 1963. Camus, Albert: Essais, Paris 1965. Denis, Benoît: „Genre, public, liberté. Réflexions sur le premier théâtre sartrien (1943-1948)“, dans: Revue internationale de philosophie, no. 1, 2005. Études théâtrales, no. 22, Poétique du drame moderne et contemporain, 2001. Féral, Josette: „La théâtralité“, dans: Poétique, no. 75, 1988. Goertz, Heinrich: Piscator, Hamburg 1974. Nietzsche, Friedrich: Le Gai Savoir, Premier livre, § 6, Paris 2000. Piscator, Erwin: Le Théâtre politique, 1962 aux éditions L’Arche. Pruner, Michel: „Sur le Kean de Sartre. Approche d’une théorie de l’acteur“, dans: Pruner, Michel: Organon, Théâtres du XIXe siècle. Scribe, Labiche, Dumas-Sartre, Lyon 1982. Roubine, Jean-Jacques: „Sartre e il „cinema nel teatro““, dans: Teroni, Sandra/Vannini, Andrea (éd.): Sartre e Beauvoir al cinema, Florence 1989, p. 63-74. Sarrazac, Jean-Pierre: L’Avenir du drame, Paris 1981. Sarrazac, Jean-Pierre: Théâtres intimes, Arles 1989. Sarrazac, Jean-Pierre: Théâtres du moi, théâtres du monde, Rouen 1995. Sartre, Jean-Paul: Écrits de jeunesse, Paris 1990. Sartre, Jean-Paul: „L’homme au magnétophone“, dans: Les Temps modernes, avril 1969. Sartre, Jean-Paul: Situations, IX, Paris 1972. Sartre, Jean-Paul: Œuvres romanesques, Paris 1987. Sartre, Jean-Paul: L’Idiot de la famille, t. 1, Paris 1988. Sartre, Jean-Paul: Situations, II, Paris 1980. Vitez, Antoine: Le Théâtre des idées, Paris 1991. Willett, John: The Theatre of Erwin Piscator, London 1979.

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Laura Mock

Diesseits/Jenseits in Sartres Das Spiel ist aus und aktuellen Filmen – Ein variables Motiv 1.

Vorwort

Jean-Paul Sartres Grundsatz lautet: „der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.“1 Seine existentialistische Philosophie thematisierte Sartre auch in seinem Drehbuch Les jeux sont faits (1943), das 1947, geradezu sklavisch genau an der Textvorlage orientiert, von Jean Delannoy verfilmt wurde. Die Möglichkeit der freien Entscheidung in extremen Zwangssituationen wie z.B. Todesurteil, Schicksalsspruch oder Eingeschlossensein, bildet auch in diesem Werk Sartres die Leitidee. Das Drehbuch Les jeux sont faits präsentiert das Jenseits als eine weitere Ebene neben dem Diesseits. Im Hinblick auf das Thema Tod ergibt sich eine erste Problematik, die die Ohnmacht der Toten betrifft. Des Weiteren handelt es sich bei dieser prekären Situation um das Motiv der zweiten Chance, die man, je nach seiner eigenen freien Wahl, nutzen oder verspielen kann. Im Anschluss an die Darstellung der Handlungsentfaltung werde ich den Schwerpunkt auf die Begegnung Diesseits/Jenseits legen. In diesem Zusammenhang möchte ich unter Einbezug der Freiheitstheorie Sartres zudem den Aspekt des Denkspiels verdeutlichen. Dann werde ich einen Ausblick auf drei ausgewählte Filmbeispiele und eine Erzählung von Henry James geben. In diesen Werken wird deutlich, dass die Begegnung Diesseits/Jenseits ein wiederkehrendes Motiv ist, wobei jedoch stets neue Darstellungsweisen gewählt werden. Ich beginne mit M. Night Shyamalans Film The Sixth Sense (1999), der ebenso wie Alejandro Amenabars Mystery-Thriller The Others (2001) auf dem Motiv der Begegnung Diesseits/Jenseits basiert. In diesem Zusammenhang bietet sich ein Vergleich mit Henry James’ Roman The turn of the screw aus dem Jahr 1898 an, da dieser als Vorlage für den Film The Others diente und eine interessante Vermischung des Diesseits mit dem Jenseits aus der Sicht des späten 19. Jahrhunderts vorführt. Abschließend erfolgt ein Ausblick auf das poetische Filmmärchen Der Himmel über Berlin von Wim Wenders. Das Drehbuch für die deutsch-französische Gemeinschaftsproduktion aus dem Jahr 1987 schrieb Wenders in Zusammenarbeit mit Peter Handke. Wenders nimmt einige Aspekte auf, die in Sartres Drehbuch Les jeux sont faits eine wichtige Rolle spielen. 1

Zit. nach: Danto: Jean-Paul Sartre, S. 37.

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Jean-Paul Sartre: Les jeux sont faits – Die Handlung

2.

Jean-Paul Sartres philosophisch inspiriertes Werk Les jeux sont faits kann als „klassisches Drama aristotelischen Zuschnitts“2 bezeichnet werden. Das dramatische Geschehen entfaltet sich über einen Zeitraum von zwei Tagen, wobei die Handlung in die Trias Exposition-Peripetie-Katastrophe gegliedert ist. Die Exposition stellt unterschiedliche Welten vor, einerseits die der Bourgeoisie, repräsentiert durch Eve, die als Ehefrau des Milizsekretärs André Charlier in der bürgerlichen Schweinwelt lebt, und auf der anderen Seite die des Proletariats, verkörpert durch den Revolutionär Pierre Dumaine, der als Anführer der Liga gegen die faschistischen Milizen kämpft. Unabhängig voneinander, jedoch zur selben Zeit, sterben Eve und Pierre durch Gewalt. Während Eve von ihrem Ehemann André vergiftet wird, so dass sich dieser ungehindert auch die Mitgift von Eves Schwester Lucette sichern kann, wird Pierre von dem mit den Milizen kollaborierenden Lucien Derjeu erschossen. Zur gleichen Zeit verlassen die tote Eve und der tote Pierre ihre leblosen Körperhüllen und machen sich auf die Suche nach der Laguénésie-Gasse, in der sie schließlich nebeneinander vor einem kleinen, unscheinbaren Laden Schlange stehen und in Ungewissheit auf ihr Schicksal warten. Im Reich der Toten begegnen sich Eve und Pierre zufällig bei einem Obdachlosen aus der Welt der Lebenden, den beide aus ihrem früheren Leben kennen, womit ein weiteres Mal der Aspekt der Parallelisierung unterstrichen wird, und sowohl Eve als auch Pierre fragen sich in diesem Moment: „Das ist wohl noch nie vorgekommen, dass jemand auf die Erde zurückgekehrt ist, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen?“3 Im Laufe des Abends verlieben sich die beiden unsterblich ineinander und die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Leben wächst. So sagt z.B. Pierre: „Ich gäbe meine Seele dafür hin, einen Augenblick lang wieder zu leben und mit Ihnen zu tanzen.“4 Dieser Wunsch bildet ein sich steigerndes Element der Spannungsdramaturgie, worauf die Peripetie, markiert durch das Inkrafttreten des Paragraphen 140, folgt. Das Schicksal der beiden Toten wendet sich: Aufgrund „eines Irrtums, für den einseitig die Direktion verantwortlich ist“5, dürfen Pierre und Eve ins Diesseits zurückkehren und erhalten somit die Chance, „ihre Liebe zu verwirklichen und das gemeinsame Leben zu führen, dass ihnen

2

Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich, S. 237.

3

Sartre: Das Spiel ist aus, S. 58.

4

Ebd., S. 67.

5

Ebd., S. 68.

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unrechtmäßigerweise vorenthalten worden war“6, allerdings unter der Bedingung, dass es ihnen innerhalb von 24 Stunden gelingt, ihre bedingungslose Liebe in der Welt der Lebenden zu behaupten. In diesem Zusammenhang kommt es zu retardierenden Elementen, die auf den Zweifeln von Eve und Pierre bezüglich ihrer Standesunterschiede und den damit verbundenen Rollenzwängen basieren. Infolge der Begebenheiten des ersten Lebens gelingt es Pierre und Eve nicht, die Chance eines Neubeginns zu nutzen. Kurz vor Ablauf der Frist eilen beide, abermals zeitgleich, ihrem Schicksal entgegen. Während Pierre noch einmal versuchen will, seine Kameraden von ihrem Vorhaben abzubringen, um sie vor einem Blutbad zu bewahren, versucht Eve ein letztes Mal, ihrer Schwester das wahre Gesicht Andrés zu offenbaren. Die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten, „eine Kugel zerschlägt die elektrische Uhr, den Zeiger auf zehn Uhr dreißig stehend.“7 Die Zeit, ihre Liebe in der Welt der Lebenden zu verwirklichen, ist abgelaufen und somit haben Eve und Pierre ihr zweites Leben verloren und müssen ins Jenseits zurückkehren.

3.

Die Darstellung der Begegnung Diesseits/Jenseits

Einer der faszinierenden Aspekte dieses Drehbuches beruht auf der Darstellung der Begegnung Diesseits/Jenseits. Die Verwirklichung dieses Motivs gründet auf der Idee zweier nebeneinander existenter Seins-Dimensionen, bestehend aus der realen Ebene „vie“ und der imaginären Ebene „mort“. Die Lebenden und die Toten leben miteinander, oder besser gesagt, existieren nebeneinander, denn im Gegensatz zu den Toten bemerken die Lebenden nicht, dass sie sich inmitten der Toten bewegen. Die Toten erhalten folglich den Status der Zuschauer und die Lebenden agieren als Schauspieler, wobei sie nicht von der Funktion der Toten als Zuschauer wissen. Deutlich wird dieser Aspekt z.B. bei André Charlier, Sekretär der Miliz, der die Rolle des liebenden Ehemanns gespielt hat, um an Eves Mitgift zu gelangen und nun den fürsorglichen Schwager für Lucette mimt, um sich auch deren Mitgift zu sichern. Besonders offensichtlich ist das Schauspiel des Regenten, der sich seine Reden (wie ein Theaterskript oder ein Drehbuch) schreiben lässt, um sie anschließend mit theatralischen Gesten vor dem Spiegel einzustudieren. Ein weiterer Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten manifestiert sich in der Funktion des Handelnden. Während die Lebenden als Schauspieler handeln, sind die Toten „auf die Rolle des Zuschauers redu6

Ebd., S. 69.

7

Ebd., S. 134.

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ziert.“8 Diese Handlungsohnmacht ist wohl die schwerste Bürde, die den Toten auferlegt wird, denn „sogar der Greis, dessen Gefühlsleben doch eigentlich abgestumpft sein müsste“9, ist erschüttert, als Eve, Pierre und er machtlos mit ansehen müssen, wie ein kleines Mädchen bestohlen wird. Als Pierre kurz darauf erfährt, dass seine Kameraden verraten wurden und der Aufstand in einem Blutbad enden wird, kann er seinen Zustand der Ohnmacht kaum noch ertragen und eilt vergeblich zu dem Haus der Verschwörer. Ähnlich ergeht es Eve, die mit ansehen muss, wie Lucette auf Andrés Schauspiel hereinfällt. In beiden Fällen, im Haus der Verschwörer und im Haus der Charliers, symbolisiert die verschlossene Tür, gegen die Pierre und Eve schlagen, die Ohnmacht, die das Jenseits kennzeichnet. Ein anderes Merkmal der Bewohner des Jenseits zeigt sich in der Abwesenheit ihres Spiegelbildes, wodurch verdeutlicht wird, dass die Toten „ihr Gegenüber nicht als Publikum, als Spiegel ihrer Personalität, erleben können.“10 In einer markanten Szene teilt Mme Barbezat Eve nach deren Registrierung mit, dass sie gehen kann, wohin sie will, denn: „Die Toten sind frei.“11, frei davon, das alltägliche menschliche Schauspiel aufzuführen. Obwohl die Toten selbst als Zuschauer der Lebenden agieren, sind die Toten und die Lebenden für den Theater- bzw. Filmzuschauer, der somit Beobachter zweiter Ordnung wird, natürlich nichts anderes als Schauspieler. Folglich handelt es sich bei dieser Verdopplung der Zuschauerkonstellation um „ein Schauspiel im Schauspiel, aber mit dem Unterschied, dass das Schauspiel im Schauspiel das wirkliche Leben darstellt, das Welttheater.“12 Das Diesseits, im Sinne eines von Gott inszenierten Weltspiels, ist die Bühne, auf der Schauspieler als Menschen das Leben aufführen. Der Tod beendet schließlich den Auftritt des Schauspielers und Gott, in der Funktion des Autors, lädt diejenigen, die ihre Rolle gut gespielt haben, als Zuschauer des Welttheaters ein. In diesem Sinne ist das sartresche Drehbuch Les jeux sont faits zu verstehen: Die Toten sind Zuschauer des von Schauspielern aufgeführten Lebens, wobei Sartre das Motiv Gottes als Spielmeister parodistisch verfremdet. Gott in der Gestalt des Direktors einer Behörde des Jenseits „verweist in ironischer Distanz auf moderne Wirtschafts- und Verwaltungsformen: Dialogunfähigkeit und bürokratische Weltordnung.“13 Die Angestellte dieser Behörde wird durch 8

Winter: Spielformen der Lebenswelt, S. 58.

9

Sartre: Das Spiel ist aus, S. 58.

10 Winter: Spielformen der Lebenswelt, S. 59. 11 Sartre: Das Spiel ist aus, S. 36. 12 Zit. nach: Winter: Spielformen der Lebenswelt, S. 57. 13 Ebd., S. 60.

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eine würdevolle, korpulente Dame, in Gesellschaft eines dicken schwarzen Katers mit dem bezeichnenden Namen Regulus, verkörpert. Im weiteren Verlauf der Geschichte deutet sich in der Fehlbarkeit der Allmacht des Direktors, bzw. Gottes, eine Komik an, die die Handlung des Drehbuchs maßgeblich beeinflusst. Eine Reklamation aufgrund Artikel 140 „kompliziert zwar den Dienst ungeheuer“14 und verzögert zudem den ersehnten Feierabend der alten Dame, jedoch ermöglicht diese Reklamation schließlich, dass Pierre und Eve ins Diesseits zurückkehren. Abgesehen von dieser parodistischen Verfremdung Gottes, ist vor allem die erste Hälfte des Drehbuches durch komische Effekte gekennzeichnet, die die stereotypen Verhaltensweisen der Menschen aufzeigen, z.B. wenn die Mutter mit jener typischen Babysprache auf ihr Kind einredet. Demzufolge inszeniert Sartre eine völlig neue Auffassung des Lebens nach dem Tod. Er stellt den Tod als eine neben dem Leben existente Seins-Dimension dar, die den Toten zwar die Bürde der Ohnmacht auferlegt, andererseits jedoch als „kleine Entschädigung“15, wie der Greis es nennt, die „totale Freiheit“16 ermöglicht. In die Ebenen „vie“ und „mort“ unterteilt, setzt sich die Handlung aus vier Teilen zusammen. Beginnend mit der Ebene „vie“, erhält der erste Teil die Funktion der Exposition, die die Präsentation der unterschiedlichen sozialen Schichten erfüllt. Mit dem gewaltsamen Tod der beiden Protagonisten beginnt der zweite Teil, die Ebene „mort“. Kurz nachdem Pierre erschossen wurde, „richtet sich ein anderer Pierre langsam auf, während sein Leichnam auf dem Boden ausgestreckt liegen bleibt“17. Er bewegt sich inmitten der Lebenden, zunächst verwundert, da ihn keiner beachtet und zugleich ergriffen von dem „Gegensatz zwischen der Langsamkeit seiner Bewegungen und der geschäftigen Eile der Passanten“.18 Ähnlich ergeht es Eve, bis sie, ebenso wie Pierre, eine Stimme vernimmt, die die beiden Toten in die Laguénésie-Gasse lockt. Wie aus dem Nichts auftauchend, repräsentiert die Laguénésie-Gasse einen Grenzbereich, der nach Foucault zu den Heterotopien, d.h. „tatsächlich realisierte[n] Utopien“19, zählt. Als Beispiele für Heterotopien nennt Foucault das Kino, ein Grenzbereich zwischen Realität und Phantasie, oder den Friedhof, der einen Grenzbereich zwischen Leben und Tod bildet. Am Ende der Sack14 Sartre: Das Spiel ist aus, S. 69. 15 Ebd., S. 57. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 21. 18 Ebd., S. 24. 19 www.glizz.net/artikel_19.php, 11.08.2004.

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gasse befindet sich ein einzelner kleiner Laden, vor dem, gemäß der Welt der Lebenden, Menschen ungeduldig Schlange stehen. In Anlehnung an das Diesseits stellt dieses kleine dunkle Lädchen, in dem die alte Dame hinter ihrem Schreibtisch sitzt, eine Behörde dar, bei der selbst nach dem Tod „eine kleine standesamtliche Formalität“20 nötig ist. Die Mitteilung des eigenen Todes nimmt Pierre, im Gegensatz zu Eve, relativ gleichgültig auf. Nach einer Unterschrift wird er für „offiziell tot“21 erklärt. Im Hinblick auf das Dasein der Toten hat sich mit dieser Registrierung eine wichtige Veränderung vollzogen, denn nun kann Pierre neben den Lebenden auch die Toten sehen, wobei ihm die Unterscheidung zunächst Schwierigkeiten bereitet. Abgesehen von den Kostümen aus den verschiedensten Epochen gibt es jedoch einen offensichtlichen Unterschied: „Die Lebenden die haben’s immer eilig.“22, erklärt ihm der Greis, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Neulinge herumzuführen. Ein Irrtum seitens der Direktion führt gemäß Artikel 140 schließlich zur Reklamation, woraufhin Eve und Pierre, die sich in der Ebene „mort“ begegnet sind, der Wunsch eines gemeinsamen Neubeginns erfüllt wird. „Im Ton eines Standesbeamten“23 vereint Mme Barbezat Eve und Pierre, die seit ihrer Geburt amtlich füreinander bestimmt waren, und gewährt ihnen somit die Chance auf ein zweites Leben. Ein Wechsel zur Ebene „vie“ markiert den Beginn des dritten Teils, wobei alles auf den Stand der Minute gebracht wird, in der Pierre und Eve zeitgleich gestorben sind. Obwohl sie wissen, dass sie nun innerhalb von 24 Stunden die Bedingung, sich im vollen Vertrauen zu lieben, erfüllen müssen, fallen Eve und Pierre in die Rollen ihres ersten Lebens zurück und geraten in einen Wiederholungszwang. In der Ebene „mort“ zählten weder Standesunterschiede, noch existierte die Möglichkeit, die Verantwortung für die Kameraden oder die Schwester zu übernehmen; somit müssen Eve und Pierre feststellen: „Da drüben war’s leichter“.24 In hoffnungsvoller Erinnerung an ihre Liebe in der Ebene „mort“, besuchen sie das Lokal im Park, in dem der Wunsch, miteinander tanzen zu können, so groß war. Doch auch in dieser Situation lassen sich die Antipole Bourgeoisie und Proletariat nicht miteinander vereinen. Pierre resigniert: Ihre Liebe ist „eine unmögliche Liebe“25. Kurz darauf wird Pierre und Eve bewusst, dass auch sie nun von Toten umgeben sind, die sich wahrschein20 Sartre: Das Spiel ist aus, S. 29. 21 Ebd., S. 36. 22 Ebd., S. 33. 23 Ebd., S. 69. 24 Ebd., S. 83. 25 Ebd., S. 97.

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lich über ihren hoffnungslosen Versuch amüsieren. Plötzlich fällt ihnen ihr Versprechen, das sie einem Toten gegeben haben, wieder ein. An dieser Stelle sind Diesseits und Jenseits eine Einheit, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass der verstorbene Vater des Mädchens, genau in diesem Augenblick vor Eve steht und somit Eves an einen Toten adressierte Worte hört: „Wenn sie hier sind, dürfen sie froh sein: es ist in guten Händen, ihr Töchterchen“.26 Trotz aller Bemühungen gelingt es allerdings weder Pierre, seine Kameraden, noch Eve, ihre Schwester Lucette zu überzeugen, so dass sie als Lebende genauso ohnmächtig sind, wie sie es als Tote gewesen sind. Infolge dieser Enttäuschungen stellt Pierre fest: „Eve, es gibt nur noch uns beide…wir sind allein auf der Welt. Wir müssen uns lieben. Wir müssen einfach: es ist unsere einzige Chance.“27 Sie verspielen jedoch ihre zweite Lebenschance, da Pierre nicht in der Lage ist, sein revolutionäres Engagement über seine Liebe zu Eve zu stellen. Eve eilt vergeblich zu ihrer Schwester, womit auch ihr Schicksal besiegelt ist. An den Ablauf der Frist schließt sich der vierte Teil des Drehbuches (Ebene „mort“) an. Eve und Pierre, die die Bedingung, ihre Liebe im Diesseits zu verwirklichen, nicht erfüllen konnten, müssen ins Jenseits zurückkehren. Allerdings ist über sie nun auch etwas von der Gleichgültigkeit der Toten gekommen, die das Leben im Jenseits wahrscheinlich maßgeblich erleichtert.

4.

Les jeux sont faits – Ein Denkspiel

Les jeux sont faits scheint auf den ersten Blick von determinierenden Einflüssen geprägt. Abgesehen von einem von außen gelenkten Determinismus, bewirkt durch den Direktor, der Eve und Pierre gemäß Artikel 140 ins Diesseits zurückkehren lässt, wird ihr Schicksal von einem weiteren Determinismus beeinflusst. Mit der Chance auf ein zweites Leben haben Pierre und Eve, ganz im existentialistischen Sinn, zwar die Macht, diese Chance selbst zu nutzen, doch sie sind trotz ihrer Liebe nicht in der Lage, ihre alten Rollen abzustreifen und sich neu zu entwerfen. Der Einfluss der Gesellschaft, die soziale Determination, ist zu stark. In der Vorstellung, nun von anderen beurteilt zu werden, unterliegen sie dem ständigen Druck, sich selbst zu inszenieren und verfallen somit der „mauvaise foi“. Angelehnt an die Doppelreich-Fiktion Diesseits vs. Jenseits zeigt Sartre zusätzlich die Opposition „mauvaise foi“ vs. „bonne foi“, d.h. Identitätsverlust vs. Individualisierung auf. Obwohl sie wissen: „Wir sind doch nicht für die anderen zurückgekommen“28, gelingt es weder Pierre, sein 26 Ebd., S. 105. 27 Ebd., S. 117. 28 Ebd., S. 99.

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politisches Engagement über sein privaten Liebesglück zu stellen, noch kann Eve, in ihrer bürgerlichen Denkart, hinreichend Verständnis für die Aktion der Liga aufbringen, so dass sie an der Liebe Pierres zweifelt. Sartre, stets darauf bedacht, seine Werke „als Denkspiel für den Zuschauer“29 zu gestalten, bediente sich der Darstellung der Determination, um die menschliche Freiheit zu veranschaulichen. Das Mittel der Ironie, einerseits verdeutlicht durch die parodistische Verfremdung des Jenseits als Bürokratie, andererseits durch das Verspielen des zweiten Lebens infolge der Begebenheiten des ersten, demonstriert die existentialistische Philosophie Sartres: „der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht“.30 „Im Spiegel des Schauspiels“31 soll der Zuschauer seine eigene Situation entlarven, um sie anschließend ins Positive zu wenden, denn der Mensch bewegt sich als Rollenspieler des Welttheaters zwischen gesellschaftlicher Determination und individueller menschlicher Freiheit. Die Möglichkeit, das eigene Schicksal zu bestimmen, ist erst „im Moment des Todes aufgehoben, denn: ,au moment de la mort, les jeux sont faits‘. […] Für Veränderungen seiner Lebensrolle, die sich nach seinem Tod durch andere vollziehen, ist er nicht mehr verantwortlich.“32 Sartre hat seine existentialistische These zugespitzt, als er in einem Interview mit Paul Carrière am 29. April 1947 behauptete: „Der Existentialismus lässt keineswegs zu, dass das Spiel jemals aus ist. Noch nach unserem Tod setzen sich unsere Handlungen fort. Wir leben in ihnen weiter, selbst wenn sie sich oft ganz entgegengesetzt in Richtungen entwickeln, die wir nicht gewollt haben.“33 Vor allem im Schluss des Drehbuchs Les jeux sont faits spiegelt sich diese existentialistische Denkweise deutlich wider, da einem weiteren jungen Paar die Chance auf ein neues Leben geboten wird. Obwohl Eve und Pierre ihre Chance verspielt haben und Eve, zurück im Jenseits, feststellt: „Das Spiel ist aus, sehen Sie. Man kann den Lauf der Kugel nicht aufhalten.“34, raten sie den beiden jungen Liebenden: „Versuchen Sie’s“35. Trotz der Gefahr des Verspielens existiert immer die Freiheit, determinierende Strukturen zu durchbrechen und neue Rollen zu wählen. Die Formel Les jeux sont faits ist im Sinne Sartres folglich als Spielformel zu verstehen, die, mittels Ironie und

29 Roloff: „Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi“, S. 103. 30 Zit. nach: Danto: Jean-Paul Sartre, S. 37. 31 Winter: Spielformen der Lebenswelt, S.39. 32 Ebd., S. 62f.. 33 Sartre: Das Spiel ist aus, S. 138. 34 Ebd., S. 136. 35 Ebd., S. 138.

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Kontrast, einen Appell an den Zuschauer richtet, die menschliche Realität zu durchschauen und sich „aus der Befangenheit seiner Rolle zu befreien.“36

5.

Ausblick: Das Motiv der Begegnung Diesseits/Jenseits im Kino

5.1

The Sixth Sense

Abbildung 1: Screenshot, The Sixth Sense

„Ich sehe tote Menschen“37 – dieses Geständnis des kleinen Cole wurde bereits im Kinotrailer enthüllt, und dennoch erzielt der Regisseur M. Night Shyamalan am Ende des Films The Sixth Sense (USA 1999) eine völlig unerwartete, zugleich jedoch logische Auflösung der Geschichte. Zu Beginn wird der Kinderpsychologe Malcolm Crowe vorgestellt, der soeben für seine beruflichen Leistungen geehrt wurde und diesen Anlass nun mit seiner Ehefrau Anna feiern will. Im Badezimmer wird er jedoch von seinem ehemaligen Patienten Vincent Grey überrascht, dem er vor zehn Jahren versprochen hatte, dass er ihm helfen werde. Völlig verstört schießt dieser auf Crowe, bevor er sich selbst tötet. Die Szene wird ausgeblendet. Die nächste Einstellung zeigt Malcolm Crowe, der Cole Sear beobachtet, auf einer Bank sitzend. Fest entschlossen dieses Mal richtig zu handeln, hat er den Fall dieses Jungen übernommen, der ähnliche Symptome aufweist wie der besagte Selbstmörder. Angstzustände und soziale Isolation begründen Crowes

36 Roloff: „Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi“, S.104. 37 The Sixth Sense.

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„Verdacht auf emotionale Störung“. Der Kinderpsychologe kämpft allerdings selbst mit Problemen, denn seit dem Selbstmord Vincent Greys scheint seine Ehe auseinander zu brechen. Im Laufe der Zeit gelingt es Crowe eine vertrauensvolle Beziehung zu Cole aufzubauen, so dass dieser ihm sein bestgehütetes Geheimnis mitteilt: „Ich sehe tote Menschen. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie laufen durch die Gegend wie normale Menschen. Sie wissen nicht, dass sie tot sind. Sie sind überall.“ Kurz vor Crowes Analyse, Cole leide unter visuellen Halluzinationen, überzeugen ihn Stimmen auf der Tonbandaufnahme einer Therapiestunde von der Existenz der Toten. Nun ist Crowe in der Lage Cole zu helfen, und er gibt ihm zu verstehen, dass Cole sich nicht vor den Toten zu fürchten brauche, da sie nur seine Hilfe erbitten. Diese Erkenntnis stellt den Wendepunkt in Coles Leben dar, der nun mit der Bürde, ein Medium der Toten zu sein, zu leben lernt. Ein Wendepunkt für Malcolm Crowe ergibt sich, als der schlafenden Anna der Ehering ihres Mannes aus der Hand fällt. Plötzlich wird Crowe – und dem Zuschauer – alles klar. Aufgrund des berühmten „Keyser-Soze“-Effekts wird alles bisher Gesehene durch diesen einzigen überraschenden „Plot-Twist“ in seine Bestandteile zerlegt und muss anschließend vom Zuschauer neu zusammengefügt werden, allerdings nachdem der Film vorbei ist: Malcolm Crowe wurde damals von Vincent Grey erschossen. Im Gegensatz zu Sartre, der das Jenseits als eine andere Seins-Dimension neben dem Diesseits konzipierte, hat M. Night Shyamalan die Begegnung Diesseits/Jenseits reduziert. In Anlehnung an den bekannten Poltergeist-Mythos wandeln nur die Toten, die noch etwas zu erledigen haben, zwischen den Lebenden umher, um ein Medium zu finden, das sie um Hilfe bitten können. Allgemein kann man die Begegnung Diesseits/Jenseits unter drei Gesichtspunkten erläutern. Einerseits zeigt sie sich in der Konstellation Kind und Kinderpsychologe, andererseits in der Konstellation Ehefrau und Ehemann. Zudem ist der gesamte Film von Anzeichen der Welt der Toten durchzogen, z.B. Lichter, die die Mutter auf Bildern von Cole entdeckt oder der kalte Atem Coles und Annas, sobald ein Toter in der Nähe ist, und ganz offensichtlich die Toten, die Cole vor allem zu Beginn des Films ängstigen. Im Unterschied zu Sartres Jenseitsauffassung sind die Toten in The Sixth Sense folglich nicht von jener unerträglichen Ohnmacht geprägt (sie können Türen öffnen). Im Gegensatz zu den offensichtlichen Begegnungen zwischen Lebenden und Toten bilden die Konstellationen Cole/Malcolm und Anna/Malcolm zunächst unbewusste Begegnungen. Unbewusst in dem Sinne, dass weder Cole noch Malcolm wissen, dass der Kinderpsychologe verstorben ist, während Anna gar kein Gegenüber sieht. Erstaunlich ist in dem Zusammenhang, dass die Hinweise auf diese Begegnungen von Diesseits und Jenseits den ganzen Film über offen dargelegt werden, ohne dass der Zuschauer sie

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bemerkt. Er ist vielmehr fest davon überzeugt, dass die Mutter den Kinderpsychologen beauftragt hat, um ihrem Sohn zu helfen. Diesen Aspekt veranschaulicht z.B. die Szene, in der Cole von der Schule heimkehrt, während Malcolm Crowe, zusammen mit der Mutter, im Wohnzimmer auf ihn wartet. Diese steht daraufhin auf, um das Essen zuzubereiten und gibt ihm eine Stunde Zeit, wodurch der Zuschauer sofort eine abgesprochene Therapiesitzung assoziiert. Ebenso logisch erscheint die erkaltete Beziehung zwischen Anna und Malcolm. Die Szene im Restaurant, als er verspätet eintrifft, sich daraufhin dafür entschuldigt, dass er in den letzten Monaten so wenig Zeit hatte und Anna plötzlich wortlos das Restaurant verlässt, wirkt völlig eindeutig. Der Zuschauer denkt, dass es sich um ein Ehepaar handelt, das sich im Laufe der Zeit auseinander gelebt hat. Diese unbewussten Begegnungen von Diesseits und Jenseits sind nur möglich, weil die Toten nicht wissen, dass sie tot sind und weil sie zudem nur sehen, was sie sehen wollen, womit sich weitere bedeutende Unterschiede zu Sartres Les jeux sont faits ergeben. Im Gegensatz zu Sartre, der sein Drehbuch als Denkspiel konstruierte, ging es M. Night Shyamalan vor allem um das Thema der zwischenmenschlichen Kommunikation. Diese Absicht wird auch zum Schluss noch einmal demonstriert, als es Malcolm schließlich gelingt, seiner Frau zu sagen, dass er sie liebt. Im Unterschied zu Sartres Vorstellung des Jenseits kann Anna ihren verstorbenen Mann im Schlaf hören, wodurch dieser endlich seine Ruhe findet.

Abbildung 2: Screenshot, The Sixth Sense

5.2

The Others

Ein altes Haus im dichten Nebel bildet das Setting des Films The Others (E/F/USA, 2001), wodurch eine mystische Atmosphäre erzeugt wird. Im Gegensatz zu dem Film The Sixth Sense inszeniert Alejandro Amenabar eine

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Handlung, die derart verschleiert wirkt, dass der Zuschauer erst am Ende mit Gewissheit sagen kann, dass es sich um eine Begegnung zwischen Diesseits und Jenseits handelt. Zu Beginn wird die ungewöhnliche Ausgangssituation vorgestellt. Die Kriegswitwe Grace lebt zusammen mit ihren beiden Kindern Anne und Nicholas in einem alten Landhaus, in dem seltsame Regeln herrschen: Immer muss die vorherige Tür verriegelt sein, bevor die nächste geöffnet werden darf, und stets müssen die Vorhänge geschlossen sein, um das Leben der Kinder zu schützen, die an einer tödlichen Lichtempfindlichkeit leiden. Als Mr. Tuttle, der Gärtner, Mrs. Mills, die Haushälterin, und das stumme Dienstmädchen Lydia unerwartet vor der Tür stehen und eine Stelle im Haus erbitten, erfährt der Zuschauer, dass das Hauspersonal eines Tages plötzlich verschwand, keine Post mehr kam und dass Grace auf einmal verrückt geworden sei. Das Motiv des Jenseits wird zum ersten Mal thematisiert, als Anne von dem Jungen Victor erzählt, der angeblich zusammen mit seinen Eltern das Haus besichtigt. Daraufhin stellt der kleine Nicholas die Theorie auf, dass es sich um Geister handeln könnte, die früher in diesem Haus gelebt haben. Mysteriös wirkt zudem das Hauspersonal, das sich erstaunlicher Weise sehr gut in dem Haus auszukennen scheint. Auch das plötzliche Auftauchen des verstorben geglaubten Ehemannes Charles wirkt äußerst rätselhaft. Als eines Tages sogar die Vorhänge verschwinden, kommt es zu einem Wendepunkt, denn den Kindern, die unter der unheilbaren Lichtallergie leiden, fügen die Sonnenstrahlen keine Schmerzen zu. Grace, die nicht mehr Herr der Situation ist und all dem nicht tatenlos zuschauen will, entlässt das Hauspersonal, das daraufhin seine eigenen Grabsteine freilegt. Grace und die Kinder müssen nun feststellen, dass sie es tatsächlich mit Geistern zu tun haben. Aus Verzweiflung schießt Grace auf die drei Toten, doch Mrs. Mills erklärt ganz ruhig: „Die Tuberkulose hat uns bereits erledigt, vor mehr als einem halben Jahrhundert.“38 Daraufhin bedient sich Amenabar, wie schon M. Night Shyamalan, des „Keyser-Soze“-Effekts, so dass die gesamte Handlung durch einen „Plot-Twist“ in einem ganz neuen Licht erscheint: Mrs. Mills erklärt Grace: „Die Eindringlinge haben sie gefunden […] Sie werden nun mit ihnen reden müssen.“

38 The Others.

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Abbildung 3: Screenshot, The Others

In diesem Moment ertönt die Stimme einer Geisterbeschwörerin: „Sprecht mit uns! Was ist in diesem Zimmer passiert? Was hat eure Mutter euch angetan? Hat sie euch auf diese Art getötet, mit einem Kissen?“ Das Geheimnis ist gelüftet. Abschließend stellt die Geisterbeschwörerin fest, dass alle drei Kontakt zu ihr aufgenommen haben und sie formuliert die Auflösung der Geschichte: „Die Frau ist verrückt geworden, hat ihre Kinder erstickt und sich dann selbst erschossen.“ Ironischer Weise stellt sich nun heraus, dass Grace und die Kinder selbst die Geister sind, die gemäß Nicholas Theorie früher in diesem alten Landhaus gelebt haben, wobei sie seiner Geistervorstellung, mit weißen Bettlaken und Rasselketten, ganz und gar nicht entsprechen. Während sie zuvor der festen Überzeugung war, dass Gott eine Vermischung der Welt der Toten mit der der Lebenden nicht gestatten würde, da sich die Lebenden und die Toten erst am Ende der Ewigkeit treffen würden, kann die gläubige Grace diese religiösen Ansichten nun natürlich nicht mehr vertreten. Ihr Glauben, der sie sogar davon überzeugen konnte, dass ihr „der Herr in seiner unendlichen Barmherzigkeit“ noch eine letzte Chance gegeben habe und somit die Basis der Handlung, die Verdrängung des Todes, schuf, hat nun ebenso wenig Gültigkeit wie ihr Glaube, dass es nach dem Tod einen Limbus für die Kinder, eine Hölle für die Verdammten, ein Fegefeuer und den Schoß Abrahams gäbe. Auf Graces Frage: „Wo sind wir?“, antwortet Mrs. Mills bloß: „Diese Eindringlinge werden gehen, doch andere werden kommen. Manchmal werden wir sie wahrnehmen und ein anderes Mal tun wir es nicht. Aber so ist es immer schon gewesen.“ In Anlehnung an Sartres Jenseitsdarstellung, wird der Tod als eine andere Seins-Dimension neben dem Diesseits charakterisiert. Im Gegensatz zu Les jeux sont faits bezeichnen die Toten die Lebenden jedoch als Eindringlinge und

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nicht als Rollenspieler, deren Schauspiel sie verfolgen. Folglich ist das Jenseits mit dem Leben im Diesseits gleichzusetzen, verdeutlicht durch Mrs. Mills alltägliche Frage: „Soll ich uns eine schöne Tasse Tee machen?“, wobei das Dasein der Lebenden manchmal von „Geistern“ und – parallel dazu – das der Toten von „Eindringlingen“ gestört wird. Aufgrund dieser Trennung, mit einer sporadischen Vermischung der Ebene des Diesseits und der des Jenseits, entfällt die Bürde der Ohnmacht, da die Verstorbenen ihr Dasein, meist unberührt von den Bewohnern des Diesseits, nach dem Tod weiterführen. Oft (wie z.B. Grace, Anne und Nicholas) wissen die Toten nicht einmal, dass sie tot sind. Ähnlich wie schon in dem Film The Sixth Sense und somit im Unterschied zu Les jeux sont faits existiert keine Behörde, die die Toten registriert und über ihren Tod informiert. Selbst wenn sie schließlich doch von ihrem Leben im Jenseits erfahren und sich unter Umständen sogar etwas verändert, so wie Nicholas und Anne im Jenseits z.B. von ihrer tödlichen Lichtempfindlichkeit geheilt sind, geht es den Toten nur darum, ihr Dasein ungestört weiterzuführen. Am Schluss sagt Grace: „Keiner kann uns zwingen dieses Haus zu verlassen.“ Es wird deutlich, dass Amenabar, in Anlehnung an typische Geistermythen, eine Vorstellung des Jenseits konzipiert, in der die Toten friedlich in ihrer gewohnten Umgebung weiterexistieren wollen.

5.3

Henry James: The turn of the screw

An dieser Stelle ist ein Blick auf das literarische Vorbild für den Film The Others interessant. The turn of the screw von Henry James aus dem Jahre 1898 ist der Bericht einer Pfarrerstochter, die als Erzieherin zweier elternloser Kinder auf einem englischen Landgut namens Bly angestellt wird. Die Geschichte beschreibt die mysteriöse Heimsuchung und Pervertierung der Kinder, Miles und Flora, durch die Geister der einst im Haus angestellten Bediensteten Quint und Jessel. Die Geschichte wird aus der Sicht der Erzieherin erzählt, der jedoch eine Rahmenhandlung vorangestellt ist, die am Ende allerdings nicht wieder aufgegriffen wird. In der Rahmenhandlung wird die Spannung aufgebaut und eine schaurige Atmosphäre kreiert, die auf das weitere Geschehen vorbereitet. Aus der Sicht eines anonymen Erzählers wird von einer Hausparty am Weihnachtsabend berichtet, auf der man sich Gespenstergeschichten am Kaminfeuer erzählt. Einer der anwesenden Gäste mit Namen Douglas kennt eine besonders gruselige Geschichte, handgeschriebene Aufzeichnungen einer Erzieherin, die er bis dato noch niemandem erzählt hat. Somit spielt der Zuhörerkreis der Rahmenhandlung eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Atmosphäre. Der Zuhörerkreis zeichnet sich durch seine Exklusivität aus. Der Leser hat das Gefühl, Teil dieser Gruppe zu sein. Durch die Rahmenhandlung

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ist das Mysteriöse nicht nur auf das fiktionale Geschehen der Erzählung und die handelnden Personen beschränkt, sondern auf die Situation des Zuhörers bzw. auf einer weiteren, außerhalb der Fiktion liegenden Ebene, auf die des Lesers erweitert. Zuhörer wie Leser sind bereit, sich der Geschichte zuzuwenden, wodurch sie sich aus der ihnen vertrauten Welt lösen und sich auf eine andere Ebene begeben – auf die Ebene des Fantastischen. Bereits in der ersten Nacht glaubt die Erzieherin unnatürliche Laute und Schritte auf dem Gang zu hören, macht sich zunächst aber keine Gedanken darüber. Doch schon bald offenbaren sich ihr eindeutige Hinweise, dass sie es mit Geistererscheinungen zu tun hat. Mrs. Jessel und Mr. Quint waren einst Bedienstete auf Bly, die verstorben sind. Die Erzieherin nimmt sie nun als Geister wahr. Sie glaubt, dass Jessel und Quint die beiden Kinder in ihren Bann ziehen und mit dem Bösen infizieren. Über das Verhältnis der Kinder zu den Geistern erhält der Leser lediglich indirekt Auskunft. Aus der Sicht der Erzieherin wird deutlich, dass das Verlangen, zueinander zu finden, beidseitig ist. Zudem erfährt die Erzieherin von der Haushälterin Mrs. Grose, dass Quint und Jessel in der Vergangenheit viel Zeit mit den Kindern verbrachten und dass Quint, im Gegensatz zur Erzieherin, die ganz im Stil viktorianischer Prüderie erzogen wurde, eine freizügige Lebensweise praktizierte. So wie Quint Miles beeinflusst, so ergreift Jessel Besitz von Flora. Das Böse, das den Kindern durch die dämonischen Wesen eingeflößt wird, hat fatale Auswirkungen: So nimmt Flora z.B. die Gestalt einer hässlichen alten Frau an, so „daß ihre unvergleichliche kindliche Schönheit jäh von ihr gewichen, ja gänzlich dahingeschwunden war. […] sie war buchstäblich, war abstoßend unerbittlich; sie war gewöhnlich und beinahe widerlich geworden.“39 Floras Metamorphose geht sogar so weit, dass Jessel auch ihre Sprache auf das kleine Mädchen überträgt und dadurch in der Lage ist, sich durch Flora mitzuteilen. Neben der „entsetzliche[n] Ausdrucksweise“40 Floras sind die Schulentlassung Miles’ sowie der Diebstahl eines Briefes Beispiele dafür, dass die Kinder bereits verdorben und von dem Bösen infiziert sind. Im Verlauf der Geschichte trifft die Erzieherin vier Mal auf Quint und vier Mal auf Jessel. Die Begegnungen finden jedoch nie zu dritt statt. Als die Erzieherin an einem Junitag spazieren geht, sieht sie plötzlich auf einem der Türme, die zu Bly gehören, einen Mann, der sie mit starrem Blick beobachtet. Bei der zweiten Begegnung mit Quint wird der Erzieherin bewusst, dass er nicht nach ihr, sondern nach dem kleinen Miles Ausschau hält. Bei diesen Begegnungen fällt auf, dass die Erzieherin aus der Wirklichkeit gerissen wird, sich

39 James: Das Durchdrehen der Schraube, S. 156. 40 Ebd., S. 165.

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auf eine außerhalb der Realität liegende Ebene begibt und die Zeit vergisst: „Ich weiß, die große Frage oder doch eine der großen Fragen ist hinterher in bezug auf bestimmte Begebenheiten, wie lange sie gedauert haben.“41 Das vierte Erlebnis der Erzieherin mit Quint kann als eine Art Wettstreit bezeichnet werden. Quint taucht abermals am Fenster auf, um nach Miles zu suchen. Zunächst kann die Erzieherin noch verhindern, dass Miles Quint bemerkt, da sie spürt, dass seine Verbindung zu Quint unterbrochen ist. Sie ist fest entschlossen ein Geständnis aus Miles herauszupressen, das seine Rettung bedeuten würde. Verblendet durch ihren nahen Sieg redet sie heftig auf den Jungen ein, es scheint ihr „wie das Ringen mit einem Dämon um eine Menschenseele“42 – bis die Situation eskaliert. Miles’ Herz bleibt stehen und die Erzieherin kann nur noch seinen Tod feststellen. Als die Gouvernante zum ersten Mal Jessel erblickt, spürt sie sofort, dass von ihr „Abscheuliches und Unheilvolles ausgeht“43. Während die Erzieherin mit Flora an einem See spielt, bemerkt sie plötzlich, dass eine dritte Person anwesend ist, die sie beobachtet. Mit Entsetzen muss sie feststellen, dass auch Flora die Gestalt wahrgenommen, diese Tatsache aber für sich behalten hat. Die Erzieherin ist geschockt über das Verhalten ihres Schützlings und erkennt, dass es eine Verbindung zwischen der teuflischen Gestalt und dem Kind geben muss. Die nächsten beiden Begegnungen mit der schaurigen Frauengestalt, die Mrs. Grose als die verstorbene Vorgängerin der Erzieherin, Mrs. Jessel, identifiziert, finden im Haus statt. Die Begegnung im Arbeitszimmer spielt sich am helllichten Tag ab, wodurch James bewusst die Erwartungen des Lesers durchkreuzt. Die vierte und letzte Begegnung hat abermals den See zum Schauplatz. Sie kann als Klimax bezeichnet werden, da die Erzieherin Flora zum ersten Mal explizit mit dem Übernatürlichen konfrontiert, indem sie das Kind auffordert, die Anwesenheit Jessels zu bestätigen. Doch Flora und auch Mrs. Grose streiten die Anwesenheit Jessels ab. Diese wiederum feiert die Niederlage ihrer Nachfolgerin, den nicht reparablen Bruch zwischen der Erzieherin und Flora. Mit The turn of the screw hat Henry James bereits 1898 eine Geschichte der Vermischung des Diesseits mit dem Jenseits konzipiert, die schließlich als Romanvorlage für den Film The Others diente. Die dramatischen Elemente, die James einsetzt, stellen charakteristische Merkmale des Fantastischen dar, so z.B. die Stille, das Dämmerlicht, das Auslöschen der Kerzen sowie der kalte Lufthauch, der auch in The Sixth Sense aufgegriffen wird. Wie in The Sixth Sense dringen die Geister immer wieder in die Ebene des Diesseits ein. James steigert

41 Ebd., S. 38. 42 Ebd., S. 181. 43 Ebd., S. 69.

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den Aspekt des Eindringens ins Diesseits jedoch derart, dass die Toten nicht damit zufrieden sind, eine letzte Angelegenheit zu erledigen, sondern sich der Lebenden bemächtigen, um sich über ihre Verluste und die damit verbundenen Leiden hinwegzutrösten. Folglich ergibt sich ein wesentlicher Unterscheid zur Jenseitsauffassung Sartres. Den beiden Geistern Jessel und Quint wurde nicht die wohltuende Gleichgültigkeit auferlegt, die Sartre den Toten zubilligt. Im Gegenteil: Sie bauen eine Verbindung zu denjenigen auf, die sie als Geister wahrnehmen sollen, in diesem Fall zu Miles und Flora, ihren Opfern, und zu der Erzieherin, die sie als Eindringling verachten und aus ihrem Reich vertreiben wollen, nicht aber zu Mrs. Grose. Die Handlungsfähigkeit der Geister geht so weit, dass es Jessel gelingt Besitz von Flora zu ergreifen, indem sie ihre Gestalt und ihre Sprache auf das Mädchen überträgt – bzw. so weit, dass Miles stirbt: „sein kleines Herz, nunmehr frei, war stehengeblieben.“44 In diesem Zusammenhang weist die Jenseitsauffassung aus dem späten 19. Jahrhundert eine entscheidende Differenz auf. Im Gegensatz zu den Toten in Les jeux sont faits, in The Sixth Sense und in The Others sind die Verstorbenen in The turn of the screw als teuflische Wesen charakterisiert, die die Kinder mit dem Bösen infizieren. Bemerkenswert ist die Parallele zu Sartres Aspekt der Schaulust. Mit starrem Blick beobachten Jessel und Quint die Lebenden, vor allem die Kinder, die Objekte ihrer Begierde. Folglich fungieren die Toten als Zuschauer, wobei die Lebenden, im Unterschied zu Sartres Darstellung der Begegnung Diesseits/ Jenseits, meist bemerken, dass sie beobachtet werden. Anders als Sartre, der mit seinem Drehbuch ein Denkspiel für den Zuschauer konzipierte, ging es Henry James um den Idealtypus der Gespenstergeschichte, die den Leser über das Ende hinaus in Ungewissheit lässt. Es bleibt unaufgelöst, ob Quint und Jessel tatsächlich existieren oder ob sie nur eine Geistererscheinung im Kopf der Erzieherin sind. James lässt keine eindeutige Definition zu, so dass der Leser nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, um auf diese Weise aus dem Fantastischen auszutreten.

44 Ebd., S. 187.

135

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5.4

Der Himmel über Berlin

Abbildung 4: Screenshot, Der Himmel über Berlin

Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin (D/F 1987) gleicht, Dank Co-Autor Peter Handke, einem verbildlichten Gedicht. Es gibt Strophen über die Schönheit in der Welt, über den Schatz der menschlichen Erinnerung, sowie Strophen über das Kindsein, jene Zeit, als die Welt ebenso faszinierend erschien, wie sie auf den Engel Damiel wirkt, dem menschliche Sinneserfahrungen unzugänglich sind. In Begleitung des himmlischen Kollegen Cassiel wandelt Damiel durch die Straßen des geteilten Berlin und spaziert mental durch die Köpfe der Menschen, deren Gedanken er belauscht. Trotz ihrer Erinnerung an die gesamte Menschheitsgeschichte der Erde vermerken die zwei Engel jeden Tag aufs Neue Dinge in ihren Notizbüchern, die sie begeistern, wie z.B. eine Passantin, die ihren Schirm zuklappt und sich nassregnen lässt. Für Damiel ist die Sehnsucht nach den einfachsten Sinneserfahrungen, z.B. den Geschmack einer Tasse Kaffee, jedoch so groß, dass er die Ewigkeit der stillen Beobachtung gegen ein menschliches Dasein eintauschen möchte: „Es ist herrlich nur geistig zu leben, aber manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zuviel […]. Ich möchte ein Gewicht an mir spüren, dass die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht.“45 Ausschlaggebend für diesen Entschluss ist letztendlich das Bedürfnis nach Nähe zur einsamen Trapezkünstlerin Marion: „Ich werde in den Fluss steigen […] Hinein in die Furt der Zeit, die Furt des Todes. Herab von unserem Ausguck der Ungeborenen. Zuschauen ist nicht herabschauen, es geschieht auf Augenhöhe.“ Mit der Metamorphose Damiels wechseln die matten Schwarz-Weiß-Bilder der Welt der Engel in die farben-

45 Der Himmel über Berlin.

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frohe Menschenwelt. Die pathetischen von Peter Handke erdichteten Sätze weichen der menschlichen Alltagssprache. Der Wunsch nach Lebendigkeit, die gegen die grenzenlose Freiheit des himmlischen Daseins eingetauscht wird, bildet eine Parallele zu Sartres Drehbuch Les jeux sont faits, denn auch Pierre und Eve hegen, obwohl sie frei sind, den Wunsch, ins Diesseits zurückzukehren, wobei ihr Beweggrund nicht die Schönheit der Welt ist, sondern das Bedürfnis, in die Geschehnisse im Diesseits einzugreifen, was ihnen aufgrund ihrer Ohnmacht als Bewohner des Jenseits nicht möglich ist. Wenders repräsentiert das Motiv des Jenseits jedoch nicht durch gewöhnliche Verstorbene oder gar Poltergeister, sondern durch die Existenz der Engel. Wie die Toten in Sartres Darstellung des Jenseits, wandeln die zwei Engel Cassiel und Damiel inmitten der Lebenden, ohne dass diese ihre Gegenwart bemerken. Einzig die Kinder sind in der Lage, die Engel zu sehen. Zudem können ehemalige Engel, in diesem Fall gespielt von dem Schauspieler Peter Falk, der einen Columbo-Film in Berlin dreht, die Anwesenheit der Engel spüren: „I cannot see you but I know you’re here. I can feel you.“ Die Anwesenheit der Engel bleibt jedoch nicht folgenlos: So empfindet die einsame Marion ein Wohlgefühl, als Damiel ihr beim Tanzen die Hand reicht. Und ein verzweifelter Mann in der U-Bahn fasst nach einer Umarmung Damiels neuen Lebensmut. Insofern ist den Engeln, im Gegenteil zur Ohnmacht, die die Toten in Les jeux sont faits verspüren, eine gewisse Macht verliehen, die durch die Fähigkeit, die Gedanken der Menschen lesen zu können, ergänzt wird. Angelehnt an Sartres Konzeption des Denkspiels, das das Rollenspiel der Menschen, das so genannte Welttheater entlarvt, übernehmen folglich auch die Engel in dem Film Der Himmel über Berlin die Funktion der Beobachter, die das Schauspiel des Lebens verfolgen. Allerdings sind sie vom menschlichen Dasein derart fasziniert, dass es immer wieder himmlische Beobachter gibt, die sterblich werden wollen, um das zu erleben, was kein Engel spüren kann – die alltäglichen Wunder des Menschseins.

6.

Resümee

Das Drehbuch Les jeux sont faits inszeniert die Existenz des Jenseits als eine andere Seins-Dimension parallel zu der des Diesseits. Der Übergang wird von einer parodistisch dargestellten Behörde überwacht, die die Toten registriert. Die Toten, die dann als Zuschauer der Lebenden fungieren, bilden „Szenen des Blicks“46. Zudem zählen „die Inszenierungen und Spielformen der Schau-

46 Lommel: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, S. 174.

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lust“47 „zu den Gemeinsamkeiten, die Theater und Film verbinden“48, die vor allem im Hinblick auf die französische Theater- und Filmgeschichte eine „Meta-Theatralität“49 bilden. Sartre verknüpft die Themen Tod, Schaulust, Liebe und zweite Chance mit seiner existentialistischen Philosophie, wobei er das Mittel der Ironie einsetzt und auf diese Weise ein komplexes Denkspiel für den Zuschauer konzipiert. Sartre wählt „das Motiv des ,Schon tot‘, des Lebens post mortem, um so die Verstetigung der Rollenverkrustungen vorzuführen.“50 Die Darstellung des Determinismus entlarvt die menschliche Realität als Welttheater und appelliert an die Rezipienten ihre Freiheit gegenüber gesellschaftlichen Bindungen zu bewahren. Ein Ausblick auf das Kino der Jahrtausendwende verdeutlicht, dass die Konfrontation Diesseits/Jenseits ein beliebtes Motiv darstellt. Sartres JenseitsKonzeption hat viele Regisseure inspiriert, doch wie ein Blick auf den 1898 entstandenen Roman The turn of the screw zeigt, haben sich bereits Autoren des 19. Jahrhunderts damit beschäftigt und so gilt sicherlich auch Henry James als Inspiration für das Motiv der Begegnung Diesseits/Jenseits. Die Filme von M. Night Shyamalan, Alejandro Amenabar und Wim Wenders sowie James’ Roman verdeutlichen, wie weit Inszenierungen des Jenseits auseinander gehen können. Die Auffassung Sartres hebt sich insofern davon ab, als er das Leben im Jenseits als relativ „normal“ darstellt, jedoch einige Finessen einbaut, z.B. die Bürde der Handlungsohnmacht, die Einbeziehung der Rolle des Zuschauers oder die kafkaeske Idee der Behörde. Auf diese Weise regt er den Rezipienten zur Reflexion über das eigene Rollenverhalten an. Für jeden stellt sich die Frage, ob er in der Lage ist, seine Lebensrolle zu durchschauen und sich neu zu entwerfen.

47 Lommel/Roloff: „Einleitung“, S. 8. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Lommel: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, S. 180.

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Literaturverzeichnis Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Danto, Artur C.: Jean-Paul Sartre, Göttingen 1996. James, Henry: Das Durchdrehen der Schraube, München 22002. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004. Lommel, Michael: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, in: ders. u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004, S. 173-182. Lommel, Michael/Roloff, Volker: „Einleitung“, in: Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004, S. 7-16. Roloff, Volker: „Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi. Zur Theatertheorie Sartres“ in: König, Traugott (Hrsg.): Sartre. Ein Kongreß, Rheinbeck b.H. 1988. S. 93-106. Sartre, Jean-Paul: Das Spiel ist aus, Reinbek b.H., 2003. Winter, Scarlett: Spielformen der Lebenswelt. Zur Spiel- und Rollenmotivik im Theater von Sartre, Frisch, Dürrenmatt und Genet, München 1995. www.glizz.net/artikel_19.php, 11.08.2004.

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Le mur Sartres Novelle und Roullets Film 1.

Sartres Novelle Le mur

Sartre schrieb seine Novelle Le mur wahrscheinlich zwischen Februar und Mai 1937. Im Juli wurde sie bereits in der Nouvelle Revue Française veröffentlicht.1 1939 erschien sie dann bei Gallimard als erste Erzählung der gleichnamigen Novellensammlung. Sartre galt Ende der 30er Jahre in Fachkreisen zwar als viel versprechender Schriftsteller und Philosoph. Doch von der Popularität, die er nach dem Krieg gewinnen sollte, war er noch weit entfernt. Er hatte ein paar philosophische Studien verfasst und noch vor Le mur seinen ersten Roman La nausée geschrieben. La nausée wurde von Gallimard zunächst abgelehnt und erreichte die Leser erst 1938, nachdem der Lektor Änderungen und Kürzungen durchgesetzt hatte. Ein zentrales Thema aus La nausée spielt auch in Le mur eine Rolle: das Verhältnis von Faktizität und Existenz.

Faktizität und Existenz Le mur beginnt mitten in einem bereits laufenden Geschehens, scheinbar ohne Exposition: „On nous poussa dans une grande salle blanche et mes yeux se mirent à cligner parce que la lumière leur faisait mal“ (11). Durch diesen Kunstgriff Sartres wird der Leser unvermittelt in eine Geschichte hineingestoßen – so wie der Erzähler selbst, Pablo Ibbieta, gleich in dem zitierten Eingangssatz in einen leeren Raum gestoßen wird: Pablo hatte sich im Spanischen Bürgerkrieg den Republikanern angeschlossen und gegen die aufständischen Frankisten opponiert. Er wird von den Nationalisten, die auf Francos Seite kämpften, gefasst, per Standgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt und bis zum Anbruch des Morgens, dem Zeitpunkt der Hinrichtung, in einen Krankenhauskeller eingesperrt. Damit beginnt die Erzählung. Den Raum teilt er mit zwei anderen Gefangenen, die ebenfalls am nächsten Morgen erschossen werden sollen: einem spanischen Jugendlichen und einem Engländer. Pablo spricht in der Ich-Form, aus der Perspektive einer Zukunft, die nicht 1

La Nouvelle Revue Française, Nr. 286, 1937, S. 38-62. Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Sartre: Le mur, Paris 1964.

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genau datiert ist. Das Geschehen, das im Jahr 1936 spielt, entfaltet sich durch seine Mittlerrolle, seine subjektive Sicht. Voller Abscheu registriert er bei seinen Mitgefangenen die Zeichen des körperlichen Verfalls und der psychischen Desintegration. Er verachtet ihr Selbstmitleid, ihren Mangel an Selbstdisziplin. Er hingegen versucht hart zu bleiben, die Kontrolle zu wahren und den Tod, der ihm bevorsteht, zu begreifen, zu denken: „je n’avais jamais pensé à la mort parce que l’occasion ne s’en était pas présentée, mais maintenant l’occasion était là et il n’y avait pas autre chose à faire que de penser à ça.“ (16). Als eine weitere Person in die Zelle eingeschleust wird, ein belgischer Arzt, der mit den Frankisten paktiert, verliert er mehr und mehr seine Souveränität, die er den beiden Mitgefangenen voraus zu haben glaubte. Er durchschaut den Arzt sogleich als Scheingefangenen, der die Situation der Verurteilten für einen Menschenversuch ausnutzt. Der Arzt beobachtet aufmerksam das Verhalten und die körperlichen Reaktionen und notiert sie verstohlen in ein Heft. Dieser Blick von außen, von einem Menschen, der sein Leben noch vor sich hat, macht Pablo bewusst, dass er nicht der kalte Beobachter ist, für den er sich gehalten hat. Vielmehr steht ihm, genauso wie den anderen Gefangenen, die Todesangst ins Gesicht geschrieben: „nous étions pareils et pires que des miroirs l’un pour l’autre“ (21). Pablo macht eine ähnliche Erfahrung wie Roquentin, die Hauptfigur im Roman La nausée. Die Außenwelt erscheint mit einem Male in einem anderen Licht, einem anderen Wahrnehmungsmodus. Die Dinge verlieren ihren Status als Utensilien für einen menschlichen Zweck. Man kann diese Veränderung des Blicks auf die Dingwelt mit Heideggers Begriffen der Zuhandenheit und Vorhandenheit beschreiben. Die Dinge sind für den Menschen, der sich Ziele setzt, immer schon zuhanden: Der Hammer verweist auf den Nagel, der Nagel auf das Bild und so weiter. Der melancholische Blick Roquentins löst die Zuhandenheit von den Dingen ab und betrachtet sie in ihrem So-sein, ihrer Kontingenz, dem grundlosen Faktum, dass sie einfach da sind. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? So lautet für Heidegger die (letztlich auch von ihm selbst nicht beantwortete) Ausgangsfrage allen Philosophierens in Sein und Zeit. Roquentin ekelt sich vor der Faktizität, die sich ihm sozusagen in einer negativen Epiphanie aufdrängt, als er eine verschlungene Baumwurzel betrachtet. Später wird der Philosoph Sartre diesen Seinsstatus als en-soi bezeichnen. Das en-soi steht im Gegensatz zum pour-soi, dem menschlichen Bewusstsein, das sich in seinen projets ständig auf eine Zukunft entwirft und überschreitet. In den französischen Wörtern klingt noch Hegels Unterscheidung zwischen An-sich und Für-sich nach. Wenn das Für-sich, bei Hegel der „Geist“, nach einem langen Prozess der Entäußerung sein ihm Anderes, das An-sich, dialektisch durchdrungen hat, ist er zum Weltgeist geworden. Dieser

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sei dann, wie im preußischen Staatswesen, so glaubte Hegel jedenfalls, An-undfür-sich, ens causa sui, sich selbst begründende Freiheit. Zurück zur Novelle: Wichtig ist nun, dass Pablo in Le mur die Faktizität erst mit der Gewissheit des Todes empfindet: „depuis que j’allais mourir, plus rien ne me semblait naturel, ni ce tas de poussier, ni le banc [...]“ (23). Die Gegenstände werfen wie ein Spiegel den Tod zurück, ihnen fehlt die Zuhandenheit, die ihnen von einem pour-soi verliehen wird. Nach dem Tod fallen die Dinge in die Vorhandenheit zurück. Pablo betrachtet sich selbst als schon tot, als Leiche auf Abruf, als jemanden, der seinen eigenen Tod überlebt hat: je trouvais aussi que les objets avaient un drôle d’air […]. Naturellement je ne pouvais pas clairement penser ma mort mais je la voyais partout, sur les choses, dans la façon dont les choses avaient reculé et se tenaient à distance […] (28). Er fällt in eine Trance der Interesselosigkeit und Apathie. Seine Erinnerungen, die Liebe zu seiner Frau, die politischen Ambitionen – das alles hat keine Bedeutung mehr für ihn. Selbst der eigene Körper ist ihm fremd geworden. Sartre verstand sich zwar als Cartesianer, folgt hier aber der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa ausdrücklich nicht. In L’être et le néant schreibt er, dass ich nicht einen Körper habe, sondern dass ich mein Köper bin. Nun sieht Pablo seinen Körper extim, so wie ein Insektenforscher ein Insekt betrachtet. Er eignet sich den Blick des belgischen Arztes an, als wäre er für sich selbst ein anderer – was nach der Dialektik von ego und alter, Subjekt und Objekts des Blicks, Transzendenz und Faktizität unmöglich ist. Da ich mein Körper bin, kann er mir niemals distanziert erscheinen.

Die Pointe Als der nächste Morgen anbricht, werden die beiden Gefangenen, mit denen Pablo den Kerker geteilt hat, abgeführt und hingerichtet. Da es sich um eine Ich-Erzählung handelt und keine Hinweise auf Science Fiction erkennbar sind, ahnen wir schon, dass Pablo überleben wird. Nur fragen wir uns als Leser: Wie kommt es dazu? Das Rätsel wird am Ende aufgelöst, und zwar durch eine überraschende erzählerische Volte. Pablo, der als letzter an der Reihe ist, wird noch einmal verhört. Er soll den Falangisten verraten, wo sich sein spanischer Gefährte Ramon Gris versteckt hält. Als Gegenleistung verspricht man ihm dafür nichts Geringeres als die Freiheit. Obwohl er das Versteck kennt, schweigt er zunächst. Aber nicht aus Treue zu seinem Gefährten Gris, sondern, wie es in der Novelle heißt, aus Sturheit:

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Je préférais crever plutôt que de livrer Gris. Pourquoi? Je n’aimais plus Ramon Gris. [...] Je savais bien qu’il était plus utile que moi à la cause de l’Espagne mais je me foutais de l’Espagne et de l’anarchie: rien n’avait plus d’importance (33f.). Doch mit einem Mal, wie aus einer Laune heraus, besinnt er sich eines anderen. Um seinen Feinden einen Streich zu spielen, denkt er sich einen Ort aus und behauptet, dass sich Gris dort verberge: den Friedhof. Aber genau dorthin ist Gris tatsächlich geflohen, als er genötigt war, seine alte Zuflucht, den Ort, an dem Pablo ihn zu wissen glaubte, zu verlassen. Der Schluss der Novelle lautet: „je riais si fort que les larmes me vinrent aux yeux“ (36). Aus der Erfahrung der Kontingenz des Lebens, das man, wenn der Tod naht, nicht wie einen Sack zubinden kann, folgt für Pablo, dass er die anderen als lächerlich durchschaut, als schlechte Schauspieler einer Burleske, Schmierenkomödianten auf der Bühne des Lebens: Ces deux types chamarrés avec leurs cravaches et leur bottes, c’était tout de même des hommes qui allaient mourir. Un peu plus tard que moi, mais pas beaucoup plus. [...] Leurs petites activités me paraissaient choquantes et burlesques [...] (32). Die Ernsthaftigkeit, mit der jeder seine Rolle spielt, die geflissentliche Aktivität, wirkt auf ihn wie eine Farce, ein groteskes Schauspiel. Vor dem Hintergrund dieser comédie humaine entscheidet er sich für die Finte. Sie ist ein sinnloser Akt inmitten der jeden Sinn nivellierenden Farce. Sie fügt der allumfassenden Sinnlosigkeit, die der Tod offenbart, nichts hinzu und nimmt ihr nichts weg – denkt Pablo! Die Finte hat für ihn nur einen Zweck: Er will seinen Spaß haben. Sartre lässt nun offen, was es für Pablo bedeutet, wenn sich die vermeintliche Farce, das zweckfreie Spiel, plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Ramon war tatsächlich zu dem erfundenen Ort, zum Friedhof geflüchtet. Pablos Lachen ist die Reaktion auf das Unverständliche. Obwohl die Erzählhandlung hier abbricht, darf man annehmen, dass die Frankisten ihr Versprechen gehalten und ihm die Freiheit geschenkt haben. Ein vergiftetes Geschenk: Dass er als Verräter auf freien Fuß kommt, ist für ihn wohl schlimmer als der Tod. In der Sprache der Sartreschen Philosophie könnte man den Novellenschluss so deuten: Selbst mit der Gewissheit des baldigen Todes spielt man sich etwas vor, man tappt in die Falle des Selbstbetrugs, wenn man das pour-soi als abgeschlossen und gegenständlich, als en-soi auffasst. Die Existenz gehe der Essenz voraus, hat Sartre an anderer Stelle geschrieben und damit die scholastische Prämisse umgedreht.2 Auch im Angesicht des Todes kann sich Pablo 2

Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, S. 9.

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nicht von den Folgen seines Handelns freisprechen. Irritierend ist nun aber, dass zwischen dieser moralischen Frage und der Pointe am Ende gar kein logischer Zusammenhang besteht: „Toutes ces fuites sont arrêtées par un Mur“, beschreibt Sartre das gemeinsame Motiv der Novellensammlung, die mit Le mur eröffnet wird, „fuir l’Existence, c’est encore exister. L’existence est un plein que l’homme ne peut quitter.“3 Alle Versuche, den Tod zu verstehen oder ihn sich überhaupt nur vorzustellen, prallen wie an einer Mauer ab. Der Tod, meint Sartre in L’être et le néant, ist das schlechthin Andere der Existenz und für das pour-soi uneinholbar. Der Tod unterhöhlt gerade die Bedingung der Existenz, sich in eine Zukunft zu entwerfen. Ich bin, solange ich lebe, meine Möglichkeiten, und der Tod ist das factum brutum, das Ende aller Möglichkeiten: „la mort est un pur fait, comme la naissance; elle vient à nous du dehors et elle nous transforme en dehors.“4 Das wusste bereits Nietzsche in seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Im Grunde sei das Dasein „ein nie zu vollendendes Imperfectum.“ Der Tod unterschlage „die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntnis, dass Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist [...].“5

Sartres Gattungstreue Le mur erfüllt geradezu exemplarisch die Merkmale der Gattung. Nach Goethe ist nicht nur die Neuigkeit, die Überraschung, die im französischen Wort „nouvelle“ angesprochen wird, ausschlaggebend, sondern auch das Krisenhafte einer Begebenheit. Die Novelle, so Goethe, „hinterlasse einen stillen Reiz, weiter nachzudenken.“6 Der Kristallisationspunkt, Pablos unbeabsichtigter Verrat, wird von einem linearen, straff erzählten Ablauf vorbereitet. Die Handlung, auch das ist ein Charakteristikum der Gattung, verläuft meist durch einen szenisch ausgestatteten Schauplatz hindurch. In Le mur ist das die Gefängniszelle. Typisch ist drittens die Verwendung eines Dingsymbols, das auf den Falken in Boccaccios Falkennovelle, die Inkunabel aller Novellistik, zurückgeht und in das Zentrum der Ereignisse führt – bei Sartre die Mauer, wie schon der Titel vorgibt. Das „unerhörte Ereignis“ (Goethe), die Peripetie der Sartreschen Novelle, wirft die Frage auf: Zufall oder Schicksal? Der Erzähler gibt sie sozusagen an den Leser weiter. Was sich für Pablo als lächerliche Koinzidenz entpuppt und 3

Zit. nach Sartre: Œuvres romanesques, S. 1806.

4

Sartre: L’être et le néant, zit. nach ebd., S. 1823.

5

Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, S. 8f.

6

Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 117.

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für Roman Gris das sichere Todesurteil bedeutet, konnte nur eintreten, weil Pablo nicht alle Umstände der Situation kannte. Dem Zufall, dass sich Ramon gerade auf dem Friedhof versteckt hat, wird in Le mur eine grausame Notwendigkeit verliehen. Zweideutig ist dieser Novellenschluss dennoch, weil er den Leser vor das Rätsel stellt, ob das Ereignis, die unwahrscheinliche Koinzidenz, vorhersehbar gewesen wäre, zumindest dann, wenn Pablo auch die entfernteste Möglichkeit eingeschlossen hätte. Sartre nimmt dem Leser die Antwort nicht ab. Triumphiert die Farce sardonisch über die existentialistische Moral? „(L)e personnage de Pablo“, schreibt Michel Rybalka, „affirme ainsi à sa façon l’impossibilité de la morale à notre époque.“7 Der Zufall erhält erst durch die Sprache einen Sinn. Ist es dann nicht illusionär, dem Sinnlosen einen Sinn abzuzwingen? Das Absurde ist keineswegs Pablos Schicksal. Er führt die Farce selbst herbei. Nach Henning Krauss ist Sartres Spiel mit dem Zufall in Le mur „die ironische Potenzierung der Lächerlichkeit des in sich schon lächerlich Kontingenten [...]. Dem Zufall des Spiels entspringt eine neue Zufälligkeit [...].“8

2.

Der Film: von Sartre zu Roullet

Der historische Kontext 30 Jahre nach der Veröffentlichung der Novelle drehte Serge Roullet seinen Film, der 1967 auf dem Festival von Venedig vorgestellt wurde. In einem Brief an Roullet schreibt Sartre, er sei von dem Film begeistert: „On a porté à l’écran, déjà, quelques-unes de mes œuvres, mais je ne me suis jamais reconnu dans ces films. Dans le vôtre, je me reconnais entièrement [...].“9 Als Sartre seine Novelle schrieb, war der Spanische Bürgerkrieg erst knapp ein Jahr alt und noch in vollem Gang. Es ist schon bemerkenswert, dass Sartre ein so aktuelles historisches Geschehen aufgreift.10 Ein Film, der sich 30 Jahre später

7

Sartre: Œuvres romanesques, S. 1824

8

Krauss: Die Praxis der „littérature engagée“ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948, S. 24.

9

Zit. nach Sartre: Œuvres romanesques, S. 1826.

10 In der Genauigkeit der geschichtlichen Einbettung von Erzählstoffen steht Sartre einem Georg Büchner (Dantons Tod) oder Thomas Mann (Doktor Faustus) in nichts nach. Sein bis heute unterschätzter, brillant komponierter Romanzyklus Les chemins de la liberté, der die Vorgeschichte und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs behandelt, lässt so manchen Fachhistoriker staunend zurück. Zudem ist er mit einer

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mit der Novelle beschäftigt, muss in irgend einer Weise auf diese zeitliche Spanne reagieren. Selbst wenn er versuchte, die historische Distanz auszublenden, bezöge er schon eine Position. Roullet entscheidet sich für das genaue Gegenteil. Er historisiert den Stoff. Es gibt keinen Vorspann, nicht einmal einen Filmtitel. Der Film setzt wie eine Wochenschau aus den 30er Jahren ein. Zunächst lesen wir auf der Leinwand die Zeitangabe „juillet 1936“, dann die Information „IMAGES DU MONDE“, den Verweis auf den Seriencharakter, das Nachrichtenformat der Wochenschau. Es folgt die Ortsangabe „Espagne“. In sehr schnellen Bildwechseln und einem neutralen, schnell gesprochenen Kommentar aus dem Off, dem typischen Duktus des Nachrichtensprechers, wird nun die erste Phase des Spanischen Bürgerkriegs in konkreten historischen Anhaltspunkten vermittelt (Abb. 1-2). Der Spielfilm Le mur beginnt wie ein Dokumentarfilm, er ordnet sich, zumindest auf den ersten Blick, nicht in das Jahr 1967 ein, sondern stellt sich als Rückblick auf das Jahr 1936 dar. Kameraführung und Montage folgen dieser Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Historie zum Einzelschicksal. Sobald die Handlung, der eigentliche Spielfilm, beginnt, wechselt Roullet das Bildformat. Wir sehen aus der Vogelperspektive den Hof des Hospitals, dann den Saal des Verhörs, in den die Gefangenen gebracht werden, schließlich die Hauptfigur Pablo; erst hier beginnt ja Sartres Novelle. Es scheint, als werde eine besondere Begebenheit als Exempel herausgegriffen, um die historischen Ereignisse zu illustrieren.

Abbildung 1, 2: Screenshots, Le mur

Die zeitgeschichtlichen und politischen Bezüge, die in der Novelle nur den Hintergrund abgeben, werden im Film deutlich herausgestellt. Ein Grund dafür mag auch sein, dass für die Zuschauer von 1967 die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs nicht mehr so präsent waren wie für Sartre in den Jahren 1936/37, als man in den Zeitungsnachrichten den Stand der Dinge, den Verlauf der Bürgerkriegsfronten etwa, mitverfolgen konnte. Doch Roullet geht noch weiter. Zunächst folgt er im Großen und Ganzen der Novellenhandlung. spannenden Cliffhanger-Dramaturgie versehen, von der eine Fernsehserie wie 24 nur träumen kann.

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Sartre fasst Pablos Erinnerungen an die Zeit vor der Festnahme in knappen Sätzen zusammen, um zu zeigen, dass sein Held mit dem Tod vor Augen keinen Bezug mehr zu ihnen hat, sie von sich abschütteln möchte, als stammten sie aus einem anderen, ihm völlig fremden Leben. Der Film bietet folgende Variante: In der Dunkelheit des Kellergefängnisses erinnert sich Pablo an die Vergangenheit. Er träumt mit offenen Augen. Roullet wählt also die gängige Form, mit der das Kino Erinnerungen vorführt, die Rückblende. Wir sehen in Großaufnahme Pablo, der ins Leere starrt, dann folgt ein harter Schnitt und das neue Bild kann vom Zuschauer als Erinnerungsbild gelesen werden. Sieht man sie zum ersten Mal, sind diese Rückblenden etwas undurchsichtig. Worum geht es? Pablo, der bei Sartre nur vage als Anarchist bezeichnet wird und am Freiheitskampf der Republik teilnimmt, bekommt hier eine deutliche politische Zugehörigkeit verliehen. Roullet ordnet ihn einer bestimmten Gruppierung des Spanischen Bürgerkriegs zu. Pablo ist Gewerkschaftsmitglied, genauer gesagt „ouvrier anarchiste“. Ramon Gris, in der Novelle eine schattenhafte Person in absentia, die ausschließlich eine Funktion für die Pointe am Ende erfüllt, wird im Film zu einer eigenständigen Figur ausgebaut (Abb. 3). Im Drehbuch zum Film beschreibt ihn Roullet als „militant anarchiste“. „Il n’a qu’une pensée, se battre à tout prix. Il à été longtemps un modèle pour Pablo.“11

Abbildung 3: Screenshot: Pablo und Ramon Gris, Le mur

Roullet bezieht sich auf die erste Phase des Bürgerkriegs, die etwa von Juli 1936 bis Januar 1937 dauerte. Nationalistische und autoritäre Kräfte unter der Führung der spanischen Militärs haben sich gegen die von einem Linksbündnis geführte Zweite Republik erhoben. Ohne hier auf alle Einzelheiten einzugehen, möchte ich doch erwähnen, dass Roullet sich offenkundig eingehend mit 11 Roullet: Le mur (Drehbuch), abgedruckt in: L’Avant-Scène Cinéma, Nr. 75, 1967, S. 7.

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der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs befasst hat; man kann eine Reihe von Ortsangaben und historischen Referenzen ausmachen.12 Die Handlung der Rückblenden spielt in einer von den Nationalisten besetzten Stadt. Parteien und Gewerkschaften sind bereits verboten, Massenerschießungen werden durchgeführt. Roullet akzentuiert den Klassenkampf, der mit dem Bürgerkrieg verquickt war, die Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern sowie Großgrundbesitzern und Bauern. In einer Sequenz wird der Disput innerhalb der Linken über die Strategie des Kampfes angedeutet. Während die Arbeiter, die in der Kommunistischen Partei aktiv sind, eine eher abwartende Haltung vertreten, die Situation analysieren wollen und sich mit Streiks begnügen, bestehen Roman Gris und seine Freunde auf Aktion, auf Kampf. Pablo unterstützt einen Sabotageakt, den Roman Gris durchführt und der schließlich dazu führt, dass die Fabrik explodiert, in der Pablo arbeitet. Es wird deutlich, dass es sich um die Vorgeschichte der gegenwärtigen Handlung handelt. Pablo wird nach diesem Attentat als Saboteur festgenommen, Ramon kann sich verstecken.

Blickwechsel im Halbschatten In meinen Ausführungen zur Novelle habe ich erwähnt, dass Blicke und Blickwechsel eine wichtige Rolle spielen. Pablo erkennt: Er ist nicht mehr Herr der Situation, weil er in den Augen des belgischen Arztes den Verfall seines Körpers gespiegelt sieht. Im Blick-Kapitel in L’être et le néant behauptet Sartre, dass ich nie Objekt für mich selbst sein kann, weil ich mich immer über den Anderen erkenne. Aber was der Andere in mir sieht, kann ich nur mutmaßen. Sein Blick offenbart mir seine Freiheit, die meine Freiheit überschreitet. Wenn ich nun den Anderen anblicke, wenn ich zurückblicke, ist der Andere Objektfür-mich. Damit habe ich ihn jedoch zusammen mit dem Bild, das er sich von mir macht, verdinglicht. Wiederum entgeht mir somit mein Sein, mein ObjektIch.13 Mit Hegel gesprochen: Der Chiasmus der Blicke sorgt dafür, dass ein Mensch niemals An-und-für-sich sein kann. Das Gesicht, so Sartre, fabriziere „inmitten der universalen Zeit seine eigene Zeit“. Wenn ein Gesicht in meinem Blickfeld auftauche, sei es meinem Blick auf magische Weise immer voraus. Der Blick als „Adel des Gesichts“ halte die Dinge auf Distanz, er ver-

12 Ich stütze mich auf Bernecker/Pietschmann: Geschichte Spaniens, S. 315-334. 13 Vgl. ausführlicher Lommel: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, S. 173-182.

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wische die Grenzen des Gesichts, verlängere es in den Raum und in die Zeit. Dort verliere es sich, „außerhalb seiner selbst, irgendwo, aber anderswo [...].“14 Wenn man Roullets filmische Räume grob in zwei Arten unterteilt, dann gibt es den Innenraum im Gefängnis und die Außenaufnahmen der Rückblenden. Spielt der Film im Gefängnis, passiert naturgemäß nicht viel. Hier ersetzen Blicke die Begrenztheit der Aktionen, den Leerlauf der Handlungen. Während die Verurteilten davon reden, dass ihr Leben abgeschlossen sei, bezeugt ihr Blick noch die „transcendence de l’ego“. Dabei liefert der Film nicht, wie der Novellen-Text, die Motive und Hintergründe der Blicke (in der Novelle heißt es beispielsweise: „il le regarda d’un air étonnée“). Der Kinozuschauer muss die Blicke lesen, um die Gefühle und Gedanken der Protagonisten zu entschlüsseln. Roullet hat erkannt, dass der Film hier größere Deutungsräume freigeben kann als die Literatur, weil gefilmte (genauer gesagt: filmisch repräsentierte) Blicke immer rätselhaft bleiben. Ich komme auf einen weiteren Aspekt zu sprechen, der den Film von seiner Vorlage abhebt: die surreale Atmosphäre der Bilder und der Musik, die bereits in der Novelle angedeutet wird: „C’est comme dans les cauchemars “ (22), heißt es dort. Roullets Kameramann zeichnet mit Licht und Schatten impressionistische Tableaus, ein beinahe körperliches Licht, das die Petroleumlampe in den Raum wirft (Abb. 4-5). Ein Licht, das sich in den Mauern und Ecken im Dunkel verliert, verbindet sich mit der beklemmenden an- und abschwellenden Musik. Die Personen erscheinen häufig wie matt erleuchtete Gespenster, Abzüge, Abbilder des Lebens, Projektionen. Licht, Musik und Blicke fungieren als dramatische Elemente des Spiels. In dem bereits zitierten Brief an Roullet betont Sartre, der Zuschauer des Films habe die Beklemmung und die Qual der Figuren selbst zu erleiden; ihm werde nichts geschenkt. Und über die Zeit des Films lasse sich nicht, wie bei der Lektüre, verfügen: „c’est le temps“, sagt Sartre, „le temps comme une espèce de flux, qui va vers une destinée qu’on ne peut pas limiter.“15 Gerade der Film kann diese Unausweichlichkeit veranschaulichen. Er läuft nach festgelegtem Zeittakt von einer Spule in die andere. Sartre beschreibt dies sehr genau: Roullets Film „nous fait déguster le temps avec notre propre temps.“16 Die Literatur muss das Schweigen zwischen den Worten und Dialogen und die Verwirrung des Zeitgefühls benennen, das Verrinnen der Zeit paradoxerweise in Worten festhalten. In Le mur lenkt Sartre demgemäß durch häufige Zeitindices die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Vergehen der Zeit. Das Geschehen in der Zelle erinnert an die 14 Sartre: „Gesichter“, S. 331-333. Für Eisenstein ist die Großaufnahme im Film nicht ein Bild des Gesichts; sie ist das Gesicht selbst. 15 Zit. nach Sartre: Œuvres romanesques, S. 1827. 16 Ebd., S. 1830.

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Geschlossenheit eines Kammerspiels, die Kamera bewegt sich kaum. Das entspricht der Statik der Situation. Aber der Blick des Zuschauers bleibt keineswegs auf Distanz, wie es im Theater (der Guckkastenbühne) der Fall ist. Die Kamera dringt in den geschlossenen Raum ein. Die Bewegungen und Positionen ergeben ein psychologisches Muster, das sich räumlich abbildet, eine Verräumlichung der leerlaufenden und doch so dichten, komprimierten Zeit.

Abbildung 4, 5: Screenshots, Le mur

3.

Schlussfolgerungen: Sartre und Roullet

Roullet erweitet die schlaglichtartigen Erinnerungen Pablos an sein Leben vor der Todeszelle zu einer Nebenhandlung, ja sogar einer zweiten, eigenständigen Handlung. Er historisiert den Novellenstoff, bettet ihn politisch und biographisch ein. Für einen französischen Zuschauer von 1967 weckt eine Widerstandsbewegung, die im Verborgenen gegen nationalistische und zum Teil faschistische Besatzer kämpft, Reminiszenzen an die Résistance, an den Marquis. Die Debatten über den richtigen Kurs innerhalb der spanischen Linken, wie sie der Film vorführt, nehmen außerdem die sozialen und ideologischen Auseinandersetzungen der 68er vorweg. In dieser Zeit hatte der parteilich organisierte Kommunismus, also die französische KP, die seit dem Kriegsende große Teile der Arbeiterschaft und der Intellektuellen an sich binden konnte, erstmals wirkliche Legitimationsprobleme. Im Mai 1968 sollte der Konflikt dann zwischen linken Lehrern und Studenten einerseits und den Köpfen der KPF und ihrer Gewerkschaft CGT andererseits aufbrechen.17 Roullets Übertragung der Sartreschen Novelle kann man noch genauer charakterisieren: Die Geschichte, die Pablo erzählt, zieht den Leser in eine klaustrophobische Situation hinein. Wir sterben immer zu früh oder zu spät, hat Sartre einmal gesagt. Die Vergangenheit, die Erinnerungen, ja die ganze Welt jenseits der Gefängnismauern ruft die Novelle als blassen Hintergrund 17 Vgl. Lommel: „Chiffre 68“, S. 5-12.

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auf, der von Pablo ins Nichts, in die Bedeutungslosigkeit gestoßen wird. Pablo löst die Todesgewissheit von den konkreten Umständen der Situation ab, die sie herbeigeführt haben. Die Situation der zum Tode Verurteilten offenbart ihm die Sinnlosigkeit der Existenz, so wie Roquentin in La nausée durch die Evidenz, die ihn beim Betrachten der Baumwurzel schockartig trifft, das Absurde entdeckt. In Le mur sagt sich Pablo: „[...] si l’on était venu m’annoncer [...] qu’on me laissait la vie sauve, ça m’aurait laissé froid“ (28). Die Zukunft, in die sich das pour-soi entwirft, ist für Pablo nur eine mehr oder weniger zeitlich begrenzte Frist, die der Tod abschneidet. Nachdem er nun spürt und nicht nur weiß, dass er sterblich ist, scheint es ihm gleichgültig, ob er am nächsten Morgen hingerichtet wird oder in 50 Jahren an Altersschwäche stirbt. Dass wir sterben müssen, können wir an keinem einzigen Tag unseres Lebens vergessen; dass uns der Tod zugleich ermächtigt, das Leben als Entwurf anzunehmen, ist das große Thema Jean-Paul Sartres. Le mur lasse uns nacherleben, so Wolfgang Krömer, „wie das Verschwinden des Projekts auf das Bewusstsein wirkt.“18 Nach der Präsentation des Films auf dem Festival in Venedig gab Sartre ein Interview, in dem er deutlich machte, dass er inzwischen, nach seiner Annäherung an den Marxismus, eine andere Position einnehme als damals: „[...] je considère à la fois que mourir au cours d’une lutte, d’une lutte sociale, d’une lutte pour le progrès, n’est pas un élément négatif, pris dans l’ensemble d’une situation révolutionnaire [...].“19 So verwundert es nicht, dass Sartre, der sich zu dieser Zeit besonders aktiv in politische Debatten einschaltete, die klassenkämperische Note des Films gefiel. Die Novelle kann man auf diese Position aber gerade nicht reduzieren. In der Geschlossenheit ihres Schauplatzes ist sie sozusagen offener angelegt. Das kann man von manchen späteren Werken wie Morts sans sépulture, dem eine ähnliche Kerkersituation zugrunde legt, nicht behaupten: Die solidarische Ermordung des jüngsten Widerstandskämpfers, dem die Genossen nicht zutrauen, unter der Folter dicht zu halten, erinnert an Brechts stalinistisches „Lehrstück“, das in der Germanistik immer noch mit dialektischen Klimmzügen schön geredet wird: Auch hier wird ein Genosse für ein höheres – revolutionäres – Ziel geopfert. Für Pablo ist mit der Evidenz des Todes, vor dem die Klasseneinteilungen und politischen Zielsetzungen obsolet erscheinen, jedes mögliche Leben, das er hätte haben können, grundlos und sinnlos. So heißt es in der Novelle: 18 Krömer: „Sartre: Le Mur, La Chambre“, S. 295. 19 Sartre: Œuvres romanesques, S. 1828.

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„quelques heures ou quelques années d’attente c’est tout pareil, quand on a perdu l’illusion d’être éternel“ (28). Im Film hingegen wird zumindest nahe gelegt: Wenn er sich früher der Vergänglichkeit bewusst geworden wäre, hätte er ein anderes Leben geführt. Entsprechend hat Roullet gegen Ende des Films einen Fluchtversuch eingebaut, bevor Pablo abgeführt wird. Natürlich darf man die Befindlichkeit Pablos nicht mit der Position des Schriftstellers Sartre verwechseln. Dennoch ist die intellektuelle Biographie Sartres hier aufschlussreich. Das Konzept des Engagements entwickelte er erst nach dem Zweiten Weltkrieg, beeinflusst von seinen Erfahrungen als Soldat im drôle de guerre und Kriegsgefangener in Deutschland. Man sollte der Versuchung widerstehen, die Novelle Le mur im Lichte des später politisch engagierten Sartre zu lesen. Die Faszination, die von ihr ausgeht, liegt darin, dass Sartre keine moralische Anweisung liefert. Pablo ist weder Held noch Anti-Held, ihm fehlt jede Tragik. Zurecht schreibt Henning Krauss, die Novelle sei trotz des direkten Zeitbezugs „unpolitisch“20 Der Film bricht die narrative Geschlossenheit der Novelle auf. Den schemenhaften Lebenshintergrund, die Vorgeschichte Pablos, gestaltet er als Gegensatz zwischen den düsteren Kellerbildern der Gegenwart und den offenen Räumen der Vergangenheit, die die Rückblenden rekapitulieren. Dadurch erscheint die Pointe am Ende in einem anderen Licht. Das Geschehen wird historisch eingeordnet, das Engagement der Hauptfigur hervorgehoben. Pablo lehnt sich im Film gegen den Tod auf, er versucht zu fliehen. Mit dem Medienwechsel ändert sich die Erzählperspektive: Denn der Film muss eine andere Lösung für den erzählten Monolog finden. Zunächst weiß der Zuschauer gar nicht, wer erzählt. Erst im letzten Drittel wird der Off-Kommentar Pablos eingeführt, der die Gegenwärtigkeit der Bilder aufhebt. Die Distanz des Erzählers zum Erzählten, die das passé simple noch betont, weicht im Film einer objektivierten Handlungsführung. Von den Figuren der Novelle wissen wir nur, wie sie auf Pablo wirken. Im Film hingegen haben sie eine eigene Präsenz. Ich würde hier mit Bachtin von einer parole indirecte libre sprechen. Die subjektive Kamera – die Kamera, die sich an die Stelle des Ich-Erzählers setzt – kann im Film nicht durchgängig verwendet werden. Daran ist schon Robert Montgomery in seinem Film The Lady in the Lake (1947) gescheitert.

20 Krauss: Die Praxis der „littérature engagée“ im Werk Jean-Paul Sartres, S. 21.

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Literaturverzeichnis Albersmeier, Franz-Josef: „Einleitung: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptationsproblematik“, in: ders./Roloff, Volker (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 15-37. Argyros, Alexander J.: „The Sense of an Ending: Sartre’s ,The Wall‘“, in: Modern Language Studies, 3, 1988, S. 46-52. Bernecker, Walther L./Pietschmann, Horst: Geschichte Spaniens: von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart u.a. 1997, S. 315-334. Camus, Albert: „Le Mur de Jean-Paul Sartre“, in: ders.: Essais, Paris 1965, S. 1419-1422. Contat, Michel/Rybalka, Michel (Hrsg.): Les écrits de Sartre, Paris 1970. Goethe, Johann Wolfgang von: „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Bd. 6, Hamburg 1958. Harvey, Carol J.: „Le Mur de Jean-Paul Sartre. Techniques et philosophie de la caractérisation“, in: Revue canadienne des langues vivantes, H. 43, 1986, S. 79-86. Idt, Geneviève: Le Mur de Jean-Paul Sartre. Techniques et contexte d’une provocation, Paris 1972. Interview mit Sartre auf dem Festival von Venedig, abgedruckt in: Œuvres romanesques, S. 1826-1832. Krauss, Henning: Die Praxis der „littérature engagée“ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948, Heidelberg 1970, S. 21-25. Krömer, Wolfgang: „Sartre: ‚Le Mur, La Chambre‘“, in: ders.: Die französische Novelle, Düsseldorf 1976, S. 291-310. Lommel, Michael: „Chiffre 68“, in: ders.: Der Pariser Mai im französischen Kino. 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001. Lommel, Michael: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre.“, in: ders. u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004, S. 173-182. Müller, Jürgen: „Intermedialität als Provokation der Medienwissenschaft“, in: Eikon, 4 , 1992, S. 12-22. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, München 1996. Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart 1988.

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Pitts, E. Rebecca: „‚The Wall‘. Sartre’s metaphysical trap“, in: Hartford studies in literature, Bd. 7, Nr. 1, 1974, S. 29-54. Roloff, Volker: „Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni“, in: Peter V. Zima (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995, S. 269-309. Roullet, Serge: Le mur, 1967 (Drehbuch, abgedruckt in: L’Avant-Scène du Cinéma, Nr. 75, 1967). Sartre, Jean-Paul: „Gesichter“, in: ders.: Philosophische Schriften I: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek b.H. 1994, S. 331-333. Sartre, Jean-Paul: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, in: ders.: Drei Essays, Frankfurt a.M. 1986, S. 7-52. Sartre, Jean-Paul: „Brief an Serge Roullet vom 10.1.1967“, in: ders.: Œuvres romanesques, Paris 1981, S. 1826. Sartre, Jean-Paul: Œuvres romanesques, Paris 1981. Sartre, Jean-Paul: „Der Erzählungsband ‚Die Mauer‘ am Gymnasium“, in: ders.: Mai ‘68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze, Bd. 1, Reinbek b.H. 1974, S. 72-75. Sartre, Jean-Paul: Le mur, Paris 1964. (Erstausgabe in: La Nouvelle Revue Française 286 (1937), S. 38-62). Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant, Paris 1950. Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant, Paris 1943. Sartre, Jean-Paul: La nausée, Paris 1938. Schnädter, Herbert: Das literarische Frühwerk Jean-Paul Sartres. Untersuchungen zur Interpretation von La Nausée und Le Mur, Mainz 1970.

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Lothar Knapp

Das Bild und das Imaginäre. Sartres Schriften L’Imagination (1936), L’Imaginaire (1940) und Un théâtre de situations (1973)1 1.

Die frühen Schriften L’Imagination und L’Imaginaire

Dem Verständnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit legt Sartre einen SeinsBegriff zugrunde, der in L’être et le néant (1943) seine philosophische Begründung gefunden hat: ein Sein der vorhandenen Wesen und Dinge in der Welt, das vom Bewusstsein des Menschen als Sein bestätigt und daher auch negiert werden kann, worauf Sartre die Freiheit des Menschen gründet, seine Welt zu verändern. Von dieser Grundannahme im Denken Sartres ist auszugehen, wenn das Verhältnis von Bild und abgebildeter Wirklichkeit in der Vermittlung über Medien, wie die Schrift und das Theater, in dieser Untersuchung zum Gegenstand gemacht wird. Untersucht werden sollen zunächst die philosophischen Grundlagen, ausgehend von den frühen Schriften L’Imagination von 1936 und L’Imaginaire von 1940, wo die Schlüsselbegriffe Wahrnehmung (perception), Bild (image) und Gegenstand (objet) im Verlauf der Verbildlichung des Wahrgenommenen untersucht und analysiert werden. Anschließend konzentriert sich unsere Untersuchung in ihrem Hauptteil auf die Funktion des Bildes und des Imaginären auf dem Theater; den Abschluss bildet die Analyse der Frage, welche Funktionen dem Bildhaften und dem Imaginären im Leben des Subjekts zukommt, sowie welchen Einfluss sie auf die Handlungsfreiheit der Subjekte im Prozess historischer Veränderung haben. In L’Imagination, der frühesten Publikation Sartres zum Thema unserer Untersuchung2, setzt sich Sartre kritisch von Bergsons Versuch ab, die Wahrnehmung zu verstehen und zu deuten als einen Prozess der Ablagerung des Wahrgenommenen (Bild) im Gedächtnis. Merleau-Ponty hebt an diesem Vorgang als bedeutsam den Übergang von der Wahrnehmung zum Bild hervor, was zwar als zu unbestimmt, aber nicht als falsch eingeschätzt wird, weil der Vorgang schon den wesentlichen Verlauf der Verbildlichung im Sinne 1

Die Zitate sind den folgenden Werken Sartres entnommen: „L’Imagination“, zit. in: Merleau-Ponty: Journal de psychologie normale et pathologique; Sartre: L’Imaginaire; Sartre: Un théâtre de situations.

2

Siehe die Rezension von Merleau-Ponty in: Journal de psychologie normale et pathologique.

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Sartres andeutet, wie ihn das folgende Zitat in Umrissen beschreibt, wobei „représentation“ die Vergegenwärtigung des Objekts der Wahrnehmung meint und „image“ seine Verbildlichung: „Pour préparer le monde à devenir dans le sujet représentation, on l’appelle perception pure; pour préparer les choses à devenir pensées, on les appelle „images“.3 Kritikwürdig ist nach Sartre die Auffassung einer „perception pure“, weil die Wahrnehmung selbst schon als sehr komplex zu sehen sei; doch die Schritte Wahrnehmung – Vergegenwärtigung (présentation) – Gedanke – Bild resümieren einen Ablauf, den im Grunde die Formel „Ikon“ – „Index“ – „Symbol“ bestätigt, die der Begründer der Semiotik Charles S. Peirce als den Verlauf von der Wahrnehmung zum Bild in den Etappen Wahrnehmung eines Objekts (Ikon), dessen Zuordnung zu einer Gestalt (Index) und Zuschreibung einer Bedeutung des Wahrgenommenen (Symbol) beschrieben hat4 und den die psychoanalytische Semiotik (Lacan, Kristeva u.a.5) entsprechend auf den Verlauf der Bewusstmachung der Wahrnehmung des Analysanden übertragen hat. Das Bild muss also, um zu erscheinen, erst in einen materiellen Kontext eingefügt werden, wie Merleau-Ponty bemerkt: „C’est selon qu’elle peut ou non être insérée dans le contexte logique du monde vrai que la représentation se fait perception ou image.“ Und „la perception […] nous apparaît comme ‚une source première de connaissance‘“6 Am Beginn steht die Wahrnehmung; ihr ist ein imaginärer Anteil beigefügt, der auf den Gegenstand übergeht, der von der Wahrnehmung erfasst wird. Und hier offenbart sich eine gewisse Paradoxie in Sartres Definition des Gegenstands, des „objet“, das sich in einer doppelten Erscheinungsweise präsentiert, und zwar gleichzeitig als real und imaginär: „Or justement c’est le propre de l’imagination de ne pas affirmer la présence réelle de son objet.“7 Ein Gegenstand – oder um das Paradebeispiel Sartres zu benutzen – der Freund Pierre, an den er denkt, ist gleichzeitig präsent und abwesend. „Ce qu’on appelle image est un acte dans lequel la conscience vise directement le même objet qui lui a été donné en perception. ‚Il n’y a qu’un seul et même Pierre, objet des perceptions et des images‘ et ‚l’image n’est qu’un nom pour une certaine façon qu’a la conscience de viser son objet‘ […].“8 Dieser 3

Ebd., S. 756-57.

4

Charles S. Peirce, siehe Burks: „Icon, Index, Symbol“.

5

Lacan (daraus: „Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse“, und „Symbole et langage comme structure et limite du champ psychanalytique“); zu Julia Kristeva siehe Werner: „Das befleckte Zeichen“.

6

Merleau-Ponty, S. 758.

7

Ebd., S. 760.

8

Das Zitat Sartres in ebd., S. 761.

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Doppelaspekt des Gegenstands, den das Bild fixiert, ist im Weiteren festzuhalten, ebenso die Grundbedeutung und die Funktion der Imagination als die Vergegenwärtigung im Bild des abwesenden Gegenstands oder einer Person unmittelbar. Das Bild, nach Sartre, ist die Vergegenwärtigung Pierres unmittelbar. In L’Imaginaire, der zweiten Schrift, die Sartre der Thematik des Bildes gewidmet hat, begegnet dessen Doppelcharakter wieder, aber diesmal in einer Weise, die dem Terminus neue Bedeutung hinzufügt: das Bild ist in der Beziehung zum Gegenstand „vergegenwärtigend“ aber auch „irréalisante“; zum Ausdruck gebracht wird damit, was im Begriff des „Imaginären“ erst nur angedeutet war. Das Bild setzt an die Stelle des realen Gegenstands, den es zwar noch „repräsentiert“, d.h. präsent macht, ein imaginäres „Analogon“9, das den realen Gegenstand nicht nur verdrängt, sondern irreal macht, ihn, was mitbedeutet wird, „ver-nichtet“ („anéantir“). Der Imagination wird also die Potenz zugeschrieben, das Reale, das sie erfasst, ins Nichts zu versetzen, es aufzuheben und an seine Stelle neues Sein zu setzen. Sartre notiert als „troisième caractéristique“ des Bewusstseins: „La conscience imageante pose son objet comme un néant. “ (23). Der Wahrnehmungsvorgang wird jetzt im Bewusstsein situiert, das gleichbedeutend wird mit seinen Funktionen: Imagination und Imaginäres, sowie mit den Gegenständen, die es in sich aufnimmt. Erinnert sei an die grundlegende Feststellung Sartres: „Toute conscinece est conscience de quelque chose“ (23), was u.a. besagt, dass das Bewusstsein ohne das Gegenständliche, das es konstituiert, leer ist. In einer neuen Nuance erscheint jetzt die Paradoxie, die dem Bild schon zu eigen war. „Si vive, si touchante, si forte que soit une image, elle donne son objet comme n’étant pas. Cela n’empêche pas que nous puissions réagir ensuite à cette image comme si son objet était présent, était en face de nous. “ (26). Das scheint offensichtlich ein Widerspruch, wenn es nicht so zu verstehen ist, dass das Objekt in der Wahrnehmung keine „Objektivation“ erfährt, sondern subjektiv angeeignet und benutzt wird für die partikularen Zwecke des Wahrnehmenden. Sartre: „Il s’ensuit nécessairement que l’objet en image n’est jamais rien de plus que la conscience qu’on en a.“ (27). Sartre beschreibt im Folgenden den Prozess, den wir als die Verbildlichung der Wahrnehmung in einem grammatikalischen und textlinguistischen Sinn verstehen und definieren können, etymologisch auch als „Ein-Bildung“ interpretierbar. Die Zwischenüberschrift Du signe à l’image (40) deutet den Übergang an von der Wahrnehmung des noch unbestimmten Objekts (der Gestalt oder Figur) in den Prozess der Verbildlichung sowie die Verlagerung des Erkennens von der Wahrnehmung auf die Ebene des Verstehens, d.h. auf 9

Sartre: L’Imaginaire, S. 34.

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die der Semiotik, was der Zwischentitel besagt. Das Objekt wird zum Zeichen, das auf dem Weg seiner Verbildlichung das Wissen des Subjekts erforderlich macht, das das Objekt in eine Skala der Begriffe einordnet, die von Sartre hier als „schèmes“ und „dessins schématiques“ bezeichnet werden. „Le savoir vise l’image, mais il n’est pas lui-même image: il vient se couler dans le schème et prendre forme d’intuition.“ (46). Die noch unbestimmbaren Konturen des Objekts werden als Gestalt erkannt und eine die Wahrnehmung lenkende Intuition formt sie zum Bild: „l’intuition de perspective devient imagée“ (47). Das Erkennen des Objekts als Gestalt und über die Gestalt als Bild ist ein dynamischer Vorgang, d.h. beruht auf der Bewegung von Linien, die der von einer Intention geleitete Blick mit dem Wissen des Subjekts zu einer erkennbaren Form verbindet und ihnen damit Bedeutung verleiht10. Der Blick verfolgt tastend oder versuchsweise die Linien in einer Richtung, in der sie sich zur Gestalt (figure) vergegenständlichen können. Der Übergang zum Bild ist schließlich der Moment, in dem das wahrgenommene Objekt in seiner Bedeutung fixiert wird, entsprechend der Intention des Subjekts, das dem Bild die Bedeutung des Wirklichen zuerkennt. An dieser Beschreibung ist zweierlei von Bedeutung. Zum einen, dass Sartre die Herausbildung der Figur oder der Gestalt als eine suchende Bewegung beschreibt, die offensichtlich auf eine passende Konstellation abzielt, um den Gegenstand in seiner Bedeutung zu vergegenwärtigen, eine suchende Bewegung darüber hinaus, die auf die Textkonstitution ausgedehnt werden kann, d.h. auf den Textaufbau im Zusammenspiel von Semantik und Syntax als die sich ständig fortsetzende Bewegung vom Satzgegenstand zur Satzaussage und von dieser weiter zu neuen Aussagen (i. S. der linguistischen Thema-RhemaTheorie). Darauf sei hier lediglich hingewiesen. Eine zweite Bemerkung bezieht sich auf den Status des Bilds, den Sartre zugleich als vergegenwärtigend und irrealisierend dargestellt und ausgewiesen hat. Das Bild ist irrealisierend, weil es den Gegenstand, auf den es sich bezieht, zwar vergegenwärtigt, ihn aber in eine imaginäre Dimension versetzt, in der er eine andere Bedeutung erhält. Bezüglich der daraus sich ergebenden Verschiedenheit der Erkenntnis sei insbesondere verwiesen auf Bachelards methodologische Differenzierung zwischen bildhafter Erkenntnis im Bereich des Imaginären und der begrifflichen Erkenntnis in den Wissenschaften11.

10 Ebd., S. 51: „Le savoir, en face des lignes, provoque des mouvements. Ces mouvements sont effectués pour savoir s’il ,en sortira‘ quelque chose. En même temps ils sont objectivés [vergegenständlicht] sous forme de ,directions hypothétique‘ sur la figure.“ 11 Bachelard: La formation de l’esprit scientifique.

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Der dritte Teil von L’Imaginaire stellt – unter der Überschrift Le rôle de l’image dans la vie psychique – die Erscheinungsweise des Imaginären als bilderzeugende Tätigkeit der Psyche des Subjekts vor, definiert als das „Symbolische“ oder die „fonction symbolique“ von Bild und Imagination (128)12. Die Zuordnung des Symbols zum Psychischen wird durch die Bemerkung unterstrichen, dass das Symbolische – „la pensée symbolique“ – als Bildelement „sous l’influence de la psychanalyse“ seine spezifische Bedeutung erlangt hat (128). Zu verstehen ist das zweifellos dahingehend, dass das Symbol in der Kette der Verbildlichung der Wahrnehmung auch Eingang gefunden hat in die psychoanalytische Semiotik und über sie in den Bereich der literarischen Hermeneutik, in Frankreich vor allem im Fahrwasser der Lacan-Schule13. In diese Richtung weist auch Sartres Feststellung, dass dieser Erscheinungsweise des Bildes ein Konflikt zugrunde liegt „entre ce qu’elle [l’image] est et ce qu’elle représente, entre las possibilités de développement qui lui viennent de l’idée qu’elle incarne et son dynamisme propre“. (154). Lassen sich diese Bemerkungen ohne weiteres in den schon skizzierten Verlauf der Verbildlichung der Wahrnehmung einordnen – ausgehend von der ebenfalls schon zitierten semiotischen Formel Objekt – Bild – Symbol14, so gewinnen sie für eine psychoanalytische Deutung der Bildproduktion des Subjekts eine besondere Relevanz, indem sie zwischen der Eigendynamik des Bilds aus einer Ausgangsposition und der dem Bild durch die Einbettung in den Satzverlauf aufgezwungenen oder vorgeschriebenen Bedeutung unterscheiden. Um ein Bild zu vergegenständlichen, d.h. hier eindeutig zu machen, muss die Vielfalt seiner Anschlussmöglichkeiten an die Objekte der Satzaussage getilgt werden: „Il y a donc dans la perception l’amorce d’une infinité d’images; mais celles-ci ne peuvent se constituer qu’au prix de l’anéantissement des consciences perceptives.“ (158). Der Vorgang der Vereindeutlichung der Bildbedeutung geht auf Kosten der Eliminierung der anderen möglichen Bedeutungen, was Sartre als die „Ver-Nichtung“ des Seins dieser Bedetungen interpretiert. Dieser Auffassung des Bildcharakters der Sprache werden wir in Sartres Charakterisierung des „théâtre de situations“ wieder begegnen; hinzugefügt sei hier lediglich noch, dass der Konflikt des Bildes in der Grammatik der Satzkonstruktion von

12 Sartre: L’Imaginaire, S. 128: „Il nous paraît [...] que l’image est symbolique par essence et dans sa structure même, qu’on ne saurait supprimer la fonction symbolique d’une image sans faire s’évanouir l’image elle-même.“ 13 Kristeva, Ricœur u.a. – Ricœur: De l’interprétation. 14 Bei Kristeva erscheint der von Peirce definierte Verlauf der Verbildlichung der Wahrnehmung von „Ikon“ – „Index“ – „Symbol“ modifiziert in der Form „das Reale“ (das Objekt) – „das Imaginäre“ (das Visuelle) – „das Symbolische“ (die sprachliche Festlegung).

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Theoretikern der Texttheorie im weiteren Sinn, wie M. Bachtin und JeanFrançois Lyotard, in einer gleichlaufenden Richtung behandelt worden ist15.

2.

Un théâtre de situations (1973)

Der Titel der Schrift, die Sartres Stellungnahmen zum zeitgenössischen Theater der 60er Jahre in einem Band vereint, proklamiert den Begriff der „situations“ als Antithese zum bürgerlichen Theater dieser Zeit. In seiner Anweisung an das zeitgenössische Theater bezieht sich Sartre auf die Dringlichkeit „de porter à la scène certaines situations qui éclairent les principaux aspects de la condition humaine et de faire participer le spectateur au libre choix que l’homme fait dans ces situations.“ (57 – Kursivierung v.Vf.). Im Mittelpunkt dieses Programms steht die gesellschaftliche Problematik, die in der jeweiligen Situation der handelnden Personen Aspekte der „condition humaine“ erkennbar macht und an die Handelnden die Forderung stellt, sich ihrer Freiheit zu bedienen, statt passiv in ihrer „Situation“ zu verharren. Mit diesem Anspruch an das Theater postuliert Sartre eine Freiheit, die er dem Film als Kommunikationsmedium nicht zugesteht; begründet wird das mit der Distanz auf dem Theater zwischen Zuschauer und Schauspiel, im Gegensatz zur Nähe im Film, die die Rezipienten passiv dem Geschehen ausliefert16. In beiden Fällen geht es um die Beziehung zu einer gesellschaftlichen „Situation“, in der auch die Sprache maßgeblich in den Handlungskontext einbezogen ist. Das ist zunächst zu analysieren.

Der Widerspruch zwischen Sprache und gesellschaftlicher Wirklichkeit In der Konfrontation des Nouveau Théâtre der frühen 60er Jahre (Genet, Adamov, Ionesco, Beckett) mit dem klassischen bürgerlichen Theater hebt Sartre hervor, dass im bürgerlichen Theater die Sprache, das Wort das vorherrschende Moment der Handlungsinszenierung gewesen ist, die Handlung als solche dominierte, so dass die menschlichen Schicksale als von der Sprache verhängt erscheinen mussten und „la conception du langage comme „figure masquée de notre destin“ (188). Diesen Vorrang der Sprache vor der Handlungsfreiheit des Subjekts beurteilt Sartre vor dem Hintergrund der Wende in der Philosophie – ab Nietzsche und insbesondere dann mit Heidegger – als die 15 Michael Bachtin, vgl. Ponzio: „From moral philosophy to philosophy of literature“; Lyotard: Le différend. 16 Sartre: „Théâtre et cinéma“, in: ders.: Un théâtre de situations.

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Entmachtung des Subjekts hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Kompetenzen, an deren Stelle als handlungsbestimmend die Sprachregelungen und Sprachspiele treten. Entsprechend haben wir es, so Sartre, auch im Theater nur noch zu tun mit der Sprache und der Rede (le langage et le discours), und zu fragen bleibt: „Cet objet est-il réel, ou imaginaire? Sommes-nous du côté de l’acte d’Artaud ou du mirage verbal de Genet?“ (189). Zwei Theaterformen werden hinsichtlich der Funktion der Sprache einander gegenübergestellt: das Theater Artauds, das das Wort zugunsten des Handelns (l’acte) in den Hintergrund drängt, und das Theater Genets, in dem die Redundanz der Sprache die Wortfülle des bürgerlichen Theaters als das Reden in Stereotypen entlarven soll. In beiden Fällen wird die Sprache hier entweder als eine entstellende oder als eine inflationäre Erscheinung gesehen und charakterisiert, als eine Kommunikationsform also, die nicht mehr den Sachverhalt der Situation zum Ausdruck bringt und in Widerspruch tritt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das aber hat Sartre schon früh als die Krise der Sprache gesehen und beschrieben17, einer Sprache, die nicht mehr in der Lage ist, die Erfahrungen des Subjekts darzustellen18 und als Medium der Literatur nicht mehr über die Fähigkeit verfügt, die Wirklichkeit angemessen abzubilden.

Der Status der Sprache und das Imaginäre Die hier angesprochenen Fragen behandelt Sartre eingehend in Mythe et réalité du théâtre (1966), wo er, wie schon erwähnt, am Beispiel der Autoren des Nouveau Théâtre und Artauds, das Verhältnis der Sprache zur gesellschaftlichen Wirklichkeit untersucht. Artauds Schrift Le théâtre et son double (1938) dient ihm dazu, die Frage des Realismus im Theater, d.h. der Realität der Wiedergabe des Zustands der Gesellschaft auf dem bürgerlichen Theater zu thematisieren; und Artauds Theater ist diesbezüglich der Versuch, diese Wirklichkeit nicht mehr über das Wort, sondern über die Handlung, das Agieren der Menschen auf der Bühne, abzubilden: „Le théâtre visera à être véritablement un acte“ (174) ist so zu verstehen, dass die Arbeit am Theater insgesamt Realität verbürgt und darauf zielt, dem „Ereignis“, der gesellschaftlichen „Situation“ so nahe wie möglich zu kommen; dennoch ist für den Zuschauer das, was gezeigt wird, etwas Imaginäres – „la pièce est un imaginaire“ – , denn „ce qui lui est présenté est un non-réel“ (175). Damit entstünde, so Sartre, eine „nouvelle contradiction entre l’acte et le geste, entre l’action et l’envoûtement imaginaire“

17 Siehe Knapp: „Sprache und Politik bei Sartre“. 18 Dazu Sartres Essay über Brice Parain, in: Sartre: Critiques littéraires. Situations I.

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des dem „acte“ beiwohnenden Publikums (176), was aber dann von den genannten Autoren verschieden genutzt werde. Ein Widerspruch im Sinne Sartres bleibt es aber, dass das Theater, das auf Wirklichkeit abzielt, dem Wesen nach ein „Imaginäres“ ist und bleibt: „le théâtre a pour valeur essentielle de représenter quelque chose qui n’existe pas.“ (177). Doch der Widerspruch hat etwas Beunruhigendes, das den Analytiker des Imaginären weiter beschäftigt, wenn er z.B. auf modernere Formen des Theaters zu sprechen kommt, wie das Happening und das Theater als Dokument (Beispiel der Prozess Oppenheimer). „[...] il y a un peu partout cette étrange volonté contradictoire de présenter au public une fiction qui soit réalité. Ceux qui vont à ces spectacles sont conscients de ce qui se passe.“ – „Disons en tout cas, que si c’est du théâtre, cette situation manifeste ce qu’on pourrait appeler aujourd’hui la crise de l’imaginaire au théâtre.“ (182). Und wenig später: „Ainsi, entre l’illusion théâtrale qui est absorbée ou mangée par l’action réelle […], comme dans le happening, et le réel qu’on représente comme dans le document, mais qui est mangé par l’illusion, nous voyons la crise de l’image.“ (183). Die Funktion des Nouveau Théâtre – das sich jenseits der bürgerlichen „Situation“ zu situieren beabsichtigt – charakterisiert die Abhandlung Théâtre épique et théâtre dramatique von 1960, die sich ausführlich auch mit Brechts epischem Theater beschäftigt und dessen Terminus episches Theater für die Bezeichnung der neuen Funktion des Theaters übernimmt. Im Gegensatz zum dramatischen Theater der bürgerlichen Kultur ist das Theater, für das Sartre plädiert, ein episches. Was heißt das aber und welches sind seine Merkmale? Das epische Theater kennzeichnet, dass es zeigen will (nicht darstellen wie im bürgerlichen Drama), dass es vergegenwärtigt und im Objekt, dass es zeigt, die Widersprüche aufdeckt, die ihm aus den Widersprüchen der Gesellschaft erwachsen19. Fraglich wird aber sogleich wieder, was die auf der Bühne vergegenwärtigten Personen sind. Sind sie – wie im Happening – die sich selbst darstellenden Menschen der vorgeführten Situation, also der Gegenstand in seiner Objektivation? Oder sind sie wieder nur Bilder? Und das Schauspiel: „Est-ce une image, est-ce un objet ?“ (112). Die so gestellte Frage ist entweder ein Paradox oder birgt ein Dilemma. Denn die im Bild vergegenwärtigten Personen sollen eigentlich die Wirklichkeit der Menschen repräsentieren, die sie darstellen; sie sind aber auch Rollen, die die Rollenexistenz der empirischen Personen spiegeln und enthüllen und damit zeigen sollen, dass die Menschen mit den ihnen auferlegten Bildern sozialisiert werden und leben müssen, was als pathologisches Phäno19 Brecht, so Sartre, „veut montrer les contradictions qu’il y a dans toute conduite et en même temps le système social qui engendre ces contradictions […].“ (Sartre: Un théâtre de situations, S. 105).

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men die psychoanalytische Semiotik und Praxis beschäftigt, wie wir schon bemerkten, und Sartre zu der spekulativen Frage veranlasst hat: „Pourquoi donc les hommes vivent-ils entourés de leurs images? Parce qu’après tout on pourrait très bien ne pas en avoir.“ (113). Die als spekulativ zu betrachtende Frage kann aber auch, wie die psychoanalytische Praxis zeigt, als Bestandteil einer Theorie der Selbsterkenntnis des Subjekts gesehen werden; als solche ist im Grund L’être et le néant einzuschätzen, wo Sartre den Prozeß der Selbsterkenntnis in der Beziehung zum Anderen und bedingt durch den Blick des Anderen verstanden und dargestellt hat20, was als Prozess der Verbildlichung verstanden werden kann und auf die Wahrnehmung zu übertragen ist, die das Subjekt mit seinem Spiegelbild konfrontiert, in einem dunklen Raum, in dem es die Gestalt im Spiegel erst allmählich als Bild von sich selbst identifiziert: „On vient à soi-même comme à un objet, puisqu’on vient à soi-même comme à un autre. Là c’est l’objectivité. A peine vous êtes-vous reconnu, vous n’êtes plus un objet.“ – „On ne peut pas se juger et, par conséquent, ce qu’il y a dans la glace, c’est encor moi, mais hors de ma portée, hors de mon expérience, hors de la réalité pour moi, […] ce n’est pas un objet, c’est une image.” (114). Und Sartre schließt: „Une image c’est un irréel qui vous appartient encore […]. mais qui est à distance de moi, comme un portrait.“ (116).

Die Funktion des Theaters und die Dimension des Imaginären Die an Paradoxie grenzende Charakterisierung der Erkenntnis des Subjekts, die bildhaft aber nicht objektiv dem Subjekt möglich sein soll, wird im Diskurs über das Theater wieder aufgenommen und findet dort eine Lösung, die den Widerspruch abmildert und ihn argumentativ schließlich zugunsten des Bildhaften entscheidet. Den Menschen ist in ihrer empirischen Existenz verwehrt, sich gegenseitig in ihrem wirklichen Sein – was Sartre offenbar als das objektive Sein versteht – zu erkennen und anzuerkennen, was sie dazu zwingt, sich mit Hilfe von Bildern zu identifizieren, d.h. in einer falschen Objektivität sich in ihrem gesellschaftlichen Sein zu bestimmen und festzulegen, in einer „objectivité“ der Anderen und „dans un monde complètement fermé [...] dont vous ne pourrez jamais sortir“ (116-7). Das ist die Welt von Sartres Huis clos, aus der zu entkommen immer wieder nur die Reproduktion derselben Verhältnisse als Lösung sich anbietet. Das epische Theater verfüge dagegen über die Mittel, um von der verhängnisvollen Identifizierung des bürgerlichen Publikums mit den dargestellten 20 Sartre: L’être et le néant, chapitre premier, IV. „Le regard“.

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Verhältnissen zu einer distanzierten Erkenntnis der zu verändernden Situation zu gelangen. Es geht zunächst darum, die Welt der Dinge als solche überhaupt wahrzunehmen und sie in ihrem elementaren materiellen Dasein zu erkennen, jenseits der bildlichen Bedeutung, die ihnen die Menschen in ihrem Weltverständnis zugeschrieben haben. Eine solche Wahrnehmung, so könnte man Sartre interpretieren, wäre als objektiv zu bezeichnen, den Dingen als Objekten angemessen, in einem Status des Erkennens, der als Objektivität zu betrachten wäre. Das entspräche auch dem Gegensatz von image und objet, den Sartre zugrunde legt, um damit zwei Erkenntnisweisen zu unterscheiden. Um diese Objektivität von Menschen und Dingen – im Medium des Theaters – zu illustrieren, wählt Sartre das Theater Artauds, das den Prozess der Wahrnehmung bewusst auf das Handeln beschränkt oder konzentriert, auf die action – von daher die Bezeichnung „théâtre d’action“ – und hier wieder auf die elementarsten Handlungsmomente, l’acte und le geste (118-19). Die folgenden Definitionen dieser Termini gehen zunächst von der Frage aus, welches „Bild“ vom Menschen das Theater vermittelt (118), und darauf folgt die Antwort: „l’image de l’action“, was ergänzt wird: „Il n’y a pas d’autre image au théâtre que l’image de l’action“ (119) und „au fond, le théâtre est geste“ (118); schließlich: „Et qu’est-ce que c’est que le geste? [...], c’est un acte, un mouvement, qui est destiné à montrer autre chose“ (118, Kursivierung v.Vf). In dieser Kette von Definitionen erscheint als letztes Moment der Verweis auf eine Bedeutung, die gleichsam als die Erkenntnis des Wesens des Dings zu verstehen ist, das aber unbenannt bleibt. Das aber ist in seiner Unbestimmtheit festzuhalten als die Intuition, die dem Publikum im théâtre d’action vorbehalten wird. Die Einschränkung der Wirkung des Theaters auf das Handeln und die Gesten bedingt und rechtfertigt, was Sartre in Mythe et réalité du théâtre ausgeführt hat: die Negation dreier Wesensbestimmungen des bürgerlichen Theaters: „le refus de la psychologie, le refus de l’intrigue, le refus de tout réalisme“ (190). Die Negation dieser Momente der bürgerlichen Innerlichkeit, die im Realismus der Darstellung ihre ideologische Rechtfertigung finden, kann auch als Strategie des Nouveau Théâtre gewertet werden, die ideologischen Spuren aus der bildhaften Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft zu tilgen und diese als bloßes Objekt vorzuführen. Das war jedenfalls die Intention des Brechtschen Theaters, das dafür die Distanz des erkennenden Publikums als notwendig erscheinen ließ. Hier aber setzt überraschender Weise die Kritik Sartres am epischen Theater an und an Brechts Begriff der „distanciation“, der Verfremdung. (147). In Übereinstimmung nach wie vor mit der Prämisse des epischen Theaters, die Widersprüche in den Personen und zwischen ihnen auf die Widersprüche der bürgerlichen, d.h. kapitalistischen Gesellschaft zurückzuführen

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(143/44), beginnt Sartre nach den subjektiven Beweggründen des Individuums zu fragen, die er offenbar einzubringen beabsichtigt in die Erkenntnis dessen, was er das „Objekt“ genannt hat und was den Menschen einbezieht. „[...] ce qu’il y a de neuf aujourd’hui dans le théâtre qui se forme en marge de la bourgeoisie [...], c’est que la contradiction maintenant, peut appartenir au personnage individuellement.“ (139). Damit wird aber unscharf die ursprüngliche Unterscheidung zwischen théâtre épique und théâtre dramatique, was Sartre auch selbst eingesteht (143/44) und was dazu führt, dass der Gegensatz zwischen „objet“ und „image“ erneut in den Vordergrund rückt mit der Frage, welcher Status dem Theaterstück als solchem zukommt: Faut-il que l’objet ainsi créé – qui est la pièce – soit représenté à titre d’objet ou à titre d’image devant les spectateurs? Je veux dire, faut-il réellement supprimer, sous prétexte que la bourgeoisie s’en servait comme d’une arme, la participation qui est, au contraire, l’essence profonde du théâtre […] ? (144, Kursivierung v.Vf.). Die [Wieder]Einbeziehung des Zuschauers in den Prozess der Erkenntnis, der vor ihm abläuft, scheint aber jetzt an eine Bedingung geknüpft, nämlich dass die Welt, in der sich die Erkenntnis vollzieht, nicht mehr die bürgerliche Gesellschaft ist: Quand on ne partage pas les fins d’un groupe social qu’on définit, on peut, en effet, créer une sorte de distanciation et, par conséquent, montrer les gens du dehors [...]; mais quand on est dans une société dont on partage les principes, ça devient beaucoup plus difficile [...]. Und dann folgt die Passage, in der das Verstehen in den Prozeß des Erkennens eingeführt wird: Nous avons affaire à ce moment-là à un autre théâtre, théâtre qui essaie de comprendre, et c’est précisément, à mon avis, la différence entre l’épique et le dramatique; dans le dramatique, on peut essayer de comprendre, mais dans l’épique, tel qu’on nous le présente actuellement, on explique ce qu’on ne comprend pas. (149, Kursivierung v.Vf.). Dieser Wendung in der Auffassung des epischen Theaters, das Sartre ja als ein théâtre d’action verstanden hat, entspricht die im Zitat getroffene Feststellung, dass die Handlung, die auf dem Theater nur gezeigt wird, Objekt bleibt, das, wie er aber einwendet, nicht verstanden wird, und dass das Theater, um ein Ereignis verständlich zu machen, es nicht mehr als Objekt darbieten darf, sondern als Bild, „à titre d’image“, wie es im Zitat heißt. Es ist nicht zu übersehen,

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dass Sartre hier offenbar auf ein Problem gestoßen ist, das ihn in seiner Einstellung zugunsten des epischen Theaters verunsichert hat und ihn zurückweichen lässt auf die ursprüngliche Position, dass „la pièce est un imaginaire“ und dass „le spectateur ne perd jamais de vue que, ce qui lui est présenté est un non-réel.“ (175). Ist dieser Widerspruch zwischen Objekt und Bild, zwischen objektiver und bildhafter Darstellung auf dem Theater aufzuheben? Dieser Frage soll im letzten Teil unserer Untersuchung nachgegangen werden.

3. Das Bild, das Imaginäre und die Handlungskompetenz des Subjekts Um auf die Probleme des Theaters und die dort aufgeworfenen Fragen eine Antwort zu finden, müssen wir auf Sartres philosophische Studie über L’Imaginaire von 1940 noch einmal zurückgreifen. Im dritten Teil der Abhandlung wird der Prozess der Wahrnehmung über das Bild zum Symbol beschrieben. Das Bild ist hier das Moment oder Element, in dem die noch unbestimmte Gestalt übergeht in einen erkennbaren Gegenstand und damit eine Bedeutung annimmt, die, wenn sie sozialisiert wird, als Symbol für etwas angesehen wird. „L’image [...] est une conscience qui vise à produire son objet: elle est donc constituée par une certaine façon de juger et de sentir […]“, was die Festlegung einer Bedeutung besagt im Sinne des Symbols; das Bild wird also Symbol, was Sartres Satz bestätigt: „la fonction de l’image est symbolique.“ (128), und diese Funktion besteht darin, dem Gegenstand eine Bedeutung zu geben. Aus der Verbildlichung der Wahrnehmung resultiert die Bedeutung des Gegenstands, die in der Kette der semiotischen Umwandlungen als Symbol angezeigt wird21. Schon hingewiesen haben wir auf den Konflikt, der mit der Einfügung des Bilds in den Satz entsteht (154), sobald nämlich die Sinnoffenheit des Bildes, seine Polysemie, in der Bindung an andere Wörter eingeschränkt wird in Richtung auf eine Eindeutigkeit der Aussage, womit ein Sinnverlust des Bildlichen einhergeht, der in anderen Kontexten sich aber neu entfalten kann. Dieser Reichtum der Anknüpfungsmöglichkeiten des Bildes ist womöglich auch der Grund, warum in Sartres Theorie das Bild als unentbehrlich für die Kennzeichnung des Objekts angesehen wird und mit ihm das Imaginäre, das den Gegenstand in eine Dimension versetzt, in der er für das Subjekt 21 Die Funktionsgleichheit von Bild und Symbol am Ende der semiotischen Kette bringt der folgende Satz noch einmal zum Ausdruck: „que l’image est symbolique par essence et dans sa structure même, qu’on ne saurait supprimer la fonction symbolique d’une image sans faire s’évanouir l’image elle-même.“ (Sartre: L’Imaginaire, S. 128). Um genau zu sein, müsste man eigentlich sagen, dass das Bild am Ende der Kette in die Funktion des Symbols übergeht.

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und in seiner Subjektivität erkennbar wird. In Sartres Theorie, die seiner Theaterkritik um Jahrzehnte vorausgeht, deutet sich schon an, was in der Debatte über das epische Theater als Problem der literarischen Darstellung konkret diskutiert und tendenziell zugunsten der Auffassung entschieden wird, dass das Theater ein Bild von seinem Gegenstand entwirft und vorführt und nicht den Gegenstand als solchen, der in seiner Funktion, wie es das epische Theater verstanden hat, zwar wahrgenommen, aber nicht, wie Sartre behauptet, verstanden werden kann. Das Verstehen des Gegenstands wird in die Dimension des Imaginären des beiwohnenden Publikums versetzt, was bedeutet, dass das Reale vom Imaginären aufgesaugt wird, wie Sartre selbst vom Dokumentationstheater gesagt hat „Dans le happening, c’est finalement le réel qui absorbe l’imaginaire. Dans le cas du document, la réalité se transforme en imaginaire: c’est l’imaginaire qui mange la réalité.“22. In Sartres Studie wird das Problem unter dem Titel La vie imaginaire im Zusammenhang auch mit psychisch und geistig Kranken und ihrer Beziehung zum Imaginären behandelt und als Motiv ihrer Flucht ins Imaginäre die Unerträglichkeit des Realen und das Bedürfnis nach Veränderung ihres Lebens festgestellt. Was Sartre hier zur Deutung des psychischen Phänomens der Krankheit äußert, könnte aus existentialistischer Sicht auf die Deutung oder Einschätzung der Existenz unter den von den Autoren angeprangerten Lebensbedingungen ausgedehnt werden und für sie gelten; „Préférer l’imaginaire ce n’est pas seulement préférer une richesse, une beauté, un luxe en image à la médiocrité présente malgré leur caractère irréel. C’est adopter aussi des sentiments et une conduite ‚imaginaire‘ [...]. On ne choisit pas seulement telle ou telle image, on choisit l’état imaginaire avec tout ce qu’il comporte, on ne fuit pas uniquement le contenu du réel (pauvreté, amour déçu, échec de nos entreprises, etc.), on fuit la forme même du réel, son caractère de présence […].“ (189). Von der Beschreibung der pathologischen Erscheinungsweise der Imagination geht die Studie Sartres schließlich über zu der Beziehung von conscience et imagination des Schlusskapitels. Die Identität beider, von Sartre als „conscience imageante“ definiert, erweist sich in der Funktion des Subjekts, sich als selbst bestimmendes Wesen seiner Freiheit zu bedienen. Die Imagination, so heißt es im folgenden Zitat, ist der Schlüssel zur Freiheit, „c’est la conscience tout entière en tant qu’elle réalise sa liberté“, und sie ist die Dimension des Imaginären im Realen, das dessen Überwindung möglich macht (236). Das Vermögen des Imaginären, über das Reale hinauszugehen, kommt der Negation der Verhältnisse gleich, die von als Sartre „néantisation“ definiert und beschrieben worden ist und die deren Rückversetzung ins Nichts bedeutet, aus dem sie ein22 Sartre, ebd., S. 182.

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mal ins Sein gebracht worden sind, in die Existenz als Verhältnisse in der Welt. Sartre versteht die „fonction néantisatrice propre à la conscience“ als einen „acte imageant“ oder „acte d’imagination“ (237). Als solcher könnte beschrieben werden und als Muster dienen, was in Mallarmés Igitur als der Abstieg des Subjekts in das Nichts des Bewusstseins dargestellt wird, woraus ein Funken entspringt, der die Dunkelheit erhellt. Wenn ich mich auf diesen Vergleich einlasse, dann weil er meines Erachtens illustriert, wie ein gesellschaftlicher Zustand in einem revolutionären Bewusstsein ins Nichts versetzt werden kann, aus dem eine neue Welt in der Vorstellung (Imagination) hervorgeht, die ihre Konturen im revolutionären Handeln erst entwickeln muss. In dieser Perspektive verstehe ich die Passage aus dem Schlusskapitel von L’Imaginaire, die ich deshalb etwas ausführlicher zitiere: Le glissement du monde au sein du néant et l’emergence de la réalité humaine dans ce même néant ne peut se faire que par la position de quelque chose qui est néant par rapport au monde et par rapport à quoi le monde est néant. Nous définissons par là, évidemment, la constitution de l’imaginaire. C’est l’apparition de l’imaginaire devant la conscience qui permet de saisir la néantisation du monde comme sa condition essentielle [celle de l’imaginaire] et comme sa structure première. […]. L’imaginaire est en chaque cas le „quelque chose“ concret vers quoi l’existant est dépassé. Lorsque l’imaginaire n’est pas posé en fait, le dépassement et la néantisation de l’existant sont enlisés dans l’existant, le dépassement et la liberté sont là mais ils ne se découvrent pas, l’homme est écrasé dans le monde, transpercé par le réel […]. (237). Wird hier der Vorgang der Nichtung, der Aufhebung der Existenzbedingungen überholter Verhältnisse beschrieben, so resümiert unser abschließendes Zitat die Hypothese Sartres, die das Imaginäre als Bedingung für die Wahrnehmung der Wirklichkeit und den Entwurf von Welt als grundlegend ausweist. Nous sommes à même, à présent, de comprendre le sens et la valeur de l’imaginaire. Tout imaginaire paraît „sur fond de monde“, mais réciproquement toute appréhension du réel comme monde implique un dépassement caché vers l’imaginaire. Toute conscience imageante maintient le monde comme fond néantisé de l’imaginaire et réciproquement toute conscience du monde appelle et motive une conscience imageante comme saisie du sens particulier de la situation. (238) Wenn Sartres Schriften zum Theater in unserer Untersuchung eine relativ große Bedeutung eingeräumt worden ist, so deshalb, weil das Medium des

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Theaters – neben dem des Films und der Malerei – sich schon auf die verbildlichte Darstellung menschlicher Verhältnisse stützt und damit das Problem ins Zentrum einer Mediendebatte rückt, welche Funktion dem Bild bei der Vergegenwärtigung von Ereignissen und ihrer dadurch vermittelten Erkenntnis zukommt. Die Frage, ob das Bild oder das Objekt für die Darstellung der Wirklichkeit auf dem Theater grundlegender sei, hat Sartre zugunsten einer Tendenz entschieden, der Vermittlung über das Bild eine größere Bedeutung beizumessen als der Wahrnehmung, die sich aus der Handlung unmittelbar ergibt. Die hier zugrunde liegende Auffassung des Wirklichen, das sich erst über die bildliche Wahrnehmung erschließt, ist zweifellos herzuleiten aus der philosophischen Prämisse von L’être et le néant, dass das Wirkliche eine Funktion des Imaginären ist und aus dem Nichts erst zum Sein gebracht werden muss. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Dimension des Imaginären als eine virtuelle Dimension des Seins beständig in Widerstreit gerät mit der materiellen Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Literaturverzeichnis Bachelard, Gaston: La formation de l’esprit scientifique. Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective, Paris 1938. Burks, A.W.: „Icon, Index, Symbol“, in: Philosophy and Phenomenological Research, 1949, S. 673-689. Knapp, Lothar: „Sprache und Politik bei Sartre“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 97, 1995, S. 134-145. Lacan, Jacques: Ėcrits I, Paris 1966. Lyotard, Jean-François: Le différend, Paris 1983. Merleau-Ponty, Maurice: Journal de psychologie normale et pathologique, Bd. 33, Nr. 9-10, 1936. Ponzio, Augusto: „From moral philosophy to philosophy of literature: directions in Mikhail Bakhtin’s research from 1919-1929“, in: Symbolon, Nr. 1-2, 1996/97. Ricœur, Paul: De l’interprétation, essai sur Freud, Paris 1965. Sartre, Jean-Paul: „Critiques littéraires, Situations I“. Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant, Paris 1943. Sartre, Jean-Paul: L’Imaginaire. Psychologie phénoménologique de l’imagination, Paris 1940.

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Lothar Knapp | Das Bild und das Imaginäre

Sartre, Jean-Paul: Un théâtre de situations. Textes choisis et présentés par Michel Contat et Michel Rybalka, Paris 1973. Sartres, Jean-Paul: L’Imagination, in: Nouvelle Encyclopédie philosophique, Paris 1936. Werner, R.: „,Das befleckte Zeichen‘. Überlegungen zur ,Significance‘-Theorie Julia Kristevas“, in: Lange-Seidel, A. (Hrsg.): Zeichenkonstitution, Berlin 1981.

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Gerhard Wild

„Some of these days, you’ll miss me honey“. Überlegungen zur Medialität subjekthafter Schöpfung beim frühen Sartre Für C.S.E. La photographie uniquement utilisée à la reproduction des dessins ou de bas-relief me semble dans son vrai rôle, pour l’art qu’elle seconde et qu’elle aide, sans égarer. Imaginez les musées reproduits ainsi. L’esprit se refuse à calculer l’importance que prendrait soudain la peinture ainsi placée sur le terrain de la puissance littéraire (puissance de multiplication) et de sa sécurité nouvelle assurée dans le temps. (Odilon Redon, 1876)

1.

Ich denke, also bin ich

„Play it, Sam. Play As time goes by!“ In der zentralen Sequenz von Michael Curtiz’ Casablanca (1942) bittet die Protagonistin Ilsa den Barpianisten Sam, für sie den Song As time goes by zu spielen. Wenig später soll der zwielichtige Kneipenbesitzer Rick von Sam den gleichen Song einfordern, der in der einzigen filmischen Rückblende des Streifens zum Inzitationsmoment wird. Die für das Verständnis der Protagonisten Ilsa und Rick unerlässliche nachgeholte Vorgeschichte wird in einer neunminütigen Rückblende als durch den Song in Gang gebrachter Erinnerungsvorgang plausibel, den filmtechnisch das akustischmentale Glissement vom desolaten Marokko ins heitere Paris hervorbringt: Der Song begleitete einst jene romantische Affäre zwischen Ilsa und Rick, die mit dem Einmarsch der Nazis so jäh endete. Anders als in postromantischer Tradition, wo live gesungene und am Klavier begleitete Musik in der ästhetischen Nachfolge Hoffmanns, Wagners und Baudelaires zum Aphrodisiakum des gesellschaftlichen Ausstiegs avancierte, dem sich eine ganze Generation von Intellektuellen hingab, agiert in Curtiz’ Widerstandsepos Musik als Erinnerungsmedium einer Vergangenheit, die sich im weiteren Verlauf von Casablanca als uneinholbar erweist, weil alle in Casablanca gestrandeten Opfer des Hitlerregimes gegen ihre Partikularvergangenheiten nur eine – ungewisse – Zukunft denken: „Uns bleibt Paris.“

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Wenn Ilsa an einer früheren Stelle bemerkt, keiner könne As time goes by so spielen wie Sam, wird mehr noch der Pianist als sein Klavier zum Medium, das eigentlich erst die Erinnerung in Bewegung setzen kann. Letztlich setzt das mediale Arrangement dieser Sequenz bereits auf eine Komplizenschaft von Rezipient und Medium, die zwar unabhängig von Ort und Zeit der Reproduktion, aber offenbar nur durch die Allianz eines spezifischen Mediums (Sam) und seiner darauf eingespielten Nutzer (Ilsa, Rick) subjektiv konstruierte Intensitätsmomente hervorbringen kann. Eine vergleichbare mediale Konstellation wird ein Jahrzehnt später Alejo Carpentier in seinen Roman Los pasos perdidos (1953) ersinnen, wenn er seinen namenlosen Protagonisten im venezolanischen Dschungel mit der aus einem Transistorradio erklingenden 9. Sinfonie Beethovens „konfrontiert“1, die zum thème générateur der Diskussion über die Valenz von Kunst als Medium der abendländischen Ethik wird. Im Folgenden soll anhand einer Reihe von Sequenzen aus Sartres Frühwerk La nausée untersucht werden, inwiefern diese im sartreschen Sinne existenz-stiftend werden können. Zu fragen ist, wie mediale Mächtigkeit den Hörenden in die Rolle eines Subjekts im präcartesianischen Sinne verweist, welches sich seiner dem ästhetischen Objekt untergeordneten Rolle bewusst wird und im medialen Speicher eine neue Chance der Transzendenz des Subjekts begreift, die der Nichtigkeit des Seienden ein Werk – und sei es nur dessen Projekt – entgegenstellt. Anders als den Helden von Los pasos perdidos oder Casablanca dient in Sartres Roman nicht das spontane Hörerlebnis einer egozentrischen Selbstvergewisserung des leidenden Subjekts, sondern die medienbegründete Relektüre ermöglicht eine allmähliche Distanzierung von der Kategorie der ästhetischen Unmittelbarkeit, wodurch das wahrnehmende Ich in einer neuen subjektdezentrierenden Imaginationstätigkeit aufgeht.

2.

Ich höre, also bin ich

Jean-Paul Sartre hat in seinem frühesten Roman La nausée eine Sequenz gestaltet, die dadurch im gesamten Ablauf des Romans besondere Aufmerksamkeit verdient, dass auf sie an verschiedenen Stellen des Werkes in veränderter Form Bezug genommen wird. Anders als im Falle der eingangs beschriebenen Episode aus Casablanca, handelt es sich in La nausée nicht mehr um die Unmittelbarkeit der Klangerfahrung, wie sie noch in Prousts A la recherche du temps in den verschiedenen Reperkussionen der „petite phrase“ als einer Art Summe musikalischer Rezeptionserfahrungen am Ende des 19. Jahrhunderts behauptet wurde. An die Stelle der von den Romantikern behaupteten „Irreme1

Vgl. Hierzu Vf.: Paraphrasen der Alten Welt.

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dialität“ der konkreten Schwingung eines Musikinstruments – und der ausgehend vom nachidealistischen Subjektbegriff der Romantikergeneration emphatisierten Einmaligkeit des so generierten Schallereignisses2 – tritt bei Sartre ein Grammophon, und dieses reproduziert nicht Bach, Mozart oder Wagner, sondern einen Ragtime aus dem Jahre 1910: Madeleine, jouez-moi un air, au phono, vous serez gentille. Celui qui me plaît, vous savez. Some of these days.“ […] Madeleine tourne la manivelle du phonographe. Pourvu qu’elle ne soit pas trompée, qu’elle n’ait pas mis, comme l’autre jour, le grand air de Cavalleria Rusticana. Mais non, c’est bien ça, je reconnais l’air des les premières mesures. C’est un vieux rag-time avec refrain chanté. Je l’ai entendu siffler en 1917 par les soldats américains dans les rues de La Rochelle. Il doit dater d’avant-guerre. Mais l’enregistrement est beaucoup plus récent. Tout de même c’est le plus vieux disque de la collection, un disque Pathé pour aiguille à saphir.3 Durchaus zeitgemäß rezipiert Roquentin in Sartres Werk Jazz4, dem musikästhetisch keineswegs Konservative wie T. W. Adorno den Kunststatus absprachen.5 Nicht minder zeitgemäß – und damit völlig a-romantisch – erfolgt die Rezeption über ein mechanisches Speichermedium, das nicht nur nach Ansicht medienästhetisch Konservativer eigentlich untauglich sei, klangliche Wirklichkeit weiterzugeben: Walter Benjamin hat dem Phänomen einen immer noch Widerspruch hervorrufenden Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“6 gewidmet, der – 1936 verfasst – im postromantischen Fahrwasser über Kategorien wie „Hier und Jetzt des Kunstwerks“, „Echtheit“ und „Authentizität“ als unveräußerliches Merkmal eines dadurch nur sich selbst identischen Schönen die Kategorie der „Aura“7 postuliert, die auf eine seit Kant postulierte, und spätestens von Mallarmé praktizierte „reine Kunst“8 abziele. 2

Vgl. hierzu Vf.: „Entgrenzung durch Reduktion: Hugos Préface de Cromwell, Liszt und das Klavier als Medium romantischer Entgrenzung“, S. 325-336.

3

Sartre: La nausée, S. 37f. [Alle Zitate nach der Ausgabe Sartre, Jean-Paul: La nausée, Paris: Folio 805, 1976.]

4

Vgl. hierzu Newmark: „Danser le jazz. De La Nausée à L’Invitée“, S. 72-80.

5

Vgl. hierzu Adornos leitmotivisch wiederholten Invektiven gegen den Jazz in Kulturindustrie, „Über Jazz“ (in: Moments musicaux), sowie in der Philosophie der Neuen Musik.

6

In: Benjamin: Illuminationen, S. 136-169.

7

Ebd., S. 141 u. pass.

8

Ebd., S. 144.

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Beherzigenswerter als Benjamins nicht immer nachvollziehbare Medienkritik9, die gewissermaßen „unter der Hand“ die Bedingungen musikalischer Reproduktion mit Lithographie, Photographie und Film gleichsetzt, ist die Einsicht, dass „die Art und Weise, in der menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – […] nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt“10 sei. Wie nun, wenn in mehrmaliger Rezeption diese geschichtliche Bedingtheit dergestalt mitreflektiert würde, dass in der Wiederholbarkeit durch die Reproduktion die Geschichtlichkeit des erfassenden Subjekts fassbar wird? Das hörende Subjekt träte dann dem Reproduktionsmedium mit der Erfahrung seiner selbst als eines Objekts gegenüber, das gemessen an der Gleichheit der musikalischen Repräsentation sich seiner selbst im Verhältnis zu einer Objekt-Welt bewusst würde, die aus der Medialität des Hörbaren hervorginge. Ältere musikalische Rezeptionstheorien, wie gerade diejenige des romantischen „mit geschlossenen Augen Hörens“ feiern emphatisch ein Subjekt, das im Hörvorgang in ein anderes Kontinuum eintritt, um sich selbst identisch bleiben zu können: „La musique souvent me prend comme une mer“11, formulierte Baudelaire, den Dichter als ein die menschlichen Gefühlswogen durchziehendes Schiff denkend. Identität als Eigenschaft des Subjekts wäre dann im philosophiegeschichtlichen Sinne über musikalische Perzeption auf zweierlei Weisen erschließbar: Im cartesianischen Sinne handelte das Subjekt als der Träger der „cogitationes“ (analog der noch von Baudelaire formulierten Eigenschaft), das sich selbst im Hörvorgang gleich zu bleiben hofft, – eine Auffassung, der sich Sartres Roquentin an mehreren Stellen widersetzt12; oder aber im vormodernen – und letztlich postmodernen – Sinne unter Zurücknahme Descartes’. Bewusstsein wäre dann stets Bewusstsein von etwas13: Da ein solches Subjekt stets nur Subjekt in Bezug auf ein Objekt sei, es kann sich – anders als bei Descartes – nicht selbst setzen, bedarf also des Objekts, das – sei es auch so volatil wie das aus dem Grammophon ertönenden Supplement von Musik – erst recht existenz-stiftend wirkt. Die Auseinandersetzung mit einem objectum kann nur über die Setzung des Anderen erfolgen. Das Objekt ist dann im umgekehrten 9

Hierzu Vf.: „aisthesis, techné und memoria: Baudelaires Peintre de la vie moderne und Prousts Recherche als Medienanthropologie“, S. 105-118.

10 Ebd., S. 141. 11 Baudelaire: „La musique“ (V.1), in: Les Fleurs du Mal. 12 Vgl. Caws: „The Subject in Sartre and Elsewhere“, S. 141-151; Wood: „A Revisionary Account of the Apotheosis and Demise of the Philosophy of the Subject.”, S. 165-195. 13 Sartre: L’être et le néant, S. 18.

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Sinne wiederum Voraussetzung für das soi, in welchem sich die je spezifische Bezogenheit zwischen subjectum und objectum vollzieht. Da es als Erfahrungssubjekt die Negation aller anderen Erfahrungssubjekte ist, wäre Erfahrung zwar intersubjektiv kommunikabel, nie aber identisch. Die Erfahrung des eigenen Objekt-seins bewirkt laut Sartre bekanntlich eine Frustration über das „Unterworfensein“, das dem Begriff subjectum der klassischen Philosophie (das aristotelische υποκείµηνον) inhärent ist. Generiert sich mithin das cartesianische Ich emphatisch im „cogito“ aus sich selbst heraus, so scheint bereits der frühe Sartre – und dies nicht erst in L’être et le néant – diese modernitätsbegründende Setzung zu diskreditieren: Quand j’avais vingt ans, je me soûlais et, ensuite j’expliquais que j’étais un type dans le genre de Descartes. Je sentais très bien que je me gonflais d’héroisme, je me laissais aller, ça me plaisait.14 Die traditionelle cartesianische Subjektemphase, die mit dem Egotisme des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt feiert, betrauert Sartre bereits in dem an den Anfang von La nausée gestellten Céline-Zitat: „un garçon sans importance collective, c’est tout juste un individu“15. Und Roquentin selbst erkennt sich als ein äußeren Setzungen unterworfenes Wesen („Je dois reconnaître que je suis sujet.“)16, das sich als Erfahrungssubjekt nicht aus sich selbst heraus setzen kann: „Ce qu’il y a, c’est que je pense très rarement.“17 Im Umkehrschluss lässt sich, ausgehend von Descartes’ Begründung des Subjekts über das Denken, das Sein eines nicht an externe primäre Erfahrung18 gebundenen Subjekts bereits in La nausée relativieren: Schließlich durchzieht Roquentins Aufzeichnungen leitmotivisch die lediglich behauptete, letztlich nicht aus sich selbst ableitbare Setzung „j’existe“, mit der das erkenntnistheoretische Grundproblem auf die vorcartesianische Ontologie zurückgeworfen wird; d.h. auf die seit Aristoteles nie erfolgreich bestrittene Setzung, dass dem Subjekt an sich keine Wesenheit innewohne: „substantia enim in subjecto non est“.19 Mit der von Roquentin bereits zu Beginn seines Berichts infragegestellten Wesenhaftigkeit des Subjekts ruft Sartre indes die Frage nach der Erzeugung 14 Sartre: La nausée, S. 85. 15 Ebd., S. 7. 16 Ebd., S. 16. 17 Ebd., S. 15. 18 Wie sie Sartre wenige Jahre später in L’être et le néant anhand des Erfahrungssubjekts postuliert. 19 Boethius: Kommentar zur Kategorienlehre des Aristoteles, zit. n. Migne: „Patrologiae latinae cursus completus“, S. 182.

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der „accidentia“ auf, der nicht wesenhaften, erst durch die wahrnehmenden Sinne dem Subjekt eingeschriebenen Eigenschaften: Der Musik käme so subjektbegründende, im Moment medialer Reproduzierbarkeit gar subjekterhaltende Kraft zu. Gegenüber dem von Roquentin als „héroisme“ belächelten cartesianischen Hegemonialanspruch des neuzeitlichen Subjekts erweist sich also die Konstruktion des Ich in La nausée als radikale Reduktionsform, die sich ihres Subjektstatus’ erst über Akzidentien vergewissern kann, deren lebensweltliche Abkunft ihrerseits teils unhinterfragbar bliebe. Hier bürgte der Begriff des Speichermediums – und dies ist der zentrale Gedanke der folgenden Überlegungen - für einen Vertrauensrest in Wahrnehmungen, die ansonsten dem trügerischen Schillern der Wirklichkeit „unter-worfen“ sind. Nicht umsonst hat Sartre für das ontologische Problem seines Protagonisten Roquentin eine Form gewählt, die den Begriff des Mediums bereits in zweierlei Hinsicht ins Relief setzt. Zum einen erscheint in La nausée der Protagonist als Textproduzent und insofern als „Subjekt“, als seine Äußerungen von der ersten Seite an Effekte einer mehrfach gestaffelten Mediatisierung sind, da das Tagebuch Roquentins nicht nur als solches Denken über Sprache in Schriftlichkeit transformiert, sondern dieses Substrat seinerseits einer Herausgeberschaft („les éditeurs“) unterworfen ist. Hätte ein abgebrühter Leser wie Jean-Paul Sartre das seit der Antike gängige Verfahren der fingierten Herausgeberschaft als Authentifizierungsstrategem20 verwendet, so müsste man ihm letztlich Ironie oder Naivität unterstellen. Insofern ist es angebracht, die so erzeugte Textschale, in der ein sich in seinen Äußerungen zersetzendes Aussagesubjekt aufgehoben wird, von vornherein unter dem Blickwinkel einer den Tagebuchtext und seinen fiktiven Verfasser in seiner Subjekthaftigkeit fokussierenden Instanz zu definieren. Diese Hypothese wird durch die – allerdings nur am Anfang des Textes sparsam gesetzten – relativierenden Anmerkungen der „éditeurs“ gestützt. Zum anderen bezieht sich Sartre mit der Romankonstruktion des „Journal intime“ und mehr noch durch die Konstitution seines Helden als eines notorischen Lesers und Autors auf jenen v.a. finisäkuläre Erzähltyp zurück, den F. Wolfzettel als „deambulatorischen Roman“ bezeichnet hat. Sartres La nausée erscheint hier gewissermaßen als nachavantgardistische Fortschreibung, vermehrt um die „betonte Progressivierung von Ekel und Entfremdung“21. Diesem Romantyp inhärent ist die mannigfaltige fingierte Einlagerung extratex20 Vgl. hierzu Vf.: „Manuscripts Found in a Bottle. Zum Fiktionalitätsstatus (post)arthurischer Schwellentexte“, S. 198-230. 21 Vgl. Wolfzettel: „Der ,deambulatorische‘ Roman. Überlegungen zu einer spezifischen Modernität des Romans im Fin de Siècle“, S. 429-488.

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tueller Medien aus Literatur, Kunst, Musik und Architektur, die letztlich der kaum noch sprachlich zu leistenden Definition eines Subjekts dienen. Insofern ist der deambulatorische Roman das sprachliche Medium eines spätcartesianischen Subjekts, das das klassische „cogito“ durch medialisierte Modi des Sehens, Hören, Riechens, Schmeckens (seltener des Tastens) kompensiert. McLuhans These, dass ein Medium stets ein Medium eines Mediums (usw.) sei22, lässt sich an La nausée ebenso prägnant darstellen wie an den Hauptwerken des deambulatorischen Romans: Es sei in diesem Zusammenhang nur am Rande auf die Kongruenzen zumal zwischen den Hauptwerken Bourgets und v.a. Huysmans verwiesen: Selbst Roquentins zentrales Projekt, die Biographie des dubiosen M. de Rollebon zu verfassen, scheint in Huysmans Là-bas durch Durtals Projekt der Studie über Gilles de Rais vorgebildet. Entscheidender ist indes, dass der Fin de Siècle-Roman wie auch La nausée damit McLuhans These der Genese der Medien gleichsam aus einem anderen Medium durchspielt. Das Subjekt versucht sich letztlich in einer Art progressivem Überschreibevorgang seiner selbst zu vergewissern. M. de Rollebon était mon associé: il avait besoin de moi pour être. Moi, je fournissais la matière brute, cette matière, dont j’avais à revendre, dont je ne savais que faire: l’existence, mon existence. Lui, de sa partie, c’était emparé de ma vie pour me représenter la sienne. Je ne m’apercevais plus que j’existais, je n’existais plus en moi, mais en lui; […]je ne voyais plus ma main qui traçait les lettres sur le papier, ni même la phrase que j’avais écrite – mais, derrière, au-delà du papier, je voyais le marquis, qui avait reclamé ce geste, dont ce geste prolongeait, consolidait l’existence. Je n’était qu’un moyen de le faire vivre, il était ma raison d’être, il m’avait délivré de moi[…].23 Es zeigt sich hier, dass das Subjekt insofern gegen das cartesianische Konzept der Selbstsetzung im Denkvorgang medial definiert ist. War dem vorcartesianischen Konzept des Subjekts per se die Frage nach Selbstständigkeit oder Unselbstständigkeit24 einbeschrieben, so unterliegt in Sartres Lesart der Subjektbegriff einer Dialektik, die zugleich das Subjekt selbst dynamisiert: Es bedarf zu seiner Selbstvergewisserung des Mediums eines Anderen, das es als Subjekt wahrnehmen kann („je n’existais plus en moi, mais en lui“); dieses Andere wiederum existiert nur in der Vergegenwärtigung des subjektiven Wahrnehmungsakts, dessen Gewissheit Roquentin beständig wegbricht: „Mes drôles

22 Marshall McLuhan: „Die magischen Kanäle. ,Understanding Media“‘, S. 18. 23 Sartre: La nausée, S. 140; (Kursivierung G.W.) 24 So in Aristoteles’ Kategorienlehre.

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de sentiments d’autre semaine me semblent bien ridicules aujourd’hui: je n’y entre plus.“25 Im Zuge des Unzugänglichwerdens primärer Erfahrungen kommt Medien wie dem Photo und der Schrift – aber auch dem Grammophon – gerade im späteren Verlauf von Roquentins Enquete eine immer zentralere Rolle zu. An den pointiert eingearbeiteten Episoden der „petite Lucienne“ wird die existenzbegründende Macht der Speichermedien exemplifiziert. Denn Roquentin erfährt aus Zeitungsnotizen von dem einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallene kleine Mädchen. Und nur so bewahrt es über seinen physischen Tod hinaus Präsenz als Medium jenseits der verloschenen Existenz als Subjekt: „la petite Lucienne a été violée. Étranglée. Son corps existe encore, sa chair meurtrie. Elle n’existe plus. Ses mains. Elle n’existe plus. […]“26 Subjekt-Existenz bedarf einer Form der Speicherung im Medium, das seinerseits aber der bislang emphatisch über den Denkvorgang postulierten Selbständigkeit des Subjekts massiv erodiert. Das Medium wird für Roquentin so das Indiz von gewesener Existenz, ein Surrogat des uneinholbaren Subjekts. Evident wird diese Form medialer Bekräftigung, als das Grammophon Gershwins The Man I Love herunterleiert: „When the low moon begins to beam / Every night I dream a little dream.“ La voix grave et rauque, apparaît brusquement et le monde s’évanouit, le monde des existences. Une femme de chair a eu cette voix, elle a chanté devant un disque, dans sa plus belle toilette et l’on enregistrait sa voix. La femme: bah! Elle existait comme moi, comme Rollebon, je n’ai pas envie de la connaître. Mais il y a ça. On ne peut pas dire que cela existe. Le disque qui tourne existe, l’air frappé par la voix, qui vibre, existe. La voix qui impressiona le disque exista. Moi qui écoute, j’existe.27 Auffälligerweise begründet Sartre diese Existenz des Subjekts neu über die Stiftung einer medial aufgehobenen Welt. Medien bilden zwar diese Welt nicht ab, bürgen aber durch die Modalität der Wiederholbarkeit von Welt für die fragwürdige Substanz des Subjekts. Soweit nun bei Lektüren von Sartres La nausée die musikalischen Sequenzen ins Zentrum der Interpretation rückten, wurden diese vorzugsweise unter dem Aspekt einer Sinn, womöglich Glück stiftenden Perspektive betrachtet.

25 Sartre: La nausée, S. 12f. 26 Ebd., S. 144. 27 Ebd., S. 146f.

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Diese Perspektive perpetuiert28 letztlich das von Prousts À la recherche du temps perdu überkommene traditionelle Ideal der „Heiligen Tonkunst“ und schreibt damit die ältere Auffassung fort, wonach das Subjekt im Hörvorgang sich selbst stets in erster Linie durch das Werk, nicht aber durch die Besonderheit der medialen Präsentation konstituiert. Unzureichend behandelt wurde dagegen die Frage, dass womöglich die Reflexion über die mediale Bedingtheit der Repräsentation erst subjektbegründende Wirkung entfalte, insofern sie als reflektierendes Bewusstsein „Bewusstsein von etwas“ sei, das die Dialektik des „être-objet“ jenseits des ästhetischen Werkbegriffs in der Dualität von Medium und Nutzer spiegelt: Sartres Wahl des Ragtime Some of these days bekäme über das Moment der „Zeitgemäßheit“ hinaus vor allem Sinn durch seine kultursemiotische Sinnlosigkeit, durch die Eigenschaft des Stücks, in den 1920er und 1930er Jahren frei von dem denotativen Überhang zu sein, den etwa Beethovens „Neunte“ (noch bei Carpentier) oder As time goes by (1942 nur für Ilsa und Rick, seit Woody Allens Play it again, Sam für alle Cineasten) produziert: Wollte man Sartres Musikauswahl solche sozialen Konnotate unterstellen, so erlangten diese bestenfalls Schlüssigkeit über die Refrains der Songs selbst, die dann auf eben jenes sartresianische Konstrukt abzielten, das subjektives Bewusstsein nur über das Objekt eines Anderen („You’ll miss me, honey“; „The Man I Love“) zu setzen vermag. In dem eingangs beschriebenen Beispiel aus Curtiz’ Casablanca leistete der Verbund aus Musik und Medium lediglich einen subjektbezogenen Transfer zwischen einem als problematisch empfundenen Jetzt und einem ideal gedachten Einst, wobei das hörende Subjekt über die Klang-Brücke einer vergegenwärtigten Vergangenheit mit seiner Gegenwart in unterschiedlichem Maße versöhnt wird. Wenn auch in La nausée das Wiederhören eines Musikwerks diese erinnerungsfördernde Funktion – hier: das Erlebnis der Ankunft der Amerikaner 1917 in La Rochelle – entfaltet, so ließe sich dies ebenso mit der aus dem

28 In diesem Sinne hat sich m.E. erstmals Biermann: „Der Schein der Versöhnung: Zur Bedeutung der Musik bei Proust, Sartre und Jorge Guillén“, S. 410-429, geäußert; daran anknüpfend: Pautrot: „La Musique oubliée: La Nausée, L'Ecume des jours, A la recherche du temps perdu, Moderato Cantabile“; Benhaïm: „A Liquid of Apocalypse, S. 22-30, und zuletzt Noudelmann: „Quatre fausses notes sur la musique pure“, S. 9-17; stärker das Verhältnis von Musikstruktur und literarischer Werkstruktur reflektierend vgl. Carroll: „,It Is‘: Reflections on the Role of Music in Sartre’s ,La Nausée‘“, S. 398-407, und Pautrot: „Robbe-Grillet, Sartre, Duras: Mer, musique, écriture“, S. 274-282; vgl. ferner: Vanbaelen: „Anny, Syrinx de Roquentin: Musique et érotique dans La Nausée de Jean-Paul Sartre“, S. 397-408. Die hier versammelten Erkenntnisse sollen keineswegs relativiert, sondern aus medienontologischer Warte ergänzt werden.

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19. Jahrhundert überkommenen romantischen Rezeptionsästhetik verrechnen wie die sich daran anschließenden Reflexionen Roquentins: Tout à l’heure le refrain: c’est lui surtout que j’aime et la manière abrupte dont il se jette en avant, comme une falaise contre la mer. Pour l’instant, c’est le jazz qui joue; il n’y a pas de mélodie, juste des notes une myriade de petites secousses. Elles ne connaissent pas de repos, une ordre inflexible les fait naître et les détruit, sans leur laisser jamais le loisir de se reprendre, d’exister pour soi. Elles courent, elles se pressent, elles me frappent au passage d’un coup sec et s’anéantissent. J’aimerais bien les retenir, mais je sais que, si j’arrivais à en arrêter une, il ne resterait plus entre mes doigts qu’un son canaille et languissant. Il faut que j’accepte leur mort; cette mort, je dois même la vouloir; je connais peu d’impressions plus âpres ni plus fortes.29 Die Deutungsweisen, die vor allem auf die seit Platon letztlich unbeantwortete Frage nach dem Wesen der Musik als Gestalt gewordener Zeitlichkeit rekurrieren, fügen der Musik bei aller individuellen Tiefe nichts hinzu: Musik als Musik betrachtet wäre dann nichts anderes als eine weitere Metapher für Roquentins präsupponierte Nichtigkeit alles Seienden. Auch die beruhigende Wirkung, die insbesondere das erste Anhören des Ragtime auf den vom taedium vitae ergriffenen Roquentin ausübt, scheint nicht die Pointe der Episode zu sein, lässt sich doch zumal diese glückstiftende Funktion der Musik – wiederum über die romantische Musikauffassung – in die musikphilosophische Rumpelkammer der platonischen Ästhetik zurückverfolgen: Ça n’est encore rien d’extraordinaire, c’est un petit bonheur de Nausée: il s’étale au fond de la flaque visqueuse, au fond de notre temps – le temps des bretelles mauves et des banquettes défoncées – il est fait d’instants larges et mous, qui s’agrandissent par les bords en tache d’huile. Il ya un autre bonheur: au-dehors, il y a cette bande d’acier, l’étroite durée de la musique, qui traverse notre temps de part en part, et le déchire de ses sèches petites pointes; il y a un autre temps. […] la musique perce ses formes vagues et passe au travers. A peine assise, la petite fille est saisie.30 Roquentin wäre dann als Jazzhörer im Jahre 1932 in einem französischen Provinzcafé ein ferner Abkömmling jener zahlreichen Melomanen à la Hanno

29 Sartre, La nausée, S. 38. [Kursivierung J.-P. S.] 30 Ebd., S. 38f.

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Buddenbrook, Roderick Usher, Charles Swanns oder Jean des Esseintes, die ihre seelische Leiden im sanften Klangbad lindern. Auffällig ist nun, dass Sartre in den Episoden, in denen er auf das Hörerlebnis rekurriert, in wesentlichen Punkten über diesen konventionalistischen – musikpsychologischen – Ansatz hinausweist, insofern er diesen zwar mitreflektiert, das Wechselspiel von Repräsentation und Rezeption jedoch aufgrund der medialen Gegebenheiten neu vermisst. Vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert war der Interpret als Medium der Musik zugleich ein Produkt seiner Selbstinszenierung, woraus sich die – auch im zeitgenössischen Konzertwesen noch abgebildete wirkungsästhetisch stabile Konstellation ,Interpret – Werk – Konzertbesucher‘ ergab; das Konzerterlebnis ist – zahlreiche Berichte belegen dies – eine säkularisierte Variante des Besuchs der Heiligen Messe und als solcher der rituelle Nachvollzug eines in jeder Situation einmaligen Mysteriums. Demgegenüber verschiebt Sartre in markanter Weise die Perzeptionssituation durch das Abspielen des Grammophons. Zum einen wird die Rezeption des Stücks durch die Caféhaussituation in gewisser Weise erschwert – Sartre trägt dem Rechnung, indem er an mehreren Stellen die Störungen durch den Caféhausbetrieb einbezieht. Das so entstandene Klangkonglomerat ist als fingierte Geräuschkulisse dem Soundtrack eines Tonfilms bereits merklich näher als den älteren Typen literarisierter Musikdarbietung von Hoffmanns Ritter Gluck bis zur Aufführungen der VinteuilSonate bei Proust. Anders ausgedrückt ist das parareligiöse Erleben heiliger Tonkunst in dieser Situation offenbar bewusst durch eine mediale Situation konterkariert, die auf eine konkrete soziale Situation abzielt: Zurückbezogen auf unsere Hypothese der Säkularisierung religiöser Kommunikationsformen im Konzertbetrieb möchte man bei den Sequenzen in La nausée an eine absichtsvolle Auszehrung des älteren Perzeptionsmodus denken: Der Ikonoklasmus Sartres zielt insofern auf dieses Moment der ästhetischen Epiphanie ab, die spätestens seit Nietzsches Geburt der Tragödie (1871) zum Klischee geronnen ist. An die Stelle des rituellen Nachvollzugs in der Kunst tritt deren industrielle Reproduktion und das mit „geschlossenen Augen Hören“ supplementiert die uneinholbare ästhetische Vielfalt einer diffusen Rezeptionssituation. Damit tritt der Hörer freilich in die vom bürgerlichen Konzertbetrieb abweichende Rezeptionskonstellation ,Werk – Medium – Nutzer‘ ein. Mit der Reproduzierbarkeit korrespondiert eine Form der Repetierbarkeit, die weit über das künstlerische Ideal der Wiederholbarkeit des Schönen – der junge Liszt soll Monate lang chromatische Terztonleitern geübt haben! – hinausgeht. Was in La nausée abläuft, ist wenigstens hinsichtlich der Darbietung die identische Reproduktion eines sich selbst identischen Werks unter immer divergierenden ambientalen Umständen.

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Daher spielt das Werk und dessen Lektüre durch den Protagonisten auch nur noch eine bedingte Rolle, während durch die neu gewonnene Chance der identischen Wiedergabe durch ein Speichermedium das Moment der Geschichtlichkeit der aisthesis selbst thematisiert wird. Wesentlich für unsere Fragestellung nach dem Zusammenhang von Subjekt und Medialität ist insofern, dass Sartre von vornherein neben den Werkcharakter die medialen Rahmenbedingungen stellt, und diese deutlicher als das Werk selbst reflektiert werden, womit in die Biographie des hörenden Subjekts Roquentin Benjamins These der geschichtlichen Bedingtheit medialer Erfahrung zum Tragen käme. Es fällt nämlich auf, dass der Modus einer subjektivistischen Wahrnehmung in dem Maße abgebaut wird, indem das Moment des identischen Wiedergabe an Raum gewinnt. Der Prozess lässt sich in Sartres Roman an verschiedenen Stellen nachvollziehen. Zunächst ist die erste in Roquentins Tagebuch beschriebene Aufführung des Ragtime keineswegs die erste; vielmehr lässt er sich das Stück, das er in dieser Version schon kennt, von Madeleine zum wiederholten Male („Celui qui me plaît, vous savez“) vorspielen. Das – in anderen Musikepisoden der Literatur selbstverständliche – Moment der primären Erfahrung, geknüpft an die Erinnerungen eines Subjekts, wird durch die ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eingetretene Musik nivelliert. Denn in dem selben Maße, in welchem Rezeption zur Repetition eines Selben durch ein sich selbst in veränderter Situation nicht gleiches Subjekt ist, wird der Werkcharakter gegenüber einer vom erkennenden Subjekt reflektierten Medialität gedämpft. Wie in kaum einem Roman des frühen Medienzeitalters finden sich daher in La nausée Überlegungen zur konkreten medialen Situation, die die ältere idealistische Frage nach dem Status der Musik als Zeitkunst neu formulieren: Quelques secondes encore et la Négresse va chanter. Ça semble inévitable, si forte est la nécessité de cette musique; rien ne peut l’interrompre, rien qui vienne de ce temps où le monde est affalé; elle cessera d’elle-même, par ordre. Si j’aime cette belle voix, c’est surtout pour ça: ce n’est ni pour son ampleur ni pour sa tristesse, c’est qu’elle est l’événement que tant de notes ont préparé, de si loin, en mourant pour qu’il naisse. Et pourtant je suis inquiet; il faudrait si peu de chose que le disque s’arrête: qu’un ressort se brise, que le cousin Adolphe ait un caprice. Comme il est étrange, comme il est émouvant que cette dureté soit si fragile. Rien ne peut l’interrompre et tout peut la briser. Le dernier accord s’est anéanti. Dans le bref silence qui suit, je sens fortement que ça y est, que quelque chose est arrivé. Silence.

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Some of these days You’ll miss me honey.31 Auffällig ist, dass der von Medienkritikern stets angeführte Unterschied von realer Schwingung und medial erzeugter Schwingung nicht thematisiert oder problematisiert wird. Im Gegenteil erzeugt im hörenden Subjekt das Abspielen der Grammophonplatte eine ähnliche Unmittelbarkeit, wie man sie dem realen Konzert unterstellen möchte: „Elle [sc. la musique] emplissait la salle de sa transparence métallique, en écrasant contre les murs notre temps misérable. Je suis dans la musique.“32 Doch anders als der Repräsentation im realen Konzert haftet der „technischen Reproduktion“ eine Mechanik an, deren Fatalismus („nécessité“) nur durch die Schwächen der Technik selbst zu unterbinden wäre („il faudrait si peu de chose que le disque s’arrête: qu’un ressort se brise“). Aber selbst die Reproduzierbarkeit ist eine bedingte, denn das Kernproblem aller Musik, zwar Zeit zu ordnen, ihr aber als organisierte Dauer untergeordnet zu sein, kann nicht durch die Wiederholung des Identischen gelöst werden. So beschreibt Roquentin an mehreren Stellen den Ablauf einer Aufführung („Quelques secondes encore et la Négresse va chanter. Ça semble inévitable, si forte est la nécessité de cette musique“), nicht verhindert wird dadurch aber deren Ende: „Comme il est étrange, comme il est émouvant que cette dureté soit si fragile.“ Stärker als die Fragilität des medialen Speichers selbst wird damit die Zeitlichkeit zum Thema: et jamais je ne pouvais revenir en arrière, pas plus qu’un disque ne peut tourner à rebours. Et tout çela me menait où? A cette minute-ci, à cette banquette, dans cette bulle de clarté toute bourdonnante de musique. And when you leave me. […] je suis ici, je vis dans une même seconde que ces joueurs de manille, j’écoute une Négresse qui chante tandis qu’au-dehors rôde la faible nuit. Le disque s’est arrêté.33 Das Medium der Schallspeicherung und Reproduktion wird in den Rang einer Metapher der Uneinholbarkeit erhoben. Ihr entspricht auf Werkebene die Konstruktion des fingierten Journals, das mit seinen mehr oder weniger präzisen Zeitangaben (teils noch korrigiert durch die „éditeurs“) das in der musikalisch-medialen Metaphorik virulente Moment des Irreversiblen („qu’un disque

31 Ebd., S. 39. 32 Ebd., S. 40. 33 Ebd., S. 41.

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ne peut tourner à rebours“)abbildet. Konsequenterweise begreift Roquentins Rezeptionsprozess das Altern des Mediums selbst: On a dû rayer le disque à cet endroit-là, parce ça fait un drôle de bruit. Et il a quelque chose qui serre le coeur: c’est que la mélodie n’est absolument pas touchée par ce petit toussotement de l’aguille sur le disque. […] le disque se raye et s’use, la chanteuse est peut-être morte; […] Mais derrière l’existant qui tombe d’un présent à l’autre, sans passé, sans avenir, derrière ces sons qui, de jour en jour, se décomposent, s’écaillent et glissent vers la mort, la mélodie reste la même, jeune et ferme, comme un témoin sans pitié.34 Wie das Beispiel der „petite Lucienne“ bereits verdeutlichte, kann die Vergangenheit nicht als willentlicher Akt des Subjekts, sondern nur über Gedächtnismedien eingeholt werden.

3.

Ich träume, also bin ich

Doch erweist sich, wie das gescheiterte Projekt der historischen Rekonstruktion des M. de Rollebon exemplifiziert, dass die Annäherung nicht über das Medium allein erfolgen kann. Wie schon angedeutet, ist Sartres Grammophonepisoden inhärent, dass im Gegensatz zu der identischen Wiedergabe des Ragtime das wahrnehmende Subjekt Roquentin sich selbst keineswegs identisch bleibt. Roquentin erfährt über das wiederholbare Medium einer unveränderlichen Reproduktion die Geschichtlichkeit seiner selbst als Abhängigkeit vom Objekt der Wiedergabe. Die Geschichte eines im Hören sich setzenden Subjekts spiegeln die Grammophonepisoden in La nausée als eine Bewegung, die dieses Subjekt gegenüber dem im Medium niedergelegten unveränderlichen Objekt der Kunst vollzieht. Deutlich wird dies vor allem in der letzten Grammophonsequenz („Juste une fois, avant que je ne parte“35). In ihr phantasiert sich Roquentin in die Entstehungssituation des Ragtime Some of these days: Je pense à un Américain rasé, aux épais sourcils noirs, qui étouffe de chaleur, au vingtième étage d’un immeuble de New York. Au-dessus de New York le ciel brûle, le bleu du ciel, s’est enflammé, d’énormes flammes jaunes viennent lécher les toits; les gamins de Brooklyn vont se mettre, en caleçons de bain, sous les lances d’arrosage. La chambre obscure au vingtième, au vingtième étage, cuit à gros feu. L’Américain 34 Sartre: La nausée, S. 244. 35 Ebd., S. 245.

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aux sourcils noirs soupire, halète et la sueur roule sur ses joues. Il est assis, en bras de chemise, devant son piano; il a un goût de fumée dans la bouche et, vaguement, un fantôme d’air dans la tête. „Some of these days“. Tom va venir dans une heure avec sa gourde plate sur la fesse; alors ils s’affoleront tous deux dans les fauteuils de cuir et ils boiront de grandes rasades d’alcool et le feu du ciel viendra flamber leurs gorges, ils sentiront le poids d’un immense sommeil torride. Mais d’abord il faut noter cet air. „Some of these days“. La main moite saisit le crayon sur le piano. „Some of these days, you’ll miss me honey.“36 Man mag an dieser Stelle einwenden, dass Roquentin die Genese eines amerikanischen Schlagers aus allen nur erdenklichen Klischees amerikanischer Musik konstruiert und damit der (filmischen und journalistischen) Medialität des Mythos Amerika erliegt. Wesentlich ist indes, wie Sartres Protagonist die Geistesaktivität gegenüber seinem Rollebon-Projekt rechtfertigt. Nicht Authentizität vermag das Medium – gleich welches – hervorzubringen: „Mon erreur, c’était de vouloir ressusciter M. de Rollebon.“37 Vielmehr ist es das imaginative Potential des Kunstwerks, das im Medium bewahrt wird und das, einmal abrufbar, zur Zelle künstlerischer Produktivität werden kann: Un autre éspece de livre. Je ne sais pas très bien la quelle – mais il faudrait qu’on devine, derrière les mots imprimés, derrière les pages, quelque chose qui n’existerait pas, qui serait au-dessus de l’existence. Une histoire, par exemple, comme il ne peut en arriver, une aventure.38 Nicht nur im Sinne von McLuhans mediengeschichtlichem Ansatz enthält die Grammophonplatte also ein Medium, den Song als Ausdruck gelebter Existenz. Auch in produktionsästhetischer Hinsicht erzeugt die Aufnahme ein neues Medium, das Buch, das aus Roquentins Rêverie über die Genese des Songs bereits hervorgegangen ist. Auch insofern erweist sich Sartres La nausée als Abkömmling des deambulatorischen Fin de Siècle-Romans, wenn aus der phantasierenden Überschreibung des Ragtime der Nukleus eines noch zu schreibenden Romans hervorgeht. Er weist aber wie diese durch den reflektierten Umgang mit der Frage der Medialität menschlicher Erfahrung weit voraus. Das Werk über ein anderes Werk verschiebt den jedem schöpferischen „Werk“ inhärenten Werkstatus und weist dem überschriebenen Werk einen 36 Ebd., S. 245. 37 Ebd., S. 247. 38 Ebd.

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Zustand unterhalb seiner realen Existenz – als Subjekt im vormodernen Sinn – zu. Zumal nachavantgardistische Literatur – etwa Thomas Manns Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans – belegt, wie selbst das im Werk medialisierte neuzeitliche Subjekt im Objektcharakter seiner bloßen Referenz aufgehen kann. Die philosophiegeschichtliche Pointe solcher Überschreibeaktivität bestünde dann in der Löschung des die ästhetische Präsenz erzwingenden Werkcharakters zugunsten eines subjekthafte Geschichtlichkeit rekapitulierenden Objekts. Die Mächtigkeit des Mediums selbst als Nukleus ästhetischer Imagination und poetischer Kreativität erführe so eine – vielleicht durch Sartre noch allzu einseitig emphatisierte Rolle als Werkzeug jener Selbstvergewisserung, die auch in Descartes’ „cogito“ ruhte. Wie Sartres kreativer Vertrauensrest in eine die poiesis begründende Mächtigkeit der Erinnerungsmedien in der Tat werkstiftend werden kann, belegen letztlich nicht erst Hauptwerke der postmodernen US-Literatur wie Doctorows Ragtime oder Oscar Hijuelos’ The Mambos Kings: 1945 erschien, verfasst von der farbigen Interpretin Sophie Tucker, die erstmals 1911 Shelton Brooks’ Some of these days auf einem Edisonzylinder aufgezeichnet hatte, die Autobiographie der Sängerin, in der wir Roquentins „Négresse“ vermuten dürfen. So mag man es in diesem besonderen Fall einer Ironie der Mediengeschichte zuschreiben, dass der „Medienroman“ Some of these days doch nicht von Sartres Roquentin verfasst wurde.

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Scarlett Winter

Sehen auf Reisen. Sartres Italienfragmente La reine d’Albemarle ou le

dernier touriste 1.

Reisegeschichten des Sehens

In seinen literatur- und kunstästhetischen Reflexionen schreibt Michel Butor: „j’ai toujours éprouvé l’intense communication qu’il y a entre mes voyages et mon écriture, je voyage [...] parce que pour moi voyager, c’est écrire (et d’abord parce que c’est lire) et qu’écrire c’est voyager.“1 Weist der von Butor angeführte Zusammenschluss von Schreiben, Lesen und Reisen zum einen auf das Faszinationsmuster der Reiseliteratur als literarisches Grenzgenre der Literaturund Kulturgeschichte, signalisiert er zum anderen die dem Komplex des Schreibens und Reisens inhärenten Strukturen der Ästhetik, der Reflexion und Medialität. Im Wechsel von einem Ort zum anderen eröffnen sich dem Reisenden Perspektiven auf andere, alternative Welten. Fremde Städte und Landschaften, Architekturen und Kunstwerke erschließen neue Wahrnehmungs- und Imaginationsräume, inspirieren gleichsam neue Lesarten und Werkstätten des Schreibens und Denkens. Der Reisende sieht, er beobachtet und dechiffriert. Im Wechselspiel zwischen neuen und alten, erinnerten und erdachten Bildern und Schriften, beginnt er die Welt (als Text) um sich herum neu zu lesen, sie umzuschreiben und einzubilden. Die Begegnung mit dem ‚Anderen‘ lockt neue Abenteuer des Sehens und Empfindens hervor. Dabei wird der Blick auf das Fremde ebenso geschärft wie der Blick auf das eigene Ich im Spiegel des ,Anderen‘. Betrachtet man das Reisen unter den Prämissen der Schaulust und den Spielräumen ihrer ästhetischen écriture und lecture, wird die Entwicklung des Reiseberichts, wie Friedrich Wolfzettel analysiert hat, als eine „Geschichte des Sehens und der damit verbundenen ästhetischen Reflexion“ durchschaubar2: von den römischen Reisen Rabelais’ oder Montaignes über die Reiseberichte 1

Butor: „Le voyage et écriture“, S. 9.

2

Wolfzettel: Ce désir de vagabondage cosmopolite, S. 5; vgl. auch ders.: Reiseberichte und mythische Struktur. Siehe hier auch die Untersuchung von CorbineauHoffmann: Paradoxie der Fiktion, die dem Phänomen der Reiseberichte unter den Prämissen einer „Schule der Schau“ auf der Spur ist, die sich als eine metadiskursive Art der Betrachtung versteht.

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Stendhals, Flauberts, Chateaubriands oder Prousts bis hin zu Reisebüchern und Reiseskizzen von Artaud oder Breton, von Camus, Sartre, Toussaint oder Houellebecq. Die Reiseschriften fördern eine je eigene Ästhetik des Blicks zutage, die sich aus wirklichen und imaginären Reiseerfahrungen, eigenen und fremden Reisephantasien und Lektüren speist. In der Reiseliteratur des 19. und vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts entstehen zum Teil überraschend experimentelle Reisediskurse, literarische Momentaufnahmen interkulturell und intermedial reflektierter Wahrnehmung als schaulustige, sinnliche, aber auch kritisch-ironische Seh- und Leseanleitungen des Reisens. Unter diesem Blickwinkel widmen sich die folgenden Ausführungen dem, von der Sartreforschung und auch von der Reisetextforschung bislang kaum beachteten, Text Jean-Paul Sartres La reine d’Albemarle ou le dernier touriste3 − ein Text, der literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen aufwirft, gleichwohl wahrnehmungs- und medienästhetische Fokussierungen setzt. Lesen sich die Italienskizzen Sartres zum einen als eine kritische Analyse moderner Seherfahrung, genauer als kritische Reflexion des touristischen Sehens, erscheinen sie zugleich als offener, hybrider Textentwurf zwischen Roman, Tagebuch, Reisebericht, Traum und Essay. Die kategoriale Bestimmung der Reiseliteratur als „dokumentarisch-literarisches Genre“4 erscheint hierbei zunehmend fragwürdig und löst sich auf in einem Netzwerk aus visionären Reisebildern, literarischen, poetischen und szenischen Schreibweisen, existenzphilosophischen Denkfiguren, kulturkritischen und wahrnehmungsästhetischen Reflexionen. Sartres Vorliebe für Italien ist bekannt.5 Erste Italienreisen unternimmt er in den 1930er Jahren zusammen mit Simone de Beauvoir und verbringt seit 1946 fast jedes Jahr einige Wochen in Rom. Neben kulturellen und politischen Interessen pflegt er eine Reihe freundschaftlicher Kontakte zu italienischen Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern, u.a. zu Carlo Levi, Renato Guttoso, Leonardo Sciascia und Alberto Moravia. Nach Beendigung seines literarischen Porträts über Jean Genet reist Sartre im September 1951 und im Frühjahr 1952 in Begleitung von Michelle Vian nach Italien – in seinem Kopf hegt er die Idee, eine umfassende Monographie über das Land zu verfassen.6

3

Sartre: La reine d’Albemarle ou le dernier touriste. La reine d’Albemarle ou le dernier touriste seien folgende hervorgehoben: Laurent, „Nausée de Venise“, S. 323 oder Tamassia, „Au-déla de l’exotisme“, S. 174-179.

4

Röseberg: Kulturwissenschaft Frankreich, S. 120.

5

Siehe hier auch die Ausführungen von Cohen-Solal: Sartre, S. 495-500.

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Sartre wird dieses Projekt nicht realisieren, nicht zuletzt dadurch, dass er von den aktuellen politischen Geschehnissen eingeholt wird. Die Verhaftung des kommunistischen Abgeordneten Jacques Duclos im Mai 1952 fordert Sartres politische

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Schreibt Sartre zunächst verstreut Notizen auf lose Zettel, füllt er schließlich die Seiten eines Heftes, auf dessen Einband er vermerkt: La regina Albemarle o l’ultimo turisto7. Unter diesem Titel werden (erst 40 Jahre später) die Fragmente der Reiseskizzen aus dem Nachlass erscheinen:8 kleine Notizen, datierte und undatierte Entwürfe und Tagebuchaufzeichnungen als Momentaufnahmen namhafter Schauplätze: Neapel, Capri, Rom und Venedig. Die Fragmentform des Textes korrespondiert mit der Beschreibung einzelner Beobachtungen und Begebenheiten, die sprunghaft aneinander gesetzt sind, einzig geordnet durch die Fixierung der genannten Reisestationen vom Süden in den Norden Italiens. La reine d’Albemarle erzählt nicht die Geschichte einer Reise, sondern sammelt Eindrücke und Reflexionen unter den Vorzeichen einer ästhetischen Schau und Reflexion. Kleinere und größere Abschnitte sind durch Überschriften gerahmt und bieten dem Leser verschiedene Blickwinkel auf einzelne Bildeinstellungen und Szenen, Erlebnisse, Stimmungen und Reflexionen. Hierbei entspricht die Ästhetik des Fragments der Zerstreutheit und Flüchtigkeit des Blicks, ja der Bewegung des Auges, das nur selten das Bild als Sinnganzes erfasst, sondern immer nur Ausschnitte und Details wahrnimmt und diese mit eigenen Bildern und ästhetischen Eindrücken verwebt. Der Blick des Flaneurs, der durch die Gassen und Straßen Roms oder Venedigs spaziert, folgt dem Lauf des Canal Grande, gräbt sich in Mauerspalten ein, beobachtet Plätze und Passanten, fängt einzelne Gesten und Blicke auf. Es ist der Blick des Touristen Sartre, so schreibt Elkaïm-Sartre, „un Sartre à distance de lui-même, de son moi d’écrivain tel qu’il se construit et tel que l’on attend“.9 La reine d’Albemarle erlaubt in diesem Sinne, so möchte ich darlegen, die Perspektive auf Sartre als auteur, dessen literarische und dramatische, auch filmische Texte nicht allein existentialistische Theoreme, abstrakte Philosopheme oder politische Haltungen veranschaulichen, sondern auch und sehr eindrücklich eine experimentelle, sinnlich und visuell strukturierte, medienüberschreitende Schreibästhetik erproben. Im distanzierten Blick des Fremden überrascht der reisende Autor mit neuen Perspektiven der Schau- und Sinneslust, der ironisch-parodistischen Selbst- und der Fremdbeobachtung und einer Aufmerksamkeit und publizistisches Engagement. In einer Auseinandersetzung mit den Positionen der Kommunistischen Partei schreibt er den politischen Essay Les communistes et la paix, in: Situations VI, S. 80-384. 7

Italienisch korrekt hier: turista.

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Zwei dieser Abschnitte erscheinen bereits in den 50er Jahren: „Un parterre de capucines“, in: France-Observateur 115 (24. Juli 1952), aufgenommen in: Situations IV, Paris 1964 und „Venise de ma fenêtre“, in: Verve 27-28 (1953), ebenfalls aufgenommen in: Situations IV.

9

Sartre: La reine d’Albemarle, S. 14.

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ästhetischen écriture, die die Grenzzonen zwischen Existenz und Imagination, phänomenologischer und ekstatischer Wahrnehmung spielerisch auslotet. Der voyageur entpuppt sich als voyeur,10 als ein heimlicher, unheimlicher Beobachter, der im (An)Blick des Touristen zugleich sich selbst aufschreckt: „Touriste, mon frère“.11 Es ist der Ich-Erzähler des Textes, le dernier touriste, der − hier im ironischen Rekurs auf Baudelaire − die trügerischen Fallen des touristischen Sehens aufspürt, sich doch bisweilen in ihnen selbst verfängt. So eröffnet sich ein mehrdeutiges, heikles Doppelgängerspiel zwischen dem letzten Touristen und dem Objekt seiner Schau: dem beobachteten anderen Touristen. Mag die Spezifizierung Le dernier hier auf das Ende einer langen Kette von Touristen und Literaten weisen, in die sich der Ich-Erzähler einschreibt, kommt mit ihr gleichwohl eine zweifelhafte Distanzierung oder Überhöhung des Ich zum Ausdruck, das sich dem klischeebesetzten üblichen Touristen entgegensetzt. Das Ich sucht den Blick des Touristen zu durchkreuzen, indem es ihn zum Objekt seines Sehens macht und als lächerliche Figur karikiert. Schreibt Sartre sich einerseits in die Tradition der Reiseliteratur ein, zielt er andererseits darauf, den Mythos des Tourismus und des Exotismus zu demontieren bzw. im Diskurs eines Antitourismus („anti-tourisme“12) zu überwinden. La reine d’Albemarle ironisiert die Blickweisen des Touristen und entlarvt die Klischees seiner stereotypen Sichtweisen im dialektischen Spiel von Sehen und Gesehenwerden. Dabei geraten fixierte Sehordnungen und Rollenzuschreibungen zunehmend ins Wanken und befreien den Blick auf eine Kulturgeschichte als Mytheninszenierung, auf eine Welt der Rollen, Illusionen und Inkonstanzen. So hebt ein ästhetischen Spiel der Doppelungen und Blickverschiebungen an, das bereits der enigmatische Titel des Buches ankündigt: La reine d’Albemarle ou le dernier touriste. Ist hier zum einen das Bild der reisenden Königin d’Albemarle evoziert (la reine comme touriste), lockt die geheimnisvolle reine d’Albemarle den letzten Touristen und damit auch den Leser auf die Fährten einer fernen Märchen- und Mythenreise (la reine comme illusion): „Le Touriste fait des 10 Auf die Affinität von voyageur und voyeur hat insbesondere Robbe-Grillet: Le voyageur, S. 7-10 aufmerksam gemacht und dabei die dialektischen Spiegelprozesse unserer Wahrnehmung und Einbildung hervorgehoben: „Le paysage blême que je crois contempler, en tout innocence, ne peut ainsi que me rendre la vérité de mon propre visage. C’est lui dès lors qui me regarde, et il me trouve étrange, pâle, fantomatique.“ 11 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 49; vgl. hier auch die Kommentierung von Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion, S. 501: „Diese Baudelaire-Reminiszenz [...] weist das andere, Fremde, als das vergessene Eigene aus, das vermeintlich Ferne als das in Wirklichkeit Nahe.“ 12 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 122.

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tours et détours en quête d’un passé hors de portée, devenu mythe, troubadour épris d’une lointaine princesse.“13 Der verrätselte Titel, der eine Fülle von literarischen und mythologischen Assoziationen und Einbildungen wachruft, entlarvt sich letztendlich als persönliche Mythologie, als Parodie seiner selbst bzw. als Parodie romantischer Phantastik und Mystifikation.14

2.

Metamorphosen des Sehens

Sartre experimentiert in La reine d’Albemarle mit den Spielformen der voyeuristischen Schaulust, des Imaginären und der Einbildung und knüpft damit an seine phänomenologische Analyse des Sehens in L’Etre et le néant und L’imaginaire15 an ebenso wie an die imaginären Potentiale des Sehens in La nausée oder Le mur16, aber auch an bestimmte Motive und Verfahren des surrealistischen Kinos und der surrealistischen Kunst. Eine erste Schlüsselszene des Sehens beschreibt Sartre in Rom unter der Überschrift: Visite à Carlo Levi. Hierbei steht nicht der Besuch des Freundes selbst und eine Debatte politischer Standpunkte im Mittelpunkt, sondern die Schilderung einer phantastischen Irrfahrt im Palazzo Altieri.17 Der Erzähler 13 Ebd., S. 14f. 14 Abgesehen davon, dass es sich bei La reine d’Albemarle durchaus um eine reine Erfindung Sartres handeln mag, stellen sich beim Leser eine Reihe von Assoziationen und Spekulationen ein. Etymologisch verweist der Name Albemarle u.a. auf lat. Alba Longa/Albanus (Stadt südöstlich von Rom) und albatus (weißgekleidet), it. alba (Morgendämmerung) und mare (Meer); erinnert La reine d’Albemarle zum einen an Venedig als „Reine de l’Adriatique“ (so in einem Gedicht von André Salmon), finden sich zum anderen Anklänge an literarische Namen und Figuren, deren Lektüre Sartre als Kind beeindruckt haben mögen: so z.B. Mademoiselle d’Alguesarde aus Le vent dans les arbres von Edmond Jaloux (s. hier die Anmerkungen von Elkaïm Sartre, S. 12) oder „la reine des îles de Galapagos“ aus The Encantadas von Melville (s. hier Noudelmann/Philippe: Dictionnaire Sartre, S. 425). 15 Sartre: L’Etre et le néant ; ders.: l’Imaginaire. Psychologie phénoménologique de l’imagination. 16 Ders., La nausée; Le mur. 17 Angemerkt sei, dass der Erzähler nach langem Umherirren schließlich die Wohnung Carlo Levis finden wird. Die Begegnung bzw. das Gespräch mutet jedoch seltsam und rätselhaft an. Die Gesprächsmomente über Politik oder Journalismus wirken sprunghaft, kryptisch und brechen unvermittelt ab. Insgesamt überrascht es, dass die politischen Reflexionen in La reine d’Albemarle äußerst sparsam bleiben, da Sartre an den politischen Debatten mit den Marxisten in Italien sehr interessiert teilnahm, sie mehr schätzte als die entsprechenden Diskussionen in Frankreich.

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betritt den Palazzo, ohne genau zu wissen, wo sich die Wohnung Carlo Levis befindet. Seine Abneigung gegenüber der klassischen Architektur mit all ihrem Pomp, den Fresken, Stuckwänden und antiken Statuen verbindet sich mit der Gewissheit, sich in diesem dunklen Labyrinth der Fluchtlinien, der Treppen und Korridore zu verlieren. Der Aufstieg in das dritte Stockwerk gleicht einem Abstieg in die Katakomben der Vergangenheit, in ein Imaginarium aus erinnerten, erdachten und geträumten Bildern. Unvermittelt gerät der Erzähler in ein groteskes Alptraumszenario der Blicke und Phantome, das, kaum zufällig möchte man vermuten, an die phantastischen Blick- und Bilderräume Jean Cocteaus – an Le sang d’un poète (F 1930) oder La belle et la bête (F 1946) – erinnert:18 Es entsteht ein surrealistisches Sehabenteuer, in dem die Mauern und Statuen lebendig werden und die Irrealität der alltäglichen Erscheinungen zur Darstellung gelangt Auf der Treppe begegnen dem Ich-Erzähler Ungeheuer und monströse Wesen. Ein überdimensionaler Finger schnellt aus einer riesengroßen Nase oder einem Ohr hervor, ein abgetrennter Kopf blickt ihn an, überall lauern Stuckaugen und fixieren ihn. Er selbst gefriert zur Gipsfigur: „je suis un golem baroque, une statue de plâtre à perruque“.19 Als schließlich aus einem Korridor eine Zwergin hervortritt, fühlt sich der Besucher zunächst erleichtert, ja erlöst durch den Blick eines anderen Subjekts, doch der Zustand gespenstischer Unwirklichkeit hält an, da die Kreuzung der Blicke sich gleichwohl als phantasmagorisches Ereignis offenbart: Une naine débouche d’un couloir et vient à ma rencontre en traînant les savates: il était temps, j’allais me prendre pour un fantôme. Mais elle me jette un regard craintif, en me croisant, et je lis dans ses yeux qu’elle n’est pas bien sûre que je n’en sois pas un. Quand elle m’a dépassé, je me retourne et je vois qu’elle se retourne aussi; chacun sent son étrangeté dans le regard de l’autre.20 Im Blick des Andern trifft sich das Ich in seiner eigenen Fremdheit. Es sieht sich selbst sehend als Zwerg und barocke Gipsfigur, als ängstlicher Voyeur und fremder Tourist, verirrt in den Bühnenräumen und Filmkulissen seines Bewusstseins: „je me réveille: voyons! Je sais fort bien que je fait exprès de m’égarer“.21 Sartre ist hier den multiplen Spielarten einer barocken und surrea18 Die beschriebene Szene liest sich als Referenz vor allem auf Cocteaus Film La belle et la bête (1945), in dem La belle durch einen Korridor des Schlosses geht, in dem sich ihr aus dem Gemäuer einzelne, Kandelaber tragende Arme und Hände entgegenstrecken, Statuenblicke sie verfolgen. 19 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 32. 20 Ebd., S. 31. 21 Ebd., S. 32.

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len Traumästhetik auf der Spur. Das Szenario entpuppt sich als Traumspiel und Selbstinszenierung des tagträumenden Ich. Das Erwachen indes garantiert nicht den Zugriff auf rational und logisch definierte Wahrnehmungs- und Identitätsmuster, sondern löst sich in neuen Rollenspielen und Metamorphosen auf, in Seh- und Sinnesreisen, die schwanken zwischen Lust und Angst, Neugier und Schrecken. Als der Besucher wenig später an einer Tür klingelt, hört er Schritte, jedoch keine Antwort auf sein Rufen. Er spürt die Angst auf der anderen Seite der Tür, die Angst vor einem Phantom, dessen Blick ihn selbst trifft. „Quelqu’un me craint, de l’autre côté de la porte; je me sens si terrible que je commence à me faire peur à moi-même.”22 Mit dieser Textpassage Visite à Carlo Levi, die typische Verfahrensweisen und Techniken des Traums aufweist (labyrinthische Architektur, Verdoppelungen, monströse Körperbilder, Rätselhaftigkeit, Deformationen) und zugleich die Grenzen zwischen Wachen und Träumen offen hält, hebt Sartre die der existentiellen Grunderfahrung des Blicks inhärenten Strukturen des Imaginären und der Medialität hervor. Die Szenen der Schaulust auf den Korridoren, die Sartre in La reine d’Albemarle entwirft und die er bereits in L’être et le néant analysiert hat, bringen mit der dialektischen Wahrnehmungsstruktur von Sehen und Gesehenwerden die komplexen Prozesse der Selbstwahrnehmung und damit die Inszenierung der inneren Bilder- und Hörräume zur Anschauung. Wie sehr dabei die Wahrnehmung unter den Vorzeichen der Einbildung und Theatralität funktioniert, veranschaulicht die berühmte Voyeurpassage in L’être et le néant, in der sich der Blick des Andern als Chimäre erweist: Me voilà courbé sur le trou de la serrure; tout à coup j’entends des pas. Je suis parcouru par un frisson de honte: quelqu’un m’a vu. Je me redresse, je parcours des yeux le corridor désert: c’était une fausse alerte. Je respire.23 Auch wenn es sich hier um eine Wahrnehmungstäuschung handelt, die den Voyeur aufschrecken (und schamhaft) werden lässt, führt der blinde Alarm zu einer veränderten Schaulust. Der Andere ist jetzt überall spürbar: im Flur, auf der Treppe, im Nebenzimmer scheint er mir möglicherweise aufzulauern und Beobachter meiner Beobachtung zu werden. Die Bedrohung durch den Andern vermittelt dem Voyeur kontinuierlich sein grundlegendes Empfinden ,Für-andere-sein‘ („être-pour-autrui“) und aktiviert das Unheimliche, das jeder Blicksituation zugrunde liegt. Selbst wenn ihn der Blick des Andern nicht real und faktisch trifft, fühlt sich der Voyeur dennoch gespenstisch erblickt, in sei22 Ebd. 23 Ders.: L’Etre et le néant, S. 336.

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nem Sehen beobachtet. Er beginnt den Blick des Andern zu imaginieren und gerät so in den Zustand des Erblickt-werdens („en état d’être regardé“), der fortan seine Schaulust trägt. Der Andere als Begehren und Phantasma meiner Wahrnehmung eröffnet auf diese Weise einen Inszenierungsrahmen für die Spielformen einer antizipierten Scham und übersteigerten Schaulust, die letztendlich darauf zielt, mich selbst zu treffen.24 Der Wahrnehmungsakt erschließt sich auf diese Weise über die Prozesse einer Medialisierung und Reflexion, die sich auf dem Feld der Blickimaginationen behaupten und einen Modus der Selbstreflexion in Gang setzen, das sich, gleich der phänomenologischen Blickanalyse Merleau-Pontys, im Phänomen der Überkreuzung, d.h. in der Möglichkeit des Subjekts, zu sehen und sich selbst dabei zuzusehen, artikuliert. In diesem Sinn erprobt der letzte Tourist einen Diskurs des Sehens und der Selbstbeobachtung, der ihn immer wieder an die Grenzen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Realität und Imagination treibt. Dabei tappt er nicht selten, wie bei einem Konzertbesuch im römischen Kolosseum, in die Blickfallen der touristischer Verlockung. An diesem denkwürdigen Ort der Kulturgeschichte stilisiert sich der Tourist in die Schrecken der Vergangenheit, wird zum christlichen Märtyrer und träumt den Märtyrertraum: „A demi mort de peur, couché sur la sable jaune, j’attends des bêtes; […] on y fera de la musique au lieu même où je vais mourir.“25 Vergangenheit und Gegenwart, Historie und Phantasmagorie greifen ineinander; die Arena als touristischer Ort wird zum anachronistischen Schauplatz der begehrlichen Visionen. Lustvoll erliegt der Tourist dem Schein dieser falschen Inszenierung, in der er zugleich als Akteur und Zuschauer, Schauender und Angeschauter platziert ist. Ein Trickspiel der römischen Stadtverwaltung, so durchschaut er alsbald, welches antike Authentizität vorgaukelt und den Blick der alten Römer als Spektakel für Touristen inszeniert: „Et que regardent-ils, ces cinquante mille spectateurs? Ils nous regardent.“26 Der Tourist begegnet sich im Blick der anderen und schaut sich selber zu − entlarvt in der Lächerlichkeit einer programmierten Theatralität für Touristen.

24 Vgl. hier auch Jacques Lacans kritische Kommentierung dieser Szene in Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, S. 98: „Ce regard que je rencontre – c’est à repérer dans le texte même de Sartre – est, non point un regard vu, mais un regard par moi imaginé au champ de l’Autre. […] N’est-il pas clair que le regard n’intervient ici que pour autant que ce n’est pas le sujet néantisant, corrélatif du monde de l’objectivité, qui s’y sent surpris, mais le sujet se soutenant dans une fonction de désir.“ 25 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 48f. 26 Ebd., S. 48.

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Der kritisch ironische Blick, den Sartre auf den Reisenden wirft, korreliert mit einer zunehmenden Fremdheit konkreter Alltagserfahrung und Selbstwahrnehmung. Der distanzierte Blick des wahrnehmenden Ich fokussiert die Realität in ihrer inneren Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit als absurdes und surreales Schauspiel: „c’est presque aussi absurde que de voir des couples danser à travers une vitre sans entendre la musique.“27 Das Gefühl des Absurden breitet sich mit dem Verfremdungseffekt aus, der das wahrnehmende Ich auf Distanz setzt und seine Sinne dissoziiert. Wie durch eine Glasscheibe nimmt der Beobachter seine Umwelt wahr, unwirklich verzerrt und tonlos wie ein Stummfilm. Dass Sartre hier − wie auch Albert Camus Anfang der 40er Jahre − die Kategorien des Absurden und der étrangeté zur Darstellung bringt, wird offensichtlich. Die Erfahrungen der Fremdartigkeit, des Absurden und des Ekels kondensieren im Moment der Wahrnehmung auf eine Welt, die entgleitet.28 Das Ich auf Reisen scheint prädestiniert zu sein, die Fremdheit bzw. Verfremdung des Alltäglichen zu erfahren. Der Blick auf das Fremde evoziert Sinneseindrücke zwischen wundersamem Staunen, Faszination und Schrecken. Im Rekurs auf das Eigene, das Vorgestellte oder Erinnerte entstehen Synästhesien, Bildverschiebungen und Überlagerungen, die die Fragilität und Kontingenz erfahrbarer Wirklichkeit indizieren. Die Gondel auf dem Kanal, so konstatiert der Ich-Erzähler, sieht aus wie ein von Picasso gemaltes Musikinstrument, sitzt man darin, ist es ein Schlittschuh, dann wieder ein edler Schwan, eine Zigarre. Das assoziative Verfahren der visuellen Dechiffrierung und visuellen Kombinatorik, das den Text durchzieht, weist dabei immer deutlicher auf die grundlegende Surrealisierung der Welt, die sich ins Unheimliche und Groteske verschiebt. So erblickt der Erzähler den Lastkran auf dem Kanal als mostro, als einen dicken Wal, der aus dem Wasser auftaucht oder sieht sich bei einem erinnerten nächtlichen Streifzug von einem gewaltigen Hummer verfolgt, der hinter ihm seine Scheren wetzt. Diese surrealistischen, an Dalí erinnernden Bildvisionen, schrecklich und komisch zugleich, werden durch kafkaesk anmutende Verwandlungen des

27 Ebd., S. 120. 28 Siehe hier vor allem die Ausführungen Albert Camus’ in Le mythe de Sisyphe, S. 30ff., mit denen er das Klima des Absurden im Verweis auf die Kategorie der étrangeté expliziert: „Le monde nous echappe puisqu’il vient lui-même. [...] cette épaisseur et cette étrangeté du monde, c’est l’absurde.“ Bezeichnenderweise wählt Camus hier das Bild einer Telefonzelle, durch deren Glaswand der Betrachter von außen ein stummes, absurdes Pantomimenspiel wahrnimmt.

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Touristen ergänzt: „Après sa première nuit vénetienne, l’animal touristique se réveille amphibie.“29 Auf der Grundlage vexierender Wahrnehmungsstrukturen entstehen surreale Bilder als Traumlandschaften und dokumentieren die Prozesse einer fortschreitenden Metamorphose und Irrealisierung. Der Blick des wahrnehmenden Ich balanciert zwischen Realität und Traum und gerät zunehmend in den Sog einer rêverie, ja in das Gaukelspiel einer folie, in der sich die sichtbaren Dinge verfremden, sich verwandeln, verdoppeln oder auflösen. Nicht fern scheinen hier Motive und Bildverfahren, mit denen Buñuel, Dalí, Cocteau oder Magritte in ihren Filmen und Bildern experimentieren. Sartre rekurriert auf das surreale Wahrnehmungsspiel der phantastischen Reihungen und Metamorphosen, der ästhetischen Konfusionen, Spiegelungen und Paradoxien, in deren Strukturen sich das imaginäre und begehrliche Ich behauptet. Er knüpft damit an eine surreale Ästhetik und auch romantische Phantastik an, die er bereits in La nausée erprobt hat. Lange Zeit wurde der Roman La nausée verkürzt als theoretischer „Essay über die phänomenologische Wahrnehmung von Kontingenz“ gedeutet, ohne die Spielräume seiner ästhetischen Strukturen, surrealistischen Einschreibungen und Präfigurationen hinreichend zu durchschauen.30 Der Text La reine d’Albemarle − Simone de Beauvoir nennt ihn „la Nausée de son âge mûr“31 − liest sich als Verweis auf die Traumprosa der 30er Jahre und fördert einmal mehr die Affinität Sartres zu surrealistischen und barocken Schreibweisen zutage, die seine literarischen und dramatischen Texte durchziehen.32

29 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 84; vgl. auch ebd., S. 163: „A Venise, courant dans les crevasses humides, on se sent devenir cloporte.“ 30 Vgl. hierzu Ansätze von Bohrer: „Existentielle und imaginative Erfahrung: ‚Der Ekel‘,“ S. 135-156 oder Noudelmann/Philippe: Dictionnaire Sartre; hier den Eintrag „Surréalisme“, in dem es heißt: „le surréalisme est pour Sartre le contraire d’un mouvement progressiste et populaire. On lira cependant dans La nausée les délires et rêves de Roquentin, peuplés d’images à la Dalí (‘le grand bras tricorne, l’orteilbéquille, l’araignée-mâchoire’).“ 31 de Beauvoir: La force des choses, S. 217: „La Reine d’Albemarle et le dernier touriste devait être en quelque sorte la Nausée de son âge mûr; il y décrivait capricieusement l’Italie à la fois dans ses structures actuelles, son histoire, ses paysages et il rêvait sur la condition de touriste.“ 32 Siehe hierzu Roloff: „Der fremde Calderón. Sartre und das spanische Barocktheater“. Siehe auch den Sammelband von Lommel u.a.: Französische Theaterfilme − zwischen Surrealismus und Existentialismus, in dem Sartres Blickparameter als ein wesentlicher Bezugspunkt durchschaut werden, an dem sich nicht nur die surrealistischen und existentialistischen Schreib- und Denkweisen kreuzen, sondern mit dem auch aktuelle wahrnehmungs- und medienästhetische Ansätze voraussagbar

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Zweifellos trifft der aufmerksame Leser Sartres hier auf einen widersprüchlichen Diskurs. Sartre beschreibt in Qu’est-ce que la littérature33 nur allzu deutlich seine kritischen Einwände gegenüber surrealistischen Positionen, denen es an philosophischer Grundlage und politischer Aktion mangele.34 Gleichwohl kann man die Passagen seiner Italienfragmente auf der Folie jener Ästhetik des radikalen Widerspruchs und des surrealistisch Wunderbaren lesen, die Sartre mit Breton, Duchamp oder Dalí teilt: A la faveur de cette intuition, on espère que le monde entier se découvrira comme une contradiction radicale. La peinture et la sculpture surréalistes n’ont d’autre fin que de multiplier ces éclatements locaux et imaginaires qui sont comme les trous d’évier par quoi l’univers tout entier va se vider. [...] l’objectif se détruit et renvoie soudain au subjectif, puisqu’on disqualifie la réalité et qu’on se plaît à ‚tenir les images mêmes du monde extérieur pour instables et transitoires’ et à ‚les mettre au service de la réalité de notre esprit’.35 In Anlehnung an Duchamps berühmte Zuckerstücke aus Marmor36 − imaginäre Objekte als Provokationen des Widerspruchs − beobachtet der letzte Tourist in Venedig die Tauben auf dem Markusplatz in verrückter Doppelsichtigkeit: „les pigeons, morceaux de marbre fou“.37 So wie das falsche Spiel der Tauben Lokalkolorit für Touristen zur Schau trägt und den Widerspruch zwischen Sein und Schein bezeugt − „Je suis sûr qu’ils jouent la peur“38 −, findet sich der Tourist auf einer Bilderbühne, in der das Wahrgenommene entgleitet und sich eben jenem imaginären Punkt nähert, so präzisiert Sartre in

werden (vgl. hier vor allem die Einleitung, S. 7-13 und Lommel: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, S. 173-184.) 33 Sartre: „Qu’est-ce que la littérature“. 34 Die surrealistische Destruktion vollzieht sich nach Sartre nur auf der Ebene der Worte oder des Kunstwerks, nicht aber auf der Ebene der Dinge, d.h. des politischen Handelns und der gesellschaftlichen Veränderung. Vgl. ebd., S. 218: „Pour finir il [le surréaliste] fait beaucoup de peinture et noircit beaucoup de papier, mais il ne détruit jamais rien pour de vrai. Breton le reconnaissait d’ailleurs en 1925, lorsqu’il écrivait: ‚La réalité immédiate de la révolution surréaliste n’est pas tellement de changer quoi que ce soit à l’ordre physique et apparent des choses que de créer un mouvement dans les esprits’.“ 35 Ebd., S. 216f. 36 Vgl. hier Duchamps ready-made: Why Not Sneeze Rose Sélavy?, von 1921 – ein Vogelkäfig, angefüllt mit Zuckerstücken aus weißem Marmor. 37 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 83. 38 Ebd.

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Qu’est-ce que la littérature, wo ,Traum und Wachzustand, Reales und Fiktives, Objektives und Subjektives verschmelzen‘.39 Die Ordnungen des Sehens werden ad absurdum geführt, sofern sich die Koordinaten von Raum und Zeit, von Statik und Bewegung, Existenz und Imagination verschieben oder gar auflösen. Venedig wird erfahrbar als heterotopischer Illusions- und Spiegelraum im Sinne Foucaults, d.h. als „Ort außerhalb aller Orte“, an dem sich Bildund Sinneseindrücke überlagern und die herkömmlichen Grenzziehungen zwischen Realität und Fiktion, Innen- und Außenwelt nicht mehr gelten.40 Die Spiegelungen im Wasser des Canal Grande bringen heterotopische Effekte der Wahrnehmung, suggestive Auflösungen und trügerische Schauspiele hervor. Gleich den Unterschieden zwischen Himmel und Wasser, aber auch zwischen verschiedenen Architekturen, die hinter ihrer spiegelbildlichen Ähnlichkeit schwinden, sieht sich das wahrnehmende Ich von Traum- und Trugbildern umstellt, die seine Realität verweigern. Unter dem Stichwort ‚Mangel an Realität‘ („manque de réalité“) bringt Sartre die Effekte einer grundlegenden deréalisation und depersonnalisation zum Ausdruck: Le ciel est dans l’eau, l’eau est dans le ciel. Tout se multiplie et se disperse, tout foisonne, se défait, palpite. [...] Il y a certainement dans Venise un manque de réalité qui la rend sinistre. On croirait un mirage né d’un miroitement pâle du ciel dans l’eau. Et je me sens moi-même mirage très souvent. Tout va disparaître: restera l’eau.41 Die Reise durch Italien, insbesondere der Aufenthalt in Venedig, wird zum Prüfstein einer existentiellen Grenzerfahrung und Bewusstwerdung des Ich. In den Vordergrund rückt die Erfahrung der Kontingenz und der imaginären Anschauung, die der Geschichtlichkeit und dem stereotypen Exotismus der Stadt entgegenläuft und ein sich stets verwandelndes ‚anderes‘ Venedig als non-lieu zum Vorschein bringt. Dies vollzieht sich im Kopf des Touristen, in seinen Einbildungen, seinen Phantasien und Ängsten. Das wiederkehrende Bild des Wassers verbindet das Motiv der Bewegung mit dem des Denkens („L’eau, pensée folle“).42 Das Wasser, ein sanftes ,Gleiten des Nichts’, das zwischen den ,Klippen des Seins‘ aufgeht,43 verdeutlicht das dynamische Moment unseres Bewusstseins, das in der Dialektik von Statik und Bewegung, en-soi und pour-soi, sich stets neu projektiert und nie zur Ruhe kommt. 39 Vgl. ders.: Qu’est-ce que la littérature, S. 218. 40 Foucault: „Andere Räume“, S. 34-46, hier: S. 37. 41 Sartre: La reine d’Albemarle, S. 104f. 42 Ebd., S. 109. 43 Ebd., S. 77.

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3.

Mediale Konfigurationen des Sehens

Sehen − so verdeutlichen die bisherigen Ausführungen − gestaltet sich über den reinen Perzeptionsvorgang hinaus als Akt der Interpretation und Erfindung. Die Wirklichkeit der italienischen Schauplätze, die Sartre in seinen Reiseskizzen beschreibt, entsteht im Spielraum realer, imaginärer und medialer Eindrücke. Dabei gelangt eine Ästhetik des Blicks zur Darstellung, die eine Bewegung und Verschränkung der inneren und äußeren Bilder ebenso wie die Grenzverschiebungen einer intermedial organisierten Bildersprache entdeckt. Capri, Neapel, Rom und Venedig erscheinen einerseits als wirkliche, existente Orte, die der Reisende besucht, andererseits als Projektionsräume visionärer Einbildungen, die im Kopf des Touristen kreisen bzw. sich aus dem Fiktionsund Gedächtnisarsenal der europäischen Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte speisen. „Est-ce que je perçois ou est-ce que je me rappele?“ befragt der letzte Tourist sein Sehen, um sogleich die Antwort zu geben: „Je vois ce que je sais. Une autre mémoire hante la mienne.“44 Das Sehen auf Reisen verläuft auf den Grenzlinien zwischen Realität und Virtualität, sofern die Wahrnehmung durch eigene Vorstellungen und Erfahrungen, aber auch und sehr wesentlich durch andere Medien und Diskurse, durch Zitate, Texte, Bilder, Filme oder Musik präfiguriert ist. Die genannten Städte Italiens sind durch die Vielzahl der sie bereisenden Schriftsteller und Künstler bereits ausnahmslos zu literarischen bzw. künstlerischen Mythen stilisiert. Der letzte Tourist, der den Typus des Intellektuellen verkörpert, reist auf den Spuren von Goethe und Stendhal, Chateaubriand, Lamartine, Nerval, Flaubert, Musset, Proust, Wagner oder Thomas Mann. Diese und andere Namen schreiben sich in den Text ein, schreiben ihn vor und fabrizieren auf diese Weise ein fragiles intertextuelles Passagenwerk, eine Art ,Gebrauchsanweisung des touristischen Sehens‘.45 Der Ich-Erzähler zitiert und erinnert Namen, Bilder und Texte, er speist sie ein in das gegenwärtige Sehen. Und doch bleibt sein Blick kritisch, ironisch dekonstruktiv und kreativ. Dass Sartre dem Exotismus der romantischen Reiseliteratur kritisch gegenüber steht, scheint zweifelsfrei; stellt sich ihm die romantische Verklärung des Fremdartigen allein als Ausdruck der mauvaise foi dar. Als reflektiert Sehender (und Schreibender) konstruiert er sein eigenes Reiseund Mythenszenario einer intermedialen und synästhetischen Schau. Die italie44 Ebd., S. 196. 45 Vgl. ebd., S. 23: „il y ceux qui ont peint ou parlé de Capri, jusqu’au dernier, Félicien Marceau. Ces écrits sont impressionnants et opaques de loin, ils ne laissent rien à dire. De près ce sont de larges mailles qui laissent bien de la place. N’empêche. Ils sont tous présents si je regarde Arco Naturale ou le monte Solaro.“

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nischen Schauplätze werden als Wahrnehmungsdispositive szenischer, malerischer oder filmischer Einbildungen anschaubar. Der hin und her schweifende Blick vermittelt dabei eine zunehmende Stilisierung und Ästhetisierung der Erfahrungswelt, hier: der Stadtansicht. Diese blitzt in immer neuen Schrift/Bildern und Momentaufnahmen auf, schwankend zwischen Stillstand und Bewegung. Der Fragmentcharakter des Textes korrespondiert mit der Flüchtigkeit eines Sehens, das Bruchstücke der Wirklichkeit gleich fotografischen Schnappschüssen sammelt und diese neu vernetzt. Venedig ist eine Stadt, die sich der Gesamtansicht entzieht und den Ich-Erzähler zwingt, sich in Details und Seitenblicken zu verlieren. Im flüchtigen Streifen einzelner, aneinandergefügter Bilder und Impressionen geraten die Momentaufnahmen in Bewegung, wird das Sehen filmisch. Voilà: la ville se donne par touches discontinues; un coup d’œil aux lierres qui s’accrochent aux ruines, une Vespa me rase les fesses, un regard sur la porte romaine [...]; le rouleau de mes perceptions, c’est une baleine mal fixée et qui saute tout le temps.46 Der Reisende, der in Bewegung gebracht ist − sei es in der Gondel, im Vaporetto oder auch zu Fuß durch die Straßen und Gassen −, erfährt eine neue Geschwindigkeit und Zerstreuung seines Blickfeldes. Während die äußeren Bilder der Realität wie ein Film an ihm vorüberziehen, springen die inneren Bilder ,auf der Walze seiner Wahrnehmung‘ unentwegt auf. Die Wahrnehmung ist bewegt, sprunghaft, unerwartet, diskontinuierlich. In Anlehnung an Foucault wird hier das Prinzip der Diskontinuität deutlich, das sich durch das Verknüpfungsspiel heterogener Elemente und Fragmente auszeichnet und im Hinblick auf historische und mediale Prozesse manifestiert. Zwischen Stillstand und Bewegung experimentiert Sartre mit visuellen Reizen, medienüberschreitenden und imaginationsästhetischen Verfahren und reflektiert auf diese Weise die Produktions- und Wirkungsprozesse des (Reise-) Textes selbst. Die italienischen Städte dekuvrieren sich als Orte medialer und diskursiver Fabrikation. Die Traditionen, Verfahren und Techniken der Bildenden Kunst, des Theaters und des Kinos inspirieren und konfigurieren die Wahrnehmungsweisen des Erzählers bzw. die écriture einer intermedialen ars combinatoria. In den Vorstellungswelten des Erzählers und auch des Lesers ergänzen sich Bild und Schrift, Realität und Illusion, Fixierung und Auflösung. So wirkt die Felswand, die der Tourist auf Capri erblickt, sehr lebendig, ja bewegt wie eine Statue von Giacometti, die ihre Statik zu überwinden scheint. Sie

46 Ebd., S. 92.

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schwankt in der paradoxen Spannung von Stillstand und Bewegung: „Je crois percevoir le mouvement et soudain il rentre dans la pierre.“47 Sartre nutzt Werke unterschiedlicher Künstler als Generatoren, Zitate oder Konstruktionsprinzipien für die eigenen Schreibprozesse und ihre ästhetische Reflexion. Dabei werden die literarischen und künstlerischen Bilder im intermedialen Prozess neu perspektiviert und dynamisiert. Einen besonderen Bezugspunkt bilden hierbei neben den Werken der Surrealisten die manieristischen Gemälde des venezianischen Künstlers Tintoretto, die als mise en abyme des Reise- bzw. Blicktextes selbst durchschaubar werden. Sie führen sowohl zu neuen Ansichten auf die Stadt Venedig als auch zu neuen Einsichten über die Spielformen einer reflektierten Wahrnehmung zwischen den Medien. Anhand ausgewählter Gemälde der Scuola di San Rocco in Venedig (z.B. Kindermord, Das Paradies, Die Kreuzigung) kommentiert der Erzähler die dramatische, ja beinah kinematographische Erzählweise Tintorettos, die die gewöhnliche Statik eines Gemäldes in eine faszinierende Bewegungsspannung bringt.

Abbildung 1, Tintoretto: Die Kreuzigung, 1565, Öl auf Leinwand

Tintoretto − so kommentiert der Erzähler − ist ,ein moderner Regisseur‘ („C’est le premier metteur en scène de cinéma.“48), dem es gelingt, wie zum Beispiel in der Kreuzigung, den räumlichen und zeitlichen Rahmen des Gemäldes zu sprengen und eine Bühne des bewegten Sehens zu erzeugen, mit der

47 Ebd., S. 21. Vgl. hier auch Paolo Tamassia: Au delà de l’exotisme“, S.178, der am Beispiel Venedig die paradoxe Spannung zwischen den statischen und bewegten Bildern betont, zwischen denen der Blick des Spaziergängers hin und her schwankt: „Il y a donc d’un côté une image statique, l’Histoire [...] l’art, la pierre des palais, l’arcitecture [...] et de l’autre un élément dynamique, l’eau, cette perpétuelle oscillation, esprit de finesse, qui conteste tout ce qui est fixe.“ 48 Ebd., S. 103.

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sich eine (Film-)Simultaneität der verschiedenen Ebenen realisiert.49 In die Konturen des Gemäldes ist der Blick als Bewegung des Auges eingezeichnet und erzeugt so, auf semantischer und emotionaler Assoziationsebene, eine Bewegungsillusion, mit der die Darstellungsebenen beweglich werden und sich transformieren. Die Bilder Tintorettos indizieren eine „école de vision“ als eine Art Bühnen- und Kinoeffekt, mit dem der Blick des Betrachters in den Bildraum hineingezogen und dort bewegt wird.50 Im Rekurs auf seine Blicktheorie erklärt Sartre, „wie Tintoretto den Blick des Betrachters in einer Weise lenkt, daß dabei auf seinen Bildern eine 3. Dimension entsteht“.51 Die (realen) Gemälde dienen − im Sinne Sartres − als analoga, um die Kunstwerke im Imaginären zu konstituieren. Sartre, hier mit Blick auf Tintoretto, rückt die Position des Rezipienten in den Vordergrund, dessen Schau- und Sinneslust mit dem Kunstwerk geweckt, bewegt und zugleich reflektiert ist. Ihm − dem Bildbetrachter (le dernier touriste) oder Leser − gebührt die besondere Aufmerksamkeit, ist er doch an der Entstehung des Werkes wesentlich beteiligt und teilt die Verantwortung der künstlerischen Freiheit: die Welt im Blick zu imaginieren und neu zu entwerfen. Das Sehen auf Reisen, so veranschaulichen die Italienfragmente Sartres, ist nicht allein an die physische Bewegung gekoppelt, selbst wenn damit meist eine solche verbunden ist, sondern in erster Linie an eine innere Einstellung und Wahrnehmungsdisposition, die es erlaubt, literarische und lebensweltliche Räume neu zu dynamisieren, verschiedene Medien und Diskurse, Orte und Zeiten zu kombinieren, ineinander zu setzen, zu überschreiten. Die Prozesse des Lesens, Sehens und Träumens greifen hierbei ineinander und sind sowohl in der Position des schreibenden voyageur zu verorten als auch in der des schaulustigen lecteur, der sich auf Lektürereise begibt, das heißt das Gelesene in den Verweisungskontext anderer Lektüren, Bilder, Texte, Alltagserfahrungen einordnet. „Die Welt spielt zweifellos in unserem Kopf“, so formuliert Ottmar Ette im Hinblick auf die ästhetischen Spielräume eines grenzüberschreitenden 49 Siehe hier Sartres Ausführungen zur Kreuzigung in La reine d’Albemarle, S. 143f.: „La Crucifixion: mouvement classique en apparence. Demi-cercle. Au centre la Croix perpendiculaire au plan où le cercle s’inscrit. Un triangle dont deux côtés sont les rayons et le troisième l’arc de cercle. Seulement, en fait il y a une composition temporelle en angle aigu: première position […]: la Croix par terre; deuxième position: la Croix se lève, troisième position: le Christ en croix. En même temps, la corde tendue et l’effort du type qui la tire créent une troisième dimension.“ 50 Siehe hier vor allem die erkenntnisreiche Studie von Wittmann: „Sartre und die Kunst“, vgl. vor allem das Kapitel „Tintoretto und die ‚école de vision‘“, S. 137164. 51 Ebd., S. 9.

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Schreibens, das Literatur in Bewegung setzt: „Die Welt im Kopf ist die Dynamik eines Raumes voller Bewegung.“52 Unter diesem Blickwinkel bietet La reine d’Albemarle einen erhellenden Beitrag sowohl für die Beschreibung einer integrierten Literatur-, Kunst- und Mediengeschichte als auch für die Analyse einer gegenwärtigen Mediengesellschaft, die zunehmend durch Phänomene der Virtualität und Hybridität, der Heterotopien und Heterochronien sowie der fortschreitenden, paradoxen Verklammerung von Stillstand und Bewegung − Bewegung im Stillstand − gekennzeichnet ist.

Literaturverzeichnis De Beauvoir, Simone: La force des choses, Paris 1963. Bohrer, Karl Heinz: „Existentielle und imaginative Erfahrung: ‚Der Ekel‘, in: König, Traugott (Hrsg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 135-156. Butor, Michel: „Le voyage et écriture“, in: ders.: Repertoire IV, Paris 1974, S. 9-30. Camus, Albert: Le mythe de Sisyphe, Paris 1942. Cohen-Solal, Annie: Sartre. 1905-1980, Reinbek b.H. 1988. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische VenedigBilder 1797 – 1984, Berlin 1993. Duchamp, Marcel: ready-made, Why Not Sneeze Rose Sélavy?, 1921 (ein Vogelkäfig, angefüllt mit Zuckerstücken aus weißem Marmor). Ette, Ottmar: „Die Welt im Kopf“, in: ders.: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Göttingen 2001, S.405- 438. Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Lacan, Jaques: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris (1964) 1973. 52 Vgl. Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, , bes. das Kapitel „Die Welt im Kopf“, S. 405438, hier: S. 411; vgl. auch Schmidt: Von Raum zu Raum. Versuch über das Reisen, der den Bedeutungs- und Funktionswandel des Reisens im Wirkungsspielraum der fortscheitenden Elektronik und der digitalen Medien aufdeckt und dabei die Mechanismen der virtuellen, multiplen Zeit/Räume exemplifiziert.

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Laurent, Jenny: „Nausée de Venise“, in: Littérature, Nr. 139, Septembre 2005, S. 3-23. Lommel, Michael/Roloff, Volker: „Einleitung“, in ders. u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surralismus und Existentialismus, S. 7-13. Lommel, Michael: „Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre“, in ders. u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme – zwischen Surralismus und Existentialismus, S. 173-184. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Französische Theaterfilme − zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004. Noudelmann, François/Philippe, Gilles: Dictionnaire Sartre, Paris 2004. Robbe-Grillet, Alain: Le voyageur, Paris 2001, S. 7-10. Roloff, Volker: „Der fremde Calderón. Sartre und das spanische Barocktheater“, in: Leinen, Frank (Hrsg.): Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität, Berlin 2002, S. 231-245. Röseberg, Dorothee: Kulturwissenschaft Frankreich, Stuttgart 2001. Sartre, Jean-Paul: La reine d’Albemarle ou le dernier touriste. Fragments. Texte établi et annoté par Arlette Elkaïm-Sartre, Paris 1991. Sartre, Jean-Paul: „Les communistes et la paix“, in: Situations VI, Paris 1964, S. 80-384. Sartre, Jean-Paul: Situations IV, Paris 1964. Sartre, Jean-Paul: „Venise de ma fenêtre“, in: Verve 27-28 (1953) Sartre, Jean-Paul: „Un parterre de capucines“, in: France-Observateur, 115, 24.07.1952. Sartre, Jean-Paul: „Qu’est-ce que la littérature“, in: Situations II, Paris 1948. Sartre, Jean-Paul:. L’Etre et le néant. Essai d’ontologie phénomenologique, Paris 1943. Sartre, Jean-Paul: l’Imaginaire. Psychologie phénoménologique de l’imagination, Paris 1940. Sartre, Jean-Paul: Le mur, Paris 1939. Sartre, Jean-Paul: La nausée, Paris 1938; Schmidt, Aurel: Von Raum zu Raum. Versuch über das Reisen, Berlin 1998. Tamassia, Paolo: „Au-déla de l’exotisme. L’Italie selon Sartre dans La Reine Albemarle ou le Dernier Touriste“, in: Berne, Mauricette (Hrsg.): Sartre, Paris 2005, S.174-179.

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Wittmann, Heiner: „Tintoretto und die ‚école de vision‘“, in: ders.: Sartre und die Kunst. Die Porträtstudien von Tintoretto bis Flaubert, Tübingen 1996, S.137-164. Wolfzettel, Friedrich: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen 1986. Wolfzettel, Friedrich: Reiseberichte und mythische Struktur. Romanistische Aufsätze 1983-2003, Stuttgart 2003.

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Franz-Josef Albersmeier

Filmo-Bibliografie Jean-Paul Sartre 1.

Quellen zur Filmo-Bibliografie Jean-Paul Sartre

Unsere Angaben berufen sich auf die folgenden Vorarbeiten (vor allem französischer Forscher) sowie auf eigene Forschungen: Clerc, Jeanne-Marie: Écrivains et cinéma. Des mots aux images, des images aux mots, adaptations et ciné-romans, Metz: Presses Universitaires 1985. (Chapitre II: „Les scénarios de Sartre“, S. 213-267, S. 268-272) Contat, Michel: Sartre et la tentation du cinéma. „Typhus“, un scénario inédit qui a inspiré „Les orgueilleux“ d’Yves Allégret, in: Le Monde, 6 juillet 2000, S. 10. Contat, Michel/Rybalka, Michel: Sartre et le cinéma, L’Esprit Créateur, vol. VIII, no. 4, Winter 1968, S. 284-291; „Sartre et le cinéma: chronologie succinte“, S. 291-292. Contat, Michel/Rybalka, Michel: Les écrits de Sartre. Chronologie, bibliographie commentée, Paris: Gallimard 1970. (Appendice I: Cinéma, S. 483497). de Baecque, Antoine (Hrsg.): Sartre et le cinéma, Avancées Cinématographiques (ENS Fontenay), no. 5, juin 1984. Mandelbaum, Jacques: Sartre et le cinéma, les échecs d’une tentation. La revue Les Temps Modernes publie, sous le titre Résistance, un scénario inédit de l’écrivain, écrit durant l’hiver 1943-1944. Ce texte qu’on a cru longtemps perdu, permet de mieux comprendre son intérêt pour le cinéma sowie Michel Contat: A la recherche des manuscrits perdus, in: Le Monde, 24 août 2000, S. 24. Teroni, Sandra/Vannini, Andrea (Hrsg.): Sartre e Beauvoir al cinema, Edizioni La Bottega del Cinema/in collaborazione con la Provincia di Firenze – Cassa di Risparmio di Firenze, 1989 (Atti del Convegno „Sarte e Beauvoir al cinema“, Firenze 8-9 maggio 1987). Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: Sartre scénariste, Cinématographe, no. 120, juin 1986, S. 50-54. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: Sartre: une vocation manquée de cinéaste, (I) Jeune Cinéma, no. 210, septembre-octobre 1991, S. 13-18; (II) Jeune

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

Cinéma, no. 211, novembre-décembre 1991, S. 26-32; Sartre „collaborateur“? (Essai de mise au point), Jeune Cinéma, no. 231, avril 1995, S. 2732.

2.

Sartres Texte für den Film: Drehbücher, Dialoge, Adaptionen

2.1

Für Pathé verfasste Drehbücher (Winter 1943/1944)

Sartre, Jean-Paul: Typhus, Paris: Gallimard 2007. Sartre, Jean-Paul: L’apprenti-sorcier (unpubliziert). Sartre, Jean-Paul: La grande peur (das einzige von Sartre datierte Pathé-Drehbuch: „janvier 1944“; unpubliziert). Sartre, Jean-Paul: Résistance, in: Les Temps Modernes, no. 154-155, avrilseptembre 2000, S. 3-22. Sartre, Jean-Paul: Les faux nez (möglicherweise, wie L’engrenage, 1946 überarbeitet; das Drehbuch wurde nie verfilmt, aber als Theaterstück bearbeitet), in: La Revue du Cinéma, série nouvelle, I, no. 6, printemps 1947, S. 3-27; im Nachdruck der Zeitschrift La Revue du Cinéma (Paris: Gallimard 1992, coll. „Tel“) sowie in: Janicot, Christian (Hrsg.): Anthologie du cinéma invisible, Paris: ARTE/Jean-Michel Place 1995, S. 575-581; mit einer Einführung von Jean-François Louette, S. 574. Sartre, Jean-Paul: Les jeux sont faits, Paris: Ed. Nagel 1947, 1968; Paris: Gallimard 1996. Sartre, Jean-Paul: Histoire de nègres (unpubliziert). Sartre, Jean-Paul: L’engrenage (möglicherweise, wie Les faux nez, 1946 überarbeitet; ursprünglicher Titel: Les mains sales), Paris: Ed. Nagel 1948, 1962; Paris: Gallimard 1996.

2.2

Weitere Drehbücher von Sartre

Sartre, Jean-Paul: Les sorcières de Salem, 1956 (unpubliziert); siehe die Broschüre von Unifrance Film, 1956 (mit Kurzfassung des Drehbuchs, Anmerkungen zu den Dreharbeiten u.a.); Einführung in den Film, Auszüge des Drehbuchs und Filmphotos, in: Cinéma 57, no. 17, avril 1957, S. 6-15. Sartre, Jean-Paul: Freud, 1958/1959. Die Synopsis („Paris, 15 décembre 1958“) und einige Sequenzen des Drehbuchs finden sich erstmals publiziert in:

212

Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

Obliques, Sondernummer „Sartre et les arts“, 1981, S. 73-87, S. 93-136. Vollständige Ausgabe: Le scénario Freud, Préface de J.-B. Pontalis, Paris: Gallimard 1984. (Première version (1959), S. 25-404; Extraits de la seconde version (1959-1960), S. 407-527; Appendices: A. Le synopsis (1958), S. 531-570; B. Tableau comaparatif des deux versions, S. 571-580). Sartre, Jean-Paul: Joseph le Bon (unvollendetes Drehbuch über die Französische Revolution), in: Etudes Sartriennes, no. 11 („Cinéma et Révolution Française“), sous la direction de Gilles Philippe et Vincent de Coorebyter, Editions Ousia 2007. (Librairie J. Vrin; 6, place de la Sorbonne, 75005 Paris).

2.3

Sartre als Szenarist und Adaptator

Sartre, Jean-Paul: Poil de carotte, Projekt einer Jules Renard-Verfilmung, 1926; Drehbuch (nicht erhalten), in Zusammenarbeit mit D. Lagache, Paul Nizan und Raymond Aron. Sartre, Jean-Paul: Les jeux sont faits, Drehbuch (siehe oben), Regie: Jean Delannoy, 1947. Das von Delannoy erstellte Regiedrehbuch (194 Seiten, 518 Einstellungen) enthält im Vergleich zur Ausgabe der Ed. Nagel von 1947 nur geringfügige textuelle Abweichungen. Wir danken Jean Delannoy für die freundliche Hilfe bei der Beschaffung einer Kopie seines Textes. Sartre, Jean-Paul: Histoire de nègres, Drehbuch (siehe oben), Urfassung des späteren Sartre-Theaterstücks La putain respectueuse, von Marcello Pagliero (Marcel Pagliéro) und Charles Brabant 1952 als Spielfilm adaptiert. Sartre, Jean-Paul: Les faux nez, Drehbuch (siehe oben), nicht verfilmt, später als Theaterstück adaptiert. Sartre, Jean-Paul: Typhus, Drehbuch (siehe oben), von Yves Allégret 1953 für seinen Spielfilm Les orgueilleux verwendet. Sartre, Jean-Paul: Les sorcières de Salem, Drehbuch (siehe oben) und Dialoge (1956, unpubliziert) für Raymond Rouleaus Adaptation (1957) von Arthur Millers Theaterstück The Crucible. Sartre, Jean-Paul: Kean, genio e sregolatezza, Adaptation einer Komödie von Alexandre Dumas durch Sartre; Drehbuch: Suso Cecchi d’Amico, Francesco Rosi und Vittorio Gassmann; Regie: Vittorio Gassmann, 1957. Sartre, Jean-Paul: Freud, the Secret Passion (französischer Verleihtitel: Freud, désirs inavoués), Drehbuch: Charles Kaufmann und Wolfgang Reinhardt, Regie: John Huston, 1962.- Huston hat Sartres angeblich zu kompliziertes

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

Drehbuch von 1958/1959 nicht benutzt, allerdings daraus zahlreiche Anregungen und Ideen übernommen. Sartre, Jean-Paul: Le mur (Novelle, 1936). Sartre steuert zur Adaptation und Regie von Serge Roullet die Dialoge bei. Siehe L’Avant-Scène Cinéma, no. 75, novembre 1967, S. 7-34 (dialogues, sous-titres et découpage intégral).

2.4

Dialoge von Sartre

Sartre, Jean-Paul: Les mains sales, Regie: Fernand Rivers, 1951. Sartre, Jean-Paul: La putain respectueuse, Regie: Marcello Pagliero (Marcel Pagliéro) und Charles Brabant, 1952. Sartre, Jean-Paul: Huis clos, Regie: Jacqueline Audry, 1954.

3.

Texte Sartres zum Film

3.1

Beiträge für die „Combat“-Serie über Hollywood

Sartre, Jean-Paul: Hollywood 1945, in: Combat, 27 mars 1945. Sartre, Jean-Paul: Hollywood 1945: Comment les Américains font leurs films, in: Combat, 30 mars 1945. Sartre, Jean-Paul: Hollywood évolue, in: Combat, 1-2 avril 1945. Sartre, Jean-Paul: Un film sur Wilson a apporté des voix à Roosevelt, in: Combat, 5 avril 1945. Sartre, Jean-Paul: Hollywood aura demain un concurrent de plus: le Mexique, in: Combat, 7 avril 1945.

3.2

Texte zu Le mur (Erzählung und Film)

Sartre, Jean-Paul: Lettre à Serge Roullet (10 janvier 1967), sur la jaquette de la réédition du Mur, Paris: Gallimard 1967. Sartre, Jean-Paul: „Conférence de presse sur le film au Festival de Venise“, in: Jeune Cinéma, no. 25, octobre 1967, S. 24-28. (Sartre hat den Film von Serge Roullet persönlich auf der Biennale von Venedig/September 1967 vorgestellt und ihn ebenfalls anlässlich der zeitgleich in Paris und New York stattfindenden Premiere verteidigt.)

214

Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

„Jean-Paul Sartre parle du Mur“, in: Le Nouvel Observateur, 1er-7 novembre 1967.

3.3

Weitere Texte zum Film

Sartre, Jean-Paul: „Apologie pour le cinéma“ (1924 oder 1925 verfasst), in: ders.: Ecrits de jeunesse, Paris: Gallimard 1990, S. 385-404. Sartre, Jean-Paul: „L’art cinématographique“ (Discours de distribution des prix au Lycée du Havre, le 12 juillet 1931), Le Havre: Imprimerie du Journal „Le Petit Havre“ 1931, S. 25-31 (brochure); wiederabgedruckt unter dem Titel „Le cinéma n’est pas une mauvaise école“, in: Gazette du Cinéma, no. 2, juin 1950; no. 3, septembre 1950 sowie in: Contat, Michel/Rybalka, Michel: Les écrits de Sartre, Paris: Gallimard 1970, S. 546-552. Sartre, Jean-Paul: „Un film pour l`après-guerre“, L’Ecran français, incorporé aux Lettres Françaises (clandestines), no. 15, avril 1944, S. 3-4. Der von Sartre nicht signierte Text ist wiederabgedruckt in: „Résistance (scénario inédit)“, in: Les Temps Modernes, no. 154-155, avril-septembre 2000, S. 13. Sartre, Jean-Paul: „Pour un théâtre d’engagement – Je ferai une pièce cette année et deux films“, Interview par Jacques Baratier, in: Carrefour, no. 3, 9 septembre 1944. (Es handelt sich nicht um „Filme“, sondern um die beiden Drehbücher Les jeux sont faits und Typhus.) Sartre, Jean-Paul: „Quand Hollywood veut faire penser... „Citizen Kane“, film d’Orson Welles“, in: L’Ecran Français, III, no. 5, 1er août 1945, S. 3-4, S. 15. Sartre, Jean-Paul: „Les Jeux sont faits? Tout le contraire d’une pièce existentialiste, nous dit Jean-Paul Sartre“, Interview par Paul Carrière, in: Le Figaro, 29 avril 1947. A l’occasion d’une projection du film Les jeux sont faits en septembre 1947, lors d’un congrès de filmologues à la Sorbonne, Sartre a fait une communication sur le langage cinématographique, Samedi Soir, 27 septembre 1947; in: Le Figaro, 28 septembre 1947. Sartre, Jean-Paul: „Qu’est-ce que la littérature?“, in: Situations, vol. II, Paris: Gallimard 1948. (Über das Kino: S. 290-292). Sartre, Jean-Paul: „A propos de Kean“ (Sartre-Text vom 8.11. 1953, geschrieben für das Theaterheft anlässlich der Premiere des von ihm adaptierten Alexandre Dumas-Stücks Kean ou désordre et génie, Théâtre Sarah-Bernhardt,

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

14.11. 1953; Sartre bezieht sich darin auf die frühe russische Kean-Verfilmung von I. Wolkow, 1924). „Jean-Paul Sartre nous parle de théâtre“, Interview donnée à Bernard Dort, in: Théâtre Populaire, no. 15, septembre-octobre 1955; wiederabgedruckt in: Contat, Michel/ Rybalka, Michel (Hrsg.): Jean-Paul Sartre, un théâtre de situations, Paris: Gallimard 1973, S. 68-80, S. 78 (über Raymond Rouleaus Film Les sorcières de Salem von 1957). Sartre, Jean-Paul: „Théâtre et cinéma. Notes pour une conférence donnée le 6 mai 1958 au sanatorium de Bouffémont“, in: ders.: Un théâtre de situations, Paris: Gallimard 1973, S. 85-90. „‚Les sorcières de Salem‘ à l’écran. Dans la prison de Salem. Dialogue de JeanPaul Sartre“, in: Lettres Françaises, no. 631, 2-8 aout 1956, S. 1, 10 (mit einer Drehbuchsequenz). Sartre, Jean-Paul: „Interview mit Kenneth Tynan“, in: The Observer, 18. und 25. Juni 1961; französische Fassung in: ders.: Un théâtre de situations, S. 152-168. (Sartre spricht u.a. über den mexikanischen Film Raices, Regie: Benito Alazraki, 1955 sowie besonders über sein von John Huston bearbeitetes Freud-Szenario). „Entrevista de P. Caruso con Jean-Paul Sartre“, in: L’Europeo, 21 enero 1962; wiederabgedruckt in: „Cine y literatura“, in: Nuestro Cine, no. 8, febrero 1962, S. 17-22. „Discussion sur la critique à propos de L’enfance d’Ivan“ (lettre à Alicata, qui la publiait dans l’Unità du 9 octobre 1963, à propos d’un article de l’Unità consacré au film d’Andrei Tarkovsky), in: Les Lettres Françaises, no. 1009, 26 décembre 1963 – 1er janvier 1964; wiederabgedruckt in: Jean-Paul Sartre: Situations, vol. VII, Paris: Gallimard 1965, 332-342. „Le cinéma nous donne sa première tragédie: ‚Les Abysses’ (texte sur le film de Nico Papatakis)“, in: Le Monde, 19 avril 1963; wiederabgedruckt in: Contat, Michel/Rybalka, Michel: Les écrits de Sartre, Paris: Gallimard 1970, S. 734-735. Sartre, Jean-Paul: Les mots, Paris: Gallimard 1964. (Über Sartres frühe Kontakte zum Film: S. 99-102). Sartre, Jean-Paul: „Lettre à Judith Podselver Gollub (datée du 8 octobre 1964)“, in: J.P.G.: Nouveau Roman et Nouveau Cinéma, Los Angeles: University of California Press 1966, S. 10-12. Sartre, Jean-Paul: L’engrenage (propos recueillis par Bernard Pingaud, publiés pour le Journal du Théâtre de la Ville, novembre 1968); wiederabgedruckt

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

in: ders.: Un théâtre de situations, hrsg. von Michel Contat und Michel Rybalka, Paris: Gallimard 1973, S. 367-371. „Débat sur le film Le chagrin et la pitié (réalisation: Marcel Ophüls, 1970)“, in: La Cause du Peuple – J’Accuse, no. 2, 31 mai 1971, S. 18-19. „Sartre et l’argent“, Interview avec Jacques Laurent Bost, in: Pariscope, no. 439, 20 octobre 1976, S. 5-6. (Über den Sartre-Film von Alexandre Astruc und Michel Contat, 1976.)

4.

Sartre-Adaptationen

4.1

Film (Auswahl)

Les jeux sont faits, Drehbuch: Jean-Paul Sartre; Dialoge: Jean-Paul Sartre und Jacques-Laurent Bost, Regie: Jean Delannoy, 1947. Les mains sales, Adaptation: Jacques-Laurent Bost und Fernand Rivers, Regie: Fernand Rivers, 1951. La putain respectueuse, Adaptation: Jacques-Laurent Bost und Alexandre Astruc; Dialoge: Jean-Paul Sartre und Jacques-Laurent Bost, Regie: Marcello Pagliero (Marcel Pagliéro) und Charles Brabant, 1952. Les orgueilleux, Drehbuch: Jean Aurenche und Yves Allégret (nach Jean-Paul Sartres Drehbuch Typhus, 1943/1944); Adaptation und Dialoge: J. Clouzot; Regie: Yves Allégret, Frankreich/Mexiko 1953. Huis clos: a) Regie: Jacqueline Audry, Adaptation und zusätzliche Dialoge von Pierre Laroche, 1954. (Originaldrehbuch: 166 Einstellungen, 214 Seiten), b) No exit, Regie: Pedro Escudero und Tad Danielewski, Argentinien 1962. Kean, Adaptation: Jean-Paul Sartre, Regie: Vittorio Gassmann (der auch den Kean verkörpert), Italien 1957. Les séquestrés d’Altona, Drehbuch und Dialoge: Alby Mann und Cesare Zavattini, Regie: Vittorio de Sica, 1962 (freie Bearbeitung von Sartres Stück). Le mur, Dialoge: Jean-Paul Sartre, Adaptation und Regie: Serge Roullet, 1967.

4.2

Fernsehen (Auswahl)

Huis clos, Regie: Michel Mitrani, ORTF, 1965. (Adaptation des gleichnamigen Dramas)

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

La chambre, Regie: Michel Mitrani, ORTF, 1966. (Adaptation der gleichnamigen Erzählung) Die Eingeschlossenen (Fernsehspiel), Regie: Pinkas Braun, ZDF, 19.06. 1978. (Adaptation von Sartres Drama Les séquestrés d’Altona) Le Mani sporche, Regie: Elio Petri, Radiotelevisione Italiana, 1978 (Adaptation des Dramas Les mains sales; mit Marcello Mastroianni als Hoederer). Der Fernsehfilm wurde aus ‚Copyright-Gründen’ nie außerhalb Italiens gezeigt. Likaiset kädet, Regie: Aki Kaurismäki, Finnland 1989. (Adaptation des Dramas Les mains sales).

5.

Filme über und mit Sartre (Auswahl)

Sartre unterhält sich mit einem jungen Mann (gespielt von Jean-Pierre Aumont) in dem mittellangen Dokumentarfilm La vie commence demain (Regie: Nicole Védrès, 1950); die Dialogpassagen sind wiederabgedruckt in: Contat, Michel/Rybalka, Michel: Les écrits de Sartre, Paris: Gallimard 1970, S. 699-703. Sartre erscheint und spricht im Kurzfilm Avec André Gide (Regie: Marc Allégret, 1951). L’uomo Sartre, Regie: Leonardo Autera und Gregorio Lo Cascio, 1962 (Italienischer Kurzfilm, 11 Minuten). Sartre par lui-même, Regie: Alexandre Astruc und Michel Contat, 1976. (Der Dokumentarfilm wurde im Rahmen des Festivals von Cannes 1976 innerhalb der Reihe „L’air du temps“ uraufgeführt.); vgl. dazu Sartre. Un film par Alexandre Astruc et Michel Contat, avec la participation de Simone de Beauvoir, Jacques-Laurent Bost, André Gorz, Jean Pouillon, Paris: Gallimard 1977. (Integrale Textfassung des Films; deutsche Ausgabe: Hamburg: Rowohlt, 1978) Simone de Beauvoir (portrait), Regie: Josée Dayan et Malka Ribowska, 1978. Jean-Paul Sartre. Vierteilige Sartre-Biographie. Teile I und II: „Man hat das Recht, Widerstand zu leisten“ (Autor: André Waksman); Teile III und IV: „Sartre gegen Sartre“ (Autor: Michel Favart), Bayerischer Rundfunk, 20. und 27. 09. 1993 (Teile I und II) sowie 11. und 18. 10. 1993 (Teile III-IV). „Vor 55 Jahren: Das Weihnachtsspiel des Kriegsgefangenen Jean-Paul Sartre“ (Autor: Henning Burk), 15 minütiger Fernsehbericht der Reihe „Rückblende“, Westdeutscher Rundfunk, 22.12.1995.

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Franz-Josef Albersmeier | Filmo-Bibliografie

Sartre, l’âge des passions, Regie: Claude Goretta, Frankreich, Erstausstrahlung am 11.6.2006. Les amants du Flore, Regie: Ilan Duran Cohen, France 3/Arte 2006, Erstausstrahlung am 11.1.2008 (Dokufiktion über den Liebespakt zwischen Sartre und Simone de Beauvoir).

6.

Biblio-filmografische Hinweise

Wilcocks, Robert: Jean-Paul Sartre: A bibliography of International Criticism, Edmonton/Alberta, Canada: The University of Alberta Press 1975. Cohen-Solal, Annie (Hrsg.): Album Sartre, (345 illustrations), Paris: La Pléiade/Gallimard 1991. Sartre, Exposition réalisée avec le soutien de Madame Nahed Ojjeh, Bibliothèque Nationale/site François Mittérand, 9 mars – 21 août 2005. Vgl. dazu Sartre (livre catalogue, sous la direction de Mauricette Berne), Bibliothèque Nationale de France/Gallimard, 2005; 292 pages, 192 illustrations. – Sartre inédit (DVD), Bibliothèque Nationale de France/Nouveau Monde Éditions, 2005: 120 minutes. Eine bedeutende Quelle für den Komplex Sartre/Film stellen nicht zuletzt auch die Memoiren von Simone de Beauvoir dar: dies.: La force de l’âge, Paris: Gallimard 1960; und dies.: La force des choses, Paris: Gallimard 1963.

219

Autoren Franz-Josef Albersmeier, Studium der Romanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie an den Universitäten Göttingen, Grenoble und an der Freien Universität Berlin; Zusatzstudium der Filmwissenschaft in Berlin und Paris. Staatsexamen (1969) und Promotion (1973) an der FU Berlin. Habilitation an der Universität Regensburg (1979). Seit 1994 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft/Komparatistik an der Universität Bonn. Buchveröffentlichungen: André Malraux und der Film. Zur Rezeption des Films in Frankreich, 1973 (Dissertation). Bild und Text. Beiträge zu Film und Literatur (1976-1982), 1983; Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer „Literaturgeschichte des Films“, Band I: 1895-1930, 1985 (Habilitationsschrift); Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität (1992); Theater, Film, Literatur in Spanien. Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte, 2001; Texte zur Theorie des Films (1979; 5. Aufl. 2003); Literaturverfilmungen (Hrsg. mit V. Roloff, 1989); Walter Pabst zum 100. Geburtstag (9. März 2007), hrsg. mit Titus Heydenreich, 2007. Jürg Altwegg, Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte. Feuilletonkorrespondent für Frankreich und die Schweiz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Genf. Wohnhaft in Frankreich. Grenzgänger zwischen deutscher und frankophoner Welt, aber auch zwischen den journalistischen Gattungen und Ressorts. Sein Interesse (und seine Liebe) gilt Frankreich und seiner Zivilisation, wo die Übergänge von Kultur, Politik, Geschichte fließender, zumindest sichtbarer sind als anderswo. Bücher – eine Auswahl: Tod eines Philosophen. Über Jean-Paul Sartre (Benteli 1981). Die Republik des Geistes, (Piper 1986 und 1989). Die langen Schatten von Vichy, (Hanser 1986.) Französische Denker der Gegenwart (zusammen mit A. Schmidt, C.H. Beck 1987). Die Heidegger-Kontroverse (Hrsg., Athenäum 1988). Geisterzug in den Tod, (Rowohlt 2001). Ach, du liebe Schweiz, Nagel & Kimche 2002. Ein Tor, in Gottes Namen. Hanser 2006. Lothar Knapp, Professor emeritus der Universität Osnabrück, Fachgebiet Romanische Literaturwissenschaft. Korrespondierendes Mitglied des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Osnabrück; Mitglied des Groupe d’Etudes Sartriennes, Paris; Mitarbeiter an der Zeitschrift „Allegoria – per uno studio materialistico della letteratura“, Siena; Mitglied der International Gramsci Society und Mitarbeit an Per un lessico dei Quaderni del carcere. Publikationen im Bereich der spanischen Literatur des 15. Jahrhunderts; des italienischen Rinascimento; der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

221

Sartre und die Medien

Bevorstehende Buchveröffentlichung unter dem Titel Paolo Volponi – Italienische Geschichte im Spiegel der Literatur. Klaus Kreimeier, Promotion 1964. Bis 1976 Fernsehdramaturg, Spiegel-Redakteur und Dozent an der Deutschen Film-und Fernsehakademie Berlin, danach freier Autor. Etliche Reisen durch Schwarzafrika („Geborstene Trommeln – Literarisch-politische Expeditionen“, Verlag Neue Kritik 1985). 1981 Habilitation als Medienwissenschaftler. 1997-2004 Professor der Medienwissenschaften und Leiter des Medienstudiengangs an der Universität Siegen. Begründer der kultur- und medienwissenschaftlichen Zeitschrift „Navigationen“. Buchveröffentlichungen u.a.: Die Ufa-Story, 1992 (frz. und amerikanische Ausgabe 1994 bzw. 1996; Preis der französischen Filmkritik für das beste ausländische Filmbuch); Lob des Fernsehens, 1995 (beide im Hanser Verlag München), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 2: Weimarer Republik (1918-1933), (Hrsg. mit A. Ehmann und J. Goergen, Stuttgart 2005). Michael Lommel (siehe www.michael-lommel.de). Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Siegen. Promotion (2000) und Habilitation (2006). Gastprofessur für Theorie des Films an der Universität Wien (2007). Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Publikationen (Auswahl): Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel, München 2006. Mitherausgeberschaft: Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003; Media Synaesthetics: Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004; Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004; Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008. Jean-François Louette, Ancien élève de l’Ecole Normale Supérieure, JeanFrançois Louette est professeur à la Sorbonne (Paris IV). Il a publié plusieurs ouvrages sur Sartre (Jean-Paul Sartre, Hachette, 1993; Silences de Sartre, Presses Universitaires du Mirail, 1995 et 2002; Sartre contra Nietzsche, Presses universitaires de Grenoble, 1996; Sartre écrivain, Eurédit, 2005), ainsi que sur Beckett („En attendant Godot“ ou l’amitié cruelle, Belin, 2002), et sur la poésie en prose française des années 1910-1930 (Sans protocole, Belin, 2003). Il a collaboré, en éditant Huis clos et Les séquestrés d’Altona, au Théâtre complet de Sartre dans la collection „Bibliothèque de la Pléiade“ (2005), et il a dirigé, dans la même collection, l'édition des Romans et récits de Georges Bataille (2004). Il vient de faire paraître (en collaboration avec F. Rouffiat) un colloque intitulé Sexe et texte. Autour de Georges Bataille (Presses universitaires de Lyon, 2007).

222

Autoren

Laura Mock, Jahrgang 1982, 2002 bis 2005 Studium an der Universität Siegen: Bachelor of Arts „Literary, Cultural and Media Studies“. Seit Oktober 2005 Master of Arts „Literature, Culture and Media“, ebenfalls in Siegen. 2006/2007 Auslandssemester in Pisa. Seit Januar 2005 freie Mitarbeiterin bei einer Tageszeitung. Sandra Nuy, Studium der Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Siegen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Theater im Fernsehen“ im Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien der Universität Siegen (1994-2000), 1999 Promotion. Seit 1989 freiberufliche Arbeiten als Journalistin, Projekt- und Tagungsorganisation. Lehraufträge für die FH Köln und die Sk-Stiftung Kultur. Seit Dezember 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen im Studiengang B.A. Social Science mit Schwerpunkt Media Studies. Veröffentlichungen (Auswahl): Arthur Schnitzler ferngesehen. Ein Beitrag zur Geschichte des Theaters im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland (1953-1989). Münster 2000. „Erinnerungskulturen. Über das Gedenken an die Shoah durch den Film.“ In: Grenzgänge(r). Politik. Religion. Kultur. Festschrift für Gerhard Hufnagel, hrsg. von Sigrid Baringhorst und Ingo Broer, Siegen 2004. S. 301-312. „Kein Traum ist völlig Traum“. Stanley Kubricks Verfilmung von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“. In: Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004. Hrsg. von Peter Csobádi u.a. S. 728-743. Anif/Salzburg 2006. Volker Roloff, Professor emeritus für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Leiter des Teilprojekts Intermedialität im europäischen Surrealismus im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Veröffentlichungen (Auswahl): Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit S. Winter); Rohmer intermedial, Tübingen 2001 (Hrsg. mit U. Felten); Bildschirm-Medien-Theorien, München 2002 (Hrsg. mit P. Gendolla, P. Ludes); Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003 (Hrsg. mit F. Balke); Die Ästhetik des Voyeur, Heidelberg 2003 (Hrsg. mit W. Hülk, Y. Hoffmann); Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003 (Hrsg. mit M. Lommel); Die grausamen Spiele des „Minotaure“, Bielefeld 2005 (Hrsg. mit I. Maurer Queipo. J. RißlerPipka); Proust und die Medien, München 2005 (Hrsg. mit U. Felten); Gerhard Wild, Ordinarius für Romanische Literatur-und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität/Frankfurt am Main; Studium der Romanistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Musikologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Arabistik in München. Dissertation über den alt-

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Sartre und die Medien

französischen Lancelotroman Erzählen als Weltverneinung (1993); Habilitation Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers (2004), Aufsätze zur klassischen spanischen Literatur bis Cervantes, zu ästhetischen Fragen von Manierismus, Fin de Siècle und Postmoderne, zur neueren lateinamerikanischen Literatur (Puig, Neruda, Sábato, Soriano), zu Grenzfragen der Medien- und Literaturästhetik (Franz Liszt, Igor Stravinski, Luís Buñuel, Salvador Dalí, Werner Herzog, Manoel de Oliveira, Perejaume); Mitherausgeber der Revista d'Estudis Catalans (ZfK); Mitbegründer des VW-Graduiertenkollegs Göttingen Kanon und Wertung; Romanistischer Herausgeber der Neuauflage des Kindler Literaturlexikons (2005 ff.). Scarlett Winter, Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Romanische Literaturen und Sprachen der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, mit Schwerpunkt im Bereich der iberoromanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Habilitation 2006 an der Universität Siegen. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: europäische Theater- und Filmgeschichte, Medienästhetik in der Nouvelle Vague; Surrealismus in Frankreich und Spanien. Neueste Veröffentlichungen (Auswahl): Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit Volker Roloff); Körper – Ästhetik – Spiel. Zur filmischen ecriture der Nouvelle Vague, München 2004 (Hrsg. mit Susanne Schlünder); Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick, Heidelberg 2007.

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Nachweis der Erstdrucke Altwegg, Jürg: Sartres „Résistance“. Ein unbekanntes Drehbuch des Philosophen aus dem Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2000, S. 49. Kreimeier, Klaus: „Poulou geht ins Kino“, in: Felten, Uta u.a. (Hrsg.): „Esta locura por los sueños“. Traumdiskurs und Intermedialität in der romanischen Literatur- und Mediengeschichte. Festschrift für Volker Roloff, Heidelberg 2006, S. 213-218.

225

Medienumbrüche Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch April 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-863-6

Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne März 2008, ca. 350 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-610-6

Stefan Eichhorn Die Vermessung der virtuellen Welt Von »Sacred« bis »GTA«: Karten im Computerspiel März 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-755-4

Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien März 2008, 228 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-816-2

Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-648-9

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-629-8

Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-667-0

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (eds.) The Aesthetics of Net Literature Writing, Reading and Playing in Programmable Media 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-493-5

Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien/Schnitte 2006, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-277-1

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Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-341-9

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Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-346-4

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-276-4

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